2. Kapitel - Kutschfahrt nach Schlotz

2. Kapitel

Kutschfahrt nach Schlotz



Burg Gernatsborn,  1. Praios 1043 BF
Die Mersinger Ritterin blickte durch die rauchige Luft als sie diesen schwülen Praiosnachmittag aus den kühlen Burgmauern heraus trat. Efferd sei Dank kommt der Wind hier nur ganz selten aus dem Gernatstal heraus aus östlicher Richtung, sodass der Rauch und Ruß von Hochofen und Schmiede sogar bis zur Terrasse weht. Auch war der Lärm fast ohrenbetäubend. Aus der Schmiede hämmerte und zischte es den ganzen Tag über, die Spitzhacken aus der Kupfergrube und die Sägen im Sägewerk klangen fast wie im Chor, wenn nicht auch noch das Hämmern und das Rufen der Bauarbeiter dazu kam. Und dann noch das Rauschen des Gernats vom Fuße des Hügels.
Jadvige ließ ihren Blick schweifen. Von der Terrasse der Burg aus hatte man eine ausgezeichnete Sicht, zumindest in den Norden ins Hallingsche und Osten ins Gernatstal und in den Wutzenwald. Im Westen wurde die Sicht durch den bereits errichteten Burgfried versperrt. Im heißen Sommer war dies jedoch ein Segen, denn der hohe Turm hielt auch die Praiosscheibe ab am Nachmittag ihre Hitzestrahlen hierher zu senden.
Ihr Blick richtete sich wieder gegen Firun, denn die Wacht am Gernat sollte gerade in diese Richtung gelten. Weiter nordwestlich flussabwärts ging es in die feuchten Gernatsauen über, welche mit dem Fluss nach der Schlotzer Baroniegrenze nach Südosten weiter gingen, und östlich ging es in das engere Gernatstal und den tiefen Wutzenwald. Direkt gegenüber des Flusses bis zu Hügelkamm und Wäldchen nach Hallingen hinein prägten die Gernatsauen eine weitgehend abgeholzte und aufgrund der aktuellen Trockenheit karge Landschaft. Schon länger hatte es nicht geregnet, dass der Pfad durch die Gernatsauen aus dieser Richtung nach Gernatsborn eine kaum zu erkennende Staubpiste war. Und siehe, sie musste ihre Augen zusammenkneifen, eine Staubwolke passierte die derzeit trockene Aulandschaft. Was zunächst fast wie eine Windhose aussah, entpuppte sich bald als ein Wagenzug samt Reitern. “Händler, die ihre Waren den Fluss abwärts flößen wollen, oder neues Baugerät sicher” grummelte die leidgeprüfte Ritterin vor sich hin. Doch wenig später sah sie ein Banner, das kaum zu einem einfachten Wagenzug passte. “Das ist der Herr” fuhr sie hoch und schoss mit einem lauten “Der Türmer muss wohl schlafen!” nach.

Die Mersingerin küsste ihren Gemahl innig auf die Lippen und umarmte ihn dabei. Seit frühem Ingerimm, als Storko sie am Meidenstein kurz besuchen konnte, hatten sie einander nicht getroffen. Danach hatte er weiter Richtung Rommilys reisen müssen, um als Wehrvogt Grenzbefestigungen im Südosten der Mark zu begutachten. Glyrana vermisste die sommerlichen Wochen, die sie mit ihrer Familie in den letzten Jahren immer auf ihrem Gut in Zaberg in Friedwang verbrachte. Zur Sommerfrische in den Bergen war dort die Luft kühler und angenehmer. Doch nicht dieses Jahr, denn vor dem Herbst musste der Stammsitz ihrer Familie fertig gebaut werden. Und eines der vier Kinder war bereits als Page an Adelshöfen entsandt und konnte nicht einfach wieder ein paar Wochen in die elterliche Obhut übergeben werden.
“Du bist spät, wir haben dich bereits seit mehreren Tagen erwartet” sagte sie fast vorwurfsvoll als sie nach dem Kuss seine Hand nahm. “Und du brauchst alsbald ein Bad” fügte sie in einem Befehlston hinzu. “Lass dir vor dem Abendmahl eines vorbereiten.”
“Wie so oft wurde ich aufgehalten, aber nicht umsonst” erwiderte Storko. “Ich blieb noch die letzten Namenlosen Tage in Hallingen, um zu sehen, ob unser Sohn als Page am Hofe zu Hallingen uns auch keine Schande bringt … aber Burggraf Gilborn Hal zu Hallingen hatte mir bereits zuletzt auf der Feste Hohenstein nur Bestes über unseren Sohn berichtet.”  
Langsam gewöhnten sich die Augen des Landjunkers an das gedämpfte Licht hier im Studierzimmer und er konnte seine Gattin erst richtig erblicken, auch wenn er ihren wohlig gewohnten Duft von Rosen- und Lavendelölen, die ihn auch immer in seinen Träumen über sie begleiteten, bereits vor der Türe gerochen hatte. Sie war in einer ritterlichen Tunika gewandet. Vom Schnitt her nichts außergewöhnliches, wären da nicht die verwendeten Stoffe, die in Goldbrokat, Schwarz und Blau schillerten und einer Baronin in der Darstellung kaum nachkamen. Ihre schwarzen, langen Haare waren kunstvoll zu einem Zopf geflochten, samt den Stirnfransen die kurz über ihren Augenbrauen geschnitten waren (zumindest etwas das sich seit ihren jüngsten Jungferjahren nicht geändert hatte). Seitdem die ehemalige Mersinger Jungfer zur Ritterin zu Barken geschlagen, ehrenhalber wohlgemerkt, und dann später bei den Stahlherzen aufgenommen wurde, gab sie sich recht ritterlich, zumindest sofern es der Situation angemessen war. Auch wenn sie sich meisterlich inszenieren konnte, war dies nicht gespielt. Die Kleidung war im Gegensatz zu Kleidern, Röcken und Miedern, die man an so manchem garetischen oder nordmärkischen Hofe trug, sehr bequem. Zumindest solange keine Rüstung darauf getragen wurde.
“Warum über Hallingen?” runzelte Glyrana die Stirn. “Ich bringe schwere Fracht mit.” sprach Storko, schlug sich in die Hände und nichte dabei. “Ich konnte es arrangieren, dass wir zur Wacht am Gernat eine Balliste erhalten haben. Sie soll auf unserem Turm montiert werden. Ich werde mich gleich morgen daran machen, wir müssen sie auch erst wieder zusammenbauen und dann adjustieren. Ich hoffe sie schließt bis über die Baroniegrenze hinaus…” Freudig lächelte er. Mit Belagerungsmaschinen und Verteidigungsgeräten konnte er schon seit seinen Kadettenjahren in Wehrheim recht gut umgehen.”
“Das hört sich gut an” merkte seine Gattin an und strich ihm sanft über die Schulter. “Da wird unserem Lehen und der Wacht am Gernat noch mehr Ausdruck und Macht verteilt. Ich freue mich die ersten Schießübungen zu sehen. Seit vorletztem Jahr haben wir ja auch Kürbisse angepflanzt. Die werden zwar hier nicht so groß wie in Garetien, aber wir könnten sie gut als Ziele nützen.”
Storko nickte und fuhr fort. “Und mit dem schweren Pferdewagen wäre ich kaum gut über die Schlotzer Pfade von Markt Wutzenwald bis hierher gekommen. Schon gar nicht, hätte es geregnet.” Tatsächlich war es in den letzten Wochen sehr trocken und auch nun auch schwül gewesen. “So reiste ich auch durch Schnayttach und bei der Burg Schlotz vorbei und stattete der Vögtin einen Besuch ab.”
“Hast du dort auch gleich das Haus der jungen Gö…” fragte sie rasch nach und wurde sogleich wieder unterbrochen. “Ja, habe ich. Die Tempelvorstehung freut sich, dass du deinem Glauben noch mehr Geltung verleihst und auch bei Gernatsborn einen Schrein stiftest. Sie werden gerne jemanden für die Weihe beim Einweihungsfest entsenden.”
“Die ewig Junge sei gepriesen” freute sie sich in ehrlichem Glaube. “Den Hain um den Schrein haben wir bereits im Frühling gepflanzt und die Statue für den Altar habe ich auch schon länger in Barken in Auftrag gegeben. Sie sollte auch bald einlagen.” Sie machte ein Tsagefällige Bewegung mit ihren Händen. “Überdies”, sie zeigte auf eine geschriebene Liste, die am Schreibtisch lag, “ich habe die Einladungsliste für die Burgeinweihung bereits fertig. Wir müssen und nur auf eine Zeit im Herbst einigen, zu der wir mit Sicherheit dafür bereit sind und sodann sollten die Reiter loseilen.”
Storko ignorierte das zunächst, da er noch etwas Wichtiges zu erzählen hatte. “Aber weißt du, Glyrana, als ich auf der Durchreise bei der Vögtin Gast war, da war ich ganz zufällig Zeuge wie die junge Baronin nach langer Zeit wieder nach Schlotz kam. Sie soll ihre Knappenzeit erst beendet haben und hat doch einiges erlebt. Und sie kam nicht alleine, sondern mit dem jungen Edelmann Alboran von Friedwang.”
