13. Kapitel - Ausklang
Markt Friedwang, früher Nachmittag des 7.Praios
“So, die Wutz ist verputzt!”
Hochwürden Garafanion unterdrückte einen Rülpser hinter seiner fleischigen, zur Faust geballten Hand, tupfte sich mit der Serviette über die fettigen Lippen und griff nach dem Glaskelch mit Wein. Tatsächlich hatte er den saftigen Wildschweinbraten in Windeseile vertilgt. Erzpriester Ucurian brauchte ein wenig länger, kaute hoch und versicherte sich, dass seine Serviette noch immer korrekt im Kragen steckte, über seiner roten, goldumrandeten und mit Glaubenssymbolen geschmückten Robe. Etwas verlegen blickte er zu Falkwart von Zaberg hinüber, dem Ehrengast im Wirtshaus Zum Güldenen Greifen, der seinen Braten gerade fein säuberlich mit dem Messer zerlegte.
“Vorzüglich” sagte der hochstirnige, vornehm blasse Geweihte, säuberte sich die Hand mit dem feinen Tuch und griff ebenfalls zum Weinglas. “Fast schon ein wenig zu viel des Guten, was man mir hier kredenzt . Lux triumphat!”
“Lux triumphat!” erwiderte der Custos und prostete der kleinen Runde zu. Ucurian murmelte den Trinkspruch pflichtschuldig mit. Das Licht triumphierte tatsächlich, nachdem es gestern ein überaus windiger und unfreundlicher Sommertag gewesen war. Der leidige, kalte Gallysard, der gelegentlich von der Trollpforte herauf pfiff. Aus der entgegengesetzten Richtung war auch noch ein Sendbote aus Rommilys herbeigeweht worden, zusammen mit mehreren abenteuerlich aussehenden Bewaffneten. Die ganz gewiss keine Bannstrahler oder Sonnenlegionäre waren.
Falkwart Malachanias von Zaberg war ein gutaussehender Erzpriester in den späten Dreißigern, ein wahrer Sonnenjunge: mit wallenden, dunkelblonden, leicht gelockten Haaren, strahlend blauen Augen, dem weißen Teint und der selbstherrlichen Attitüde des Aristokraten. Außerdem führte er den Titel “Inquisitions-Commissarius”, was auch immer das genau bedeuten mochte. An eine Wiederbelebung der “Friedwängisch-Oppsteinischen Praioscommission” war wohl nicht gedacht. Offenbar handelte es sich bei Falkwart um einen der “Hilfsinquisitoren auf Zeit”, die in den letzten Götterläufen häufiger gesichtet wurden, rund um die großen Tempel des Reiches. Unordentliche Inquisitionsräte, wie die Sokramorier spotteten. Selbst Garafanion schmunzelte bei dem Gedanken.
Sonnenjunge. Diesen Spitznamen hatte Falkwart sich vor einigen Jahren in der St. Alborans-Siegesbasilika erworben, wo er seine Karriere als Lichtbringer begonnen und einmal sogar Koboldsmagie auf dem Marktplatz ausgetrieben hatte. Danach hatte er sich wohl seiner persönlichen Quanionsqueste gewidmet, auf der Suche nach dem verschollenen Ewigen Licht des Sonnentempels. Wie es hieß, hatte sich der strebsame Falkwart vor allem durch die Archive in Gareth, Rommilys oder Elenvina gekämpft. Was Garafanion beunruhigte, war der Umstand, dass es sich bei Falkwart um einen Verwandten Falko von Zaberg-Glimmerdiecks handelte, der einst der Blutnacht auf dem Friedstein zum Opfer gefallen war. Damals, als sein Vetter Gernot die Gäste der Hochzeitsfeier massakriert hatte.
Genau genommen waren Seine Gnaden an einem Hähnchenschlegel erstickt, als die Wirkung des Schlafgifts eingesetzt hatte, beim Festbankett. Hochwürden hustete sich den eigenen Hals frei. Womöglich war es ein Zeichen, dass man ihm im Rommilys ausgerechnet Falkwart schickte.
Im Moment kehrte Neibhard Garafanion Eulenkuhl ganz gerne den Bauernsohn heraus, um die Reaktion des etwas eitel, glatt und arrogant wirkenden “Sonnenjungen” zu prüfen. Die von Zabergs waren einmal die Edlen des gleichnamigen Dorfs gewesen. Die meisten Familienmitglieder hatten sich aber für ein Leben in der Reichsarmee oder im Dienste des Herrn Praios entschieden. So wie Falkwarts Mutter, Praiolyn “Geßler” von Zaberg, deren ältere Tante einen “von Friedwang” geheiratet hatte. Diese Linie war bereits mit dem feisten Falko ausgestorben. Der jüngere Zweig hatte wenig Interesse am Grolmen- und Feennest Zaberg gezeigt. Wo nun ohnehin das mächtige Haus Mersingen herrschte.
Lux triumphat. Garafanion lächelte säuerlich. Das Kampfgebet vor der Schlacht, aus dem der Trinkspruch stammte, wurde üblicherweise vom Befehliger angestimmt. Hatte Falkwart bereits Ambitionen auf das Amt eines Prätors in Markt Friedwang? Man stieg heutzutage schnell auf, in den gelichteten Reihen der Gemeinschaft des Lichts, selbst und gerade in jungen Jahren. Andererseits, Großinquisitor Amando Laconda da Vanya zählte selbst weit mehr als 90 Götterläufe. Noch hatte die Kirche Respekt vor dem Alter und den Traditionen.
Nun saßen sie am sogenannten “Herrentisch” des vornehmsten Wirtshauses in Markt Friedwang. Draußen nahm das Markttreiben wieder an Fahrt auf, am frühen Nachmittag, rund um den plätschernden Gänsebrunnen: Es blökte, muhte, wieherte, gackerte und grunzte, dazwischen erklangen die aufgeregten Rufe der Händler, Fuhrleute und Bauern. “Greifaxstube”, so wurde das vornehme Nebengemach zum Schankraum genannt. Kein Geringerer als Seine Eminzenz Pagol Greifax von Gratenfels, Wahrer der Ordnung Mittellande, hatte einmal an diesem Tisch gespeist und oben, im "Güldenen Gemach" des Hauses, übernachtet. Damals, im Ingerimm 1022, am ersten Jahrestag der Dämonenschlacht, als St. Alboran und Gilborn geweiht worden war. Einen Moment lang blinzelte Garafanion ergriffen in die Sonne. Der Tag der Weihe war seit Menschengedenken die herrlichste Stunde des Wahren Glaubens in der Baronie Friedwang gewesen. Leider ein überaus flüchtiger Moment, von dem der Tempel noch heute zehrte.
