Der Oppsteiner Erbfolgekrieg

Die Oppsteiner Fehde




Landedlengut Schneiß, Baronie Friedwang, Praiostag, 16. Peraine 1045 BF

 

"Ich muss schon sagen, Bruderherz. Du traust dich was."

Corelian Falconor von Hochfels, Landedler zu Schneiß, wich einem stacheligen Holunderzweig aus. Knackend zerbrach ein morscher Ast, auf dem schmalen, mit Blättern, Farnen, Wurzeln und Pilzen geschmückten Pfad, der unscheinbar in den sonnendurchfluteten Frühlingswald führte. Corelians Blick ging zurück zur Turmhügelburg, die er am Rande des Dörfchens zurückgelassen hatte. Dann spähten seine Augen über die dichten Baumreihen des Eichenwalds, der sich beiderseits des Wegs erstreckte, zwischen Felsen und Senken.

 Es würde nicht einfach sein, sich unbemerkt anzuschleichen. Der knackende Ast war sicher weithin hörbar gewesen. Aber unmöglich war es ebensowenig. Corelian hatte sicherheitshalber Orvairi mitgenommen, einen seiner Jagdhunde, der aufmerksam in das satte Lindgrün des Schratenwalds schnüffelte. Der grauschwarze, schnauzbärtige Wolfsjäger trug seinen Namen zu Recht: Manchmal ritt ihn regelrecht der Orvairi, ein kleiner Kobold, der gerne in den Nacken von Wildschweinen sprang. Wo der goblingestaltige Waldgeist auftauchte, waren Sumus Säulein, die "Wilden Wutzen aus der Anderwelt" nicht weit.

 Seitdem Corelians perainefromme Gemahlin die Geschicke von Schneiß lenkte, war der grausige Urwald hie und da etwas zurückgewichen, vor der Axt und dem Pflug des Bauern. Aber die Dörfler wagten es nicht wirklich, den Schratenwald zu roden, keinesfalls nur aus Furcht vor den Alten Göttern, deren Macht im ewigen Halbdunkel wirkte. Schaudernd dachte Corelian an die Irrlichter, die in den Namenlosen Tagen am Karnstein tanzten.

 "Schneist hier einfach herein", setzte Corelian die Rede fort und hustete nervös. "Bis zur Burg Friedstein ist es nur ein Katzensprung."

Lares, sein Bruder, trug einen Rucksack auf dem Rücken und schien auch noch stolz zu sein, auf sein waghalsiges Husarenstückchen. In der Ferne klopfte ein Specht, gefolgt vom Ruf des Kuckucks. Singvögel zwitscherten um die Wette. Ein Stück vor ihnen zeterte ein Eichelhäher. Waldfliegen schwebten umher wie kleine Blütenfeen, ebenso einfarbige Schmetterlinge und die Bienen des Zeidlers.

 Nur weil ich bei einem Mann liege, heißt es nicht, dass ich feige bin, schien Lares sagen zu wollen, mit Augen, die weich und frauenhaft waren. Elfisch. Dem Landedlen war es gleich. Elfen schienen akzeptable Fechter zu sein, nicht nur hinterhältige Bogenschützen oder heimtückische Zauberer. Man musste sie respektieren. Bis vor 25 oder dreißig Götterläufen hatte man den Spitzohren im Schratenwald noch gelegentlich begegnen können. Behaupteten die Waldbauern.

Corelian hätte nicht zu sagen gewusst, was genau die Verkleidung seines Bruders darstellen sollte. Eine Gugel, ein schlichter Umhang, die übliche Tunika. Ein wohlhabender Bauer vielleicht, auf der Rückkehr vom Markt.

 Der gepflegte Bart, den sich Lares von Hochfels hatte wachsen lassen, stand ihm sogar gut.  Corelian dachte an ein Bild, das er einmal gesehen hatte - auf einem Wandteppich vielleicht - das Kaiser Hal gezeigt hatte, wie er mit wallendem Bart den Siegespreis überreichte, beim Großen Turnier von Gareth. Zu Hals Zeiten hätte man schon ein einfältiger Hinterwäldler sein müssen, um nicht zu wissen, dass Seine Allergöttlichste Magnifizienz völlig bartlos gewesen war. Als Jüngling hatte Corelian den Kaiser ein paar Mal gesehen, bei Bällen oder Empfängen im Neuen Palast. Nicht, dass er enttäuscht gewesen wäre. Aber irgendwie hatte der Kaiser völlig entrückt und unnahbar gewirkt, umgeben vom Lichtermeer der Kerzen. Wie eine Greifenstatue, die zur Neujahrsprozession vorbeigetragen wurde, um ehrfürchtig bestaunt zu werden. Ein lebendes Bildnis seiner selbst. 

Corelian, der als Knappe Baron Wisshards von Oppstein öfters einmal in Gareth gewesen war, hatte ebenfalls sein Haupt gesenkt und mit dem Barett den Boden gefegt. Sozusagen. Hal war ebenfalls ein elfischer Typ Mann gewesen, das hatte er aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen. Sicher eine Folge der jahrhundertelangen Verwandtenehen in den Fürstenhäusern.

Der Landedle biss sich auf die Lippen und schob einen besonders dichten Vorhang aus Schratmoos beiseite.

Praios verzeih, so durfte er nicht denken. Auch wenn sein Schwertvater Wisshard später für Answin gekämpft hatte. Die Regentschaft Kaiser Hals war eine Zeit des Friedens und der Ordnung gewesen. Die gute alte Zeit, ohne Kriegsherren, Dämonenreiche und Magiertyrannei.

Dennoch schätzte sich Corelian glücklich, mit Gunelde das Gegenteil einer "degenerierten Hochadeligen" geehelicht zu haben. Wie sie sich ein yesatanischer Aristokratenhasser vorstellen mochte. Blass, fein und weich, wie das Weißbrot, das seit jeher den Reichen und Adeligen vorbehalten war.

 Die Schwester des amtierenden Barons von Friedwang war wie Vollkornbrot, schon der Farbe ihrer dunkelbraunen, leicht gewellten Haare nach. Die breite Bocksnase des Hauses Friedwang-Glimmerdieck gab ihrer natürlichen Schönheit etwas liebreizend Unvollkommenes. Die grüne Robe des Therbunitenordens verlieh ihr mehr Würde, als es der pelzverbrämte Mantel einer Fürstin vermocht hätte. Ein wenig erinnerte Corelian seine Gemahlin an das zahme Reh der Wirtsleute Bretzelbeck, drüben im Wilden Mann.

 Der ehemalige Vicehauptmann der Oppsteiner Landwehr stellte, zu seinem eigenen Erstaunen, fest, dass er glücklich verheiratet war. Was gewiss auch daran lag, dass das Heilige Paar von Rommilys höchstselbst den Brautsegen gesprochen hatte. Vier gesunde Kinder waren aus diesem Traviabund hervorgegangen, Serwine, Falk, Hildelind und Thallian. Als das Nesthäkchen geboren worden war, da hatte Gunelde das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten. Ein kleines Wunder der Travia, wenn man es recht bedachte. Von Mutter Travia und der gütigen Herrin Peraine.

 

Weniger ist oft mehr, der Spruch traf auf sein Leben wunderbar zu. Sicher, die Schneißer Motte, die hinter ihm durch das lichtbetupfte Laub schimmerte - sie wirkte geradezu wie der Inbegriff der ärmlichen Behausung eines Niederadeligen, der er nun einmal war. Nur zwei der drei Stockwerke, die da aus einem grünbraunen Erdhügel ragten, waren überhaupt gemauert, das oberste Stockwerk bestand seit dem Krieg aus Fachwerk: Auch der Turm hatte lichterloh gebrannt, wie das ganze Dorf. Das unterste Stockwerk war noch immer mit Erde eingemottet, zur Stütze.

 Eine kreisrunde Palisade umgab die "Schratenburg", während eine steile Brückenkonstruktion hinauf zum Eingang führte, über den Graben hinweg, von der kleinen Vorburg aus. Umgeben von einem Flechtzaun, standen dort einige Nebengebäude, Stall, Schmiede, Scheune, Misthaufen oder Schafgatter. Aldo Wûlf von Dornheck, der letzte Burgherr dieses Namens, war ein kleiner Raubritter gewesen, ein borbaradianischer Verräter obendrein. Aldos verwittertes, aber ungemein filigranes  Wappen war noch immer über dem Eingangstor zu erahnen.

Ein stilisierter Neuntöter, der seine Opfer, neun kleinere Vögel, auf eine Hecke gespießt hatte. Junge Raben, wenn man genau hinsah. Corelian schauderte. Dann rief er sich in Erinnerung, dass das Wappen wohl eine Anspielung auf Kor sein sollte, des gnadenlosen Herrn der Neun Streiche. Dessen Namen er in dem seinigen führte. Die Rabenküken meinten vermutlich das Fürstenhaus, dem die Dornhecks spinnefeind gewesen waren. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

 Immerhin, in der Motte hatten eine Zeitlang die Gebeine des Heiligen Alboran Zuflucht gefunden und die Schatten des Schratenwalds ferngehalten. Die Markgräfin blickte ab und an mal vorbei, incognito, zu einem Jagdausflug in den Wald. Behaupteten zumindest die Bauern. Wobei Erlaucht Swantje die aufgespießten Räblein über dem Eingang geflissentlich ignorierte.

 Corelian lächelte wissend. Wenn er von fürstentreuen Gästen gefragt wurde, dann gab er die Raben einfach als Krähen aus. Gut Blauweiher kam ihm in den Sinn, sein anderer Besitz oben im Oppsteinschen, als Edler von Blauweiher. Viel prachtvoller war das Gehöft auch nicht gewesen. Seit Varenas Krieg war der Gutshof ohnehin eine traurige Wüstung. Eine weitere verbrannte Ruine im Sichelhag. Bis heute verweigerte ihm Adran den Wiederaufbau, nachdem Lares den dazugehörigen Titel abgelehnt hatte. Aus der Gemeinschaft der Ritter vom Stein war Corelian ebenfalls ausgestoßen worden. Der eitle Titel des Truchsessen von Oppstein war ebenso futsch.

 Natürlich, der Herr Baron hatte ihm seinen "Verrat" keinesfalls verziehen. Damals, im Sichelkrieg, da war Corelian ein Parteigänger von Adrans Erzfeind Edorian gewesen, im Kampf um das Baronserbe. Er hatte versucht, den heutigen Baronieherren gefangen zu setzen, auf Burg Oppstein, um den Frieden wieder her zu stellen. Adran war entkommen, wie es hieß, mit der Hilfe von Hexenwerk, und hatte sich den Drachenthron in blutiger Fehde zurückerobert. Was war Corelian übrig geblieben, als sich auf die friedwängischen Ländereien seiner Gemahlin zurück zu ziehen?

Aus Sicht des prunkliebenden, mondänen Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen war sein bescheidenes Leben am Rande des Schratenwalds eine wohlverdiente Verbannung. Ein sichtbares Zeichen des Abstiegs, zwischen rauchenden Kohlemeilern und heulenden Wölfen im Winter. Landedler, den Titel allein hätte der Oppsteiner als schändliche Herabsetzung empfunden. Bereits die Marktfriedwanger und Nordenheimer spotteten über das n, das ein gnädiger Schreiber einst in den Dorfnamen eingefügt haben sollte, gegen Bestechung.

Umso mehr erstaunte es Corelian, dass sein ehemaliger Lehnsherr ihm ausgerechnet Lares vorbeischickte. Lares der Günstling, der alles richtig gemacht hatte, vor zwanzig Jahren.

"Ist es noch weit bis zum Karnstein?" wollte sein Bruder gerade wissen, mit ehrlicher Neugierde.

 "Da vorne ist es schon". Corelian war froh, nicht allzu tief in den Wald hineingehen zu müssen, auch bei Tageslicht und allerschönstem Frühlingswetter nicht. Orvairi blickte nur kurz auf, als ein rotes Eichhörnchen über ihren Köpfen von Ast zu Ast sprang.

Wenig später traten sie bereits auf eine kleine Lichtung. Neben einer krummen Eiche lag der berühmte, nein, berüchtigte Findling, groß wie der Tisch einer Bauernstube, überwuchert von Wurzeln, Ranken und Moos.

Die Lichtung bereitete ihrem Namen heute alle Ehre und erfreute das Herz mit hellen, goldenen Sonnenstrahlen. Vom Bold, der hier umgehen, nächtlichen Wanderern auf den Rücken springen und sie mit quaderschwerem Gewicht zu Boden drücken sollte, fand sich keine Spur. Ebensowenig vom Karnmann, dem Hirschköpfigen Jäger, der das schneeweiße Fell, den Schädel und das zwölfendige Geweih eines vor Urzeiten erlegten Ifirnshirschen als Gewand trug. Keine Irrlichter tanzten im nahen Sumpf, kein Geisterhund heulte im Schratenwald. Mit Schauermärchen über de Hond und den Steenbold schafften es seine Schneißer, ganze Winterabende zu füllen.

 Es waren nicht die Geister, die Corelian fürchtete, jedenfalls im Augenblick nicht. Der Landedle sah sich erneut um, wobei er die Wipfel nicht aussparte. Seine kleine Burg war gerade noch zu erahnen. Hier, zwischen krummen Eichen und zerklüfteten Schieferfelsen, waren sie einigermaßen vor neugierigen Ohren und Blicken geschützt. Permine Ochshöft, die wohlbeleibte, pausbäckige Perainegeweihte, die trieb sich gerne einmal im Forst herum, um Heilkräuter zu suchen.

 

Wind kam auf, die Bäume selbst begannen zu raunen und zu flüstern.

 Corelian trat an den Karnstein, raffte seinen Mantel hoch und setzte sich auf den Findling.

Lares zwinkerte nervös. So ganz schien seine Verehrung für die alten Kulte noch nicht der Vergangenheit anzugehören. Für Levthan, Satuaria, Sokramor, Kor - wie sie alle hießen. Die Alten Götter, die angeblich vor Urzeiten in Alveran geherrscht hatten...und bald schon dort zurückkehren würden? Schon der Gedanke war Blasphemie, auch wenn das bewährte Silem-Horas-Edikt immer mehr aufgeweicht wurde. Nun, spätestens bei den Stunden- oder Monatsnamen würden sich die Ketzer mit einer Erweiterung des zwölfgöttergefälligen Pantheons schwer tun.

 Im Moment trieb den Edlen etwas anderes um. Es war nicht allein das Seelenheil seines Bruders, das ihm Sorgen bereitete. Verächtlich sah Corelian auf das Gewimmel, das zum Vorschein kam, sobald man das dunkelgrüne, feuchte Moos vom Stein kratzte: Käfer, Würmer, Tausendfüßler. Nervös blies er sich eine einzelne, schwarzrote Waldameise vom Handrücken.

"Du solltest nicht hier sein!" Der Landedle klang ernsthaft besorgt. "Die Fehde kann jeden Tag ausbrechen, und dann...dann sitzt du mitten im Feindesland fest. Du würdest mir jetzt schon ein hübsches Lösegeld einbringen, glaub mir."

"Ich bin sicher, Adran würde jeden Preis bezahlen", sagte Lares fröhlich und nahm auf einer umgestürzten Buche Platz.

"Vielleicht würde dich mein Bruder auch gegen Tsalinde austauschen." Gunelde, die auf dem Waldboden nach Heilkräutern Ausschau gehalten hatte, zwischen Frühlingsblumen und Pilzen, drehte sich um. Sie klang ein wenig lauernd.

"Du weißt so gut wie ich, dass Adran Baroness Tsalinde nicht gefangen hält", sagte ihr Schwager bestimmt. "Genauso wenig, wie er versucht hat, deine Nichte aus dem Weg zu räumen, oben auf dem Pass. Bei Rahja, ich schwörs, dass es so ist. Was hätte Adran davon?"

Corelian ließ Orvairi von der Leine. Als der Jagdhund sich weiter in den Wald begeben wollte, zum Stöbern, hielt ihn ein kurzer Befehl davon ab. Orvairi kauerte sich wachsam nieder. Der Winhaller stammte aus derselben edlen Zucht wie Blitz und Donner, die Lieblinge seines Schwagers Bishdarielon von Suunkdal. 

"Trotzdem, du solltest nicht hier sein. Du bist Adrans Befehliger." Corelians Stimme zitterte nur leicht. "Müsstest du nicht für die Fehde rüsten, zuhause in Oppstein?"

"Stimmt, in den Bergen fängt es schon an zu tauen. Ich bin sicher, Ismena Rondrija wetzt bereits ihr Essmesser. Über mehr Klingen scheint sie nicht zu verfügen."

"Adran sollte Ismena ernster nehmen."

"Danke für den Ratschlag." Lares öffnete den Rucksack. "Glaub mir, er nimmt das Rondritscherl ernst. Soweit das möglich ist, bei der landlosen Tochter eines verbannten Hochverräters. "

"Sie hat ein paar einflussreiche Verbündete."

"Mag sein. Die hat Adran auch. Aber dass ausgerechnet du dir Sorgen machst?"

 "Die Verbannung Seiner Gnaden Deggen von Baernfarn, die ist lange her", sagte Corelian gedehnt. "Eine eigene Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist."

 Einen Moment lang flammte die brüderliche Rivalität zwischen den beiden Hochfelsern wieder auf.

 "Wenn Baron Adran uns Lares als Boten schickt...dann ist es wichtig". Gunelde hatte die Arme verschränkt und musterte den Gesandten. "Nicht wahr?"

 Der Bärtige antwortete nicht sofort.

 "Also, falls wir irgendwie vermitteln sollen, in diesem Zwist. Wenn wir das überhaupt können." Die Therbunitin wog bedächtig jedes Wort ab. "Ich habe schon versucht, meinen Bruder zu mäßigen. Immerhin, Alrik hat verstanden, dass wir nicht mit in eine offene Fehde ziehen werden. Mal abgesehen davon, dass unsere Handvoll Burgwachen nicht gerade das Zünglein an der Waage wären."

 Die Landedle schüttelte ihre Haare, mit Kummer im feinen Gesicht. "Muss es denn eine Fehde geben? Zwei Monde Krieg, zwanzig Götterläufe Wiederaufbau. So ist es doch immer. Hat das Land nicht schon genug gelitten?"

 Auch Corelian atmete tief durch. "Ich verstehe ehrlich gesagt nicht einmal, um was es bei dem ganzen Streit geht. Adran ist der Sohn einer Mersingen...und ja, er hält guten Kontakt zu den Berlînghans, im Horaskaiserreich. Liebe Güte, das Haus Rabenmund ist ebenfalls mit der Herzogsfamilie in Methumis verbandelt, dank Swantjes Schwester. Ohne dass man Ayla deswegen Verrat hochwirft. Zu Sokramor der Gigantin, zu der haben doch alle gebetet.  Mehr oder weniger. Bevor dieser verrückte Druide... wie hieß der noch gleich...Pharraz? Und der andere, dieser Traviahold für Arme...dieser Trak von Keckrach auf Zweimühlen losgegangen ist. Muss Adran denn wirklich der Sündenlevthan sein?"

 "Er hat sich zumindest mal als Levthanssohn feiern lassen." Lares lächelte fein. "Nun, er mag ja ganz gut bestückt sein. Aber der Titel war übertrieben. Ein klein wenig. Ich weiß, wovon ich spreche." Der Geliebte des Barons hüstelte. "Entschuldigt. Eigentlich müsste ich ihn verteidigen. Ebenso, wie du ihn damals hättest verteidigen müssen."

 Gunelde, der wenig Menschliches fremd war, schüttelte lächelnd den Kopf. Corelian wirkte verlegen.

"Geht es ums Gießenborner Silber?" fragte er. "Adran hat genug Silber, sonst könnte er sich seinen protzigen Palast nicht leisten."

"Der Oppsteiner Hof ist sehr geschmackvoll, er würde dir gefallen. Nein, sie hassen ihn nicht für das, was er getan hat. Sondern dafür, dass er es offen getan hat."

 Der Sendbote sah sich im Frühlingswald um. "Ach, es ist schön hier draußen...diese frische Luft! Ja, sicher, wenn es nach mir ginge, da bräuchte es kein Blutvergießen zu geben. Aber du tust gerade so, als wäre es Adran, der Streit sucht. Beim Turnier von Gernatsborn haben sie ihm eine Falle gestellt, mit diesem verfluchten Becher. Oppstein ist eine lohnende Beute. Die leidige Vergangenheit soll ausgetilgt werden...ein Widder muss geopfert werden, um die guten Götter Alverans zu besänftigen. Um deren Dienern zu beweisen, dass Adrans Bundesgenossen nichts mit den Alten Kulten zu tun haben. Fast schon eine Bockschlachtung, wie bei den Rondraanbetern."

 Nun sah sich auch Lares misstrauisch um. "Was Glyrana von Mersingen mit dieser Intrige bezweckt, das ist doch offensichtlich. Sie will ihren kleinen Gisborn Hal zum Baron von Oppstein erheben, natürlich, an Ismenas Seite. Die Mersinger Schwestern. So langsam müssen sie echte Baronskronen vorweisen, statt immer nur fremde Lehen zu verwalten. Was Syrenia angeht. Natürlich hilft sie ihrer Schwester...aber...sie hat durchaus eigene Interessen. Diese verdammten Mersingens sind durch und durch egoistisch."

 "Ich halte mich aus diesem unseligen Streit raus. Mehr kann ich für Adran nicht mehr tun. Um der alten Zeiten willen..." Corelian strich über den freigekratzten Karnstein. Er fühlte sich merkwürdig an, alt, zeitlos, mächtig. Der Landedle sass nicht wirklich bequem, aber er war ein treuer Diener der wahren Götter Alverans. Dieser Stein hier war nicht heilig, kein bisschen, und würde es in seinen Augen niemals sein. Solange ihn nicht die Hand eines Geweihten der Unteilbaren Zwölfe berührt hatte.

Stille breitete sich aus, in der nur das Schnarren des Spechts und ein fröhliches Kuckuck Kuckuck zu hören waren.

 "Die Mersingens sind ehrgeizig, gewiss", sagte Gunelde. "Aber Adran hat dich doch nicht geschickt, um uns das zu sagen. Das weiß doch ohnehin jede Knappin und jeder Page."

 "Nein, ich bin gekommen, um euch zu warnen. Um der alten Zeiten willen. Ihr sollt wissen, dass ihr bald selbst schon das Ziel von Syrenias Intrigen sein werdet...ja, ihr steht der Mersinger Machtgier im Weg, und ahnt es noch nicht einmal."

 "Wie gesagt, wir halten uns heraus." Corelian wischte sich ein herbeigeflogenes Mücklein aus dem Gesicht.

 "Das haben schon viele geglaubt. Syrenia weiß, was damals geschehen ist. Was sich in Zaberg ereignet hat...und später dann in Brabak. Ich meine, ihre Schwester ist die Edle von Zaberg. Sie selbst residiert einige Meilen entfernt, auf Burg Suunkdal. In Senkenthal wird mehr über die Geheimnisse des Nachbardorfs getuschelt als dort. Aber so ist es ja immer."

 Gunelde runzelte die hohe Stirn.

 "Meine liebe Schwägerin. Mir scheint, du kennst ebenfalls das kleine, prickelnde Familiengeheimnis der Friedwang-Glimmerdiecks, nicht wahr?"

 Plötzlich herrschte Schweigen im Walde. Nicht einmal der Kuckuck und der Specht trauten sich bemerkbar zu machen.

 "Was soll das werden?" fragte Gunelde kalt. "Eine Erpressung durch deinen heißgeliebten Adran? Wir können dich wirklich Alrik ausliefern, und dann sehen, wessen Drohungen mehr Eindruck schinden."

 Corelian war anzumerken, dass er diesen Gedanken nicht teilte. Für den Moment wirkte Guneldes Gemahl allerdings völlig verwirrt.

 "Ich verstehe nicht...?"

 "Schon mal etwas von Mersinger Meisterplänen gehört, mein lieber Corelian? Es hat nicht lange gedauert, in Senkenthal... nun, dann hat die mächtige Erbvögtin der armen Sumunelda auf den Zahn gefühlt. Ruppig und vorwitzig, wie es ihre Art ist."

 "Sumunelda",  ächzte Gunelde.

 "Wer ist das?" Corelian Falconor von Hochfels hasste es, wenn er vollkommen auf dem Weinschlauch stand.

 "Du weißt, was in Brabak geschehen ist, im letzten Sommer Kaiser Retos", stellte Lares fest und blickte seiner Schwägerin fest in die Augen. "Damals, 993 nach Bosparans Fall."

"Natürlich weiß ich das", sagte Gunelde. "Als mein Bruder Alrik verschwunden war...der Echte...als er von Räubern entführt worden ist. Damals wurde mir gerade das Wehrheimer Strammstehen beigebracht, in der Kaiserlichen Akademie für Strategie und Taktik. Offizierin des Reiches sollte ich werden....für das Reich und die Götter streiten. Die Ehre, die Wahrheit, das Gute verteidigen. Und dann erzählt mir Mutter...." Die Landedle brach ab. "Erzählt sie mir das."

 Ihr Gemahl war völlig verwirrt, und auch Orvairi wirkte betrübt. Den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, blickte der Wolfsjäger mit leichtem Winseln nach oben, halb gelangweilt, halb beunruhigt ob der ernsten Mienen von Herrchen und Frauchen.

 "Interessant, du wusstest also, dass du die rechtmäßige Erbin bist, während dein Bruder Alrik illegitim war? Im Auge unserer allessehenden Herrn Praios?" Lares faltete die Hände um sein angewinkeltes Knie. 

 "Mutter hätte es mir nicht erzählen sollen...sie hat die Orakel befragt, auf die alte Weise. Demnach war Alrik noch am Leben. Sie war überzeugt, dass die Gallyser dahinterstecken würden, Baron Odilon Wildgrimm, der garethtreue Baernfarn. Sumunelda war gleich nach der Rückkehr aus Brabak zu ihren Verwandten nach Gallys geflüchtet, wohl wissend, dass dort die Erbfeinde der Friedwangs saßen. Dorthin, wo Firnjans Familie gelebt hat. Zippelsteen."

 Lares blickte erstaunt. "Moment, der Zippelstein ragt in der Baronie Zippeldinge auf. Das ist schon in Weiden."

 "Zippelsteen, das war der Name der Familie. Die Gallyser Verwandten haben in Heidengrund gelebt, damals."

"Und gleich nochmal Moment. Firnjan war Sumuneldas Verwandter?"

 "Er war ihr Neffe, ja. Die unglückliche Dienerin hatte einen heiligen Eid schwören müssen, niemandem von den Vorkommnissen zu erzählen. Aber sie hatte schreckliche Angst. Wann immer ich von Friedwang zurück nach Wehrheim gefahren bin, zur Akademie...nun, da habe ich in Heidengrund Station gemacht, um ein paar Taler dort zu lassen, im Auftrag meiner Mutter. Es war ihre Art, Sumunelda zu beeindrucken...eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Sie wollte sich immer wieder einmal in Erinnerung rufen, als ehemalige Dienstherrin. Ich denke nicht, dass sie die Zabergerin wirklich hätte beseitigen lassen, nicht einmal, als Alrik Tsalind noch in Darpatien geweilt hatte. Echte Aristokraten drohen mit einem Lächeln und lenken mit einer gütigen Hand."

 "So so, auf diese Weise hast du also deinen unstandesgemäßen Gemahl kennengelernt." Lares lächelte süffisant. "Deinen ersten Gemahl, meine ich. Ich dachte, die morganatische Ehe hätte allein an Gernots Liebestrank gelegen..."

"Gernot und seine lächerlichen Intrigen". Gunelde blickte durch einen gegabelten Stamm hindurch in den Wald. "Dass ich von Firnjan schwanger geworden bin, das lag wohl an seinem Hexengebräu. Ich glaube nicht, dass Gernot die ganze Wahrheit gekannt hat. Wahrscheinlich haben seine Spitzel die heimlichen Treffen missverstanden. Vielleicht haben sie das Ganze auch richtig verstanden...als ich meine Treffen mit Firnjan und seiner Tante noch für eine kleine Flucht aus dem goldenen Käfig gehalten habe. Das heißt, so golden war der Käfig gar nicht, auf der Wehrheimer Akademie. "

 Corelian blickte ernst. Als seine Gemahlin 16 Jahre alt gewesen war, da war sie tatsächlich mit einem Bauernjungen davon gelaufen. Einfach so durchgebrannt. Firnjan, so hieß sein "Nebenbuhler", war in der Dritten Dämonenschlacht umgekommen. An der Trollpforte geblieben. Auch die beiden gemeinsamen Kinder hatten die grausame Zeit nicht überlebt. Eine diese verrückten Friedwängischen Geschichten, halb Komödie, halb Tragödie.

Die einfältigen Friedwangen behaupteten, Ihre Wohlgeboren hätten gelobt, als einfache Bäuerin zu leben, solange, bis ihr verschollener Bruder zurückkehren würde...nun, einen Funken Wahrheit mochte diese Geschichte sogar beinhalten. Gunelde Zippelsteen. Der Landadelige wusste nicht, ob er bei dem Gedanken lächeln oder den Kopf schütteln sollte.

 "Was ist eigentlich aus der zweiten Amme geworden?" fragte Lares mit Inquisitorenmiene.

"Fredewilde? Liebe Güte, das ist doch alles....ein halbes Jahrhundert her. Die Götter wissen, wohin der Wind sie geweht hat. Soweit ich weiß, war Fredewilde klug genug, Darpatien so schnell wie möglich zu verlassen. Sumunelda hat mehr an ihrer Heimat gehangen. Natürlich hatte sie Angst, beseitigt zu werden, als lästige Mitwisserin. Fürchterliche Angst. Also ist sie nach Gallys geflohen, zu den Erbfeinden der Baronin...aber geplaudert hat sie nie, in Heidengrund. Baron Odilon war gar nicht der Mann für solche Intrigen, auch wenn sich meine Mutter das gerne eingeredet hat. Graf Answin hatte den Baernfarn auf dem Kieker, so rum wurde ein Schuh draus. "

"Lästige Mitwisserin?" Corelian hob den Zeigefinger wie die Stimme, um sich wieder in Erinnerung zu rufen. "Was, in Praios Namen, hat diese Sumudane denn gewusst, was sie nicht hätte wissen dürfen?"

"Sumunelda....Ihr Name ist Sumunelda....Eine längere Geschichte." Lares hatte einen Fleck auf seinem Stiefel entdeckt und tupfte ihn mit etwas Gras sauber. "Kurz gesagt: Der echte Alrik, unser wackerer golgaritischer Landmeister, ist in Wahrheit der Sohn des Tsageweihten Lacertinus von Zaberg."

"Des Hofkaplans der früheren Baronin?" Corelian hob die Augenbrauen.

"So ist es. Während der falsche Alrik durch Alrik vom Ochsenwasser gezeugt wurde, dem Verlobten Baronin Tsalindes und deren spätere Gemahls. Seine Mutter war allerdings nicht die Frau Baronin, sondern wiederum deren Schwester Kusmina."

"Der seligen Traviageweihten?"

"Genau der. Das Ritual, das Baronin Tsalinde wundersame Fruchtbarkeit verschaffen sollte...der sogenannte Tag des Ewiglebens in Zaberg. Es endete in einer herrlichen Massenorgie." Angeregt atmete Lares durch. Seine Augen glänzten. "Es sollen sogar junge, hübsche Männer übereinander hergefallen sein, aber das nur am Rande. Sumunelda und Fredewilde wurden ebenfalls geschwängert. Ein wunderbarer Skandal, im traviagläubigen Darpatien. Ich kürze wieder ein wenig ab: Baronin Tsalinde kam auf die Idee, mit ihrer Schwester und den beiden Mädchen als Milchammen nach Brabak zu reisen, zu weit entfernten Verwandten. Dort sollten alle vier Kinder geboren werden. Das Kind Kusminas und ihr eigenes, nun, die beiden Brabakbengel wollte sie einfach als ihre Zwillingskinder ausgeben. Ein ebenso verrückter wie hesindialer Einfall. Nur leider verschwanden drei der vier Jungen, die damals geboren worden sind, gleich nach der Geburt."

"Und Syrenia hat das alles ebenfalls herausgefunden?" Gunelde ballte die Faust. "Verdammt..."

"So schwer war das auch nicht. Wenn in Senkenthal oder Zaberg gebechert wird, nun, dann erzählen die Alten gerne einmal vom Tag des Ewiglebens. Syrenia musste der Spur einfach nur vom Anfang bis zum Ende folgen. Bis zur unglücklichen Sumunelda. Als sie alt wurde,  und in Gallys keine Familie mehr hatte. Nachdem scheinbar Gras über allem gewachsen war...nun, da ist sie zu ein paar Verwandten nach Zaberg zurückgekehrt. Nur um in die Hände der neugierigen jungen Mersingen zu fallen. Ich finde, die drei Pfähle im Wappen der Gelbschwarzen, sie sehen ein wenig aus wie Gitterstäbe, nicht wahr?"

Gunelde legte den Zeigefinger ans Kinn und dachte nach. "War das, bevor Syrenia ihren kleinen Ravenhart mit Tsalinde verlobt hat, oder danach? Das Verhör, meine ich."

"Davor natürlich. Bishdarielon und Alrik, sie sind lediglich Vettern, blutsmäßig betrachtet. Somit erschien der Erbvögtin ein Traviabund der Kinder akzeptabel zu sein."

"Das heißt aber auch, dass in Wahrheit sowohl Alrik Francesco als auch Alrik Bishdarielon illegitime Erben sind". Corelian wurde unruhig. "Womit Gunelde…die rechtmäßige Baronieerbin...ist?!"

 "War, mein lieber Bruder, war. Ihre Mutter hat sie schließlich enterbt, nach der Flucht zu Firnjan Richtung Gallys. Die Frage ist, ob nicht....Serwine die rechtmäßige Baronierbin ist."

"Unsere älteste Tochter", sagte Corelian stolz. "Nun, sie weilt gerade auf der Knappenschule zu Rommilys. Bis sie ihr Erbe antreten könnte...da würde es noch ein paar Jahre dauern."

"Lass Serwine aus dem Spiel", sagte Gunelde knapp. "Ich werde meinem Bruder nicht in den Rücken fallen. Nicht mehr. Wenn es diese Boltankarte ist, die Adran ausspielen möchte. Dann ist sie gezinkt. Schon die Geschichte mit Alara hätte niemals passieren dürfen...ich habe mir wirklich eingeredet, wir Marktfriedwanger hätten die Gießenborner Friedwangs um ihr Erbe betrogen. Wenn es keine rechtmäßigen Erben mehr gibt, sei es durch Versterben oder Verzicht. Nun, dann sind auch illegitime Nachkommen erbberechtigt. Es ist kein Betrug, was seinerzeit auf Burg Friedstein geschehen ist. Jedes Adelshaus hat seine Geheimnisse..."

"Daran zweifle ich nicht." Lares blickte listig. Ein wenig hinterlistig, wie Gunelde fand. "Deine noble Denkweise ehrt dich, Schwägerin. Die Frage ist, ob eine Syrenia von Mersingen älteren Hauses ähnlich honorig denkt und handelt. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt...nun, dann ist Serwine eine Konkurrentin für den kleinen Baronet Ravenhart. Eine gefährliche Nebenbuhlerin."

Gunelde schien für einen Moment überfordert zu sein. Sie sah zu ihrem Mann, der nervös auf und ab ging.

"Sehe ich das richtig? Adran gönnt mir nicht einmal mein Gut in Oppstein. Er hat mir unmissverständlich klargemacht, dass ich keinen Fuß mehr auf Oppsteiner Boden zu setzen brauche. Und nun soll ich...meine älteste Tochter zur rechtmäßigen Baronin von Friedwang ausrufen? Damit am Ende Alrik, die Gallyser, Mersingens, Binsböckels und wie sie alle heißen, den Schneißer Turm belagern.. anstelle seines Palasts in Oppstein? Schlau ausgedacht, das muss ich schon sagen."

Lares schüttelte den Kopf. "Du hast es immer noch nicht verstanden. Syrenia weiß Dinge, die nicht einmal Alrik und Serwa wissen. Sie sieht Serwine als Bedrohung, für den künftigen Baron Ravenhart von Friedwang. Wusstest du, dass sie bereits dafür gesorgt hat, dass kein Mersingen zu einer Verlobung mit Serwine bereit ist? Kein Mersingen und keine verbündete Familie....das sind nicht gerade wenig."

Gunelde bekam große Augen. Es stimmte schon, sie hielt ihre älteste Tochter für keine schlechte Partie. Aber irgendwie waren ihr bislang sämtliche Brautwerber aus dem Weg gegangen. Beinahe alle.

"Wie auch immer, Syrenia hat der einzigen verbliebenen Zeugin einen gehörigen Schreck versetzt. Hat ihr gedroht, sie als Hexe anklagen zu lassen...als ob die arme Frau das geringste für den Tag des Ewiglebens gekonnt hat. Die beiden Bauerntöchter waren damals selbst das Opfer gewesen. Bauernopfer. Syri hat es übertrieben, wie immer, und ihre Gegenspielerin unterschätzt, wie so oft. Sumunelda ist nach Oppstein geflohen, eine Baronie, die bekanntlich als....überaus tolerant gilt..."

Lares lächelte versonnen, mit glänzendem Elfengesicht. "Mehr noch, hat sie Adran ein Geschenk mitgebracht. " Der Hauptmann von Oppstein öffnete den Rucksack.

Feierlich zog er einen klappernden Kasten hervor und stellte die Schatulle auf seinen Schoß. Dann zog er einen Schlüssel hervor und öffnete den Deckel.

Lächelnd winkte er seinen Gastgeber zu sich heran.

"Nach der Peitsche hat die Erbvögtin ihr erst einmal das Zuckerbrot gezeigt. Sie wurde ihre Hausdienerin, auf Burg Suunkdal. Beim Abstauben hat sie das hier gefunden – einen weiteren Beweis, das ihre verrückte Geschichte stimmt."

Corelian trat stirnrunzelnd näher. Verdammt, er wollte mit all diesen Intrigen nichts mehr zu tun haben. 

Eher widerwillig sah er in das Kistchen, das mit Stroh ausgepolstert war. Im nächsten Moment blickte er erstaunt.

"Was ist das?"

Der Inhalt bestand aus vier klobigen, holzglänzenden Dingern. Sie sahen aus wie abgeschlagene Füße. Erst nach und nach erkannte der Landedle, dass es sich dabei um Schusterleisten handelte. Die Schuhmacher als Maß zur Anfertigung ihrer Ware benötigten.

Gunelde nahm die Leisten heraus, die zu zwei unterschiedlichen Paar Stiefeln gehörten. Sie schienen für Sonderanfertigungen gedacht zu sein, denn sie waren mit Schmuckbändern und schwungvollen Initialen verziert.

"ATvF und BvS, sieh an." Die Therbunitin hob die beiden Leisten hoch, die für einen rechten und einen linken Fuß gedacht waren.

"Was soll das schon wieder bedeuten?"

"Ganz einfach. Alrik Tsalind von Friedwang und Bishdarielon von Senkenthal. Unsere zerstrittenen Zwilllingsbrüder." Die Landedle hielt die beiden Sohlen gegeneinander. Ein dumpfes Klock war zu hören. Alriks Leiste war deutlich kleiner als Bishdarielons Gegenstück.

"Travianella, die Schuhmacherin von Marktfriedwang. Ihre Werkstatt wurde von Varenas Söldnern geplündert...Stiefel sind begehrt, unter Korgesellen. Die meisten Werkzeuge wurden verbrannt. Eine großzügige Spende der Edlen von Senkenthal hat genügt, und Travianella konnte sich erinnern, die Leisten der beiden Barone wohlverwahrt zu haben."

"Syrenia sammelt Erp....belastendes Material gegen den Baron von Friedwang? Interessant." Corelian blickte nervös über die Schulter. "Aber was soll das beweisen? Es gibt immer wieder einmal Zwillinge, die sich nicht wie ein Ei das andere gleichen."

Gunelde nickte. "Alrik und Bishdarielon müssen sich ja nur gegenseitig auf die Füße treten...wieder einmal...und jeder sieht, dass sie unterschiedliche Schuhgrößen haben. Für eine Erpressung scheint mir der Inhalt der Kiste nicht geeignet zu sein."

"Kommt darauf an, wen man damit erpressen könnte.  In diesem Fall heißt die Übeltäterin – Syrenia." Lares wischte einen Strohhalm vom Schatullendeckel. "Die Mersingen findet heraus, dass die Väter von Ravenhart und Tsalinde Vettern sind, nicht Brüder. Womit sie allerdings keine legitimen Baronieerben sind. Unsere gute Syri verheimlicht diesen Umstand nicht nur, nein, sie freut sich, dass ihre Enkel nicht als Inzuchtbälger geboren werden. Danach zwingt unsere mächtige Erbvögtin Serwa dazu, einem vermeintlich blutschänderischen Traviabund zwischen Kousin und Kousine zu zustimmen. Um die Marktfriedwanger und die Senkenthaler Linie miteinander zu versöhnen, im Streit um das friedwanger Baronierbe. Schlimmer noch, muss die Baronin von Friedwang um einen Dispens bitten, beim Heiligen Paar, der nicht ganz billig ist. Selber hat die Erbvögtin keinen Heller bezahlt, für den Wiederaufbau der Priorei Sumus Säule oder den Bau des Traviatempels von Berchweiler." Der Hauptmann von Oppstein schüttelte den Kopf.

"Wie könnt Ihr bei sowas nur so ruhig bleiben...? Ich meine, Ihr selbst habt in der Friedensstadt geheiratet, ohne Hinterlist. Nun wird eure älteste Tochter gezielt um ihr Erbe betrogen...außerdem mit der Heiligkeit der Hohen Mutter und des Hohen Vaters Schindluder getrieben. Ist euch das vollkommen gleichgültig?"

Die beiden Landedlen antworteten nicht sofort, also sprach Lares weiter: "Nun gut, es ist eure Entscheidung. Ihr glaubt, in Ruhe leben zu können, in dieser beschaulichen Waldeinsamkeit." Der Adelige wies um sich. "Aber vergesst nicht, Serwine wird immer eine Bedrohung für die Mersinger Meisterpläne sein. Zieht eure Schlussfolgerungen daraus."

"Das haben wir", sagte Corelian. "Serwine ist mit Amant von Dornheck verlobt, dem Neffen des letzten Ritters von Schneiß, Aldo Wûlf von Dornheck."

"Ach, des Raubritters und borbaradianischen Verräters. Der von Serwa an der nächsten Eiche aufgeknüpft worden ist wie ein gewöhnlicher Strauchdieb. Was versprecht ihr euch davon? Hat er Ländereien, ist er reich begütert?"

"Nein."

"Ein bloßer Heckenritter also! Syrenias Strategie, Euch auszuhungern, auf dem Heiratsmarkt....nun, sie scheint wirklich aufzugehen."

"Ein anständiger junger Edelmann" sagte Gunelde tonlos und legte die Schuhleisten wieder in den Kasten. "Wir haben ihn als unseren Knappen aufgenommen."

"Ah, Geld hat er also auch keins?! " Corelians Bruder klang endgültig vergnügt. "Das erinnert mich an Roderick von Oppstein-Stiegnitz, diesen Unglücksraben. Der ewige Edelknappe, der bei Glyrana Unterschlupf gefunden hat. Möge er Ihr reichlich von seinem Pech abgeben."

Lares zog verwundert die Augenbrauen zusammen: "Hm, ernsthaft. Was...genau versprecht Ihr Euch davon, an Zugewinn für uns Hochfels? Ich meine, die Dornhecks...das waren grausame Herren, manche sagen wirklich Raubritter. Ich dachte, deine Familie wäre froh gewesen, sie loszuwerden, Gunelde. Die Schneißer waren es ganz sicher. Und jetzt holt ihr sie euch wieder durch die Hintertür ins Haus? Sehr großherzig."

"Nun, gut schaut er aus, unser Knappe. Ein wahrer Mädchenschwarm," sagte Corelian, mehr, um überhaupt etwas zu antworten. In Oppstein schien man ihn wirklich für eine Art verkrachte Existenz zu halten. Häßlich war er nicht, der Amant, mit seinen verführerischen dunklen Augen. Es war die Baronin von Friedwang gewesen, die für ihn Fürsprache eingelegt hatte.

Als der Junge etwa sieben Götterläufe alt gewesen war, da hatte ihn ein weißhaariger Diener vorbeigebracht, wie von Serwa angekündigt. Hatte die Baronin das schlechte Gewissen geplagt, weil sie dessen Onkel schmählich aufgehängt hatte, drüben an der krummen Eiche? Dort, wo auch Jesco von Senkenthal sein Schicksal ereilt hatte? Die beiden Schurken waren borbaradianische Verräter gewesen und hatten ihr Schicksal mehr als verdient. Im Falle Aldo Wulfs – in der kehligen Mundart der Schneißer Aldûf genannt – hatte ein Elfenpfeil die Todesqualen verkürzt. Amants leibliche Eltern waren im Bethanierkrieg umgekommen, wie so viele wackeren Darpaten, und das Waisenkind eine Weile bei entfernten Verwandten in der Grafschaft Waldstein aufgewachsen. Im tiefsten Reichsforst, nach allem, was man so hörte.

Ein wenig hatte Corelian Amants Schicksal an Adrans Herkunft erinnert, an dessen Eltern Wisshard und Jostarne, die beide im Bürgerkrieg umgekommen waren, als Answinisten. So ganz klar war ihm nicht, auf welcher Seite die Eltern seines Knappen gekämpft hatten. Es wurde überhaupt wenig über sie gesprochen, merkte der Landedle gerade.

"Außerdem, Wilbur von Dornheck hat die kleine Burg dort hinten gebaut", fügte der Landedle hinzu. "Ich habe seinen Stammbaum gesehen, Amants Großmutter war eine geborene von Hohenfels."

"Es ist keinesfalls sicher, ob die garetischen Hohenfels mit unserem Hause Hochfels verwandt sind."

"Nun, die Stammburg der Hohenfelser heißt so. Hochfels."

"Ein nicht allzu exotischer Name, für eine Burg. Oder eine Adelsfamilie."

"Gewiss, Berlînghan-Oppstein-Mersingen hört sich origineller an. Aber auch Adran hatte keinerlei Hausmacht, als er damals Redenhardts Hochzeit überfallen hat. Wir wussten nicht, dass es noch einen Erben gab, bei den Dornhecks. Respektieren aber selbstverständlich dessen Ansprüche. Während wir selbst nicht mehr fordern, als uns zusteht. Das soll Syrenia ruhig merken."

"Ah, daher weht der Wind. Ihr habt Angst vor ihr und der Macht der Mersingens....mehr Schiss als Traviafurcht? Kein Vertrauen in die Autorität der Heiligen Familie?"

"Sagt mein Bruder, der in wilder Ehe mit dem Baron von Oppstein lebt. Mit Adran, der bereits Kulthochzeit mit der Herrin von Friedwang gefeiert hat, als er noch nicht verwitwet war."

"Behauptet wer?"

"Liebe Güte. Adran hätte diese Geschichte damals auch im Landboten veröffentlichen können. Die Affäre auf diesem unseligen Hexenfest war ein offenes Geheimnis."

"Wenn du es sagst. Wir haben erfahren, dass Syrenia auch in diese Richtung Erkundigungen anstellt. Zum Kind, dass dabei entstanden sein soll. Adrans und Serwas Kind."

Corelian sah sich nervös um. Orvairi winselte leise.

"Das Satuar´than...." flüsterte der Landedle.

"Ich sehe, du weißt Bescheid." Lares Lächeln gefror ein.

 

"Satuar´than. Das Kind von Serwa Satuaria und Adran Levthan, gezeugt in den Tagen ohne Namen. Manche sagen, der Gegenspieler des Isyaharinacheel. Des Vielgestaltigen Kindleins, das in den Tagen des Namenlosen geboren werden soll." Corelian schluckte.

Schweigen.

"Es war eine Zeit heilloser Glaubensverwirrung, damals." Gunelde schlug das Zeichen des Perainestorchs. "Etwas Böses ist von der anderen Seite der Berge herübergeweht. Bis heute sind wir nicht davor gefeit. Heiliger Therbûn von Malkid, steh uns bei."

"Die Frage ist doch: Hat es dieses Kind jemals gegeben? Manche behaupten, Tsalinde wäre Serwas und Adrans gemeinsame Tochter. Allerdings wurde sie mehr als ein halbes Jahr vor dem fraglichen Hexensabbat geboren. Das wäre schon ein seltsamer Fall – wenn ein Kind vor seiner Zeugung das Licht der Welt erblickt."

Corelian schnaubte, leicht verächtlich. "Bei den Mengen an Rahjalieb, die Adran verbraucht hat...da wundert es mich, dass er überhaupt noch hat Vater werden können. Das Zeug macht auf die Dauer unfruchtbar, habe ich mir sagen lassen".

"Gewiss, die Traviafrommen behaupten das", schmunzelte Lares. "Sei´s drum. Ich glaube nicht, dass Tsalinde das Kultkind ist. Der Name Firunian, der wurde ein paar Mal erwähnt. Aber es wird nicht laut über ihn gesprochen. Firunian Wildgrimm Odil. Er soll schon wenige Wochen nach seiner Geburt gestorben sein. Das heißt. Von einer Fehlgeburt wird ebenfalls geraunt, die Serwa im Wald verscharrt haben soll..." Lares lächelte pikiert. "Bei einem ihrer grausigen Hexenrituale. So dass das Satuar´than....jetzt überall und nirgends herumschwebt, im Wald und den Sümpfen. Die unaussprechliche Macht Tsatuarias, die durch Levthans Frevel in Tsa und Satuaria aufgespalten wurde. Durch ihre Vergewaltigung."

"Mumpitz. Was auch immer geschehen ist. Adran hat Serwa niemals vergewaltigt."

"Am Anfang vielleicht schon. Adran hat diese Version geglaubt. Dass ihr gemeinsames Kind früh gestorben ist, meine ich. Es hat ihn nicht kalt gelassen, glaubt es mir. Er, der Auserwählte des Levthan...Serwa als Verkörperung Satuarias...das Kind, das in beider Namen die Alten Kulte beschützen soll, die Mächte der urwüchsigen Natur in der Schwarzen Sichel. Und dann...stirbt das langersehnte Kultkind. Einfach so. Ein weiteres Opfer der Säuglingssterblichkeit während der Bethanierkriege."

Gunelde blickte undurchdringlich. "So ist die Natur eben. Mal großzügig, mal grausam. Es bedarf der Güte Peraines, um aus der Wildnis einen blühenden Garten oder einen fruchtbaren Acker zu erschaffen. Ebenso menschlichen Fleißes."

Lares lachte erneut, ein wenig zu laut, um wirklich fröhlich zu klingen. Dann atmete er theatralisch die Waldluft ein, mit geschlossenen Augen.

 

"Natur ist langweilig", verkündete der Hauptmann von Oppstein leichthin. Leise pfeifend verschloss er die Schatulle wieder. "Hat mir ein Methumiser Gärtner einmal gesagt, der Büschen, Bäumen und Hecken vollkommen neue Formen verleiht, in den Parks des Hochadels. Ars Topiaria, nennt man die hohe Kunst des Formschnitts, die mir wahrlich perainegefällig zu sein scheint. Aber ich schweife ab. Firunians früher Tod, wenn wir dem Kind einen Namen geben wollen....das war bei Adran der Anfang. Der Anfang vom Ende seines Glaubens an die Natur und die Macht der Alten. Ein heilsamer Schock, wenn es so etwas gibt. Das viele Wissende über seherische Kräfte verfügen sollen...das hat ihn ebenfalls nicht behagt". Lares kratzte sich versonnen am Hinterkopf.

"Im Grunde war die Hexenhochzeit damals nur ein kleines, unschuldiges Schäferspiel. Aber die Folgen wirken bis heute nach. Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt."

"Das hast du.... dafür danke ich dir, Bruderherz. Wir werden uns aus sämtlichen Oppsteiner Händeln heraushalten. Mehr kann ich dir nicht versprechen."

"Hm, ich nehme an, auf traviagefällige Gastung heute Nacht darf ich nicht hoffen?"

Gunelde und Corelian blickten betrübt.

Der Landedle schüttelte mit ehrlichem Bedauern den Kopf. "Schneiß ist ein kleines Dorf. Hier kennt wirklich jeder jeden. Am Markttag wird dann getratscht, drüben in Friedwang. Wenn du dich ranhältst. Dann schaffst du es heute noch bis nach Nordenheim."

Lares hob die feinen, elfenzarten Augenbrauen. "Nach Nordenheim? Das liegt leider im Praios. Richtung Firun reist es sich schneller, zurück nach Oppstein."

"Alrik will den Pass sperren lassen und sämtliche Durchreisenden kontrollieren. Du hast Glück, dass du es überhaupt bis nach Schneiß geschafft hast. Versuch, über Gallys nach Oppstein zurückzukehren. "

"Wahrscheinlich ist das eine gute Idee." Lares steckte die Kiste wieder in den Rucksack. "Aber es wird keine Fehde geben...jedenfalls keine große."

"Was macht dich da so sicher, mein werter Bruder?"

Lares tippte auf seinen Ranzen: "Das kleine Schatzkästlein hier drin. Syrenia vermisst es sicher schon. Nun, sie braucht keine Angst zu haben, dass es in falsche Hände geraten ist. Adran wird es sicher verwahren. Ebenso wird Syrenias entlaufene Dienerin ein Gnadenbrot erhalten, als Köchin. Aber natürlich wäscht eine Hand die andere. "

"Eine schnöde Erpressung also." Gunelde runzelte erneut die Stirn.. "Du solltest derartige Dinge nicht einfach so...durchs Feindesland tragen." Alriks Schwester klang schon wieder lauernd

"Ich bitte dich, wir sind doch keine Feinde. Du und Corelian, ihr gehört trotz allem zum Haus Hochfels. Ich wollte, dass ihr seht, was hinter eurem Rücken gespielt wird. Solange die Erbvögtin sich ebenfalls aus den Oppsteiner Händeln heraushält, wird Sumunelda die alte Geschichte nicht hochkochen. Das könnt ihr Syrenia gerne ausrichten."

"Syrenia ist gerade im neunten Mond schwanger und hat andere Probleme." Gunelde schüttelte den Kopf. "Was die treue alte Dienerin angeht...die war schon in Heidengrund nicht mehr so ganz richtig im Kopf. Kein Wunder, nach allem, was ihr widerfahren ist. Ein besonders gutes Druckmittel habt ihr da nicht in der Hand."

Lares warf sich den leise klappernden Rucksack über die Schulter. "Zumindest wird Syrenia die Botschaft verstehen. Denke ich. Adran ist über seine Mutter Jostarne ebenfalls ein von Mersingen, das sollte sie nicht vergessen. Auch in diesem Fall hofft Adran auf ihren Familiensinn."

"Den hat Syrenia, glaub mir, den hat sie." Gunelde seufzte und wies in Richtung Trampelpfad. Der Hauptmann von Oppstein folgte der Geste.

Ein scharfes Räuspern seines Bruders ließ ihn innehalten.

"Besser, du kehrst nicht mit uns ins Dorf zurück." Corelians Stimme klang frostiger, als er beabsichtigt hatte. "Du warst ein Firunsgläubiger auf der Durchreise, der unbedingt den Karnstein sehen und dort eine Weile beten wollte. Mehr nicht."

"Ah, so ist das." Lares zurrte sich den Rucksack fest. "Wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem, es war schön, dass wir uns wieder mal gesehen haben. Wer weiß, was die Zukunft bringt."

"Wer weiß das schon", sagte Corelian leise. "Grüß Adran von mir. Es war damals nicht persönlich gemeint. Ich dachte, ich müsste meine Pflicht erfüllen. Sinnloses Blutvergießen verhindern."

"Nun, je länger ich darüber nachdenke..." Lares brach ab. "Ach, es ist alles schon so lange her." 

Die Brüder umarmten sich, dann schlug sich der Besucher leise pfeifend ins Unterholz.

Im Dorf krähte lautstark ein Hahn.

 

Burg Schlotz, Baronie Schlotz, Ende Peraine 1045 BF

 

„Immer noch keine Antwort aus Oppstein?“ Travian murrte sichtlich ungehalten.

„Nein, mein Sohn“ antwortete Adginna, die Vögtin. „Was auch immer in deinem alten Knappenherrn vorgeht weiß ich nicht. Aber entweder er ignoriert unsere Anfrage einfach nur, oder aber er will uns gezielt vorführen. Uns zeigen, dass er Herr der Lage ist und es sich herausnehmen kann, zu entscheiden, was mit unserem Eigentum geschieht. Es ist beleidigend.“

Adginna hatte sich einige Tage zuvor mit ihrer Schwester Valyria und auch mit der Gernatsbornerin beraten - was sicherlich eigentlich die Aufgabe ihrer Tochter, der Baronin Haldana gewesen wäre. Aber Adginna nutzte es nur zu gern, dass ihre Tochter mit ihrer inzwischen zweijährigen Tochter Alfhildur gut beschäftigt war – und gegenwärtig ohnehin in den angeheirateten Ländereien um Gießenborn nach dem rechten sah - um selbst wieder zu gestalten. Sie, die es immer wieder bedauerte, nur Baronsgattin und später Baronsmutter zu sein und nicht selbst als Baronin über Schlotz zu herrschen.