“Der Junker von Gießenborn, vom Baron Alrik von Friedwang adoptiert” ergänze die Mersingern, die ja auch selbst Edle in Friedwang war und ihre Schwester Syrenia war die Erbvögtin der Baronie. “Was ist mit ihm?”
Storko fuhr etwas hastig fort. “Ich glaube die haben miteinander etwas der Rahja Zugetanes und wollen es auch der Travia gefällig machen. Zusammen haben sie viel erlebt und das schweißt zusammen. Er soll sie gar gerettet haben aus der Not.”
“Aha” die dunklen Augen der mittlerweile ambitionierten Ränkeschmiedin weiteten sich. “Wollen wir das aber? Ein Bund zwischen Friedwang und Schlotz.” Sie rieb sich die Wangen und überlegte. “Und dieser Junker Alboran hat einen Erbanspruch auf Friedwang, mit einer Hochzeit einer Baronin wäre er in einer noch besseren Position. Dabei wollen wir doch meinen Neffen Ravenhart am Steinbockthron sehen. Am besten dann gleich mit Morwyn, unserer Tochter, als Gemahlin, dann wäre Friedwang dem Hause Mersingen gesichert.”
Storko hatte die recht komplizierten Erbansprüche in Friedwang nie ganz verstanden. “Wie auch immer, ich denke nicht, dass wir da noch etwas werden machen können. Wenn ich an die Schlotzer Vögtin Agdinna denke, dann werden die beiden schneller einen Traviabund eingehen müssen, als ihnen selbst lieb ist.” Storko grinste etwas. “Adoptiert, gut, aber ansonsten doch für eine Baronin standesgemäß.”
“Ich muss diese Neuigkeit sogleich an meine Schwester schicken und sehen was sie sagt.” Glyrana setzte sich sofort an den Tisch und begann auf ein recht kleines Blatt Papier in filigranen Lettern zu schreiben.“ Nach wenigen Augenblicken fuhr sie mit dem Kopf hoch und rief in recht lautem Ton zur Tür “Holt mir eine Brieftaube!” Die schwere Holztür ging sogleich einen Spalt auf und einer ihrer Wachen erwiderte “Jawohl, Herrin.” “Und lasst nach meinem Pagen rufen, er sollte in den Stallungen sein.” Die Wache wiederholte wieder “Jawohl, Herrin” und schloss dann Tür. Glyrana neigte sich im Sitzen wieder ihrem Gatten zu, der gerade ihr zunickte, und kommentierte “Vielleicht kann uns auch gleich Ravenhart etwas näheres über diesen Alboran erzählen.”
Es dauerte nicht lange, und der junge Ravenhart von Suunkdal eilte herbei: Ein zierlicher Knabe, der gerade acht Götterläufe alt geworden war, und erst seit kurzem in Glyranas und Storkos Pagendienst stand. Er wirkte noch ein wenig scheu und verunsichert in der neuen Umgebung. Selbst für einen Edelknaben war er sehr blass und feingliedrig. Auf seiner schwarzen, etwas abstehenden Pagenfrisur trug er die Bundhaube, die ihn Syrenia mitgegeben hatte. Seine Gugel war dunkel, die Tunika weinrot gefärbt und ebenso wie die hellgraue Hose mit einzelnen Strohhalmen verziert. Der Junge blinzelte verlegen in Richtung der Herrschaften.
Das hohe, schmal geschnittene Gesicht verwies auf die Streitziger Abstammung seiner Großmutter, das dunkle Haar und der Blick waren eindeutig Mersingerisch. Dazu gesellten sich, wenn auch dezent, die Bocksnase und die Steinbock-Lippen des Hauses Friedwang, ebenso wie die markante Alboranskerbe: ein fehlendes Stück am Rand des rechten Ohres, die angeblich bereits auf Alboran Haldorin, den Gründer der Baronie Friedwang zurückging - den ein orkisches Krummschwert ein Stück vom Ohr abgesäbelt haben sollte. Die Verwundung des Heiligen war offenbar derart einschneidend gewesen, dass sie sich seit den Dunklen Zeiten von Generation zu Generation weitervererbt haben sollte, im Mannesstamm. So wollte es zumindest die Legende.
Der junge Senkenthaler war ein wenig aufgeregt. So ganz schien ihm noch nicht klar zu sein, was genau die Pflichten eines Pagen bedeuteten. Das Kind verneigte sich dienstbeflissen.
“Ihr habt mich rufen lassen, werte Tante, werter Onkel...ich meine, Herr Onkel...und Frau Tante.” Dunkle Rabenaugen musterten Storko und Glyrana. Glyrana lächelte begütigend, Storko nickte ernst, aber aufmunternd.
“Ich habe eine Neuigkeit erfahren, die dich sicher erfreuen wird, Ravenhart”, sagte die junge Mersingen. “Dein Vetter Alboran weilt derzeit auf Burg Schlotz. Er hält dort offenbar um die Hand Ihrer Hochgeboren Haldana an.”
Dem kleinen Räbling war nicht anzumerken, was er davon hielt. Er ist vorsichtig und abwartend, dachte Glyrana anerkennend.
Ravenhart nickte und kniff dabei seinen Mund etwas zusammen.
“Es ist ein heißer Tag heute”, sagte Storko, “du musst keine Kopfbedeckung tragen.”
Der Page nickte, öffnete gehorsam die Schnur unter dem Kinn und streifte die linnene Haube ab. Die Pagenfrisur, die ihm Glyrana hatte angedeihen lassen, kam nun voll zur Geltung. Ravenhart zupfte einen weiteren Strohhalm aus dem schönen, rabenschwarzen Haar (die Burgherrin vermutete, dass er gerade lieber mit anderen Kindern im Stroh gespielt hatte, statt seinen heutigen Pflichten als “Stallbursche” nachzukommen).
“Was heißt das -  um die Hand anhalten, Herrin?” fragte Ravenhart treuherzig.
 “Er möchte sie heiraten. Damit würde er Baron von Schlotz werden. So wie du, vielleicht, eines Tages Herr von Friedwang sein wirst. Natürlich erst, wenn du deine Knappenzeit hinter dich gebracht hast.”
 “Natürlich Herrin. Eines Tages...vielleicht...wenn es die Götter so fügen.” Das klang fast ein wenig altklug.
 “Nun, deinen Vetter Alboran kenne ich leider nur vom Hörensagen. Ich habe bislang gedacht, dass er auch Baron von Friedwang werden will. Versteht ihr beide euch denn?”
 “Er ist viel älter als ich”, sagte Ravenhart mit leicht “schwarzsichelnder” Knabenstimme. “Mutter hat mal gesagt, er hätte sich gleich ein paar Ohrfeigen verdient, nicht bloß eine.”
Glyrana und ihr Gemahl blickten erstaunt.
Der Junge lächelte verschmitzt. “Wer mal Baron von Friedwang werden soll, der kriegt eine Watsche, hat Vater gesagt. Wie beim Ritterschlag, vor allen Leuten. Damit er nie vergisst, wem er seinen Thron verdankt. Ich glaub nicht, dass ich sowas will...nicht, wenn alle zugucken.”
“Bist du denn auch der Meinung, dass dein Kousin Ohrfeigen verdient hat?”
“Ach, ich kenn den doch kaum. Ich glaub, Tsali, meine Kousine und er, die mögen sich nicht. Als sie mal bei uns auf dem Schloss waren, da haben sich ständig geknufft und gezwickt. Ich glaub, das war ernstlich gemeint. Obwohl sie keine kleinen Kinder mehr sind. Sie hat ihm die Zunge rausgestreckt, und da hat er sie ordentlich gezöbelt und gescholten. Jetzt ist er wohl schon Knappe, bei unserer guten Frau Markgräfin in Rommilys.” Ravenharts Stimme klang durchaus bewundernd. “Gesehen hab ich ihn seither nicht mehr.”

Ein paar Stunden später, bereits nach dem Abendmahl als Glyrana und Storko bereits in ihren Gemächern waren, kam eine Brieftaube zurück, mit einem zusammengerollten Zettelchen in der Lederkapsel am Fuß. Glyrana öffnete die Botschaft ihrer Schwester: Sehr gute Nachrichten. Er kann nicht Herr über zwei Baronien sein.  Sollten  Heiratspläne unterstützen.  Vielleicht bald Lösung in Friedwang. Es grüßt Dich und Storko, Deine Syri! P.S.  Sehen uns auf der Hochzeitsfeier. Daneben hatte Syri ein kleines lachendes “Praiosgesicht” gemalt.  
“Gut. Na dann sollen sie auch unseren Segen haben und wir wollen den zukünftigen Baronsgatten in den Schlotzer Landen willkommen heißen” kommentierte die Mersinger Schwester trocken und schob ihrem Gatten den Zettel hinüber. Der blicke darauf und nickte nur stumm.
Von draußen war ein Donnergrollen zu hören. Der Wind hatte gedreht und nach den trockenen und zunehmend schwülen Tagen einen Wetterumschwung zum Wutzenwald mitgebracht.