Rauline Sockrenmoor, die Wirtin, hatte das "Allerheiligste" ihres schmucken Gasthauses (mit benachbarter Brauerei) längst auch für gemeines Volk geöffnet, nicht allein für Edelleute oder Geweihte. Jeder musste nach den Tagen von Krieg, Not und Hunger schauen, wie er zu seinen Silbertalern kam. Manche Friedwanger kannten die edle Greifaxstube nur noch als "Rübenscholler Tisch". Gemeint war das farbenfrohe Glasbild auf den Butzenscheiben des Fensters: Die Ansicht eines verschlafenen Bauerndorfs, das eine Schriftrolle am Himmel als "Rübenscholl a.d. drey Wegen" auswies, nach irgendeinem uralten Holzschnitt. Sogar der Jahreslauf war in der Landschaft angedeutet, mit Frühling, Erntezeit und Winter, über einem rot-silber-goldenen Wappen, das Garafanion nicht kannte.
Eine handwerklich schöne Arbeit der Waldglashütte Butzenbinder. Aber die Szene hätte an einem geschichtsträchtigen Tisch wie diesem ruhig ein wenig praiosgefälliger sein können, fand Garafanion. Gemütlich war das Wirtshaus, und dank der Kerzen fast schon taghell erleuchtet. Liebend gerne hätte er sich jetzt ein süffiges "Hergoldsbräu" gegönnt, zum Wildschweinbraten mit Rotkohl und Klößen. Aber vor Falkwart von Zaberg wollte er den Bauernspross auch nicht über Gebühr herauskehren. Nun, Pagol Greifax war nicht gerade für schnelle, geschweige denn voreilige Entscheidungen bekannt. Vermutlich zog der Greif einfach nur seine Kreise, hoch über Friedwang, und spähte mit scharfen Augen nach Dingen, die sein Mißfallen erregt hatten. Oder noch erregen würden.
Falkwart ahnte Garafanions Gedanken, natürlich, die Gehilfen der Heiligen Inquisition galten als hervorragende Menschenkenner. “Seine Eminenz lässt Euch von Herzen grüßen. Ihr dürft versichert sein, dass ihm der kleine, aber keinesfalls unbedeutende Tempel von Markt Friedwang bestens im Gedächtnis geblieben ist. Pagol würde Sankt Alboran und Gilborn gerne wieder einmal besuchen. Allein die vielen drängenden Probleme in der Ordo halten ihn davon ab.”
Garafanion beugte sich vor. Hatte der Commissarius gerade drängende oder drängendere Probleme gesagt?
“Es ist bereits eine große Ehre für einen kleinen Tempel wie den unseren, dass Seine Eminenz in Gedanken bei uns weilt. Darf ich einen Nachtisch servieren lassen? Einen Alboransstollen vielleicht, mit Rosinen und Puderzucker? Der Birnenpudding hier ist auch sehr zu empfehlen...für illustre Gäste streut die Sockrenmoorin sogar ein wenig Benbukkel darüber. Von den Zimtinseln." Garafanion führte zwei zusammengelegte Finger an die Lippen und schmatzte. "Ein Gedicht, kann ich Euch sagen."
“Sehr gerne. Birnenpudding, das klingt gut, nicht wahr, Bruder Ucurian? Aber lasst mich erst einmal dieses Festmahl verdauen.”
Ehrwürden Falkwart lächelte, ein wenig zu glatt und unverbindlich, wie Garafanion fand.
“Es freut mich ebenfalls außerordentlich, wieder in meinem alten Tempel zu weilen. Wo ich meine frühen Geweihtenjahre verbracht habe.” Der Rommilyser Erzpriester faltete die Serviette fein säuberlich zusammen, als wäre es seine Priesterprüfung, und legte sie auf den mit blütenweisen, goldbestickten Leinen gedeckten Tisch. Während Ucurian ein wenig gekleckert hatte, wie immer, leuchtete die Decke rund um Falkwarts Teller so makellos sauber, rein und weiß, als wäre sie an Praios Tafel daselbst ausgebreitet worden. “Wie viele strahlende Vorbilder sind seither von uns gegangen. Hochwürden Andras Braniborian von Lyngwyn. Hergold Daradorian, sein Bruder und Nachfolger. Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein. Auf die wahren Helden des Glaubens!” Falkwart hob erneut das Glas, aus dem bereits der Wahrer der Ordnung geschlürft hatte.
Garafanion blickte ein wenig pikiert über seinen Schoppen und die blakenden Kerzen hinweg. Auf die wahren Helden des Glaubens? Wer waren in Falkwarts Augen denn die falschen Helden der Kirche?
“Euren Vetter Falko von Zaberg-Glimmerdieck nicht zu vergessen”, sagte Hochwürden, um seinem Gegenüber ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Er hatte wirklich noch nicht verstanden, warum Falkwart in der Baronie gereist war. Wollte er mit seinem neuen Titel gleich mal ein bisschen Inquisitor spielen und damit in der Basilika anfangen? Vorhin hatte Falkwart recht interessiert in der Chronik und den Rechnungsbüchern geblättert, aber nun gut, er war gelernter Archivarius.
“Fürwahr, Vetter Falko war mir ebenfalls ein Vorbild. Auch er ist leider viel zu früh nach Alveran gegangen.” Falkwart betrachtete versonnen das Glas, in dem sich das Kerzenlicht spiegelte.
Nun lächelte Garafanion nichtssagend. Der Name war fast die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden entfernten Verwandten und Falko wirklich “fett wie zehn Oger" gewesen, wie Gernot gerne gespottet hatte. Aber irgendetwas an Falkwarts selbstzufriedener, frohgemuter Art erinnerte Hochwürden tatsächlich an den bigotten Ordensgründer.