Doch sei es darum. Von diesen Gedanken würde die Vögtin sich jetzt nicht ablenken lassen. Immerhin hatte sie ihre älteste Tochter erfolgreich auf den Thron zu Schlotz bugsiert. Nun wurde es Zeit, auch ihrem Zweitgeborenen, Travian, ein Lehen und ein Auskommen zu sichern. Eine ganze Baronie würde es wohl nicht werden, klar, aber Travian war eben der Zweitgeborene. Dennoch würde sie das ihre tun, um auch ihm einen entsprechenden Posten und ein Lehen zu verschaffen. Und was sich im Oppsteinschen anbahnte, bot hierzu eine günstige Gelegenheit.

Travian musste dabei im Augenblick nicht alles wissen, was Adginna überlegte und plante. Es reichte für den Augenblick, dass er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war. Genau deswegen hatte sie nicht gleich insistiert, als damals, nach der Hochzeitsturnei und der überstürzten Abreise Adrans von Oppstein und der Entlassung Travians aus seinen Knappendiensten, mit dem Tross des Oppsteiners auch Travians Pferd seinen Weg nach Oppstein fand. Jolante war eine gute Stute aus Weidener Zucht, ein sechsjähriges Kaltblut, von einem erfahrenen Züchter zum Schlachtross ausgebildet. Mithin ein Vermögen an sich, sicher fünfhundert Goldstücke wert. Dass der Anlass, später die Möglichkeit zu haben, Travian wieder ins Oppsteinsche zu schicken, aus dem Adran ihn verbannt hatte, war Adginna jedoch viel mehr Wert gewesen, als gleich damals auf der Herausgabe des Pferdes zu bestehen. Sie hatte nichts gesagt bei Adrans Aufbruch, als habe sie das nicht wahrgenommen. Und ihr schien, als wäre das Pferd eine gute Anlage gewesen. Adginna hatte richtig eingeschätzt, wie es sich um die Ansprüche von Ismena Rondria von Bayernfarn-Oppstein auf den Oppsteiner Thron entwickeln würde. Aber diese Gedanken behielt die alte Vögtin für sich. Aus den Worten von Glyrana von Mersingen hatte sie gedeutet, dass die Aktivitäten in Oppstein nahe bevorstanden. Natürlich hatte das niemand wörtlich gesagt. Aber die Vögtin stand lange genug hinter dem Baronsthron von Schlotz, um das herauszuhören, was nicht gesagt wurde.

„Wir können uns das nicht bieten lassen, Travian. Jeder würde meinen, man kann mit uns einfach so umspringen, wie man will. Jetzt mag es um ein Pferd gehen. Aber das nicht unwidersprochen zu lassen hieße, deiner Schwester eine schwere Bürde aufzuerlegen. Es geht auch um das Ansehen deiner Schwester als Baronin, nicht nur einfach um ein Pferd.“

Travian nickte. Ohnehin, wenn er zurück dachte an seine Knappenzeit in Oppstein. Mit Adran als Lehrherr hatte er immer seine Schwierigkeiten gehabt. Zu weit entfernt war sein Knappenherr von dem, was er mit ritterlichen Tugenden verband.

„Gut. Dann breche ich auf. Ich werde mein Pferd von Adran selbst zurückfordern, wenn er denn auf Briefe nicht reagiert.“

Adginna nickte. Sie hatte es nicht anders erwartet.

„Du hast recht, Travian. Ich respektiere deinen Mut. Aber du solltest nicht allein gehen in dieser schweren Zeit. Du weißt, dass derzeit eine kalte Waffenruhe zwischen Friedwang und Oppstein herrscht, wegen des Streits um den Ertrag der Gießenborner Silbermine. Und weil Adran Alriks Gemahlin beleidigt hat. Du solltest nicht zwischen die Fronten geraten. Zu leicht könnte Adran dich als Geisel nehmen und Forderungen an deine Schwester stellen. Nein, Travian, gehe vorsichtig und mit Bedacht vor. Timoin wird dich begleiten. Er ist ein guter Jäger und Fährtensucher geworden. Er wird dich auch abseits der Wege gut und sicher voran geleiten. Außerdem… ich habe Magister Veneficus gebeten, für eine Weile seine astronomischen Studien zu unterbrechen. Seine Spektabilität wird dich auch begleiten. Als Magier bringt er für Dich besonderen Schutz mit. Denn nicht viele gemeine Bewaffnete, die Adran möglicherweise beauftragen mag, trauen sich an einen Magier heran. Und, nicht zuletzt, gebe ich Dir ein Dutzend von unseren Schlotzer Waldschützen mit.“

„So viele, Mutter? Ist das nicht zu viel?“

„Nun, Travian. Es sind so viele, um nicht als leichte Beute, als potentielles Opfer gesehen zu werden. Es sind aber auch so wenig, dass niemand auf den Gedanken kommt, darin einen Angriff, eine Feindseligkeit zu sehen. Denn Adran kann nicht behaupten, von einer Handvoll standesgemäßer Bedeckung bedroht zu werden, zumal er das Pferd ja einfach nur herausgeben müsste. Nein, Travian. Die Anzahl ist schon richtig gewählt. Sowohl unter strategischem als auch unter diplomatischem Aspekt. Ihr seid wenig genug, um auch abseits der Wege unbemerkt voran zu kommen, aber viel genug, um abschreckend auf denkbare Feinde, sei es nun der Rotpelz, Raubgesindel oder auch ein wildgewordener Vogt zu Oppstein, zu wirken.“

Travian warf mit einer Nackenbewegung sein halblanges Haar zurück, das ihm bei seinem artigen Nicken zuvor ins Gesicht gerutscht war. Seine dunklen Augen strahlten Entschlossenheit aus. Einem Ritter sein Pferd zu nehmen, das empfand Travian als eine Beleidigung. Er hatte bei vielem, was sein Lehrherr von einst unternahm, weggesehen. Er hatte es ignoriert, wenn die Gesetze Travias mit Füßen getreten wurden. Doch jetzt war der Punkt erreicht, an dem es ihm selbst reichte. Wie sollte er auch vor der schmucken Gisla von Zweifelsfels dastehen, vor der Knappin auf Gernatsborn, die kurz vor dem Ritterschlag stand, wenn er sich einfach widerspruchslos das Pferd wegnehmen lassen würde. Nein, das ging gar nicht. In seinen Gedanken sah er sich schon erfolgreich aus Oppstein wiederkehren und der Zweifelsfelserin von seinen Abenteuern erzählen.

„Hörst du mir noch zu, Junge?“ unterbrach die Stimme seiner Mutter ihn aus seinen Tagträumen. Travian hasste es, Junge genannt zu werden. Hastig nickte er. „Ja, Mutter…“, obgleich er nicht wusste, was Adginna zu ihm in den letzten Augenblicken gesagt hatte.

„Gut. Dann ist es ja klar, dass, obgleich es um dein Pferd geht, Veneficus das Kommando hat. Er ist nicht nur der Erfahrenste unter euch, sondern zugleich aufgrund Alter und Stand einfach in der Position dafür. Und er genießt mein absolutes Vertrauen. Also… wenn die Lage es erfordert und Veneficus vielleicht Dir nicht ganz nachvollziehbare Order gibt, dann gehorche. Du weißt, wie schwierig die Lage gerade im Oppsteinischen gerade ist. Der Magister weiß, was zu tun ist, wenn doch Grenzstreitigkeiten zwischen den Friedwangen und den Oppsteinischen vom Zaun gebrochen werden. Er kann die Lage genauer einschätzen, als du oder auch Timoin das könnten…“ Die Vögtin sah ihren Sohn an. Travian musste nicht wissen, dass sie am Vortag lange mit Deggen über alle Fürs und Widers und alle Möglichkeiten, Chancen und Risiken gesprochen hatte, die sich aus dem Oppsteiner Thronstreit ergeben konnten. Und wenn Travian mit den Seinen in Oppstein rechtzeitig am richtigen Ort wäre, dann könnten sich daraus neue Aufgaben ergeben. „Ich will Dich damit nicht zurücksetzen. Es geht um Dein Pferd, daher bist du formal der Anführer. Aber Veneficus hat einfach die Erfahrung. Also… wenn er es einfordert, dann wirst du dich unterordnen.“

„Natürlich, Mutter.“ Travian wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Er war unerfahren, sicherlich. Aber er kannte seine Mutter auch lange genug um zu wissen, ob sie alles sagte, was sie dachte, oder eben nicht. Aber er widersprach nicht. Ein Binsböckel ist ein Binsböckel. Loyal gegenüber Eltern, Lehensherrn und, nun, dem Knappenherrn gegenüber nicht. Denn auch Loyalität musste verdient sein. Und er wusste, dass seine Mutter einen Grund hatte für ihre Entscheidung, auch wenn er jetzt nicht alles verstand, was die Vögtin bewegte. 

“Noch etwas… du wirst dich sicher über noch mehr Unterstützung freuen. Die Gernatsbornerin hat zugestimmt, ihre Knappin Gisla mit auf die Mission zu schicken.” 

Das war eine Nachricht, die Travian wirklich freute. 

 

Gießenborn, Baronie Friedwang, Mitte Ingerimm 1045 BF

 

Alfhildur krabbelte durch die Stube über den Läufer aus Bergziegenfellen hinweg. Dass sie vom Kamin Abstand halten musste, hatte die Kleine bereits begriffen. Haldana machte sich insofern keine Sorgen, ihre Tochter auch einmal unbeaufsichtigt durch die Wohnstube des Gutshauses ihrer Schwiegermutter krabbeln zu lassen. Haldana sah aus dem mit Butzenglasscheiben versehenen Fenster hinaus. Das Gestüt ihrer Schwiegermutter Ismena von Oppstein, auch Menas Gestüt, Menahof oder auch Rahjahof genannt, lag ein wenig erhöht und etwas außerhalb des Ortes, man hatte einen guten Blick über die Gegend und vor allem über Gießenborn selbst. Auch war man hier sicher, dass, beim jährlichen Frühlingshochwasser, allenfalls die Wirtschaftsgebäude etwas abbekämen, aber das Haupthaus war sicher und hoch genug, so dass selbst ein Jahrhunderthochwasser keine Gefahr darstellte. Der Ort war gut gewählt.

Gießenborn war ein malerischer Ort, einige Fachwerkhäuser breiteten sich auf den Matten am Ufer der Gieße aus. Gieße, ja, das war der richtige Name. Das allgegenwärtige Rauschen des sich aus den Bergen herab gießenden Gebirgsbaches war für Haldana zuerst ungewohnt gewesen, aber in den letzten Tagen und Wochen hier hatte sie es in sich aufgesogen und die natürliche Melodie des Wassers förmlich eingeatmet. Irgendwie war das auch inspirierend.

Haldana griff nach der Lautengitarre, die sie auf ihre Reise zu den Gütern, die ihr Gemahl in die Ehe gebracht hatte, mitgenommen hatte.

„Phrygaisch“ murmelte Haldana vor sich hin. Alboran blickte seine Frau fragend an.

„Phrygaisch, Albo. Der Gießenfall rauscht in Phrygaisch.“ Erläuterte Haldana. Alboran nickte, obwohl er nichts davon verstand.

Haldana strich einen Akkord über die Saiten. „Hörst Du, Albo… Phrygaisch…“ sie wartete nicht auf Antwort. Sie wusste natürlich, dass Albo nicht den gleichen Sinn für Töne und Klänge hatte, wie sie selbst.

„Er reitet zum Turniere, dorthin nach Gernatsborn

Dort blaset laut der Herold, vernehmlich in sein Horn“

dichtete die Schlotzerin und strich passend die Akkorde auf der Lautengitarre.

„Doch rammt ein and´rer Ritter, ihn mit seinem Sporn … Lanze reimt sich nicht….

Drum landet er am Ende, im Teilnehmerfelde auch nicht wirklich vorn.“

Alboran lachte. Seine eigene unrühmliche Niederlage in der ersten Runde hatte er schon fast verdrängt gehabt. In rhythmischem Sprechgesang dichtete er weiter.

„Denn er hat nur Augen

für eine Jungfer fein,

Für sie, da sollt er taugen

Turniere lässt er besser sein…“

Haldana lachte.

„Nicht schlecht, Albo. Ich werde am Versmaß noch ein wenig feilen, aber da mache ich was daraus. In D-Moll, so wie der Klang von Gießenborn. Es liegt Musik in diesem Ort… an einem Ort wie diesem muss, wie hieß der Barde gleich, das Lied von der Halle des Bergkönigs entstanden sein. Hatte er so etwas wie die Gleißerhöhle beim Komponieren vor Augen? Hatte er einen Wasserfall wie den Gießenfall gehört? Dieses ständige Rauschen, leise aus der Entfernung, laut aus der Nähe, aber immer vorhanden, auch wenn das gewöhnte Ohr es nicht ständig wahrnimmt. Dazu das rhythmische Hämmern des Hüttenwerks. Es ist… eine ganz besondere Melodie hier. Es ist, wie wenn ständig ein Kammerorchester spielt, leise im Hintergrund, dass man es kaum wahrnimmt, aber dennoch ist es immer da, erfüllt einen, auch wenn man sonst kaum etwas davon bemerkt, wenn man weiter weg von der Gieße ist. Doch eigentlich ist es wie ein Solo der Pauken und Trommeln im nicht endenwollenden Wirbel.“

Mena, die in ihrem Lehnstuhl saß und leicht im Rhythmus der vorgetragenen Weise geschaukelt hatte, lächelte. Sie hatte es von vornherein bleiben gelassen auch nur zu versuchen, die in musiktheoretische Worte gekleideten Empfindungen ihrer Schwiegertochter zu verstehen. Es reichte ihr zu wissen, dass daraus eine Begeisterung und ein frohes Gemüt sprach.

„Die Gieße ist tatsächlich schön. Auf seine eigene Weise ist Gießenborn ein Paradies, wie es der Herrin Rahja gefällt. Dein Gesang und deine Musik passen also wirklich gut hierher. Schade, dass ihr allzu oft in Schlotz weilen müsst.“

Alfhildur streckte die kleine, tollpatschige Hand nach oben. Haldana hielt ihr die Laute hin. Ein schnarrendes, patschendes Geräusch ertönte ob der unsanft mehr angerissenen als gezupften D-Saite. Ein wenig besorgt um das Instrument hob die Baronin das Instrument wieder hoch und hing es durch die Schlaufe am Stützbalken auf - und hob dann Alfhildur auf den Arm. 

 

Oppsteinisch-Friedwängische Grenze, Rohalstag, 22. Ingerimm 1045 BF 

 

Gesine Bretzelbeck tippte mit dem Finger in die Wagenschmierbüchse und rümpfte die Nase. 

Die Konnetabelin hätte nicht zu sagen gewusst, aus was genau "Unschlitt" bestand, aber allein der Name klang widerwärtig. Sicher handelte es sich um irgendein minderwertiges Fett. Soviel bewies der ogerranzige Geruch. In diesem Fall wurde es dazu benutzt, die Radnabe am Laufen zu halten. Das eisenbebänderte Holzeimerchen baumelte am Heck des Fuhrwerks, zwischen den mächtigen, achtspeichigen Hinterrädern. 

Die  Befehligerin der friedwängischen Haustruppen verrieb den gelblichweißen Talg zwischen den Fingerkuppen, wischte sich den Rest am Waffenrock ab und wandte sich Hauptmann Edorian zu. "Das Zeug brennt sicher wie Zunder. Es sollte nicht am Wagen hängen." 

Der rauschebärtige Söldnerführer blickte vom Lagerfeuer auf, über dem sich seine Leute gerade ihr Süppchen kochten, im Kessel an einem Dreibein. Das Knacken und Knistern der Flammen klang lustig, die Luft flirrte, Rauchschwaden und Ascheflocken verwehten im Wind. 

Die Mittagsstunde war frisch, hoch oben auf dem Passweg, obwohl der Wonnemonat Ingerimm schon weit fortgeschritten war. 

"Das Zeug sollte auch nicht bei uns am Feuer stehen", sagte Edorian leichthin und blickte zur Wagenschanze. Der Hauptmann trug einen geriffelten Plattenharnisch, sein Umhang war in den darpatischen Wappenfarben Rot und Gold gehalten. Die zugleich die Oppsteiner Wappenfarben waren, wie Gesine feststellte. Edorians schmuckloses Schwert baumelte auf der rechten Seite – der Veteran war einhändig und musste mit links kämpfen. 

Die buntscheckigen Söldlinge seines Rudels blickten nur kurz auf. Eine Doppelsöldnerin schärfte scharrend ihren Zweihänder, ihr feister Gefährte daneben war mit Nähzeug zugange, der Dritte putzte seine Stiefel. Blinkende Feldharnische, Schaller, Eisenhüte, Streithämmer und Schwerter standen im Kontrast zur Farbenpracht der gepufften und geschlitzten Gewänder, der Federbarette und Mi-Parti-Streifen, die einer Gauklertruppe alle Ehre bereitet hätten. Sagte man nun Haufen oder Rudel? Gesine wusste es nicht. Jedenfalls war es eine schwer bewaffnete Gauklertruppe, die seit Neuestem am Passweg Wacht hielt. 

Hinkend stieg sie die grob zusammen gefügte Leiter hinauf, um sich auf der Ladefläche eines der Fuhrwerke umzusehen, mit denen in Friedenszeiten  Silbererz aus dem Gießenborner Bergwerk zum Hämmerwerk gefahren wurde. In den Ecken lagen tatsächlich ein paar schwärzliche Steinbröckelchen herum. 

Auf die Passsperre war Gesine stolz, die im Wesentlichen ihre Erfindung war. Die Schanze bestand aus zwei schweren Karren, die nebeneinander geschoben worden waren. Die Zugstangen hatten die Mietlinge abgenommen. Zur Feindseite hin wurden die Ladeflächen durch massive Sturmwände verstärkt, die spitze Zinnen und jeweils vier dreieckige Schießscharten aufwiesen. 

Die schweren, eisenbeschlagenen Holzbretter wurden mit Hilfe von Eisenhaken an die Karrenwand gehängt oder besser gesagt gelehnt - ein Werk der Marktfriedwanger Dorfschmiedin. An Thyra von Altzoll war ein kleiner Leonardo verloren gegangen, natürlich im ingerimmgefälligen Sinn. Die Lücke zwischen den Wägen wurde durch eine mannshohe Pavese gedeckt. Nahm man den Setzschild beiseite, den ein Bild des Heiligen Alboran zierte, vermochte ein einzelner Reisender gerade so zu passieren. Sofern er auf Schusters Rappen unterwegs war. 

Um Saumtieren oder Fuhrleuten den Durchlass zu ermöglichen, musste der bergwärts stehende "Kriegswagen" beiseite geschoben werden. Die Räder des Fuhrwerks auf der Talseite waren mit schweren Schieferplatten blockiert, damit die "rollende Festung" nicht einfach in den Abgrund gestürzt werden konnte. Die Stelle war leicht zu verteidigen, es sei denn, ein Angreifer schaffte es, die dicht bewaldete Anhöhe zu erklimmen. 

Oben, auf einem Felsen, saß vorsichtshalber ein Posten, der – hoffentlich – melden würde, sobald sich der Grenzbefestigung etwas Ungewöhnliches näherte. Über dem Wagen wehte eine kleine, blaurote friedwanger Fahne, mit silbernem Bockskopp.  

Dahinter lehnten schwere Spieße und Hellebarden für den Nahkampf, aber die Hauptverteidigungswaffen würden Armbrüste sein.

In Weidenkörben lagen zudem Krähenfüße bereit, vierstachelige Eisenstücke, die, egal wie man sie warf, immer mit der Spitze nach oben liegen bleiben würden. Um einen schmalen Paßweg zu sperren, sei es gegen Fußvolk oder Reiterei, gab es nichts Besseres. Es sei denn natürlich eine Wehrmauer, die, aufgeregten Gerüchten zufolge, bereits geplant war, um Zoll von Oppsteiner oder Mistelhausener Kaufleuten abzupressen. 

Edorian hob mit der Hand, die ihm der grausame Kor gelassen hatte, ein gesiegeltes Schriftstück. 

"Syrenia von Mersingen geruht uns mitzuteilen, dass wir ab sofort dem Friedwanger Aufgebot unterstellt sind. Somit im Wesentlichen...Euch?" 

"Ja, das geruht sie." Gesche blickte vom Wagen herab in die Umgebung. Frühlingsstimmung lag in der Luft. Es duftete nach Nadelwald, Blumen und Bergkräutern. Der frische Bergwind ließ ihre blonden Haare wehen, die durch das häufige Helmtragen strähnig geworden waren. Im Grunde ihres Herzens gefiel es ihr hier oben. 

"Das bedeutet...was genau?" Für einen Moment hielt der Söldling das Schriftstück über das Feuer. Er brauchte es nur fallen zu lassen, und es würde in den Flammen verschwinden. 

Die Konnetabelin antwortete nicht sofort. Edorian war das qualvolle Humpeln von Alriks oberster Burgwächterin nicht entgangen. Aber sein Gesichtsausdruck ließ sich nur schwer deuten. Empfand er Mitleid, oder einen gewissen Respekt, vor der kleinen Büttelin, die zumindest ein wenig Schlachtfeldfahrung gesammelt zu haben schien? Weder Mitleid noch Respekt passte zum Söldnervolk, so wie Gesche es kannte. Das lahme Bein verdankte sie einem Korgesellen, einem Augrimmer aus Weiden, der in Baron Gernots Diensten gestanden hatte und für ein paar Dukaten mehr auf die Seite des Dämonenmeisters gewechselt war. Auch später, in der Wildermarkzeit, waren die "Dirnen und Lustknaben des Kor" ihrem schlechten Ruf vollauf gerecht geworden. 

"Das bedeutet, dass ihr ab heute nicht mehr im Auftrag Ihrer Wohlgeboren Mena den Pass bewacht. Sondern unter Befehl Ihrer Hochgeboren Syrenia von Mersingen. Die Erbvögtin von Friedwang kennt Ihr ja sicher. Damit untersteht ihr letztlich mir, gewiss." 

Der Bärtige zog das Pergament vom Feuer weg, legte es auf seinen Schoss und rollte es einhändig ein. 

"Dann sollten wir besser noch mal über unseren Sold verhandeln." Edorians Stimme klang lauernd. 

"Warum sollten wir das?" 

"Wir haben einen neuen Auftraggeber. Das bedeutet einen neuen Vertrag, oder etwa nicht? Unter unserem Kontrakt findet sich nur das Zeichen Menas von Gießenborn." 

"Mein lieber Edorian, Ihr solltet einmal das Kleingeschriebene durchlesen. Im Falle einer größeren äußeren Bedrohung kann Eure Schar dem Baron unterstellt werden, und damit dessen Stellvertreterin. Damit sollte klar sein, wer den Oberbefehl hat. Ist Euch das unmissverständlich klar?" Die blonde Befehligerin blickte Edorian unvermittelt an. 

"Ich nehme an, das seid dann wohl Ihr, nachdem die Frau Erbvögtin gerade von einem Kind genesen ist? Und der Herr Baron im schönen Rommilys weilt?"  Der Hauptmann reichte die Schriftrolle seiner Nachbarin und ließ Gesche die Verachtung für hohe Herren spüren, die andere für sich die Drecksarbeit erledigen ließen. Dann zuckte er mit den Schultern. "Solange der Löwenanteil der Beute am Ende in unseren Taschen landet. Warum nicht? Wer den Bänkelsänger bezahlt, für den trällert er." 

"Welche Beute?" 

"Wenn es eine Bedrohung geben soll...dann gibt es da draußen irgendwo Beute!" 

Der Hauptmann lachte lautlos auf und ließ keinen Zweifel daran, dass er Gesine nicht nur für eine schwache Befehlshaberin, sondern auch noch für ziemlich naiv hielt. 

Umständlich brockte er etwas Brot in seine Suppe. "Eines muss klar sein. In einer Schlacht habe ich das erste und das letzte Wort. Kommt runter, Zeit zum Essen fassen. Wenn man den Fraß, den Pagol zusammengerührt hat, wirklich als Essen bezeichnen will. Das Leckerste sind noch seine Flöhe, die ihm ständig reinfallen..."

Derbes Gelächter antwortete dem Söldnerhauptmann. Für dieses Wolfspack schien das Leben ein einziger, zotiger, kotiger Scherz zu sein. 

Der Angesprochene lachte dreckig mit, und blickte in Richtung von Gesines Pferd. "So ne kleine Fleischeinlage, die wäre wirklich nicht schlecht." 

"Ich habe ausgiebig gefrühstückt, unten in Gießenborn, und im Moment keinen Hunger. Vielen Dank." Gesine schaffte es mittlerweile ganz gut, den hochnäsigen Tonfall einer Adeligen zu imitieren. "Gesine von Bretzelbeck", so wurde sie manchmal scherzhaft genannt, von ihren eigenen Leuten. 

Unten, im Talwald, wo der Gießenbach rauschte, war der hohle Klang von Axthieben zu hören, mit denen Bäume gefällt wurden, um Letzinen anzulegen, Verhaue aus übereinander gelegten Stämmen und Ästen. Das war die schweißtreibende Arbeit der Gießenborner und Klosterdorfer Unfreien. 

Die Besatzung der Wägen bestand aus einem halben Dutzend "Silberwölfe", wie sich das Söldnerrudel nannte, das seit geraumer Zeit in Diensten der Amtfrau Mena von Gießenborn stand. Oder der Söldnerhaufen. Das andere Halbdutzend war in der Friedwanger Hütte einquartiert. Das verbliebene Dutzend beschützte derweil das Bergwerk und die Junkergüter. 

Alle paar Stunden wechselten sich die Wachen ab. Mena von Gießenborn, so nannte sich Ismena von Oppstein mittlerweile, die Tante Baron Adrans. Es ging wohl darum, Verwechslungen mit Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein zu vermeiden, die eigene Ansprüche auf den Oppsteiner Drachenthron erhob. 

Mena vertrat im Friedwängischen ihren Sohn, Baron Alboran von Binsböckel zu Schlotz und dessen Gemahlin Haldana, die wiederum Junker und Jungfer zu Gießenborn sowie Edle von Rübenscholl waren. Die einstige Rahjajungfer hatte den Schreck des Überfalls der Schwarzen Horden nie verwunden, damals, im roten Sommer 1035. Kaum war sie Verwalterin des Junkerguts Gießenborn geworden, hatte sie eine stattliche Schar Klingen angeheuert, zur Bewachung des Bergwerks, der Binsböckelgüter und der Baustelle ihres heißgeliebten Rahjatempels. Und natürlich der Silberbarren, die in der wohlverriegelten Schatzkammer des "Menahofs" gelagert wurden. 

Gesine hatte nie verstanden, wie eine welterfahrene Adelige, die Ismena die Ältere war, auf treulose und unzuverlässige Korjünger vertrauen konnte. Zumal, wenn es um die Bewachung derartiger Reichtümer ging. Dem kahlköpfigen, schiefmäuligen Koch, der gerade das Süppchen anrührte, zum Beispiel, dem hätte die Schneißer Bauerntochter keinen rostigen Kreuzer anvertraut. 

Womöglich gab es ja einen tieferen Grund für Menas bemerkenswertes Vertrauen. Rasch hatten sich Gerüchte verbreitet, rund um Edorian, den Hauptmann des Rudels, dem die komplette rechte Hand fehlte, abgehackt in irgendeiner ungenannten Schlacht der letzten Götterläufe. 

Auch Gesche fiel es schwer, da nicht an Edorian von Oppstein zu denken, den Vetter und einstigen Kanzler Baron Redenhardts. Der Ehrgeizling hatte gegen dessen Adoptivsohn Adran intrigiert, im Kampf um die Thronfolge. Am Ende war es zur entscheidenden Schlacht um Drachweiler gekommen, wo sich Adrans Truppen in einer Wagenburg verschanzt hatten. Der Zwercher Entsatz war gerade noch rechtzeitig auf dem Schlachtfeld eingetroffen und hatte die Anhänger Edorians besiegt. Zuletzt hatte der gestürzte Kanzler versucht, Lares von Hochfels als Geisel zu nehmen, ausgerechnet, den Gespielen Adrans – was er mit einer abgeschlagenen Hand gebüsst hatte. Abgeschlagen vom rasenden Liebhaber des Hochfelsers...

Gesine wusste nicht mehr zu sagen, was genau damals mit dem vornehmen, arg blessierten Gefangenen passiert war.  Wahrscheinlich war Edorian verbannt worden. Konnte es sein, dass der Oppsteiner gerade in persona vor ihr saß, leicht ergraut und mit einem stattlichen Rauschebart, hinter dem selbst eine Kaiserin Rohaja ihr Antlitz hätte verbergen können? 

Womöglich war das Ganze ja nur eine geschickte Provokation, gegenüber Seiner Hochgeboren Adran, der heute, zwanzig Jahre später, in Markt Oppstein residierte, und sich gänzlich unangreifbar wähnte. Gewinnbringend Streit anzuzetteln, das war bei den Herren eine hohe Kunst für sich – und keinesfalls mit dem plumpen Vorgehen zu verwechseln, als erster blank zu ziehen. 

Spätestens seit dem Attentat auf Baroness Tsalinde von Friedwang wurde der Oppsteiner ebenso geschickt wie fortlaufend gereizt. Durch seine Tante (Is-)Mena, die ihm den blutigen Familienzwist ebensowenig verziehen hatte wie die Nötigung ihres Bruders an dessen eigenen Hochzeitstag. Dem Tag, an dem Adran das erste Mal seine Erbansprüche auf Oppstein durchgesetzt hatte. 

Aber vermutlich zog im Hintergrund längst Erbvögtin Syrenia von Mersingen die Fäden. Älteren Hauses. Schließlich war Ismena Rondria von Oppstein mit deren Neffen Gisborn verlobt. Die Mersingens strebten nach der Macht über Oppstein, soviel stand fest. 

Der neunmalkluge, vorwitzige Herdfried Tanner, einer ihrer Rottmeister, behauptete, das läge am teuren Oppsteiner Gänsestahl. Bei dem Eisenspäne an Gänse verfüttert, und, nun ja, wieder ausgekackt wurden, was dem Stahl angeblich eine besondere Güte verlieh. Gesche hatte nur ungläubig mit dem Kopf geschüttelt: Das Verfahren könne ja wohl jeder bei seinem eigenen Federvieh anwenden. Dazu bräuchte es doch nicht die Herrschaft über Oppstein ?!! 

Herdfried hatte derb gelacht, über dem soundsovielten Bier im Ogerlöffel, wie es seine Art war. Bei Oppsteiner Gänserichen stünde das A....loch eben besonders weit offen. Herdfried Tanner. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben, das Schandmaul bei jeder Verfehlung einzeln zurechtzuweisen. 

Nun hielten die Silberwölfe Wacht am Pass der Freundschaft, wie der einzige Verbindungsweg zwischen den beiden Baronien offiziell hieß. Der Name klang mittlerweile wie reiner Hohn. Seit Tsalindes Verschwinden war das Verhältnis zwischen dem Oppsteiner und den Friedwangs so eisig wie der Wind, der hier im letzten Winter geweht hatte. 

Hochwürden Malachanias, der Hilfsinquisitor und Vorsteher des Praiostempels zu Marktfriedwang, hatte einen Brief mit zwölf Fragen an Baron Adran übersandt. In dem es um dessen früheres Verhältnis zu Baronin Serwa von Friedwang und die Aufhebung des "Verbots schädlicher Magie" in Oppstein, um den Verbleib der Baroness Tsalinde sowie Adrans angebliche Sichtung auf Hexenfesten ging. Damals, in dessen wilder Jugend. Hochwürden hatte einen schriftlichen Respons erwartet, aber Seine Hochgeboren sich gerade noch dazu herabgelassen, die Fragen mündlich zu beantworten. Nach allem, was man so hörte,  hatte er sich auf Erinnerungslücken und ein angebliches Komplott seiner Feinde berufen. 

Ohrenzeugen hatte es jedenfalls genug gegeben, in der neuen Residenz zu Oppstein, die noch nicht ganz fertiggestellt, aber bereits bewohnbar zu sein schien. Adran, der Schwerenöter, sollte Serwa als wunderschöne Frau bezeichnet haben, der er seinerzeit verfallen sei, womöglich aufgrund eines Hexenszaubers, und Tsalinde, die könnte doch seine Tochter sein...da würde er nie...

 

Vermutlich hielt ein Adran Aurentian Randolph von Berlînghan-Oppstein-Mersingen derart lose Rede für horasische Leichtigkeit und zwanglosen Esprit. Malachanias indes schäumte vor Wut. Sicher würde er das hochnäsige Lästermaul bald in den Turm der Freude nach Marktfriedwang  zitieren. 

Aber auch Ismena von Gießenborn hatte nichts unversucht gelassen, den "Parvenü" auf dem Drachenthron aufzustacheln. Schließlich stand sie ihrer Schwester Irmena Darina und deren Tochter Ismena Rondria schon dem Namen nach nahe.  Kaum war der Schnee auf dem "Verräterpass" getaut – eine Bezeichnung, die momentan weitaus besser als Freundschaftspass passte –  hatte sie die Silberwölfe gen Oppstein geschickt, um eigene Nachforschungen anzustellen. Diese bestanden im Wesentlichen darin, Steckbriefe mit dem Konterfeit eines gewissen "Notmärker-Vigo" anzunageln, an Schenkentüren, Tempeltoren, Schulzenhäusern, Adrans neuer Residenz und, dem Vernehmen nach, sogar eine Sokramurheilige Eiche. Besagter Vigo sollte der Anführer der Meuchler gewesen sein. Auf seine Ergreifung war die stattliche Summe von 600 Silbertalern ausgelobt worden. 

Natürlich hatten die Oppsteiner die Eindringlinge rasch "hinauskomplimentiert", was verständlich, aber auch verfänglich gewesen war. Immerhin wurde der Bornländer beschuldigt, mit dem Namenlosen im Bunde zu sein. Kampflust war jäh emporgelodert, zwischen den beiden "befreundeten" Baronien, wie bei einer Kerze, die in einen großen Haufen Stroh gefallen war.

Den ganzen Peraine und beginnenden Ingerimm über hatte es Raufereien und Kneipenschlägereien gegeben. Auch Waffen sollten schon gezogen worden sein. Die Traviageweihten hatten sich auf beiden Seiten der Grenze – die ja nicht wirklich eine Grenze war – bemüht, das Feuer wieder auszutrampeln. 

Baron Alrik von Friedwang war ebenfalls verstimmt, ob des jüngsten Affronts gegen seine Gemahlin. Er hatte angeordnet, den Passweg gen Oppstein zu sperren, so lange, bis es eine offizielle Entschuldigung des Nachbarbarons geben würde. Seither hielten die Silberwölfe Wacht gen Firun. 

Den Klügeren war klar, dass es bei dem Zwist in Wahrheit um das Gießenborner Silber ging. Vor allem um den ertragreichen Ilpettastollen, der größtenteils auf Oppsteiner Gebiet lag, sowie die Anteile Menas von Gießenborn. Die Kuxe sollten mit der Schlotzer Hochzeit eigentlich auf deren Sohn Alboran übergehen, als Mitgift. Stattdessen wurden sie von Adran einbehalten, unter Verweis auf Menas Abwesenheit in der Zeit der Wildermark. Schließlich erhielt ein Besitzer von Kuxen nicht nur eine Beteiligung am Gewinn, sondern war auch zu Zubußen verpflichtet, sprich Investitionen ins Bergwerk. Davon hatte es in den letzten Götterläufen einige gegeben. Überhaupt müsse endlich über eine angemessene Erhöhung der Oppsteiner Anteile an der Mine gesprochen werden, entsprechend deren sumugraphischer Lage. Hieß es beim nördlichen Nachbarn. 

Beide Baronien brauchten einfach Geld, im zehnten Jahr, nachdem die Horden Varenas von Mersingen den Karrenweg entlang nach Süden gezogen waren, unter Firunsgläubigen auch als "Bogen des Weißen Jägers" bekannt. Manch Dorf am Wegesrand war damals in Flammen aufgegangen, eine Heimsuchung, von der sich weder Friedwang noch Oppstein erholt hatten. 

Letztlich ging es bei der Pass-Besetzung darum, die Säumer auszusperren, die jeweils zum Jahresende gen Gießenborn zogen, um den Silberanteil der Oppsteiner in deren Schmiede zu bringen. Im Rahjamond würde es wieder soweit sein. Das genaue Datum war aus Gründen der Vorsicht schon früher nicht angekündigt worden.

Seine Hochgeboren Alrik Tsalind war zuletzt gnädig bereit gewesen, es als "Wiedergutmachung" zu werten, wenn Adran die "Ismenischen Kuxen" aushändigen und auf alle weiteren Ansprüche verzichten würde. Die spottlustigen Friedwangen witzelten schon von der "guten Mine zum bösen Spiel". Es war ein offenes Geheimnis, dass sich der Freiherr weniger durch die Schmähung seiner treulosen Gemahlin denn die mögliche Schmälerung seiner Einkünfte gekränkt fühlte. 

Seit zwei Wochen bestand die Sperre nun schon, soweit Gesine wusste, war nichts Dramatisches geschehen. Edorians Silberwölfe beschränkten sich darauf, Reisende zu befragen und zu kontrollieren, gelegentlich auch auf verfängliche Zeichen hin zu untersuchen. Einer der Attentäter an der Friedwanger Hütte sollte mit einer Klaue im Nacken tätowiert gewesen sein, als Zeichen des bornischen Korsmalbundes. Noch war kein Blut geflossen, aber die Friedwangen hatten es geschafft, ihre Nachbarbaronie als zwielichtige Heimstatt der Ketzerei dastehen zu lassen, das allerhand Landfremde und Hexenfreunde beherbergte. 

Zuletzt hatte sich die aufgeheizte Stimmung wieder ein wenig beruhigt. Alrik und Serwa hatten sich zurück nach Rommilys begeben, um dort ihr frommes Traviajahr fortzuführen, das sie als Paar versöhnen sollte. 

Natürlich wusste jeder, dass sich hinter Adrans Beleidigungen mehr als nur ein Funken Wahrheit verbarg. Der gehörnte Baron von Friedwang hatte keinerlei Interesse daran, alte Geschichten wieder hochkochen zu lassen. Also hatte er die Verwaltung seines Lehens demonstrativ der Erbvögtin überlassen, die im Peraine von einer Tochter entbunden worden war, der kleinen Khalidia. Benannt nach dem Schutzpatron der Bestattung. 

Gesche verzog den Mund. Marbide veranlagt, das waren die Mersingens schon. Eine offene Herrschaft der Boronstreuen über Friedwang hätten die Einheimischen nur schwer akzeptiert, trotz des klangvollen Familiennamens. 

Vor allem Syrenia mühte sich redlich, den Konflikt am Laufen zu halten, der nach einem Machtwort der Marktfriedwanger und Oppsteiner Traviatempel wieder einzuschlafen drohte. Die mächtige Erbvögtin hatte Gesche zur Konnetabelin ernannt, damit zur Befehligerin des barönlichen Aufgebots, was eigentlich nur in Kriegszeiten üblich war. Im Oppsteinschen würde man sicher seine Schlüsse daraus ziehen. 

Mit steifem Bein stieg Gesche vom Fuhrwerk herab. Um ein Haar wäre sie gefallen, hätte sie sich nicht am Rad festgehalten. Sie nahm die Schmierbüchse an sich und stellte sie neben einen Felsbrocken. Sicher war sicher. 

"Ich würde nun doch auf Euer Angebot zurückkommen", sagte sie, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Söldner ihr Mahl beendet hatten, "und einen Happen essen." 

Edorian sah sie mit gerunzelten Augenbrauen an. Gesche legte ihr Felsengesicht auf. Es war richtig gewesen, die Suppe nicht zusammen mit den Söldnern zu löffeln. Die Silberwölfe würden so etwas nicht als kameradschaftliche Geste auffassen, so viel spürte sie, sondern als weiteres Zeichen der Schwäche. 

Die Befehligerin setzte sich auf einen Stein und sah zu dem gestreiften Zelt, das am Wegrand aufgebaut worden war. Die Silberwölfe hatten es sich gemütlich gemacht, in Anbetracht der Umstände. Dann bekam sie auch schon einen Napf und einen Kanten Brot gereicht, vom Glatzköpfigen. Gesine nickte huldvoll, wie sie es sich von der Herrschaft abgeschaut hatte, und sah zu Edorian, der auf einem umgedrehten Faß residierte. 

War es vorstellbar, dass dort der zurückgekehrte Vetter Baron Redenhardts saß? Bart hin oder her, zwanzig Jahre hin oder her – Gesche hatte ein ganz gutes Gesichtergedächtnis und den "echten" Edorian einige Male aus der Nähe gesehen.  Immerhin war der Intrigant eine Zeitlang Verwalter von Gießenborn gewesen. Das Alter hätte schon gepasst, die Verstümmelung und natürlich der Name. Aber der konnte ebenso ein Spitzname sein, vielleicht sogar bewusster Spott auf die Adelsränke in der Schwarzen Sichel. Mit dem Bart schien er auch eine Narbe kaschieren zu wollen, die seine linke Wange verunzierte. 

Nein. Gesine mochte Söldner nicht, keineswegs nur, weil sie ihr steifes Bein dem Hieb eines Reisläufigen verdankte. Sie waren einfach unzuverlässig, grausam, habgierig. Silberwölfe, der Name passte. Die Konnetabelin wartete ein wenig, bis der Eintopf abgekühlt war, und begann dann zu essen. Edorian hatte sich einen Becher Wein reichen lassen, und bot ihr ebenfalls einen Trunk an. Gesine nickte. 

"Schöne Aussicht", sagte der Einhändige und wies mit dem Stumpf auf die Umgebung. Tatsächlich war die Fernsicht an einem milden, sonnigen Frühlingstag wie diesem atemberaubend. Dort unten, am Gießen, stiegen dünne Rauchsäulen über Klosterdorf auf, eine umzäunte Ansiedlung, die zu Füßen der Badilakanerabtei Alveranskuppen entstanden war. Westlich der namensgebenden Alveranskuppe erstreckte sich das Bockshorn, als höchste Erhebung der Baronie, bevor der Wildbach die steile Geißerklamm hinab stürzte. Dahinter rauchten bereits die Herdfeuer und  Schmelzöfen des Junkerdorfs Gießenborn. 

"Glaubt Ihr, es wird eine Fehde geben?" fragte Edorian unvermittelt. 

"Noch hat niemand einen Fehdebrief überbracht", sagte Gesine ausweichend. Dann hob sie den Becher. Beide tranken. "Hoffen wir, dass das neue Jahr friedlich bleibt." 

Edorian war anzumerken, dass er diese Hoffnung nicht teilte. "Mit Krieg und Frieden ist es wie mit dem Wetter. Mal blitzt, stürmt und hagelt es, mal herrscht eitel Sonnenschein. Soldaten wie wir, nun - unsereins vermag nichts daran zu ändern. Nur das Beste daraus zu machen." Der Einhändige wies mit dem Kopf auf Gesches Warunker, der an eine einsame Tanne gebunden war. "Werdet Ihr heute noch nach Gießenborn zurückkehren? Oder wollt Ihr...den Oberbefehl über die Wagenschanze übernehmen?" Da war er wieder, der korgefällige Spott eines Söldners. 

"Die Nächte sind ganz schön frisch hier oben". Die Doppelsöldnerin blickte über die  frisch geschliffene Klinge ihres Zweihänders ins Leere. "Da verkühlt man sich schnell." 

"Gestern haben wir sogar Rotpelze gesichtet", fügte der kahle Koch hinzu, der mit Hilfe eines schmutzigen Lappens den Topf vom Haken nahm. "In einem Pfeilschuss Entfernung. Noch ein Löffel?" 

"Seid bedankt, nein." Gesine überlegte kurz. Tatsächlich wäre sie liebend gerne ins Grenzdorf zurückgekehrt. Allerdings spürte sie die Herausforderung. Die Herausforderung galt auch ihrem Rondraglauben, für den Kampf eine Frage der Ehre, des Mutes und der inneren Haltung war. Nicht von unmenschlicher Härte, Käuflichkeit und dem Ausleben niederer Instinkte. Ein Wehrheimer Offizier verlangt von seinen Untergebenen nichts, was er nicht selbst zu leisten bereit ist, hatte es früher geheißen. 

"Ich hätte meinen Schlafsack sogar dabei", sagte sie lapidar. 

"Platz ist in der kleinsten Hütte", kicherte ein rattengesichtiger Söldner, einer aus den hinteren Schlachtreihen, der einen zerschlissenen wattierten Waffenrock, aber nur wenig Plattenzeug trug. Sein Eisenhut verunzierte eine große Kerbe, nebst mehreren Dellen. 

"Nur keine Umstände. Ich werde unter dem Fuhrwerk schlafen, wie sich das gehört. Welche Wache soll ich übernehmen?" 

Gesine stocherte mit dem holzgeschnitzten Löffel im krautigen Eintopf herum, der überraschend würzig und ziemlich tsagefällig schmeckte. Fleisch schwamm darin schon mal keines herum. 

Natürlich war es keine Kameraderie, die sie dazu bewog, heute Nacht auf dem Pass zu bleiben. Sie wollte sich die Gegend noch einmal näher anschauen, in der im letzten Winter die Baroness verschwunden war. Ohne jede Spur, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Zwar waren seither noch einmal Späher in den Bergen gewesen, aber es war immer gut, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. 

"Ihr seid selbstverständlich von der Wache befreit", sagte Edorian gönnerhaft. "Viburn wird einige Tannenzweige für Euch sammeln. Dann müsst Ihr nicht auf dem nackten Felsen schlafen. Als Konnetabelin." 

"Das ist sehr freundlich von Euch, Hauptmann...Edorian." Gesche stand auf, schüttete den Rest der kargen Suppe ins Feuer und stellte den Napf auf den Stein. Im Grunde brauchte sie den Söldnerführer ja nur zu fragen, ob er Edorian von Oppstein war. Wenn es dem Leitwolf der Silberwölfe darum ging, seine Herkunft zu verbergen, hätte er sich leicht einen anderen Namen wählen können. 

"Vorher werde ich mich noch ein bisschen umsehen, auf dem Pass." Die Barönliche ruckte ihr Schwert zurecht. 

"Sucht Euch zwei Leute aus, als Begleitung." Edorian sah sie an, als befürchte er, sie könne gleich nach der nächsten Biegung in den Abgrund fallen. 

"Seid unbesorgt, ich kenne mich in der Gegend aus", sagte Gesche schmallippig. "Ihr doch sicherlich auch, Hauptmann Edorian von...von...?" 

"Ich war schon seit längerem nicht mehr im Oppsteinschen", sagte Edorian, mit geheimnisvollem, ein klein wenig melancholischem Lächeln. "Edorian genügt, für den Anfang." 

"Wo kommt Ihr eigentlich her? Ursprünglich, meine ich?" 

"Wo ich herkomme? Ich bin jedermanns Feind, mehr braucht Ihr nicht zu wissen. Zum Glück lässt sich meine Freundschaft kaufen, wie bei so manchem Adeligen in der Sichel." Edorian rieb sich über den kläglichen Handstumpf und blickte gen Norden. Seine Augen funkelten.

 

Wie bei so manchem Adeligen? Bedeutete das, dass er selbst aristokratischer Abstammung war? Wurde der alte Söldner von Rachsucht angetrieben? 

Oder hatte der Hauptmann Anweisung, den verstümmelten Oppstein zu spielen, um Unzufriedene anzulocken, im Stammlehen des Hauses? Aus einem Halbbanner konnte solcherart schnell ein ganzes Banner werden. Ihr eigener Herr, Alrik Tsalind, war seinerzeit ähnlich vorgegangen, im Kampf gegen den Thronräuber Gernot. Mit der Freischar der Rächer Rondras. 

Andererseits, so ungewöhnlich war der Name Edorian in den Zwölfgöttlichen Landen nicht. Es gab die merkwürdigsten Zufälle auf Dere. 

"Ganz ungefährlich ist es hier oben nicht. Überall lauern Goblins, orkische Herumtreiber, angeblich sogar Affenmenschen...und natürlich die bösen Oppsteins..." 

"In der Wildnis sehen zwei Augen mehr als sechs", antwortete Gesine, ging auf den Durchgang zu und stellte den Setzschild beiseite. 

Sie war keine Waldläuferin, aber als Kind des Schratenforstes wusste sie, dass ein Einzelner in der Einöde weit weniger Aufmerksamkeit erregte als eine Gruppe. Entsprechend nahm ein einzelner Kundschafter mehr wahr als es umgekehrt der Fall sein mochte. Außerdem konnten die Oppsteiner einer einzelnen Büttelin nur schwer eine bewaffnete Grenzverletzung vorwerfen. 

 "Keine Angst, ich bin nicht lange weg." 

Gesine glitt ins Freie. Die Wagenschanze war noch ein ganzes Stückweit von der Passhöhe entfernt errichtet worden, an einer Stelle, die leicht zu sperren war. Das leicht abschüssige Gelände und die Wegbiegung davor gefielen der Konnetabelin nicht besonders. Das Schussfeld war zwar gut, aber für ihren Geschmack ein wenig zu kurz. 

Dafür verbreitete sich hinter dem Durchlass, auf der Friedwanger Seite, der Weg, so dass die Passwachen nicht nur einen geräumigen Lagerplatz, sondern auch beste Aussicht ins Gießental hatten. 

Schaudernd erinnerte sich Gesine an den letzten Winter, als sie sich bei heftigem Schneetreiben die Anhöhe hinauf gekämpft hatte. Vor allem zur Linken musterten sie nun die Schiefermahre in voller Pracht, wie die bizarren Felsgesichter genannt wurden. Die Büttelin las eine Handvoll Steine auf und schob sie hie und da einer der Fratzen vor das Maul. Die Fütterung der "Beißer" und "Radbrecher" sollte die Missgeschicke vertreiben, die einem jeden Talbewohner in der traviaverlassenen Bergeinsamkeit drohte. 

Da vorne ragte das vertraute Boronsrad auf, das die Grenze zur Baronie Oppstein markierte. Die Passbergklippe erstreckte sich gleich hinter der verwitterten Stele. Danach begann das Land wieder sanfter abzufallen, zum dichten Oppsteiner Wald hin. Irgendwo bimmelten Kuhglocken. In der Ferne ragten schneebedeckte Berge auf. 

Jetzt, in der hellen Nachmittagssonne, sah die Felsenkante nicht mehr gar so schroff und dramatisch aus wie noch im Hesindemond. Hie und da waren einige Bäumchen umgestürzt und Geröll herabgerutscht, sonst erinnerte wenig an die schwere Lawine, die vor einigen Monaten heruntergewalzt war. 

Gesine schüttelte den Kopf, ungehalten über sich selbst. Sie kannte die Klippe bereits zur Genüge. Die schwarzgraue Wand würde ihr gewiss nicht einflüstern, was mit Tsalinde und ihrem Onkel geschehen war. Weder führte eine Höhle in die Tiefe des Bergs, noch gab es einen Pfad nach unten, in Richtung Passweg. Jedenfalls keinen, den ein schwerer Hornschlitten unbeschadet hätte hinabgleiten können. Ein paar Ziegen kletterten im wild zerklüfteten Abhang umher, mit scheppernden Glocken, das war alles. Die Natur vergass das Unglück schnell, das sie den Menschen zufügte...beunruhigend schnell. 

Dennoch las Gesine einen starken Ast am Wegesrand auf und stieg mit diesem Wanderstab zwischen die Felsen. Ihre Gedanken verirrten sich zu den Affenmenschen, die Edorian erwähnt hatte. Die waren nun wirklich selten und nur in den abgelegensten Tälern des Hochgebirges anzutreffen. Hesindian von Orweiler, der Hofmagus, behauptete, dass Traviatal (wie Markt Friedwang im Alten Reich geheißen hatte) einmal von den "Neandertalern" beherrscht worden war. Zumindest deutete er so die wenig schmeichelhafte Legende, wonach es im Dorf zur Vermischung von Menschen und Goblinsklaven gekommen sein sollte. Aber das war in den Dunklen Zeiten gewesen, und die waren schon ein paar Jährchen her. Der Name der menschenscheuen Äfflinge, die bei der Frage nach ihrer Heimat mit einem gegrunzten "Nee, ander Tal" geantwortet haben sollten, beim Deuten auf eine Karte, kam nicht von ungefähr. 

Steinchen klackerten unter ihren humpelnden Schritten bergab. Firtz´Waggrang sollte auf Goblinisch soviel wie "viele herabkollernde Steine" bedeuten. Laut der Sage hatte die Schamanin der Rotpelze, deren Dorf an Stelle Traviatals niedergebrannt worden war, ein Fluch über die bosparanischen Eroberer ausgesprochen: Nichts sollte an diesem Ort mehr gedeihen, was nicht goblinisch sei... und tatsächlich waren den Traviatalern zunehmend rote Haare gesprossen, am ganzen Leib, und krumme Eckzähne gewachsen. Irgendein schlauer Bauer war auf die Idee gekommen, den Ort nach dem ausgelöschten Goblinstamm zu benennen. Eben nach den Firtz´Waggrang, woraus sich der Name Friedwang entwickelt haben sollte. Seithdem war der Fluch gebrochen. 

Irgendwie eine haarige Geschichte, zumal der Name Friedwang im alten Garethi mehr Sinn ergab als Firtz´Waggrang in der Sprache der Rotpelze. Irgendetwas mit Hangweide...umzäunter Weide...begrenzender Weide? Einer heiligen Gänsewiese? 

Ach, egal. Die Klippen waren jedenfalls genau das - Klippen. Es gab Spalten, Schründe, Klüfte, Stufen und Überhänge. Aber nichts, wo man sich vor einer Lawine hätte verstecken können. Wo man sich überhaupt hätte verstecken können. 

Herabkollernde Steine, herabkollernde Steine...Gesine geriet ins Grübeln. Sie hatten damals ausgiebig den Paßweg untersucht, unter den Felsen, wo der Schlitten aufgeschlagen sein musste. Bis auf einen zerbrochenen Skistock war dabei nichts zu Tage gekommen. Aber Ausläufer der Lawine schienen über den Weg hinausgerollt und den gegenüberliegenden Abhang hinabgestürzt zu sein. 

Vielleicht suchte Gesine ja auf der falschen Seite? 

Sie wandte sich dem südlichen Abhang zu. Zwischen Baumreihen schimmerte der Gießenbach. Dort unten musste die Lawine endgültig zum Stillstand gekommen sein. Oder waren die krummen, teilweise umgestürzten Tannen, Fichten und Föhren Überreste eines Windbruchs? 

Umständlich trippelte sie den steilen Hang in Richtung Talgrund. Fing sich hie und da an einem Baumstamm ab. Rehe wichen in den tieferen Wald aus. Gesche war sich sicher, dass ihre Büttel hier unten, wo das Vorwärtskommen selbst im schönsten Frühling beschwerlich war, nicht nachgesehen hatten. Zumal das alles Oppsteiner Gebiet war. Ein Mensch spürte, dass er sich auf fremdem Terrain befand, während für die munter zwitschernden Vögel sicher kein Unterschied zwischen "Oppstein" und "Friedwang" bestand. 

Sie schaute sich aufmerksam um. Erwartete sie, die Überreste eines Schlittens zu finden, oder gar die sterblichen Hüllen Odilons und der Baroness? Letztere sollte ja schon ein Lebenszeichen von sich gegeben haben, per Brief. Darüber zerrissen sich die Leute noch immer das Maul. Allgemein wurde angenommen, dass sich die Baronieerbin in Gefangenschaft befand, womöglich in "Obhut" eines gewissen hohen Herren – und demnächst Lösegeld verlangt werden würde. Geld, das erst einmal aufgebracht werden musste. Wie sonst hätte erklärt werden können, dass die gute Tsalinde noch nicht auf ihre elterliche Burg zurückgekehrt war. Sicherlich würde es an den Bauern liegen, die entsprechenden Abgaben zu zahlen... 

Der Talwald war ziemlich verbuscht, ganz so, als würden öfters Lawinen hinein donnern. Interessanterweise hatten sich die Schäden nahe am Weg in Grenzen gehalten, während sie weiter unten, nahe am Bach, deutlich wahrnehmbar waren.

Tatsächlich hatte sich Geröll und reichlich Bruchholz in den "Geißenbach" geschoben und diesen zu einem kleinen See aufgestaut. Gesine war noch nie am Meer gewesen, aber so ähnlich stellte sie sich "Brandung" vor, auf den Efferdstränen etwa, wo die Friedwangs noch ein Festes Haus besaßen, hoch über den Felsen. Erst dort, wo eine Welle ausbrandete, entwickelte sie wirklich Kraft. Offenbar hatten sich die Schneemassen regelrecht zwischen den Baumreihen hindurchgeschlängelt und erst am Ende aufgetürmt. 

Sie blickte sich um, in vollkommener Waldeinsamkeit, die Friedwangs Grenzen  besser schützte als jeder Wall. Den ganzen Schlitten würde sie wohl nicht vorfinden. Nie im Leben wäre er an  einem Stück unten angekommen. 