Im Wutzenwald, 2. Praios 1043
Schwer fiel grauer Landregen auf die Schlammpiste, die die Karte überaus großzügig den “Wutzenwalder Weg” genannt hatte. Wie eine Karracke in schwerer See kämpfte sich der Kobelwagen durch die wassergefüllten Schlaglöcher und den allgegenwärtigen Matsch, während der Vorreiter auf seinem Sattelpferd wieder mal einem besonders tief hängenden Ast auswich.
Baron Alrik von Friedwang blickte durch die Tür seiner Kutsche, die eigentlich nur aus einer geöffneten, triefenden Plane bestand. Der Mann mit dem Spitzbart lüpfte seine schwarzsamtene Augenklappe ein wenig, die er aus einer Marotte heraus über dem rechten Auge trug.
Im Regen waren die Steinbock-Gardisten nur dunkle Schemen, die jeweils zu zweit die Vorhut und die Nachhut bildeten. Alriks Waffenknechte und -Mägde hatten die Visiere ihrer Schallern geschlossen, um sich gegen die Unbilden des Wetters zu schützen, und sich verdrossen in ihre schlammbespritzten Mäntel gehüllt. Das Banner mit dem blau-rot-silbernen Steinbockwappen hing schlaff herab. Sattgrün leuchtete der Urwald durch die Regenfahnen, die Herr Efferd dem Rosenbuscher Land schickte. Oder fuhren sie noch immer durch die Baronie Wutzenwald? Den zerklüfteten, dicht bewaldeten Anhöhen zur Linken wie zur Rechten schienen von Menschenhand gezogene Grenzen vollkommen gleichgültig zu sein.  
Der Wagen ruckelte und schaukelte zum Göttererbarmen, über Wurzelwerk, Schiefersteine, Matschlöcher und morsche Äste hinweg. Um ein Haar wäre Alrik aus seinem Stuhl gefallen und auf Ismena gestürzt, die mit scheinbar Rohalscher Gelassenheit die Mühsal der Reise ertrug.
Der Gedanke, in den wohlgeformten Rahjahügeln der Oppsteinerin zu landen und zu versinken, ließ Alrik Tsalind schmunzeln, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Seine einstige Mätresse war immer noch von der Schönen Göttin gesegnet. Alrik ermahnte sich zur Contenance. Dennoch, an der Gießenbornerin war eine Rahjageweihte verloren gegangen – und Satinavs Gehörn vollkommen abgeprallt, all dem Unheil zum Trotz, dass die darpatischen Lande in den letzten Jahren und Jahrzehnten heimgesucht hatte. “Isi” duftete nach feinstem Rosenwasser, das sogar den Geruch nach feuchtem Waldboden und Regen überflügelte, der von draußen hereinwehte. Vermischt mit einem leichten, aber hartnäckigen Hauch von Stinkmorchel, einem Gestank, den Alrik irgendwie mit den Wäldern des Raulschen Kaiserreichs verband.
Der Regenwald des Tiefen Südens mochte gefährlicher sein, aber er duftete wenigstens honigsüß und leuchtete bunt wie das Gefieder eines Avesvogels. Francesco vermisste das muntere Schwatzen der Papageien, das Keckern der Affen, das muntere Schwirren der Kolibris. Es war ein schwüler Praiostag gewesen, und schon das Gewitter, das gerade am Vorgebirge der Schwarzen Sichel festhing, erinnerte ihn an einen prasselnden Efferdsgruß in der Wildnis Meridianas.
Alrik Tsalind Halreto von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck schüttelte unwirsch den Gedanken an seinen alten Namen und das frühere Leben ab. Der Dschungel hätte ihn, den Brabaker Streuner, um Haaresbreite umgebracht, auf der Flucht aus der Al´Anfanischen Sklaverei. Ihn und seinen Bruder Alrik, dessen Namen er damals sich ausgeliehen und bislang noch nicht wieder zurückgegeben hatte.
Alrik, der entführte Friedwanger Baronieerbe, nannte sich nun Bishdarielon und büßte als Golgarit für seine echten wie eingebildeten Untaten, im Dienste des Patriarchen zu Al´Anfa. Sein Bruder Francesco, der gleich nach der Geburt unter aberwitzigen Umständen in den Brabaker Elendsquartieren verschollen war, nannte sich jetzt Alrik. Ein gerechter Tausch, wie der Mondschatten fand. Ein Wechselhandel, wie ihn der Unfassbare Schleicher liebte.
Heimlichkeit, List und Täuschung waren für Alrik kein Selbstzweck, sondern religiöse Gebote seines Gottes.  Darauf hatte er Swantje Rahjandrael hingewiesen, als sie ihm die angekokelte Akte auf den Tisch gelegt hatte, die auf verschlungenen Wegen aus dem Archiv Dexter Nemrods in den Markgräflichen Palast zu Rommilys gelangt war. Graf Dexter Nemrod. Einige hatten den verblichenen Reichsgroßgeheimrat sogar mit “dem Mond” in Verbindung gebracht, dem obersten, wenn auch unbekannten Phexgeweihten Aventuriens. Mit gemischten Gefühlen hatte Alrik den Rotweinflecken entdeckt, den sein einstiger Lehnsherr auf Seite XII hinterlassen hatte. Ein wenig Wehmut, aber auch Besorgnis. Das leinengebundene Büchlein war an vielen Stellen angesengt und unleserlich gewesen, zum Glück. Der Grund dafür war vermutlich Galottas Magnum Opum des Weltuntergangs, das mit dem Jahr des Feuers über die Grafenstadt Wehrheim hereingebrochen war. Trotz allem war immer noch sehr viel von dem lesbar, was Hochwohlgeboren Dexter über das Doppel- und sonstige Leben seines Vasallen gesammelt hatte. Viel zu viel.
Erlaucht Swantje, die junge Markgräfin, hatte Alrik (dem Falschen) nahegelegt, den Friedwanger Thron baldmöglichst in weniger phexgefällige Hände zu legen. Ihm zugleich aber den Titel eines Geheimen Kammerherrn in Aussicht gestellt – ein Titel, der so nebulös war wie die Aufgaben, die sich der Mondschatten darunter vorstellte. Sein kleines Abenteuer in den Trollzacken, im Frühling, hatte ihm wohl zusätzliche Referenzen für ein solch diskretes Amt verschafft.  
“Wutzenwald, wer ist dort jetzt Baron?” wollte Ismena wissen, um das Gespräch am Laufen zu halten, das auf der holprigen Straße erlahmt war.  “Ein überaus perainefrommer Mann, nach allem, was man so hört...”
Ächzend versuchte Alrik die Abfolge von Stößen aufzufangen, die  an der Kutsche rüttelten. Ebenso wie sein Federbarett, das ihm von seinen ergrauten, schulterlangen Locken gerutscht war. Es half nichts, die Kopfbedeckung verschwand unter dem Sitz.
“Gewiss. Sogar seine Straßen gleichen einem frisch gepflügten Acker.” Der Baron klammerte sich regelrecht an den Stuhl. “Ich glaube, du verwechselst den Kerl mit dem Pfleger des Landes, der hier residiert. Mit dem Wutzenwalder Weg sollte er mal anfangen, bei der Landespflege.”
Ismena gewährte Alrik ein amüsiertes Lächeln. Wenn seine ehemalige Geliebte noch das Geringste für ihn empfand, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
“Hast du vorhin nicht gesagt, wir wären schon in Rosenbusch?”
“Ich sehe in diesem furchtbaren Wald keine Rosen”, ächzte Alrik. “Höchstens Dornen.”
Dumpf ratschte ein einzelner Ast über die Plane, die das halbrunde, stoffbedeckte Dach des Kobelwagens schützte. Zum Glück war sie aus bestem Schlotzer Wildleder zusammengenäht, vielleicht auch aus der Haut eines Darpatbullen. Wer in der ehemaligen Wildermark unterwegs war, der brauchte nach wie vor ein dickes Fell.

“Ein Abstecher nach Dornach, zum Schrein der Liebholden, das wärs. Der Duft der Rosen soll betörend sein.”
“Nicht bei einem solchen Wetter.”
“Du warst doch früher so spontan, Alrik. Da hättest du mir Rosen auf den Weg gestreut, und wäre er noch so holprig gewesen. Na komm, gib deinem Vorreiter den Befehl, wir machen einen kleinen Abstecher ?!”
Alrik musterte seine Gegenüber. Ismenas dunklen, feingelockten, wieder mal nach neuester Rommilyser Mode frisierten Haare. Das Grübchen auf ihrem Kinn. Ihre makellose, vornehm blasse Haut, die rosigen Wangen und hellwachen, grün leuchtenden Augen. Die Edeldame von O.... sah immer noch verdammt gut aus. Dafür, dass sie auch schon 50 Götterläufe oder mehr zählen musste, wie der Friedwanger selbst.
“Liebe Ismena von Oppstein-Glimmerdieck. Unser gemeinsamer Sohn ist gerade erwachsen geworden. Ich meine, endgültig erwachsen. Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel daran nehmen?”