"Ich habe von Falkos tragischem Ende gehört." Ucurian blickte schon wieder lauernd. “Ein weiteres Opfer der Intrigen Gernots von Friedwang” sagte der Luminifer von Sankt Alboran. “Die Baronie leidet bis heute unter den Ränken dieses borbaradianischen Verräters. "
Zu Garafanions Erstaunen eilte Falkwart ihm zu Hilfe, gegen den plumpen Seitenhieb seines Stellvertreters.
“Nun, auch der Vetter meiner Mutter hat Gernot bis zuletzt vertraut. Der Abtrünnige war ein Meister des Blendwerks und der Täuschung, dem Erzheiligen Gilborn seis geklagt".
Garafanion nickte dankbar: "Eine Zeitlang erschien mir Gernot ebenfalls als bußfertig und reumütig. Nachdem er als frommer Einsiedler im Schratenwald gelebt hat..."
Falkwart musterte den Prätor von oben bis unten. Dann legte er die Hände gegeneinander. "Nun, als frommen Einsiedler möchte ich den Geächteten auch nicht gerade bezeichnen. Wirklich aufgeklärt wurden seine schurkischen Intrigen und Missetaten leider nie. Restlos aufgeklärt, meine ich. "
"Was genau wollt Ihr uns damit sagen?" Ucurian versuchte, möglichst irritiert zu klingen. " "Fürstin Irmegunde hat damals ihr Urteil gesprochen. Ein gerechtes Urteil. Acht und Aberacht, für einen borbaradianischen Hochverräter...Das Urteil Ihrer Durchlaucht war von praiosgefälliger Klarheit und Deutlichkeit, wie ich finde."
"Nun, ich rede selbstverständlich nicht vom Richtspruch Ihrer Durchlaucht. Es waren Gernots nächste Verwandte, die damals mit Samthandschuhen angefasst worden sind. Ihr kennt ja Meister Selbfried Rabensang, den seligen Inquisitionsrat. Nun, vor einigen Götterläufen habe ich dessen Diarium in der Stadt des Lichts entdeckt, durch eine wundersame Fügung des Herrn. Mit einer unverwelkten Quanione als Lesezeichen..." Falkwart lächelte verzückt. "Nein, die heilige Blume war ein Zeichen. Ein Hinweis darauf, das in dieser Angelegenheit dem Ius divinum noch nicht vollständig Genüge getan worden ist. Haben wir die schwarzrote Wunde von damals wirklich ausgebrannt, oder schwärt sie immer noch, im Verborgenen? Womöglich hat sie sich längst in purpurnen Wundbrand verwandelt. Gernots Sohn Golo, der Schiefhals, scheint nach wie vor sein Unwesen zu treiben, und einem Zirkel von Kultisten des Namenlosen nahezustehen. Insanctissmus. Diese Anbeter des Erzbösen versuchen, die sogenannten Alten Kulte in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu verderben. Ist die Herde unseres Herrn erst einmal zerstreut, haben die Wölfe ein leichtes Spiel. Golo war...oder ist der Gemahl Ismenas von Oppstein. Womöglich war es nur der Gipfel eines Firunsbergs, den wir bei der Enttarnung seines Vaters erblickt haben ?!"
"Das sind nun wahrlich ....weitreichende Anschuldigungen, gegen die Familie des seligen Parinor Rukus von Oppstein". Ucurian hatte sein Mahl beendet, zog die Serviette aus seinem Kragen, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Teller. "Immerhin ein Ordentlicher Inquisitionsrat und untadeliger Märtyrer der Praioskirche. Gibt es da denn...irgendwelche belastbaren Hinweise?"
“Nun, es sind wohlgemerkt nicht meine Worte. Sondern die Schlußfolgerungen Meister Selbfrieds. Seine Bedenken waren der Grund, warum er Gernot nach dessen Wiederkehr in Kirchenarrest nehmen ließ, statt die Aberacht zu vollstrecken. Er wollte eigene Untersuchungen in diesem verwickelten Fall anstellen. Leider wurde Hochwürden Selbfried kurze Zeit später in Praios Paradies abberufen. Seine Entscheidung hat in Friedwang leider für Missverständnisse gesorgt.”
Garafanion hüstelte erneut. "Das sind wirklich Schatten aus der Vergangenheit...alte Geschichten aus der Wildermark…alles sehr lange her."
Der Rommilyser hob beschwichtigend die Hand. "Versteht mich recht, Hochwürden Garafanion. Eure Aufgabe war es, die wilden Tiere von eurer Herde fernzuhalten. Da hattet Ihr wenig Zeit, Euch auch noch um das wild wuchernde Unkraut auf Aarmars Acker zu kümmern. In Rommilys, aber auch in der Wehrhalle von Elenvina, weiß man Eure Standhaftigkeit zu schätzen, in den Zeiten der Verwirrung. Ihr selbst habt den blenderischen Dämon mit einem Lichtstrahl zerschmettert, der zeitweise wohl auch in Gernots Gestalt geschlüpft war, um uns zu foppen. Womöglich hat dieser Gehörnte einige der schlimmsten Verbrechen verübt, die dem Friedwanger hernach zu Last gelegt worden sind. Nach Gernots Ableben habt Ihr Alara enttarnt und den blutigen Aufstand der Sokramorier beendet, durch euer beherztes Eingreifen auf dem Marktplatz. Sollte die Kirche einen Fehler im Umgang mit dem Verräterbaron begangen haben und vielleicht hie und da übergroße Nachsicht geübt worden sein, so wurde diese Scharte von Euch ausgewetzt. Anlass zu Tadel besteht jedenfalls nicht mehr."
Garafanion blickte selbstzufrieden, faltete die Hände über dem Bauch und linste zu seinem Luminifer. Nun war es Ucurian, der verdrießlich drein sah.