Ein mattes Blinken ließ sie zwinkern. Die Sonne war es nicht, die leuchtete ein Stückweit daneben, auf der anderen Seite des Baches. Nein, das Gefunkel kam aus dem Teich, in dem sich Praios Lichtstrahlen spiegelten. Sie trat näher. Tatsächlich, am Ufer des "Stausees" schimmerte etwas im Wasser. Vorsichtig balancierte sie über den natürlichen Damm und fand sich nach wenigen Augenblicken auf einer kleinen Waldlichtung wieder. Gesine fischte von dort aus nach dem metallisch glänzenden Etwas, mit Hilfe ihres Wanderstabs.  

Eine Glocke?! Eine Kuhglocke vermutlich, von denen sie vorhin einige gehört hatte. Sie nahm das messingfarbene Ding in die Hand und befreite es vom Schmutz. Irgendetwas war eingraviert, ah, eine gerade aufblühende Rosenknospe. Der Lederriemen war gerissen. Für einen dicken Kuhhals, selbst einen mageren Ziegennacken, war der viel zu klein. Die Schlaufe hätte kaum um ihr Handgelenk gepasst. 

Gesine begriff. Eine Schlittenglocke?! Das war doch schon mal ein lohnender Fund. So ein Glöcklein bimmelte unter dem Schlitten. Offenbar war es abgerissen worden. Von der Lawine, einem Stein oder Ast? Gesche spähte nach oben. Auch wenn die Paßfelsen gerade verdeckt waren, tauchte plötzlich ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Erst war der Schnee heruntergedonnert, sehr viel Schnee, und hatte eine Art Brücke oder Rampe in den Wald gebildet. 

Darauf war der Schlitten mit den "Entführern" hinabgeglitten, gefolgt von Odilon. Dann musste von oben noch einmal Schnee nachgerutscht sein, hinter dem Waldläufer, und sämtliche Spuren verwischt haben, bis auf den zerbrochenen Skistock. Und die Glocke, natürlich. War des Rätsels Lösung am Ende so einfach? Ein Schneerutsch, der bereits vor der Schlittenpartie abgegangen war, und eine kurz darauf folgende Nachlawine? 

Wenn der Schlitten geradewegs im eiskalten, teilweise zugefrorenen Gießen gelandet war, dann hätten alle Beteiligten ein Problem gehabt. Der Wind über dem Passwald pfiff selbst jetzt, im schönsten Ingerimmsmond, noch recht frisch. Die Überlebenden der Lawine hätten dringend ein warmes Feuer gebraucht, und natürlich einen Heiler, für die verwundete Baroness. Die naheliegendste Zuflucht wäre das Traviakloster Alveranskuppen gewesen, "naheliegend" allerdings nur auf der Karte. 

Wahrscheinlich hatten sich die Krampusse – die als Bergfaune verkleideten Sokramorier – in der Gegend ausgekannt und gewusst, wo sie schnellstmöglich Gastung erhalten würden? Verdammt, die Gardisten hatten doch zwei Alborandiner dabei gehabt, aber die Schnüffelnasen nur dazu eingesetzt, nach den vermeintlich Verschütteten zu suchen. Dabei wäre es das Richtige gewesen, der Spur der Lawine, oder besser gesagt, der Schneise zu folgen, die beide Lawinen im Wald hinterlassen hatten? 

Gesche ballte die Faust, aber es half nichts, der Fehler war geschehen. Sie konnte jetzt nur noch daraus lernen. 

Sie blickte sich etwas ratlos im Talwald um. Nun, Schleichwege fanden sich in der Umgebung überall und nirgends. Die Konnetabelin versuchte ihren Instinkt spielen zu lassen. Wohin hätte sie sich gewandt, durchnässt, frierend, vielleicht bedroht durch kleinere Nachlawinen? 

Die Schneißerin rümpfte die Nase. Tatsächlich, es roch leicht brenzlig, ein Geruch, den sie bestens vom Schratenwald her kannte. Der Geruch nach Holzkohle...Offenbar befand sich irgendwo in der Nähe ein Kohlenmeiler? 

Wie ein Schwarzer Berghund, der Witterung aufgenommen hatte, setzte sich die Befehligerin der Friedwanger Wachen in Bewegung. Sie musste nicht lange suchen, da vorne wehte schon der typische weiße Dampf durchs Unterholz.

Gesine steckte die Glocke oben auf den Stecken und folgte einem Trampelpfad, auf dem wohl Bachwasser herangeschafft wurde, um den Meiler zu kühlen. 

Dort vorne ragte der schwarze, dampfende Holzkegel auch schon auf, mit zwei armseligen Köhlerhütten in der Nachbarschaft. Es war eine ganze Familie, die hier Wache hielt und arbeitete, in die Flanken des Feuerbergs stach oder oben am Kamin zugange war. "Quandel", so wurde die Luftzufuhr in der Mitte genannt, das wusste Gesche noch aus ihrer Jugendzeit. Eine schlichte, in einen Baumstamm gekerbte Leiter führte den übermannsgroßen Meiler hinauf. 

Mit einem herzlichen "Gut Brand!" trat die Konnetabelin auf die Lichtung. Erstaunte, rußverschmierte Gesichter blickten von der Arbeit hoch. Erleichterung machte sich breit, als die Kohlenbrenner das friedwanger Steinbockwappen auf dem Waffenrock sahen. Die Feindseligkeit zwischen Friedwangen und Oppsteinern schien sich im tiefsten Wald noch nicht herumgesprochen zu haben. Vielleicht verkauften die Waldbewohner ihre Holzkohle ja bis nach Gießenborn, in die dortige Silberhütte. In jedem Fall war ihnen Besuch aus der Nachbarbaronie angenehmer als eine Goblinmeute, eine Horde Dunkelländer oder anderes Raubzeug.

 

Rasch wurde Gesine zu einer Suppe in eine der zeltähnlich geformten Holzhütten eingeladen, die ähnlich schmeckte wie die Verköstigung oben auf dem Passweg. In beiden Fällen hieß der Küchenmeister Schmalalrik. 

Gesche hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ein zweites Mal zuschlug, an diesem Tag, mochte die Kost auch eher fad schmecken. Sie bedankte sich überschwänglich, lächelte viel, behauptete, sich auf Grenzgang verlaufen zu haben. Die Köhler, die kaum verständliche Sichelhager Mundart, vermutlich Schwärz, sprachen, waren dankbar für Besuch von "außerhalb". Gesine wusste, dass sich deren Ansehen nur unwesentlich über dem von Geächteten bewegte. Sie fragte harmlos, nach einem etwaigen Wintermeiler, verstand die Antwort aber kaum. Offenbar wurde das Buchenholz auch in der Schneezeit verschwelt, aber in deutlich kleineren Meilern. Die eigentliche Zeit der Köhlerwachen begann erst im Peraine. Im Winter wurde mit den Schlitten Holz gefahren, in den umliegenden Bergen. Mit dem Schlitten, so so. 

Von einer Baroness Tsalinde hatten die verrußten Gestalten noch nie etwas gehört. Die Büttelin fragte geradeaus nach einer verwundeten jungen Frau, die vielleicht im Hesindemond vorbeigebracht worden war. Nein, Fremde verirrten sich nur selten in ihre armseligen Hütten, ab und an mal ein Jäger oder Waldbauer. Adelsleute ganz gewiss nicht. Wenn, dann würde man ungewöhnliche Vorkommnisse rasch dem nächsten Amtmann melden. 

Natürlich hätte Gesche auf ihr Schwert pochen und deutliche Rede verlangen können. Aber abgesehen davon, dass sie gerade auf fremden Lehensland saß, taten ihr die Leutchen leid. Vermutlich waren sie wirklich nicht des Hochgarethi mächtig, wie es die feinen Herren und Damen unten am Ochsenwasser sprachen. 

Vor allem waren sie vollauf mit ihrem Kohlemeiler beschäftigt, den zu hüten wahrlich keine einfache Aufgabe war. Zwischendurch sprang die ganze Familie auf, als Flammen oben am Meiler emporloderten, um den Brand hastig zu löschen. Gesche nutzte die Gelegenheit, sich ein wenig in der Kobe umzuschauen, die wie ein Kegel geformt und mit Tannenzweigen, Grassoden, Moos sowie Rindenstücken abgedeckt war. Die Bewohner schliefen auf Laubbetten, als Tür genügte ein Holzkohlesack. Sie entdeckte nicht die geringste Spur von Odilon und Tsalinde. Was hatte sie erwartet? Ein paar getrocknete Kräuter, die hingen schon unter dem Spitzdach, neben dem Proviant und dem Rauchabzug. Ließ sich damit eine Armbrustwunde heilen oder war das eher etwas für einen heißen Tee? 

Dass die schlichten Gestalten unmittelbar mit der "Entführung" zu tun hatten, das schloss die Konnetabelin aus. Aber als geborene Schratwalderin wusste sie, dass es mit dem Verhältnis zwischen Sokramoriern und Kohlebrennern nicht zum Besten stand. Immerhin wurde auf den Meilerplatten reichlich von dem verkohlt, was die "Alten Kulte" als "heiligen Wald der Holden" verehrten. Oft genug bekam ein allzu eifriger Holzfäller den Meiler eingerissen und solcherart ein munteres Feenfeuer entfacht. Gesche hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie, die Bewaffnete, es war, die die Waldleute einschüchterte, oder ob das vor ihr schon andere getan hatten.

Auch von den Zwistigkeiten der Häuser Oppstein, Friedwang, Baernfarn und Mersingen wussten ihre Gastgeber wenig bis gar nichts. Natürlich hatten sie mitbekommen, dass gießenabwärts ein Holzverhau angelegt wurde, aber vermutet, dass die Nachbarn ihre Waldweiden einhegen wollten. 

Gesche revanchierte sich mit einigen Münzen für die Gastfreundschaft und eilte zurück in den Wald. Sie durfte froh sein, wenn sich die Kunde von ihrem Besuch nicht herumsprach. Sollte Syrenia entscheiden, ob es sich lohnte, die Köhler vielleicht doch nach Marktfriedwang bringen zu lassen und dort eingehender zu verhören.

Den wilden Gießenbach entlang wanderte sie zurück Richtung Friedwang. Vielleicht war es ganz gut, sich die Letzine einmal von der Oppsteiner Seite her anzuschauen. Die vielen Engstellen, Ausuferungen und kleineren Wasserfälle des Gebirgsbachs machten doch einige Umwege oder Kletterpartien nötig. Manchmal auch beides. Immerhin, das Wasser war klar und schmeckte frisch wie am ersten Tag der Welt. Sogar Forellen standen hie und da unter den Kaskaden. 

Gesine erreichte die ineinander geschobenen Äste und Baumstämme der Letzine. Posten waren keine zu sehen, aber der Verhau würde zumindest Reiter eine Zeitlang aufhalten. Natürlich, der Nachmittag war weit fortgeschritten, die Fronbauern waren auf schnellstem Weg nach Gießenborn zurückgekehrt. Vielleicht auch ins Klosterdorf von Alveranskuppen, das mittlerweile baronieeigen war. Die Abtei ragte ebenso schlicht wie würdevoll auf dem namensgebenden Berg auf. Hundegebell und einige scheue Blicke begrüßten sie, als sie den "Dorfplatz" betrat. Über eine kleine Steinbrücke kehrte sie auf die Nordseite des Gießenbachs zurück, vorbei an der Schmiede, wo die Badilakanerin Herdgard gerade Nägel schmiedete. 

Es tat gut, wieder auf eigenem Grund und Boden zu stehen. Gesche gönnte sich einen Plausch mit der Konversin, während im Hintergrund die Gießenmühle klapperte. Viel mitbekommen hatte die gute Herdgard von der Aufregung um die große Hesindelawine nicht. Der Steinschlag vor zwei Jahren, im Herbst, der wäre schlimmer gewesen. Unter dem der unglückliche Klosterschäfer Wilfred begraben worden war, Travia sei´s geklagt. 

Die Büttelin fragte vorsichtig nach besonderen Vorkommnissen im Kloster, außergewöhnlichen Gästen vielleicht. Nun, insofern Herdgard etwas mitbekommen hatte, war sie nicht bereit, ihr das mitzuteilen. Das Spital wäre sicher nicht der schlechteste Ort gewesen, um sich diskret vor einer schweren Verwundung zu erholen. Allerdings, "was auf der Alveranskuppe passiert, das bleibt auf der Alveranskuppe". Das alte Sprichwort galt noch immer. Wenn es um das heilige Tempelasyl ging, dann schwiegen die Nonnen und Mönche wie der Berg selbst. Vermutlich hätte es nicht einmal Herdgard mitbekommen, wenn sich Tsalinde hinter den grauschwarzen Mauern verbarg. "Tonja könnte was wissen, die ist öfters oben in der Klosterschmiede." Die Schmiedin versprach, ihre Gehilfin oder den Dorfschulzen Woller zu fragen und auch sonst die Ohren offen zu halten. 

Gesine fiel auf, wie nahe das Dörfchen an der Passsperre lag. Der Talweg Richtung Gießenborn führte zwar auf der Südseite des Bachs entlang, vorbei am alles überragenden Bockshorn, der als Hexentanzplatz verschrien war. Aber es gab noch einen steilen Trampelpfad gen Firun, hinauf zum Pass, der von Oppsteiner Pilgern genutzt wurde. Sicher wäre es möglich gewesen, einen Teil der Silberwölfe im Klosterdorf einzuquartieren. Aber das war eben ein Klosterdorf, baronseigen oder nicht. Kors Wölfe und Travias Gänse, das hatte sich noch nie vertragen. 

Es dämmerte bereits, als die Befehligerin wieder an die Wagenschanze zurückkehrte, von der anderen, der friedwanger Seite her. Der Wiederaufstieg war windungsreich und zeitraubend gewesen.

Vom Talgrund her hatten die Grenzwachen wohl keinen Sturmangriff zu befürchten. Gesche nahm das karge Abendessen zusammen mit den Söldnern ein und versprach, für bessere Verpflegung zu sorgen. Eine Soldfrau packte die Laute aus und sang ein wehmütiges, raues Lied vom Kampf um Ehre, Gold und das nackte Überleben. Fast schon fühlte sich Gesche wohl, am Lagerfeuer der Silberwölfe. Nein, sie war keine Adelige, sondern eine Waldbauerntochter. Im Grunde auch eine Söldnerin, die sich beim Herrn von Friedwang verdingt hatte, obschon ihre eigentliche Grundherrin die Landedle Gunelde von Schneiß war. Nun ja, immerhin die Schwester des Barons.

Edorian, der oben an der Hütte weilte, hatte Wort gehalten und ihr Bett unter dem Wagen mit Tannenzweigen ausstaffieren lassen. In diesem Nest war es nicht allzu zugig, dank der Palisadenwand. Mit Schlafsack und dem Mantel als Decke ließ es sich gut aushalten. Nur das Poltern der Wachen, oben in den Wägen, das war schon ein wenig störend. 

Gesche fiel in einen unruhigen Schlaf, umgeben von Harzgeruch und Tannennadeln. Träumte von ihrer alten Heimat, dem Schratenwald, dessen schratmoosbehängte Bäume sie mit großen, borkigen Gesichtern anstarrten. Von einem winterlichen Kohlenmeiler im Lande der Sokramur, an dessen Hitze sie sich wärmen konnte. Nachdem sie mit dem Schlitten geradwegs in den Jargel gefahren war. Oder war es der Gießen, der sie bis auf die Haut durchnässt hatte, unter ihrer lächerlichen Verkleidung als Bergfaun? 

Ihr Schlaf wurde noch unsteter. Sterne fielen zischend auf die Berge herab. Ein kleiner Kobold klopfte und pochte neckisch gegen die Bretterwand. Ihr Warunker wieherte scharf. Irgendjemand brüllte Alarm. 

Sie schreckte schlaftrunken hoch, stieß sich schmerzhaft den Kopf an der Unterseite des Fuhrwerks. Benommen merkte sie, dass der Lärm nicht dem Reich der Träume entstammte. 

Gesche rollte sich aus ihrer Schlafkoje und zog das Schwertgehänge mit sich. Draußen empfing sie unruhiges Flackerlicht, das nicht vom heruntergebrannten Lagerfeuer stammte. Staunend sah sie dem zischenden Schweifstern zu, der über ihren Kopf hinweg schwirrte und im tiefer gelegenen Bergwald einschlug. Ein kleines Feuer loderte hoch und verlosch rasch wieder. War der berüchtigte Sternenfall jetzt auch in der Schwarzen Sichel angekommen? Dann ploppten die Armbrüste der Söldner. 

"Hier oben sind auch welche, bei mir auf dem Berg!" Das kam vom Wachtposten, der auf dem Felsen stand. Tatsächlich zischten die meisten Brandgeschosse schräg von oben herab und schlugen krachend in die Palisade. Wären die Wände der Fuhrwerke nicht verstärkt gewesen, hätte es vermutlich die Besatzung getroffen.

Gesche schüttelte die Schlaftrunkenheit ab und merkte, wie sich die kalte Ruhe der erfahrenen Kämpferin in ihr ausbreitete. Sie wurden angegriffen, verdammt, sie musste etwas tun, genau jetzt - und zwar das Richtige!

Ein Schmerzensschrei war zu hören, am Berg, auf der Feindseite, gefolgt von einem Fluch. Die Konnetabelin verstand. Die Silberwölfe waren schlau genug gewesen, Krähenfüße zwischen die Felsen zu streuen, um dort eine Annäherung zu erschweren. Nun, die Nacht schützte die Heckenschützen da oben ebenso gut, wie sie allzu waghalsige Kletterpartien verhinderte. Hoffte Gesine zumindest.

Sie zog blank und stürmte ohne viel Federlesens "ihren" Wagen hinauf. Sprang polternd auf die Ladefläche. Mit kräftigen Hieben schlug sie die Brandpfeile ab, die in der Holzwand steckten. Dann griff sie in einen Korb mit Krähenfüßen und schleuderte in schneller Folge mehrere der Weghindernisse vor die Schanze, in möglichst großem Abstand. Pling, Pling, Pling.

Ihre Waffengefährten taten es ihr gleich. Der befürchtete Sturmangriff blieb erst einmal aus. 

Einen Augenblick lang herrschte Ruhe. Auch im Nachbarfuhrwerk wurde der hochlodernde Brand gelöscht. Sie hatten Wasser? Sehr gut. Qualm breitete sich aus, ein paar Flammen züngelten, ansonsten war es stockdunkel.

"Sind das Oppsteinische?" fragte sie die Söldnerin an ihrer Seite, die gerade erst den Kinnriemen unter ihrem Eisenhut schloss.

Nur das Glänzen in deren Augen antwortete ihr.

"Könnten auch Stinker sein", knurrte die Frau schließlich. "Allzu mutig sind die korverfluchten Bastarde nicht...Zeigt euch endlich, ihr verdammten Hundsfötte!"

Ein Alarmhorn trötete. Der dumpfe Hall war sicherlich bis zur Friedwanger Hütte zu hören, aber es würde eine Weile dauern, bis Verstärkung eintraf. Bis dahin würde sie das Kommando übernehmen. Wie viele Waffenträger unterstanden überhaupt ihrem Befehl? Wenn man den einsamen Wachtposten auf dem Berg mitzählte, ein halbes Dutzend. Nicht allzu viele.

Vor ihnen flackerte Lichterschein...Was war das? Auf dem Passweg war ein Rumpeln zu hören, das zu einem großen, unförmigen Schatten gehörte. Ein gewaltiges Ungetüm walzte auf die Barrikade zu. Fackeln flammten auf, landeten schwungvoll im Heuwagen, der da schwerfällig heranrollte. Die Fracht fing in kürzester Zeit Feuer und brannte lichterloh. Sie schien nicht nur aus Stroh und Heu, sondern auch aus Reisig und Holz zu bestehen. Mit Öl war das Ganze ebenfalls übergossen worden. Ein Geruch bereitete sich aus, der Gesine an den Kohlenmeiler erinnerte. 

Der "Drache" ruckelte schwerfällig in Richtung Schanze. Glut und Funken sprühten hinter ihm auf den Weg. Nun rächte sich das abschüssige Gelände. Doch die Verteidiger hatten Glück. Das niederhöllische Gefährt verkantete sich, brach zur Seite aus und blieb liegen.

Dahinter waren Gestalten in erdfarbenen Gugeln zu erahnen, die den Leiterwagen mit langen Heugabeln wieder nach vorne zu bugsieren versuchten. Die Zugstange hatten die Angreifer wohlweislich entfernt, die hätte den Feuerwagen nur gebremst. Rauch, Flirren, Schemen. Schreie. Feuer.

Die Silberwölfe schossen mit ihren Armbrüsten, durch die Schießscharten und über die Palisade hinweg. Ein Bolzen landete sichtbar in den hellgelben, prasselnden Flammen, der zweite verfehlte einen der Anschieber knapp. So wurde das nichts. "Mir nach!" Gesine sprang tollkühn über die "Bordwand", durch zwei spitze Zinnen hindurch, landete genau auf dem lahmen Bein und fiel um wie ein nasser Sack.

Fluchend rappelte sie sich auf, kam wieder auf die Knie und zog ihr Schwert. Dann rumpelte und ächzte der Rolldrache auch schon auf sie zu, dessen Flammenschein immerhin für ausreichend Beleuchtung sorgte. Leider nicht nur zu ihrem Vorteil. Das eine Rad brannte, wie bei einer Sonnwendfeier.

Oben im Hang legte irgendeine Ratte mit Pfeil und Bogen auf sie an. Das Geschoss prallte genau vor ihr von einem Stein ab, überschlug sich und taumelte ins Nichts davon. Dann war der Wagen auch schon heran. Gesine dachte und empfand nichts mehr, wohl wissend, dass der Anblick sie noch lange verfolgen würde. Die glosende Hitze allein bereitete ihr namenlose Schmerzen.

Sie warf sich auf den Boden, zog den Kopf ein. Infernalischer Gluthauch brandete über ihren Körper. Gesine brüllte vor Schmerz. Es war, als stünde ihr Rücken in Vollbrand. Funken, Rauch...Sie hustete und würgte. Feurige Räder rotierten zur Linken wie zur Rechten. Dann war der Karren auch schon über sie hinweg gefahren. Der Schmerz verschwand nicht, offenbar hatte ihr Waffenrock Feuer gefangen. Sie wälzte sich über den Boden, um die Flammen zu ersticken.

Die Brandwaffe krachte wuchtig in die Wagenschanze, schob sie ein ganzes Stück weit auseinander. Gesine krabbelte aus der Hitze, stand auf, griff nach ihrem Schwert. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Söldner das brennende Heu, Holz und Stroh vom Wagen zu ziehen versuchten, mit den Haken ihrer Hellebarden, der ungeheuren Hitze zum Trotz. Überall rauchten Glutnester, während vom Heuwagen aus eine gewaltige Feuersäule in den Nachthimmel stieg. Abgebrüht waren die Silberwölfe, jeder Landwehrsoldat wäre spätestens jetzt geflohen.

Die Konnetabelin ging auf einen der Saboteure los. Der kauerte mit rußgeschwärztem Gesicht vor ihr und warf die ausgestreuten Krähenfüße in den Abgrund. Gesine hätte glauben können, dass es einer der Köhler war, der sich heimtückisch an diesem Überfall beteiligte. Aber die Schminke war selbst für diesen Berufsstand zu dicht und schwarz. Vor allem besaß der arme Fretter da unten im Tal kein Schwert, das er scharrend hätte ziehen können.

Ihr Gegner merkte, dass er sich zu weit vorgewagt hatte, und sah sich ängstlich nach hinten um.

"Ergib dich!" rief Gesine herrisch. "Im Namen des Barons von Friedwang!"

"Niemals, im Namen des Gehörnten! Freiheit für die Lande der Sokramor!"

Gesine griff an, von unten nach oben, was Gegner üblicherweise verwirrte. Immerhin, es schien nicht der erste Kampf des "Moha" zu sein. Der Gugelträger parierte klirrend, stieß Gesche zurück und griff selbst über Kopf an. Die Konnetabelin wehrte den Hieb ab und schlug dem Sokramorier die Schwertpommel ins Gesicht. Stöhnend und fluchend wich der Mann zurück, die freie Hand an der blutenden Nase.

Die Konnetabelin wollte nachsetzen, da sauste von oben ein schwerer Krähenfuß heran, wie eine vierdornige maraskanische Meuchlerwaffe. Reflexartig schlug Gesche das Geschoss beiseite, was eine üble Scharte im Stahl hinterließ. Der Eisenigel riss ihren Gambeson auf, am Oberarm, und klirrte auf Fels.

Ssssst. Wieder schwirrte ein Pfeil durch die Nacht und verfehlte sie nur knapp. Die Büttelin sprang hinter einem Felsen in Deckung, auf der Talseite.

Die Schützen schossen ziemlich schlecht, trotz allem. Fast schon hatte Gesine das Gefühl, die Unbekannten wollten ihr Blut schonen, aus welchem Grund auch immer. Dennoch, sie musste aufpassen, nicht in dem gähnenden schwarzen Loch unter ihren Füßen zu verschwinden. Steine rutschten unter ihren Stiefeln ins Leere. Mit der Linken zog sie sich wieder nach oben. Kein Pfeil.

Mit gesenktem Kopf lief sie auf den Weg zurück und wäre um ein Haare ebenfalls in einen Spreiznagel getreten. Dessen Dorn sah rostig aus. Das fehlte gerade noch – vom Wundfieber dahingerafft zu werden, durch die eigene Waffe. Eine ziemlich unrondrianische Waffe, wie Gesine Bretzelbeck zugeben musste.

Die Palisadenwände gerieten nun ebenfalls in Flammen. Die Söldner waren geistesgegenwärtig genug, die schweren Eichenbretter in Richtung Brandherd zu kippen, weg von den Fuhrwerken. Polternd nährten die Holzbalken die Macht des "Azzitai", oder wie der alles verzehrende Feuersalamander hieß, der diesseits der Berge kein Unbekannter mehr war. Es war natürlich kein echter Dämon, der hier brüllte – oder etwa doch?

Die Mietlinge versuchten ihre eigenen, störrischen Wägen aus dem Gefahrenbereich zu ziehen und in einiger Entfernung eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Sehr gut, die Silberwölfe schienen ihr Geld wert zu sein. Die Männer und Frauen keuchten, im dichten Rauch, der ihnen geradewegs ins Gesicht wehte.

Geduckt und hakenschlagend eilte Gesche auf den Scheiterhaufen zu, der mitten auf dem Paßweg loderte. Sie wollte sich seitlich daran vorbei drücken, aber die Hitze war einfach unerträglich. Stöhnend hob sie die freie Hand, schon allein, um ihre geblendeten Augen zu schützen. Der Feuertod war eindeutig scheußlich. Dennoch, es fehlte nicht viel, und sie würde als Gefangene der Brandstifter enden, die sich immer noch auf dieser Seite herumtrieben.

Rondra war ihr gewogen. Dort drüben lag ein Schild, bemalt in den Oppsteiner Wappfenfarben Gold und Rot, mit dem Drachenkopf über den drei Ähren. Er schien geradewegs vom Felsen herunter gefallen zu sein. Das Wappensymbol passte.

Damit konnte sie Gesicht und Arme schützen. Konnte versuchen, sich an dem Flammendämon vorbeizumogeln. 

"Himmlische Leuin, steh mir bei!"

Ihre Beine waren ein einziger, gleißender Schmerz, aber immerhin, vom Gürtel an aufwärts blieben die Qualen erträglich. Es war, als würde sie durch glutflüssiges Blei waten. 

Nach einigen Augenblicken war sie durch. Auch Gesine hustete und keuchte. Ihre Lungen schienen geräuchert worden zu sein.

Die zweite Linie stand bereits, sehr gut. Ihre Söldnergefährtin hielt oben auf dem Fuhrwerk Wacht, hatte ihren Stiefel auf die Kante gestellt und die Armbrust  angelegt. Sie würde doch nicht…

Erschrocken warf die Konnetabelin das Schild mit dem verfluchten Oppsteiner Drachen weg und hob ihre Hände, wenn auch mit dem Schwert in der Hand.

"Gut Freund!" rief sie hastig, mit kratziger Stimme. "Gut Fr...ochochoch." Ein jäher Hustenanfall ließ sie nach Atem ringen.

"Parole ?!" raunte es ungnädig vom Wagen her.

"Orksch, ich kenne...och...ochochöch...eure Scheiß Parole nicht. Ich bin Gesine Bretzelbeck, Hauptmännin der Barönlichen...ochöchöch..Burgwache."

Gesche hustete röchelnd, spuckte aus und wartete auf den "freundlichen Pfeil", wie Eigenbeschuss genannt wurde. Der blieb zum Glück aus. Sie blickte an sich herunter. Ihr Waffenrock war völlig versengt und ascheverschmiert, sie rauchte an allen Ecken und Enden, wie der Kohlenmeiler gestern am Gießenbach.

Bretzelbeck, der Name passte. Irgendwie fühlte sie sich gerade wie eine Bretzel, die zu lange im Backofen geblieben war. Dazu kam der nebelähnliche Rauch des Scheiterhaufens. Kein Wunder, dass ihre Waffengefährtin sie für den Feind gehalten hatte.

Das betretene Schweigen auf der anderen Seite zeigte, dass die Verteidiger sie wenigstens jetzt erkannten.

"Kommt rüber! Schnell..." Es klang eher besorgt als fordernd.

Gesine nickte. Auch wenn der Schlagabtausch gerade eben nur ein kurzes Geplänkel gewesen war, fühlte sie sich, als hätte sie mehrere Stunden lang im Feuer gestanden. Sie wurde eben nicht jünger.

Die Konnetabelin klaubte den Schild vom Boden auf, als Beweisstück. Seltsam, dass die Gegner ihre Gesichter mit Ruß unkenntlich gemacht hatten, ihr Wappen aber offen führten?

 






Feuertag, 23. Ingerimm, im Rathaus von Markt Friedwang

 

"Gütige Herrin, lenke unseren Geist, so wie eine Bäuerin ihren Pflug über den Acker lenkt. Lass aus der Saat unserer Ratschläge gute und nützliche Dinge sprießen. Wir pflügen, und wir streuen den Samen auf das Land. Doch Wachstum und Gedeihen steht allein in Peraines Hand." Der Diener der Ähre beendete sein kurzes Gebet, wie es zu Beginn jeder Ratssitzung üblich war, im steten Wechsel zwischen den Seelsorgern. An diesem Tag hatte Aldrifried Sokramurdan, der Tierheiler, einige fromme Worte gesprochen.

Syrenia von Mersingen nickte wohlwollend und geruhte Platz zu nehmen. Huldvoll bedeutete Ihre Hochgeboren den übrigen Anwesenden, sich ebenfalls zu setzen.

Die schweren, hochlehnigen Stühle in der Ratsstube von Markfriedwang ruckten zum noch wuchtigeren Eichenholztisch. Die Mitglieder des Inneren Rates – die vier Dorfgeistlichen sowie Schultheiß Helmbrecht Karrer – hatten ihre Kopfbedeckungen auf den Tisch gelegt und sahen gespannt in Richtung Erbvögtin. Meister Ugo, der  Marktschreiber, war, wieder einmal, unpünktlich und gerade erst die überdachte Außentreppe hinaufgeeilt. Um ein Haar wäre über die schief stehende Besucherbank gestolpert, neben dem protzigen Eisenofen.

Nervös rückte er das Möbel wieder zurecht. Ugo Eichelhähr, der ewig unbeweibte, großkopfige und schmerbäuchige, schlecht bezahlte Schreiberling, lief puderrot an. Mit einem gemurmelten "Tschuldigung" verneigte er sich. Hastig griff er an seinem Schreibpult zum Federkiel, verkleckerte etwas Tinte und tupfte sie verlegen auf. Erst dann riss er sich das Barett vor der Erbvögtin vom Kopf.

 

Syrenia ging mit dünnem Lächeln über den Fauxpas hinweg. Beiläufig reichte sie Ratsdienerin Edelmunde den Weinbecher, der leise plätschernd gefüllt wurde, mit preisgünstigem Rappenfluher. Dann lehnte sich die nicht mehr ganz junge Mersingen im Thron zurück, dessen Schnitzwerk allerhand Allegorien auf Herrschertugenden zeigte. Hesindes verwickelte Schlangen der Weisheit, Travias kornpickende Gans der Mäßigung, Rondras Schwerter der Strenge, Rethon, als Zeichen borongefälliger Abwägung von Gutem wie Bösem, auf der Seelenwaage...und natürlich Branibor, Hoher Drache der Gerechtigkeit, aus dem Gefolge des Götterfürsten.

Die dunkel gewandete, vornehm blasse Vögtin besaß das Privileg, ihren eigenen Hut in der Ratsstube nicht abnehmen zu müssen, eine Gunst, wie sie sonst nur Baron und Baronin zuteil wurde. Syrenia gefiel es, den marktfriedwanger Bürgern und Bauern ihre besondere Machtstellung zu zeigen. Also griff sie in letzter Zeit öfters zur Horasischen Haube, wenn sie ihre Ratgeber besuchte, ein aus Brokat und Perlen geformtes Meisterwerk der Hutmacherkunst.

Bei Sitzungen des großen Marktrats blieb der Baronsthron üblicherweise leer, an der Kopfseite des Ratstischs. Tagte der Kleine Rat, so wie heute, nahm dort meist die Vögtin Platz.

Buntes Licht flutete durch die Butzenglasfenster in die holzvertäfelte Kammer, die als Ratssaal zu bezeichnen übertrieben gewesen wäre. Marktfriedwang war nicht Rommilys und kaum mit dem früheren Rivalen Gallys zu vergleichen. Das Obergeschoss des Rathauses bestand größtenteils aus Fachwerk, bemalt in darpatischem Ochsenblutrot. Nur der Laubengang und die Markthalle im Erdgeschoss waren gemauert.

Syrenia spürte Ungeduld, ließ ihren herrschaftlichen Blick aber erst einmal über die Porträts früherer Schultheißen schweifen. Bevor dieser auf einem schmucken Wandteppich verharrte, der den Auszug des Heiligen Alboran und der 14 Gründerfamilien aus Baliho zeigte, in Brand gesteckt durch die siegreichen Orks und einen feurigen Stierdämonen.

Der Gobelin war Syrenias Geschenk zu ihrem Amtsantritt gewesen, für den Marktrat, mit deutlicher Botschaft: Städte können brennen, Mauern fallen. Dann bedarf es starker Anführer und zwölfgöttlicher Gnade, um das Volk zu schützen. Von einer Verleihung der Stadtrechte an den baronseigenen Marktflecken wagte an diesem Tisch jedenfalls niemand mehr zu sprechen. Höchstens noch zu flüstern, auf der Außentreppe. Unter deren Stufen das "Narrenhäuschen" untergebracht war, als praiosgefällige Arreststube.

"Seid gegrüßt, meine geschätzten Ratsherren und Ratsherrinnen", sagte Syrenia und lächelte in die Runde. "Zunächst möchte ich daran erinnern, dass heute der 23. Tag des Monats Ingerimm ist." Verständnislose Blicke antworteten ihr. Nur Helmbrecht Karrer nickte beflissen, mit seinem weichen, raschelnden Mühlsteinkragen und der kupferfarbenen Gänsekette um den bartlosen Hals.

"Die edle Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein feiert heute ihr 24. Tsafest...die Nichte des ehemaligen Stadtvogts von Rommilys und letzten rechtmäßigen Barons zu Oppstein. Ja, ich sage bewusst, des letzten rechtmäßigen Barons zu Oppstein. Denn in der gestrigen Nacht..."

Syrenia ließ ihre Stimme zittern, scheinbar vor Empörung und Fassungslosigkeit. "In der gestrigen Nacht hat sich leider bestätigt, was die aufrechten Anhänger des wahren Hauses Oppstein schon lange geahnt haben. Adran, der sich mit List, Gewalt und Nötigung zu Redenhardts Nachfolger aufgeschwungen  hat...der falsche Baron hat endgültig die Maske fallen lassen."

Syrenia sah mit schicksalsschwerer Miene in die Runde, in die Gesichter der schwerhörigen Ingerimmsdienerin Thyra, des bauernschlauen Peraineakoluthen Aldifried, des glattrasierten Marktschultheißen Helmbrecht, der betrübt blickenden Traviahochgeweihten Jadwina sowie des stets hochgemuten Custos Lumini Malachanias. Dem sie gerade als einzigem wirklich aus der Seele zu sprechen schien.

"Aus Gießenborn hat mich zur Mittagsstunde eine berittene Botin erreicht. In der vergangenen Nacht ist es zu einem heimtückischen Oppsteiner Angriff auf unsere Grenzwachen am Pass der Freundschaft gekommen. Die Wagenschanze wurde in Brand gesteckt, aber der Überfall abgewehrt...auf unserer Seite gab es Rondra sei Dank keine Verluste, aber das Scharmützel hat sich eindeutig auf friedwanger Gebiet ereignet. Ohne dass uns vorher ein Fehdebrief zugestellt worden wäre, wie es der Kriegsbrauch unter zwölfgöttergläubigen Edelleuten verlangt."

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Freiherren besaßen seit der Ochsenbluter Urkunde das Fehderecht. Aber kaum einer im Raum wollte glauben, dass es zwischen zwei benachbarten, auch sonst eng verbundenen Baronien zum Äußersten kommen sollte.

"Ist es denn erwiesen, Euer Hochgeboren...also ich meine...steht denn fest, dass wirklich Oppsteinische hinter dem Angriff stecken?" Der wie ein Ingerimmsochse geschmückte Marktschultheiß räusperte sich verlegen. Helmbrecht fungierte in der Regel nur als Stichwortgeber der Obrigkeit. Aber in diesem Fall schienen seine Bedenken ernst gemeint zu sein. "An Raubgesindel herrscht in unseren Tagen wahrlich kein Mangel."

"Nun, die Angreifer haben einen Wappenschild zurückgelassen. Außerdem soll es zu lautstarken Anrufungen sokramurischer Götzen gekommen sein. Überhaupt, wer sollte sonst hinter dem Angriff auf unsere tapferen Silberwölfe stecken?" Syri, die kurz nach ihrer dritten Schwangerschaft noch immer wohlbeleibt und verhärmt war, klang ungehalten. Bislang war ihr Helmbrecht Ohnebart nicht als Bedenkenträger aufgefallen, wenn es um Anliegen der Mersingens und Friedwangs ging. Ein guter Dienstmann zeichnete sich dadurch aus, dass er die Wünsche seines Herrn erriet, selbst wenn sie nicht offen ausgesprochen wurden. 

"Die Baronie Friedwang wurde angegriffen, soviel steht fest. Womöglich steht der Vorstoß in Zusammenhang mit Nachforschungen, die unsere wackere Gesine Bretzelbeck auf Oppsteiner Gebiet unternommen hat. Tags zuvor hat sie die Glocke des Schlittens gefunden, auf dem Baroness Tsalinde entführt worden ist." Syrenia wies auf die Ratsdienerin, die erst den zerschrammten und versengten Schild und dann die Rosenglocke hochhielt, als sollten die Fundstücke zum Kauf angeboten werden.

Am Ratstisch wurden die Köpfe zusammengesteckt, gefolgt von aufgeregtem Raunen. 

"Zweifelsohne ein tapferer Vorstoß unserer Hauptmännin...tags zuvor." Aldifried Sokramurdan lächelte verschmitzt. Der Diener der Ähre erntete sofort einen tadelnden Blick der Erbvögtin, gefolgt von einem verständnislosen Kopfschütteln.

"Silentium, Silentum, mein lieber Rat. Ich bitte um Ruhe...und Ernsthaftigkeit. Die Spuren all dieser Plackereien weisen eindeutig nach Oppstein...Wir haben bereits Brieftauben ausgeschickt, nach Rommilys, Schlotz und Gernatsborn, mit der Bitte um Waffenhilfe. Brieftauben und einen Botenfalken, zu Kooperator Praiodîn nach Schnayttach." Ein dankbares Nicken in Richtung Prätor. 

"Es kann leider nicht ausgeschlossen werden, dass der Feind weitere Missetaten plant. Die Erlaubnis Seiner Hochgeboren Alrik, dem falschen Baron Adran den Fehdebrief zu übersenden, steht noch aus. Aber ich nehme an, dass unser Herr sie schon bald erteilen wird."

"Mit Verlaub, Euer Hochgeboren." Mutter Jadwina schien ehrlich bekümmert zu sein. "Geschieht das nicht alles ein wenig vorschnell? Sollten wir nicht auf einen...Schiedsspruch der Markgräfin warten, bevor ernsthaft Blut fließt? Wenn ich es recht verstehe, wurde bislang nur ein wenig Holz verbrannt. Die Oppsteiner möchten die Passsperre weghaben, soviel ist doch klar. Für alles andere lässt sich doch sicher eine gütliche Einigung finden."

"Meine liebe Jadwina", meldete sich Malachanias zu Wort. "Würde ich dich nicht besser kennen, als Verteidigerin der guten Sitten...nun, dann könnte man fast meinen, du hast Verständnis für die Zündeleien dieses praiosverfluchten Raubritters? Was sage ich, für seine arglistige Brandstiftung. Mich wundert, dass seine Schergen nicht auch noch nackt um das Feuer getanzt sind, wie die Wilden. Es widerstrebt mir bereits, diese Unruhestifter als Oppsteiner zu bezeichnen. Die wahren Anhänger des Hauses Oppstein leben heutzutage außerhalb ihres Stammlehens...das sagt doch schon alles...können sich aufrechte Aristokraten mehr vom schwarzen Schaf ihrer Familie distanzieren?"

Jadwina lächelte milde, auf fast schon herausfordernde Art. "Ich weiß, lieber Malachanias, Adran hat deine Zwölf Fragen höchst unzureichend beantwortet. Nicht einmal schriftlich, wie es dein Ansinnen war. Aber hat er nicht auch betont, dass er gutes Gold an die Praioskirche und die übrigen Tempel spendet? Um den wahren Glauben zu stärken?"

"Du bist bemerkenswert gut informiert", brummte Malachanias, wischte über das Eichenholz und nickte dankbar Ratsdienerin Edelmunde zu, die ihm von der Seite her Wein einschenkte. "Dafür, dass der Störenfried nur mündlich geantwortet hat."

"Bei den Alten Kulten hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht. Von wegen gutes Gold für den wahren Glauben". Aldifried lächelte ebenso geheimnisvoll wie "mitwissend".

"Alte Kulte, wenn ich das schon höre." Malachanias schüttelte unwirsch den Kopf. "Wir sollten aufhören, ständig um den heißen Brei herumzureden. Was einen Schiedsspruch der Markgräfin angeht...wie sollte der denn bitteschön aussehen? Dass die Sokramorier an geraden Tagen ihr Unwesen treiben dürfen und an ungeraden Tagen nicht?" Der Hochgeweihte lachte pikiert auf, ob der eigenen Worte.

"Ich rede vom Silber." Mutter Jadwina schien nun ebenfalls ungehalten zu sein. "Es geht bei dem ganzen Streit letztlich um das Gießenborner Bergwerk, oder etwa nicht? Den größten Anteil daran besitzt Erlaucht Swantje."

"Das Bergwerk, ja." Hochwürden Malachanias schnaubte. "Würde es nach den Sumuanbetern gehen, gäbe es überhaupt keinen Bergbau mehr in der Sichel. Ich habe die überflutete Kupfergrube von Gernatsborn gesehen. Zerstört mittels schwärzester Magie. Erst Wasser, dann Feuer. Es würde mich nicht wundern, wenn schon wieder Hexerei und Dämonenwerk im Spiel war, oben am Pass." 

"Gibt es denn Hinweise darauf?" Jadwina ließ nicht locker.

"Das Feuer soll ungewöhnlich heiß gelodert haben! Die beiden Fuhrwerke werden zum Erztransport eingesetzt....habe ich mir sagen lassen...Man muss einfach nur eins und eins zusammenzählen."

"So ein Scheiterhaufen ist leicht entfacht...und eine Fehde schnell entfesselt... wer denkt dabei an das einfache Volk? An das Leid der unschuldigen Bauern? An die vielen Armen und Notleidenden, die es nach wie vor gibt? Der Sichelhag hat gerade erst begonnen, sich vom letzten Krieg zu erholen. Wir sollten ganz auf das Urteil der Markgräfin vertrauen."

"Der Sichelhag hat gerade begonnen, sich vom letzten Überfall zu erholen...Nun rückt erneut ein falscher Mersingen auf dem Verräterpass vor, wie damals diese Kriegsherrin Varena...Verzeiht, Euer Hochgeboren, aber so ist es ja leider...Ich sehe durchaus Gefahr im Verzug."

Syrenia ließ sich anmerken, dass ihr der vorletzte Gedankengang des Hochgeweihten mißfiel. "Nun, um der ganzen Wahrheit die Ehre zu geben: Eine falsche Mersingen war die Drachenmeisterin nicht. Sie entstammte einer – unbedeutenden - tobrischen Seitenlinie unseres Hauses. Die Mutter dieses Emporkömmlings Adran war eine gewisse Jostarne von Mersingen, sein Vater der answinistische Verräter Wisshard. Wie sagt man so schön: Mersingens gab es, gibt es und wird es immer geben. Leider schmücken sich manche mit unserem Namen und dem Pfahlwappen, ohne vor Borons strengen Augen zu bestehen."

Die trotz Wochenbett dunkelschöne Landadelige strich sich die ebenholzfarbenen Haare unter der Haube zurecht. Ihre schwarz bemalten, spitzen Fingernägel ähnelten Rabenklauen.

"Ich habe Erkundigungen über Jostarne anstellen lassen. Zum älteren Haus hat sie nicht gezählt, soviel steht fest. Ihre Spur wurde regelrecht getilgt, was tief blicken lässt, ja, sie galt mitsamt ihrer Nachkommen als tot. In unserem Archiv fand sich allerdings ein Hinweis darauf, dass das Haus Oppstein ihren Gemahl Wisshard verstoßen hat. Noch bevor der im Bürgerkrieg auf Seitens Answins gefallen ist." Syrenia legte ihre Rabenfinger gegeneinander.

"Mir ist wirklich ein Rätsel, wie da Adran die geringsten Erbansprüche geltend machen konnte...als verschollener Sohn eines Mannes, der nicht einmal mehr der Familie Oppstein angehört hat. Ich vermute stark, dass Jostarne Wisshards Schicksal geteilt hat....was die Zugehörigkeit zu unserer weitverzweigten Familie betrifft, meine ich."

"Wenn ein derart kompro...kombi....belastendes Schriftstück existiert...Dann sollte man es...unverzüglich Ihrer Erlaucht vorlegen." Mutter Jadwina blickte in die Runde.

Helmbrecht Karrer, der selbst eine Zeitlang den Answinisten nahegestanden hatte, hüstelte, wagte aber nicht zu antworten. Natürlich wusste jeder, dass die Rabenmundtreue der Wisshardschen Linie eine gewichtige Rolle bei Adrans Karriere gespielt hatte. Die "besondere" Rabenmundtreue.

 

Statt Helmbrecht Ohnebart meldete sich der Custos Lumini zu Wort. 

"Erlaucht Swantje hat wahrlich Besseres zu tun, als sich um die Frechheiten jedes anmaßenden Heckenritters zu kümmern. Wir wurden in diesem Fall persönlich herausgefordert, es geht um unsere Glaubwürdigkeit und Ehre. Adran treibt ein doppeltes Spiel, das ist offensichtlich. Nachts wird dem Herrn Praios gelästert, auf mannigfaltige Art...und bei Tage dann das Stillhalten seiner Diener erkauft? Diese Antwort allein war eine Schmähung der Gemeinschaft des Lichts....wenn auch auf subtile Art." Der Prätor, der sich gerne selbst reden hörte, hielt für einen Moment ergriffen inne. Der Hochgeweihte blickte zum Fenster, in die güldene Aureole der Nachmittagssonne, die dort gerade aufleuchtete. Fast schien es ihm, als wolle der Götterfürst seinen Worten beipflichten.

"Hochgeboren Syrenia hat es ja gerade gesagt. Heute ist der 23. Ingerimm 1045 nach Bosparans Fall. Wir feiern nicht nur das Tsafest der Oppsteiner Thronprätendentin Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein...sondern gedenken auch der Dritten Dämonenschlacht. Vor 24 Jahren hat das Gute über das Böse triumphiert, an der Trollpforte. Ebenso feiern wir in dieser Woche die Tempelweihe der Sankt-Alborans-Siegesbasilika, mit Tänzen und Freudenfeuer."

Der Prätor ruckte sein Skapulier zurecht und schien geradezu auf Widerworte zu warten, um sie mit flammender Rede abstrafen zu können. "Wer an einem solchen Tag...einen Brandanschlag auf die Streiter unserer Baronie verübt, der möchte damit nicht allein derische Dinge zerstören...nein, der will ein Zeichen setzen! Ein Fanal! Heute brennen Fuhrwerke...und morgen wieder Götterhäuser?! Da sei der Heilige Alboran vor.” 

"Weise Worte", sagte Syrenia. "Trinken wir auf das Wohl Ihrer Hochgeboren Ismena, der rechtmäßigen Thronanwärterin von Oppstein. Mögen am Ende die Streiter Alverans obsiegen”. 

Ein wenig zögerlich wurden die Becher gehoben. Der Marktschultheiß wiederholte feierlich den Trinkspruch: "Auf das Wohl Ihrer Hochgeboren Ismena, der rechtmäßigen Thronanwärterin von Oppstein. 

Zufrieden musterte Syrenia ihre Ratgeber, nachdem diese die Zinnbecher abgesetzt hatten. "Ich darf aus dieser Runde also mitnehmen...dass der Überfall auf dem Pass einer starken, unverzüglichen Antwort bedarf? Um Friedwang zu schützen? Hochwürden Jadwina? Euer Ehren Aldifried?"

Mutter Jadwina Brinske sah bereits ihre Federn davonschwimmen. Hilfesuchend blickte sie zu Aldifried Sokramurdan, der schicksalsergeben dreinsah, ganz demütiger, bescheidener Perainediener. Für einen Moment straffte der Landmedicus und Viehheiler sich doch.

"Wird die Landwehr einberufen? Die Heumahd hat gerade begonnen, demnächst steht die Schafschur ins Haus."

"Im Praiosmond ist dafür weit weniger zu tun", sagte Syrenia knapp. "Gut möglich, ja, dass wir die Bauern bewaffnen müssen, zur Verteidigung des Nordens. Euer Ehren Thyra?" 

Die schwerhörige Wahrerin der Glut nickte knapp und entschlossen. Der Gedanke ans Waffenschmieden gefiel der Dorfschmiedin vermutlich. Thyra fühlte sich allerdings auch für das Gießenborner Silberbergwerk verantwortlich, wo es einen weiteren – überaus gewinnbringenden – Schrein des Ingerimm gab.

Helmbrecht Karrer vollführte ebenfalls eine zustimmende Geste.

"Meine Meinung kennt Ihr, Hochgeboren!" sagte Lichthüter Malachanias und blickte voller Genugtuung in die Runde, als wäre der Sieg bereits errungen. Jadwina seufzte, ebenso schwer wie resignierend: "In Travias Namen..."

"Schön, dass wir uns einig sind. Dann werde ich jetzt die Tauben aufsteigen lassen." Syrena sprach ernst und würdevoll.

"Friedenstauben sind es leider keine", murmelte Aldifried, der Bauernfreund. Es würde ein heißer Sommer werden, soviel stand für den Wetterkundigen fest.



Wilde Geiß, Hohenwaldklamm,  Praiostag, 28. Ingerimm 1044

 

Es war nicht so, dass die Hohenwaldklamm zielstrebig oder geradlinig verlief wie eine Holzfällerrinne. Ganz im Gegenteil. Die Wilde Geiß vollführte Sprünge, hüpfte mal in die Höhe, sprühend vor Ungestüm, tänzelte mal über steinerne Kaskaden hinweg in die Tiefe, um sich dann mit erneuerter Kraft durch die schattige Schlucht zu zwängen und in erneute Abgründe zu stürzen.

Auch unter dem Jahr war der türkisblaue Gießenbach unberechenbar.

Es  kam immer wieder vor, dass der südliche Quellbach des Gießen im Sommer austrocknete oder zu einem kläglichen Rinnsal schwand. Während er im Frühjahr gerne einmal zu einer reißenden, donnernden Flutwelle anschwoll. Im tiefsten Winter erstarrte das Wildwasser unter vielgestaltigem Eis, als sei es in einen Wettstreit mit dem Hängenden Gletscher des Firun getreten. Selbst jetzt, im Ingerimmsmond, glänzten in den hintersten Winkeln und Ecken des verwegenen Ziegenpfads noch Reste von gefrorenem Gießenbachwasser, wie im Eiskeller eines Großbauernhofs oder der Hergoldsbrauerei zu Marktfriedwang.

Am gefährlichsten aber wurde es, wenn ein jähes Gewitter über der Klamm niederging, und der Starkregen die Schlucht wirklich in eine Art Flösserrinne verwandelte – eine Rinne, die mit Urgewalt geflutet wurde und jeden Wanderer, der in dieser plötzlichen Todesfalle gefangen war, ohne jede Gnade ersäufte.



Mena von Gießenborn - früher bekannt als Jungfer Ismena die Ältere von Oppstein zu Gießenborn  - wunderte sich, wie leicht sie bisher vorangekommen waren, mit ihren geduldigen Aarmariponys und dem unvermeidlichen Maultier im Schlepptau. Natürlich waren sie beide abgesessen, ihr leise scharrender, rasselnder Leibwächter und sie, seine leichtgewandete Schutzbefohlene. Der schwierigste Teil waren bislang die steinernen, schmalen Treppenstufen gewesen, die beim Einstieg hinab in die tiefste Klamm geführt hatten, wie in ein Burgverlies.

Die meiste Zeit führte der Weg recht behaglich am Kiesrand des Gießen entlang, "der Gieße", wie man zuhause in "Gischborn" gesagt hätte.

Sicherlich, immer wieder einmal wurde es haarig. Eine Zeitlang ging es am Wegrand steil nach unten, dann öffnete sich ein Nebenpfad, durch abenteuerlich zerklüfteten Fels, und führte ein Stückweit vom Bachlauf weg in den Berg. Gelegentlich musste durch den eiskalten Bach selbst gewatet werden. Aber die struppigen, berggängigen, anspruchslosen Sichelponys kamen erstaunlich gut mit den Steigungen, Höhlungen, Furten und Engstellen zurecht.

Man musste nur niederhöllisch aufpassen, dass die Tiere nicht an einer der glitschigen Stellen, dort, wo Moos wucherte und das "Feenwasser" sprühte, ausglitten und stürzten. Oft ähnelte die Schlucht einer nach oben geöffneten Höhle, in die überderisches Schummerlicht drang, mitunter leuchtete der Himmel grün, ob des Bergwalds am Rande der Felsen. Hier wehten rauchfarbene Nebelfetzen, dort leuchtete ein zarter Regenbogen in der zischelnden Gischt. 

Die Amtfrau von Gießenborn bereute den umständlichen Weg durch die Klamm nicht. Auch wenn ein echter Fehltritt und der Sturz ins schmale Wildwasser ein paar üble Schrammen mit sich bringen würde. Fehltritte war sie wahrlich gewohnt, seitdem sie damals die Residenz ihrer Familie zu Gareth verlassen hatte, in jungen Jahren.

Gurd, ihr Leibwächter, der tatsächlich hünenhaft und breitschultrig, aber gutaussehender als der Riese aus der altsichler Sage war, hatte sich in einen leichten Harnisch mit Geschiebe gezwängt, und sein Gesicht zur Hälfte unter einer darpatischen Schaller verborgen.

Was ihn beeindruckend aussehen ließ, aber die Klammwanderung nicht unbedingt einfacher machte. Sicher war Gurd nur ein Kampfname, wie bei so vielen heutigen Söldnern, die recht verspielt und kindlich wirkten, im Vergleich zu ihren Vorgängern im Bethanierkrieg.

Ismena, die viele Jahre im Lieblichen Feld zugebracht hatte, verachtete "Mercenarios" nicht. Es war eine besondere Art von Freiheit, sich seinen Auftraggeber selbst wählen zu dürfen, ganz abgesehen davon, dass das rondragefällige Kriegshandwerk erst einmal gelernt und eingeübt werden musste. 

Ganz dumm war das mit dem Helm nicht, immer wieder bröckelten, ganz ohne Zutun der Wanderer, kleinere Steine von oben herab, vorbei an den grünlichen "Brunnenpflanzen", die in den Felswänden wuchsen. Mena hoffte nur, dass nicht irgendwelche Njakuul auf die Idee kommen würden, Pfeile oder andere Geschosse auf sie regnen zu lassen. Das hier war Goblinland, seit Urzeiten. Der ehemaligen Rahjajungfer fiel es schwer, ob der Szenerie nicht an den Untergang des Theaterordens in der Drachenspalte zu denken.

Warum tat sie sich das alles an?  Den Weg durch die Hohenwaldklamm, den ständigen Sprühregen. Den Verrat an ihrem  Neffen Adran, ihrem eigenen Fleisch und Blut? Nun, der Grund, warum Rahjagläubige wie sie "Verrat" übten, war denkbar einfach.