Die Gießenbornerin klappte ihren Fächer auf und wedelte sich etwas frische Luft zu. Tatsächlich war es im Inneren der Kutsche ziemlich stickig, nach der Schwüle, die dem Sommergewitter vorangegangen war.
“Ach, ich vergaß, du bist ja nun Ritter des Travinianordens. Bruder Alrik, der fromme Ordensmann...”
“Den gibts nicht mehr.”
“Den Orden oder meinen frommen Alrik?”
“Den Traviniansorden. Fromm war dein Alrik nie.”
“Schade, ich hätte dich gerne einmal in voller Rüstung gesehen. So richtig mit, wie sagt man, Schamkapsel? So einem stahlharten Latz?” Ismena leckte sich neckisch über die weißen Zähne und spielte die lüsterne Landadelige. Mit der freien Hand deutete sie einen Griff an den Tiefenschutz einer Ritterrüstung an.
“Wir haben damals den züchtigen Gänsbauchharnisch getragen”, sagte Alrik, scheinbar gleichmütig. “Der Ritter, das war ein Titel ohne Mittel. Aber das Problem kennt ihr ja zur Genüge, im Hause Oppstein.”
Ismenas schönes Antlitz verdunkelte sich. Sie hatte die Anspielung auf ihren Bruder verstanden, den Titelsammler und Karrieristen Redenhardt. Der umtriebige Baron von Oppstein war zuletzt sogar zum Stadtvogt von Rommilys aufgestiegen. Träger des Goldenen Paddels hatte sein Nachbar sich ebenso genannt wie Ehrenbürger von Friedwang – ein zweifelhafter Titel, der ihm nach der Niederschlagung des sogenannten “Gleißeraufstands” angetragen worden war. Ein vortrefflicher Streich Serwas, für die Alrik seine Gemahlin insgeheim bewunderte. Redenhardt Cordovan Eugenius von Berlînghan-Oppstein, der Bürgerliche....

Kein Zweifel, Ismena hatte die Nachricht vom Tod ihres Bruders noch immer nicht überwunden, auch wenn der bereits mehrere Götterläufe zurück lag. Die Herrin von Gießenborn seufzte zart. Alrik überlegte gerade, welchen Titel sie eigentlich noch besaß. Altjungfer, das passte nun wirklich nicht. Er hatte gehört, dass Albo sie als Verwalterin eingesetzt hatte, über seine Güter in Rübenscholl ebenso wie im Gießental.
“Wir unternehmen besser keinen Abstecher nach Dornstyn”, fügte der Friedwanger hastig hinzu. “Ich glaube, die Vögtin würde eine solche Verzögerung gar nicht gutheißen. Eine überaus traviagefällige Frau, diese Adginna. Sie scheint sehr auf Formen und Konventionen bedacht zu sein.”
“Müssen wir Albo denn wirklich nach Schlotz verheiraten? Ich meine, ausgerechnet Schlotz? Allein der Name klingt doch fürchterlich. Wie Schlunz, Spatz – oder Latz. Diese Binsböckel heiraten jeden, der nicht laut und deutlich genug Nein sagt, auf dem Weg zum Haus der Travia. ”
“Lieber einen Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, meine teuerste Ismena. Ich muss zugeben, ich war all die Jahre ein wenig blauäugig, in Bezug auf Alborans Zukunft. In der Wildermark, da hätten ihn die Kriegsherren vielleicht als Baron geduldet. Wenn er stark genug aufgetreten wäre. Aber jetzt nicht mehr, wo sie die Schwerter und Streitkolben wieder mit ihren Siegelstempeln und Gänsefedern vertauscht haben. Ich kann ihm leider nicht die traditionelle Watsche geben und ihn damit zu meinem Nachfolger erheben. Nicht mit den Mersingens oder Baernfarns im Nacken. Glaub mir: In der Rommilyser Mark gilt jetzt wieder Praios Recht und Travias Ordnung. Sie dulden keine zweifelhafte Erbfolge mehr, nicht mal in Friedwang. Cui dolet, meminit. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Der Wahlspruch unseres Hauses. ”
“Hat der Name Oppstein denn schon einen derart schlechten Klang… in der Rommilyser Mark? Wir haben es doch so gedreht, dass er Golos legitimer Sohn ist. Ich meine, Alboran ist doch kein Bastard wie jeder andere. Du hast ihn adoptiert, als Halbwaise. Ist das nicht praios- und traviagefällig genug, in den Augen der Markgräfin?”
Alrik hielt sich an beiden Seiten fest, während sich die “Karracke” zur Seite neigte, erst nach Backbord, dann stark nach Steuerbord.
“Du solltest Adginna von Binsböckel besser nicht unterschätzen. Schlotz mag vielleicht nicht Zwerch sein, oder Gallys, geschweige denn Rommilys...aber...es ist auch nicht das Orkland. Sie weiß, dass dein verschollener Ehemann nicht Albos leiblicher Vater war. Dass er in Wahrheit mein Bastard ist. Was soll ich sagen. Sie sind die einzige Adelsfamilie, die ich kenne, die sogar Wert darauf legt.”
Ismena blickte erstaunt.  
“Eine alte Geschichte. Als das Haus Binsböckel damals seine Anklageschrift geschickt hat, gegen meinen schurkischen Vetter Gernot, aufgrund des Mordes an Bannvogt Travin von Binsböckel. Da standen die Namen von 25 Binsböckeln darunter. Die letzte Unterschrift unter dem Brief stammte von Tsafried von Schnayttach zu Schlotz, dem boronseligen Gemahl Adginnas. Ich muss Ihrer Hochgeboren Recht geben. Es käme in der übrigen Familie nicht sehr gut an, wenn ihre Tochter nun ausgerechnet den Enkel des Erzverräters und Meuchelmörders Gernot heiraten würde.”
Die Gießenbornerin lächelte schnippisch. “Du weißt, dass ich allen Grund hatte, Gernot zu verabscheuen. Möge er in den Niederhöllen schmoren. Aber diesem Tsafried hat sein eigener Bastard den Kopf abgehackt, nach allem was man so hört. Dieser Unhold, oder, nein, wie hieß er noch gleich, Traviahold vom Schattenholz. Da habe ich Alboran doch zu ein klein wenig mehr Familiensinn und Vaterliebe erzogen. Wir hätten allen Grund, uns gegen eine derartige Verbindung zu stellen. Mein Albo, der hätte eine Liebfelderin verdient, eine Rabenmund oder Bregelsaum. Von mir aus ein Edelfräulein aus Garetien. Aber diese Holzfällerbaronin, die nur über ihre eigene Burg herrscht? Ich weiß nicht. Dann lieber gleich eine Krautjunkerin aus dem Bornland ?!”
“Vor einer Woche wolltest du noch partout, dass Alboran Baron von Friedwang wird, nach seinem Ritterschlag. Ohne Rücksicht auf Tsalinde oder Ravenhart.”
“Als ich darauf bestanden habe, wäre Serwa beinahe an die Kemenatendecke gesprungen.”
“Ist sie aber nicht. Sie hat nur den Zinnbecher an die Wand geworfen, und dabei den schönen alten Wandteppich ruiniert.”
“Gleich darauf hat dann deine famose Schwägerin mit ihrem Sirenengesang angefangen. Dabei ist Syrenia nicht einmal Erbvögtin von Friedwang. Dieses Amt gebührt nur ihrem Mann.”
“Bisch treibt sich halt lieber bei den Golgariten herum, statt sich um seine Ländereien zu kümmern. Aber mein Bruderherz hat ausdrücklich beurkundet, dass Syri in seiner Abwesenheit Frau Erbvögtin sein soll.”
“Was ist sie denn schon, die kleine Mersingen? Eine bessere Lehensvögtin. Dieser ganze gierige Wespenschwarm besteht doch nur aus Vögten und Pfalzgrafen, die sich auf fremden Honig stürzen.”
“Ja, aber die Schwarzgoldenen sind nun mal nahe Verwandte unserer geliebten Kaiserin. Gegen Mersinger Meisterpläne seid selbst ihr Oppsteins machtlos, glaub es mir. Entschuldigung, ihr Oppstein-Berlînghan-Mersingens. Dank Adran habt ihr sie ja selbst schon im Haus. Syrenia und Bishdarielon können die Erbvogtei jederzeit an ihren Sohn Ravenhart weitervererben, und so weiter. So war es der ausdrückliche Wunsch der Markgräfin. Immerhin war Bishdarielon mal der Knappe Graf Answins und gilt noch immer als getreuer Anhänger der Rabenmünder. Getreuer als ich. Wenn ich mich jetzt nicht mit den Senkenthalern einige, werden sie bis in alle Ewigkeit am Steinbockthron sägen. Nichts ist schlimmer als ein Großwesir, der in einem fort Sultan anstelle des Sultans werden will.”