Falkwart griff an seinen reich geschmückten Gürtel und zog aus einem Beutel ein kleines, in Leder gebundenes Buch hervor, das abgegriffen und fleckig wirkte. "Dennoch darf der Praiosgläubige niemals nachlassen, auf der Suche nach der letzten Wahrheit und vollkommenen Gerechtigkeit. Selbfried Rabensang wurde in der Wildermark grausam zu Tode gemartert, durch Orkenhand. Am Ende ist er dem Pfad der Heiligen Lechmin von Weiseprein ebenso gefolgt wie des Heiligen Gilborns von Punin. Kann es ein vortrefflicheres Ende geben? Als ich Selbfrieds Tagebuch gelesen habe, hatte ich das Gefühl, seinem leuchtenden Beispiel folgen zu müssen. Ich möchte die Suche vollenden, die Er nicht mehr zum Abschluss bringen konnte. Wie gern würde ich all das finstere Unkraut auszureißen, das bis heute in der Sichel wuchert. Denn das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie stets neues Unheil muss gebären".
Ucurian winkte ab. "Gernot wurde abgeurteilt, von Golo fehlt seit Jahren jede Spur. Dass in Wahrheit ein Gestaltwandler hinter den Untaten seines Vaters gesteckt hat – darauf mag es Hinweise geben, aber Beweise gibt es keine. Die Irrlehren dieser Sokramorier sind an sich schon gefährlich und verdammungswürdig, auch ohne namenlose Einflüsterungen. Seid Ihr sicher, dass das überhaupt das echte Tagebuch des Inquisitionsrats ist? Womöglich möchte jemand die Saat des Zweifels in unsere Reihen tragen, die auf Aarmars Acker bereits reichlich gedeiht? "
"Nun, einer von Selbfrieds Bannstrahlern, ich glaube, er hieß Brias oder Salvatore, hat das Büchlein nach Gareth gebracht. Nachdem Meister Selbfried das Martyrium auf sich nehmen durfte. Ich hege nicht den geringsten Zweifel an seiner Echtheit." Der Commissarius blätterte in den Seiten. Garafanion musste ihm Recht geben. Die fein säuberliche, ordentliche Schrift war eindeutig die Handschrift des Garether Inquisitors. Nur eine Druckerpresse hätte sie noch an Formstrenge und Ebenmaß übertreffen können. Sogar einige Skizzen hatte Selbfried beigefügt. Garafanion glaubte Foltergeräte zu erahnen, aber auch einen peitschenschwingenden Heshtot unter einer finsteren Kapuze.
"Ein überaus aufschlussreiches Dokument, dünkt mir. Wenn ich allein diese Stelle hier nehme. Als Selbfried damals in Gallys geweilt hat. Nun, da wurde er von einem Zauberer namens Hesindian gewarnt, dass Alara von Friedwang, Gernots Tochter, ebenfalls mit dem Rattenkind unter einer Decke steckt. Also hat er eine Brieftaube in Euren Tempel geschickt, um Euch vor der falschen Baronin zu warnen, Hochwürden Garafanion...aber auch vor Golo, dem Anführer des Zirkels."
Der Angesprochene erbleichte. War er nicht gerade von jeder Schuld freigesprochen worden, an den chaotischen Ereignissen in Friedwang? Außer vielleicht vom Vorwurf, zu milde und nachsichtig mit seinem Zögling Gernot gewesen zu sein? "Diese Taube ist niemals in der Basilika angekommen, bei den Reliquien von Sankt Alboran. Hätte ich davon gewusst, hätte ich selbstverständlich entsprechende Maßnahmen ergriffen."
Falkwart blickte über das Büchlein hinweg. "Es war ein kurzer Weg...aber wer weiß, welcher Dämon da am Werk war."
"Hesindian hat also den entscheidenden Hinweis auf Alara gegeben, soso." Erzpriester Ucurian legte sein Besteck auf den Teller. "Wir reden von Hesindian Silpho ya Phaitos? Den Hofmagier Baron Alriks von Friedwang, der zuvor in Diensten Baron Gernots gestanden hat? Eine Zeitlang in den Schwarzen Landen verschollen war...und dort irgendwie, auf scheinbar wundersame Weise, überlebt hat? Gezeichnet mit schneeweißen Haaren?" Erzpriester Ucurian machte nicht den geringsten Hehl aus seiner Verachtung.
"Woher hatte Meister Schlangenzunge denn seine famosen Erkenntnisse? Es würde mich nicht wundern, wenn dieser dunkelgraue Hofzauberer selbst mit der Gegenseite unter einer Decke gesteckt hat. Und hernach versucht hat...sich irgendwie heraus zu winden, wie eine Schlange." Ucurians Hand schlängelte sich über den Tisch, während seine Stimme vor Groll bebte.
"Nun, Selbfried mochte Graumagier auch nicht besonders. Aber, glaubt mir, einen doppelzüngigen Häretiker hätte Hochwürden schnell entlarvt. Seit einer gemeinsamen Reise nach Maraskan hat er Hesindian - leidlich - vertraut. Nein. Früher oder später führen alle Spuren zu Gernots Familie, seien es nun leibliche oder angeheiratete Verwandte. Ich habe mir erlaubt, Ismena von Oppstein genauer unter die Lupe zu nehmen..."
"Ismena von Gießenborn? Die war doch seit dem Überfall der Drachenmeisterin verschollen, wie schon zuvor ihr schiefhalsiger Gemahl." Garafanion griff nach der Karaffe und bot dem Commissarius noch etwas Wein ein. Dieser nickte dankbar.
"Ja, seht Ihr. Genau das hat mir zu denken gegeben. Ebenso die überdeutliche Verbindung des Hauses Oppstein zu den Hexenkulten, die dem Namenlosen oft als Einfallstor in die verwirrten Seelen der Menschen dienen. Des jüngeren Hauses Oppstein. Wenn ich allein an die vielen schändlichen Geschichten denke, die man sich über Baron Adran erzählt. Wir müssen endlich ein Exempel statuieren. Auf dass endlich wieder der rechte, unverfälschte Glaube in den Sichellanden Einzug halten möge. Auch Freiherr Alrik von Friedwang ist unhaltbar, als enttarnter Phexgeweihter. Ihre Erlaucht hat sich dazu entschieden, den Fuchs aus seinem Bau hinauszuloben, gewissermaßen, und ihn zum Geheimen Kammerherrn in Rommilys ernannt. Nun ja, der Markgräfin geht es wohl darum, größere Peinlichkeiten zu vermeiden, und den Ruf des göttergegebenen Adels nicht noch weiter zu beschädigen. Schon bald wird Baroness Tsalinde auf dem Steinbockthron sitzen...aber das kann nur der Anfang einer umfassenden Erneuerung in der Mark sein."