 

Die Liebe. In diesem Fall zu Oppstein, ihrer Heimat, die nicht in einer endlosen Dauerfehde zerstört und aufgerieben werden sollte. Zu Oppstein und ihrer Familie, was im Wesentlichen das gleiche war, auch wenn sie deren Namen längst abgelegt hatte. 

 

Die wenigsten Talbewohner wussten, dass es zwei Quellbäche des Gießen – oder der Gieße – gab. Da war die Zahme Geiß, die weit hinein ins Oppsteinische führte, wo sie im Blauen Topf entsprang, verborgen in einer Höhle hinter einem verwitterten Schrein. Das kleine Quellheiligtum war Yalsicor geweiht, dem ziegenköpfigen Drachen und Traviaalveraniar der Treue und Freundschaft. Dorthin hatte sich Mena vor zehn Jahren gerettet, als Friedwang und Oppstein durch Varenas Horden überfallen und ausgemordet worden waren.

Dann gab es noch die Wilde Geiß, deren unsteten Lauf sie gerade folgte. Irgendwo unweit der oppsteinisch-friedwängischen Grenze in den Bergen flossen beide Bäche zusammen.

Die Hohenwaldklamm bildete, wo sie geradewegs gen Rahja verlief, die Grenze zwischen Oppstein und Friedwang, unweit von Kloster Alveranskuppen. Angeblich entsprang die Wilde Geiß irgendwo in der Nähe des Bärentals. Dort, wo die wilden Goblins hausten. Soweit würde sie nicht wandern, zumal der östliche Teil der Klamm als besonders unwirtlich galt und nicht einmal mehr für Zweibeiner begehbar sein sollte.

Ihr heutiges Ziel war die Golgaritenbrücke, wie die Hängebrücke genannt wurde, die sich unweit der Abtei über den klaffenden Abgrund spannte.

Dass sie nicht Badilakanerbrücke genannt wurde, nach den Mönchen und Nonnen in der Nachbarschaft, lag daran, dass hier im Jahr des Feuer eine Schwinge Boronsritter übergewechselt hatte – auf dem Weg von der Ordensburg Boronia her nach Gießenborn. Mit dabei war Bishdarielon von Suunkdal gewesen, der Bruder des Barons von Friedwang, der sich der Geschwisterschaft im Zeichen des gebrochenen Rads angeschlossen hatte. Auch in diesem Fall war der Tod mitgeritten – und ein junger Knappe mitsamt Packpferd in die Tiefe gestürzt.

Niemand wusste genau, was der ominöse "Weg nach Rammholz" einmal gewesen war, ein Schmugglerpfad vielleicht, ein Goblinschleichweg oder gar nur ein Fernwechsel, auf dem Hochwild über viele Meilen hinweg wanderte. Aber womöglich hatte es, vor dem Erbfolgekrieg, einmal eine echte Wegverbindung zwischen den beiden Baronien gegeben.

"Ramholz", das meinte bei den Winzern einen Pfahl zum Anbinden von Rebstöcken, wie sie noch vor einigen Jahren im Gießental gewachsen waren. Bevor der Weinbau dem Krieg, manch überlangem Winter und dem Glaubenseifer der Traviakirche zum Opfer gefallen war. Weinstöcke brannten hervorragend, leider dauerte es viele Götterläufe, bis sie wieder nachwuchsen.

Heutzutage galt Rammholz als Inbegriff der wilden, unzugänglichen Sichel. Bei der man an vieles dachte, aber gewiss nicht an Rebensaft, an das sonnige Almada oder gar das Liebliche Feld.

Es war erstaunlich einfach gewesen, das Treffen mit einem Boten Vogt Traviaholds in die Wege zu leiten. Man musste sich dazu nur an die Wissenden wenden, wie sich die eingeweihten Diener der Sokramor nannten. Wer nicht wusste, wie das ging...nun, der hatte in diesen Kreisen von vornherein nichts verloren.

Mena war Amtsfrau von Gießenborn, in Vertretung ihres Sohnes, Baron Alboran von Schlotz, der sich zugleich Junker zu Gießenborn nennen durfte, seit seiner Hochzeit mit Baronin Haldana. Als "Altjungfer" hatte man gewisse Einblicke und Verbindungen, auch wenn sie diesen Titel als unpassend empfand. 

Ismena betete zur Mutter des wilden Levthan. Die Kultfeiern hatten den Hexentänzen zur Sonnwendzeit wenig nachgestanden, mit Wein, Weib, Mann und Gesang, damals, in der guten alten Zeit. Insofern brachten die "Wildlinge" ihr ein gewisses Grundvertrauen entgegen, wie sonst nur noch den Tsajüngern. Auch wenn deren Sanftmut nicht ganz zur nachtschwarzen Seite der Sichel passte.

Das Treffen sollte heute, am 28. Tag des Ingerimm, zur Mittagsstunde, unter der Golgaritenbrücke stattfinden. Ihr Kennwort würde Seenkreuz sein, das des Rammhölzer Boten Brogar-Mallai, nach dem berüchtigten Goblinstamm der Baernfarnebene. Sokramorier liebten Heimlichtuereien und Verschwörungsspielchen, aber die Vorsicht war gerechtfertigt. Das Haus Oppstein hatte seine Spione überall. Der ehemalige Kanzler Edorian von Oppstein hatte ein beachtliches Spitzelnetz aufgebaut, von denen noch Reste vorhanden sein mochten.

Adran, der Baron von Oppstein, den mittlerweile alle loswerden wollten. Nun, ihr Neffe war ein kluger Kopf, aber genau darin bestand sein Problem. Sein Gefühlsleben tobte er dort aus, wo es vermeintlich niemand mitbekam, aber besonders gefährlich war. Das Volk, das in seiner tumben, vergesslichen Art einem kleinen Kind ähnelte, lenkte man nicht nur über den Verstand, sondern mehr noch über dessen Gefühle.

Burg Oppstein hatte der Baron schon gehasst, bevor er von Edorians Leuten in deren tiefsten Kerker geworfen worden war. Gewiss, der Stammsitz ihrer Familie mochte ein tausend Jahre alter, düsterer, zugiger, kalter, feuchter, muffiger Klotz gewesen sein,  gegen den sich diese Klamm nahezu gemütlich ausnahm. Aber nichtsdestotrotz hatte die Trutzburg, hoch über dem Oppenbachtal, die Tradition der Baronsfamilie verkörpert wie kein zweites Bauwerk.

In den Augen der Oppsteiner hatte Adran die wehrhafte Feste verfallen lassen, schon lange bevor der verfluchte Drache Arlopir den letzten verbliebenen Turm in Flammen hatte aufgehen lassen.

Wer von den Lästermäulern wusste schon, dass die Risse im Mauerwerk ein Überbleibsel eines agrimothischen Erdbebens gewesen waren, das seinerzeit die nahe Feste Boronia zum Einsturz gebracht hatte? Mena war dabei gewesen, als der Baumeister seine Berechnung auf den Tisch gelegt hatte: Die Instandsetzung der bröckeligen Mauern würde kaum weniger kosten als der Neubau eines weitaus wohnlicheren Schlosses. Dazu kam, dass Erdmutter Sumu und ihrer Kinder in der Schwarzen Sichel wirklich lebendig waren – überall bewegten sich die Bergriesen in unruhigem Schlaf. Im Jahr, bevor der gebannte Höhlendrache Arlopir herangewalzt kam, war bereits ein beachtlicher Teil der Burg in die Tiefe gerutscht.

Adran hatte den Brand des Marktfleckens Oppstein genutzt, um sich dort eine prachtvolle Residenz zu errichten, im horasischen Stil. Teilweise mit den Steinen, die auf dem Burgberg herumlagen und sinnlos überwuchert wurden. Aber natürlich wurde jetzt das Mundwerk gewetzt, über den kläglichen Ausverkauf des Erbes von Redenhardt, dem Großen, Mitglied des fürstlichen Cronrats, Stadtvogt von Rommilys, Cronmarine-Adjutor....

Ismena seufzte. Nein, ein Dummkopf war Adran nicht und nur gelegentlich ein Narr.

Ihr Neffe würde seine Haut teuer verkaufen, verfügte über eine schlagkräftige Reiterei ebenso wie eine stattliche Anzahl Bauernsoldaten. Leicht konnte die erneute Fehde um Oppstein in ein hässliches Gemetzel ausarten.

Früher oder später würde Adran "Onkel Gernbrecht" zu Hilfe rufen, den berühmt-berüchtigten Condottiere, da war sich Ismena sicher, mitsamt der Rommilyser Reiterei. Sobald der alte Gernbrecht von Oppstein auftauchte, würde es wirklich blutig werden.

Nicht nur, weil die darpatischen Söldner, die wie er in horasischen Diensten standen, als Verräter am Haus Rabenmund galten. Schon bei der letzten Befreiung von Oppstein hatte es Übergriffe auf dralle Bauernmädchen und -jungen gegeben, die von den Mercenarios als selbstverständlicher Teil der Beute angesehen worden waren, nebst manchem heiligen Kupferkessel oder geweihtem Götterfigürchen. Auch da hatte es Adran eindeutig an Fingerspitzengefühl gefehlt. Vor allem bei den Sokramoriern wurde seither über die Untaten der "Diebfelder" geraunt – und gerne vergessen, dass es Gernbrechts Söldner gewesen waren, die das Land von den finsteren Horden der Schwarzländer befreit hatten.

 

Die Frage war, inwieweit sich das alles bis nach Rammholz herumgesprochen hatte. Traviahold war ein Verbündeter, auf den Ismena am liebsten verzichtet hätte. Nicht nur, weil der Bastard Baron Tsafrieds von Schlotz (dem er eigenhändig den Kopf abgehackt hatte) ihre Schwiegertochter Haldana hatte ehelichen wollen – seine eigene Halbschwester. Der Schwarze Vogt mied das helle Sonnenlicht, hieß es, verbarg sich hinter einer schwarzen Rüstung. Fest stand, dass seine Ochsenherde nicht nur zur Zier am Sattel baumelte.

Dennoch, der unzugängliche Bergwald zwischen Friedwang und Rammholz war eindeutig die "weiche Stelle" im Unterleib der Baronie Oppstein. Die Schwachstelle, die niemand sehen wollte. Kaum jemand kannte den "Golgaritenweg" von Boronia nach Gießenborn. Noch weniger war bekannt, dass man durch die Hohenwaldklamm, unter der Hängebrücke hindurch, bis in die Gegend von Drachweiler gelangen konnte, ungesehen am Verräterpass vorbei. Wie durch einen Geheimgang. Natürlich war ein gewisses Risiko damit verbunden, wie fernes Donnergrollen zeigte. Aber dennoch, wer das Wagnis einging, konnte eine Fehde um Oppstein bedeutend verkürzen.

Allerdings, das Ganze hatte einen Haken. Traviahold galt als treuer Anhänger des dunkelgrünen Waldgottes, den nur sehr naive Zeitgenossen als Verkörperung Firuns in der Schwarzen Sichel betrachteten.

Die junge Sokramorierin namens Niadine, der sie einigermaßen Vertrauen schenkte, hatte berichtet, dass der Schwarze Vogt noch immer davon überzeugt war, dass es sich bei Adran den Gehörnten um einen Auserwählten unter den Levthansgläubigen handelte. Zumindest, wenn die Traviakirche gerade nicht hinguckte.

Der Wert der Hohenwaldklamm bestand nicht unbedingt darin, dass man den Pass umgehen konnte. Sie kannte Adran. Vor dem Jahr des Feuers hatte er sich einmal im engsten Kreis der Familie unterhalten, darüber, wie er Oppstein verteidigen würde, sollte es zum Durchbruch an der Trollpforte kommen. Ihr Neffe wusste, dass Verteidiger im Vorteil waren, auf eigenem Boden. Also würde er sich erneut bei Drachweiler zum Kampf stellen, ein Schlachtfeld, das er von der letzten Fehde her bestens kannte. Als Ort seines größten Sieges, der die Moral seiner Kämpfer ungemein beflügeln musste.

Seinen Gegnern würde er erst einmal Einladung gewähren, wie es beim Fechten hieß. Sobald die Mersinger über den Passweg zogen, brauchte er den Übergang nur noch in deren Rücken zu sperren, durch einen Steinschlag oder einen Hinterhalt etwa. Der Rückweg durch das Gießental war bereits durch Letzinen versperrt, Verhaue aus gefällten und am Stamm belassenen Bäumen. Diese Hindernisse waren ironischerweise gegen die Oppsteinschen errichtet worden.

Würden seine Gegner erst einmal vor dem Pass in der Falle sitzen, dann konnte Adran seine Stärken – zahlenmäßige Überlegenheit, den Heimvorteil und eine schlagkräftige Reiterei – voll ausspielen. Soweit durfte es nicht kommen. Die Hohenwaldklamm war eine Möglichkeit, überraschend in der Flanke der Verteidiger aufzutauchen. Diese Aufgabe würde Edorians Söldnern zufallen und der Steinbockgarde, mit ihren trittfesten Ponys und den Armbrüsten. Alles in allem ein gutes Banner. Einen Levthansfuß hatte das Ganze: Der einzige Zugang in die Klamm befand sich in diesem Fall auf der anderen Seite der Schlucht und war nur von der Rammholzer Seite her zu erreichen.

Irgendwie musste sie Traviahold überzeugen, den Friedwangen zumindest Durchmarschrecht zu gewähren. Das würde nicht einfach werden. Mit traviagefälligen Argumenten konnte sie dem eingefleischten Anhänger der Alten Kulte sicher nicht kommen. Einen Gänseanbeter mochte das selemische Versteckspiel um Adrans Gemahlin aufregen, Thahira di Mindros von Berlînghan-Oppstein-Birkenbruch. Von der es mal hieß, sie wäre im Krieg gestorben oder verschollen, mal, der Herr Baron würde sie unter der Burgruine Oppstein verstecken.

Dann wieder wurde behauptet, die Birkenbruch säße bei ihrer Neethaner Verwandtschaft und würde für das wiedererstandene Horasreich spionieren, als ehemalige Präfektin der FDEA. Als Flötenbläserin, Überläuferin, oder wie man in der nebligen Welt der Spionage dazu sagte.

Das schaurigste Gemunkel behauptete, Thahira wäre von einem Warunker Schwarzmagier in eine Untote verwandelt worden. Seither würde die bleiche Birkenbruch stöhnend und ächzend im Burgverlies herumwanken - und womöglich immer noch das Bett mit ihrem liebestollen Ehemann teilen.

Auch hier kannte sie Adran besser. Der Schwerenöter hielt das Schicksal seiner Gemahlin wohl bewusst offen. Um nicht erneut heiraten zu müssen und sich ganz seinem Favoriten Lares widmen zu können ?!

Nun, Rahja, die Spenderin des glücklichen Zufalls, segnete jede Art von Liebe, so sie nur beiderseits aufrichtig und genussvoll war. Die ehemalige Zwercher Landvögtin Thahira weilte wohl wirklich nicht mehr unter den Lebenden, untot oder nicht. Mena hatte die Traueranzeige in der Notausgabe des Landboten gesehen, in den Wirren der Miseria Darpatia. Dennoch tat Adran so, als wären beide nach wie vor verheiratet, aber irgendwie getrennt lebend.

Solche Eskapaden kamen in Rommilys einfach nicht gut an - insbesondere das Gerücht, Thahira, die horaskaiserliche Spionin, würde ihren Gemahl heimlich mit allerfeinsten chababischen Cigarillos versorgen, im Gegenzug für Internas aus der mittelreichischen Adelswelt.

 

Traviahold zu überzeugen, würde nicht einfach werden. Mena hatte dennoch bereits einen Plan. Vor etwa einem Götterlauf hatte Adran ein Gemälde kopieren lassen: Das legendäre Überfall auf Levthan, ein weiteres Meisterwerk Leonardo della Rahjadas, das im Original im Palagio Phalaxani zu Toricum hing. Adran hatte für ein hübsches Sümmchen eine hochwertige Kopie anfertigen lassen.

Vor einigen Monden war der falsche Levthan per Kutsche aus der Coverna in den Sichelhag gebracht worden. Oder besser gesagt, hatte dorthin verbracht werden sollen. Mena hatte eine Gruppe Abenteurer angeheuert, jener Sorte, die im Volksmund augenzwinkernd "Helden" genannt wurden.

Sie hatte keine Ahnung, wie genau die Herumtreiber in den Besitz des Duplikats geraten waren, und wollte es auch gar nicht so genau wissen. Es befand sich nun in ihrem Besitz. Einen handfesten Kunstskandal hatte sie mit dem Diebstahl bereits verhindert – nicht auszudenken, wenn der völlig verblendete Adran wirklich ein Gemälde mit "nackten Dirnen" und einem "bocksbeinigen Liebesdämon" im Oppsteiner Hof aufgehängt hätte. Genau so hätte man den Della Rahjada in der traviafürchtigen Mark gesehen. Aber das Bild konnte auch nützlich sein.

Mena hatte es aus einer beschwipsten Laune heraus Niadine gezeigt, dem sokramorgläubigen Bauernmädchen, vor allem, um sich selbst in Stimmung zu bringen. Die Magd war ein hübsches Ding und bereit, von ihrer Herrin in einige süße Geheimnisse Rahjas eingeweiht zu werden.

Die Gießenbornerin war ehrlich entsetzt gewesen – so könnte man "die Feen" und den Gott des Waldes doch niemals darstellen! Sicherlich hätten irgendwelche Zwölfler das Bild in Auftrag gegeben, um die Alten Kulte zu verhöhnen und lächerlich zu machen!

Das einfältige Mädchen wollte schreiend mit dem Dolch auf die Leinwand losgehen. Aber das hatte Mena dann doch etwas übertrieben gefunden. Angesichts der Kosten und Mühen, die das Bild schon verursacht hatte.

Dennoch war die Reaktion der Kleinen interessant gewesen. Ob sich Traviahold ähnlich aufregen würde, sobald er das "wahre Gesicht" Adrans erkannte? Das eines dekadenten, verweichlichten und früh gealterten Lebemanns. Keines urwüchsigen, vor Manneskraft strotzenden Naturburschen unter einem Hirschgeweih... Sie würde es herausfinden. Der Überfall auf Levthan hing wohlverpackt am Sattel des Maultiers, das sich gerade keuchend durch die Hohenwaldklamm mühte. Das kleine Meisterwerk zu verbrennen oder irgendwo zu verstecken, wäre eine Sünde vor Hesinde gewesen. Als "vergiftetes" Geschenk für Traviahold mochte es seinen Zweck erfüllen.

Die Felsen wichen jetzt ein wenig zurück und gaben, nach und nach, den Blick auf die zerzaust wirkende Golgaritenbrücke frei. Deren Seile waren grünlich verfärbt, mehrere der morschen Trittbretter fehlten oder waren durchgebrochen. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, musste es ungefähr Mittagsstunde sein. Ismena straffte sich und spähte nach etwaigen Abgesandten aus Rammholz.

Seenkreuz und Brogar-Mallai...Seenkreuz und Brogar-Mallai...

 

Gut Beornsried, Windstag, 25. Ingerimm 1044

 

Das erste, was Irmena sah, war eine leichte, aufstiebende Staubwolke. Auch vom Balkon des fachwerkenen Gutshauses hatte sie keinen Blick auf das, was von der Reichsstraße her nach Firun zog. Beornsried mit all seinen Nebengebäuden lag in einer Senke. Das war gut. Jedenfalls für die Wirtschaft des Hauses. Die grundwassergespeisten Brunnen fielen auch in heißen und regenarmen Sommern nie trocken. Die Rindertränke war immer gefüllt, es war immer genug Wasser für die Gärten da. Es gab schlechtere Orte in der Heide für die Landwirtschaft. Ganz zweifellos.

Es gab aber auch wesentlich bessere Orte, wenn man sich verteidigen musste. Feindlichen Bogenschützen gegenüber war man hilflos ausgeliefert, wenn ein höher postierter Feind einfach den Vorteil der größeren Reichweite ausnutzte und Beornsried mit seinen Bewohnern unter Beschuss nahm. Beornsried war sicher kein Ort, an dem sich ein Rondrianer wohl fühlen würde.

Irmena musste lächeln, während sie sich an Gerhard von Weißentraut, den Edlen von Beornsried schmiegte. Dass ihr vor der Herrin Travia anvertraute Gemahl sich in Beornsried nicht wohlfühlen würde, hatte ganz andere Gründe als die rein strategische Lage des Gutshofes. Aber eigentlich war Irmena das … ziemlich gleichgültig. Die Zeit, in der sie ihren Gemahl liebte, war vorbei. Sie hatte ihn auch schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte mal… das war einige Jahre her… damals, als sie und Deggen nach Albernia gereist waren, um ihre gemeinsame Tochter dem albernischen Prinzen als Gemahlin ans Herz zu legen.

Nun, Albernia hatte für seinen Prinzen letztlich andere Pläne. Dass das Fürstenhaus aus dem Westen den Kronprinz an eine Tochter aus darpatischem barönlichen Haus vermählte, das war doch zu viel an Hoffnung gewesen. Dennoch war die Reise ein Erfolg gewesen. Auch weil die Bennains damit überein gekommen waren, einen Sohn aus einer Nebenlinie, Alrik Gaspard Ui Bennain, mit der Gallyser Thronerbin Alrike von Baernfarn zu verheiraten. Freilich nach der Absicherung, dass Alrike auch tatsächlich das Erbe in Gallys antrat. Natürlich wollten die Albernier sichergehen, dass nicht etwa Alrikes Zwillingsbruder dieser am Ende noch den Titel und das Erbe streitig machte.

Aber nicht nur deswegen war die Reise damals ein Erfolg. Auch für Ismena Rondria war es ein immenser Ansehensgewinn, als mögliche Braut des albernischen Kronprinzen im Gespräch gewesen zu sein. Nicht zuletzt diese Reputation nützte ihr, ihren Anspruch, den sie jetzt auf das Erbe in Oppstein erhob, einzufordern. Gegen Adran von Oppstein, den Adoptivsohn ihres Onkels. Sie, Ismena, die glanzvolle Beinahe-Prinzessin von Albernia gegen ihn, den bekannten Traviafrevler, der sich lieber mit Satuariakindern gemein machte und mit nichts anderem als einer Hörnermaske bekleidet volltrunken um ein Sonnwendfeuer tanzte, als den Geweihten der Travia den gebührenden Respekt entgegen zu bringen, die immer noch großen Einfluss im ganzen Land hatten. Gut, nicht dass man im Hause Baernfarn Schwierigkeiten mit Satuariaanhängern oder anderen traditionellen Riten hatte (im Gegenteil)… aber offiziell war man traviafromm oder mindestens firungläubig, anders als der Oppsteiner.

In Gedanken war Irmena wieder abgeschweift. Ihren Gemahl Deggen hatte Irmena schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Es war ihr auch ziemlich egal, dass dieser sich auf dem Gut von seiner verwitweten Schwiegertochter aufhielt. Vermutlich war es ihrem Angetrauten ebenso egal, dass sie hier an der Seite des Beornsrieder Edlen lebte. Aber offiziell waren sie beide nur Gast bei ihren neuen Partnern, und nach Außen hin wussten beide, den Schein zu wahren. Deggen hatte ihr jüngstes Kind als das Seine anerkannt, auch wenn Gerhards Gesichtszüge bei dem Kleinen zu erahnen waren. Und als Valyria, Deggens Gastgeberin, schwanger wurde, war diese auch rasch mit einem älteren Edlen aus dem Schlotzer Land verheiratet. Für die Traviakirche also kein Anlass zu Kritik.

Gerhard umfasste die ehemalige Gallyser Baronin um die Hüfte und zog sie zurück sanft zurück in die Stube.

„Dein Gemahl kommt noch früh genug… Wir müssen nicht hier auf ihn warten.“ wisperte er ihr ins Ohr, während sie beide nach drinnen gingen. „Es ist wirklich noch viel Zeit“ flüsterte er weiter und zog an dem Bändsel die Schleife auf, die Ismenas Kleid auf dem Rücken zusammenhielt.

 

Das Hufgetrappel wurde lauter. Eine Weile schon war es zu hören. Aber Irmena konnte am Geräusch schon hören, wie weit die Ankömmlinge noch weg waren. In dem Moment, indem das Geräusch schlagartig zunahm, erschienen zwei Berittene, gefolgt von einer Vielzahl Bogenschützen, teils beritten, teils auf Schusters Rappen, über die Kante der Senke, in der das Gutshaus lag, und der Schall gelangte auf direktem Weg zu den Ohren der Gutsbewohner. Das war klar und deutlich zu hören. Fast wäre es Irmena lieber gewesen, es hätte noch eine Weile gedauert, bis ihr Gemahl mit den Firunsgesellen, wie angekündigt auf den Tag und zur Stunde genau, in Beornsried eintraf. Rasch zog Irmena sich das Kleid zurecht, bevor sie wieder auf den Balkon hinaus trat. Gerade im richtigen Augenblick, um Deggen in den Hof reiten zu sehen, neben Rauline Finkenschlag, an der Spitze von anderthalb Dutzend überwiegend mit Bögen und Klingen Bewaffneter.

„Meine geliebte Gemahlin, es ist wie immer eine Freude, dich wohlbehalten hier zu sehen!“ grüßte der Rondrianer die heimliche Herrin von Gut Beornsried. Nur ein aufmerksamer Beobachter hätte aus den Worten heraus gehört, dass diese aus Routine und um der Erwartungshaltung zu entsprechen, gefallen waren und nicht aus leidenschaftlicher Sehnsucht nach der Ehefrau.“

„Geliebter Deggen!“ antwortete Irmena ebenso. „Ich habe dich vermisst, all die lange Zeit, in der du deiner schweren Pflicht als Ritter der Göttin nachkommen musstest. Aber jetzt bist du ja da, die Herrin Travia sei´s gedankt.“

Man wusste nie, welches Ohr was in Darpatien hörte, und Irmena und Deggen hatten sich schon lange darauf geeinigt, für die Öffentlichkeit das sich traviagefällig liebende Ehepaar zu spielen und sich darüber hinaus keine Fragen zu stellen. Es war für alle so das Beste.

„Verzeiht, Hochwürden, Wohlgeboren…“ unterbrach die stets loyale Hauptfrau Rauline Finkenschlag, die um die Scharade der Eheleute bescheid wusste. „Ich weiß, Eure Sehnsucht zueinander ist groß, doch es liegt noch ein weiter Ritt heute vor uns, wenn wir bis zum Einbruch der Nacht bis Gießenborn gelangen wollen.“ Wie Deggen sie zuvor gebeten hatte, gemahnte die Hauptfrau zum Pflichtbewusstsein. Ein Pflichtbewusstsein, das einem Rondrianer gut anstand, und das es schicklich vermeiden ließ, die Wiedersehensfreude mit seiner Ehefrau unnötig in die Länge zu ziehen. 

Die schlanke, sehnige Mittvierzigerin stand den Gallyser Artemareitern seit den Befreiungskämpfen vor, ihre Erfahrungen aus den Dschungelkämpfen in Maraskan und ihre bedingungslose Loyalität zum Hause Baernfarn hatten sie in dieses Amt wachsen lassen. Eine Loyalität, die seit den Tagen bestand, als sie von Odilon aus einer Queste nach Schwarzmaraskan befreit wurde und in Gallys eine neue Zukunft bekommen hatte.

Deggen blickte zu der schwarzhaarigen Reiterin, die in ihrer schwarzen Lederrüstung mit dem goldrotem Bärenwappen neben ihm zu Pferd saß. Die Hauptfrau der Artemareiter war formal beurlaubt, um zu ihrem Gemahl zu reisen und die Verwandtschaft zu unterstützen. Daher durfte sich auch, trotz Beurlaubung tragen. Als Gemahlin des Veneficus gehörte sie ja, obgleich gemeiner Herkunft, inzwischen zur Familie. 

„Ja, Finkenschlag.. Ich weiß. Der Weg ist weit und beschwerlich. Aber es ist ein Weg, den wir gehen müssen, denn es geht um die Ehre und die Zukunft meiner Tochter. Unserer Tochter, liebste Irmena. Ist Dein Pferd gesattelt? Ich weiß, ich bin gerade erst angekommen und wir haben uns noch viel zu erzählen. Aber nicht zu Unrecht hält Hauptfrau Rauline zur Eile an.“ 

„So schätze und liebe ich Dich, liebster Deggen. Immer die Pflicht im Sinn. Natürlich, ich habe gestern schon den Stallknecht beauftragt, alles vorzubereiten. Ja, ich bin aufbruchsbereit, und ich bin bereit, für unsere Tochter alles in die Waagschale zu werfen. Wir haben es bis Havena geschafft. Da ist diese Reise nach Oppstein doch ein Kinderspiel. Auch Ritter Gerhard von Weißentraut hat alles vorbereitet, unserer Tochter seine beste Unterstützung angedeihen zu lassen. “

 

Die Heerschau zum Fest der Freuden, Ingerimm 1044 BF

 

Im Feldlager zu Gießenborn

 

"Was soll das jetzt wieder heißen? Der Fehdebrief ist bereits...." Gesine Bretzelbeck räusperte sich und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Was soll das heißen, die Fehde ist schon im letzten Efferdmond erklärt worden?"  

Der Befehligerin der friedwängischen Haustruppen lief es abwechselnd heiß und kalt den Rücken herunter, während sie sich  mit beiden Armen auf den Kartentisch abstützte. Ihre Kettenkapuze, die sie über dem Gambeson trug, klirrte. Ihr Waffenrock war in der Feuernacht auf dem Pass völlig versengt worden. Bislang hatte sie noch keinen Ersatz gefunden. 

Rauline Finkenschlag, die sehnige Hauptmännin der Artemareiter, betrachtete die ausgerollte Karte des Sichelhags. Dort standen bislang nur wenige der Holzfiguren, die Truppenbewegungen anzeigen sollten. Genau genommen hatte sie gerade den ersten Ritter platziert, neben Gießenborn, zu Füßen des Säumerpfads,  der über den Pass der Freundschaft gen Oppstein führte. Als Symbol für die Gallyser Garde. 

Die Reiterfigur zierte das Wappen des Hauses Baernfarn. Ein kleiner Silberwolf mit friedwanger Wappen hielt derweil auf dem Paßweg Wacht. Auf die selbstgeschnitzten und bemalten Figuren war Gesche stolz. Sie musterte die hagere Offizierin der Baernfarns, mit deren, je nach Lichteinfall dunkelbraunen oder schwarzen Haaren, der korgefällig kurzen Pagenfrisur und der genieteten Lederrüstung der Artemareiter. Raulines Haut war gebräunt und wettergegerbt wie die einer Bergbäuerin. 

Am rechten Oberarm trug die Hauptmännin bereits die orangefarbene Gänseschleife, die den Bewaffneten in Marktfriedwang verliehen worden war, vor dem Traviatempel. Da hatte man die Gallyser noch für eine Art rettende Reiterei gehalten, die Friedwang Hilfe gegen die jähen Feindseligkeiten Oppsteins leisten würde. Tatsächlich waren die Baernfarnschen mit dem Wildgänselied auf den Lippen in Gießenborn angekommen.  

Nun hörte Gesine, dass Ismena von Oppstein - Ismena die Jüngere - Adran bereits im letzten Spätsommer den Fehdehandschuh hingeworfen haben sollte. In der Zeit der Schneeschmelze würden die Ehrenhändel beginnen, hatte es geheißen, sollte ihr rechtmäßiger Erbanspruch auf Oppstein nicht anerkannt werden... 

Rauline antworte nicht sofort, sondern schwenkte das Fähnchen mit dem Bärenwappen nach hinten, als habe sich der Wind gerade gedreht. 

Gesche, wie Gesine von ihren Freunden genannt wurde, stieß ein wütendes Schnauben aus. "Schön, dass wir auch mal was davon erfahren, in Friedwang. Im Inneren Rat denken sie, Adran allein hätte den Streit vom Zaun gebrochen...und dass wir lediglich in Notwehr handeln. Rondragefällig ist ein derartig...listiges Vorgehen ja nicht gerade." 

Ein abgekartetes Spiel, dachte die blonde Waldbauerntochter aus Schneiß. Sie spielen mit uns Katz und Maus,  nicht nur der Feind. Schieben uns wie Spielfiguren hin und her. 

Was hatte sie erwartet? Die Mersingens galten als ebenso durchtrieben wie ehrgeizig. Nun gut, die Oppsteiner waren ebenfalls für skrupellose Intrigen berüchtigt. Die Friedwangs für wilde Bocksprünge, die eine gewöhnliche Dienstfrau wie sie nicht verstehen musste. War Alrik, ihr Herr, von vorneherein eingeweiht gewesen? Sicher war er das, der listige Phexensjünger...wollte er sich an Adran rächen, wie ein wütender Hahnrei? Nach all den Jahren?   

"Adran hat den Streit angefangen", sagte Rauline ebenso leise wie bestimmt. Ihre blauen Augen hefteten sich an Gesine. "Schon vor langer Zeit. Als er den Weg der guten Götter Alverans verlassen hat. Natürlich hat Ismena den Fehdebrief nicht an den großen Praiosgong gehängt. Die Tochter Hochwürden Deggens wollte dem falschen Baron Gelegenheit geben, sein Gesicht zu wahren...Reue zu zeigen. Ihr den Junkertitel von Drachweiler zu geben, das wäre ein tragbarer Kompromiss gewesen. Ein Zeichen, dass Rondras Ehre noch etwas zählt, in diesem Teil der Rommilyser Mark. Kann es etwas Hinterlistigeres und Ehrloseres geben, als den dämonischen Vergewaltiger einer Göttin anzubeten, nachts am Hexenfeuer? Wie ein Oronier?" 

Die Hauptmännin klang trotz ihrer Worte emotionslos, als verlese sie gerade einen Tagesbefehl. Recht und Unrecht, das war in ihren Augen wohl vor allem eine Frage von Befehl und Gehorsam.  

Rauline sollte unter Helme Haffax auf Maraskan gedient haben, als der noch kaisertreuer Reichsmarschall gewesen war. Als der begnadete Feldherr zum Dämonenmeister übergelaufen war, hatte sie bei der Karmothgarde eine Zeitlang mit den Wölfen geheult. Wenn es die auf der verfluchten Käferinsel überhaupt gab. Eine Koscherin, manche behaupteten auch Nordmärkerin. 

Odilon Wildgrimm von Baernfarn hatte Rauline von einer Queste nach Schwarzmaraskan mitgebracht...mittlerweile war die Befehligerin der Artemareiter mit Magister Veneficus verheiratet, dem Bruder der jetzigen Baronin von Friedwang. Gesche wollte gar nicht wissen, was die saphirfarbenen, aber auch steinharten Augen alles mit angesehen hatten, auf der anderen Seite der Blutigen See. Für Gesine wäre es bereits undenkbar gewesen, sich einem Magier auf weniger als Schwertlänge zu nähern, geschweige denn ihn zu heiraten. Wenn jemand wie die Finkenschlag als treue Dienerin des Raulschen Kaiserreichs galt, dann wollte sie nicht wissen, welche unverzeihlichen Verrätereien und Ketzereien Adran vorgeworfen wurden. 

Dem Baron von Oppstein, mit dem wiederum sie einmal der Göttin Rahja gehuldigt hatte, vor unzähligen Götterläufen… auf durchaus levthansgefällige Weise. Wer ohne Sünde ist, der werfe die erste Brandfackel, in den Scheiterhaufen. Womöglich waren sich Gesche und die sonnengebräunte Rauline sogar ein wenig ähnlich. Beide waren sie zwiefache Überläuferinnen, die ihre wahren Herren erst verraten und dann reumütig zu ihnen zurückgekehrt waren.  

"Es wäre wirklich schön gewesen, zu erfahren, dass wir mit Vorstößen des Gegners hätten rechnen müssen. Schneeschmelze ist ein dehnbares Wort, in den Bergen". Gesine atmete tief durch. Ihr Kettenzeug klirrte leise. Sie griff nach verdünntem Wein und trank einen Schluck. "Jetzt brennt da oben die Hütte..." 

Rauline beschwerte eine Ecke der Karte, die sich gerade wieder einrollen wollte, mit einem schwarzen, scharfkantigen Schieferstein. "Um die Friedwangschen Händel ging es bislang gar nicht. Der falsche Oppstein ist unberechenbar. Wie alle Levthansanbeter und Hexenfreunde." 

"Mena von Gießenborn... oder Ismena die Ältere, wie sie manche ungalant nennen...Sie ist die Tante Ismena Rondrias. Eine geborene Oppstein. Adran musste glauben, dass die Wagenschanze auf dem Pass die Eröffnung der Fehde sein sollte. Also hat er sie einfach angezündet ?!" 

Gesche hatte gerade laut nachgedacht. Nun kämpfte sie um Selbstbeherrschung. In ihrem Inneren brodelte es wie in einem Feuerberg. Die große Fehde ist längst beschlossen, dachte sie frustriert, und das schon seit vielen Monden. Es ging nur noch darum, Friedwang hineinzuziehen...in die Mersinger Meisterpläne. Merkten die übrigen Adelshäuser denn nicht, dass die Schwarzgoldenen die großen Gewinner eines erneuten Blutvergießens in Oppstein sein würden? Dass es nur um die Macht ging, nicht um den wahren Glauben, Sitte und Anstand? 

"Anfang Rahja...zum Fest der Freuden also...da soll die Heerschau stattfinden, so so. Auf den Wiesen von Gießenborn. Und da sagt Ihr, um Friedwang ging es bislang gar nicht?" Gesche schüttelte den Kopf. Das mit dem Freudenfest ließ sich auch als spöttische Anspielung auf Mena von Gießenborn deuten, die heute Verwalterin ihres Sohnes und früher als Rahjajungfer bekannt war. Der Menahof wurde von den Bauern hinter der Hand auch "Männerhof" genannt. Ja

"Gießenborn ist so Ismenisch, wie es Friedwängisch ist", sagte Rauline leichthin. "Was genau ist gestern Nacht  geschehen, auf dem Pass?" 

"Ein Angriff auf die Friedwanger Schutzhütte und Edorians Silberwölfe. Sicherlich zwei Dutzend Rotpelze. Gegen die Brandpfeile gab es unter den Holzschindeln keinen Schutz. Bei der Verfolgung wurden fünf oder sechs der Stinker erschlagen und zwei gefangen genommen. Ohne Behausung lasse ich da oben keinen zurück. Es sieht nach Regen aus, die nächsten Tage, da holt man sich schnell die Sieche in den Söldnerhaufen. Ich habe erstmal den Rückzug vom Pass angeordnet, mitsamt der Fuhrwerke. Die Bestreifung wird aufrechterhalten und ein Posten oberhalb des Wasserfalls eingerichtet." 

"Gut. Was wissen wir vom Feind? Wo lagert er, mit wie vielen Gegnern müssen wir rechnen? Wo sind die Ritter vom Stein, wo stehen die Marktschützen? Ich nehme an, Hauptmann Edorian hat schon Späher losgeschickt, zwecks Aufklärung?" 

"Drachweiler  hat seit kurzem eine kleine Besatzung, das wissen wir...Armbruster vermutlich. Wie es dahinter aussieht, nicht. Ansonsten sind in den Bergen bislang nur Goblins gesichtet worden." 

"Sust?" fragte Rauline, deren leichter Akzent sie gerade mehr als Nordmärkerin denn Koscherin auswies. "Was soll das sein? Klingt ein bisschen wie Warunkel?"  

"Eine befestigte Herberge, in den Bergen, schon auf Oppsteiner Seite...ist vor allem für die Säumer und deren Waren gedacht." 

"Die Goblins waren in Adrans Auftrag unterwegs?" 

"Das wissen wir noch nicht genau. Wir werden es aber herausfinden...Rondra sei Dank gibt es diesmal Gefangene. Wobei die kleinen Stinker gerne auf eigene Faust Krieg führen, sobald die Menschen Schwäche zeigen." 

"Dann sollten wir besser keine Schwäche zeigen", sagte Rauline knapp und blickte über die Schulter, Richtung Zelteingang. Dort salutierte gerade ein blutjunger Firunsgeselle, mit der geballten Schwerthand auf der Brust. Auch er trug die orangene Schleife eines frisch gebackenen Traviakriegers. Rauline zeigte ebenfalls die Herzfaust. 

"Frau Hauptmännin. Melde gehorsamst, erste Lanze der Silberwölfe soeben vom Pass her eingetroffen." 

"Sehr gut, Danke. Kannst rüber zum Lagerfeuer, die braten sich gerade einen Kapaun."

  

Die beiden Frauen gingen nach draußen, in das kleine Zeltlager, das sich etwas erhöht am Ufer des Gießenbachs erstreckte, auf einer frisch gemähten Weide. Pferde grasten auf einer nahen Koppel. Hellebarden und Spieße lehnten gegen Gestelle,  mehrere Lagerfeuer brannten. Die zweite Rotte der Silberwölfe kampierte hier ebenfalls, einträchtig neben den Firunsgesellen.  

Bis zum "Männerhof" war es nur ein Bogenschuss. In der Ferne klopfte das Pochwerk, wie der Hammerschlag eines Riesen. Dahinter stürzte der Geißerfall gut zwanzig Schritt in die Tiefe. Oben auf dem Pass, über grün bewaldeten Berghängen, war eine dünne Rauchwolke zu sehen, als Überbleibsel der brennenden Berghütte. Irgendwo in der Ferne grollte ein Gewitter. Die Sichel selbst schien Unheil ausbrüten zu wollen, mitten im Frühling. 

Tatsächlich rumpelten auf dem Karrenweg gerade zwei schwere Erzfuhrwerke heran, die jeweils durch ein Zweiergespann Ochsen gezogen wurden. Auf dem ersten Wagen saßen die beiden gefesselten Goblins, von denen einer einen Kopfverband trug. 

Auf dem zweiten Wagen kauerten drei verwundete Söldner, darunter auch Gesines "Waffengefährtin", die noch vor kurzem mit der Armbrust auf sie angelegt hatte. Ein kleiner Tross mit schwer bepackten Maultieren folgte. Hauptmann Edorian ritt mürrisch vorneweg, neben der Doppelsöldnerin, die wohl sein Leutnant war und sich ihren Zweihänder auf den Rücken geschnallt hatte. Soweit Gesche wusste, war ihr Name Walburga. Die Reiter schwangen sich knarrend aus dem Sattel. 

Man entbot sich gegenseitig den Rondragruß.  

"Unsere Stellung in den Bergen war gut", knurrte Edorian. "Was soll der Rückzugsbefehl? Jetzt können die Bärleinshähne in den Bergen umherschleichen, plündern und brennen wie sie wollen." 

"Bärleinshähne?" fragte Rauline. 

"Der feine Herr Adran nennt sich ja von Bärleinshahn ..." brummte der rauschebärtige Söldnerführer. Sein Feldharnisch zierten einigen Dellen und eingetrocknete Blutspritzer, die Gesche dort vor einigen Tagen noch nicht entdeckt hatte: "Wie immer man diese Feldschen Namen ausspricht...dieses äffische Horasisch...da sind mir selbst Dämonennamen lieber, bei Kors neungezacktem Spieß."" 

Edorian tat sich schwer mit Liebfelder Namen? Vielleicht verbarg sich hinter dem alten Haudegen ja doch nicht der verstümmelte und gestürzte Vogt Baron Redenhardts? 

"Die haben den Pass Richtung Drachweiler jetzt ebenfalls dichtgemacht. Hübsche Barrikade, gleich neben der Sust." Der Hauptmann hatte den eingetrockneten Fleck unter seinem Bart entdeckt, den er mürrisch, mit dreckigem Fingernagel wegkratzte. "Verdammtes Goblinblut...selbst der Sumusaft stinkt bei denen wie Ogerpisse..." 

"Der Befehl lautet Sammeln im Heerlager zu Gießenborn", sagte Gesche. "Wir warten erstmal auf Verstärkung. Während des Fests der Freuden wird Adran wohl keinen Angriff mehr wagen. Das sind schließlich seine heiligsten Feiertage." Gesine grinste aufmunternd. Die beiden Mietlinge konnten sich ein knappes Lachen nicht verkneifen. Selbst Rauline lächelte karg. 

"Verstärkung ist schon unterwegs? Das geht aber schnell." Edorian runzelte die Stirn.  

"Verdammt, wir hätten das Oppsteiner Haus stürmen sollen, zur Vergeltung. Stürmen und niederbrennen." Walburga, die Doppelsöldnerin, ballte die geharnischte Faust und blickte hinüber zu den schneebedeckten Bergen. "Der Rote Hahn sollte bei denen auf dem Dach krähen, nicht bei uns." 

"Ohne Fehdebrief werden wir Friedwangen den Kampf nicht beginnen, bei der Heiligen Ardare von Arvor", sagte Gesine bestimmt. "Seine Hochgeboren Alrik ist bereits auf dem Weg von Rommilys nach Marktfriedwang, habe ich gehört." 

"Ardare, das war doch die mit dem Erntefestmassaker?"  

"Ja, sie wurde am Erntefest ermordet. Aber nicht am Fest der Freuden, Leutingerin." Gesine versuchte die schnoddrige, herablassende Sprache eines Befehligers der Reichsarmee nachzuahmen. So ganz klar war nicht, wer hier gerade den Oberbefehl hatte, über die friedwängischen wie die auswärtigen Kämpfer. Ob es überhaupt einen Anführer für alle gab. Mena von Gießenborn war irgendwie verschwunden, also hatte wohl Junker Adran oder Jungfer Haldana das Sagen. Auch das musste schnellstmöglich geklärt werden.  

Jammern und Ächzen war zu hören. 

Die beiden gefangenen Rotpelze wurden von der Ladefläche des Fuhrwerks geworfen. Goblins waren flink, gerade wenn es ums Fliehen ging, also hatte man vorsichtshalber auch noch ihre Füße zusammengebunden. Die Silberwölfe schleiften die  Gefangene von den rußgeschwärzten Wägen weg. Die Verwundungen ihrer drei Kameraden schienen nicht allzu schwer zu sein. 

"Bringt sie auf den Gutshof, dort gibt es einen vergitterten Gewölbekeller", ordnete Gesine Bretzelbeck an. "Wir brauchen jemanden, der Goblinisch spricht..und stellt sie auf die Beine." Die Wachen taten, wie ihnen geheißen worden war. Pelzige Koboldsgesichter, mit gelblichen Hauern, platten Nasen und spitzen Ohren musterten Gesche unterwürfig. 

 

 

Gut Gießenborn, Rohalstag, 29. Ingerimm, vormittags

  

Baron Alboran von Binsböckel zu Schlotz, Junker zu Gießenborn und Edler zu Rübenscholl spürte Angst. 

Nicht einmal so sehr um sich selbst, wie damals, als er beim Turnier zum ersten und letzten Mal gegen einen schwer bewaffneten Gegner angeritten war. Auch wenn sich eine "Fehde" ähnlich bedrohlich anfühlte. Einen Moment lang hörte er wieder das schwere Stampfen der Hufe, das grollende Schnauben der Streitrösser, das leise Scharren der Stahlplatten, damals auf dem Tjostierplatz.   

Seit zwei Jahren hatte Albo, Bastard des Herrn von Friedwang, sich ein bescheidenes Glück aufgebaut, mit Gemahlin aus vornehmen Hause. Hatte sich einen Namen gemacht - Binsböckel, immerhin - und vor allem, von Frau Tsa eine kleine Tochter geschenkt bekommen. Alfhildur, deren thorwalscher Name ihm leicht von den Lippen ging, auch wenn seine Schwiegermutter so tat, als habe er damit den altehrwürdigen Stammbaum ihres Hauses bekrittelt. Nun hatte er sein ganzes Glück an der Grenze zum Feindesland versammelt...was, wenn die Rotkittel auch noch über den Gutshof herfallen  oder die Oppsteiner mit voller Macht über den Pass vorrücken würden? 

Eigentlich war er gerne nach Gießenborn zurückgekehrt, dem Ort seiner Kindheit. Seinerzeit voller feuerspuckender, jonglierender Gaukler, fröhlicher Bardenklänge und einer rahjagefälligen Unbeschwertheit, wie man sie sonst nur noch in den Südlanden vorfinden mochte. Hier, am schweren Eichenholztisch, im Rittersaal des Herrenhauses, hatte er einen brummenden Tanzbären gestreichelt, Waldemar den Bär, am Bauch. Eine Heldentat, die Ismena, seine Mutter, mit begeistertem Beifall quittiert hatte. Die sich nun bescheiden Mena von Gießenborn nannte, wie es hieß, um die Ansprüche Ismenas von Oppstein der Jüngeren zu bekräftigen. 

Nun widmete sie sich ganz dem Wiederaufbau des Gießenborner Rahjatempels und dem "Gestüt". Wie die grasenden Aarmariponys etwas hochtrabend genannt wurden. Die einträchtig neben den Ziegen weideten, die das ehemalige Weinbergsland vor Verbuschung schützten.  

Draußen wehte kräftiger Bergregen an der Fensterseite vorbei, während ein spätes Ingerimmsgewitter grummelte. Albo hatte festgestellt, dass er der ranghöchste Adelige weit und breit war.  Seine Mutter Ismena - Mena - hatte sich irgendwohin verabschiedet. Offenbar wollte sie sich mit einem Abgesandten der Baronin von Rosenbusch treffen, um ein Durchmarschrecht für die Schlotzer und Gernatsborner zu erwirken. Wo genau das Treffen stattfand, das hatte sie bewusst offen gelassen. Es war leichtsinnig genug gewesen, am großen Tisch über derartige Dinge zu sprechen, beim Mittagsmahl. Viele Gießenborner hatten Verwandte in der nördlichen Nachbarbaronie, beteten nicht nur zu den Zwölfen allein und waren zudem einem schnellen Taler nicht abgeneigt.  

Das Dorf sollte in der jetztigen Größe zur Rohalszeit entstanden sein, beim letzten großen Berggeschrei und Silberrausch in der Sichel. Der Gutshof war bis heute ungewöhnlich prachtvoll - und der älteste seiner Art in der Baronie, sicherlich 500 Götterläufe alt. Nicht einmal Varenas Horden hatten ihn niedergebrannt. Das munter knisternde Kaminfeuer, neben dem Steinbockwappen der Baronie und dem Krugwappen Gießenborns, war wohl selbst für hartgesottenes Söldnerpack zu gemütlich und einladend gewesen. Wie schon zuvor im Erbfolgekrieg, als sich tobrische Mietlinge in der Tischplatte verewigt hatten. "Firun bi" stand dort zu lesen, in altertümlicher, ungelenker Ritzschrift, "Hagn war hir" oder "Kunnbrand ist der keiser". 

Daneben war manch schwer verständliches Söldnerzeichen eingeschnitzt. Alboran schauderte. Das musste vor etwa hundert, nein, 125 Jahren oder mehr gewesen sein. Kunibrand von Ehrenstein, der tobrische Kaiser, ein Herrscher von vielen, war wenig später Barduron von Mersingen unterlegen. Dem Vater Pervals des Grausamen, der als "Perval von Gareth" den Thron bestiegen und nicht mehr verlassen hatte. 

Kurzum: Die Mersingens waren streng genommen keine Verwandte des Kaiserhauses...sie waren das Kaiserhaus. Als Albo in seine alte Heimat zurückgekehrt war, da hatte er mit dem Gedanken gespielt, vielleicht doch den friedwanger Baronstitel anzustreben. Vielleicht ähnlich wie beim Herzog von Tobrien und der Herzogin von Weiden, die einfach mit getrennten Erblinien geheiratet hatten. Er als Herr von Friedwang, Haldana als Herrin von Schlotz, das musste doch möglich sein? Aber damit hätte er, der Eingeheiratete, sich nicht nur beim Hause Binsböckel unbeliebt gemacht, sondern mehr noch bei den weitaus mächtigeren, boronsgläubigen Mersingen. Den Tod vor Augen, war er, Alboran, keinesfalls frei von Furcht... 

Albo erhob sich, als Haldana und "seine" Befehliger hereinkamen, die Friedwangerin Gesine Bretzelbeck, die momentan soldatenlos war, Edorian der einhändige Söldnerführer und Rauline Finkenschlag, die als Artemareiterin die Firunsgesellen anführte. Der Baron war sich ziemlich sicher, dass er seine kleine Truppe rasch wieder verlieren würde, sobald weitere Verstärkung nahen würde. Der junge Junker wies einen alten, schwerhörigen Hausdiener, dem er leidlich vertraute, an, die Tür von außen zu schließen und darauf zu achten, dass niemand lauschte.

"Offiziersbesprechung", sagte der unerfahrene Binsböckel feierlich und kam sich selbst wie ein schlechter Schauspieler vor. "Setzt Euch, Tee und ein zweites Frühstück stehen dort auf der Anrichte bereit."

Man setzte sich, erfreulich zwanglos, wie Alboran die Stimmung auf Gut Menahof kannte.  

"Wo fange ich an? Die Goblins...es war gar nicht so einfach, einen Dolmetscher zu finden...aber mit den beiden haben wir schon einen lohnenden Fang. Sie wurden eindeutig durch eine Blankhaut angestiftet. Eine Schamanin, die auf einem kleinen Bäumchen vom Himmel her gekommen ist. Herbeigeflogen, durch die Lüfte...geradewegs ans Lagerfeuer unserer Räuber." 

Edorian blickte skeptisch. "Auf einem kleinen Bäumchen...herbei geflogen ?!"

"Ein Hexenbesen halt. Aus Goblinsicht." Haldana hatte für ihren Gemahl geantwortet, der bestätigend nickte.

"Die Herumtreiber bekamen den üblichen Lohn versprochen, Branntwein, Salz, Pfeilspitzen, Eisenwaffen...von Adran, wohlgemerkt, nicht von der Hexe. Die Sumuanbeter sind Eisen ja eher abhold. Jedenfalls haben wir nun einen Beweis....dass der falsche Oppstein nicht nur mit Ketzern, sondern auch Goblingezücht unter einer Decke steckt...wie zuletzt der Verräter Gernot." Alboran biss sich auf die Unterlippe und zwirbelte nervös seine schwarzen Locken. 

"Gut, dann können wir die kleinen Stinker ja endlich aufhängen", knurrte Hauptmann Edorian und flutete seinen Tee mit irgendeinem Schnaps. "Euer Hochgeboren" fügte er etwas widerwillig die korrekte Anrede hinzu.

"Sie sind wichtige Zeugen", sagte Albo, ein wenig unsicher. Das mit dem Befehlen, das hatte er noch nicht verinnerlicht. Zuhause auf den Schlotz gab meist Adginna den Ton an, manchmal auch Haldana. 

"Zeugen? Ihr habt es ja selbst gesagt. Hochgeboren. Es findet sich kaum einer, der auch nur ihre Affensprache in den Mund nehmen will… kein Gericht wird einen Heller auf das Gelispel geben. Aufknüpfen...bevor die Stinker türmen und morgen wieder was anzünden. Oder ausplaudern, wie es um die Verteidigung von Gießenborn bestellt ist.

"Zumindest sollten wie sie ausgiebig verhören." Baronin Haldana eilte ihrem Gemahl zu Hilfe. "Das mit der Hexe...was hat es damit auf sich...das war doch nicht etwa diese...Ludwina? Die Hexenfürstin Ludwina vom Drachenwald?"

Albo wurde noch nervöser. "N...nein...nicht Baba Ludwa. Eine gewisse...Alissia soll die Botin geschickt haben...Alissssia..." Lächelnd imitierte der Adelige das Gelispel des "Turbanträgers". Der verwundete Rotpelz mit Kopfverband war besonders gesprächig gewesen, auch ohne große Folter. Sein Gefährte hatte meist nur gejammert und geschrien. Offenbar hatte er gar nicht verstanden, dass man der peinlichen Befragung durch Gesprächigkeit entkommen konnte, und das Hochziehen in der Warunker Wippe keine Strafe sein sollte. Jedenfalls nicht nur. Trotz schwerer Steine an den Füßen. 

"Diese Alissia, ich habe schon von ihr gehört. Die Hüterin des Leibes Sokramors, so nennt sie sich. Offenbar handelt es sich bei dem Hexenweib um eine mächtige Tochter Satuarias, oben in Oppstein. Der andere Rotpelz hat behauptet, sie wäre...also, das hört sich jetzt vollkommen lächerlich an...sie wäre aus einem Ei geschlüpft, vor langer Zeit." Alboran schüttelte den Kopf und schaute auf die Reste seines Frühstückseis, von denen immer noch ein paar Splitterchen auf dem Tisch lagen. 

Edorian schlug das Rondraschwert und kippte sich noch mehr Schnaps in den Becher. "Höchste Zeit, da oben mal aufzuräumen...Eigentlich ist Oppstein längst ein Fall für die Bannstrahler...nicht für weltliche Klingen..." 

"Die werden so schnell nicht kommen. Auraleth ist weit, und die Verluste waren hoch, in all den Kämpfen. Die Büßer gibt es noch, die Tempelwachen von Hochwürden Malachanias in Marktfriedwang. Sie wollen nicht direkt eingreifen, aber die Rabsburg sichern, solange Syrenias Schlosswachen die Fehde unterstützen. Eine gute Lanze Senkenthaler Streithähne, immerhin. Sowie eine weitere aus Markfriedwang. Dazu das Halbbanner Steinbockgarde meines Vaters." 