“Serwas Idee, Tsalinde mit dem eigenen Vetter Ravenhart zu verheiraten, ist auch nicht gerade traviagefällig. Das wäre doch reine Inzucht. Möchtest du, dass deine Enkel eines Tages herumschlurchen wie die Goblins? Für einen Ehebund unter derart nahen Blutsverwandten werdet ihr einen Dispens des Heiligen Paars brauchen. Aber selbst wenn die Traviakirche bei so etwas mitspielt. Ich frage mich, warum Serwa ihrer Tochter das antut. Vielleicht sind Tsali und Ravenhart ja gar nicht so nahe verwandt, wie du denkst? Manche behaupten ja, dass ein gewisser Baron Adran von Oppstein...aber ich will nichts gesagt haben...Nimmst du mir mein Kamel, nehm ich dir dein Kamel, so lautet die Regel beim Spiel mit Roten und Weißen Kamelen. Wenn du dich schon mit dem Sultan von Unau vergleichst. Der echte Beherrscher der Ungläubigen soll wenigstens so schlau sein, seinen Harem von Eunuchen bewachen zu lassen. ”
“Ich danke dir für deine ehrlichen Worte, Ismena. Doch wirklich, ich weiß deine unverblümte Art zu schätzen. Aber du solltest mit deinen Steinen besser auf dem Teppich bleiben. Beim Kamelspiel zählt bekanntlich nicht das Erobern der Lasttiere, sondern allein der Wert der Ware, den man am Ende erhält. Ich möchte mein Haus bestellt haben, wenn ich mich demnächst in mein Rommilyser Palais zurückziehen werde. Zwei Baronien für die Familie Friedwang sind besser als eine. Ebenso ist Frieden besser als endloser Zwist und Hader in unseren Reihen.”
Die Fahrt beruhigte sich ein wenig, und Alrik schaffte es, sein Barett unter dem Stuhl hervor zu klauben. “So eine schlechte Partie sind die Schlotzer auch wieder nicht. Die Holzpreise haben ganz schön angezogen, in letzter Zeit. Salz und Kupfer soll es auch geben, am Oberlauf des Gernat. Adginna  und ich, wir haben schon ein wenig Korrespondenz geführt. Die Binsböckel ist eine Frau der klaren Worte. Eigentlich müsstest du dich ganz gut mit ihr verstehen. Ich denke, sie stört sich nicht wirklich daran, dass Alboran ein außereheliches Kind ist. Die Schlotzer leben ja nicht hinter dem Madamal. Aber sie hätte schon etwas dagegen, sich einen Enkel Gernots ins Haus zu holen. Wenn nicht Schlimmeres...
“Ein Enkel Gernots? Oder Schlimmeres?” Ismena schnaubte und ruckte vor. “Was macht dich eigentlich so sicher, dass du sein leiblicher Vater bist, und nicht Golo?”
Alrik lächelte frostig. Nun fiel ihm wieder ein, warum aus ihrer beider Beziehung doch nichts geworden war. Im Vergleich zu Ismena, seiner großen Liebe von einst, war Serwa immer nur eine gute Freundin und Verbündete gewesen, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Ismena war ihrem ganzen Wesen nach eine von Oppstein. Wahrlich eine rahjabegnadete Frau. Aber auch die Schwester Redenhardts, für den selbst göttliches Wirken nur ein Stein auf dem Kamelspielbrett der Macht gewesen war.
“So etwas spürt man”, sagte Alrik schmallippig. “In Kurgasberg war ich ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Allerdings, ich gebe dir Recht. Wirklich beweisen kann ich es nicht. Und ich habe das Gefühl, die Vögtin wünscht erst einen Beweis, dass ich wirklich Albos Vater bin, bevor sie einem Traviabund zustimmt. Deswegen nehme ich dich mit zur Trollburg.”
“Um Albo vor aller Welt zum Bastard zu erklären? Das ist nicht dein Ernst!” Ismena spielte mit ihrem Amulett, das einen Rahjakelch zeigte.
“Nun, in Schlotz können es Bastarde weit bringen. Die Vögtin möchte nur sicher gehen, dass Alboran nicht insgeheim doch Golos Sohn ist.”
“Der Sohn eines reumütigen Praiospilgers, der von einer Wallfahrt nach Balträa nicht zurückgekehrt ist. Was sollte daran verwerflich sein?”
“Ismena, halte mich nicht zum Narren. Vor allem, verkauf dich selbst nicht für dumm.  Du weißt, wer Golo wirklich war. Seit dem Tag, als er mit seinem schiefen Hals das Licht des Praios erblickt hat. Und der Götterfürst ihn vermutlich ebenso schief angesehen hat. Am Ende ist Golo dem Dreizehnten verfallen, dem finstersten aller Götter.  Ich muss den Binsböckels beweisen können, dass ich Alborans Vater bin. Du kannst es von allen Sterblichen am besten bezeugen. Du wirst es bezeugen, nicht wahr?”
“Vielleicht möchte ich einfach nur meinen geliebten Sohn wieder in die Arme schließen. Nach allem, was geschehen ist.” Ismenas Stimme zitterte. “Er ist doch noch auf der Burg, oder?”
“Ja, das habe ich so arrangiert.” Alrik lehnte sich zurück. “Was ist damals eigentlich geschehen? Damals, als Varenas Horden über Friedwang hergefallen sind? Es war mir nicht einerlei, dass du einfach so, mirnichtsdirnichts, aus meinem Leben verschwunden bist.  Wo warst du all die Jahre? Als Alboran, als deine Güter deinen Beistand am nötigsten gebraucht hätten? Doch nicht wirklich bei diesen verrückten Säbeltänzern im Raschtulswall?” Der Friedwanger klang verächtlicher, als er es beabsichtigt hätte.  
Die “Rahjajungfer” blickte noch immer hinaus auf die Straße, wo der Regen etwas nachließ und schließlich ganz verebbte. “Was weißt du schon von den Mysterien der Rahja? Du und die ignoranten Bauern in Gießenborn. Allein dieses ständige Gerede von Säbeltänzern...Die Brüder und Schwestern waren nur selten im Gießental zu Gast. Ihre Anmut und Eleganz war nichts für einen Ort des Chaos wie die Wildermark. Rahjas Kavaliere, die wurden uns später aus Belhanka geschickt, um den Tempel zu schützen. Das Volk hat auch sonst wenig begriffen. In ihren Augen waren die frommen Fechter nur schwerbewaffnete Lustknaben, ebenso wie die Säbeltänzer. In deinen Augen offenbar auch.” Die Adelige hatte sich ein wenig in Rage geredet.
Sie ist immer noch elfenschön, dachte Alrik. Kaum zu glauben, dass die Frau dort ungefähr so alt sein sollte wie er, der ergraute alte Fuchs.
Ismenas Augen blitzten ihn an. “Genauso gut könnte ich dich fragen, wo du warst, mit der Landwehr und der Steinbockgarde, als Gießenborn verbrannt ist, im Feuer des Drachen. Als Windstag, mein getreuer Diener, erschlagen worden ist... die Diener der Schönen Göttin abgeschlachtet worden sind wie Vieh....”
Die Gutsverwalterin stockte und wischte sich eine Locke aus der blassen Stirn. “Selbst ein Kampf  kann etwas Wunderschönes sein, das hat mich der Anblick der Säbeltänzer gelehrt. Es ist wie ein Rausch, haben sie mir gesagt. Man erfährt das Leben als ungeheuer intensiv, wie nur in wenigen Momenten unseres Daseins, spürt selbst den Schmerz kaum. Aber diese Art von Krieg...Varenas Horde war hässlich, einfach nur hässlich. Das Ende meines Gießenborn war ein erbärmliches Morden, Plünden, Brennen...und Vergewaltigen.” Die Stimme der Oppsteinerin bebte.
“Was ist danach geschehen? Alle haben geglaubt, du hättest dich in ein Kloster zurückgezogen, vor Trauer und Schmerz. Ich hätte das sogar verstanden. Aber zumindest hättest du ein Lebenszeichen  geben können. Wenn nicht mir, dann wenigstens Alboran...”
“Trauer und Schmerz, das habe ich wahrlich empfunden. In einem Kloster war ich sogar wirklich. Allerdings in einem Kloster der Travia.”
“Ein Traviakloster? Das muss eine schreckliche Strafe für dich gewesen sein.” Alrik versuchte scherzhaft zu klingen.
Ismena blickte ihn unergründlich an, aus smaragdgrünen, feucht schimmernden Augen. “Wenn du es genau wissen willst. Ich war eine Gefangene. Varenas Gefangene, in den Ruinen von Alveranskuppen. Mein Gesicht war im Drachenfeuer verbrannt, ein paar Hiebe und Stiche habe ich auch davongetragen. Auf diese Weise bin ich wenigstens der Schändung entgangen. Die Dreckigen waren so großzügig, mich wieder gesund zu pflegen. Sie wussten, dass mich die Narben am meisten schmerzen würden und der Blick in den Spiegel. Dass ich für sie lebend mehr wert sein würde als tot. Das Gesindel hat sich eine Zeitlang im Kloster eingenistet. Die Badilakaner waren geflohen, bis auf einen alten Heiler, Bruder Elmert. Der gute Elmert hat mich gerettet. Und ja, du hast schon Recht. Es war eine Strafe. Nicht für Hurerei und Unzucht, wie die ach so traviafrommen Friedwangen glauben. Sondern für die Frevel des Hauses Oppstein. Der Drache ist das Wappentier meiner Familie. Es hat Gießenborn ebenso den Untergang gebracht wie Rübenscholl.  Arlopir kam aus Drachweiler herangekrochen, dem ältesten Dorf unserer Baronie. Das hat mir die Augen geöffnet. Varenas Plünderzug war die Strafe für all die Sünden, die wir Oppsteiner an der Schönen Tochter begangen haben, der Vertrauten des glücklichen Zufalls.”