Der Custos hob die Augenbrauen: "So rückt die Amtsübergabe also doch näher? Das habe ich gar nicht mehr zu hoffen gewagt, nach Alriks ewiger Hinhaltetaktik. Das letzte, was ich gehört habe ist, dass Seine Hochgeboren mit Ismena in Schlotz weilt. Um seinen Erstgeborenen Alboran mit der dortigen Baronieerbin zu verehelichen...der tugendhaften Haldana. Weiß Travia, was die Binsböckels reitet, eine derartige Verbindung zu erwägen".
"Eine reiche Mitgift bewirkt mitunter Wunder. Die Gießenborner Silbermine soll in den letzten Jahren wieder Gewinne abwerfen. Ja, Ihr habt Recht. Diese Verbindung müssen wir auf jeden Fall im Auge behalten." Falkwart nickte entschlossen. "Immerhin könnte Alboran in Wahrheit ein Enkel Gernots von Friedwang sein. Und Golo über seine Gemahlin Ismena verderblichen Einfluss auf ihn ausüben."
"Gemeinhin wird vermutet, dass Alboran wirklich Alriks Bastard ist", sagte Garafanion. "Eine bedauerliche Geschichte, aber leider nicht ungewöhnlich. Dennoch. Jede Doppeldeutigkeit und Verunsicherung ist gefährlich, wenn es um den wahren Glauben geht. Gibt es denn Hinweise, dass Ihre Wohlgeboren Ismena namenlosen Einflüsterungen ausgesetzt sein könnte? Steht sie womöglich noch in Verbindung zum Purpurnen Junker? "
"Diese Fragen habe ich mir auch gestellt. Ja, es gibt einige Erkenntnisse in dieser Richtung." Falkwart griff nach der kleinen Tischglocke, die mit einem Greifen verziert war, und läutete. "Alfhildur?" Das zweite Läuten war schon ein wenig gebieterischer. "Alfhildur!"
Eine junge Thorwalerin trat ein, mit lederner "Krötenhaut" und Skraja im Schmuckgürtel. Hose und Hemd waren nach Matrosenart gestreift, in grün und weiß. Sie hatte wunderschöne, rotblonde, zu Zöpfen geflochtene Haare, einen rahjagefälligen Vorbau, Sommersprossen und lustige, ein wenig spöttisch blitzende Augen.
Garafanion zuckte zusammen. Seit den Tagen der Wildermark waren keine Bewaffnete mehr in das "Allerheiligste" des Güldenen Greifen mehr gestapft. Hatte "Alfhildur" vor kurzem eine Verwundung davongetragen oder warum war ihr rechter Oberarm mit einem breiten roten Band umschlungen?
"Alfhildur Swafnidrasdottir", stellte Falkwart die großgewachsene Nordländerin vor, die sich beim Eintreten tief unter dem Holzbalken beugen musste. Sie tippte sich mit zwei Fingern lässig an die Stirn, zum Seemannsgruß.
"Alfhildr Swafnirdrasdottir" korrigierte die Frau mit fester Stimme, die kraftvoll und melodisch zugleich klang.
"Alfhildrrrr Swafnirrrdrasdottir" wiederholte Falkwart mit übertriebener Betonung, eher neckisch als herablassend. "Eine Nachkommin der stolzen Hjaldinger aus dem fernen Olport."
"Aus dem Jarltum" sagte Alfhildr und lächelte treuherzig. "Bin eine vom Aurlandfjord, das wohl. Aus Wardby, nicht aus Olport selber."
Garafanion entging die leichte rahjagefällige Spannung zwischen Praiot und "Piratin" nicht. Alfhildrs Augen himmelten den gutaussehenden Commissarius an, so schien es zumindest. Blonde und rote Haare, das passte sogar zusammen. Aber auch Gegensätze zogen sich bekanntlich an.
"Swafnir? Swafnir !?" Ucurian blies den Namen über die Lippen. "So ist sie nach dem Fischgott der Thorwalschen benannt?"
"Nach dem Gottwal, ja", sagte Falkwart. "Alfhildr ist ein Swafnirkind. Eine Walwütige, auch wenn man es ihr nicht sofort ansieht. Deswegen musste sie ihre Heimat schon in jungen Jahren verlassen. Das rote Tuch ist in ihrer Heimat ein Warnzeichen."
Die Thorwalerin lächelte sanft. Oder war sie lediglich krampfhaft um Sanftmut bemüht? "Swafnir zum Gruße, die Herren!" sagte sie, mit der schleppenden Stimme der Fremdländerin, die Garethi erst vor einigen Jahren gelernt hatte. Es klang weich, melodisch und leicht singend, eher nach der sinnlichen Mundart der Horasier als der Mittelreicher.
Ucurian schluckte. "Walwut? Ist das nicht diese besondere Art von Blutrausch, der manche Thorwaler ab und an befällt? Ein Zustand äußersten Jähzorns - bei dem sie Schaum vor den Mund bekommen und wie von Sinnen auf ihre Gegner einschlagen, mit überderischer Kraft?"
"Ganz Recht. Swafnirs Mutter ist schließlich die Kriegsgöttin Rondra, sein Vater der aufbrausende Efferd. Temperament haben sie nun mal, die Thorwaler, das muss man ihnen lassen."
"Eine Berserkerin also? Werter Falkwart, Ihr erstaunt mich." Auch Garafanion blickte verwundert. "Wie in Sankt Alborans Namen ist ein praiosfrommer Mann wie Ihr zur Gesellschaft dieser W..." Der Custos wollte bereits "Wilde" sagen, aber etwas in den stahlblauen Augen Alfhildrs hielt ihn ab. Sicher war es besser, die Barbarin nicht zu reizen. "Dieser Walwütigen gekommen", fügte er hinzu.