"Was ist denn jetzt eigentlich mit den Haustruppen des Barons?" Edorian blickte zu Gesine, die im Moment etwas verloren wirkte. "Die Gallyser waren ja eher da als die Steinböcke..." Der Söldner setzte noch eins drauf. 

"Die Edorlyser" korrigierte Alboran. "Allesamt Freiwillige, die den Bogen des Weißen Jägers schützen wollen, als heiligen Pilgerpfad gen Baliho. Und natürlich den Traviaglauben. Nun, was das Waffengesinde meines Vaters angeht. Es ist keinesfalls gesagt, dass wir über den Pass angreifen werden. Gut möglich, dass ein Umgehungsmanöver nötig ist." 

"Wie will Alrik denn sonst nach Oppstein kommen?" Der Einhändige kratzte erst seinen Rauschebart und dann den Armstumpf. "Auf kleinen Bäumchen über die Berge fliegen? Hochgeboren?" 

"Wichtig ist, dass zunächst Gießenborn geschützt wird, vor weiteren Angriffen. Das tun wir gerade. Verhandlungen über ein Durchmarschrecht in Rosenbusch laufen bereits. Mag sein, dass unsere Hauptmacht von dort anrücken wird. Von Schlotz aus." 

"Rosenbusch?" Edorian rümpfte die Nase, als würde er gerade Parfüm riechen. "Ist das nicht ein bisschen.... umständlich? Man sollte Kriegspläne nicht zu kompliziert machen...die Drachweiler Sust haben wir in Windeseile gestürmt." 

Alboran lehnte sich zurück und schlürfte an seiner Teetasse, mit leicht abgespreiztem kleinen Finger. Edorian versuchte seine Verachtung für den gezierten jungen Edelmann zu verbergen, was ihm nicht ganz gelang. "Drauf und dran, Spieß voran...ist ja nicht soooo schwer." 

"Die Oppsteiner Herberge auf dem Pass. Nun, es ist uns tatsächlich gelungen, dort einen Spion einzuschleusen. Auch dessen Erkenntnisse waren...interessant." Alboran stellte das Tässchen wieder zurück und tupfte sich Teereste aus dem Mundwinkel. "Dort halten nur vier oder fünf Soldaten Wacht, tatsächlich Armbruster. Es war...aufschlussreich, dort ein wenig Mäuschen zu spielen." 

"Ein Spion, so so? Einer der Oppstis etwas? Was macht euch da so sicher, dass der Spitzel nicht ein Lockvogel ist. Kein Singvogel...einer, der Euch berichtet, was Ihr hören sollt? Hochgeboren." 

"Da bin ich mir ziemlich sicher. Dass dem nicht so ist. Die Oppsteiner haben zwar nur Vermutungen angestellt, über die Pläne ihres Herrn...aber immerhin. Ihrer Meinung nach plant Adran, sich bei Drachweiler zur Schlacht zu stellen. Dem Ort seines größten Sieges in der letzten Fehde. Ohne starke Gegenwehr am Pass. Wenn wir dann durchmarschieren...nun, dann könnte die Anhöhe mittels Steinschlag gesperrt werden, hinter uns. Dann sitzen wir drüben im Feindesland, ohne Nachschub, ohne Rückzugsmöglichkeit...in der Falle. Während die Oppsteiner zahlenmäßig überlegen sind." 

"Ach was, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, das erhöht die Kampfmoral. Ich war oben am Pass...um eine Steinlawine auszulösen, mit den paar Steinchen am Hang, dafür bräuchte es schon einen Riesen." 

"Oder Magie", sagte Alboran. "Die... Oppstis haben damit geprahlt, dass Alissia Berge versetzen könnte, wenn sie wollte. Oder einen ganzen Wald dazu bringen, den Hang runterzustürzen." Der Junker von Gießenborn tastete nach seinem goldenen, zwölfstrahligen Sonnenamulett, das ihn einst Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein geschenkt hatte, sein seliger Onkel. 

Ein wenig kam der junge Familienvater sich heuchlerisch vor. Aber hätte er der Runde berichten sollen, dass der Spion Knister war, ein kleiner Taschendrache, der sich in Kaminen heimisch fühlte...eine gelegentliche Leihgabe der friedwanger Oberhexe Ludwina, die Alissa, ihre Oppsteiner Amtskollegin, nicht sonderlich mochte? 

Seit einigen Jahren flatterte der Schuppenträger immer wieder einmal ins Haus. Nach allem, was Albo erfahren hatte, herrschte auch bei den Alten Kulten alles andere als Einigkeit. Von Sokramurs Erwachen war in den Bergen die Rede, von tanzenden Steinen und der Notwendigkeit, Sumus Leib und die heiligen Bäche mit Blut zu weihen. Da es Kor gewesen war, der die Schwarze Sichel geschwungen hatte, musste wohl ein Korgefälliger Kampf entscheiden, welcher Sokramorier stark genug war, die verborgenen Kulte ins neue Zeitalter zu führen. 

Wie bei einem Hirschgeforkel, dachte Alboran, halb spöttisch, halb grausend. 



Südlich Gießenborn, 1. Rahja 1045 BF

 

Ritter Roderick blies kräftig in die kleine Signaltrompete, die er mit der linken Hand festhielt, um die Streitmacht anzukündigen und war sichtlich bemüht, mit der anderen Hand die schwere Standarte im Schritt seines Pferdes festzuhalten. Sollten nur alle, Freund und Feind, wissen, dass Ismena Rondria von Oppstein, die würdige Erbin des Drachenthrons zu Oppstein, bald ins Heerlager zu Gießenborn einmarschierte. Die Thronaspirantin ritt ihrer Heerschar voran. Die schlanke Edeldame tug eine glänzende Brünne und ein schmales Schwert hing an ihrer Seite in der Scheide. Zweifellos Inszenierung, denn Ismena hatte kaum ein Schwert geschwungen, noch war sie in eine Schlacht geritten. Dennoch war sie mit ihren weichen Zügen und langen, hinten zusammengebundenen, rotbraunen Haaren und Sommersprossen ein Beispiel von traviagefälliger Zierde, Reinheit, Unschuld und Sitte, was genau das Gegenteil ihres Kontrahenten in der Fehde war. Das kunstvoll angefertigte Diadem an ihrem Haupt erinnerte bereits stark an eine Krone einer Baronin und ihr persönliches Wappen, das ihr Cape als auch die Standarte, die ihr Vetter hinter ihr hochhielt, zeigte, war das Wappen der Baronie Oppstein - war es doch auch ihr Familienwappen. Die Fehde sollte ja als eine im Hause Oppstein angesehen werden.

Gleich neben der Baronie-Aspirantin folgte die eigentliche Drahtzieherin der Fehde, ihre zukünftige Schwiegermutter und langjährige Förderin Glyrana von Mersingen. Damit war es mit dem Oppsteinschen auch schon zuende, denn die Mersingen ließ es sich nicht nehmen, ihre Familie klar zum Ausdruck zu bringen. Nicht nur das schwarze Ross mit gelber Satteldecke passte, auch die geschwärzte und mit gold verzierte Plattenrüstung zierte das Mersinger Wappen ihres Familienzweiges. Daneben ritt Glyranas loyale Dienst- und Leibritterin und formale Hauptfrau der Pfahlgarde, Jadvige von Kressenbrück, die eine leidgeprüfte Veteranin etlicher Schalchten auch jenseits der Sichel war. Dicht folgten auch zwei berittene Pagen. Der ältere der beiden, Ravenhart von Friedwang-Mersingen, trat sich zweifellos als „Altpage“ hervor. Man hatte ihm gar eine - eigentlich doch für ihn zu große - Ketttenweste  gegeben und ein Kurzschwert mit Scheide, fast wie ein richtiger Knappe, der er wohl in wenigen sein würde. Der schlanke Jüngling reckte sein Haupt würdig in die Höhe, fast arrogant. Für ihn waren Schlachten bisher nur Erzählungen von Heldentum. Dann war da der etwas jüngere Storko von Baernfarn, ein Bruder Ismenas. Als „Jungpage“ trug er nur ein wattiertes Wams und einen Langdolch und verhält sich generell eher bedeckt. Glyrana hatte die beiden Pagen nicht mitgenommen, um ihnen eine Lektion in Schlachten und Fehden zu erteilen. Nein, falls ihnen Rondras Gunst doch nicht gewogen wäre und sie alle in Gefangenschaft geraten, so würde die Fehde mit den zwei Pagen aus den Häusern Friedwang und Baernfarn noch mehr eskalieren.

Nach der Trompete setzte sofort eine Trommel ein und dann eine Flöte, um alle Soldaten im Gleichschritt das Tempo anzugeben, denn hinter den Adeligen zog sich ein kleiner Heerzug in der Stärke eines Banners, die durch die aufgrund der Bergregenfälle der letzten Tage schlammig gewordene Piste stapfte. Glyrana musste einiges an finanziellen Mitteln aufnehmen, um ihre Pfahlgarde für die Fehde auf ein reguläres Banner anwachsen zu lassen. Zum Glück stand Ismenas Bruder dem Baernfarner Handelshauses Romerzi vor, sodass er ihnen für die Fehde Kredite finanzierte. Sollte sich die Oppsteiner Unternehmung als erfolgreich herausstellen, so könnte man es problemlos zurückzahlen, ansonsten müsste Glyrana eines ihrer Familiengüter wohl verpfänden. Ismena war reich an Erbansprüchen, aber ansonsten weitgehend land-, einkommens- und mittellos. Die Vorbereitungen, Ausstattungen der Soldaten und Manöver hatten nicht nur Geld, sondern auch einiges an Zeit in Anspruch genommen, sonst hätte die Fehde bereits letzten Sommer starten können. Jedoch so ein Unterfangen soll gut geplant sein. Glyrana hatte vor einem Jahr auch ihr einträgliches Amt als Lehensvögtin der reichen Baronie Meidenstein abgegeben. Offiziell, um sich ganz Familienangelegenheiten zu widmen. Nun allein die vier Lehen der Gernatsborner Mersingen mit fast 1000 Untertanen waren ordentlich zu verwalten, in drei Baronien verstreut und mit Burg Gernatsborn vor wenigen Jahren erst gänzlich fertiggestellt - und die Fehde war ja auch tatsächlich eine Familienangelegenheit. 

Glyranas Gemahl, Storko von Gernatsborn-Mersingen, der Wehrvogt der Markt, hielt sich offiziell aus der ganzen Fehde heraus, um aus seinem Amt keinen Eindruck einer Parteiergreifung zu suggerieren. Mehr zufällig hatte er auch vor drei Jahren bereits eine Inspektion der Wehrhaftigkeit der Burgen und Wege im Sichelhag absolviert und so wichtige strategische Informationen über die Oppsteiner Lande gesammelt. Im Hintergrund war er auch maßgeblich an der Aufrüstung der Pfahlgarde beteiligt gewesen, mit der der Feind kaum rechnete, da sie an der doch entlegenen Gernatsborner Burg im Schlotzen Land sich in der Stärke formiert hatte. Alte Wehrheimer Organisationslehre mit moderner hornsicher Schlachtenführung solle in ihrer Aufstellung vereint werden. Denn für den ehemaligen Wehrheimer Stabsoffizier war die „Rückbesinnung“ auf Ritterlanzen anstelle eines schlagkräftigen stehenden Heeres ein klarer Rückschritt in der örtlichen Kriegsführung. Seine Garde war hingegen nach „modernem“ Vorbild konzipiert, Stangenwaffen, Armbrustiere und ein Geschütz.

Den Kern der Truppe wurde aus mittelschweren Hellebardieren gebildet, die gerade im Gleichschritt in Richtung des Dorfes an der Gießen marschierte. Einheitlich trugen sie geschlitzte Wämser und Hosen in Söldnermanier in den Farben Schwarz und Gelb, darüber verschiedene Plattenrüstungen, an ihren Helmen waren blaue Bänder angebracht - die Farben der Familie der Gernatsborner Mersingen. Allesamt ehemalige Soldaten und Söldner, die Schlachten und Scharmützeln erlebt hatten. Wer jedoch genau hinsah, der erkannte, dass die Ausrüstung nicht ganz so einheitlich und wohl von verschiedenen Beständen zusammengekauft (oder gar in Zeiten der Wildermark erbeutet gewesen) war. Richtige leichte Platten trugen nur der Weibel und die Korporale, die einfachen Gardisten hatten zumindest Kürasse, ansonsten waren verschiedene Kettenhemden, Beinlinge aus Kette oder Platte und teilweise Panzerhandschuhe zu sehen. Die Helme waren nur teils Schaller, sondern auch Sturmhauben und einige Tellerhelme, die Seitenwaffen ein Sammelsurium an Lang- und Kurzschwertern, Streitkolben- und Äxten. Zumindest waren alle jedoch für einen bevorstehenden Kampf gewappnet und gerüstet. 

Der zweite Truppenteil in Stärke einer Lanze setzte sich aus aufgesessenen Armbrustschützen zusammen und war sichtlich besser ausgerüstet. Neben Kürass und Kettenzeug hatten sie Langschwerter und einen Schild am Rücken. Die leichte Armbrust und die Rösser dienten dazu, rasche Stellungswechsel durchführen zu können, waren jedoch nicht primär für den berittenen Kampf gedacht. Ein halbes Dutzend von ihnen ritt direkt hinter dem Adel, die anderen waren jeweils als Vor- und Nachhut abgestellt. 

Zum Leidwesen der Fehdenführung waren sie recht langsam vorangekommen und mussten über Wutzenwald, dann die Reichsstraße und wieder nördlich von Gallys über Friedwang über den Sichelhager Karrenweg reisen, denn als letzter Truppenteil war die schwere Feldballiste - die sonst am Bergfried auf Burg Gernatsborn das obere Gernatstal bewachte - auf einen übergroßen Wagen montiert worden. Aus strategischen Gründen zog man es vor, sie in fast gefechtsbereiter Aufstellung zu transportieren, allein bereits zur Abschreckung des Feindes. Das war auch der maßgebliche strategische Grund, ein derartiges Geschütz nach Oppstein zu bringen. Allein zur Tötung des Feindes taugte sie nur mäßig, da die Ladezeit recht lange war, aber sollte ein schweres Speergeschoss in feindliche Reihen von Fußvolk einfahren, dann gebe es für die traurigen Opfer, die das Geschoss treffen würde, keine Chance auf Gnade und die Moral der Formation würde bröckelt. Auch keine Gestechrüstung eines schwer gepanzerten Reiters könnte dem Geschoss standhalten. Neben der abschreckenden Aspekte war auch die Reichweite einer derartigen Waffe nicht zu unterschätzen, um die strategische Hoheit über ein Schlachtfeld zu bewahren, da jedem Bogen und jeder Armbrust weit überlegen. Letztlich konnten auch Brandgeschosse abgefeuert werden, im Falle einer Belagerung.

Von Gießenborn tönte ein Horn als Antwort auf den Einmarsch. Eis war eine Begrüßung zwischen verbündeten Truppenteilen, denn es waren mehr Fehdenunterstützer bereits zur Gießenborner Heerschau gekommen, als sie erwartet hatten.

 

Nördlich Gießenborn, Praiostag, 5. Rahja 1045 BF

 

Krieg macht dumm, dachte Alrik und lehnte sich im Reisesattel zurück, bis er die hohe Lehne im Rücken spürte. Flocke schnaubte und stampfte, während seine Gefährten hinter ihm langsam aufholten. Das schwere Zaumzeug klirrte. 

Nach einigen nasskalten, windigen Regentagen war der Frühling ins Sichelhag zurückgekehrt. Der spitzbärtige, einäugige und grausträhnige Baron von Friedwang begnügte sich damit, eine Lederhose, ein blaurotes Wams und ein Rüschenhemd zu tragen, ebenso sein vertrautes Rapier, Rabenfraß den Zweiten.

Kopfschüttelnd tastete der Herr von Friedwang noch einmal nach der Drachenkopfpfeife, in der Gürteltasche. Aber es half alles nichts, er hatte sie doch tatsächlich auf dem Gutshof vergessen. Alrik Tsalind verzog den Mund, unter dem feinen Spitzbart, wie unter körperlichem Schmerz, den er beinahe tatsächlich verspürte, beim Gedanken an Tabakrauch. 

Sein Blick ging auf eines der Brachfelder, das von einem Bauern umgepflügt wurde, mit dem Ochsengespann, vermutlich, um das wild wuchernde Unkraut zurückzudrängen, das dank Sonne und Regen reichlich spross. 

Oben am Hang wurde Heu gesenst, es schien ein gutes Mahdjahr zu werden. Auch die Blumenwiesen standen in voller Blüte. Überall schwirrten Bienen und Hummeln. Kuhglocken bimmelten oder schepperten. Irgendwo glaubt er tatsächlich ein herzhaftes Muuuh zu hören. Die Natur war nach langem Winterschlaf erwacht und reckte ihre Glieder.  

Die fette Schmeißfliege, die gerade vorbei summte, wirkte beinahe schon gemütlich, im hellen Praiosschein. 

Allerdings steuerte der feiste, bunt schillernde Brummer gerade eines der rotstruppigen Bündel an, die schon seit Tagen vor sich hinstanken, am Karrenweg Richtung Pass. 

Der tote Goblin drehte sich unter einer knorrigen, verwachsenen Sichelbuche hin und her, so weit es ihm der vergilbte Strick um seinen kurzen Hals gestattete. Seine Zunge hing ihm zwischen den beiden Hauern aus dem Maul, den Kopf zierte immer noch ein rotbraun gefleckter Verband. 

Der Gefährte baumelte am Nachbarast, wo er von Fliegen ebenso wie Krähen umschwärmt wurde. Es war, als wolle die dämonische Gegenspielerin der Peraine das große Sommererwachen verhöhnen.  

Alboran von Schlotz, der einen leichten Reiterharnisch trug, lenkte seinen Falben neben das Streitross seines Vaters. Das Gesicht des Binsböckels war ähnlich fahl wie die Fellfarbe des Reittiers. Nervös wehrte er ein paar Sommerfliegen ab.

"Müssen wir denn ausgerechnet hier warten?" fragte er mit kratziger Stimme.  

Alrik sah kurz über die Schulter, in Richtung der übrigen Adeligen, die tatsächlich pikiert in Richtung Gehängte blickten.

"Gewiss. Es ist besser, wenn der Oppsteiner unser Lager nicht betritt." 

Das lag tatsächlich auf der anderen Seite von Gießenborn, und war zum Fest der Freuden gehörig angewachsen. Trotz der Wirren hatte Mena einige gute Fässer und Tonflaschen gestiftet, für Bauern wie Soldaten gleichermaßen, um die Herrin der Viehzucht zu ehren. Alrik verzog den Mund und trauerte für einen Moment den vergangenen Zeiten nach. Als im oberen Gießental vor allem die Herrin der Unzucht gefeiert worden war.   

Nur ein Wachtposten vor dem Dorf erinnerte daran, dass am Gutshof gerade die "Heerschau" stattfand, das Sammeln des Waffengesindes aus Schlotz, Gallys und Friedwang. Gestern erst waren Syrenias Hahnengardisten aus Senkenthal eingetroffen.

Eine der beiden Rotten Streithähne, die Burg Friedstein bewachten, als Ganerbenbesitz der Senkenthaler wie Marktfriedwanger Linie der Familie, hatte Alrik mit nach Gießenborn gebracht.

Das Halbbanner Steinbockgarde war ebenfalls gen Firun geritten. Alrik war zu dem Entschluss gekommen, dass ein groß angelegtes Umgehungsmanöver über Rammholz zu aufwendig und unnötig war. Ebenso gefährlich: Mena wäre um ein Haar in der Hohenwaldklamm ertrunken, als vor einigen Tagen das Gewitter losgebrochen war. Die Rahjajungfer hielt sich noch immer bedeckt, was das Treffen mit den Abgesandten aus Rammholz anging. Sie schien überall Spione zu wittern.  

Alrik Tsalind hatte beschlossen, dass es genügen würde, wenn die Steinböcke am Kloster in die Klamm hinabsteigen würden, um den Passweg zu umgehen. Das Risiko war entsprechend größer, dass dieses Manöver entdeckt werden würde. Aber dafür würden die Reiter nicht so lange in diesem niederhöllischen Abgrund unterwegs sein. In der Schlucht, in der bereits Alriks Stammahn, Baron Giselher von Friedwang, zu Tode gestürzt war, auf der Jagd… Die Wilde Geiß duldete keine Nebenbuhler in ihrem Reich, jedenfalls nicht auf Dauer. 

Getrennt marschieren, vereint schlagen. Alrik überlegte gerade, von welchem Feldherrn dieses bewährte Prinzip stammte. Klang nach Marschall Voltan. Reichserzmarschall Voltan von Rommilys, pardon. 

Der Unterhändler hatte sich nun bis auf wenige Pfeilschüsse genähert, mit einer kleinen, schmutzigweißen Fahne an der Kriegslanze. Die rotweiße Schabracke, das Wappen und die blinkende Rüstung zeigte ebenso wie die treuherzig  folgende Knappin, dass es sich um einen Ritter handeln musste. Immerhin, ein hochrangiger Parlamentär...oder ein Spion. 

"Der Kerl wird sich genauestens umschauen wollen", brummte Alrik. "Die Oppsteiner haben Gießenborn schon immer für einen Außenposten gehalten. Vielleicht würde ihm jemand was stecken, während wir nicht aufpassen. Im Dorf." 

"Das meine ich nicht". Alboran presste sich ein parfümiertes Taschentüchlein an die Nase, und wies mit den Kopf auf die Gehängten. "Der Gestank ist unerträglich, Papa." 

Alrik legte scheinbar ungerührt die flache Hand an die Stirn und spähte die Straße entlang.  "Ich sehe den roten Sparren des Hauses Sturmfels...das könnte...das müsste der Edle zu Goblinwehr sein. Wie überaus passend. Kor, der grimme Schnitter, hat wieder mal Humor. Oder besser gesagt, unser geliebter Baron Adran von Berlînghan-Irgendwas." 

Grinsend drehte sich der Streunerbaron um. "Zumindest schickt uns der Emporkömmling nicht sein Schosshündchen Lares." 

"Vater, der Gestank ist wirklich widerlich...." 

"Ja, und die Fallobststeiner sollen ihn ruhig schnuppern. Wenn es stimmt, was du sagst, haben sie uns die Marodeure gesandt." Alrik musterte seinen Sohn, der vor zwei Götterläufen zum Freiherren von Schlotz aufgestiegen war.  

Der Friedwanger war selbst erst vor zwei Tagen von seiner Burg her im Gießenbornschen eingetroffen. 

Nach allem, was er gehört hatte, war es der verstörte Bauernrat gewesen, der Alboran darum gebeten hatte, die rotpelzigen Diebe und Mordbrenner endlich aufzuhängen. Alrik wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war gut, Stärke zu zeigen. Goblinfurcht war ansteckend wie eine Sieche, im Sichelhag. Bald würden sie alle danach schreien, die Höfe zu beschützen, statt in die Fehde zu ziehen, in den unwegsamen Norden. 

Abschreckung musste ebenfalls sein. Die übrigen Goblins hatten ihre unglücklichen Gefährten wohl schon entdeckt, zumindest fehlten ihnen Stiefel und Gürtel. Kein Bauer hätte sich die Finger an verlauster Goblinkleidung schmutzig gemacht. Die Trauer des Herrn von Friedwang hielt sich in Grenzen. Banditen waren Banditen, man musste ihnen beizeiten die Grenzen zeigen. 

Dennoch, der frisch gebackene Junker von Gießenborn hatte dem Drängen seiner erschrockenen Untertanen ein wenig zu schnell nachgegeben, für Alriks Geschmack. Albo hatte sich lediglich ausbedungen, die Gefangenen weitab des Dorfes zu meucheln, vermutlich, damit die kleine Alfhildur nichts von den Goblinkadavern mitbekam. Die Erbin von Schlotz lebte gerade tatsächlich wie ein kleines Thorwalerkind - und blickte staunend auf Dutzende stahlklirrende Bewaffnete, die sich an prasselnden Lagerfeuern zum großen Raubzug versammelten. Mit dröhnendem Lachen, rauen Scherzen, Feuerglanz in den Augen. Es würde bald noch mehr Tote zu sehen geben, soviel stand fest, ebenso schreiende Verwundete.  

Alrik langte verstohlen an seinen Hals. Hängen war nicht gerade der leichteste Weg über das Nirgendmeer - und lange Finger, die hatte er oft selbst schon gemacht. Er dachte an Golo, den Stiefvater seines Bastards. Der hatte Goblins gehasst, gerade weil sein eigener Vater Gernot einen Narren an den Ureinwohnern der Berge gefressen hatte. Vor allem an den flauschigen Weibchen. Kaum war Golo der Zweite Herr von Gießenborn geworden, hatte er einen alten Rotpelzdiener im Teich ertränken lassen, dem Vernehmen nach. Seitdem gab es keine nichtmenschlichen Knechte mehr auf dem Gut.  

Der Mondschatten runzelte die Stirn. Es missfiel ihm, wenn Albo Verhaltensweisen zeigte, die eher an den grausamen Golo Cecilius von Gießenborn denn an die Großmut eines Alrik Tsalind von Friedwang erinnerten. Verhaltensweisen, die den letzten verbliebenen Zweifel nährten, ob es sich bei Ismenas Sohn wirklich um sein eigenes Fleisch und Blut handelte. Der Baron beruhigte sich. Alboran selbst hielt ihn für seinen Vater, darauf kam es an. Sein verunsicherter, um Zustimmung bettelnder Blick sprach mehr als tausend Worte.  

Was den süßlichen Gestank anging, nun, sein Sohnemann sollte ruhig schon ein wenig Schlachtfeldluft schnuppern. Immerhin hatte er die Gefangenen ausgeliefert, die vor ihrem Ableben grausam traktiert worden waren, mit Forken, Dreschflegeln, Knüppeln. Jeder Befehl eines Adeligen hatte Konsequenzen - für andere, aber früher oder später auch für ihn selbst. 

"Die Schweinszähne hat uns doch Adran beschert? Oder etwa nicht, Albo?" 

"Laut Dolmetscher sollen sie von einem Hexenweib angestiftet worden sein. Diese Alissia hat behauptet, im Auftrag des Barons zu handeln." Der junge Herr von Schlotz schüttelte den schwarzgelockten Kopf. "Ehrlich gesagt, mag ich nicht glauben, dass mein Vetter zu derart ehrlosem Handeln fähig ist." 

"Dann solltest du dir einen anderen Grund suchen, ein paar Oppsteiner umzulegen", sagte Alrik, scheinbar vergnügt. "Glaub mir, an der Sache mit der Ehre zweifelt man schnell, im Krieg...die stirbt gleich nach der Wahrheit. Sobald sich die ersten Soldaten in die Hose scheißen oder nach ihrer Mutter schreien..." 

"Eine Fehde ist noch lange kein Krieg". Alboran reckte sein Kinn vor. "Wir verteidigen nur unser Recht. Abgesehen davon, dass wir Adran noch immer keinen Absagebrief überstellt haben. Als Haus Friedwang, meine ich. Boah, das stinkt..." 

"Der Wind hat sich schon längst gedreht, mein junger Herr von Binsböckel. Das ist der Jauchewagen da vorne, das Güllefässchen dort, das so maucht. Ich hoffe, du hast die Schnapphähne ausgiebig befragen lassen, vor ihrem Tanz mit Seilers Tochter?" 

"So gut es eben ging. Die Bande kam aus Weiden. Zippeldinge, denke ich. Gezappelt haben sie wahrlich genug, haha. Kein schönes Schauspiel. Aber die Njakuul hätten sie ohnehin nicht in ihrem Revier geduldet." Albo klang mit einem Mal entschuldigend, fast schon zerknirscht, und verscheuchte eine weitere Mücke.

"Mit Vettern habe ich so meine Erfahrungen gemacht...vor allem mit Gernot aus Gießenborn." Alrik deutete mit dem Daumen auf das Dorf. "Der war ganz verrückt nach Goblins. Wo die sind, schlägt Rondras Blitz nicht ein. Goblinweiber bescheren Manneskraft und Fruchtbarkeit....der tägliche Anblick der Hauer ist gut für die Zähne. Und dergleichen Unsinn mehr. Aber fragen wir doch den Herrn von Sturmfels, was  er von Rotpelzen als Waffengefährten hält." 

Der Edle von Goblinwehr war tatsächlich herangetrabt, zügelte sein Pferd und verzog ebenfalls die Nase, ob der toten Goblins.  Krächzend flatterten zwei, drei der Krähen auf. 

 

"Rondra zum Gruße, Hochgeboren", sagte der Rittersmann knapp.  "Herr Adran schickt mich als seinen Boten. Gilt freies Geleit? "

"Kor zum Gruße, Wohlgeboren. Ja, Ihr steht unter meinem Schutz. Die Rotpüschelchen da, die hat er allerdings auch geschickt, Euer feiner Herr. Eine der Pilgerhütten ist in Flammen aufgegangen, neben dem Bogen des Weißen Jägers. Auch sonst gab es viel Unruhe auf dem Berg. Von Norden her weht ein rauer Wind, seit dem letzten Hesindemond.  

"Damit haben wir nichts zu tun", sagte der Dienstmann stolz. "Das Haus Oppstein und seine Lehensleute kämpfen mit offenem Visier".  

"Davon bin ich bei Ismena Rondria von Oppstein überzeugt. Da Ihr als Ehrenmann bekannt seid, gehe ich felsenfest davon aus, dass Ihr Euch Ihrer gerechten Sache anschließen werdet?" 

"Wir Sturmfelser schwören unsere Treue nur einmal. Herr Adran auch. Er möchte Euch bei dieser Gelegenheit an den Bundeseid der Schwarzen Sichel erinnern. Heißt es darin nicht, dass die Mitglieder des Trutzbundes zu unverbrüchlicher, ewiger Freundschaft und Treue verpflichtet sind? Keiner soll Ansprüche auf Besitz oder Land eines anderen erheben. Alle Meinungsverschiedenheiten sollen auf dem Weg friedlicher Verhandlungen geführt werden. Niemals soll ein Sichler das Schwert gegen einen anderen Sichler erheben. Insbesondere wird er seinen Nachbarn nicht an der Ausübung der Herrschaft in dessen Domäne hindern...." Der Herr von Goblinwehr blickte Alrik geradewegs in die Augen. Oder besser gesagt, in das unverdeckte linke Auge. 

Der Friedwanger hielt den Blick stand. 

"Gewiss, sofern dort nicht gegen die zwölfgöttlichen Gebote verstoßen wird." 

"Ich...bitte Euch, Hochgeboren. Ihr glaubt die schmutzigen Gerüchte doch nicht selbst." Der Sturmfelser schüttelte ebenso wie sein Streitross den Kopf. "Die Schlotzer haben Bewaffnete in Pilgergewandung gesteckt und Richtung Natternwiesen ausgesandt...ist das etwa zwölfgöttergefällig? Mit Verlaub, das war pharrazäerhaft...scheinheilig...vollkommen heuchlerisch." 

 "Ich habe davon gehört." Alrik lächelte fein. "Sogar in Rommilys. Dort heißt es, dass es wirklich nur Wallfahrer waren, die Adran in den Kerker hat werfen lassen. Wie sollte ein Dutzend Pilger eine Gefahr für seine Herrschaft darstellen?" 

"Pilger finden sich früher oder später zusammen. Nicht immer zum frommen Gebet." Der Edle musterte Alrik. Ahnte er, dass der Friedwanger "Beziehungen" hatte spielen lassen? Um Adran eine Bedrohung von Westen her vorzugaukeln? Ihn dazu zu verleiten, Rechtgläubige zu drangsalieren, auf dem Weg zum Kloster Alveranskuppen? 

"Nun, abgesehen davon, dass es den Trutzbund der Schwarzen Sichel in dieser Form nicht mehr gibt. So missfällt mir die Art, wie Euer Herr Verhandlungen zu führen gedenkt, schon sehr....das sind bereits Händel, keine Verhandlungen. Auf dem Pass kam es innerhalb weniger Monde zu drei Scharmützeln, die nicht von Friedwanger Seite aus begonnen worden sind. Habt Ihr etwas besseres anzubieten als Brandpfeile...oder Giftpfeile?" 

"Auch das ist eine haltlose Unterstellung. Wie sie allein durch Ismena Rondrija von Baernfarn-Oppstein und deren Claqueure verbreitet wird." Der Abgesandte betonte das exotische idscha in Ismenas eigentlichem Zweitnamen.  "Das wahre Haus Oppstein, dessen Mitglieder nicht in den Ländern seiner Feinde residieren....es hat mit dem Verschwinden von Wohlgeboren Tsalinde nichts, aber auch rein gar nichts zu tun." Der Edle bändigte sein Streitross, das zur Seite hin auszubrechen versuchte. "Müssen wir hier sprechen, der Geruch ist penetrant?"

"Ihr habt Recht, Euer Wohlgeboren, wir sollten das Ganze abkürzen. Hat uns Adran ein ernsthaftes Angebot zu unterbreiten? Eine öffentliche Entschuldigung, das Junkergut Drachweiler für Baroness Ismena...eine angemessene Entschädigung für die Plackereien, die mittlerweile doch erheblich waren?" 

"Nichts dergleichen. Ihr seid es, der Euch an einem schamlosen Komplott gegen Redenhardts Erben beteiligt, Herr von Friedwang. Mehr noch, gestattet Ihr es den Feinden Seiner Hochgeboren, sich auf den Ländereien Eures Sohnes zu versammeln. Oppstein wird von Friedwang aus bedroht, nicht umgekehrt..." Sturmfels senkte seine Lanze, an die kein weißes Fähnchen, sondern ein Brief geknotet war, wie Alrik nun merkte. Nervös hob er seine Augenklappe. Er sah in letzter Zeit wirklich schlecht. 

"So leid es mir tut… Es wird Zeit, dieses unwürdige Schauspiel abzukürzen. Herr Adran hat sich entschlossen, Euch den Fehdebrief zu übersenden! Seine Hochgeboren sind seit jeher ein Freund klarer Verhältnisse." 

Der Mondschatten stutzte: Man überreichte ihm den Absagebrief, nicht umgekehrt? Nun gut, er hatte tatsächlich Querelen mit Erlaucht Swantje befürchtet, die keine Freundin von Fehden war, und entsprechend mit dem "Briefeschreiben" gezögert. Aber sollte er nun der Bösewicht sein? 

Etwas lustlos zupfte er am Knoten der Schnur, mit der das Kuvert festgebunden war, eingefädelt durch ein Loch. 

"Ich krieg ihn nicht auf." 

"Vielleicht solltet Ihr ihn durchbeißen?" Der Sturmfelser klang spöttisch. "Und vergesst nicht, es zählt noch drei Tage lang die Friedenspflicht, nach Zustellung des Briefes." 

"Wenn, dann hätte ich jedes Recht, Oppstein zur Fehde zu fordern!" 

"Ihr hattet Zeit genug, aus dem Nebel zu treten. In dem Ihr Euch so gerne verbergt." Der Ritter klang stolz.  

"Mag sein...nur dass ich in den Nebeln von Alveran wandle." 

Alrik zückte seinen Dolch und schnitt den Brief kurzentschlossen ab. "Horasisches Büttenpapier?! Schon wieder." 

"Ihr dürft den Umschlag behalten!" Der Edle zu Goblinwehr hob den Lanzenschaft wieder. "Glaubt Ihr, dass man im Oppsteiner Hof nicht weiß, dass Ihr hinter der Bewaffnung derTraviapilger steckt? Der angeblichen Pilger, die in Wahrheit Saboteure und Freischärler sind, nicht wahr? Adran schlägt vor, dass wir uns zum offenen Kampf treffen, wie echte Ehrenleute. Wir alle hier. In zehn Tagen steht er zur eurer Verfügung, auf den Feldern vor Drachweiler, mit seinem Aufgebot. Bis dahin habt Ihr sicher genügend....Freunde und Verbündete gesammelt, um Euch das Oppsteiner Silber endgültig unter den Nagel reißen zu können. Bringt wieder Eure Gemahlin mit. Schon das letzte Mal hat es ihr in unserer Baronie bestens gefallen." 

Alrik blickte verdutzt. Der feine Pinkel konnte höhnisch sein wie ein Al´Anfaner Straßenräuber?! Der Friedwanger zog den Brief raschelnd hervor und überflog die kurzen, im barschen Ton gehaltenen Zeilen.

"Egal wie dieses Duell ausgeht, es wird gewiss das letzte Duell sein", sagte Alrik leise und reichte das Schreiben seinem Bastardsohn. "Sehr gerne nehme ich Adrans Herausforderung an. Wir alle hier, denke ich, haben noch eine Rechnung mit ihm offen?"



Markt Oppstein, Erdstag, 10. Rahja 1045 BF

 

"Ich muss schon sagen. Die Gastung war weit besser, als der Oppsteiner Hof noch ein Wirtshaus war."

Veneficus blickte auf seine schmutzigen, schwieligen Finger, denen man die Strapazen des Ritts anmerkte. Über die Kuppen hinweg sah der Baernfarn die Torwachen missmutig an. Den beiden Oppsteiner Gardisten schien der Anblick des grauhaarigen Magisters nicht sonderlich zu behagen, der sie da mit seegrünen Augen musterte. Vor allem die Frau schluckte. Beide hielten dem Blick tapfer stand, mit rotgoldenen Wämsern, Harnischen, Federbaretten und gekreuzten Glefen. Besser gesagt, starrten die beiden unverdrossen geradeaus und ins Leere, als wären sie bereits Opfer eines Versteinerungszaubers geworden.

"Wie lange dauert das denn noch?" 

Neugierig stellte sich der Baernfarn auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick auf das Schloss zu erhaschen, das fast den gesamten südlichen Ortsrand von Oppstein einnahm.

Früher, da war er tatsächlich gerne mal im Oppsteiner Hof abgestiegen, vor allem im Badehaus. Der neue Hof ähnelte tatsächlich mehr einem horasischen Palazzo als der rustikalen Residenz eines Sichelhager Barons. Der wuchtige, weißverputzte, turmgeschmückte Vierseithof war selbst für ein stolzes "Silberdorf" wie Oppstein zu prunkvoll und opulent geraten, hinter einem adretten Park und der vergitterten Schlossmauer.

Das Haupthaus, das einem Grafen alle Ehre bereitet hätte, war immer noch teilweise eingerüstet, Dachdecker hantierten auf den Dächern. Formschön, ordentlich und ingerimmgefällig wirkte die Anlage, das musste Veneficus Adran lassen. 

Der Blick des Graumagiers wanderte hinauf zur Burgruine. Vom stolzen Stammsitz der Oppsteins war wenig geblieben.

Vieles, was Satinavs Gehörn oder das Feuer des Reitdrachen Arlopir übrig gelassen hatten, war von fleißigen Steinsammlern zum Wiederaufbau von Oppstein verwendet worden. Die angeblich vor tausend Jahre gebaute, halb überwucherte Feste sah aus, als wäre sie schon seit Ewigkeiten eine Ruine. Hangrutsche an der Bergflanke zeigten, dass die "Schleifung" der Feste nicht allein auf Nachlässigkeit zurückzuführen war. Wenn die Sichler von Sokramors Erwachen sprachen, dann meinten sie konkret das häufige Aufbrechen und Abrutschen bröckeligen Schiefergesteins. Die Felsbewegungen schienen in letzter Zeit häufiger geworden zu sein, als wäre der Schlaf der Gigantin unruhig geworden. Veneficus bevorzugte eine hesindegefälligere Antwort. Das Berge versteinerte Götter waren, im Wortsinn, das war nun wirklich Aberglaube. Allerdings, der Geist der Unsterblichen brauchte schon einen würdigen Körper. Sokramors Seele, die spürte der Magier überall. Hatten die Götter selbst eine Seele? Darüber hätte er sich gerne einmal mit einem Praioten unterhalten...

Wie auch immer. Die hohen Mauern von Burg Oppstein waren viel zu schwer für den Untergrund und das Fundament gewesen, das sah der erfahrene Bodenkundler sofort. 

Einige Risse im verbliebenen Mauerwerk waren selbst vom Ort aus zu sehen. Seine Schwester Serwa hatte auf dem Friedstein - der seinem Namen alle Ehre bereitete und sich meist ruhig verhielt - das Problem klug gelöst. Die Baronin hatte leichtes Fachwerk aufsetzen lassen, auf die beim letzten Burgbrand zerstörten Mauern. Eine solche Lösung wäre auch bei Burg Oppstein möglich gewesen, am besten ergänzt durch einige kräftige Stützpfeiler. Aber das hätte dann weder wehrhaft noch elegant ausgesehen. Sondern nach der hundertsten, buntscheckigen, wildromantischen und plumpen Behausung eines mittelreichischen Landadeligen.

Aber nun gut, vom alten Gallys, wie Veneficus es kannte, war ebenfalls wenig geblieben. Sie alle waren nur Würfel im großen Spiel der Götter - und wurden mitunter kräftig durchgeschüttelt, im riesigen Würfelbecher des Schicksals.

Um Baron Adran Aurentian Randolph von Berlînghan-Oppstein-Mersingen baukundlich zu beraten, war es ohnehin zu spät. Viele Oppsteiner sahen verdrießlich und mürrisch drein, das war Veneficus beim Gang durch die Gassen aufgefallen. In einem Dorf reagierten die Leute empfindlich auf die kleinste Veränderung ihres gewohnten Provinzlebens. Für die Bauern musste das zwischen ihre Höfe geklotzte Schloss ungefähr so heimelig wirken wie für die Garether Kholak-Kai, die über der Kaiserstadt abgestürzte Fliegende Festung. Die Handwerker des zünftigen Marktfleckens sahen dafür umso vergnügter drein. Adran schien die Zahl seiner Freunde und Feinde gleichermaßen zu vermehren, in seinem Hauptort, das konnte der Magus förmlich spüren. 

Der dritte Wächter, der durch das Gittertor geeilt war, um sich im Haupthaus Befehle zu holen, kam über knirschenden Kies hinweg zurück. Veneficus nannte ihn Weibel, auch wenn er nicht zu sagen gewusst hätte, ob der Mann diesen Dienstgrad wirklich innehatte.

"Der entlaufene Knappe ist bei Hofe unerwünscht", verkündete der "Weibel", völlig leidenschaftslos. "Herr Timoin von Binsböckel, und Ihr, Magister Veneficus von Baernfarn, dürft eintreten. Allerdings ohne Waffen."

Travian, der Geschmähte, wollte etwas sagen. Veneficus hielt ihn mit einer Geste davon ab. 

Timoin, der Jäger, legte seine Rechte auf den Bogen, den er sich um die Schulter gelegt hatte. "Meinen Jagdbogen geb ich nicht her. Ich bin Waidmann, bei Firun! "

"Wer möchte einen alten Mann seiner Stütze berauben?" Veneficus klopfte mit dem Zauberstab auf den Boden, mit entwaffnendem Lächeln. 

Ein Blick des Weibels in die Runde. "Mein Herr geht davon aus, dass Ihr für Friedensverhandlungen nach Oppstein gekommen seid. Dafür braucht es keine Waffen!"

"Ich gebe Bavhano´Bvaith niemals aus der Hand", sagte Timoin, ebenso trotzig wie stolz. “Nie!”

"Und ich möchte wirklich ungern das Gildenrecht bemühen, junger Herr", sagte Veneficus. "Meine Stiefel ausziehen, im Audienzsaal, das kann ich Euch noch anbieten. Falls Ihr Filzpantoffeln habt?"

"N....nein."

"Gut, dann behalte ich auch meinen treuen Stab."

"Eigentlich sind wir nach Oppstein gekommen, um mein gutes Schlachtross Yolante zurück zu fordern!" Travian, dem die Titulatur als entlaufener Knappe zur Weißglut gebracht hatte, meldete sich zu Wort. "Es ist mein Pferd...wenn Adran sie behält...dann, dann ist das Diebstahl."

Der Wächter blickte stur geradeaus. "Dazu kann ich nichts sagen. Ihr habt leider keinen Zutritt mehr....Euer Wohlgeboren."

Gisla von Zweifelfels trat neben Travian. "Darf ich eintreten?", sagte sie leise, aber bestimmt. "Verzeiht, ich sollte mich vorstellen. Mein Name ist Baroness Gisla von Rathsamshausen-Zweifelfels. Die Familie meines Vaters ist seit jeher mit dem Haus Hohenfels befreundet...dem auch der Oppsteiner Hauptmann entstammt. Ich hätte, äh, eine wichtige Botschaft für ihn."

Kurz zuckte ein Nerv im Gesicht des Gardisten. "Lares von Hochfels ist sein Name, edles Fräulein...nicht von Hohenfels."

Täuschte Veneficus sich, oder war ein kleiner Anflug von Verachtung zu erahnen, im ansonsten unbewegten Gesicht des Schlosswächters?

"Die Stammburg Hochfels war die gleiche", sagte Gisla, mit charmantem Lächeln und Plauderton. "Die Familie hat sich schon vor Jahrhunderten aufgespalten. Die Hohenfels stammen aus der gleichnamigen Baronie in der Grafschaft Honingen. Im fernen Albernia. Wo es seit alters her eine Burg gleichen Namens gibt. Sie sind zur Zeit der Praiokratie in den Reichsforst gekommen, um das Land im Auftrag der Kirche zu unterwerfen. Der Hochfels wiederum ist eine kleine Burg bei uns in Zweiflingen, am Grafenpfad. Bei uns in Waldstein heißt es… Als die verhassten Sonnenvögte entmachtet worden sind, am Ende der Priesterkaiserzeit...nun, danach haben sich einige ihrer Nachfahren lieber von Hochfels genannt."

Travian sah seine Freundin an. Die kleine "Rondraheilige" log ja wie eine Phexjüngerin. Oder stimmte die Geschichte etwa? Mit ihren klugen blauen Augen und dem hübschen hellblonden Pagenkopf sah sie jedenfalls aus wie die Unschuld vom Lande. Der Torsteher überlegte, dann nickte er.

"Schon gut...aber Euer Kurzschwert bleibt bitte am Tor, Baroness! Tut mir leid. Befehl ist Befehl. Ihr, Herr Magister, und Ihr, Herr von Binsböckel, dürft mit Euren...äh, Standeswaffen eintreten.” 

Gisla nickte. Ihre zarte Hand ging zum Schwertgurt. Irgendwie schien sich die Schnalle nicht öffnen zu lassen. Hilfesuchend sah sie zu Travian. "Ich kriegs einfach nicht auf, verflixt."

Etwas verlegen trat Travian auf seine Weggefährtin zu, die theatralisch an der Schließe zog und zerrte. Mit einem Ruck hatte er den Gürtel geöffnet. Der junge Schnayttach-Binsböckel schluckte. So nahe war er seiner Angebeteten selten gewesen. Eigentlich noch nie. Das lief gerade falsch. Ein Ritter musste vor seiner Herzensdame niederknien und ihr den Hof machen, in keuscher, reiner Minne.

Ein betörender Geruch nach Seife, Pferd und Mädchenhaut drang an seine Nase. Er spürte die Wärme von Gislas Körper, eine blonde Haarsträhne streichelte ihm neckisch durch das Gesicht. Zu allem Überfluss legte die Zweifelfelserin auch noch ihre zarten, schlanken Hände auf die seinigen.

"Nicht so schnell, Travian!"

"Aber...ich...also..."

"Schscht", flüsterte Gisla ihrem Liebling ins Ohr. Zarter, feuchter Atemhauch kitzelte sein Ohrläppchen. "Was soll ich für dich tun? Also ich glaube nicht, dass Yolante in den Stallungen ist, bei diesem Wetter. Hier in der Nähe scheinen Koppeln zu sein. Ich hab Wiehern gehört."

Travian nickte, unfähig etwas zu sagen. Er kam sich tölpelhaft vor und übelriechend. War sein Zahnpulver duftend genug? Travia, milde Göttin, verzeih. Sie waren nicht einmal verlobt, als dass sie sich wirklich schon derart ...vertraulich benehmen durften. Gisla hatte noch nicht einmal den Ritterschlag erhalten. Aber natürlich, auf diese Weise konnten sie sich wenigstens ungestört unterhalten, vor der Höhle des Oppsteiner Drachen.

"Besser du schaust mal nach, Travian. Was die Kiste angeht, von der du mir erzählt hast... Wo genau soll die versteckt sein?"

Travian verstand. Der tote Briefkasten, von dem wiederum Glyrana ihm erzählt hatte.

Er flüsterte Gisla den geheimen Ort ins Ohr.

Das Schwertgehänge rutschte nach unten. Lächelnd fing Gisla es auf.

"Es ist schön, wenn du so zu mir sprichst", sagte sie halblaut. Sie drückte dem jungen Schlotz einen zarten Kuss auf die Wange. Der blutjunge Ritter war selig.

Ein dezentes Räuspern rief Travian ins Hier und Jetzt zurück, aus dem Vorhof von Rahjas Paradies vor das Gittertor von Schloss Oppstein.

Mit rotem Kopf sah er sich um. Das Lächeln Veneficus sprach Bände, Timoin sah ein wenig neidisch drein. Natürlich, die ganze Szene musste hochgradig unschicklich aussehen. Selbst die Wachen feixten, wenn auch mehr mit den Augen. Travia verzeih, sagte der Edelmann in Gedanken. Es war ja zum Glück nur eine "Kriegslist" gewesen. 

Die Zweifelfelserin überreichte ihr Schwert mit beiden Händen und liebreizendem Lächeln. Ein Zauber des Herrn Magister Baernfarn hatte ihr vermutlich nicht derart elegant Zutritt verschafft wie ihre eigene, garetische Contenance. Widerwillig gab auch Timoin sein Jagdmesser und den Köcher ab.

Das Trio trat ein, auf den breiten Kiesweg, der geradewegs zum Tor des Haupthauses führte. Ein kleiner Park schloss sich an, mit Büschen, die auf horasische Weise zu Figuren geschnitten waren. Der gehörnte Gott dort schien Levthan zu sein, dessen Mutter Rahja war eindeutig an ihren Rundungen zu erkennen. Gut, dass der keusche Travian die lebende Statue nicht in voller Pracht sah, dachte Gisla. Der Riese Aarmar war mit dem Pflug zugange, die pralle Erdmutter Sumu räkelte sich barbusig am Blumenbeet, dazu gesellte sich ein Einhorn und eine Traviagans, wie eine matte Ausrede ob der belhankanisch aussehenden Szenen. Einige der hoch aufragenden Sträucher besaßen eine recht einfache Geometrie und ließen es doch an Eindeutigkeit nicht vermissen.

Ein Pfau schritt mit klagendem Schrei über den Weg und schlug ein prachtvolles Rad.

Als wäre dies das geheime Stichwort eines Theaterstücks gewesen, lenkten Schritte die Gäste ab. Aus dem eigentlichen Hof trat Adran, der Hausherr, in vornehmer, pelzbesetzter Tracht. Der Baron von Oppstein hatte eine hübsche junge Dachdecker-Meisterin eingehakt und tätschelte ihr den Arm. Als er sah, dass die Besucher bereits eingetreten waren, ließ er seine Begleiterin los. Diese beeilte sich, in Richtung eines Wirtschaftsgebäudes zu verschwinden.

"Ah, Veneficus, schön dich wieder einmal zu sehen, dich und Timoin. Ebenso eure Begleiterin. Wir kennen uns, nicht wahr?" Das Lächeln des Hausherren ähnelte der heiteren, tapfer gegen jedwedes Trübsal ankämpfenden Sonne. Ganz wolkenfrei war Adrans "Himmel" nicht. Er schien sich gerade zu fragen, was genau die Ankömmlinge mit ihrem Besuch bezweckten.

Sie begrüßten sich höflich, wenn auch leicht unterkühlt. Der Lebemann von Oppstein war gutaussehend, trotz oder gerade wegen seiner graumelierten Haare. Was ihm zum Liebling der Rahja fehlte, machte die Aura von Macht und Wohlstand wieder wett.

"Verzeiht, dass ich euch nicht in meinem Audienzsaal begrüßen kann. Wie ihr hört, habe ich immer noch die Handwerker im Haus."

Tatsächlich war aus dem Innenhof ein lautes Klopfen, Hämmern und das Klappern von Brettern zu hören. Seine Hochgeboren wischte sich über seine Schaube, deren Ärmel ein weißer Fleck verunzierte. "Alles frisch gestrichen und verputzt. Ich kann Euch leider nicht bewirten, wie ich das...unter anderen Umständen...gerne getan hätte. Die Rechnung im Gasthaus geht natürlich auf mich. Ihr werdet ja sicherlich bald weiterziehen." Adran schien die aristokratische Höfischkeit selbst zu sein. Selbst wenn er seinen Gästen gerade die Tür vors Gesicht knallte, für darpatische Verhältnisse.

"Ich nehme an, du willst mit mir über Ismena Rondritsch...Rondrija sprechen, Veneficus. Das trifft sich gut. Ihr Baernfarns müsst wirklich einmal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden." Der Baron klang wie die besorgte Spektabilität einer Magierakademie oder der Vorsteher einer Kriegerschule, der sich bei den Eltern über einen besonders aufsässigen Zögling beklagte.

"Droht mir einfach mit Fehde, nein sowas. Bietet mir eine rondragefällige Schlacht vor Oppstein an, ohne Magie und Landwehr. Wie großzügig." Die Verständnislosigkeit in Adrans rundlichem, weichem, freundlichem, aber auch verschlossenen Gesicht war nicht gespielt. Was ist nur aus der heutigen Jugend geworden, schien sein Mienenspiel sagen zu wollen. Nur noch die Standeserhöhung im Kopf. 

"Du solltest deiner Nichte wirklich einmal ins Gewissen reden, Veneficus. Das unreife Mädchen scheint noch gar nicht begriffen zu haben, was Fehde bedeutet. Rede ihr ins Gewissen, bevor noch ein Unglück geschieht." Letzteres klang nun doch wie eine schlecht versteckte Drohung.

"Ich denke, dass Ismena weiß, was sie tut", sagte der Magister, mit fester Stimme. "Mit 24 Jahren ist sie gewiss kein unreifes Mädchen mehr. Vor allem hat sie Ehrgefühl und reagiert empfindlich auf Beleidigungen. Was ich gut verstehe."

"Veneficus...du bist ihr Onkel." Adran gestikulierte mit raschelndem Rüschenärmel. "Ein Duell ist das eine, eine offene Fehde etwas anderes. Möchtest du, dass deine Nichte einen schweren, nicht wieder gut zu machenden Fehler begeht?"

"Ismena Rondria kann für sich selbst sprechen", sagte der Graumagier entschieden. "Ebenso für die Familie Oppstein, der sie durch ihrer Mutter angehört."

"Mit Alrik, deinem Schwager, müsstest du auch mal ernstlich reden. Sein Verhalten bei Gießenborn finde ich vollkommen unangemessen. Ich habe ihm gerade den Fehdebrief übersandt und meinerseits eine Schlacht angeboten. Vielleicht kühlt das sein Mütchen etwas ab."

"Du hast was?" Veneficus blickte entgeistert.

Adran zog aus einem Säckchen eine Handvoll Körner hervor und streute sie dem begeisterten Pfau vor die Füße. In Windeseile eilten zwei weitere saphirblaue Rahjavögel heran und pickten das Futter auf.

"Ja, deine Nichte ist auch herzlich dazu eingeladen. Natürlich nicht zu einer Schlacht vor Oppstein, was bildet sie sich ein? Dass ich Ihr einen roten Teppich ausrolle, bis kurz vor meinen Baronsthron? Falls Sie am 15. Rahja noch nichts anderes vor hat. Vor Drachweiler stehen die Verteidiger von Recht und Ordnung zu ihrer Verfügung."

Der Magier sah den ehemaligen Geliebten seiner Schwester verdutzt an. Weniger ob dessen unverhohlener "Kriegserklärung", als ob des Umstands, dass er gerade vor dem Mann stand, um den sich die Oppsteiner Händel drehten. Es wäre ein leichtes gewesen, die wichtigste Figur auf der gegnerischen Brettseite aus dem Spiel zu nehmen. Aber irgendwie auch Spielverderberei und ehrlos, ohne eigene Fehdeerklärung. Vor allem – zu einfach, für den Geschmack des erfahrenen Graumagiers.

Veneficus grüne Augen wanderten umher. Nach und nach wurde ihm klar, dass sich die livrierten Diener um ihn herum nicht allesamt der Gartenpflege widmeten. Dort, in der Schubkarre, lag eine Armbrust, während die verhüllte Gestalt, einige Schritt daneben, seinen Rechen gerade mit einem kunstvoll verzierten Stab vertauscht hatte. Waren sie in Wahrheit Adran in die Falle gegangen, oder waren die diskret platzierten Leibwachen eine reine Vorsichtsmaßnahme?

Einen Augenblick lang herrschte die Stimmung einer Boltanrunde, bei der sich niemand so recht in die Karten blicken lassen wollte. Im Moment, kurz bevor die Dolche gezogen wurden, in irgendeinem Garether Hinterzimmer.