 “An Redenhardts Ränken trifft dich keine Schuld, meine Liebe.”
Ismena schlug mit dem zusammengefalteten Fächer gegen ihr Kinn. “Redenhardts Ränke? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.”
“Nehmen wir mal das angebliche göttliche Zeichen nach Alborans Geburt. Als Funken in allen Farben des Regenbogens um das Kind gesprüht sind und Redenhardt die friedwanger Bauern zum Aufstand anstacheln wollte. Alboran, der als Golos Erbe über Friedwang herrschen sollte, an Stelle Serwas. Hatte Redenhardt denn nie Angst, dass ihn Praios eines Tages zur Rechenschaft ziehen würde, für dieses unwürdige Schmierentheater ?”
“Nun, Parinor, der spätere Inquisitionsrat, hat darin ebenfalls ein Zeichen des Götterfürsten gesehen.”
“Warum hat euer Bruder das Geflimmer nicht als ein Zeichen der Tsa gedeutet? Immerhin hat mein Sohn am ersten Tag im Tsamond Geburtstag. Das Licht des Himmelskönigs leuchtet nicht in allen Farben des Regenbogens. Redenhardts sogenannter Berater, der mit den vielen Roben, stand genau neben ihm...”
“Was soll das? Willst du damit andeuten, mein Bruder hätte ein göttliches Wunder gefälscht?”
“Das Gerede vom Gleißenden Kindlein zu Gießenborn hat unsere ganze Baronie in Aufruhr gestürzt. Am Ende wurden die unglücklichen Tobrier dann von Redenhardt niedergemetzelt. Als die Flüchtlinge den ganzen Wahnsinn zum Vorwand für eine Hungerrevolte genommen haben...”
“Die Schlacht an der Hohlen Gasse nach Gießenborn.” Ismena nickte stolz. “Deine  Serwa soll sich auch recht wacker geschlagen haben, gegen das Lumpenpack, das damals schon Rübenscholl den Roten Hahn aufs Dach gesetzt hat. Nach dem Sieg konnte die Baernfarn es eigentlich ganz gut mit meinem Bruder, allen vorangegangenen Differenzen zum Trotz. Was heißt da unglückliche Flüchtlinge? Dieses Räubergesindel war keinen Deut besser als die Tobrierbande in Gareth. Wenn sie nicht sogar von Schergen des Bethaniers angestiftet worden sind...”
“Aufgestachelt wurden die Gleißer allein durch dieses angebliche Mirakel in Gießenborn. Egal. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber du selbst hast gerade gesagt, dass Varenas Feldzug für dich wie ein göttliches Strafgericht war.”
“Wer im Gewächshaus sitzt, soll besser nicht mit Steinen werfen. Altes Rosenbuscher Sprichwort. Mein Bruder war wenigstens immer er selbst. Nun, den Fehler den wir begangen haben, den ich begangen habe, war, zu glauben, dass man im Leben alles planen, lenken und steuern kann. Das Spiel jederzeit kontrollieren kann. Aber Rahja hat mich eines Besseren belehrt. Heißt es nicht, der Mensch denkt, Alveran lenkt? Der beste Weg, die Götter zum Lachen zu bringen, ist es, ihnen von unseren Plänen zu erzählen. Wir haben Alveran in unsere derischen Pläne mit einbezogen, statt uns allein dem Willen der Unsterblichen zu beugen. Das war unsere eigentliche Sünde.”
“Wie ist es dir gelungen, aus Alveranskuppen zu entkommen?”
“Nennen wir es einen glücklichen Zufall. Aber ich will jetzt nicht an damals denken, an all die Schmach und die Schmerzen. Du möchtest, dass ich beweise, dass Alboran wirklich dein Sohn ist? Du kennst das Zeichen ja bereits. Ein fehlendes Stück am oberen Rand des rechten Ohrs. Ein Erbfehler, der in deiner Familie bei allen männlichen Nachkommen vorkommen soll.”
“Ja, das weiß ich. Umso mehr wundert es mich, dass dieser Erbfehler bei Albo plötzlich verschwunden ist, von einen Tag auf den nächsten.”
“Ich musste diesen Makel beseitigen lassen, sonst wäre Alboran wirklich nur ein gewöhnlicher Bastard gewesen. Für alle, die Augen im Kopf haben, und hernach eins und eins zusammenzählen können. Albo wäre ehrlos geworden, in einer Welt, in der Titel und Güter alles sind. Ohne Anspruch auch nur auf das Erbe von Gießenborn.”
“Manche sagen, du wolltest bei der Gelegenheit gleich noch seine abstehenden Ohren kaschieren.”
“Alboran hatte keine abstehenden Ohren, niemals”, fauchte Ismena. “Sie waren halt ein bisschen markant.”
“Mit dieser...Schönheitszauberei hast du seine wahre Herkunft verleugnet. Wer hat seine Ohren behext? Ludwina? Oder dieser wispernde Schatten im Gefolge deines Bruders, mit Vorliebe für billige Jahrmarkszauberei und Taschenspielertricks...?”
“Nein. Es war Bruder Lacio, der Diener des Lebens aus Zaberg und Hofkaplan deiner Mutter. Dem übrigens auch ein Stückchen Ohr gefehlt hat. Von wegen, eins und eins zusammenzählen. Der Tsageweihte hat mir eine überaus potente Heil-und Schönheitssalbe beschafft, das wars. Genau genommen,  übelriechenden Schlamm.  Grolmensalbe hat er das Zeug genannt. Aber es hat wunderbar funktioniert. Albos Ohr war danach vollkommen rund und makellos. Der Preis war eine großzügige Spende fürs marode Tempeldach von Zaberg...”
“Oh ja. Die berühmte Grolmensalbe. Ich habe davon gehört. Sie soll stinken wie die Pest und nur in den Namenlosen Tagen wirken.”
“In den Graunächten, wie die Sokramorier sagen. Wenn man die Salbe zwischen Tsa- und Rosenstunde aufträgt, und im Mondlicht dreimal AIRUTASTA SATAITARU UTARATASI - Ast, Ei und Raute murmelt, dann wirkt es besonders gut. Einige Herzschläge lang hat Albos Ohr wirklich in allen Regenbogenfarben geschimmert, wie am Tag seiner Geburt. Danach war es vollkommen heil. Muss ich einem Anhänger des Heimlichen wirklich sagen, dass das Leben nicht schwarz oder weiß, purpur oder golden ist, sondern oft ziemlich grau? Neblig grau?”
Alrik schüttelte pikiert den Kopf. “Ismena, deine Volksnähe in allen Ehren. Aber du solltest besser nicht zu viel auf das abergläubische Geschwätz der Bauern geben. Ich möchte garnicht wissen, was da irgendeine `weise alte Frau´ zusammengerührt hat, in ihrem vergammelten Austragshäuschen.”
“Glimmerdieck”, sagte Ismena.
“So heiß ich, gewiss.” Nun war der Baron von Friedwang endgültig verwirrt.
“Hast du nie gefragt, was dein Name bedeutet?”
“Eine Baronie mit 3500 Einwohnern, ein geregeltes Einkommen - und mitunter sehr viel Verantwortung.”
“Sehr witzig. Der Name kommt aus dem Nordmärkischen und bedeutet soviel wie Glitzernder oder Schimmernder Teich.”
“Nordmarken, das kann schon sein. Zur Rohalszeit gab es mal ein großes Berggeschrei in der Sichel, das alle möglichen Abenteurer angelockt hat, aus sämtlichen Provinzen des Reiches. Bevorzugt aus den ärmeren Gegenden. Kein Goldrausch, aber schon ein Silberfieber. Gut möglich, dass Bastan Glimmerdieck, einer meiner Spitzenahnen, aus den Westprovinzen stammt, womöglich aus der Gegend von Gratenfels. Dort soll es mehr Glimmerdiecks geben als bei uns. Ich dachte früher immer, dass der Name mit dem Glimmerschiefer zu tun hat, der in den Bergen recht häufig ist. Also irgendwas mit Bergbau. Obwohl. Im Friedwängischen ist Glimmer ein anderes Wort für einen Mühlstein, der besonders hart ist, so dass er nicht ständig geschärft werden muss. Wer weiß, vielleicht stamme ich nicht nur von Gießenborner Junkern, sondern auch noch von einer Gratenfelser Müllerdynastie ab...”