"Nun, vor einigen Monden habe ich mich ins Horasreich begeben, um Ismenas Spur aufzunehmen. In Rommilys war nur noch bekannt, dass sie vom Stadthaus der Oppsteins aus Richtung Yaquir aufgebrochen ist, das Gesicht unter einer Maske verborgen. Mit irgendeinem geheimnisvollen Gegenstand im Gepäck. Mein Ansatz, Gernbrecht von Oppstein aufzusuchen, den Condottiere der Rommilyser Reiterei, der in Liebfelder Diensten getreten ist, erwies sich als goldrichtig. Wenig später ist mir dann dieser Fang ins Netz gegangen."
Falkwart lächelte Alfhildr zu, ein wenig versonnen. "Alfhildr wurde von ihrer Sippe wegen des...Swafnirfluchs, der sie plagt, ausgestossen. Seitdem hat sie sich als Seefahrerin und Söldnerin in den Südlanden durchgeschlagen, in Cyclopea, dem Horasreich und im Südmeer...Ich kürze einfach ein wenig ab. In Pertakis, dem Winterquartier der Rommilyser Reiter, wurde mir berichtet, dass sich Alfhildr dort ebenfalls nach Ismena erkundigt hat. Aus nichtigem Anlass ist sie dann in einen blutigen Streit mit den dortigen Brückengardisten geraten. In Walwut...den heiligen Blutrausch, den ihre Leute auch Swafskari nennen."
"Der Neiding auf der Bro war hochnäsig, das wohl!" grollte Swafnidra und blies erregt eine Haarsträhne hoch. "Ich bin gar nicht in Swafskari geraten, nur zornig. Hab dem Samtpuper nur ein wenig in den Arm gehackt, dem Liebfelder Lackaffen...ein paar Zähne kaputt geschlagen und seine feine Nase, das wohl. Kaum angerührt hab ich den Niedlichfelder Nadelpiekser. Dieses gepuderte, pobelbärtige Moosäffchen..."
"Jaja, gewiss. Lässt du mich den Herren bitte deine Geschichte erzählen!" Falkwart klang beschwichtigend, aber auch etwas beunruhigt. Garafanion ahnte, was "Walwut" bei diesem Berserkweibchen bedeuten würde, das durchaus muskulös war. Alfhildr war eine Wildkatze, die sich jederzeit in eine wütende Bärin verwandeln konnte.
"Angeblich brauchte es ein Dutzend Wachen, um sie zu überwältigen. Alfhildr landete im Kerker, und redete sich dort endgültig um Kopf und Kragen. Verzeih mir, Alfhildr, doch, genau so war es. Erzählte von einem Zauberzeichen, das ihr die Wohlgeborene Ismena von Oppstein hinterlassen haben soll, in Belhanka. Eine Rune, auf einer alten Tonscherbe. Ein göttliches Zeichen des Praios, das die Gießenbornerin durch das Orakel von Balträa erhalten haben will."
Ucurian hüstelte. "Moment....habe ich das gerade richtig verstanden? Unser Allerhöchster Herr... soll sich der Schwester von Inquisitionsrat Parinor...ernsthaft....in einem thorwalschen Zauberzeichen offenbart haben? Noch dazu in einem seiner wichtigsten Heiligtümer? Ist es nicht schändliche Blasphemie, etwas derart Widersinniges zu behaupten?"
"Glaubt mir, diese Fragen haben sich die Pertakiser auch gestellt. Meine gute Alfhildr wurde an den Orden der Albigonenser übergeben, der, wie ihr wisst, bei den Liebfeldern die Aufgaben der Heiligen Inquisition wahrnimmt. Dort habe ich sie dann gefunden. Ich muss sagen, sie hat mir ein wenig leid getan, mit den vielen Ketten und dem schweren Magierkragen um den Hals. Offenbar hielten die Brüdern und Schwester im Castell Sanct Aldigon sie für eine dämonisch Besessene. Ich erkannte sofort, dass ich es hier mit einer wichtigen Zeugin in der Causa Oppstein zu tun haben könnte. Offenbar hat Ismena das Orakel von Balträa aufgesucht, um Aufschluss über den Verbleib ihres Gemahls zu erhalten. Sie war felsenfest überzeugt, dass sich ihr Praios in dieser kleinen Scherbe offenbart hat."
"Schärpe?" Garafanion merkte, dass sein Gehör langsam nachließ.
"Scherbe. Von einem zerbrochenen Krug. Darauf war ein Vitkari gezeichnet, ein altthorwalsches Zauberzeichen. Zumindest hat Alfhildr es so gedeutet. Als, äh, wie sagt ihr, Drach…Drug…Drigbanruna. Eine Geisterbannrune..."
Ucurian schüttelte den Kopf. "Kein Wunder, dass sie bei den Albigonensern gelandet ist. Diese magischen Schmierereien finden sich längst auch bei uns, in der Vorsichel. Da soll es sich um alhanisches Zauberzeug handeln. Flüche, Bannzeichen, Schutzzauber. " Der Luminifer spülte schnell seinen Mund mit Wein aus und verzog das Gesicht, was nicht nur an der Säure lag. "Ist diese Alfhilda eine Magierin? Bislang dachte ich, allein die Olporter Akademie praktiziert diese Schwarzkunst. Weswegen sie sogar aus der Grauen Gilde ausgeschlossen worden ist..."
"Nun, das lag wohl eher daran, dass die Runajasko ihre Erkenntnisse nicht teilen wollte. Nicht, weil die Magie derart finster ist. Wie auch immer. In Veliris konnte ich Alfhildr auslösen, kraft meines Amtes. Zur frommen Buße ist sie nun für zwölf Götterläufe in meine Dienste getreten, als Leibwache."
"Ihr solltet Eurer...Dienerin klar machen, dass schon ein geschlagenes Praiosrad über weit mehr Macht verfügt als...diese Alrunen oder wie das thorwalsche Geschnörksel heißt. Ich hoffe, sie lernt schon bald die rechten Gebete. Jede reumütige Anrufung unseres Herrn ist machtvoller als dieses abscheuliche Zaubergeschmiere."
Alfhildrs Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr Blick hatte bislang an einen vierbeinigen Olporter erinnert (die Hunderasse galt als besonders treu, ruhig und gutmütig), aber nun schien sie doch erbost zu sein. "Die Runias sind kein Zaubergeschmiere...sondern eine Kunst. Außerdem, ich steh vor dir und bin nicht zu übersehen...kannst gleich mit mir reden...und nicht mit Falkwart über mich. Das wohl, bei Swafnir!"