"Moment, ich soll Ismena zur Vernunft bringen, wie du sagst? Und dann bist du es, der sich mit ihr zur Schlacht verabredet?" Veneficus schüttelte die grauen Haare. "Und gleich noch Alrik Tsalind die Fehde erklärst?"

"Na und? Es gibt genug Fehden, in denen kein einziger Pfeil abgeschossen und kein Schwert gezogen wird." Adran verstaute sein samtenes Futtersäckchen wieder am Gürtel. "Fehden, die nur der Form halber erklärt werden."

Der Baron von Oppstein zog eine einzelne Rose zu sich heran und schnupperte daran. "Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, dass Ismena nur über eine Handvoll Bewaffnete verfügt? Irgendwelches Söldnergesindel, das schon seit Wochen in Gießenborn herumlungert, mit Duldung Alriks und meiner Tante. Mit diesem armseligen Haufen wird das Rondritscherl nicht einmal Drachweiler erobern. Das weiß sie vermutlich selbst am besten."

"Rondriwer?"

"Verzeihung, Ismena Rondrija."

"In letzter Zeit nennt sich meine Nichte Ismena Rondria, als treue Dienerin Alverans."

Adran ließ den Rosenzweig wieder zurückschnellen.

"Nun, ich gehe davon aus, dass du hierher gekommen bist, um einen Vorschlag zu unterbreiten, wie man diesen sinnlosen Zwist beenden kann. Bevor er eskaliert. Einen vernünftigen Vorschlag, meine ich. Ismena hat einen Fehler begangen, als sie mir die Fehde erklärt hat. Nun kann sie nicht mehr ohne weiteres zurückstecken, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Das verstehe ich sogar. Einem fliehenden Feind soll man goldene Brücken bauen, sagt Rohal der Weise. Lares, der will unbedingt Krieg spielen. Er ist bereits mit einer Streitmacht gen Drachweiler aufgebrochen, mit der man die Vierte Dämonenschlacht gewinnen könnte."

Der Baron schmunzelte, als ginge es um eine Treibjagd. "Aber wie es heißt es so schön. Wenn Du den Frieden Travias willst, bereite den Krieg der Rondra vor. Ein Vorschlag zur Güte. Ich bin bereit, Ismena das Edlengut Blauweiher zu überlassen, als Mitglied des Hauses Oppstein, und ihren Platz in der Erbfolge nicht anzutasten. Den Platz, der ihr zusteht. Als Zeichen des guten Willens. Dann vergessen wir das mit dieser verabredeten Schlacht. Eigentlich wollte ich Ismena nur die Augen öffnen, was die Folgen ihres Tuns angeht. Ismena und Alrik. Auch wenn ich dem Friedwanger leider nur noch das linke Auge öffnen kann, haha."

Der Magister hob die eigenen Augenbrauen. Interessant, Adran versuchte zweispännig zu fahren, sozusagen. Drohte mit Kampf und bot scheinbar einen Kompromiss an.

Das Edlengut Blauweiher, das gehörte Adrans gestürzten Dienstmann Corelian Falconor von Hochfels, Lares Bruder. Soweit Veneficus wusste, war der schöne Gutshof während des letzten Kriegs in Flammen aufgegangen. Nichtsdestotrotz würde Corelian eine solche "Lösung" als schweren Affront auffassen. Er war immerhin der Schwager Alriks, seine Gemahlin Gunelde stand in der friedwängischen Erbfolge ziemlich weit oben. Adran versuchte offenbar – Wie du mir, so ich dir – Zwietracht in den Reihen der Ismenischen zu säen.

"Ich kann Deinen Vorschlag Ismena gerne ausrichten", sagte der Baernfarn ausweichend. "Als Grundlage für, äh, weitere Verhandlungen. Aber wir sind eigentlich wegen Yolante hier."

Nun blickte Adran verdutzt.

"Travians Streitross", sagte Veneficus. "Er hätte die Stute gerne wieder. Ein überaus wertvoller Tralloper Riese, immerhin. 500 Dukaten sind keine Kleinigkeit."

Der Baron musterte den Magier erstaunt von der Seite, mit irritiertem, leicht geckenhaften Lächeln. "Wegen Yolante? Das ist jetzt nicht dein Ernst."

"Gewiss, ein Streitross ist kein Hund oder Katze. Oder ein Pfau...Auch in diesem Fall wurde die Ehre eines Adelshauses geschmälert."

"Gehen wir doch ein Stück, es ist so schönes Wetter heute." Adran wies auf den kurzen Parkweg. "Fünfhundert Golddukaten, ich bitte dich, Veneficus. Weißt du eigentlich, was so ein Tralloper Riese jeden Tag an Futter verschlingt? Dann die ständige Keilerei mit den anderen Pferden. Einen Tierheiler musste ich deswegen auch mal kommen lassen. Vom Hufschmied reden wir gar nicht. Sagt das dem jungen Herrn, dessen Name mir gerade entfallen ist."

"Wunderbar, dann müsstest du eigentlich froh sein, Yolante loszuwerden. Wenn dir das Pferd des jungen Travian von Schlotz derart auf der Tasche liegt."

"Das meine ich nicht. Ich hatte ebenfalls Auslagen, sowohl, was meinen ungetreuen Knappen als auch das Pferd angeht. Yolante wurde zusammen mit seinem Reiter ausgebildet. Im Übrigen waren es die Schlotzer, die sich nicht gemeldet haben. Der Fall ist eindeutig verjährt."

Veneficus antwortete nicht.

"Hätte ich ihm Yolante hinterher tragen sollen, nach allem, was geschehen ist? Die Briefe seiner Frau Mutter kamen sehr viel später, in unverschämtem Ton."

"Dennoch ist das Streitross nicht dein Eigentum", brummte der Magier.

"Ein echter Knappe lässt keine Schande über seinen Schwertvater kommen", grollte Adran. "Soll ich Untreue, Frechheit und üble Nachrede auch noch belohnen? Wie gesagt, das Tier musste erst einmal ausgebildet werden. Gehorsam auf Stimme, Reiten ohne Zügel, der Ritt durch das Feuer oder an einer flatternden Fahne vorbei...das alles wurde ihm erst in Oppstein beigebracht, für ein hübsches Sümmchen. Am Ende mussten wir wieder von vorne anfangen. Nachdem sein Reiter davongelaufen ist, hatte es den Namenlosen im Leib".

"Yolante ist eben treu" entfuhr es Veneficus. "Ein echtes Schlachtross duldet keinen fremden Reiter auf seinem Rücken."

Adran schnaubte. "Wir haben aus einem besseren Fohlen doch erst ein Schlachtross gemacht. Corbetto, Trampeln, das alles hat die Stute auf meiner Koppel gelernt. Abgesehen davon, dass ich das Tier Praiodane versprochen habe, als künftiger Baronin von Oppstein. Demnächst werde ich sie zur Edlen von Senwitz ernennen, somit zur rechtmäßigen Thronfolgerin. Ein passendes Geschenk, nicht wahr? Adginna darf sich gerne an diesem Präsent beteiligen...sagt ihr das, wenn ihr nach Schlotz zurückkehrt."

"Oha, das wird Travian aber gar nicht gefallen. Ebensowenig wie seiner Mutter." Veneficus verstand nicht allzu viel von der Kriegsreiterei. Corbetto, das meinte wohl das Steigen auf die Hinterbeine und Treten des Gegners. Trampeln erklärte sich von selbst. Yolante war sechs Götterläufe alt und damit wirklich noch sehr jung. Gut möglich, dass es wirklich erst in Oppstein ausgebildet worden war, was üblicherweise im dritten oder vierten Lebensjahr begann.

Irgendwie war die Situation völlig unwirklich, dachte der Magister. Als würde er gerade durch den Limbus schweben, in einem grauen Zwischenzustand. Nicht zwischen den Sphären, sondern im Niemandsland zwischen Frieden und Fehde. Waren sie wirklich vor die Höhle des Drachen geritten, um sich über ein "entwendetes" Schlachtross zu unterhalten?

Das Gespräch versickerte, wie der Oppenbach am Alboranszahn, kurz vor Zaberg und den Feengrotten.

Timoin schien derweil die Stärken und Schwächen des Schlosses zu erkunden, mit den Augen. Adran wandte sich wieder der Knappin zu.

"Gisla von Zweifelfels, habe ich den Namen richtig verstanden? Du bist die Knappin Glyranas von Mersingen?"

"So ist es, Euer Hochgeboren!"

"Kompliment....Immerhin bist du gerade bis in die Burg eurer Feinde vorgedrungen." Adran musterte die Zweifelfelserin, ebenso amüsiert wie prüfend. 

"Die Knappin steht unter meinem Schutz", sagte der Baernfarn tonlos.

"Nicht doch. Das tapfere Fräulein von Zweifelfels steht unter meinem Schutz" Adran lachte. "Ehre, wem Ehre gebührt. Wir kennen uns ja vom Turnier zu Gernatsborn. Mehr noch, ihr Mut soll belohnt werden. Kann ich Dir einen Wunsch erfüllen? Als kleine Wiedergutmachung für meinen Fauxpas im Burghof damals?"

Gisla überlegte. Sie wollte Lares sprechen, das hieß, eigentlich wollte sie es ja nicht. Der schien ohnehin in Richtung Drachweiler aufgebrochen zu sein. 

"Gewiss, Herr. Ich… also, das ist mir jetzt ein wenig unangenehm."

"Sprich frei heraus.  Deiner Herrin ist ja auch wenig peinlich, haha."

"Nun, Euer Hochgeboren...der Ritt war lang. Also. Ich müsste unbedingt mal für kleine Mädchen..."

Adran stutzte. Dann lachte er erneut los. Sein Gesichtsausdruck wurde gleich darauf wieder ungnädig, als stünde Glyrana höchstselbst vor ihm.

Er wies um sich. "Wusstest Du, dass es im Horaskaiserlichen Palast Sangreal keine einzige Latrine geben soll? Die Höflinge erleichtern sich angeblich hinter Vorhängen oder Hecken. Bitte sehr."

Ein leicht pervalischer Glanz trat in Adrans Augen. Er schien nun wirklich Gislas Herrin in seiner Gegenüber zu erblicken.

"Adran, du wirst doch wenigstens einen Pinkelpagen haben", seufzte Veneficus. 

Gisla schluckte. Unter normalen Umständen wäre das hier eine ungeheure Demütigung gewesen. Tatsächlich hatte Adran ihr, ohne es zu wissen, gerade einen großen Gefallen getan.

Der Herr von Berlînghan-Oppstein-Mersingen wedelte ungeduldig mit der Hand. "Geh schon. Du musst dich ja nicht gleich hinter dem Einhorn dort verstecken."

Der Oppsteiner wandte sich dem Magier und dem jungen Binsböckel zu. "Ich denke, wir haben mehr zu besprechen als die Sache mit Yolante. Niemand will, dass es am 15.Rahja wirklich zu einer zweiten Schlacht von Drachweiler kommt, oder sehe ich das falsch? Ein Sieg über meine Feinde reicht mir völlig."

Die Knappin eilte derweil davon, am Wappentier ihres Hauses vorbei.

"Mit dem Titel einer Edlen von Blauweiher wird sich Ismena keinesfalls zufrieden geben. Wenn, dann gebührt Ihr der Titel einer Edlen von Senwitz, als Thronerbin", hörte sie Veneficus sagen.

"Ach, hat sie endlich gemerkt, was die Oppsteiner Tradition verlangt? Stattdessen streckt sie Ihre Hand nach Drachweiler aus? Sie wird sich gehörig die Finger verbrennen, so viel steht fest. "

Die Adeligen entfernten sich.

Gisla war für einen Moment allein. Selbst die bewaffneten Diener beachteten sie kaum, sondern folgten, in einigem Abstand, den Disputanten.

Die Garetierin spähte um sich, scheinbar auf der Suche nach dem passenden Ort. Nach wenigen Augenblicken hatte sie ihn gefunden - ein kleines Heckenlabyrinth am Rande des Parks. Zumindest hatte sie das Wort, dass Travian aufgeregt genuschelt hatte, so verstanden: Irrgarten.

Auf Umwegen pirschte sie sich an. Niemand schien sie zu beachten, nicht einmal die Pfauen.

Die Beschreibung des toten Briefkastens war nicht gerade üppig. Hier also sollte irgendwo die Kiste versteckt sein, die Travian an Glyrana aushändigen sollte. Das Herz der Knappin schlug schneller. Sie fühlte sich wie eine Spionin, vielleicht auch wie eine Novizin der Phexkirche. Mal etwas Neues, auch wenn derartiges Treiben ehrlos war. Ehrlos und unrondrianisch. Sie tat es Travian zuliebe, und natürlich für ihre Schwertmutter. Dass nicht sie den Auftrag erhalten hatte, das empfand sie beinahe schon wieder als Kompliment. Man traute ihr füchsisches Verhalten nicht zu?

Bei der Heiligen Henrica, sie würde Travian die Kiste bringen. Ein Irrgarten war als Versteck sicherlich nicht schlecht, die Hecken waren mannshoch und boten einen hervorragenden Sichtschutz.

Wie eine Vinsalter Hofdame huschte Gisla hinein. Was sich in der Schatulle befinden sollte, das hatte Tavian ihr nicht anvertraut. Angeblich wusste er es selbst nicht. Nur dass es von immenser Wichtigkeit für das Haus Mersingen sein sollte. Es wäre besser, die Kiste würde ungeöffnet verbrannt, als dass sie in Adrans Besitz blieb. Das klang nun wirklich spannend. Offenbar hatten die Mersingens einen echten Spion im Oppsteiner Hof sitzen. Oder eine Spionin.

Als Knappin hatte Gisla ihr Nähzeug immer dabei, um bei Bedarf eine Hose oder ein Wams flicken zu können. Sie zog das Garn hervor, band es am Eingang fest und entrollte die Schnur, während sie sie langsam abrollte. Schließlich wollte sie nachher wieder zurückfinden. Das Labyrinth befand sich am Rand des Schlossgeländes, so dass sie ihre Beute womöglich einfach nach draußen schieben konnte. Die Lage des Toten Briefkastens war gut gewählt.

Sie dachte an den Kuss, den sie Travian gegeben hatte. Nun durfte sie ihm bereits einen Liebesdienst erweisen, mitten im Wonnemonat Rahja. Es war alles zu schön, um wahr zu sein! Auch wenn sie schlecht gekämmt gewesen war und sicher fürchterlich nach Pferd gerochen hatte. Dennoch...

So also fühlte sich die wahre Minne an! Am liebsten hätte sie jetzt mit dem süßen Schlotzer Versteck gespielt, im geheimen Garten, der sicherlich für amouröse Zwecke gebaut war. Ein Garten der Liebe.

Gisla rief sich zur Ordnung. Konzentrier dich. Sie irrte gerade planlos hin und her. Prompt landete sie in einer Sackgasse. Zum Glück war der Irrgarten weder besonders groß noch besonders schwer zu durchschauen. Im Zentrum befand sich ein kleiner, kiesbestreuter Platz, auf dem ein steinerner Podest mit drei Treppenstufen stand.

Sie ging nach oben, für den Rundumblick über die Hecken hinweg. Ein Oppsteiner Fronbauer, der in der Nähe den Rasen vertikutierte, sah sie verlegen an, sonst beachtete sie niemand. In der Ferne gestikulierte und feilschte der Baron mit Herrn von Baernfarn, so sah es zumindest aus.

Die Kiste konnte überall und nirgends sein. Die Hecken wuchsen viel zu dicht und bodennah, um sie unauffällig hinein zu schieben. Hatte Jemand den Schatz vergraben? Auf den ersten Blick sah sie keine auffallenden Verfärbungen oder verdächtigen Erdaushub.

Blieb das Podest selbst. Gisla stieg hinab und tastete über die Steine. Kein Geheimfach war erkennbar, auch die Stufen bewegten sich nicht. Die drei Ästchen dort, die aus der Erde ragten, sollten die eine Anspielung auf das Mersinger Pfahlwappen sein? Nein, die schienen zufällig unter den Kies gepflügt worden zu sein.

Gisla versuchte, sich in den Spion oder die Spionin hinein zu versetzen. Es war keine Überraschung gewesen, dass Travian der Zugang ins Schloss verweigert worden war. Selbst wenn er das Behältnis fand, musste er es irgendwie ungesehen nach draußen tragen, an den Wachen vorbei. Nach draußen, hm. Die Kiste befand sich an einer Stelle, die von außen her zugänglich war !?

Sie stieg noch einmal auf die Podesttreppe. Tatsächlich, die eine Heckenseite stieß geradewegs an die Außenmauer an, die sehr niedrig war und von einem prachtvollen, schmiedeeisernen Gitterzaun gekrönt wurde. Die Gitter waren eng, die Spitzen sahen wenig einladend aus. Doch halt, da vorne war ein Abschnitt zwischen zwei Pfeilern, in denen noch kein Zaun aufragte. Das sah doch schon mal vielversprechend aus.

Die Zweifelfelserin folgte den Faden und kehrte zum Ausgang des Labyrinths zurück, gerade rechtzeitig, um ihren beiden Gefährten zu begegnen, die mißmutig zum Tor zurückkehrten.

"Grüßt mir Adginna in ihrer Trollburg...sie soll ihrem verklemmten Muttersöhnchen das nächste Mal lieber ein Pony schenken!" rief ihnen Adran hinterher. "Damit er das Reiten lernt."

"Ich habe das Liebliche Feld immer gemocht", sagte Veneficus. "Zumindest die Lebensart dort. Aber irgendwie scheint Adran von Horaskaiser-Wahnsinn ergriffen worden zu sein. Wie bei den alten Bosparaniern."

"Oder wie bei Khadan Firdayon, dem Drächling." Timoin sprach das Wort wie Schwächling aus. 

“Wie kommst du denn darauf?”

"Beide haben sie einen roten Drachen im Wappen”, sagte der schwarzgelockte Jäger. Er war sichtlich stolz auf sein heraldisches Wissen, das ihm sein Lehrmeister Odilon beigebracht hatte.

“Adran sieht sich eher als ein von Berlînghan, die sind noch älter als die Firdayons.  Ah, unsere gute Gisla hat sich ins Labyrinth zurückgezogen." Der Magier lächelte, blickte dabei aber fragend.

Gisla reckte ihr Kinn. "Vom Podest aus hat man einen guten Überblick über den Schlossgarten – und sieht die Schwachstellen in der Mauer."

"Du suchst ebenfalls die Schwächen in der Verteidigung? Sehr gut. Das Schloss ist wehrhafter, als ich gedacht habe. Wenn die Fenster im Untergeschoss etwas kleiner wären...am besten Schießscharten…" 

Gisla nahm ihr Schwert entgegen, dann traten sie wieder vor das Schloss. Die Waldschützen waren zum Oppenbach gezogen, um ihre Pferde zu tränken. Dem unvoreingenommenen Blick hätte sich ein Bild vollkommenen Friedens geboten.

Timoin schob sich das Jagdmesser wieder in den Gürtel und warf sich den Köcher über die Schulter. “Warum stürmen wir diesen Protzbau nicht einfach, Veneficus?”

 “Weil es noch keine Fehdeerklärung des Hauses Schlotz an Adran gibt.” Veneficus stützte sich auf seinen Stab. "Gäbe es die, wären wir niemals ohne Kampf bis nach Markt Oppstein gekommen. Ein Detail ist mir aufgefallen. Adran glaubt, dass sich Adginna in Schlotz aufhält. Aber sie weilt längst in Gießenborn, im Feldlager. Hm. Heute ist der 10. Rahja. Wenn ein Fehdebrief zugestellt wird, muss man dem Gegner drei Tage Zeit lassen, sich zu rüsten. Die Friedenspflicht gilt allerdings auch umgekehrt. Nun, Adran wird davon ausgehen, dass die Schlotzer und die Baernfarns nicht mehr genügend Zeit haben werden, um in den Kampf einzugreifen. Dass wir das überhaupt nicht wollen. Er scheint wirklich zu glauben, dass Ismena nur über wenige Bewaffnete verfügt. Dass sie den Mund zu voll genommen hat und zurückweichen wird."

"Hast du die Fehdebriefe dabei?"

"Ja...ich wollte sie Adran nur nicht zwischen seinen Tulpen, Rosen und Narzissen überreichen." Veneficus senkte die Stimme. "Je später unser werter Herr Gegner sie zugestellt bekommt, desto besser. Ich würde sagen, wir gehen erstmal ins Gasthaus. Auf unsere Kosten. Danach überreichen wir die Fehderklärungen und reiten Richtung Drachweiler. Auf Umwegen, versteht sich."

 

Gisla hatte derweil nach dem Schlotzer gesucht, der am leise murmelnden Oppenbach stand und Grashalme ins Wasser warf. Er schien immer noch wütend zu sein ob seiner Zurückweisung. Vielleicht kämpfte er gerade auch mit Erinnerungen an seine Knappenzeit in Oppstein.

"Und?" fragte Travian gespannt. "Hast du sie?"

Was erwartete er – dass sie die Kiste unter dem Waffenrock versteckt hielt?

"Ich erklär dir gleich alles." Für einen Moment genoss Gisla einfach nur die milde Frühsommerluft und die sanfte Sonne. Bienen summten umher, zwei taumelnde Schmetterlinge warben umeinander.

"Wir schauen uns nochmal nach Yolante um", teilte die Zweifelsfelserin den Waldschützen mit, die es sich auf der Wiese gemütlich gemacht hatten.

Seit an Seit mit Travian ging Gisla zu der Stelle, wo noch ein Gitter auf der Mauer fehlte. Die Zweifelfelserin erstattete kurz Bericht, was sie im Schloss in Erfahrung gebracht hatten.

"Adran will Yolante...seiner Tochter schenken...die mit den Levthanshörnern auf der Schulter?" Der Ritter blickte ehrlich empört. "Mein Streitross ist doch...ist doch keine Rahjastute. Yolante ist ein traviagefälliges Pferd!"

Gisla hätte ihren Bewunderer gerne mit der Frage geneckt, was ein traviagefälliges Pferd ausmachte – vielleicht die Fähigkeit, allein in den Stall zurückzufinden?. Aber sie verkniff sich das lieber. In Fragen des Glaubens duldete Travian keine Scherze.

Sie hatte ohnehin Besseres zu tun. Die Knappin sah sich um, nahm im Moment aber keine lästigen Zeugen wahr. Sie wollte ihr Kurzschwert zücken, um damit in der Hecke herumzustochern, aber Travian hielt sie davon ab. "Da drüben."

Mit einem Rötelstift war ein kleines, krummes Kreuz auf einen der steinernen Gitterpfosten gemalt worden. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Handwerkerzeichen.

Travian blickte sich ebenfalls um. Glyrana hatte ihm auch noch von einem Sicherheitszeichen berichtet, als Hinweis, dass das Versteck noch nicht ausgehoben und womöglich eine Falle gestellt worden war. Tatsächlich, vor dem Mäuerchen lagen drei Steine, fein säuberlich nebeneinander gereiht.

"Das mit dem Zeichen hättest du mir ruhig sagen können, bevor ich da drin herumgeirrt bin."

"Es musste schnell gehen." Nun zog Travian blank und stieß das Langschwert neben das unscheinbare Kreuzchen. Nach wenigen Augenblicken war ein dumpfes Tock zu hören. Der Ritter sah sich noch einmal misstrauisch um, dann schob er die Zweige der Hecke beiseite. Tatsächlich, dort lag die Kiste, leicht krumm, wie ein Vogelnest.

Der Schlotzer zog sie heraus. Sie war recht schwer für ihre geringe Größe, Blei schien aber nicht der Inhalt zu sein. Ein dumpfes Klockklock und Klappern war zu hören.

Die Kiste war gesiegelt, stellte Travian nun fest, mit Hilfe zweier rotgelber Schnüre, die den Deckel mit dem Kasten verbanden, und mittels Wachs festgeklebt waren, jeweils oben wie unten. Travian musste an einen kleinen Reliquienschrein denken, vielleicht aus der Burg, und erschrak: Beging er gerade einen Frevel?

Er hielt die Siegel in die Sonne. Sie schienen einen geflügelten Stier zu zeigen. Der Ortliebstier? Am Rand waren umlaufende Buchstaben zu sehen." "F...D...E...A"

"Fürstlich-Darpatische Expeditionsabteilung." Gisla pfiff leise durch ihre schönen weißen Zähne. "Das scheint wirklich was Geheimes zu sein."

"Den fürstlichen Geheimdienst, den gibt es doch schon lange nicht mehr." Travian dachte angestrengt nach. Gisla, die manchmal etwas altklug wirkte, wusste es natürlich wieder am besten.

"Thahira von Birkenbruch...Adrans verschwundene Gemahlin, die war doch die letzte Präfektin der FDEA. Also deren Vorsteherin. Sicher ist die Kiste von ihr."

"Was in Travias Namen mag da drin sein?"

"Wahrscheinlich Beweismittel gegen ihren schurkischen Gemahl", schlug Gisla vor.

"Klingt aber nicht so, als ob Pergamente da drin wären...und warum soll die Kiste eher verbrannt als geöffnet werden?" Travian schüttelte den Inhalt durch.

"Eigentlich wollten wir ja Yolante suchen", sagte Gisla.

"Du hast Recht". Der Binsböckel wickelte den Fund in seinen Mantel, und linste nochmal über seine Schulter. "Danke", flüsterte er. Gisla war wirklich eine Freundin, mit der man Pferde stehlen konnte.

 

Wenig später bot sich Gisla und Travian eine traumhafte Szene, wie auf einem romantischen Ölgemälde. Der ehemalige Knappe des Herrn von Oppstein hatte sich erinnert, wo dessen edlen Pferde grasten, an einem wunderbar milden Frühlingstag wie diesen. Die ausgedehnte Koppel erstreckte sich auf den Weiden unterhalb der Burg, oder besser gesagt dem Wenigen, was der Steinbedarf der Oppsteiner und Satinavs Gehörn von ihr übrig gelassen hatten. Bis auf den rußgeschwärzten, eingestürzten Überrest des Bergfrieds war das nicht viel.

 Rotgolden schien die Sonne auf das leicht gewellte, mit Büschen und Baumgruppen bewachsene Grasland, im heiligen Monat der Pferdegöttin. Sogar einen Unterstand gönnte Adran seinen Schlachtrössern und Dienstpferden, deren Zahl geringer zu sein schien als sonst. Offenbar waren die meisten Reiter nach Drachweiler abgezogen worden. Der aus Holz gezimmerte Offenstall, mit strohgedecktem Vordach und Heuraufe, war größer als manche Bauernkate. Er besaß eine Tränke, die über Deicheln befüllt wurde - ausgehöhlte Baumstämme, die als Wasserleitung Richtung Oppenbach führten: ein Luxus, der an das Palastleben eines Novadischeichs erinnerte.

Rahjas Lieblingstiere tummelten sich auf der anderen Seite der Koppel, und sahen nur ab und an auf. Es dauerte eine Weile, bis Travian seine Yolante entdeckt hatte - oder besser gesagt, seine Stute erblickte ihn. Die Tralloper Riesin stutzte, reagierte aber nicht.

Travian pfiff zweimal durch die Finger, wie er es früher getan hatte, um seine Mitstreiterin anzulocken. 

Ein erst unsicheres, dann freudiges Wiehern war zu hören...wenig später galoppierte das Schlachtross auch schon heran, mit wehender Mähne und gehobenem Schweif. Dumpf hallte der Hufschlag über die schon ziemlich abgegraste Weide.

Gisla war gerührt, als sie sah, wie Travians Gesicht die Nüstern seines Reittieres berührte, und sich beide liebkosten. Sie kannte Adran nicht wirklich - aber einem künftigen Ritter seine vierbeinige Gefährtin wegzunehmen, war grausam. Um so freudiger war nun das Wiedersehen. Ein herber Pferdegeruch breitete sich von Yolante her aus. Gut behandelt wurde sie, das Fell glänzte.

 

Die junge Zweifelfels sah sich um. Auf dem Feld dort wurde gerade Unkraut gerupft, ein Karren mit Bruchsteinen rumpelte vom Burgberg herunter. Die Bauern würden sie nicht behelligen. Ansonsten war niemand in der Nähe. Dennoch, das konnte sich rasch  ändern.

Yolante trug nur ein grobes Stallhalfter, es würde zumindest einen Strick brauchen, um sie von der Koppel wegzuführen. 

Gisla merkte, dass sie noch immer die Klapperkiste in Händen hielt, notdürftig unter ihrem Reisemantel verborgen. Allzu geschickt stellte sie sich bei dieser zweiten Mission nicht an.

Die Garetierin schalt sich leichtsinnig. Mit den Karten ihrer Familie stand es derzeit nicht zum Besten. Mit Landvögtin Junivera von Rathsamshausen zu Eslamsgrund und Leomar von Zweifelfels waren gleich zwei Verwandte mit dem Großfürstlichen Fuchsrudel geritten, geradewegs in den Untergang. Junivera war in der Schlacht im Tal der Kaiser geblieben, auf Seiten der Verfemten, Onkel Leomar nur um Haaresbreite dem Henker entkommen, als angeblicher Rädelsführer.

Nun war seine Nichte im Begriff, einen Sichelhager Baron zu bestehlen, sogar zwiefach. Was immer es mit diesem ominösen Kistchen auf sich hatte - Pferdediebstahl war kein geringes Vergehen, auch und gerade in Adelskreisen nicht. Aufhängen, wie es einigen der Sigmananhängern ergangen war, nun, das würde man sie nicht. Aber mit der Ehre wäre es dann endgültig vorbei...

Als hätte sie das Unglück mit diesem Gedanken selbst heraufbeschworen, ertönte neben ihr eine rauhe Frauenstimme:

"Verzeiht, junge Dame, darf ich fragen, was Ihr da unter Eurem Mantel habt?"

Erschrocken drehte sich Gisla zur Seite, und auch Travian linste über Yolantes Kopf hinweg. 

Eine Frau mittleren Alters, vielleicht 40 oder 45 Götterläufe alt, mit schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen lehnte am Gatter, ein Strohhalm zwischen den Zähnen. Dass sie das vermutlich schon die ganze Zeit über getan hatte, völlig unbemerkt, war das eigentlich Erschreckende. Ihr prall geschnürtes Mieder und die hautenge Lederhose verliehen ihr etwas Sinnliches, auch wenn sie für eine echte Schönheit etwas zu untersetzt war, mit breitem, satteltauglichem Gesäß: Eine verhinderte Amazone, die für Travians Geschmack einen Hauch zu männlich wirkte. Vor allem roch sie nach Pferd, kaum weniger als Yolante. 

 "Selbst wenn ich irgendetwas unter diesem Mantel verborgen hätte" - Gisla versuchte arrogant zu klingen  - "Wer möchte mir das verbieten? Vor allem, wer möchte das wissen?"

Die Dunkelhaarige blickte die jungen Aristokraten seltsam an - nicht respektlos, eher enttäuscht.

"Ich hab schon irgendwie geahnt, dass sie keine Füchse schicken werden..."

 Gisla begann zu schwitzen, trotz der milden Rahjaluft. Füchse? Was hatte diese Anspielung auf Füchse zu bedeuten? Die Knappin wurde nervös. Sie blickte sich erneut um. Wider Erwarten eilten keine Oppsteiner Gardisten herbei, um sie in den Kerker zu werfen.

 

"Verzeiht, Baroness. Baroness, so sagt man doch? Mein Name ist Lanore...ich bin Adrans Bereiterin..."

"B...Beraterin?" fragte Travian unschuldig.

"Bereiterin..."

"Ver...stehe..." Dem jungen Schlotzer huschte ein verlegenes Grinsen über das Gesicht, ob der Doppeldeutigkeit, die in diesen Worten mitschwang. Gisla war besorgter. Gleich würden die Schergen des Barons aus dem Unterstand stürmen, die sich dort sicher versteckt hatten. Auf die Idee, dass Travian versuchen würde, sein Pferd zu befreien, auf die konnte einer mit etwas Grips durchaus kommen...

 Nichts dergleichen geschah.

"Ihr könnt mich auch Stallmeisterin nennen, falls Euch das lieber ist." Lanore ließ den Strohhalm auf den Boden fallen und lächelte ebenfalls sinnlich.  "Schon klar, was ihr vorhabt. Da unten im Stall findet ihr zwei Sättel und Zaumzeug.

Die Knappin verstand als erste: "Du willst uns helfen?"

"Nein, ich will mir helfen. Falls ihr geschnappt werdet, bin ich ebenfalls dran. Mein Herr ist nicht dumm. Früher oder später wird er merken, wer Gelegenheit hatte, ihm das Schlüsselchen zu stehlen."

"Du sprichst in Rätseln?"

"Das Schlüsselchen, das er unter seinem Kopfkissen versteckt hat.”

"Du hast die Kiste in den Toten Briefkasten gestellt ?!!" Gislas blaue Augen leuchteten bei dieser Erkenntnis auf. "Als Mersinger Spionin?"

"Schtt. Nicht so laut, junge Herrin." Lanore sah sich nun ebenfalls um. Aber nur die Pferde lauschten und spähten in ihre Richtung, mit hochgereckten Köpfen und aufgestellten Ohren. “Ihr seid von Stand, ich nicht.” 

Travian blickte "Adrans Bereiterin" verächtlich an - als würde am Zaun gerade eine Perricumer Hafendirne auf Freier warten. "Wie kann man nur seinen Herren verraten? Für Gold nehme ich an. Und dann...dann auch noch auf...auf derartige Weise Verrat üben!"

"Adran hat diese Weise gefallen, glaubt es mir." Die Bereiterin schmunzelte kokett. "Ihr seid noch jung, Herr Travian. Irgendwann werdet ihr begreifen, dass Niedergeborene nicht mit Handkuss gefragt werden. Wenn es um solche Dinge geht."

"Sei bedankt für deine Hilfe. Aber zwei Pferde brauchen wir gar nicht. Ich habe mein eigenes Reittier dabei." Das kam von Gisla, die eine aufdringliche, wild summende Bremse verscheuchte. "Außerdem sind wir keine Pferdediebe, sondern holen lediglich Travians Eigentum zurück."

"Daran zweifele ich nicht. Das zweite Pferd ist für mich." 

 

"Du willst uns begleiten? Dann bist du die Diebin."

Lanore seufzte schuldbewusst: "Was bleibt mir übrig? Wenn Lares herausfindet....dass Adran und ich...der Herr erzählt ständig, wie ähnlich ich seiner Gemahlin Thahira sehen würde...Der Herr von Hochfels schaut mich jetzt schon merkwürdig an. Falls der Rest auch noch herauskommt..." 

"Die Menschen lieben den Verrat und hassen den Verräter", stellte Gisla fest und klang altklug. "Hm. Dein Barnfani ist doch jetzt frei, Travian? Ich würde sagen, wir alle treffen uns am Karrenweg nach Drachweiler. In einem halben Wassermaß? Ich gehe zum Gasthaus und sage unseren Zechprellern bescheid." Gisla lächelte. So langsam gefiel ihr das kleine Abenteuer.

"Einen Moment." Travian riss sich von Yolante los.  Er schien misstrauischer zu sein. "Du hast einen Schlüssel für die Kiste, Lanore? Dann weiß Du, was drin ist???”

Die Bereiterin schüttelte erschrocken den Kopf. "Praios bewahre. Ich kenne meine Grenzen, Herr. Nein, den Schlüssel habe ich nur mitgenommen, um das Kistchen vertauschen zu können. Mit einer anderen Kiste. Damit keiner was merkt. Sofort merkt, meine ich. " Lanore war sichtlich stolz auf ihre Raffinesse. "Ich hab die echte Kiste versiegelt, vorsichtshalber...mit Thahiras altem Siegel. Dann hab ich Adran einen ähnlichen Schlüssel unters Kopfkissen gelegt. Aber ich fürchte, auf Dauer täuschen kann ich Seine Hochgeboren nicht."

"Wer sagt uns, dass du auf unserer Seite bist?" fragte Travian. In der Ferne krähte ein Hahn. Irgendein Hofhund bellte. 

"Ich hätte euch längst verraten können...aber.... ich hätte schon gedacht...also...das ihr bei Nacht zum Versteck schleicht. Nicht so auffällig. Ich hab euch vorhin gesehen.  Wahrscheinlich war ich nicht die einzige."

"Wir sind nur auf der Durchreise", brummte der Baronet von Schlotz. "Da haben wir es ein bisschen eilig."

"Nun, ich möchte Oppstein auch verlassen. So schnell wie möglich." Lanores Blick wurde immer unruhiger.

"Gut", sagte Gisla. "Zuvor hätten wir gerne den Schlüssel. Den echten."

"Aber..."

"Nichts aber. Sonst muss G...der Empfänger das Kistchen aufbrechen."

 

In der Hohenwaldklamm, Feuertag, 14. Rahja 1045 BF. Mittags

 

"Und wandere ich auch im finsteren Tal,

so fürchte ich kein Unglück.

Die Herrin Travia ist meine Hirtin.

Sie führt ihre Gänse auf die grüne Weide..."

 

Das Gebet des Leutingers wurde jäh unterbrochen. Severin Rammhölzel, im Moment Befehliger der Friedwanger Burgwachen, fluchte, als er mit dem rechten Fuß ausglitt. Pflatsch. Sein Stiefel landete in einem kleinen, glatten Wasserloch, das sich neben der großen Gumpe gebildet hatte. Zum Glück hatte er sein Schuhwerk ausreichend gefettet, bevor er in den ewigen Halbschatten der Klamm hinabgestiegen war.

Der kahlköpfige Befehliger krallte sich in ein Stück grün bemoostes Schiefergestein und arbeitete sich vorsichtig aus dieser Trittfalle heraus.

Das Rauschen der Gieße hörte er kaum noch, nach mehreren, mühseligen Stunden in der Schlucht. Das Klackern des Gerölls war das fast einzige Geräusch, das noch an seine Wahrnehmung drang. Ein Bergfalke schrie. Einen Moment starrte Severin auf das Hexenzeichen, das irgendeine verruchte Hand im Fels hinterlassen hatte. Die Schlucht war verflucht, kein Zweifel, überall irrten unruhige Geister umher. Sie sollten nicht hier sein, die Toten nicht und die Lebenden schon gar nicht.

Der untere Rand seines Gambesons hatte sich mit eiskaltem Wasser vollgesogen, der silberrote Waffenrock sowieso. Der Kinnriemen des breitkrempigen, rundlichen Sichelhager Eisenhuts baumelte hin und her, rotbräunlich gefärbt und steif vom getrockneten Blut vergangenen Schlachten. Das smaragdfarbene Grün des Krammholz leuchtete über ihren Köpfen, neben einem schmalen, blauen Streifen Himmel. Krammholz, so hatte ihr Wegführer, ein buckliger Bauerntölpel aus dem Klosterdorf Alveranskuppen, den Bergwald genannt. Oger, so riefen des Leutingers Waffengefährten den riesenhaften Kerl, der trotz seines verwachsenen Leibs mehr als zwei Schritt in die Höhe aufragte. 

Der stoppelbärtige, bullige Anführer blickte zurück, dorthin, wo sich seine Leute mühsam einen Weg bachabwärts bahnten, über immer neue Schrägen und Steinstufen hinweg. Dort, wo sich das Bachwasser teilweise in steinernen Wannen und Trögen sammelte, den Gumpen. Vor einer halben Stunde erst war ein Eisvogel in ein solches Wasserloch getaucht, um sich irgendein Fischlein zu fangen. 

Die kriegskundlich hesindiale Umgehung des Freundschaftspasses – zuletzt war dieser Streich eine regelrechte Besessenheit seines hochgeborenen Herrn Alrik geworden. Alrik Tsalind von Friedwang. Der Streunerbaron wollte offenbar beweisen, dass phexische List korgefälliger Rohheit vorzuziehen waren. Also bahnten sich seine Burgwachen einen Schleichweg über aufgetürmtes Geröll und bleiche Baumstämme hinweg, die von der letzten Flut angespült worden waren. Stigman hatte sich bereits den Fuß verstaucht und zurückgeschickt werden müssen. Ausgerechnet der beste Armbruster, den sie in der Wache hatten, nach drei Monden kläglicher Übung. Alle anderen waren Stümper, nach Jahren ohne "seelenlose, rondralästerliche Schießgeräte". 

Zu Beginn des Bergabenteuers hatte es sogar Treppenstufen gegeben, krumm gehauen in den schwarzen Stein der Sichelberge. Beim Kloster Alveranskuppen hatten sie windungsreich in die Tiefe geführt, wie in eine Zwergenbinge.

Die Aarmaris hatten gebockt und geschnaubt – Tiere waren wirklich vernünftiger als Menschen. Die Friedwangen hatten erst einmal einen Kundschafter ausgesandt, der davon berichtete, dass die untere Wilde Geiß für Hufeisenträger passierbar war. So einigermaßen. Sogar die versprochene Rammholzer Verstärkung hatten sie angetroffen, am Treffpunkt unweit des großen Steinmanderls.

Severin schob den schweren Eisenhut zurück, der ihm schon seit Stunden auf die Kopfhaube und die Glatze drückte. Drachweiler im Handstreich nehmen, hinter dem Rücken des Feindes. Das klang gut, phexisch gut. Ein bisschen zu gut, dafür, dass sie nur ein Halbbanner stark waren. Dazu das knappe Dutzend Bewaffnete unter schwarzen Kapuzenmänteln, das ihnen Vogt Traviahold geschickt hatte. War das die berüchtigte Schwarze Lanze, deren Wildniserfahrung legendär sein sollte?

Die schwarzgerüstete Amazone, die den Rammholzern vorneweg klirrte, ihren Warunker im Schlepptau, hieß Sokramora von Schwarzenborn, soviel wusste der Leutinger gerade noch. Trotz seines Familiennamens – Rammhölzel – hatte er wenig Ahnung von der östlichen Nachbarbaronie. Schluchten sollte es dort reichlich geben, die Namen wie Totenschlucht, Heiligenschlucht oder Sünderschlucht trugen. Von einer ertragreichen Blutsteinmine hatte er ebenfalls gehört, in der einst der Rötel gebrochen worden war. Rote Farbe, mit der die Badilakaner von Alveranskuppen ihre kostbaren Handschriften schmückten. Im Friedwängischen waren es die Goblins, die ab und an ein paar Brocken des klumpigen, weinfarbenen Gesteins ablieferten, im Tausch für alles Mögliche.

Und natürlich hatte Severin von der verwunschenen Golgaritenfestung Boronia gehört, die im Jahr des Wehrheimer Stadtverderbens zerstört worden war.

Ansonsten war Severin in Schneiß aufgewachsen, wie seine oberste Befehligerin und Jugendfreundin Gesine, ein paar Bauernhöfe weiter. Das Waldbauerndörfchen im Schratenwald lag so ziemlich am anderen Ende der Baronie Friedwang. Die Familienlegende behauptete, dass die Vorfahren aus Rammholz stammten, was Wunder bei dem Namen. Allerdings war Herdfried schon der schaurige Urwald am Jargel wie das Ende der Welt vorgekommen. Wie musste es da erst in der alten Heimat aussehen, hoch oben im nebligen Bergwald? Wo sich eine Burgwache im Winter einmal gegenseitig aufgefressen haben sollte?

 

Rammholz. Der Name hatte bereits jedem traviafürchtigen Friedwangen die Nackenhaare aufgestellt, als sich auf der anderen Seite der Berge noch keine Schattenwesen aus den Niederhöllen getummelt hatten.

Anders als Gesine oder "Gesche", die noch immer rondrianische Vorstellungen vom Krieg hegte und mancher seiner Untergebenen, der heutzutage lieber zum "ehrlichen" Kor betete, hielt es Severin am ehesten mit Praios.

Mit Praios, dem Herrn der Ordnung, unter dem Feldgeschrei, Chaos, Irrung und Verwirrung gar nicht erst entstand. Severin hatte schon einige hochgeborene Herren erlebt und überlebt. Spätestens, wenns ums Kämpfen ging, waren sie alles alveransschreiende Idioten gewesen. Bis auf die Irre Tsalinde natürlich. Baron Alriks Mutter war völlig verrückt gewesen. Hatte zur Ewigjungen Tsa gebetet und kaum weniger Bauern übers Nirgendmeer geschickt, in endlosen Fehden mit den Nachbarn, als ihr wahnsinniger Vormund und Nachfolger Gernot. Nun hieß der große Feldherr Alrik Tsalind. Immerhin, der Einäugige hatte schon in ein paar echten Schlachten gekämpft, das war nicht selbstverständlich bei den Rüschenträgern.

Alriks größte Heldentat, das war der Kleine Krieg im Rücken des Feindes gewesen, im Bethanierkrieg. Mit der Freischar der Rächer Rondras, bei der Rückereroberung des Arvepasses. Seitdem hielt der Fuchs von Friedwang sich sich für einen Experten für Umgehungsmanöver, zwecks Überraschung des Feindes. Dem eitlen Ruhm von damals verdankte Seine Hochgeboren es wohl, dass er vor einigen Götterläufen nicht hochkant vom Thron gestoßen worden war, als vermeintlicher oder echter Hochstapler. Die Freischar war fast vollkommen aufgerieben worden, zusammen mit einigen Verrückten aus Schlotz. Der Glückliche Alrik hatte die Dunklen Lande und die Vielgestaltige Bestie überlebt, ebenso wie sein Hofmagier, wenn auch arg lädiert.

Sicher, Severin betete manchmal auch in der Orgilskapelle, zum rondrianischen Schutzheiligen des Waffengesindes. Aber lieber noch im St. Alborans-Tempel, zum obersten Himmelswächter. Büttel waren Gesetzeshüter und Verbrecherjäger, keine Soldaten, auch wenn manche Barone da einen ungesunden Ehrgeiz entwickelten. Schon der Name Gardisten erschien dem Leutinger wie Größenwahn, für den wild zusammengewürfelten Haufen hinter ihm. 

Irgendjemand hatte dem Herrn weisgemacht, dass die Klamm geradewegs bei Drachweiler enden und sie einfach nur hinausreiten und das heißbegehrte Dorf besetzen mussten. Während der törichte Herr Adran am Karrenweg stehen und den ganzen lieben Tag in Richtung Pass starren würde, um die Hauptmacht seiner Feinde zu erwarten. Ein Schuft würde der feine Herr Adran von Oppstein sein, wenn er das nicht täte.

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid blickte Severin auf seine kleine Streitmacht, die sich, mit schwitzenden, roten Gesichtern unter Beckenhauben, Schallern und Eisenhüten, mit Gambesons und Lederharnischen, ein wenig Ketten- und Plattenzeug durch die Klamm kämpften. Die Erste Rotte, unter Befehl von Herdfried Tanner, das waren die mit den Ponys. Sie hatten sich ein wenig zurückfallen lassen, während die Rotte Gutbrander, das Fußvolk, den eigentlichen Weg  suchte. Die Schwarze Lanze bildete die Nachhut, was Severin bewies, dass sie die erfahrensten Kämpfer waren. Immer schön hinten halten, diesen Rat hatte ihm sein Großvater Fredo mit auf den Weg gegeben, der auf Maraskan dabei gewesen war. Statt diese Weisheit eines jeden Bauernsoldaten zu beherzigen, stapfte sein Enkel gerade kurzentschlossen vorne weg, aus irgendeinem törichten Verantwortungsgefühl heraus. Für die dreißig, vierzig Leute, die gerade mit ihm ins Feindesland marschierten. 

Nebelfetzen wallten über allem, eine unwirkliche Szene, während das allgegenwärtige Wasser rauschte und murmelte.

Severin kannte die Hohenwaldklamm ganz gut, von manchem Grenzgang, wenn auch nur von oben. Nach seinem Verständnis führte sie wieder ziemlich nahe an den Passweg. Auch wenn man schon eine Hexe sein und auf dem Besen fliegen musste, um in der traviaverfluchten Wildnis den Überblick zu behalten.

Die Klamm bildete hier oben im Norden die Grenze zur Baronie Oppstein, zumindest im Krammholz. Sein Großvater hatte ihm mal erzählt, dass das Boronsrad auf der Sturmhöhe nicht zur Erinnerung an irgendwelche ermordeten Zwerge, sondern an Baron Giselher von Friedwang errichtet worden war. Der bei der Gemsenjagd an der Hohenwaldklamm abgestürzt sein sollte. Giselher das Wiesel. Severin verscheuchte den Gedanken an ein ängstlich kreischendes Wiesel, das mit in die Luft geschlagenen Krallen in irgendeinem lichtlosen Abgrund verschwand. 

Zusammen mit Baronin Perchthilda war Giselher der Stammvater des heutigen Hauses Friedwang geworden. Ein leidenschaftlicher Jäger, zu dessen Aussteuer ein ganzes Fuhrwerk mit Trophäen gehört hatte, das auf dem Weg zur Hochzeit in Flammen aufgegangen sein sollte. Nur ein ausgestopftes, ziemlich angesengtes Murmeltier sowie ein Steinbockkopf hatte den Brand überlebt – letzterer war durch dieses "Ingerimmsurteil" gleich zum Wappentier der jungen Familie aufgestiegen, vor etwa 400 Jahren. Der Steinbock, der aus irgendeinem Grund Kunbert genannt wurde, prangte bis heute auf den Schilden und Waffenröcken der friedwängischen Wachen. 

Nun, Oger, der bucklige Klosterdörfer, hatte versichert, dass noch eine enge Seitenklamm gen Norden führte, in Richtung Zahme Gieße und Drachweiler. Offenbar ein alter, längst versiegter Bachlauf. Allerdings, ganz sicher sei es nicht, ob jedes Pony und jedes Pferd hindurchpassen würde. Das waren ja tolle Aussichten.

Eine weißgefleckte, bräunliche Wasseramsel flatterte zeternd auf. Severin Rammhölzel stutzte und rieb sich verwundert die Augen.

Friedwangen und Oppsteiner waren es einfach nicht gewohnt, gegeneinander zu kämpfen. Nur so war es zu erklären, dass sich die beiden Trupps erst im allerletzten Moment entdeckten, trotz einiger Huster und dem Klackern der Steine, das man leicht für sein eigenes Echo hätte halten können. 

Überrumpelt starrte der Leutinger auf den Entgegenkömmling, mit dem goldroten Gewand und dem Drachenwappen der Oppsteiner. Dem Burschen folgte eine ganze Schar Mitkämpfer, die sich Armbrüste auf den Rücken geschnallt hatten. Waren das Glorianer, denen man besondere Kühnheit nachsagte? Aber die Lanze Baron Glorian von Oppstein, das waren Reiter. Wenn, dann hatten sie ihre Gäule zuhause in Oppstein gelassen. Außerdem schien das hier weit mehr als nur eine Lanze zu sein.

Hintergangen, schoss es Rammhölzel durch den Kopf. Sie hatten sich gegenseitig hintergangen. Im Wortsinn. 

Scharrend zog sein Spiegelbild blank. Ein dunkles Allerweltsgesicht unter einer Kettenhaube, die Wangen vom letzten Lagerfeuer leicht angerusst. Eine wippende Haarsträhne unter dem Helm. Gutmütige, etwas derbe Sichelhager Gesichtszüge. Noch vor ein paar Monden wären sie auf jedem Markt einander vorbeigegangen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Nun waren sie bereits Todfeinde.

Beide Streifscharen bellten sich an wie erschrockene, zunehmend kampflustige Hunde.

"Zieht Euch zurück!"

"Ergebt Euch! 

"Das hier ist Oppstein!"

"Nein, wir sind in Friedwang!"

"Das ist Wahnsinn!" 

Auch Severin zückte sein Schwert und ging in Kampfstellung. Er musste seinen Gegenüber nur ein paar Schritt zurückdrängen, dann gäbe es genug Platz für zwei, drei Kämpfer nebeneinander. Der Leutinger fluchte innerlich. So ähnlich stellte er sich einen Kampf unter der Burgmauer vor, wenn Mineure einen Stollen gegraben und die Verteidiger eine Gegenmine angelegt hatten. Und sich beide Seiten plötzlich auf engstem Raum gegenüberstanden, im schwankenden Licht irgendeiner Grubenlampe.

Aus Schreck wurde Angst, aus Angst Hass und Wut. Irgendwann schrien sie nur noch, verzerrt durch das Echo. Kor hatte sie in die Falle geführt, wollte sie wie Tunnelratten aufeinander hetzen. Sie starrten und brüllten sich an, einige Herzschläge zu lange, um sich noch ohne schlechtes Gewissen gegenseitig abschlachten zu können.

Stille. Dann ein mechanisches Geräusch. Verwundert sah der Oppsteiner auf den kleinen Bolzen, der in seine Schulter geklatscht war, knapp unter der Kettenhaube. Noch mehr erstaunte ihn, dass ihn nach einem Klack bereits ein zweites Geschoss traf, diesmal in den Unterleib. Auf dem rotgoldenen Waffenrock des Hauses Oppstein nahm das blutige Rot überhand.

Ächzend krümmte der Mann sich nach vorne, und sah gramerfüllt zu seinem Bezwinger – einem der Rammholzer, der oben, über einem kleinen Wasserfall, stand, im nachtschwarzen Lederharnisch, und seelenruhig seine Eisenwalder Armbrust nachlud. Dann kippte der Oppsteiner bereits seitlich in den Bach, klirrte und scharrte ein paar Schritt nach unten und färbte das Gießenwasser in ein helles Purpurrot.

 

Die junge Kämpferin hinter ihm blickte entsetzt auf das erste Menschenleben, das die Fehde gefordert hatte. Gefolgt von einem furchtsamen Blick auf den Leutinger, der das Schwert zum Spalthieb hob, aber irgendwie auf dem bemoosten Stein ausglitt. Mit einem schrillen Schrei parierte sie. Beide rutschten sie aus, fielen platschend ins firunskalte Wasser. Die Kämpfer ließen die Klingen fallen, versuchten sich irgendwie zu fassen bekommen, während sie scheppernd nach unten schrammten, das schmale Wildwasser entlang. Hart landete sie auf irgendeiner Steinstufe. Beide rangen miteinander. Der Friedwanger versuchte sie halb zu ertränken, halb, ihren Kopf an einem Felsblock zu zerschmettern. Aber das überflutete Gestein war viel zu glitschig für den engen Kampf. Irma, so hieß die Oppsteinerin, tastete nach einem Dolch im Gürtel ihres Gegners, stieß zu, genau unter den Arm des Friedwangers. Als sie die Klinge herauszog, war der Stahl bereits bis zur Hälfte in Blut getaucht. Einen Moment lang kämpfte sie mit Würgereiz. Außer ab und an einen Hasen oder ein Schwein hatte sie noch nie ein Lebewesen getötet. 

Severin schrie vor Schmerz, aber auch Überraschung auf, während er seitlich gegen den Felsen prallte. Dann starrte er auf die eigene Waffe, die nun kalt, gleißend und mit hässlichem Geräusch in seine Eingeweide drang. Das war alles nur ein Missverständnis, eine groteske Verwechslung. Die Kleine vor ihm war völlig unerfahren und er selbst nur ein einziges Mal auf einem nassen Stein ausgerutscht. Im nächsten Moment kippte er dem toten Oppsteiner hinterher, in Richtung Nirgendmeer.

Kor war an diesem Tag großzügig, er schenkte der unverhofften Siegerin noch ein klein wenig mehr Soldatenglück. Die Eisenwalder Armbrust klemmte, zum ersten Mal seit Götterläufen. Die junge Irma, die in diesem Moment nicht wusste, dass sie noch im hohen Alter ihren Enkeln vom Sieg über einen friedwängischen Befehliger erzählen würde, sprang hinter einem angeschwemmten, morschen Baumstamm in Deckung. Erst jetzt merkte sie, dass ihr Gesicht blutverschmiert war, eine klebrige Maske, die sich im allgegenwärtigen Sprühregen immer mehr verteilte. Irma zitterte zum Rondraerbarmen und sah auf den fremden Dolch in ihrer dunkelroten, glänzenden Hand. 

Tschock. Ein dumpfer Aufprall, genau in den bleichen Stamm. Holzsplitter flogen träge umher. Ein weiteres Bleigeschoss sirrte über sie hinweg. Irgendjemand hatte Irma von den heimtückischen Hirtenschleudern der Friedwanger gewarnt. Ein weiterer Oppsteiner schrie auf und hielt sich das blutige Loch im Oberarm. Dann verkrochen sich alle, auf beiden Seiten, wie Murmeltiere unter dem Schatten eines Adlers. 

Herdfried Tanner, Rottmeister der Ersten Friedwanger Rotte, kaute hektisch einige Kräuter, die er sich heute früh in den Mundwinkel geschoben hatte. Ahnend, dass die Zahnschschmerzen an diesem Tag nicht seine einzigen Sorgen bleiben würden. Liebstöckel und Salbei, den Geschmack erkannte er am deutlichsten, auch wenn er schon ziemlich verblasst war.

Hektisch spähte er hinter dem großen Felsblock hervor, auf die beiden Leiber vor sich, die in einem Schleuderwurf Entfernung die Wilde Geiß in eine blutrote Geiß verwandelten. 

"Glückwunsch zur Beförderung!" Die Schwarzenborn hatte den Zügel ihres Pferds abgegeben und näherte sich der Engstelle, während Wasser von oben tropfte und schwappte. "Wie wird sowas bei euch gehandhabt?" Kurz sah sie in Richtung von Ortwin Gutbrander, dem Anführer der Zweiten Rotte, der ebenfalls wenig kampffreudig dreinsah. 