“Ja, das passt. Müller gelten schließlich als die größten Diebe.” Ismena milderte ihre scharfen Worte mit einem entwaffnenden Lächeln. “Wie dem auch sei. Als Mutter eines Gleißenden Kindleins wurde ich immer hellhörig, wenn sich meine Gießenborner vom Glimmern erzählt haben, am Herdfeuer oder in der Spinnstube. Ich dachte lange Zeit, sie meinen damit das Sichelglühen im Abendrot oder das Glitzern von irgendwelchen Felsen. Die ganze Wahrheit habe ich erst von Bruder Elmert erfahren, während meiner Gefangenschaft. Bastan wusste wohl von den heiligen Orten, an denen sich zu bestimmten Zeiten Feentore öffnen, auch in der Schwarzen Sichel. Auf Lichtungen und in Höhlen, aber auch in  Zauberteichen. In schimmernden Teichen...Vermutlich muss es Bastan vom Glimmerdieck heißen, nicht von Glimmerdieck. Die heilende Grolmensalbe stammt womöglich vom Grund eines solchen Sees.”
Ismena zog eine kleine Schatulle hervor, die sie zwischen dem übrigen Reisegepäck verstaut hatte, und öffnete sie. Auf dunklem Samt lag ein silberner Ring. Sie nahm ihn heraus und reichte ihn Alrik, der ihn im Zwielicht musterte, so gut es ging. Ein wunderschönes Schmuckstück, verziert mit verschlungenen Schriftzeichen und einer zierlichen Blütenfee, die einen schwarzen Onyx in Händen hielt.
“Dein Verlobungsgeschenk für das junge Glück?”
“Ja, und mehr als das. Elmert hat ihn mir anvertraut. Er selbst hatte ihn von einem Totschläger aus Chaykas Wilder Horde, der schwer verwundet ins Kloster gebracht worden ist, zum Sterben. Vermutlich ein Beutestück.”  
“Wie romantisch.”
“Wahrscheinlich gehört er ohnehin deiner Familie. Elmert hat mir die Sage von Bastans Feenring erzählt. Ja, du hattest Recht. Dein Vorfahre soll ursprünglich ein Müllersohn gewesen sein, der das Schmuckstück in einem Sack Korn gefunden hat, irgendwo in den Ländern am Großen Fluss. Genauer gesagt im Mahlwerk der Mühle, das durch den Ring blockiert worden ist.”
Versonnen betrachtete Alrik das Schmuckstück, das trotz des Halbdunkels silbrig leuchtete. Regelrecht glimmte. Das Mahlwerk einer Mühle? Der Friedwanger konnte keinen einzigen Kratzer im Metall feststellen, ebensowenig am Schmuckstein.
Mit Juwelen kannte Alrik-Franceso sich dank seines früheren Broterwerbs in Brabak und Al´Anfa ganz gut aus. Onyx. Der schwarze Stein sollte Brücken in andere Sphären schlagen und den Kontakt zu Geistern und Dämonen erleichtern. Welch passendes Geschenk, nach Haldanas Erlebnissen in den Trollzacken. Immerhin sollte Onyx auch vor Vergiftungen schützen. Ismena hatte wieder einmal das richtige Gespür.
“Ich dachte eigentlich, mein Vorfahre Bastan wäre ein armer Ziegenhirte gewesen, der zufällig auf die Gießenborner Silberader gestoßen ist.”
 “Natürlich, und Junker Heldarn von Gießenborn war dann so großzügig, Ziegenbastan  zum Verwalter des Bergwerks und seines Gutshofs zu ernennen. Und ihm gleich noch seine älteste Tochter zur Frau zu geben. Das glaubst du doch nicht wirklich. Dieser Ring weist seinen Träger den Weg in die Feenwelt. Zumindest in Richtung der Grenzorte, wo sich mitunter Tore ins Land hinter dem Regenbogen öffnen. Heldarn Edarna, der, wie du weißt, ein Magier war, wollte diesen Ring unbedingt besitzen. So sehr, dass er sogar bereit war, seine Tochter im Gegenzug mit dem Sohn eines dahergelaufenen Nordmärkers zu verehelichen. ”
“Das Land hinter dem Regenbogen?” Alrik hatte sich den Ring bereits aufstecken wollen, hielt aber inne. “Willst du deine Schwiegertochter in die Feenwelt schicken? Glaub mir, wenn man Haldana näher kennt....die junge Baronin ist ein anständiges Mädchen. Meistens jedenfalls. Aber wirklich ein schöner Klunker. Sogar einer mit Geschichte. Das wird Adginna beeindrucken und daran erinnern, dass die Familie Friedwang mit fast einem Drittel der Kuxe an der Gießenborner Silbermine beteiligt ist.”
“Glaub mir, dieser Ring hat die Macht, einen Sterblichen an die Grenzen dieser Welt zu führen. Wann immer in seiner Nähe Feen- oder Koboldsmagie wirkt, schimmert der Onyx grün. Falls der Ring niederhöllisches Wirken spürt, leuchtet er rot wie Blut.”
Alrik hob die Augenbraue. “Hast du das etwa selbst schon ausprobiert?”
Ismena zögerte mit der Antwort.
Beim Friedwanger fiel der Heller. “Sag jetzt bitte nicht, dass du die letzten sieben...nein, acht Jahre in der Feenwelt zugebracht hast?”
Erneut ging ein heftiger Stoß durch den Wagen. So heftig, dass Alrik das Kleinod aus der Hand geschleudert wurde. Fast war es, als würde der Ring aus eigener Kraft davonschweben.
Pling.
Der Ring fiel draußen gegen einen Stein, prallte ab und hüpfte in das Grün des Wutzenwaldes davon.
“Uups.”  Alrik blickte ehrlich zerknirscht.
Ismena verzog das Gesicht und atmete erstmal tief durch. Dann steckte sie den Kopf durch das vordere Verdeck und befahl dem Vorreiter, anzuhalten.
Der Reisewagen hielt an und das Geräusch von hochspritzendem Schlamm verstummte. Ismena setzte bereits den Fuß auf das Trittbrett. Erst jetzt bemerkte sie die stattliche Pfütze, in der sie sich verschwommen spiegelte, ebenso wie der Wald um sie herum.
“Alrik, was bist du doch nur für ein hesindeverlassener Tolpatsch!”
“Ich glaube, die Götter fanden dieses Geschenk irgendwie unpassend...”
“Auf deine Wurstfinger passt der Ring sicherlich nicht. Aber ich habe gar nicht dich gemeint, sondern dich, Alrik Gerstenberg!” Der wütende Blick der Adeligen traf den Vorreiter. “Wie soll ich  hier  aussteigen, ohne meine Kleid zu ruinieren? Soll diese Adginna glauben, dass wir in Gießenborn herumlaufen wie die wilden Wutzen?
Der Kutscher wollte wieder anfahren, aber ein knapper Befehl hielt ihn zurück. “Ich komme so oder so nicht trockenen Fußes über diese Pfütze, du Tölpel. Du hättest einfach rechtzeitig anhalten sollen.”
Rottmeister Gutbrander, der Anführer der Eskorte, stieg von seinem Warunker und sah sich das Malheur an, die Hand am Schwertgriff.
Mit dem sperrigen Kobelwagen war ein Zurückstoßen riskant, an ein Wenden gar nicht zu denken. Ortwin Gutbrander betrat kurzentschlossen den Wald und hackte einige Zweige von Tannen, Büschen und Bäumchen. Damit baute er der ungnädig blickenden Oppstein eine Brücke über den Tümpel. Alrik folgte, betreten lächelnd, und half Ismena galant auf festen Boden.
Die übrigen Steinbock-Gardisten spähten nervös um sich, auch Alrik Gerstenberg schien die Situation nicht zu behagen. Ihre Pferde stampften und schnaubten leise. Der Wald war genau die Art von schauerlicher Einöde, die jeder Reisender schleunigst hinter sich lassen wollte.
Alrik blickte kurz auf seine Finger, die er eigentlich als schlank und wohlgeformt empfand. Dann sah er sich am Wegesrand um. Irgendwo da drüben musste der Ring aus dem Wagen gefallen sein. Der Stein dort, ja, da war er wohl dagegen geprallt. Schwere Regentropfen fielen von den knorrigen, verwachsenen Buchen und Eichen herab. Alrik schob einige nasse Farnblätter beiseite und betrat das dichte Unterholz. Der Baron von Friedwang hatte nach wenigen Schritt das Gefühl, beobachtet zu werden. Vermutlich lag das an den grotesken Baumgesichtern, die ihn aus dem ewigen Dämmerlicht des Wutzenwaldes heraus anstarrten. Holzaugen, Moosbärte, verkniffene Rindengesichter. Sein Blick ging nach oben, zu den Wipfeln und Tannenspitzen. Die Gewitterwolken waren weitergezogen, goldfarbenes Sonnenlicht flutete die Schattenwelt zwischen den Baumstämmen.