"Setz dich doch, Alfhildr", sagte Falkwart begütigend. "Möchtest du einen Schluck mit uns trinken?" Die Thorwalerin zögerte kurz. Im nächsten Moment nahm sie auf einem freien Stuhl Platz, der bedenklich unter ihrem Gewicht krachte und ächzte. Mit dankbarem Nicken griff sie nach der Karaffe und schlürfte geräuschvoll. Schon nach wenigen Schlucken prustete sie den Inhalt aus, wie ein blasender Wal. "Bäh, das ist ja nur Traubensaft?!"
Der Commissarius seufzte und klingelte erneut. "Schankmaid?! Noch einen letzten Torkler, für die weitgereiste Dame hier. Aber dann ist wirklich Schluss, Alfhildr. Denk an die Walwut... "
Garafanion tupfte sich pikiert einige Weinpritzer aus dem Gesicht. Das Verstörende war, dass sich die Barbarin keinerlei Verfehlung bewusst zu sein schien. Mit großen, weißen Zähnen griente sie ihren Gegenüber an: "Du bist in Ordnung, glaube ich. Hast jedenfalls einen lustigen Bart. Mein Name ist Alfhildr...nicht Alfhilda, wie der da sagt. Das wohl! Alfhildr Swafnirdrasdottir!"
Dem scharfen Geruch nach zu urteilen, der dem Custos entgegen wehte, hatte die Thorwalerin "ihr Drachenschiff schon ordentlich beladen". Sie reckte ihm ihre Bärenpranke entgegen, aber da sich Garafanion seine Finger nicht zerbrechen lassen wollte, griff er höflich nickend zum Kelch und nippte.
"Hochwürden Neibhard Garafanion Eulenkuhl, Custos Lumini der Sankt Alborans..." Der Hochgeweihte kam nicht weiter.
Alfhildr prustete erneut los: "Bei Swafnirs Fluke, du hast aber ganz schön viele Namen, Hochwürgen, oder wie dich deine Ottajasko ruft. Wie heißt der da, Hochwürgen?"
"Ucurian ist mein Stellvertreter..."
"Es heißt Hochwürden" tadelte Falkwart sanft. "Das ist ein Ehrentitel, kein Name. Zeig Hochwürden Garafanion doch mal deine Scherbe, bitte..."
"Wie? Ach so." Alfhildr kramte ein buntes Etwas hervor. "Die gehört aber meiner Freundin Ismena, nich mir...Eine feine von und zu. Auch wenn sie nicht so viele Namen hat wie du, Hochwürden. Mit Isi kann man viel Spaß haben. Hätten wir nicht soviel gesoffen am letzten Abend...die hätte ihre heilige Scherbe niemals liegengelassen." Die Thorwalerin schob den Fund über den Tisch. "Lag neben ner umgefallenen Säule, hat sie erzählt. Schaut doch hübsch aus. Is ne Draughbaniruna, glaub ich. Rot und Weiß...die Farben vertreiben böse Geister, bei Swafnir. Könnte auch ne Alfenbannrune sein, wegen dem Triskal. Aber so richtig kenn ich mich mit den Runias auch nicht aus. Gehör ja nicht zur Runajasko. "
"Wenn das Zeichen wirklich magisch sein sollte, muss es sofort zerstört werden, in nomine Praionis!"
Ucurian wollte nach der Scherbe greifen, aber Garafanion kam ihm zuvor. Alfhildr sah aus, als wolle sie dem Luminifer ordentlich einen "ausschenken", wenn er sie weiterhin reizen würde. Vor allem wollte der Hochgeweihte klar machen, wer die höchste Autorität war, hier in der Greifaxstube. Nach wie vor er. "Wenn es magisch wäre, hätten das die Albigonenser schon längst getan. Ist es wirklich ein Zeichen des Göttergebieters, sollten wir uns hüten, es mit Füßen zu treten. "
Der Prätor zog das große Binokel hervor und setzte es sich auf die gerötete, breite Nase. Sofort sah er klarer, im Sonnenschein, der sich mit dem Kerzenlicht auf dem Tisch mischte. Stirnrunzelnd nahm er das vermeintliche Praioszeichen näher in Augenschein. Die Tonscherbe war erstaunlich groß, ein Bruchstück, dass er kaum mit der Hand umgreifen konnte. Die Glasur war vielerorts abgebröckelt und abgeplatzt, hier und da klebte feiner, schwarzer Staub. Natürlich, Baltrea war eine Vulkaninsel.
Einen Moment lang befiel Garafanion Ehrfurcht. Balträa, das höchste Orakel des Himmelsrichters in Aventurien! Dann mahnte er sich selbst zur Ordnung. Besonders ungewöhnlich oder heilig wirkte diese Tonscherbe nicht. Die Sucht des einfachen Volkes nach Wunderdingen war dem Herrn ebenso ein Gräuel wie die vielen kleinen und großen Sünden der Sterblichen. Nicht jede goldfarbene Hahnenfeder stammte in Wahrheit von einem Greifen, nicht in jedem lichtblitzenden Stückchen Glas spiegelte sich gleich das Antlitz der Heiligen Lechmin von Weiseprein.
Die Scherbe wirkte bauchig, als stamme sie von einem kleinen Krug. Innen war sie orangefarben glasiert. Garafanion runzelte die Stirn. An irgendetwas erinnerte ihn die halbzerstörte "Rune", die wie rotierende weiße Wellen auf rotem Grund aussah. Auch wenn er in seinem Leben noch niemals nördlicher als Menzheim, geschweige denn im verschneiten, stürmischen Thorwal gewesen war.
Er rieb ein wenig Vulkanstaub von der Malerei, und stutzte: Waren das Stiefel, an den drei Beinen, die hier im Kreis marschierten? Stiefel, kein Zweifel, mit goldenen Sporen. Unwillkürlich ging Garafanions Blick zu dem Wappen im Butzenglasfenster, das bunt im sanften, hellen Praioslicht leuchtete. Es zeigte ein silbernes Triskele mit drei gestiefelten Füßen. Drei gepanzerte Beine, vor einem roten Wappenschild, die ebenfalls goldene Sporen trugen. Er säuberte das Fundstück noch ein wenig mehr. Kein Zweifel: das hier war die Miniaturausgabe des Wappens im Fenster, wenn auch stark verwittert.