"Es geht nach Dienstalter", murmelte Gutbrander und deutete auf seinen Amtsgefährten, obwohl der nur wenige Monde älter war. 

"Wir müssen Severin da rausholen!" keuchte Herdfried. Dem Rottmeister wurde gerade schmerzlich bewusst, dass er sich mal zur Burgwache gemeldet hatte, um der Rekrutierung durch die Reichsarmee zu entgehen, in den Dämonenkriegen. Auch seine Vorgesetzten hatten gemerkt, dass er ein schlaues Kerlchen war, und ihn rasch befördert. Nun sollte er bereits der Befehliger dieses verlorenen Haufens hier sein? So hatte er sich den leidlich gut bezahlten Drückposten auf dem Friedstein nicht vorgestellt. Severin Rammhölzel war ein harter, zäher Hund. Sicher würde der Glatzkopf gleich aus seiner Benommenheit aufwachen, ein bisschen Blut spucken und mit schiefem Grinsen den entscheidenden Angriff anführen. 

"Euer Leutnant ist mausetot!" sagte Sokramora, die sich ärgerte, dass sie nicht an der Spitze marschiert war, um genau eine solch unschöne Szene zu verhindern. Mit Pferden kam man im Gebirge eben langsamer voran als zu Fuß. Sollte sie die Edle herauskehren und den Befehl an sich reißen? Aber was hätte sie befehlen sollen? Die Situation erinnerte sie irgendwie an den Mechanismus in Argwulfs Repetierarmbrust. Bei der die Pfeile mit sturer Konsequenz aus dem Ladekasten nach unten fielen und der Reihe nach abgeschossen wurden. Nur um Platz für den Nachfolger zu schaffen. Beide "Armeen" konnten im Gänsemarsch aufeinander losgehen, voller Todesverachtung wie tulamidische Palastwachen, Mann gegen Mann, von ihr aus auch Mann gegen Frau oder Frau gegen Frau. Mal würde der eine den Zweikampf gewinnen, mal die andere, und der knappe Vorrat an Kämpfern nach und nach aufgebraucht werden. 

Bis vielleicht wirklich nur noch ein allerletzter Oppsteiner oder Friedwange auf den Beinen war. Was hatte Traviahold geritten, sich auf diese bescheuerte Fehde einzulassen, deren genaue Hintergründe niemand verstand? Womöglich stimmte das Gerücht ja doch, dass sich die Friedwanger, Schlotzer und Mersinger für eine Erhebung zum  Baron von Rammholz einsetzen wollten. Nicht bei Traviahold, bei dessen Reputation war Hopfen und Malz verloren.  Aber vielleicht bei seinem Erben, der zumindest noch standesgemäß verheiratet werden konnte. Nur so war zu erklären, dass sie als Rammholzer sich gerade auf ein stumpfsinniges Schluchtenscharmützel mit den Oppsteinern einließen. Deren Herr ebenso zum "Gott des Waldes" betete wie der Schwarze Vogt. 

Herdfried Tanner schlug sich gegen die darpatische Schaller, als könne er nur so begreifen, dass er ab jetzt der neue Stellvertreter Gesine Bretzelbecks sein würde. Der friedwanger Konnetabelin, die oben auf dem Pass in Richtung Drachweiler ritt. Wenn sich alle an den Zeitplan hielten.  

Hektisch Kräutlein wiederkauend wie eine Ziege, dachte der Rottmeister-Leutinger nach. Gesche würde es hart treffen. Ihr alter Kumpel Severin tot, als erster Friedwange überhaupt, was schon ein blöder Witz des Schicksals war. Vielleicht war der Glatzkopf sogar mehr als nur ein Jugendfreund aus Schneiß gewesen. Nein, verdammte Orkscheiße, darüber brauchte er jetzt keine Gedanken zu verschwenden. 

Die Oppsteiner versuchten gerade, sie zu umgehen ?! Vermutlich, um den Pass zu besetzen, womit die Ismenischen den Feind im Rücken haben würden und nicht umgekehrt. Adran, dieser hinterhältige Lump. Nun gut, ihr Plan hatte ähnlich ausgesehen. Von wegen "rondragefällige Verabredung zur Schlacht". Alrik und Adran. Beide waren sie betrogene Betrüger. Nur dass ihr jeweiliges Waffengesinde diesen närrischen Streich ausbaden durfte, im wahrsten Sinne des Wortes. Herdfried zog sich ein wenig zurück, das von oben auf den Helm platschende, eiskalte Springwasser erleichterte ihm das Denken nicht gerade. 

Was jetzt, was jetzt, was jetzt? Einen Boten zurück nach Gießenborn schicken, zwecks Warnung? Aber beim Vormarsch Richtung Drachweiler würden sie vermutlich weit schneller auf eigene Leute stoßen. Insofern die Besatzung der Drachweiler Sust wusste, dass sie gefälligst den Weg freizugeben hatte, für ein "Turnier mit scharfen Waffen" auf Oppsteiner Boden.  Ein Pervalsturnier, sozusagen. 

Sollte Herdfried versuchen, Leute nach oben zu bringen, und den verdammten Oppsteinern vom Schluchtenrand her einzuheizen? Nein, die letzte Stelle, die für eine Kletterpartie geeignet erschienen war, die hatten sich schon eine ganze Weile hinter sich gelassen. Den Bach anstauen und eine Flutwelle in Richtung Drachenköpfe schicken? Hörte sich nach großer Kriegskunst an, aber irgendwie strömte die Wilde Geiß hier überall und nirgends. Ein zwergischer Baumeister war an Herdfried nicht verloren gegangen. Satinav war ebenfalls nicht auf seiner Seite.  

Der neue Leutinger spuckte erstmal den Kräuterbatzen aus. Immerhin, seine Zahnschmerzen waren gerade wie weggeflogen. Dann drehte er sich, mit eingezogenem Kopf, in Richtung der Edlen von Schwarzenborn: 

"Sieht nach nem Patt aus. Habt Ihr vielleicht einen guten Rat für mich...Wohlgeboren?" 

Die schwarzgerüstete Edle sah ihn merkwürdig an – fand Herdfried. Offenbar war sie im Augenblick ähnlich ratlos wie er. Kein Kriegsglück, und dann kam auch noch Pech dazu. Das ewige Lied.  

Ein dumpfes Klackern und Kollern lenkte den neuen Leutinger ab. 

Das kam vom Schluchtenrand. Erst brachen kleine, dann größere Steine und Felsplatten von der Kante ab und stürzten taumelnd nach unten, genau zwischen die kauernden Oppsteiner, die sich ängstlich an der Felswand duckten, ebenso wie unter ihren Schilden. Hie und da prallte ein  Geschoss gegen eine Rüstung oder lederverstärktes Holz, keuchende Schmerzenschreie waren zu hören. Auch die eigenen Pferde und Ponys schnaubten und schrien.  Ein Schieferstück zerstob gleich neben Herdfried, Trümmer schlugen gegen Herdfrieds Beinschienen.  

Der Spuk war ebenso schnell vorbei, wie er begonnen hatte.

Leutnant Tanner formte die Hände zu einem Trichter und legte diesen an den Mund: "Ergebt Euch, Oppsteiner....Ihr seid umzingelt." Etwas Ähnliches wie Schalk blitzte bei diesem Ruf in den Augen des schlauen Herdfried, unter dem leicht roststichigen, zerschrammten Visier der Schaller. 

"...ingelt, ingelt!" echoten die Felswände. 

Aufgeregte, nervöse Rufe antworteten von der Gegenseite. 

"Das ist ein verdammter Hinterhalt!" glaubte Herdfried zu hören, gefolgt von einem kräftigen "Orksch". 

Wie aufgescheuchte Gemsen begannen sich die Oppsteiner zurückzuziehen. 

Der frisch gebackene Befehliger glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Die schlichte Kriegslist funktionierte, im Bündnis mit Hauptmann Zufall ?! 

Dann blickte Herdfried zu seiner eigenen Streitmacht. Wenn er auf Bewunderung gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Zwei, drei Kämpfer der Zweiten Rotte umstanden den reglosen Körper einer Büttelin, die ein Felsbrocken genau auf den Wehrheimer Nasalhelm getroffen hatte, und nun in ihrem Blut lag. War das Line...ja, das musste Line sein. Der Stein war nicht sehr groß gewesen, aber groß und scharfkantig genug. Verdammt nochmal. Thorn, Lines alter Waffengefährte, kauert neben ihr und fuhr sich mit der Handkante über den Hals. Der rohen Geste zum Trotz flossen ihm  Tränen über die unrasierten Wangen. 

Wildes Gebrüll lenkte ihn ab: "Travia strafe Euch, Ihr Sünder!" Der Bucklige stand oben an der Felskante, am Waldrand, und hatte einen Stein über den halslosen Kopf gehoben. Mit zusammengekniffenen linken und weit aufgerissenem rechten Glupschauge sah der Oger im Moment eher wie ein Zyklop aus. War der verkrüppelte Riese etwa diese Steilwand hinauf gekraxelt und hatte den Steinschlag ausgelöst? Sah ganz so aus. Unglaublich. An dem verrückten Kerl war ja ein Bergphex verloren gegangen. 

Er schien auf einen einsamen Oppsteiner Armbruster zu zielen, der verwirrt am Bachlauf umherirrte, und nicht zu begreifen schien, dass seine Gefährten bereits das Goblinpanier ergriffen hatten. Sein Gesicht war blutig, der Helm völlig zerdellt. 

"Oger" brüllte wie ein Schwachsinniger, der er vielleicht auch war. Der angeschweißte Armbruster blinzelte nach oben und riss seine Waffe hoch, mit mordlüsternem Schrei. Im nächsten Moment fegte ihn der gut gezielte Stein von den Beinen.

Seinen Überwinder brachte er ebenfalls noch zu Fall. Dem Bergphex steckte der Bolzen im viel zu kurzen Hals, röchelnd brach der Bucklige zusammen. Er versuchte sich an einem dünnen Bäumchen fest zu halten. Dann kippte er nach vorne in die Tiefe, gefolgt von einem kleinen, prasselnden Steinhagel. Das Geräusch des Aufpralls auf  den Steinen war einfach nur abscheulich. 

Nun lagen vier zerstörte Menschenleiber in der engen Schlucht und färbten den Wildbach rot, die unglückliche Line nicht eingerechnet. Was war denn in den Klosterdörfer gefahren? Hatte dieser häßliche, ehrlose Bauer wenigstens einmal im Leben den Helden spielen wollen? Alles für Friedwang, alles für die Heimat und ein wenig Ruhm – oder den einzig wahren Glauben an Mutter Travia? Herdfried Tanner schlug das Zeichen des Schwerts und schüttelte verständnislos den Kopf. Im Krieg starb es sich für seinen Geschmack ein wenig zu schnell. Zu allem Überfluss rief sich auch wieder sein löchriger Backenzahn in Erinnerung, mit schmerzhaftem Pochen.

Immerhin, der Durchmarsch war nun frei – der gnadenlose Schwertschwinger Kor und Sokramor, die erwachende Gigantin, hatten ihren Tribut erhalten.

 

Drachweiler Weiden, Feuertag 14. Rahja 1045, nachmittags

 

Lares von Hochfels strich sich über den gepflegten Vollbart, den er sich in den letzten Monden zugelegt hatte. Die Haarpracht  am Kinn diente dazu, ihn in den Augen seiner Kämpfer rondrianischer wirken zu lassen. Vielleicht auch korgefälliger. Immerhin war er der Hauptmann der Oppsteiner Haustruppen.

Die Hände des nicht mehr ganz jungen Edelmanns verirrten sich zur Narbe am Hals, die er auf diese Weise ebenfalls zu kaschieren trachtete. 

 

Der Hauptmann schluckte, während er seinen Blick vom Feldherrnhügel aus  schweifen ließ. Wie er die kleine, gerodete Anhöhe nannte, von der aus man tatsächlich einen guten Rundumblick über die Umgebung von Drachweiler hatte. Bis zum Pass hinauf, der im warmen, rosenfarbenen Sonnenlicht des Rahjamonds glänzte, ebenso wie die Berge. Im Süden glitzerte der Gießen. 

Lares war zufrieden. Seinem Plan, die Feinde zu umgehen, die Schutzhütte zu besetzen und den Ismenischen den Rückzug zu versperren, würde das freundliche, trockene Wetter sicher zupass kommen. Zupass, ha, das Wortspiel passte.

Gerne hätte er Adran, seinen Lebensmenschen, an der Seite gewusst, bei der Verteidigung des altehrwürdigen Junkerguts Drachweiler. Aber der hochgeborene Herr Baron übte sich in demonstrativer Gelassenheit, von seiner Residenz aus. Herumstreunende Goblins oder verirrte Gernatsborner, wo war da der Unterschied? Adran war der Ansicht, dass der leichte Sieg über die Närrin Ismena allein seinem Favoriten gebührte.

Lares würde dadurch endlich den Respekt und die Anerkennung erhalten, die ihm, der "heimlichen Frau Baronin", gebührte. Aber die ihm beileibe nicht von jedem gezollt wurde. Wenn Seine Hochgeboren gut gelaunt war, nannte er Lares bereits "Khablas Günstling" oder "meine kleine Thahira".

Trotz halb scherzhafter, halb flehentlicher Bitten hatte der Herr von Hochfels nie die guten Gewänder der ehemaligen Landvögtin von Zwerch anziehen und auf deren Stuhl Platz nehmen dürfen. Vor allem die Altgläubigen sahen ihn merkwürdig an, als wäre Levthan nicht im Leib seines eigenen Vaters ausgetragen worden. Beim Heiligen Khabla handelte es sich sowohl um einen Mann wie eine Frau, wenn man es recht betrachtete. War der Bocksgehörnte damit "im falschen Leib" geboren worden? 

Es wurde höchste Zeit, dass sich Adran  offen zu ihm bekannte.

Thahira Ifirnje von Birkenbruch. Adran tat manchmal wirklich so, als würde seine verstorbene Gemahlin noch immer im Oppsteiner Hof weilen, prostete ihr zu oder fragte ihren "Geist" nach Rat. Der Baron von Oppstein brach danach gerne in Gelächter aus, das für Adrans Geschmack ein wenig ungesund klang. Allein, das Fell von Thahiras zahmen Pardel Tjar im Rittersaal auszubreiten, als Teppich, fand Lares geschmacklos.

Adran bereitete es jedes Mal einen Heidenspaß, wenn einer der Diener über den leblosen Kopf des Khomgeparden stolperte. Niemand wusste genau, wie Thahiras exotisches Haustier gestorben war. Altersschwäche, den schadhaften Zähnen nach zu urteilen. "Ein Armbrustbolzen in den Hinterkopf", vermutete Adran gerne überm Wein. Seine Augen waren dann oft glasig, wie die Pupillen des boronseligen Tjar.

Lares verzieh seinem Herrn solche kleinen Verrücktheiten. Sie alle hatten viel mitgemacht, in den Bethanierkriegen.

Auch an diesem Tag lagen zu viele Erinnerungen in der leicht schwülen Frühsommerluft. Gen Rahja und Praios ballten sich rauchfarbene Gewitterwolken. Das Wetter änderte sich schnell, in der Sichel wie in der Politik. Alles war wie damals, vor zwanzig Jahren, als die erste Fehde um Oppstein getobt hatte. Selbst die Jahreszeit war dieselbe. Rahjamond.

Erneut griff sich Lares an den Hals, wo er einen Herzschlag lang Edorians kaltes, scharfes Messer zu spüren glaubte. Mehr noch  Hass und Verachtung.

Nicht allzu weit vom Hügel entfernt hatte Adran sich in den Armen des Barönlichen Kanzlers gewunden, als Geißel, nach Edorians bitterer Niederlage in der Schlacht von Drachweiler. Einen Moment lang sah er wieder das Pentagramm-Amulett im Augenwinkel, mit dem sich Adrans Erbfeind vor "Unheil" hatte schützen wollen. Unheil, das vor allem der Ehrgeizling selbst über andere Menschen gebracht hatte....in der irrigen Annahme, den einzig wahren Glauben im Sichelhag schützen zu müssen.

In Lares Erinnerung blitzte Adrans Schwert auf, mit dem sein Geliebter die Messerhand  abgetrennt hatte. Ein meisterlicher, sauberer Hieb. Leicht hätte er auch ihm selbst den Kopf abhacken können. Aber Adran hatte die Klinge genau im richtigen Moment abgebremst. Vor seinem inneren Auge sah Lares die Hand im Gras liegen, zuckend und blutig, das Messer noch in den bleichen Fingern. Der Armstumpf hatte erst mit Verzögerung loszusprühen begonnen. Er selbst war über und über mit rotem, klebrigen Lebenssaft bedeckt gewesen, Edorians Blut und seinem eigenen, das ihm aus der Halswunde gesprudelt war. Der Hauptmann von Oppstein schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an damals, sie fühlte sich an wie schlecht auskurierter Fieberwahn. 

 

Edorian. Angeblich sollte das Scheusal zurückgekehrt sein, an der Spitze einer Söldnerbande, die sich die Silberwölfe nannte. Eine Anspielung auf die Roten Wölfe, mit denen Vogt Alwan von Unterallertissen damals in Oppstein einmarschiert war, auf der Seite von Redenhardts Kanzler und Vetter? Nur um ihn bei erster Gelegenheit in Stich zu lassen?

 

Ironischerweise war es Edorians altes Spitzelnetzwerk in Friedwang, das Adran heute auf dem Laufenden hielt. Über all das, was sich in der südlichen Nachbarbaronie so ereignete.

Glaubte man den Berichten, waren auf der anderen Seite des Passes nicht allzu viele Feinde versammelt, bestenfalls 40 oder 50 Kämpfer. Ismena hatte sogar großspurig angekündigt, auf Landwehr zu verzichten. 

Mit so einer kläglichen Schar würden die Ismenischen niemals ganz Oppstein erobern können. Höchstens Drachweiler, auf das diese anmaßende kleine Baernfarngöre Ansprüche erhoben hatte. Ismena Rondritscherl, wie sie bei Hofe höhnisch genannt wurde. Mit gleichem Recht hätte sie Anspruch auf ein Stück Madamal erheben können. 

Es wurde ohnehin viel Theater gespielt, auf der anderen Seite des Passwalds. Die Spione waren der einhelligen Meinung, dass mit diesem einhändigen Hauptmann niemals der echte Altkanzler Edorian zurückgekehrt sein könnte. Sicher war das Ganze nur eine Finte, um die Oppsteiner Bevölkerung aufzuwiegeln... Als Edorian noch Herr auf Burg Oppstein gewesen war, da hatte das Volk ihn hassen gelernt, ihn und seinen verrückten Hexenbrenner Walerian Karrer. Heute sollte alles besser gewesen sein, in den goldenen Zeiten vor dem Jahr des Feuers.

Es gab einen Punkt, der dem Hochfelser nicht behagte. Im Grunde waren es Edorians Spione, die in Oppstein Bericht erstatteten, in der vertrauten Geheimschrift des Kanzlers. Wenn der einhändige Hauptmann vielleicht doch Redenhardts Vetter war. Dann mochte es durchaus sein, dass Adran seit Monden mit Falschinformationen gefüttert wurde. Mit beruhigenden Meldungen abgespeist. Elidya Birkenforst, die Amtsschreiberin in Gießenborn, bei der sämtliche Fäden zusammen liefen, im Spinnennetz, sollte Edorians Liebchen gewesen sein. Was, wenn Meisterin Elidya schon lange umgedreht worden, oder besser gesagt, niemals wirklich adrantreu gewesen war?

Lares hatte seinen Herrn auf diese Möglichkeit hingewiesen, aber Adran hatte lächelnd abgewinkt. Er zahle seine Augen und Ohren mit gutem Oppsteiner Silber. Was hätte da schon ein verkrüppelter Söldnerhauptmann zu bieten, echter Edorian hin oder her. Jeder wisse, dass der Verlust der rechten, der guten Hand ein Götterurteil gewesen sei, die gerechte Strafe für einen Verschwörer.

Niemand würde den einhändigen Edorian mehr auf dem Drachenthron akzeptieren, geschweige denn eine Ismena Rondritscherl. Dass gleich zwei vermeintliche Anwärter nach dem Drachenthron grapschten, nun, das zeige ja schon, dass es der Gegenseite allein um Verwirrung gehe. Um Missgunst, Neid und billige Rache. Das Rondritscherl habe eben nie verwunden, dass ihr Papa Deggen von der Fürstin verbannt worden war, als Möchtegerngraf der Schwarzen Sichel. Nun wolle es die Tochter dem Hause Oppstein auf plumpe Weise heimzahlen. Nicht einmal die Baernfarns hätten die falsche Ismena richtig belehnt. So dass sie nun eben versuche, Drachweiler zu erhaschen. Aber die Zeit der Kriegsherren und der Wildermark seien vorbei, das werde die gierige Bärin und ihr Gernatsborner Anhang noch beizeiten lernen.

 

War es wirklich so einfach? Der Hauptmann fand, dass der Herr Baron ein wenig leichtsinnig geworden war, in den letzten Götterläufen. Wenn nicht überheblich?! Adran hielt sich für unantastbar, als Berlînghan-Oppstein-Mersingen, der an der Tafel tagtäglich mit dem "Gespenst" seiner Gemahlin Thahira von Zwerch plauderte. Manche Diener hielten den lustigen Witwer schon für verrückt, einen Fall für die Noioniten. Der Hochfelser war einer der wenigen, der die geistreiche Anspielung verstand. Lares meinte auf Bosparano den "guten Geist", während Thahira von Birkenbruch das genaue Gegenteil gewesen war, schon zu Lebzeiten. Ein selbstsüchtiges, verwöhntes Biest, eine Raubkatze wie ihr geliebter Jagdpardel.

Adran hatte sich Feinde gemacht, auf der Seite der Zwölfler ebenso wie bei den Hexenfreunden. Levthanssohn? Kulthochzeit mit Serwa von Friedwang? Verteidiger der Alten Kulte in der Schwarzen Sichel? Spätestens, seitdem Trak von Keckrach und dieser finstere Druide über Zweimühlen hergefallen waren, mit "Sokramors Faust",  hatte Adran von seinen Jugendsünden nichts mehr wissen wollen. Eine kleine, frivole Geschmacklosigkeit war seine Glaubensverwirrung gewesen, wie der Falke, den sich Thahira in den Nacken hatte tätowieren lassen, als wäre sie eine Matrosin oder Thorwalpiratin. Nichts weiter.

Lares Blick ging über das eigene, bunt gestreifte Zeltlager, das am Rande von Drachweiler emporgewachsen war. Sicherlich achtzig Streiter waren dort versammelt, die zwanzig Leute nicht eingerechnet, die gerade den Pass umgingen, um Ismenas Provokateuren in den Rücken zu fallen. Die Überlegenheit betrug leider nicht drei zu eins, wie es die Wehrheimer Zahlen verlangten. Aber die Oppsteiner waren auch so haushoch überlegen. Selbstverständlich hatte Adran nicht auf die Bewaffnung seiner Bauern verzichtet. 

Der Plan – es war im Wesentlichen Adrans Plan – war denkbar einfach. Der Baron und Junker von Drachweiler hatte dafür gesorgt, dass die Weiden in Richtung Passwald nur auf halber Fläche gemäht worden waren. Dort, wo der Karrenweg den Berg herunterkam, wuchs das Gras noch immer hüfthoch, höher und dichter als üblich.

Davor war alles abgemäht. Im Vorfeld von Dorf und Ackerland ähnelten die Wiesen einem fein gestutzten horasischen Rasen. Der Trick war schlicht, aber hesindial. Ismenas Söldlinge, die überwiegend aus schwerem Fußvolk bestanden, würden das hohe Gras sicher meiden, wo das Vorwärtsstapfen überaus beschwerlich war, und dem Weg bis zum "Rasen" folgen, in langer Marschkolonne. Dort standen bereits die Heumanderl, als gute Deckung für die Bogenschützen.

Für die Glorianer und die Ritter vom Stein, immerhin zwanzig Berittene, wäre der Ritt durch das hohe Gras kein Problem. Ihre Aufgabe war, den feindlichen "Heerzug" von den Flanken her anzugreifen, noch im Anmarsch. Glaubten die Ismenischen ernsthaft, die Oppsteiner würden warten, brav und geduldig, bis sich ihre Gegner zur Schlacht aufgestellt hätten?

Die Bogenschützen und die Landwehr würden sich mit Gegnern befassen, die nach vorne durchzubrechen versuchten. Während die Reiter im hohen Gras im Vorteil sein und das Gernatsborner Pack auseinander und zurück in Richtung Pass treiben würden. Wo dann schon die Armbrustschützen auf die Fliehenden warteten, am Säumerweg, um sie mit Steinen und Bolzen zu überschütten.

Es würde der armen, unerfahrenen Ismena Rondrija eine Lehre sein, nie wieder ihre gierigen Bärenpfoten nach Drachweiler auszustrecken. Offenbar war der süßen kleinen Isi das Werben um den albernischen Kronprinzen gehörig zu Kopf gestiegen, mochte das auch ein paar schöne Jahre her sein.

Was die Armbruster derzeit trieben? Sein Blick ging zur Hohenwaldklamm, über der sich immer mehr Regenwolken zusammenballten, obwohl ein Unwetter überhaupt nicht zur Rahjamondstimmung passte.

 

Wenn das Gewitter über der Schlucht abregnen würde, könnte es lebensgefährlich werden, für seine Streifschar. Plötzlich kam Wind auf, Heu wehte umher. Rasch wurde es kühl. Die Böen zerrten an Lares Mantel und Haaren und vertrieben die nachtschwarzen Wolken. Normales Wetter war das nicht. Kämpften über der Sichel gerade die Elemente miteinander? 

Eine Staubwolke vom Pass her lenkte Lares Aufmerksamkeit ab. Ein Bote? Offenbar kam der von der Schutzhütte, oder Sust, wie sie manchmal genannt wurde. Schien so, als würden die Schlotzer Hinterwäldler bereits anrücken.

 

Lares lenkte sein Streitross in Richtung Feldlager, wo zum Antreten getrommelt wurde, unter der rotgoldenen Fahne mit Drachenhaupt und Ähren. Pferde wurden angeschirrt, Waffen und Rüstungen umgeschnallt. Hühner liefen gackernd durcheinander. Ein Glorianer ritt der Kurierreiterin entgegen und senkte lässig seine Lanze, die er sich unter dem Arm geklemmt hatte.

Die Botin parierte ihr schweißnasses Pferd und salutierte knapp. Sie selbst schwitzte ganz schön unter ihrem Eisenhut. Lares gab dem übereifrigen Wachtposten ein Zeichen, die Frau passieren zu lassen, die er sogar vom Sehen her kannte.

"Die Ismenischen sind im Anmarsch!" keuchte die Meldereiterin. "Über hundert Bewaffnete...schwere Troßwägen....Reiterei...Söldner. Ein Feldgeschütz schleppen sie auch den Passweg hoch."

Lares bohrte sich im Ohr herum. Er musste sich verhört haben.

"Wieviele...Bewaffnete?"

"Über hundert, Herr!"

Schweigen breitete sich aus.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.  "Unmöglich."

"Wir versuchen, sie an der Schutzhütte aufzuhalten, so lange es irgend geht". Die Botin nickte dankbar einem Landwehrbauern zu, der ihr eine Fellflasche reichte. Sie trank gierig, hustete. "Verzählt haben wir uns leider nicht.  Mersinger, Baernfarner, Friedwanger marschieren gemeinsam....es sind weit mehr als hundert Gegner, fürchte ich."

"Was ist denn mit unseren Armbrustern...in der Schlucht?" Lares sah sich um, erhielt aber keine Antwort. Verdammt, hätte er sie in Drachweiler behalten, wäre das Kräfteverhältnis jetzt einigermaßen ausgeglichen. Man sollte seine Kräfte eben niemals zersplittern.

 

Flügelschwirren lenkte ihn ab. Lares musste sein Streitross beruhigen, als ein schwarzglänzender, großer Rabe vor ihm auf der Oppsteiner Fahne landete, geradewegs auf der Querstange, und mit triumphierendem Krah, krah dem Drachen auf dem Kopf herumtanzte.

 

"Deine Soldaten....Krah, krah...sie fliehen schon aus der Klamm....krah...krah."

Lares glaubte seinen Sinnen nicht zu trauen, aber es war wirklich der Hexenvogel, der diese Worte krächzte. Aufgeregtes Getuschel. Sonnenräder und Rondraschwerter wurden geschlagen, aber auch die Levthanshörner gezeigt. 

 

"Praios steh uns bei!" rief eine Milizionärin. Allerdings meinte sie nicht den sprechenden Raben, sondern eine buntscheckige Gestalt auf einem Hexenbesen, die über den verdüsterten Himmel jagte, wo sie ein zweites, irrwitzig kreischendes Satuariensweib verfolgte.

Letzteres flog mit wehenden Haaren Zickzack, ebenfalls auf einem Reisstrohbesen. War es die Verfolgerin, die Blitze auf sie schleuderte, oder wetterleuchtete das Gewitter, das gerade von der Klamm herüber geweht wurde? Ein feuriges Geschoss fiel herab und traf ein Heumanderl, das lichterloh brannte. Nach wenigen Augenblicken wurde der Heustock durch einen Regenguss gelöscht und vom Sturmwind zerblasen.

Der schwarze Unglücksrabe entfaltete seine Schwingen und flatterte in Richtung Rahja, zum Wald, aus dem gerade mehrere Gestalten in gelbroten Waffenröcken rannten. Ein paar Kühe aus dem Hütewald sprangen in Levthansfurcht hinterher. 

"Ein Hinterhalt...in der Klamm...sie kommen von allen Seiten!" rief einer der Rotgoldenen. 

Das war das Oppsteiner Detachement, das eigentlich die Passhöhe besetzen sollte. Zumindest ein versprengter Teil davon.

Dann prasselte Hagel, mit Körnern so groß wie kleine Schneebälle. Sturmböen legten die buntgestreiften Zelte ein oder fegten sie einfach beiseite. Pferde stiegen, wieherten und galoppierten los, mit oder ohne Reiter.

Der Boden schien sich unter dem prasselnden Regen und Hagel aufzulösen, wurde zum sumpfigen, schlammigen Morast. Lares schaffte es mit Müh und Not, sich im Kriegssattel zu halten. Dafür ging ihm jetzt sein treues Reittier einfach durch. Immerhin, einem tapferen Burschen gelang es noch, die Drachenfahne an sich zu reißen, um sich mit dem flatternden Stoff durch den Weltuntergang zu kämpfen.

Den Namen Sturmfahne hatte sich das Feldzeichen gerade verdient.

 

Gisla mit ihren scharfen Augen hatte von ihrem Standort aus einen guten Ausblick auf das Geschehen in der Senke vor Drachweiler. Im Wald in den efferdwärts von Drachweiler gelegenen Hängen waren sie vor den Blicken von Adrans Spähern verborgen gewesen, zumal deren Befehliger, dieser Lares, seinen Blick in Richtung Pass der Freundschaft gerichtet hatte, aber offenbar nicht im Traum daran dachte, dass auch über den schmalen Steig von Westen her Bewaffnete eindringen könnten. Lares… dieser schmierige Speichellecker des intriganten Oppsteiners, der sie so travialästerlich auf dem Hochzeitsfest der Baronin mit eindeutigen Angeboten bedacht hatte. Naja, geschah ihm ganz recht, diesem Elfling. Hoffart kommt vor dem Fall, hatte die alte Traviapriesterin in ihrer Heimat immer gesagt. 

Um ein Pferd allein, Travians Pferd, ging es längst nicht mehr. Veneficus hatte, kurz nachdem Timoin sie über den Steig ins Oppsteiner Land geführt hatte, über die Fehdeerklärung Adrans an Rondria informiert. Das änderte natürlich die Lage, grundlegend. Travian hatte natürlich keine Einwände, seiner Kusine in dieser Fehde und dem Erbstreit um Oppstein zu helfen. Nicht nur sein ritterliches Ideal, auch seine Abneigung gegen seinen einstigen Knappenherrn hatten es leicht gemacht, ihn zu diesem Entschluss zu bringen. Gisla ihrerseits war nicht überrascht. Allein dass ihre Lehrherrin Glyrana von Mersingen sie so bereitwillig hatte mit Travian ziehen lassen hatte ihr verraten, dass die Strippenzieherin der Mersinger sicher schon damals geahnt hatte, was denn kommen würde. Nun, Loyalität zahlte sich sicher aus, das wusste Gisla aus ihrer langen Zeit auf Gernatsborn. Also hatte auch sie nichts einzuwenden gegen die, kurzfristige, aber doch von langer Hand geplante Änderung der Vorgehensweise. 

“Sie haben die Nachricht erhalten” raunte Gisla Timoin zu, der seinerseits die Nachricht mit einem Winken an die am Fuß der Buche, auf die Gisla und Timoin geklettert waren, stehenden Gefährten weiter leitete. 

“Jetzt muss es schnell gehen!” ermahnte Travian die Schlotzer Waldschützen. Doch das war fast überflüssig. Travian und Veneficus hatten genug Zeit gehabt, während Gisla auf der Wacht war, ihrerseits die Waldschützen zu instruieren. Drachweiler musste besetzt werden. Schnell. Lares durfte nicht die Gelegenheit haben, sich in den Ort zurückzuziehen. Ein Blutbad bei der Eroberung des Weilers, den Ismena Rondria beherrschen wollte, schied schon allein deswegen aus, um die Bevölkerung nicht von vorne herein gegen die neue Herrschaft einzunehmen. 

Travian führte die Waldschützen in halsbrecherisch schnellem Tempo die Hänge herab, aus dem Bergwald heraus und über die Felder - die Almen waren bereits abgemäht und die Heuernte eingebracht, weswegen kein Flurschaden entstand, als die bewaffnete Schar hangabwärts stürmte. 

“Gisbert und Sumudan, zum östlichen Zufahrtsweg!” kommandierte Travian. “Reta, mit Veneficus zum Dorfschulzen. Walerian, Rahjadan, Isidor, Fredegard, bezieht Stellung am nördlichen Feld. Dornengunde, Sichelhard, Romin, Kunibrand, das südliche Feld. Der Rest mit mir auf den Marktplatz!” 

Das Kommando wäre kaum erforderlich gewesen, denn bereits zuvor war eine genaue Einteilung der Kräfte erfolgt. 

Obwohl die Anzahl der Waldschützen überschaubar war, machte es immens Eindruck auf die Dörfler. Der Angriff war zeitgleich und rasch vorgetragen. Es war tatsächlich gelungen, die gesamte Truppe im Schutz des Hangwaldes verborgen zu halten bis zum Angriff. Die wenigen Bauern, die noch auf den Feldern waren - die meisten waren ob des Hagelschauers ohnehin schon in ihre Hütten geflüchtet - mussten nicht erst aufgefordert werden, vor den heran Stürmenden zu weichen - wer stellte schon groß fragen, im Angesicht einer Schar Bewaffneter.  

“Im Namen der barönlichen Herrschaft von Oppstein, geht in Eure Häuser und verharrt dort, es wird Euch nichts geschehen!” Dieser Kommandoruf erschallte überall, wo immer die Waldschützen auf Dorfbewohner trafen. Zugleich ging Veneficus mit zügigen, aber gemessenen Schritten zum Haus des Dorfschulzen - Travian hatte dem Magier Auskunft darüber geben können, in welchem Hof Rigbald Steinfelder wohnte. 

Reta pochte mit Entschlossenheit an Rigbalds Tür. “Heda, Herr Rigbald! Die Herrschaft möchte Euch sprechen.” 

Veneficus blickte auf Rigbalds Haus. Schmuckes Fachwerkhaus, alte Sichelbuchenständerbauweise. Das Haus des Dorfschulzen war sicher eines der ältesten in Drachweiler. 

Knarrend schwang die schwarze Tür nach innen auf. 

“Welches Raubgesindel bedroht den Frieden des Dorfes?” blaffte eine selbstsicher klingende Stimme, die jedoch verstummte, als Reta ihn mit kräftigen Händen packte und gegen die schwere Bohlentür drückte. 

“Soll ich ihm eine Tracht Prügel verabreichen, Herr?” fragte Reta, genau so, wie Veneficus es ihr zuvor erläutert hatte. 

“Danke, Reta, aber sehen wir es Herrn Rigbald nach, dass er in der Eile und Hektik der Situation den Überblick verloren hat. Oder vielleicht hat er sich ja auch nur unklar ausgedrückt. Das Raubgesindel, das den Frieden des Dorfes bedroht, steht nicht weit weg, oberhalb des Dorfes auf der Straße zum Pass der Freundschaft. Raubgesindel deshalb, denn es dient einem Thronräuber. Dem Thronräuber, der der rechtmäßigen Erbin Oppsteins den Thron vorenthält. Also… Meister Rigbald hat recht mit seinen Worten. Raubgesindel bedroht das Dorf.” Der Magier legte eine Kunstpause ein. 

“Wir hingegen beschützen das Dorf. Vor diesem Raubgesindel. Ich gebe zu, Meister Rigbald, das mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen. Darum, Meister Rigbald, übergebe ich Euch hier die Anweisungen der rechtmäßigen Baronin von Oppstein. Lest Sie gut durch, Meister Rigbald, und dann instruiert Eure Frauen und Männer hier im Dorf, damit niemand aus Unkenntnis oder Missverständnis heraus falsch handle.” 

Rigbald musterte Magister Veneficus mit einem durchdringlichen Blick. 

“Meine Familie wohnt hier seit Menschengedenken, meine Ahnen haben die Steine und Felsen beiseite geräumt, und die steinigen Felder urbar gemacht, so dass Steinfeldner nur mehr der Name meiner Familie ist. Da frage ich mich, wer seid Ihr? Ich habe Euch noch nie hier gesehen.”

“Nun, und dennoch kennt ihr mich und meinen Namen. Ich bin Magister Veneficus, den jeder auch das lebende Gedächtnis Aarmariens nennt. Und ich brauche Euch nicht groß darüber zu belehren, dass nicht Redenhardts rechtmäßiger Erbe seit Jahren den Thron zu Oppstein usurpiert, denn das wisst ihr selbst. Lest, was die Erbin Redenhardts, Ismena Rondria von Oppstein, Euch zu sagen hat.”

“Hmm” brummte Rigbald, weniger darüber nachdenkend, ob nun ein Adran oder eine Ismena Rondria legitimer Erbe zu Oppstein war, sondern viel mehr darüber sinnend, ob es schwerere Folgen für Drachweiler haben würde, sich jetzt den Bewaffneten zu widersetzen oder aber später den Zorn Adrans zu spüren zu bekommen. Um Zeit zu gewinnen, öffnete er das Siegel der Schriftrolle, die der Magister ihm gereicht hatte. Er ließ sich viel Zeit dabei. 

“Soso, Magister. Ich kenne euch tatsächlich, dem Namen nach. Man sagt, ihr habt nach dem Ritus der alten Kulte geheiratet, hängt selbst den Alten an.” Es war dem Tonfall des Dorfschulzen nicht zu entnehmen, ob er das gut oder schlecht fand. “Da frage ich mich, warum wendet Ihr Euch gegen den, der gleichen Glaubens mit Euch ist und dient den Interessen der borongläubigen Mersingens?” 

Veneficus wollte schon antworten, aber dann lächelte er stattdessen. Wer war er denn, dass er sich von einem Dorfschulzen verhören ließ?

“Es ist jedenfalls den Anhängern der Alten nicht gedient, in sinnlosen Kämpfen den Tod zu finden. Und den Anhängern der Zwölf dient das auch nicht. Möge ein jeder nach seiner Facon selig werden. Aber wer, wie der Usurpator, die Anhänger der Alten gegen die Anhänger der Zwölfe aufhetzt, der dient keinem von beiden, sondern der dient in Wahrheit einer gänzlich anderen Seite. Denkt darüber nach, bevor ihr Euch falsch entscheidet. Die Baronin von Oppstein ist eine großzügige Landesmutter, aber sie verlangt Gehorsam. Und nun lest!” 

Rigbert entrollte das Pergament. 



Ihre Hochgeboren

Ismena Rondria von Oppstein

Tochter der Irmena von Oppstein und des Deggen von Baernfarn

Älteste Nichte seiner Hochgeboren Redenhardt von Oppstein

Erbin des Throns zu Oppstein

 

Ich habe die Fehdeerklärung meines Verwandten, des Thronräubers Adran von Oppstein, erhalten. Ich nehme die Fehde an und werde mich stellen. 

In diesem Zusammenhang weise ich meinen Onkel, Magister Veneficus von Baernfarn an, in meinem Namen die Herrschaft über Drachweiler zu übernehmen und den Ort zu sichern vor den bewaffneten Gefolgsleuten des falschen Barons. 

Die Bevölkerung von Drachweiler wird ihres Lehenseides an Adran von Oppstein entbunden, da dieser Eid unter Täuschung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Anspruchs durch eben diesen Adran von Oppstein zustande kam. Meister Rigbert wird angewiesen und beauftragt, alle Bewohner Drachweilers hierüber in Kenntnis zu setzen. 

Die Verkündung meiner Weisung ersetzt in ihrer rechtlichen Wirkung den Lehnseid der rechtmäßigen Baronin von Oppstein gegenüber, bis dieser zum baldmöglichsten Zeitpunkt selbst geleistet werden kann. 

Die Bevölkerung von Drachweiler wird angewiesen, ihrem üblichen Tagwerk nachzugehen. Eine Unterstützung des Usurpators hingegen stellt einen Verstoß gegen die rechtmäßige Herrschaft dar und wird bestraft. 

 

Gezeichnet

 

Ismena Rondria von Oppstein. 

 

“Hmm” brummte Rigbald wieder. Der Lärm von Pferdehufen und die schweren Schritte von Bewaffnetem Fußvolk, das die Straße vom Pass herunterkam, durchdrang die Luft. Rigbald hatte die Situation rasch erfasst. 

“Unserem Tagwerk nachgehen, genau das werden wir tun. Und ihren Anspruch wird Ismena gegen Adran ausfechten müssen. Aber nicht hier.” betonte Rigbald. 

 

Die Waldschützen hatten hinter Scheunen, Felsen und Hausecken Deckung bezogen, einen Pfeilschuss weit entfernt von der Straße, die vom Pass herab führte. Lares Bewaffnete eilten herab. Keinen Augenblick zu früh hatten die Waldschützen ihre Bögen bereit gemacht und deckten Lares Schar mit Pfeilen ein. Gisla befehligte die Schützen nördlich des Weges, Travian die Schützen südlich davon. 

Timoin seinerseits hatte Stellung auf den Felsen unweit des Ortseinganges bezogen. Ein gutes Schussfeld bot sich ihm aus seiner erhöhten Position. 

Jetzt, wie zuerst angedacht, in Drachweiler einen sicheren Rückzugsort zu finden, war nicht möglich. Das begriff Lares sofort. Auf dem Pfad zum Ort waren sie den Bogenschützen ohne jede Deckung ausgeliefert. 

Also hieß Lares seine Leute weiter talwärts eilen. 

Die Hoffnung, Ismena und ihre Gefolgsleute zwischen Pass und Drachweiler einsperren, war jedenfalls zunichte gemacht.

 

Was für ein herrlicher Abend.

Nachdem das Gewitter weitergezogen war, leuchteten die Berge in wunderbarem Sichelglühen. Ein kräftiges Rahjarot breitete sich über dem Gebirgskamm aus.

Gesine Bretzelbeck, die Konnetabelin, rammte die Friedwanger Sturmfahne in die Mitte des Lagers, das ihnen die Oppsteiner dankenswerterweise überlassen hatten, neben die Banner der Verbündeten. Dann sorgte sie dafür, dass der Schwenkel, der berühmte Levthanszipfel, frei flattern konnte.

Es war schon merkwürdig, an diesem Ort zu kampieren. Viele der Zelte waren in Oppsteinischem Rot und Gold gestreift. Was vom Winde verweht oder umgestürzt worden war, hatten die Ismenischen rasch wieder aufgebaut und um ein paar eigene Zelte ergänzt. Lares hatte ihnen ein wunderbares Quartier für die Nacht verschafft. Wie es hieß, würde das Lager morgen in den Norden von Drachweiler verlegt werden. 

Proviant gab es auch reichlich, in den zurückgelassenen Trosswagen. Nun, da der Boden abgetrocknet war, brannten die Küchen- und Wachfeuer lichterloh. Abendnebel stieg aus den Wäldern und Feldern aus.

Klirrend trat Herdfried Tanner neben ihr, die Schaller weit geöffnet, als frischgebackener Leutinger der Gebirgsschützen.

Damit hatte er quasi auch das Amt des Barönlichen Waffenmeisters inne. Musste ausgerechnet dieser neunmalkluge Grottenolm ihre neue rechte Hand werden? Aber es half alles nichts. Er war am gleichen Tag den Steinböcken beigetreten wie Rottmeister Gutbrander, ausgerechnet, aber nach Monden oder Wochen ein klein wenig älter. Damit stand er zur Beförderung an, es sei denn, Seine Hochgeboren Alrik Tsalind bestimmten es anders. Aber so sah es derzeit nicht aus. Alrik mochte Herdfrieds vorwitzige Art und dessen phexisches, mitunter regelrecht unverschämtes Grinsen.

Es stimmte ja auch. Rottmeister Tanner hatte die Adraniten heute zur Rückzug aus der Klamm gezwungen, durch seine grandiose List. Dem Leutinger - der nicht unbedingt ein Rondrianer war, vielleicht auch kein Feigling, aber doch eher ein kluger Mitläufer - war der Stolz auf die Heldentat anzumerken. Seine Wangen waren gerötet, die Augen glänzten. Er schien ein wenig mit dem Most gefeiert zu haben, den die Drachweiler ihren Befreiern gebracht hatten, neben allerlei Liebesgaben. Sogar Kuchen gehörte dazu, Blaubeerenkuchen. Natürlich, gestern war ja Artematag gewesen, der Geburtstag der Heiligen. Die gemeinhin als Vorfahrin des Hauses Baernfarn galt. 

Vermutlich hätten sie Lares ähnlich gefeiert, wenn der heute als Sieger das Feld verlassen hätte, und nicht als Flüchtling. Die ersten Mädchen und Jungs schäkerten mit den "Rechtgläubigen", die endlich wieder Traviazucht und Firunsstrenge in ihr traditionsbewusstes Dorf bringen würden. Es wurde gebechert, gelacht, musiziert, geküsst. Nach Traviazucht sah das alles nicht aus. Manche Widersprüche musste man einfach auf sich beruhen lassen.

"Es ist schon merkwürdig", salbaderte Herdfried, ihr "besonderer Freund", auch schon los. "Wenn man unsere drei Angriffskeile Richtung Drachweiler so anschaut...dann haben die eine Art Triskele gebildet. Ein sokramorisches  Dreibein. Fast schon ein Zeichen, oder?"

"Die drei Fische im Wappen des Hauses Berlînghan bilden ebenfalls ein Dreibein" murmelte Gesine. "Was soll es schon bedeuten? Dass uns die Alten Götter beigestanden haben, im Kampf gegen sich selber? Lares ist entkommen, ohne größere Verluste. Mit der verabredeten Schlacht wird es wohl nichts...aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben."

Severin ist tot, dachte die Hauptmännin. Als erster Friedwange gefallen. Severin Rammhölzel,  ausgerechnet Severin, ihr bester Mann. Der Gardist, auf den sie sich am meisten hatte verlassen können. Es war, als wäre ihr ein Mühlstein um den Hals gebunden und sie in einem Meer aus Trauer geworfen worden. Einen Moment lang kämpfte Gesche mit einem Schluchzen und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

Das fehlte gerade noch, dass sie vor Herdfried Tanner das Heulen anfing. Einen Moment lang glaubte sie den Leutinger, den alten, wahren Leutinger, neben ihrem requirierten Zelt stehen zu sehen. Reiß dich zusammen, Gesche. Wens erwischt, den erwischts eben. Wir Toten sind weg, aber die Welt besteht weiter. Drei Schnaps sind auch ne Trauerfeier.

Gesine lächelte, und schniefte sich den Kloß im Hals weg. Ja, schon Severin zuliebe würde sie Haltung zeigen. Stärke. Wer sich unter die derischen Waffenträger einreihte, musste damit rechnen, früher oder später in die Alveranischen Heerscharen abberufen zu werden. Auch wenn die "Abberufung" wirklich saublöd gelaufen war, im Falle ihres Freundes aus Kindertagen. Ein Ausrutscher, im Wortsinn.

"Nun gut, Herdfried. Such dir ein paar Freiwillige aus. Sie sollen sich ein paar Fackeln nehmen...und Severin aus der Klamm holen. Ich will nicht, das ihn heute nacht die Wölfe fressen." Gesches Stimme klang rau und wohl ein wenig vorwurfsvoll. Herdfried wirkte für einen Moment betreten.

"Wir konnten wirklich nichts machen, Gesche...die verdammte Schlucht. Kein guter Ort zum Kämpfen."

"Schon gut. Ohne Eure Streifschar wären uns die Adranschen in den Rücken gefallen. Severins Opfer war nicht umsonst."

"Was machen wir mit den anderen...Gefallenen?" Herdfried, der an den zerschmetterten Buckligen hatte denken müssen, räusperte sich verlegen. "Line ist noch da draußen, der Oger und dieser tote Oppsteiner. Das wird ne ganz schöne Schlepperei."

"Welcher Oger?"

"Unser Gästeführer. Ist die Felswand raufgeklettert und hat die Bärleinhähne mit Steinen beworfen. Eigentlich hat der Bauer uns den Tag gerettet."

"Ach so ja. Nehmt euch ein paar Packpferde mit. Sie alle sollen ein würdiges Begräbnis erhalten, auf dem Boronanger von Drachweiler. Vielleicht kann Hochwürden Deggen morgen ein paar Worte sprechen, im Namen der Himmlischen Leuin."

Gesche merkte, wie es ihr leichter ums Herz wurde. Das Auftauchen des Rondrageweihten, das war ein Zeichen gewesen. Die Donnernde mahnte sie, die Gesetze des Krieges zu achten - aber dass sie ihnen geistigen Beistand schickte, war wohl schon eine Anerkennung. Es gehörte Mut dazu, für einfache Büttel, sich in eine solch lichtlose Schlucht zu begeben. Am Ende hatten sich tatsächlich Gewitterwolken über der Klamm geballt, aber zum Glück schnell verzogen. Ohne die Eindringlinge zu ersäufen. Womöglich war den Friedwangen auch da die Sturmbringerin beigestanden. Ziemlich sicher sogar.

"Leutinger Tanner?"

"Ja?"

"Gut gemacht, heute in der Klamm!" Gesche nickte knapp. "Richte den Leuten den Dank Seiner Hochgeboren aus. Allerdings war das Scharmützel heute erst der Anfang. So leicht werden es uns die Adranknechte nicht jeden Tag machen."

Jähe Unruhe vom Lagerrand her lenkte sie ab. Ein halbes Dutzend Steinböcke trieb zwei "Drachen" ins Lager, vom Feld her, eine junge Frau und einen etwa gleichaltrigen Burschen. Vor allem das Gesicht der Oppsteinerin war ziemlich zerschrammt. Gesche war sich keinesfalls sicher, ob diese Verletzungen im Kampf entstanden waren. Soldaten hassten Gefangene, das war überall das Gleiche. Wer sich ergeben hatte, der war meist aus dem Gröbsten raus, zumindest unter zwölfgöttergläubigen Kombattanten. Während die Sieger weiterhin ihre Haut zu Markte tragen mussten. 

Der dicke Diebold stapfte schnaufend vorneweg, einen Scheibendolch in den wurstigen Fingern.

"Wir haben sie", rief er triumphierend. "Wir haben die verdammte Schlampe!"

"Ihr habt wen?" Gesine fühlte sich einfach nur noch müde, nach dem anstrengenden Ritt über den Pass und dem Geplänkel an der Schutzhütte.

"Das Miststück hat unseren Leutinger umgebracht" schimpfte ein anderer Friedwange, der bereits einen Strick zu einem Dorckenkragen band, benannt nach dem berüchtigten Scharfrichter von Gareth, Baltram Dorcken. Zu allem Überfluss hieß der hasserfüllte Bursche auch noch selbst Baltram, oder Bertram? Gesche wusste es für den Moment nicht zu sagen. Morgen würde es ihr wieder einfallen.

"Los, knüpfen wir sie auf, wie die Goblins in Gießenborn", raunzte eine Gefährtin.

"Ja" keifte eine weitere Büttelin dazwischen. "Die Oppsteiner sind nicht besser als die Rotpelze, zu deren Götzen sie beten."

"Gnade, Gnade", flüsterte die Gefangene. "Ich hab Euren Weibel..."

Eine derbe Ohrfeige hieß sie schweigen. "Leutinger! Severin Rammhölzel war unser Leutinger, bei Praios Furz! Die Pest soll dich holen, Oppsteiner Metze!" Ein Speichelstrahl traf die bäuerlich wirkende Frau, wenn auch nur deren Waffenrock. "Scheiß Sokramoranbeter! Alveran strafe Euch!"

"Genug!" sagte Gesine barsch. "Hier wird niemand aufgehängt, und auch nicht geschlagen oder angespuckt. Ach ja, gegen die Oppsteiner kämpfen wir auch nicht, wie oft soll ich das noch sagen. Sondern nur gegen den falschen Baron Adran. Bringt sie zu den anderen Gefangenen, in die Scheune!"

"Die Adraniten sind mit Levthansbuhlen im Bunde!" maulte Diebold, der Hornbläser. "Ich hab selber eine gesehen, über der Schlucht, die das Wetter verzaubert hat...das Dämonenweib hier hat Severin behext, sonst hätte sie ihn niemals zu Fall gebracht. Brennen sollte die, nicht hängen!"  

"Ja-ja...hängen ist noch viel zu gut für so eine!"

Gesche ließ sich den Dolch reichen. Ein Scheibendolch, recht vornehm für so ein Bauernmädchen, aber auch nicht allzu ungewöhnlich. Händler und Stadtbürger griffen ebenfalls gerne darauf zurück. Am Gürtel der Gefangenen baumelte eine leere Schwertscheide. Die Hauptmännin sah prüfend über den Stahl, ob sie Blutreste erkennen konnte, aber wenn, dann hatte die Oppsteinerin die Waffe gut gesäubert. 

"Wolltest sie wohl als Andenken mitnehmen, was?"

Die Frau katzbuckelte. "Nein, Herrin...das ist mein Dolch."

"Eine Scheide gibt es dazu nicht?" 

"Verzeiht, nein...ich...ich bin wohl an einer Hecke hängen geblieben...als...als wir uns versteckt haben. Abgerissen, Herrin, einfach abgerissen." 

"Wo hast du heute gekämpft? Hier, vor dem Dorf...oder in der Schlucht?" 

"Vor Drachweiler, Herrin. Aber gekämpft haben wir eigentlich gar nicht." Die Stimme der Oppsteinerin zitterte. Gefangenschaft, das war etwas Erbärmliches, wenn man keine von und zu war. Wenn niemand auch nur einen Heller Lösegeld für einen bezahlen würde. Oder wenn man den besonderen Haß seiner Bewacher geweckt hatte. 

Die Halbwüchsige ließ den spitzen Dolch nicht aus den flackernden Augen, als befürchte sie, im nächsten Moment niedergestochen zu werden. 

Tatsächlich hatte Gesche keine Ahnung, was sie mit Severins "Mörderin" anstellen sollte. Wenn die gerade wirklich vor ihr stand, zitternd wie Espenlaub. Allerdings hätte die Konnetabelin nicht mit letzter Sicherheit zu sagen gewusst, welche Art von Dolch der Leutinger getragen hatte. In der Waffenkammer waren ihre Böcke wie kleine Kinder, und probierten gerne einmal neue Arten von Bewaffnung aus. 

"Das ist nicht Severins Dolch", hörte sich Gesche kurzentschlossen sagen. "Lasst sie in Ruhe. Die Herren und Damen Adeligen entscheiden, was mit den Gefangenen geschieht. Nicht ihr. " 

"Aber..." Diebold wirkte für einen Moment aufsässig. Etwas Ungesundes glänzte in seinen Augen, ein Hass, den Gesche nur allzu gut kannte. So hatte es bei vielen Dunkelländern sicher auch angefangen. Mit Groll, Blutgier, Rachsucht, Willkür. 

"Nichts aber, Gemeiner Diebold. Wer sich ein Schwert umgürtet, oder von mir aus auch einen Dolch. Der muss jederzeit damit rechnen, das es für ihn heißt: Antreten in Rondras Hallen! " Die Konnetabelin musterte ihre Gardisten streng. 

Dann verstaute sie den Scheibendolch an ihrem eigenen Gürtel. Die Klinge würde ein gutes Andenken an ihren Waffengefährten sein, ob sie ihm nun wirklich gehört hatte oder nicht.

Bertram - der vielleicht auch Baltram hieß - hatte sich bereits mit Beutewaffen beladen. An seinem Gürtel klimperten gleich drei Dukatenbeutel, wie Gesche feststellte. Sie beschloss, gnädig darüber hinweg zu sehen. Wenn die Herren Krieg führten, warum sollte nicht auch für ihre Diener etwas abfallen? 