Ah, dort glänzte der Silberring, zwischen grotesk verdrehten Wurzeln, Moos, Nadeln, Laub und Tannenzapfen. Er hob ihn auf und betrachtete ihn genauer. Der Onyx war nicht mehr schwarz, sondern leuchtete in sanftem Grün. Das Schimmern wirkte nicht bedrohlich. Irgendwie fügte es sich sogar harmonisch in die allgegenwärtigen grünen, braunen, goldenen und schwarzen Farbtupfer um ihn herum ein. Alrik spähte über das Artefakt hinweg. Gab es irgendwo in der Nähe Feenwesen? Oder gar Tore in andere Welten, die sonst für das Auge eines Sterblichen verborgen waren?
Nein, es war weit und breit nichts Ungewöhnliches zu sehen. Nichts und niemand.
Ismena, Ismena, dachte Alrik. Nur weil dein Söhnchen mal geleuchtet hat wie Ilsurer Feuerschlick, ist nicht jedes Funkeln und Glitzern gleich ein Werk von Unsterblichen. In diesem Wald gab es auch so schon kaum ein Durchkommen, geschweige denn irgendwelche Pforten in fremde Sphären. Alrik stapfte zurück auf den Weg, wo Ismena schimpfend die Schlammspritzer auf ihrem Rock und den Schuhen begutachtete. Ihr Vorrat an spitzen Bemerkungen würde gut gefüllt sein, in den nächsten Tagen, soviel stand fest.
“Hab ihn, deinen Schatz! Wir können weiter, nach Schlotz.”
Ein zartes Nießen lenkte ihn ab.
“Tsas Segen!”
Die fragenden Gesichter seiner Bediensteten zeigten ihm, dass das Geräusch nicht von ihnen gekommen war. Der Baron von Friedwang blickte zurück in Richtung Waldesgrün. Eine kleines, erdfarbenes Männchen huschte zwischen Blumen, Farnen, Pilzen und Sträuchern davon. So schien es zumindest. Oder war es nur ein Hase, der erst Männchen gemacht und dann hoppelnd Reißaus genommen hatte? Konnten Langohren niesen?
“Mein Kleid...wie überaus ärgerlich!” Ismena hatte von diesem Zwischenfall nichts mitbekommen. “Ja, wir sollten uns sputen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit auf der Trollburg sind. Dieser Räuberwald ist mir nicht geheuer.”   

Jetzt, im Praiosmond, war es lange hell, weswegen Alrik und Ismena trotz der Verzögerung noch deutlich vor Sonnenuntergang Schnayttach erreichten. Beide waren noch nie zuvor in der Ansiedlung, die seit der Zeit der Klugen Kaiser die Marktrechte hatte, gewesen. Obwohl Schnayttach nicht zur Stadt erhoben war, verfügte der Ort dennoch über eine Mauer. Müsste man dazu also Marktmauer sagen, sinnierte Alrik einen Moment lang. Aber dann dachte er mehr über die Mauer und den Ort als solches nach als über Begrifflichkeiten. Die Mauer war - ebenso wie die Burg Schlotz, die darüber thronte - aus auffallend großen Steinen gemauert. Steine, die nur mit der entsprechenden Technik an Kränen oder der unbändigen Kraft von Trollen errichtet worden sein konnten, was man ja von der Burg in den Sagen und Märchen erzählte hier in Schlotz.
Die Ansiedlung am Fuß des Schlotzberges lag ein einem südöstlich des Berges gelegenen Feld aus zahlreichen bis zu zehn Schritt hohen Felsbrocken, die, wenn man den Theorien des Magister Veneficus über die Entstehung der Sichellande Glauben schenken durfte, durch die Wirkung eines vorzeitlichen übergroßen Gletschers aus der Sichel in das Schlotzer Land geschoben worden waren und, nach dem Abschmelzen des Gletschers bis zu seiner jetzigen Größe, einfach hier liegen geblieben waren. Man mochte das glauben oder auch nicht, jedenfalls war es auffällig, dass zahlreiche übergroße Schieferfelsen in einem sonst Kalksteingeprägten Land lagen.
Verbunden waren die Felsen durch Mauerstücke, die zwischen diesen eingefasst waren und sich in eine Höhe von sechs Schritt erhoben. Die Mauer von Schnayttach bestand somit abwechselnd aus Schieferfelsen und mit übergroßen `Kalksteinziegeln` gefertigten Mauerstücken. Einlass in das so gut befestigt wirkende Schnayttach bekam man durch das im Praios der Mauer liegenden Tor, von dem aus ein Karrenweg zum Wutzenwalder Weg führte. Ein Weg, der, wie Ismena zutreffend bemerkte, durchaus etwas mehr Pflege vertragen konnte. Aber das war nicht Alriks Sorge. In Schnayttach waren die Häuser - Fachwerkhäuser wie in Marktfriedwang - zwischen die Felsen und teilweise darauf gebaut. Alrik konnte sich gut vorstellen, dass die ersten Siedler die windgeschützte Lage zwischen den Felsen nutzten und sich beim Bau nur zu gerne die Rückwand der Häuser ersparten, bis die doch begrenzten Flächen innerhalb der Burgmauer aufgebraucht waren. Später hatte man dann Stockwerke aufgesetzt oder auf den Felsen weitere Häuser errichtet. Breit genug, um mit einer Kutsche zur Burg zu gelangen, war nur die Hauptstraße, die über den Marktplatz, am Tsatempel vorbei, zum Berg Schlotz führte. An den weiteren, teils schmalen, teils sehr schmalen Gassen hätte er in seinem früheren Leben als Streuner seine Freude gehabt. Für Fassadenkletterer waren die eng beieinander stehenden Häuser ein Traum - nur zu leicht könnte man von Hausdach zu Hausdach springen oder in manchen engen Gassen, die Füße gegen die Mauern gespreizt, gleich einem Felskamin nach oben klettern. Und in dem kantenreichen Schieferfelsgestein war ebenfalls gut Halt zu finden. Fast bedauerte es Alrik, dass er als Baron und nicht als Phexdiener unterwegs war. Ergänzend, auch das fiel Alrik auf, gelangte nur wenig von Praios hellem Schein in die engen Gassen, die meist im Schatten lagen und vermutlich nur bei hoch stehender Sonne aus dem Schatten kamen. Doch jetzt, in der Abendstunde, war es in den Gassen von Schnayttach schattig und kühl.
Aus einer Gasse zur Linken war das vertraute Hämmern von Schmieden zu hören. Alrik wusste, dass das Handwerk Ingerimms in Schnayttach vertreten war. Sein Blick fiel auf den Ingerimmtempel, zur linken am Ende der Gasse, in einen Felsen hinein gegraben und am Eingang ein kunstvoll gestaltetes Portal aufgesetzt.
Doch Alrik widmete nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit der stillen Schönheit der Stadt. In Gedanken war er schon bei der Vögtin Adginna, die er noch nie persönlich gesehen hatte, von der er aber schon einiges vernommen hatte. Natürlich hatte er sich Erkundigungen eingeholt - als Phexdiener hatte so seine Quellen. Die Vögtin war geschäftstüchtig und korrekt, einem Handelsherr gleich. Sie achtete auf ein ehrliches und zuverlässiges Handeln ihrer Geschäftspartner und stand im Ruf, ihre Zusagen auch einzuhalten. Allerdings, und darauf hatte man Alrik auch aufmerksam gemacht, würde die Vögtin einen Versuch, zu betrügen oder sie zu hintergehen, nicht verzeihen. Nicht zum ersten Mal hatte sie einen Handelspartner aus ihren Kontrakten gestrichen und die Geschäftsbeziehungen abgebrochen, wenn sie einen Betrugsversuch entdeckt hatte. Nun, Alrik würde sich darauf einstellen.
Alrik blickte aus dem Kutschenfenster, sah den Berg Schlotz vorne aufragen, auf dem gut fünfzig Schritt höher die Burg aufragte. Eine weitere, aus großen Steinen bestehende Burgmauer schloss einen großen Innenhof ein. Der Burgbereich musste wirklich groß sein, deutlich größer als seine Burg daheim auf dem Friedstein. Zumindest sah es so aus, als hätten auch Trolle sich in der Burg wohl fühlen können, ohne sich mit den Köpfen am Burgtor zu stoßen. Burgtor und Treppenstufen, Zinnen und Schießscharten waren von der Größe nicht an Menschen angepasst, soweit nicht nachträglich kleinere Mauersteine ergänzt worden waren. Die Mauern selbst waren von einer Höhe und Dicke, die einem Ogerlöffel standgehalten hätten. Beim Anblick der Feste musste sich der Eindruck aufdrängen, dass tatsächlich Trolle die Erbauer gewesen waren. Mit den richtigen Geschützen versehen und mit guten Kämpen bemannt, wäre es wohl schwer bis unmöglich gewesen, die Burg einzunehmen.
Im Hinaufrollen der Kutsche zum gut und gerne acht Schritte hohen Burgtor beobachtete Alrik, wie eine Fahne mit dem Wappen des Hauses Friedwang gehisst wurde. Richtig, nach alter Etikette war es üblich, das Wappen eines Gastes neben dem des Burgherren zu zeigen. Nicht überall wurde die alte Sitte noch hoch gehalten. Aber nach allem, was Alrik über die Burgherrin, Vögtin Adginna, gehört hatte, passte es zu ihr, diese alte Tradition zu wahren.