Durch die Tür trat nun Rauline Sockrenmoor, die in Ehren ergraute Gastwirtin, und brachte einen Becher und ein kleines Fläschen mit Schnaps mit. Es roch nach Torkelbeere oder Schwarzdorn, als sie der zufrieden grinsenden Thorwalerin einschenkte. Bornische Torkelbeerenessenz, sowas bekam man selbst in Rommilys nicht an jeder Ecke kredenzt.
Die Wirtin blickte ein wenig verlegen in die Runde: Drei Praioten und eine Thorwaler Barbarin in der Greifaxstube, das hatte sie auch noch nicht erlebt. "Nachtisch, die Herren – und Dame? Birnenpudding vielleicht, mit Benbukkel?"
Garafanion hob die Scherbe: "Weißt du, was das ist, Rauline? Oder mal gewesen sein könnte? Es zeigt das gleiche Wappen wie auf dem Fenster, denke ich..."
Die Sockrenmoor verkorkte ihre Flasche wieder und trat näher. "Das? Mal sehen...Könnte von ner Reubenszeller Pilgerflasche sein. Das Wappen mit den drei Beinen, ja, das ist das alte Ortswappen von Rübenscholl. Drei Wege und so... Das Perainekloster war mal ein beliebter Wallfahrtsort und hat solche Kugelflaschen getöpfert, als Andenken. Bevor es von der Sonnenlegion zerstört worden ist, in der Zeit der Priesterkaiser. Tschuldigung, aber so wars. Nichts für ungut....Früher hat man die Flaschen ab und zu noch gesehen, in Friedwang. Gesegnet waren sie angeblich auch. Gut, um Wasser und Wein frisch zu halten. Junker Golo hat sie alle aufgekauft und zerschlagen lassen. Weil nur Adelige ein Wappen führen dürfen. Hab ich zumindest mal gehört. Rübenscholl war ja sein Dorf. Damals war es das noch. Vor seinem Verschwinden. Halten zu Gnaden, Hochwürden."
"Zerschlagen, aha." Garafanion nickte. "Alle bis auf eine, vermute ich. Am Ende hat Golo offenbar seine eigene Flasche auf Baltrea zertrümmert, am Ende der Bußwallfahrt. Aus welchen Gründen auch immer."
"Verzeihung, wie meinen, Hochwürden?"
Der alte Praiosgeweihte blickte zum Fenster und dann entrückt in die Runde. Diese Scherbe war nicht nur ein Beweis, dass Golo wirklich auf der Orakelinsel gewesen war. Der Götterfürst hatte seinen Dienern gerade eine Flaschenpost geschickt. Sozusagen.
Garafanion schloss die Augen und genoss für einen Moment die Wärme der Sonne auf seinen faltig gewordenen Wangen.
"Es könnte wirklich eine Botschaft unseres höchsten Herren sein. Die drei Wege zu Praios sind seit jeher Veritas, Ordo und Ius. Wahrheit, Ordnung und Recht. Seit der Quanionsqueste wissen wir, dass es noch eine vierte Säule des Glaubens gibt: Integritas. Vollkommenheit, Reinheit und Makellosigkeit. Ebenso, dass Praioslob von Selem, der Begründer der Praiokratie, ein Frevler war, der Zwietracht und Hass in die Reihen der Zwölfgöttergläubigen tragen wollte."
Der Hochgeweihte faltete die Hände. "Die Prophezeiung von Balträa gilt womöglich auch uns, die wir hier sitzen, nicht nur Ismena. Wir müssen den Glauben wieder zusammenfügen, der in der Schwarzen Sichel zerbrochen und beschädigt ist, wie diese Pilgerflasche. Das Dreibein steht seit jeher für den erhabenen Lauf der Sonne wie des Lebens. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Ebensowenig wie das Wirken der zwölf göttlichen Geschwister in Alveran. Oder was meint Ihr dazu, Falkwart?""
Der Inquisitions-Commissarius blickte erst zum Wappen und nahm dann die Scherbe in die Hand, um sie beiläufig abzuwiegen.
"Hm ja...zumindest handelt es sich dabei um kein Zauberzeichen. Ich habe schon den Jubel der Liebfelder Prinzipisten gehört: Praios erteilt in Balträa der Magie endgültig seinen Segen. Wie es angeblich mal im Bosparanischen Reich der Fall war. Lächerlich...Gab es damals nicht Scherbengerichte, bei denen die Namen der Verbannten in Tonscherben geritzt worden sind? Womöglich bedeutet der Orakelspruch genau das: Golo wurde ein für alle mal aus der Kirche der Rechtgläubigen ausgestossen. Jedenfalls ist Magie nicht praiosgefällig und wird es auch niemals sein." Falkwart gab das Flaschenstück zurück.
"Vielleicht könnt ihr die Balträische Scherbe ja noch einbauen, in Eure Predigt. Es trifft sich gut, dass morgen Praiostag ist. Beim Gottesdienst können wir den Leuten mitteilen, dass die Friedwängische Praios-Commission zurückgekehrt ist. Sagt den Bauern und Bürgern, dass ein Kasten im Hof der Tempelburg angebracht werden wird, wo sie all das melden können, was Ihnen in dieser Baronie als praiosungefällig oder sonstwie verdächtig erscheint. Danach können wir den sokramorischen Saustall endlich ausmisten".
Garafanion blickte schon wieder erschrocken: "Eine Aufforderung zur Denunziation?"
"Eine Aufforderung zur Wahrheit, Recht, Ordnung und Integritas." Ehrwürden Falkwart Malachanias von Zaberg prostete Alfhildr zu, die ebenfalls ihre Stirn runzelte: "Bruder Ucurian , was Ihr sagt ist wahr. Du solltest langsam wirklich einige grundlegende Gebete unseres Glaubens lernen, meine liebe Olporterin. In der Zeit deiner Buße."