"Teilt die Münzen gerecht auf. Die Waffen gehören der Herrschaft. Und lasst mir ja die Finger von den Gefangenen. Verstanden? Sie haben nur ihre Pflicht erfüllt, wie ihr auch. Weggetreten!"



Ismenisches Feldlager bei Drachweiler, Wassertag, 15. Rahja 1045

 

 

Die Wölfe waren bereits in der Schlucht gewesen.

 

Mit leerer Seele kehrte Gesine vom Boronanger zurück, wo die Totengräber dabei waren, ein großes Soldatengrab auszuheben. Als letzte Ruhestätte für Freund und Feind gleichermaßen. Die Fracht des “Korgefälligen Karrens” war bereits am Dorf angekommen, mit Severin und etwa einem halben Dutzend weiterer Gefallener. Die friedwängische Befehligerin wusste nun, an welchen Körperteilen Meister Isegrimm und die Krähen gerne mit dem Fressen begannen.

 

Einen Augenblick lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Severin in sein, nein, in ihr gemeinsames Heimatdorf Schneiß bringen zu lassen, diesen aber schnell fallengelassen. Selbst ohne das sommerliche Wetter, das derzeit herrschte, wäre das keine gute Idee gewesen, mit Rücksicht auf des Leutingers Familie. Ein eigenes Grab, das wäre schon eher eine Würdigung gewesen, eine Sache von ein paar Silbertalern vielleicht. Aber auch diesen Einfall hatte Gesche rasch wieder verworfen. Severin hätte so viel Luxus nicht gewollt, außerdem würde Hochwürden Deggen den Weihesegen vermutlich nur einmal sprechen.

 

Ein einzelner Pfeil steckte noch im Boden, auf dem Weg zum Zeltlager, das seit gestern zu einer recht beeindruckenden Größe herangewachsen war. Sie zog das Geschoss aus der Erde und prüfte die Spitze mit dem Finger, vielleicht, um überhaupt noch etwas zu spüren. Verdammt, sie hatte soviel Leid und Elend gesehen, in den letzten Jahren, das blanke Grauen der Niederhöllen noch obendrein. So viele waren gestorben, hatten ihre Seele oder den Verstand zum Schweigsamen gesandt. Gesche hatte dennoch nur wenig Alpträume.  War das ruhmlose Ableben ihres schlachtenerprobten Leutingers jetzt der berühmte Tropfen, der das randvolle Faß zum Überlaufen brachte? 

 

Gesche versuchte, sich mit einem Blick auf das Lagerleben abzulenken, das fast schon fröhlich zu nennen war.

 

Nicht nur buntscheckige Waffenträger hatten sich bei Drachweiler niedergelassen, auch Marketender, die Familie des einen oder anderen Söldlings, leichtbekleidete Damen, kleine Sudler und züchtige Badilakaner waren im Tross gefolgt. Die Mönche und Nonnen stammten aus der Priorei Sumus Säule, dem Tochterkloster von Alveranskuppen, und waren schon vor den Dirnen und Lustknaben bei Gießenborn eingetroffen. Gesche grinste, beim Gedanken an den Witz, den Severin aus diesem Anlass gerissen hatte. Die Gänschen fliegen wieder mal schneller, als die Stütlein geritten werden...Oder so ähnlich. 

Hatte Travia ihren Gefährten für sein Schandmaul gestraft? Nein, die Göttermutter war nicht derart kleinlich. Nur das Schlachtenglück zeigte sich mitunter launisch. 

Gesche ging durch die Reihen der Landsknechte und Waffenmägde, in Richtung Feldküche, wo bereits die Kessel über dem Feuer dampften, aufgehängt an einem hölzernen Bock. Wehrvogt Storko galt als Meister des Nachschubwesens, davon zeugten große Troßwagen, aber auch eine Feldbäckerei und manch guter Braten, der sich über den Flammen drehte. Ohne Mampf kein Kampf, das galt im traviafrommen Darpatien vielleicht sogar mehr als anderswo.

 

Die Hauptmännin versuchte, nicht an die Wölfe zu denken, die vermutlich von Kor gesandt worden waren, um die Menschen an den grausamen Preis jedes Krieges zu erinnern.

 

Für was kämpften die Gestalten, die hier auf Trommeln würfelten, ihre Waffen und Stiefel putzten, Wäsche wuschen, Pferde striegelten, oder einfach nur Wache standen? Für Sold, Ehre, oder dafür, dass der einzig richtige Baron, die wirklich wahre Baronin am Ende auf dem Drachenthron Platz nehmen würde?

 

Gesche beschlich das Gefühl, dass jeder hier wusste, dass sie vor vielen Götterläufen einmal eine wilde Liebesnacht mit dem schönen Adran verbracht hatte, dem erklärten Erzfeind der "Ismenischen". Vielleicht ging ihr Severins Ableben deswegen so nahe. Aber wer hätte damals, auf dem Maskenball zu Burg Friedstein, wissen können, wie die "innige Freundschaft" der Festgäste einmal enden würde? 

 

Bis zum Kriegsrat, der zur Praiosstunde stattfinden sollte, war es noch ein wenig Zeit, laut dem kleinen Bauernring, der um ihren Hals baumelte. An der Spitze des Pfeils hängte sie ihn in Richtung Praios. Gesche tat so, als würde sie die schlichte Sonnenuhr - die mittels eines durch ein Loch ins Innere fallenden Lichtflecks die Stunden anzeigte - ein wenig länger studieren. In Wahrheit lauschte sie zwei Söldnern, die sich in ein paar Schritt Entfernung ein Karnickel brieten.

 

"Die Heilige Artema selbst hat uns den Sieg geschenkt, kein Zweifel", brummte der schnauzbärtige Korgeselle, der über seinem geschlitzten und gepufften Wams einen klirrenden Kettenkragen trug. "Sie hat den Sturm und den Hagel geschickt, an ihrem Festtag."

"Artematag war aber schon vorgestern", antwortete sein stoppelhaariger Gefährte, der sich den Federhut in den Nacken geschoben hatte und gerade ein leckeres Sößchen anrührte.

"Egal, die guten Götter sind auf unserer Seite. Diesen Ketzerbaron, den schicken wir in die Niederhöllen, diesen Lüstling Adran".

"Adran nimmt die Frauen hart ran", kicherte der mit dem Hut. "Und nicht nur die..."

"Wenns nur das wäre. Die Firuna hat gehört, also einer aus Drachweiler hats ihr verzählt...der falsche Baron hat einen verwunschenen Hexengarten vor seinem Schloss. Wenn da ein Rechtgläubiger reinläuft, wird der ganz wirr und vergisst den wahren Glauben. Dann packen ihn die Satuariensweiber, splitterfasernackt, und opfern ihn auf dem Stein, der in der Mitte aufragt." Der mit dem Kettenkragen schlug das Praioszeichen, nicht ohne Glanz in den Augen. "Wenn der arme Kerl aber wegläuft, bringts ihm auch nichts. Daneben stehen lauter Elfenbüsche, die sehen nicht aus wie Büsche, sondern sind verzaubert und lebendig. Die greifen nach einem, und die Levthansbuhlen kriegen einen doch."

Gesche seufzte, ein wenig zu laut, wie sie merkte. Als sie die irritierten Blicke der Landsknechte trafen, eilte sie weiter,  auf das große Feldherrenzelt zu, das sich gerade füllte.

 

Wurde diese Fehde etwa deswegen geführt: Weil irgendwelche Leute abergläubischem Geschwätz und den Hetzreden der Mächtigen glaubten? Verwundert über sich selbst trat die Konnetabelin ein. Sie würde gleich dem Kriegsrat der Herren beiwohnen und tat so, als ginge ihr der Kampf um Oppstein nichts an?

 

 Die Adeligen standen um einen großen Kartentisch und schoben die Figürchen hin und her, die Gesche selbst geschnitzt hatte, ein Gedanke, der merkwürdig genug war.  

 

"Ah, Gesine Bretzelbeck ist eingetroffen" Hochwürden Deggen schaute sie an, mit Vollbart und Rüstung. Die Stimme des Rondrageweihten klang nicht tadelnd, wie Gesche befürchtet hatte, sondern nach einer sachlichen Feststellung. Glyrana stand neben ihm und wirkte ein wenig betrübt. Sie hatte Adran eine Schlacht bei Oppstein vorgeschlagen, sauber und ehrenvoll, ohne Winkelzüge und Hinterhalte. Aber die Mersingen betete auch zur sanften Göttin Tsa. Ismena Rondria, die "wahre Thronerbin", stand ein wenig unscheinbar neben ihr und lächelte unergründlich vor sich hin. Ein wenig erinnerte sie an eine junge, hungrige, geschmeidige Löwin. Vielleicht ist Adrans Kousine ja für Krieg und Streit geboren worden, dachte Gesine, als Tochter eines Rondrianers, die während der Dritten Dämonenschlacht das Licht der Welt erblickt hatte.   

 

Daneben stand Rauline Finkenschlag, die Firunsgesellin, Veneficus, der Baernfarner Magier, Dorian, der Söldnerhauptmann, ihr eigener Herrn Alrik, dessen Sohn Alboran nebst Gemahlin Haldana und noch einige weitere Gestalten, die sie im Halbdunkel nicht auf Anhieb erkannte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Gesche war es einfach nicht gewohnt, Edelgeborenen derart nahe zu kommen, und in deren Gegenwart vielleicht selbst das Wort zu ergreifen.

 

"Es ist zwar noch nicht ganz Praiosstunde, aber wir sind vollständig. Ich denke, wir fangen an, bevor das Mittagsmahl kalt wird", sagte Deggen freundlich, aber bestimmt.

 

Gesine musste wieder an Severin und das Nachtmahl der Wölfe denken. Leichte Übelkeit breitete sich in ihr aus.

 

"Ich habe zwar nicht den Oberbefehl, aber der Rat hat mich gebeten, die Lage kurz zusammen zu fassen", sagte Ismenas Vater. "Man kann sagen, wir sind heute schon weiter, als wir es beabsichtigt hatten. Der Pass wurde ohne größeren Widerstand genommen, die Friedwanger und Rammholzer sind erfolgreich durch die Hohenwaldklamm und das Schärtlein auf Oppsteiner Gebiet vorgestoßen."

 

Deggen wollte den Vormarsch auf der Karte zeigen, kam mit dem Zeigefinger aber nicht zurecht. Gesine reichte ihm den Pfeil, was der Rondraritter mit einem dankbaren Nicken quittierte. Schärtlein? Das meinte wohl die kleine Seitenklamm, die aus der eigentlichen Schlucht heraus führte. Mit dem Pfeil wies Deggen auf die Straße, die von Markt Oppstein herab nach Drachweiler führte. "Gleichzeitig ist es Travian von Schlotz gelungen, das Dorf vom Norden her zu erreichen und den Gegner unter Pfeilbeschuss zu nehmen. Dieser hat sich daraufhin auf dem einzigen ihm verbliebenen Weg zurückgezogen, Richtung Bethel." Der Diener der Wächterin auf den Zinnen Alverans war nun sichtlich in seinem Element, und zeigte mit dem Pfeil die Bewegungen an. 

"Zwar haben wir selber drei friedwängische Gardisten verloren, leider.  Aber die Verluste der Adraniten belaufen sich bereits auf fünf Gefallene und acht Gefangene. Ein leichter und eindeutiger Sieg, trotz allem."

 

Alrik, der einäugige Baron von Friedwang, stützte sich schwer auf den Kartentisch. Der vertraute Tabakgeruch drang Gesche in die Nase. "Dennoch, der Sieg hätte umfassender sein können. Im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Friedwanger hatten eigentlich die Aufgabe, Drachweiler von Rahja her zu besetzen, zusammen mit der Schwarzen Lanze. Damit wäre Lares der Rückzugsweg abgeschnitten worden." Der Freiherr blickte seine eigene Hauptmännin schroff an. "Wir hätten Oppstein jetzt schon in der Tasche haben können."

 

Gesche schluckte. Severin war tot, und Alrik tat so, als wäre der Friedwanger Vorstoss ein Reinfall gewesen? Sie straffte sich: "Die Steinböcke haben nicht mit Gegenwehr gerechnet, Euer Hochgeboren. Der Weg durch die Schlucht war versperrt. Offenbar haben die Adranschen versucht, uns in den Rücken zu fallen und wiederum den Pass zu besetzen. Das konnte zum Glück verhindert werden. Leutinger Rammhölzel ist gefallen, Euer Hochgeboren, und..." Gesche verhaspelte sich. Es fiel ihr schwer, Alrik mit seinem formalen Titel anzusprechen, und dazu kam noch die Sache mit Severin. Die Konnetabelin verspürte einen Anflug von Aufsässigkeit in sich aufsteigen. Dann rief sie sich selbst in Ordnung. Im Krieg war Disziplin und Gehorsam unerlässlich, wenn man selbst am Leben bleiben, geschweige denn den Sieg davontragen wollte.

 

"Rottmeister Tanner hat den Befehl übernommen und den Gegner zurückgetrieben. Der ist allerdings so schnell geflohen, auch in Drachweiler, dass seine Leute keine Gelegenheit mehr hatten, ihnen den Weg abzuschneiden." Gesche versuchte ein spitzbübisches Grinsen, was bei Alrik sonst immer verfing.

 

Seine Hochgeboren blickten heute allerdings ungnädig. "Leutinger Tanner...wo ist er jetzt? Ich meine, die erste Rotte war beritten, der Feind nicht."

 

"Verzeiht, Euer Hochgeboren, er hat sich vom Feldscher einen schadhaften Zahn reißen lassen, und kuriert sich erst einmal aus", sagte Gesche steif. Vermutlich hatte Herdfrieds Gebrüll die gefangenen Oppsteiner zu Tode erschreckt, die an irgendeine grausige Folterung gedacht haben mussten. Dass der Leutinger noch nicht wieder auf den Beinen war, lag auch daran, dass er sich mit reichlich Gebranntem betäubt hatte, vor der Tortur.

 

Einen Augenblick lang hoffte Gesche, dass der verstimmte Baron einen anderen Steinbock zu ihrer neuen Rechthand bestimmen würde. Aber diesen Gefallen tat ihr Alrik Tsalind nicht. Der Baron gestattete sich sogar ein schnaubendes Schmunzeln. "Wahrlich eine blutige Schlacht."

 

Gesine nickte, ebenfalls ungehalten, was sie zu verbergen trachtete. Alrik Tsalind war Baron, sie nur eine Bauerntochter, es half nichts, sich gegen die Ordnung der Welt aufzulehnen. Deggen merkte die Mißstimmung und beeilte sich, im Lagevortrag fortzufahren.

 

"Es stimmt schon, lieber Alrik, die Adranschen sind so schnell geflohen, dass wir nicht einmal Zeit hatten, sie zu umzingeln". Auch der Geweihte probierte ein Schmunzeln. "Lares Rückzug mag ehrlos gewesen sein, aber ansonsten erfolgreich. Dem Feind ist es gelungen, die Masse seiner Kräfte aus der Umklammerung zu befreien und von Bethel aus Richtung Markt Oppstein abzumarschieren. Querfeldein, wobei ihm seine Ortskenntnis geholfen haben mag. Laut Spähern ist er gerade dabei, sich nördlich des Oppenbachs wieder zu sammeln."

 

Der Pfeil kehrte nach Süden zurück.

 

"Heute morgen haben einige Reiter festgestellt, dass sich noch immer Adraniten in Bethel befinden. Vermutlich die Lanze Glorianer. Sie halten den Weiler nach wie vor besetzt und versuchen, weitere Aufklärung zu unterbinden."

 

"Aber...da ist doch nichts, was sich zu verteidigen lohnt." Rauline Finkenschlag runzelte die Stirn. "Außer dem Firunspfad in die Berge."

 

"Darum geht es vermutlich gerade", sagte der Baernfarner. "Lares mag gestern keine allzu glückliche Figur gemacht haben. Aber er ist ein erfahrener Hauptmann. Ich vermute, dass das Ganze ein Ablenkungsmanöver ist. Wir sollen dazu verlockt werden, uns Bethel zuzuwenden, während sich Lares Hauptmacht bei Markt Oppstein neu formiert. Wir könnten weiter gen Firun marschieren, müssten dann aber damit rechnen, dass die Glorianer auf Drachweiler vorrücken."

 

"Es ist nur eine Lanze", sagte Rauline. "Mit der werden wir fertig."

 

"Ja, aber sie ist hochbeweglich und zumindest für Störmanöver geeignet." Deggen tippte mit dem Pfeil gegen sein bärtiges Kinn. 

"Die Frage ist, ob wir uns auf das Spiel einlassen und zunächst Bethel säubern. Was Lares Zeit verschafft. Womöglich würden wir uns dabei verzetteln?"

 

"Es kommt noch schlimmer", sagte Alrik Tsalind. "Vor etwa einer Stunde ist Mutter Herdegard eingetroffen, Priorin des Traviaklosters Sumus Säule. Sie will eine sofortige Schwerterruhe aushandeln, um zwischen uns und Adran zu vermitteln."

 

Veneficus blickte erstaunt: "Sumus Säule? Die Priorei bei Senkenthal untersteht doch dem Kloster Alveranskuppen. Dessen weltlicher Vogt bist du, Alrik. Wie kann uns Äbtissin Chasine derart in den Rücken fallen?"

 

"Nun, Mutter Herdegard hat durchblicken lassen, dass sie im Auftrag von weiter oben handelt. Der Friedensstadt, womöglich sogar der Aldeburg. Vorhin hat sich Herdegard schon beschwert, dass wir den Gefangenen Ketten angelegt haben. Dabei haben die gestern nacht zu türmen versucht, aus der Scheune." Der Friedwanger blickte empört. "Jetzt will sie nach Markt Oppstein. Vermitteln." Alrik spuckte das Wort beinahe aus.

 

"Die Traviakirche dürfte nicht gerade auf der Seite Adrans stehen", gab Veneficus zu bedenken. "Vielleicht sind wir da sogar im Vorteil." Bevor am Ende die Markgräfin ein Machtwort spricht, im "Streit innerhalb des Hauses Oppstein", fügte der Graumagier in Gedanken hinzu, während er den Zauberstab mit beiden Händen umklammert hielt.

 

"Wir verlieren Zeit, wenn wir uns jetzt auf Verhandlungen einlassen", knurrte Alrik. "Zeit, Lares Gauklertruppe den Rest zu geben. Der Jahreswechsel ist nicht mehr fern. In den Namenlosen Tagen lässt sich schlecht Fehde führen. Dann folgt der 1. Praios und das Neujahrsfest. Adran hätte Gelegenheit, seine Armbrust nachzuladen, sozusagen." 




Oppsteiner Hof, Windstag, 16. Rahja 1045, abends

 

"Senwitzer Zander, in Weißwein gedünstet, an Fenchel-Gurken-Salat." Baron Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen lehnte sich in seinem samtgepolsterten Stuhl zurück. Zufrieden strich er sich über den mächtigen Rüschenkragen, der wie eine Serviette aus seiner glitzernden Brokatweste herausragte. "Gestern erst im Blauweiher gefangen."

 

Priorin Herdegard, die in einiger Entfernung, am gegenüberliegenden Ende der Festtafel saß, stocherte schüchtern in ihrem Festmahl herum. Vermutlich hätte sie die edle, reinweiße Speise am liebsten den Armen gespendet, wenn sie denn reichlicher ausgefallen wäre. Die Traviageweihte kaute hoch und lange, was nicht am exquisiten Geschmack lag.

"Zander sind schwer zu überlisten", sagte der Baron und hob den Glaskelch, in dem der feinherbe Rengorer Geiersgau perlte. Die Traviageweihte prostete ihm pflichtschuldigst und verlegen zu.

Während der Baron formvollendet den Speisefisch zerlegte, beugte er sich nach vorne und lächelte kokett.

"Eine Waffenruhe? Gewiss, dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Jetzt, im heiligen Monat Rahja. Es sind allein meine Feinde, die mich hinterhältig bedrängen. Es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Altes nostrianisches Sprichwort."

"Sagen das nicht auch die Andergaster?"

Adran lachte leise auf. "Ihr gebt beiden Seiten die Schuld, Euer Gnaden? Mir, ebenso wie meinen Neidern? Ehemalige Freunde und Bundesgenossen, die sich unter dem Vorwand von Verhandlungen in meine Baronie schleichen, eines meiner besten Streitrösser stehlen...Drachweiler überfallen..." Adran deutete mit Gesten an, dass die Liste noch um einige Punkte verlängert werden könnte. "Nun bitten sie mich um eine Waffenruhe ?! Das ist doch ein schlechter Scherz!"

"Ihr missversteht mich, Euer Hochgeboren. Die Heilige Familie würde eine Waffenruhe begrüßen. Um der einfachen Gläubigen willen, die am meisten unter einer solchen Fehde leiden." Die Priorin merkte, dass sie zu leise gesprochen hatte, also wiederholte sie ihr Anliegen laut. Scheu blickte sie sich im Rittersaal um, der so gar nicht aussah wie das bescheidene Refektorium der Priorei Sumus Säule, in Sichtweite von Senkenthal. Es roch nach feinstem Kerzenwachs, Wohlstand, Zander und edlem Wein.

Erst vor einer Woche hatte sie der Ruf der Äbtissin ereilt, mitten in der täglichen Singstunde, klar und drängend: In  Oppstein sind Travias Gebote bedroht, kümmere dich um Waffenruhe und Vermittlung.

Im abgelegenen Kloster von Alveranskuppen, hoch oben in der Bergeinsamkeit, hielt man sich aus weltlichen Händeln wohlweislich heraus. Zumindest, seitdem Chasine von Leuenschlag das Amt der Ehrwürdigen Mutter innehatte. Dass die Vorsteherin des Mutterklosters dennoch früher eingeweiht worden war als ihre "Tochter"in der Filiale  bei Senkenthal, ließ tief blicken.

Offenbar hatte der Wunsch nach einem schnellen Eingreifen der Kirche seinen Ursprung im Friedenskaiser-Yulag-Tempel. Ein böser Geist durchwehte die Sichellande, soviel stand fest.

 

Die noch recht junge Priorin hätte gerne genauere Anweisungen erhalten. Sie ahnte, dass es diese nicht geben würde. Die Abtei von Alveranskuppen war eng mit Baron Alrik verbandelt, dem Klostervogt, der selbst Fehde gegen Adran führte. Ein Grund mehr, auf dem "Gänsberg" die Schwingen still zu halten.

Der Priorei wiederum war im Krieg der Rote Hahn aufs Dach gesetzt worden. Der langwierige und mühselige Wiederaufbau hatte erst dank einer großzügigen Spende des Hauses derer von Friedwang abgeschlossen werden können. Mit einem Wort: Ihre Mission war delikat.

Herdegard fühlte sich keinesfalls parteiisch. Die Dukaten aus Serwas Schatulle waren ja keine schnöde Bestechung gewesen. Sondern eine demütige Opfergabe, voller Dankbarkeit für den Dispens des Hohen Paares. In Bezug auf die Verlobung der friedwanger Baronieerben Ravenhart und Tsalinde, somit von Vetter und Base ersten Grades.

Allerdings, völlig gleichgültig durfte es der Frau Priorin auch nicht sein, auf welcher Seite der Grenze gefochten wurde. Ihr Kloster lag nun einmal auf dem Lehensland der Edlen Syrenia von Mersingen, die ebenfalls Adran befehdete. Je länger sich die Kämpfe hinzogen, desto höher war die Gefahr, dass auch Sumus Säule in Mitleidenschaft gezogen werden würde.

Von der alljährlichen Gänsbergwallfahrt zur Abtei ganz abgesehen, die jedes Jahr zum 25. Travia ihren Höhepunkt erreichte. Am Pilgerzug zum Suppenkessel des Heiligen Badilak nahmen immer auch Gläubige aus Oppstein, Echsmoos und Mistelhausen, gelegentlich sogar aus Rappenfluhe, Schlotz und Zippeldinge teil. Die Fehde musste spätestens bis zum Herbst beendet sein, am besten schon weit früher.

Ihr Auftrag lief nichtsdestotrotz auf eine Gratwanderung hinaus. Was zum Beispiel meinte Chasine mit In Oppstein sind Travias Gebote bedroht? Meinte das nun den infamen Lebenswandel des Herrn Adran? Waren Krieg, Hass und Zwietracht gemeint, die niemals traviagefällig sein konnten - oder alles zusammen?

Sollte sie am Ende gar für die Ismenischen spionieren, bei dieser günstigen Gelegenheit? Viel zu sehen hatte es nicht gegeben, auf ihrem Weg durch das tiefe Oppsteiner Tal, zusammen mit Irmlind, ihrer Novizin und helfenden Hand. Die Rauchsäulen über dem Wald mochten ebenso Lagerfeuer gewesen sein wie der Qualm von Schmelzöfen oder Kohlenmeiler.

Am Steg über den mächtig angeschwollenen Oppenbach – das warme Wetter ließ den Schnee wohl auch in den höheren Berglagen schmelzen - war sie von stahlklirrenden Wachen in Empfang genommen worden. Adrans Vorposten waren ebenso höflich wie misstrauisch gewesen. Um den Argwohn zu zerstreuen, hatte Irmlind die Heimkehrbitte an die Gütige Mutter gesungen, ein recht bekanntes Pilgerlied. Entgegen dem Gerücht, wonach Oppstein vollständig vom wahren Glauben abgefallen sei, waren sie beide mit gebührendem Respekt empfangen worden.

Auf dem Marktplatz von Oppstein hatte Herdegard dann endlich Adrans Kriegshaufen entdeckt, der auf dem Pflaster kampierte, unter den Stoffdächern der Buden, zwischen Spießgestellen, Pferden, Strohhaufen, Feuerpfannen.

Die Adranschen hatten ja sämtliche Zelte verloren, bei der Aufgabe des Heerlagers von Drachweiler. Herdegards schlimmste Befürchtungen hatten sich bestätigt: Die "Drachen" trösteten sich in den Schänken, zechten, fluchten, würfelten, kartelten oder vergnügten sich mit jungen Männern und Weibern, die so gar nicht wie ihre Verlobten oder Eheleute aussahen. In den schummrigen, stickigen Schankstuben war immer wieder ein derbes "Bei Levthans Klöten!", "Aarmar zerstampfe dich!" "Möge Satuaria deine Eier verhexen!" oder "Bei Sumus uranfänglichen Riesentitten!" zu hören gewesen, Flüche, die auf der anderen Seite der Front doch eher unüblich waren.

Mit hochrotem Kopf hatte sich Herdegard ins Schloss zurückgezogen. Zum Glück war bereits gnädige Dunkelheit hereingebrochen, über dem berüchtigten Lustgarten des Herrn Barons. Schon allein das Wort war abscheulich und traviaungefällig, fast schon perainelästerlich. Wir ernten, was wir säen.

Im Fackellicht hatten die obszönen Buschwesen wie Schreckenskreaturen aus der Sphäre der Anti-Rahja gewirkt. Welch Vergewaltigung von Mutter Natur. Zum Glück trug sie über ihrer orangefarbenen Robe ein Gänseamulett, das vom Erhabenen Vater in Rommilys daselbst geweiht worden war. In dessen milden Kupferglanz waren die lüsternen Schattenwesen zurückgewichen, so hatte es sich zumindest angefühlt. Es gab noch Hoffnung für die Baronie Oppstein, wo seit Jahren Selem und Zamorrah herrschte ?!

Nun aß Herdegard Zander in Weißweinsauce an Gurken-Fenchel-Salat und schlürfte am Wein, wohl wissend, dass sie Gebranntes, Gekeltertes oder Gebrautes nicht recht vertrug. Vor allem mochte sie keine Gurken, die sie mit dem Messer und der zweizinkigen Gabel fein säuberlich an den Rand des goldberänderten Tellers beförderte. Die Höflichkeit allein hatte sie am Tisch Platz nehmen lassen. Irmlind, die noch keine 18 Götterläufe alt war, sollte nicht in Versuchung geführt werden – Gaumenschmaus und blanker Wein, um Alverans Willen! Das unschuldige Mädchen speiste beim Gesinde. Der Fisch war jedenfalls nicht mit Traviamönchspfeffer gewürzt, ein Kräutlein, das Frauen wie Männern gleichermaßen dabei half, die törichte Fleischeslust zu mildern.

Auch wenn es kein Wildbret war, das hier gereicht wurde, war es weithin bekannt, dass wohlschmeckende Speisen dem Schlemmer Lust auf mehr bereiteten… man musste sich nur umschauen, um zu sehen, wie soetwas endete.

Ebenso scheu wie missbilligend spähte Herdegard im Remter umher, der besonders prunkvoll eingerichtet war - mit Ölgemälden, Kerzenleuchter und einem Khomgepardenfell, das neben der weißgedeckten Festtafel ausgestreckt lag, als Stolperfalle für die emsig herum huschenden Diener und Pagen. Wie gut, dass der Tischabstand zu ihrem Gesprächspartner derart groß war, sonst hätte sie Travias gerechten Zorn nicht zurückhalten können. Da draußen hungerten Frauen, Alte und Kinder, in Folge der endlosen Kriege seit dem Orkensturm – während in Schlössern wie diesem geprunkt und geprasst wurde!

Adran Aurentian Randolph von Berlînghan-Oppstein-Mersingen plagten derweil ganz andere Sorgen.

"Er hätte sich diese Anmaßungen niemals gefallen lassen! Ich glaube nicht, dass Redenhardt an meiner Stelle derart langmütig gewesen wäre." Adran blickte hinüber zu seinem Adoptivvater und Onkel, der als kriegerisches Porträt über dem Kamin hing, in vollem Harnisch. Der frühere Baron von Oppstein und Stadtvogt zu Rommilys hatte rote Haare gehabt, wie Herdegard erstaunt feststellte, nebst grünen Augen. Der Priorin war das Gerücht zu Ohren gekommen, dass der Stadtvogt von Rommilys am Ende seiner Trunksucht ebenso wie dem Quecksilber zum Opfer gefallen war. Quecksilber, mit dem eine horasische Lustseuche hatte behandelt werden müssen. Beim Stadtvogt von Rommilys. Der Fisch stank eben für gewöhnlich vom Kopf.

Dennoch war es seltsam, dass die Adraniten den sicher mächtigen und reichen, zumindest titelreichen Altbaron derart in Ehren hielten.

Redenhardt hatte gerne mal ein altes Weiblein als Schwarzhexe verbrannt, was sogar bei der Heiligen Inquisition auf Tadel gestoßen war. Von Walerian Karrer, dem glaubenswahnsinnigen "Zorn des Praios" ganz zu schweigen, der Redenhardts Vogt Edorian als Hofrichter gedient hatte. Walerians Versuch, eine Drachweilerin als Satuarienstochter hinzurichten, und sein ominöses Ende im Drachenwald waren der unmittelbare Anlass für den Adransaufstand gewesen, zum Jahreswechsel 1024 auf 1025 nach Bosparans Fall. Somit einer der Gründe, warum sie nun einem Freiherren Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen gegenüber saß.

Adran beendete die stumme Zwiesprache mit seinem Adoptivvater.

"Dann das Gießenborner Silber! Der Ilpettastollen liegt fast vollständig auf Oppsteiner Gebiet, was bei den Anteilen der Gewerke kein bisschen berücksichtigt wird. Wenn Alrik nach Drachweiler marschiert...dann ist das Diebstahl, was sage ich, Raub! Aber damit kennt der Fuchs von Friedwang sich ja bestens aus!"

Herdegard hatte eine weitere Gurkenscheibe entdeckt und zur Seite geschoben. Mit der Hand korrigierte die dunkelblonde Geweihte den Sitz ihrer kunstvoll geknotenen und hochgesteckten Zopffrisur, am Hinterkopf.

"Sie haben die Geduld des Hauses Oppstein mit Schwäche verwechselt", grollte Adran. "Nun sieht man das Ergebnis."

"Der Ilpettastollen? Das Berggericht hat dazu bereits ein Urteil gesprochen, im letzten Ingerimm. Da der Ilpettastollen in Richtung Gießenborn, in den Gießenbach entwässert wird, liegt die Erbstollengerechtigkeit eindeutig auf Friedwanger Seite." Priorin Herdegard Huntstößer kannte sich trotz ihres Namens – einer ihrer Vorfahren war wohl mal ein Lorenschieber gewesen - nicht wirklich mit Bergbau aus. Geschweige denn mit den Abgründen des Bergrechts. Die Unterhändlerin wollte Adran nichtsdestotrotz beweisen, dass sie sich bestens auf das Treffen vorbereitet hatte.

"Ein sehr gewagtes Urteil. Meines Wissens begründet das Anlegen eines Erbstollens keinesfalls Ansprüche auf fremdes Lehensland. Das Haus Oppstein war bislang geduldig. Da es lange Jahre mit dem Gut Gießenborn belehnt war, auf der anderen Seite des Bergs...nun sitzt dort plötzlich ein Binsböckel. Soll ich da die Füße still halten ?"

"Ich weiß, Euer Hochgeboren, nach Oppsteiner Recht liegen sämtliche Schürfrechte beim Baron, der sie dann in der Regel verpachtet. In Friedwang darf jeder muten, der eine Mine dann auch wirklich zu nutzen vermag"

"Auf Oppsteiner Land sollte Oppsteiner Recht gelten, findet Ihr nicht, Euer Gnaden?"

"Die Frage ist, wie tief dieses Recht geht. Reicht es nur bis zum Grund des Ackerbodens oder gleich bis hinab zur Ersten Sphäre? Ohne Entwässerung eines Stollens, mit Hilfe eines teuren Erbstollens darunter, könnte gar nicht geschürft werden. Insofern macht der Spruch des Berggerichts schon Sinn."

Adran musterte Herdegard, die Traviapriesterin, die gerade wie eine Ingerimmdienerin klang, und fasste sich mit der Hand ans Kinn, die ein kleiner Siegelring schmückte. Die Priorin ahnte, was hinter seiner Aristokratenstirn vor sich ging. Das Kloster Sumus Säule war auch mit Silber aus Gießenborn bezahlt worden.

Der Hausherr winkte ab. "Selbst wenn es so wäre, wie Ihr sagt. Es ändert nichts daran, dass meine Tante Mena eine verlegte Gewerkin ist. Die Oppsteinischen Kuxe kann sie und ihr kleiner Binsböckelbastard vergessen, Erbstollen hin oder her."

Herdegard kramte in ihrem Gedächtnis, was eine verlegte Gewerkin war. Offenbar eine Anteilseignerin, die ihre Zubußen nicht rechzeitig bezahlt hatte: die nötigen Investitionen, etwa in die Wasserkunst, die bislang Efferds Element aus der untersten Sohle des Bergwerks geholt hatte.

Die Priorin seufzte innerlich. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie müsste den Zechern drüben in den Schänken und Wirtshäusern erzählen, für welche Zwecke genau sie ihren Kopf hinhalten wollten. Zwecke, die eher Phex als Rondra gefällig waren.

"Dieser Streit sollte unter den Gewerken geklärt werden, nicht auf einem Schlachtfeld, findet Ihr nicht, Euer Hochgeboren? Aber wenn wir gerade bei Schiedssprüchen sind...der eigentliche Zwist geht ja wohl um Redenhardts Erbe."

"Das mir schon vor langer Zeit zugefallen ist, nach dem Willen des Hauses Oppstein und der Fürstin. Ich weiß nicht, warum plötzlich der halbe Sichelhag glaubt, an meinem Thron sägen zu müssen."

"Mit Verlaub, Euer Hochgeboren, aber auch in Eurer Familie gibt es Kritik an der derzeitigen Erbfolgeregelung. Verzeiht mir meine offenen Worte. Aber Eure Tochter, Baroness Praiodane, wurde unehelich geboren. Ihr habt Sie dankenswerterweise als Eure Nachkommin anerkannt und Ihre Mutter rasch geehelicht." Herdegard hüstelte, "Aber auch hier scheint es...abweichende Auffassungen zu geben. Ismena Rondria ist die älteste noch lebende Nichte Baron Redenhardts, und wäre damit die Nächste in der Erbfolge. Außerdem ist sie der Spross eines Traviabunds. Gewiss, Praiodane wurde legitimiert, aber ich kann gewisse Vorbehalte verstehen. Letztlich müsste darüber der Oppsteiner Familienrat entscheiden, in Absprache mit Erlaucht Swantje. Ein Treffen im Palais Oppstein zu Rommilys würde sehr zur Entspannung der Situation beitragen, denke ich."

 

"Herdegard, ich bitte Euch. Darüber haben ich und meine werten Gegner doch schon vor einem Jahr oder mehr gesprochen. Den Familienrat zusammenzurufen. Es gab damals nicht einmal Einigkeit, wem dieser Rat angehören soll: Die Oppsteins der Rommilyser Mark oder alle Familienmitglieder im ehemaligen Darpatien, also auch aus dem heutigen Perricum. Die Baernfarns wollten unbedingt albernische Oppsteins dabei haben, natürlich, Isemena Rondrija ist ja die heimliche Fürstin von Albernia. Die alberne...Verzeihung, albernische Fürstin der Herzen."

Adran lachte hohl auf und ließ sich von einem Diener nachschenken. "Das große Oppsteiner Familientreffen, ja, schön wäre es gewesen. Ich hätte gerne Onkel Gernbrecht dabei gehabt, immerhin Obrist der Rommilyser Reiterei."

"...die nun in horasischen Diensten steht."

"Aber viel zur Befreiung dieser Baronie beigetragen hat. Von Oppstein und der gesamten Wildermark. Stattdessen schimpft sie jeder Verräter und Überläufer. Undank ist eben der Welt Lohn, jaja. Die Hand, die nährt, die wird gebissen. Nun, selbst wenn man Eurem...kühnen Gedankenspiel folgen wollte, Priorin. Wulfhelm von Oppstein ist ebenfalls ein Neffe Redenhardts, und weit älter als das Rondritscherl...als Ismena Rondrija. Er geht stramm auf sein vierzigstes Lebensjahr zu. Auch Wulfhelm hat viel zur Befriedung des Landes beigetragen. Weit mehr als die Herrschaften, die gerade Drachweiler überfallen haben."

"Nun, Ihr wisst es sicherlich besser". Herdegard vermisste gerade das Schreibbrettchen, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte. "Aber ich habe gehört, dass Hauptmann Wulfhelm abgewunken haben soll, als treuer Offizier der Reichsarmee. In Sachen Erbfolge."

"Er hat eben Charakter, weit mehr als diese dahergelaufene Streunerin...die verzogene Baernfarngöre..." Adran merkte, dass er sich gerade echauffierte, und tupfte etwas verschütteten Wein auf. "Verzeiht, Euer Gnaden. Aber die Zeit für einen Kompromiss, die ist schon lange abgelaufen."

"Aber wäre es nicht ein gangbarer Weg, wenn doch noch der Familienrat nach Rommilys einberufen würde? Der dann über Eure Nachfolge entscheidet, Euer Hochgeboren? Ismena als künftige Baronin von Oppstein, zunächst mit dem Titel einer Edlen von Senwitz ausgestattet, das wäre doch ein Schritt in die richtige Richtung."

"Praiodane ist meine rechtmäßige Erbin, niemand sonst", sagte Adran mit fester Stimme. "Das bin ich meiner Gemahlin Thahira schuldig."

"Das wäre der nächste Punkt. Eine traviagefällige Wiederverheiratung scheint mir ebenfalls im Sinne des Hauses Oppstein zu sein...."

"Will die Kirche einem trauernden Witwer vorschreiben, noch einmal vor dem Altar der Gütigen Mutter zu schreiten, nach seinem entsetzlichen Verlust? Zumal ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, dass Thahira eines Tages vielleicht doch noch zurückkehrt..." Der Baron blickte mit traurigen Augen auf das Pardelfell.

"Euer Hochgeboren, Ihr seht mich verwundert? Soweit ich weiß, habt Ihr seinerzeit eine bewegende Traueranzeige im Landboten veröffentlicht." Herdegard klang ein wenig spitz.

"Nun, die Annonce war aus dem Schmerz des Augenblicks geboren. Vielleicht habe ich da etwas voreilig gehandelt. Die Dunklen Lande sind noch nicht zur Gänze befreit. Manch Rechtgläubiger wurde dorthin verschleppt, galt als tot und ist später wieder aufgetaucht. Lasst mich offen sprechen. Nun, es gibt auch das Gerücht, dass meine liebe Gemahlin....die immerhin die letzte Präfektin der FDEA war...im Horasreich sein könnte, wo sie noch Verwandte hat. Freiheitsliebend, das war meine Thahira schon. Wenn alle Welt glaubt, man weile nicht mehr auf Dere und Feste...nun, so etwas wäre schon eine Möglichkeit, noch einmal völlig von vorne anzufangen. Womöglich ist meine Gattin falschen Versprechungen aufgesessen, wenn Ihr versteht, was ich meine."

"Nun, die Welt der Spione ist mir fremd. Aber ja...ich glaube, ich weiß, was Ihr meint, Hochgeboren."

"Seht Ihr? Sollte sich das wilde Gerücht bestätigen...nun, ich schätze Thahira anders ein. Aber gesetzt dem Fall, das mit dem zweiten Leben bei den di Mindros in Neetha würde zutreffen. Das wäre ein astreiner Fall für eine Reichsrechtliche Scheidung. Soetwas wäre ebenfalls nicht im Sinne der Gütigen Mutter Travia, nicht wahr. Manchmal ist es einfach besser, auf das gerechte Urteil der Götter zu vertrauen. Dass in diesem Fall aber noch nicht gesprochen worden ist." Adran blickte listig.

"Das vermag ich nicht zu beurteilen", sagte Herdegard. "Allerdings steht in meinen Augen die Tür für eine Verhandlungslösung noch offen. Dafür bräuchte es eine unverzügliche Waffenruhe."

"Eine Waffenruhe wird es nur dann geben, wenn sich Ismena wieder über den Pass zurückzieht. Sagt Ihr das, Euer Gnaden."

"Aber sie wäre möglich?"

"Ich war bereit, Ihr einen Edlentitel zuzugestehen...den Mantel des Vergessens über manch Unbill zu breiten, das sie und ihre Puppenspielerin Glyrana mir bereitet hat....und was war der Dank?" Adran drehte das Weinglas in der Hand. "Ich gebe Ismena bis zum Jahresende Zeit, um zurückzuziehen. Andernfalls werde ich sie mit Gewalt aus meiner Baronie hinausjagen, wie es mein gutes Recht ist."

"Ein Ultimatum?"

"Eine letzte Aufforderung zur Besinnung. Sollte sie Entgegenkommen zeigen, bin ich weiterhin bereit, sie zur Edlen von Blauweiher zu erheben. Danach sehen wir weiter, was ihre Zukunft im Hause Oppstein anbelangt. Zu diesem Zweck würde ich im neuen Jahr einen Familienrat einberufen, gerne auch in unserem Stadthaus zu Rommilys. In Absprache mit der Markgräfin, die ich bislang aus dieser unerfreulichen Geschichte heraushalten möchte. Sonst glaubt am Ende wirklich noch jemand, an Ismenas kindischen Ansprüchen wäre etwas dran. "

Herdegard antwortete nicht. Hatte Adran seiner Gegnerin gerade einen Köder hingeworfen, wie einem lauernden Zander im Blauweiher? Als Edle musste Ismena ihrem Vetter die Treue schwören...

Beide beendeten ihr Mahl. Von livrierten Dienern wurde abgedeckt.

"Ich werde Ismena von Eurem Vorschlag berichten", sagte die Geweihte. "Ismena und meiner Kirche."

"Seid bedankt für Euer offenes Ohr." Adran tippte die Fingerspitzen gegeneinander. "Ich weiß, was meine Feinde mir alles andichten wollen. Mir und meiner Erbin. Ich bin sicher, die Familie der Gläubigen weiß Niedertracht und falschen Ehrgeiz von uralter Familientradition zu unterscheiden. Die ich in Oppstein fortführe."

Herdegard blickte sich im Rittersaal um. "Auch hierzulande gab es einmal eine Zeit der Verirrung, die mir noch nicht zur Gänze überwunden zu sein scheint. Travia ist eine milde Herrin...aber es braucht Demut, Reue und Umkehr, um die Vergebung der Mutter Alverans zu erfahren."

"Verirrung, inwiefern?"

"Gewisse Rückfälle in die Zeit vor dem Silem-Horas-Edikt?"

"Euer Gnaden, ich bitte Euch. Ja, ich kenne die Geschichten. Oppstein, das Hexenland. Das neblige Reich der Druiden. Das ist doch üble Nachrede, auch wenn wir Oppsteiner ein erdverbundenes Völkchen sind. Das sagt ja schon der Name. Sumus Kraft wirkt überall, wohin wir auch unsere Füße setzen. Man kann ihr gar nicht entkommen. Nehmt nur den Namen Eures Klosters."

"Sumus Säule?" erwiderte Herdegard freundlich.

"Ja. Verzeiht, aber Sumus Säule klingt auch nicht gerade nach einem Praiosheiligtum." Adran ließ sein Talent als Charmeur spielen, und "himmelte" die Traviageweihte überm Wein - und mehrere Schritt Festtafel hinweg - an. "Versteht mich Recht, aber selbst die Traviakirche scheint die Alten Kulte nicht immer in Bausch und Bogen zu verdammen."

"Ach, das meint Ihr, Euer Hochgeboren". Die Geweihte lächelte unverdrossen zurück. "Sumus Säulen, das war der Name eines Waldstücks bei Senkenthal, das schon lange gerodet worden ist."

"Immerhin erscheint Euch dieser Name  passender zu sein als der alte Klostername, Tegelor. Nach dem Wiederaufbau der Priorei."

"Tegelor war der Name eines Zweigs der Familie Binsböckel, für dessen Seelenheil wir gebetet haben. Ein Zweig, der leider dem Bethanierkrieg zum Opfer gefallen ist. Nun, wir haben uns dazu entschlossen, diese Vergangenheit ruhen zu lassen. Adelige führen ihren Namen mit Stolz, das steht uns nicht zu. Ebensowenig wollen wir uns mit falschen Federn schmücken. Kloster an der Trollbrück, den Namen gibt es im Volksmund auch. Aber wir Diener der Gütigen Mutter sind keine Brückentrolle, die Süßes und Schleckwerk fordern, mit erhobenem Beil. Sondern allein milde Gaben für die Bedürftigen. So haben wir uns für einen alten Flurnamen entschieden."

"Gewiss. Es muss ein prachtvoller Wald gewesen sein." Adran blickte ein klein wenig verliebt, auch diese Rolle beherrschte er meisterlich. "Die Säulen der Sumu..." Der Finger des Barons streichelte geradezu um das Glas.

Die junge, blonde Traviadienerin war keinesfalls unattraktiv, fast schon an die Familie der Gläubigen verschwendet. Huntstößer, der Nachname hatte ebenfalls etwas Sinnliches.

Adran musste an sich halten, um nicht die entsprechenden Bilder in sich herauf zu beschwören. Ob sein Gast bereits verheiratet war? Sicher, die hochgesteckte Zopffrisur, die war schon lusttötend. Die geflochtenen, in einem langen Bürzel auslaufenden Haare sahen aus, als würde auf Herdegards Kopf eine Gans brüten.

"So beeindruckend war das Wäldchen auch wieder nicht", sagte die Geweihte. Die Priorin, die noch keine 35 Götterläufe alt sein mochte, wirkte jetzt doch bieder und spröde. "Sumus Säulein, das ist in Friedwang ein anderes Wort für eine Wilde Wutz. Manche sagen auch Eberbiestinger dazu. Es gibt eine alte Geschichte, wonach Baronin Oleana, die Jägerin, einen solchen Feenrich gefangen haben soll. Just an der Stelle, wo sich heute die Priorei befindet."

"Ein Fähnrich, interessant. Seine Fahne hat sicherlich einen wilden Eber gezeigt?"

"Ein Feenrich. Eine männliche Fee."

"So wie mein tapferer Lares?" schmunzelte Adran und merkte, dass er seine Zunge besser hüten musste. Nicht nur beim feuchtfröhlichen Liebesspiel mit seinem Günstling, dem er gestern Nacht das Missgeschick bei Drachweiler verziehen hatte. "Nun, Herr von Hochfels ist mein Burghauptmann, nicht mein Fähnrich", beeilte er sich hinzu zu fügen.

 

Herdegard verbarg ihren Gesichtsausdruck hinter einem Glas Wein. Natürlich kannte sie die Geschichten über Adrans "Leib"wächter. Die Meinungen gingen auseinander, in der Kirche, was die gleichgeschlechtliche Liebe anging, und ob man ihr den Traviasegen erteilen durfte. Allerdings war es kein Geheimnis, dass es noch andere Günstlinge gab, am Hof des Oppsteiners, Männer wie Frauen wie gleichermaßen. Derlei Unzucht war nun wirklich eine schwere Sünde.

"Die Wilde Wutz von Senkenthal. Ein schöne alte Sage aus dem Ries. In einem Käfig wurde der gefangene Ebermann auf die Burg gebracht. Oleana hat den Biestinger wie einen ihrer Höflinge gewandet und an ihrer Tafel Platz nehmen lassen...manche sagen, sie wollte ihn in eine traviagefällige Kreatur verwandeln. Andere behaupten gar, es habe eine Liebschaft zwischen Baronin und Wutz gegeben. Nun, beim nächsten Vollmond hat sich ihr Gast wieder quiekend in eine aufrecht gehende Wildsau verwandelt und ist davon gesprungen." Herdegards Lächeln war nun selbst so mild und kühl wie das Licht des Madamals.

"Was für ein Säumensch" lachte Adran. "Ein schönes altes Märchen. Gibt es auch eine Moral von der Geschicht´?" Der Baron umschloss das Kristallglas mit der Hand. "Ich würde sie so deuten, dass man das Wilde in uns Sterblichen niemals zähmen kann. Der Wunsch nach Freiheit und Ungezwungenheit wird am Ende immer die Oberhand gewinnen."

"Es gibt auch eine Freiheit im Gehorsam, mein werter Baron. Der derischen Obrigkeit gegenüber, aber mehr noch im Angesicht der Götter. Letztere Freiheit dürfen wir jeden Tag in klösterlicher Gemeinschaft erleben. Danke für den Wein." Die Geweihte leerte das Glas und stellte es auf den Tisch.

"Ich hoffe, der Fisch hat Euch ebenfalls gemundet?"

"Sehr zart und weiß, ja. Fast ohne Gräten. Auch wenn ich für gewöhnlich einfachere Kost bevorzuge."

"Glaubt mir, Euer Gnaden, ich auch. Nun denn. Ihr scheint eine Vorliebe für außergewöhnliche Geschichten zu haben. Vielleicht solltet Ihr einmal die Köchin kennenlernen. Sie weiß beide Kunstfertigkeiten auf das Vorzüglichste miteinander zu verbinden, das Kochen wie das Geschichtenerzählen."

Herdegard sah erstaunt über die riesige, wappenbestickte Serviette, mit der sie sich gerade die Lippen abtupfte. Adran klingelte und raunte einer Lakain etwas ins Ohr.

Wenig später trat ein altes, weißhaarige Mütterchen mit hoher Haube und Kochschürze ein. Trotz verrunzeltem Bergbäuerinnengesicht war ihr die verblühte Schönheit von einst noch anzumerken. Es folgte ein goldrot gewandeter Diener, mit Kasten.

"Euer Gnaden Herdegard, darf ich vorstellen. Meine beste Köchin. Sumunelda Zippelsteen."

"Sehr angenehm. Kompliment an die Küche." Die Priorin war mehr als einen Moment lang irritiert. In diesem Schloss schien noch immer der Geist des Wirtshauses zu wehen, das einst an gleicher Stelle gestanden hatte. Womöglich lag noch immer Travias Segen auf diesem Ort, und es war noch nicht alles verloren.

"Vielleicht sollte ich mein Ansinnen erklären", sagte der Oppsteiner vornehm. "Sumunelda würde gerne ihren Lebensabend in einem Kloster der Travia verbringen. Sie ist wirklich eine hervorragende Köchin. Vor allem kennt sie Geschichten, die wie geschaffen sind für lange Winter in altehrwürdigen Gemäuern. Kurzum, sie wäre eine gute Laienschwester im Orden des Badilak. Soweit es ihre nachlassenden Kräfte erlauben." Adran winkte den Kastenträger heran.

"Eine dieser Geschichten hängt mit diesem Kistlein hier zusammen. Ein wenig wohl auch mit der Geschichte Eurer Priorei."

"Das erstaunt mich, unsere Priorei ist noch sehr jung."

"Und teuer bezahlt, ich weiß, durch die Baronsfamilie. Als Dank für einen großzügigen Dispens des Hohen Paars."

Ein weiterer Wink. Der Diener ging zu Herdegards Ecke und öffnete den Kasten.

Adran lächelte ausdauernd.

Herdegard war schon wieder verwirrt.

"Holzscheite?"

Das Lächeln des Barons gefror.

 

Hektisch winkte er den Bediensteten zu sich heran.

Tatsächlich, in der Kiste lagen mehrere klobige, bereits gespaltene Brennholzstücke. Für einen Moment sah der Edelmann blasser aus, als es für seinen Stand üblich war. Mit den Fingern fuhr der Baron über die große Schatulle, stutzte, zog den filigranen Schlüssel heraus und schüttelte unmerklich den Kopf.

Was auch immer seine Aufmerksamkeit an diesem Kasten erregt hatte, in Herdegards Augen war es eine unscheinbare, verschließbare Allerweltskiste. Lediglich der Messingschlüssel sah ganz hübsch aus.

"Ist das der Schlüssel, den ich dir gegeben habe?" hörte Herdegard, die feine Gänseohren hatte, den Baron flüstern.

"Der, den Ihr unter Eurem Kopfkissen aufbewahrt habt, ja" antwortete der Diener.

"Der hier ist aus Messing, nicht Eisen. Das ist die falsche Kiste, du Narr."

Der Lakaie zuckte verlegen mit den Schultern.

"Nun bin ich aber gespannt, welche Geschichte sich hinter diesen vier Buchenscheiten verbirgt?" fragte Herdegard laut.

"Gewiss....doch...vier geweihte Buchenholzscheite. Für das Heilige Herdfeuer, Euer Gnaden, zuhause in Sumus Säule." Adran räusperte sich in die geballte Faust.

Sumunelda kicherte. "Ein Säule ist ein rosiges kleines Schweinchen, Euer Hochgeboren, versteht Ihr, ein Schweinchen. Die hab ich früher auch mal gehabt...damals in, ja...also, wo war das denn? In Heidengrund, sicher in Heidengrund. Das muss ...das muss...also das war schon zur Kaiser Retos Zeiten. Nein, damals als noch der gute König Brin geherrscht hat. Reto ist ja jetzt unser Kaiser. Wie konnte ich das bloß vergessen?"

Irrte Herdegard sich, oder flackerte Angst in Sumuneldas trüben Augen?

"Ja, schon gut, Sumunelda." Adran seufzte. "Du kannst dich zurückziehen und, äh, ein wenig ausruhen. Die nachlassenden Kräfte, Euer Gnaden, Ihr müsst entschuldigen."

Herdegard lehnte sich zurück.

Für eine verwirrte alte Frau kochte diese Sumunelda gar nicht mal so schlecht. Um nicht zu sagen, ausgezeichnet. Spielte die Köchin die geistesschwache Greisin am Ende nur? Und was hatte es mit diesem wunderlichen Geschenk des Barons auf sich? Einem Traviakloster geweihte Holzscheite zu schenken, das war wie die sprichwörtlichen Gänse nach Rommilys zu tragen.

"Da gibt es doch nichts zu entschuldigen", sagte die Priorin. "Es sind keine verwöhnten Gaumen, für die bei uns Badilakanern gekocht wird, glaubt es mir. Ich werde Eure Dienerin mit Irmlind ins Mutterkloster schicken, für ein erstes Gespräch mit dem Novizenmeister. Am Ende entscheidet die Äbtissin, ob ein Neuling aufgenommen wird oder nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass Sumunelda ihr Gnadenbrot erhalten wird."

"Sehr schön", sagte Adran gedehnt. "Darf ich Euch noch Oppsteinchen kredenzen lassen, als Betthupferl?"



Weiler Bethel, Markttag, 18. Rahja 1045

 

"Friedwang voran! Für Alboran - und Alveran!"

"Für Oppstein, den Sieg!"

"Hie Ismena!"

"Hie Adran!"

Der lichterloh brennende Stall hüllte die wenigen Häuser des Weilers Bethel in dichten Rauch. Drinnen brüllten Schweine und Kühe in Panik, teilweise wohl auch schon vor Schmerz.

Zwischen den Höfen huschten die Kämpfer umher, in einem grotesken, wilden, schwer durchschaubaren Klingentanz. Alrik Tsalind saß am Dorfrand auf Feuerflocke, seinem Streitross, und sah den Soldaten beider Seiten zu, wie sie sich umringten, klirrend parierten oder sich mit kreisenden Bewegungen attackierten, an die Beine griffen, zu Fall brachten oder gelegentlich sogar über die Schulter warfen. Oft waren waren Steinböcke und Drachen nur durch die orangen Traviaschleifen zu unterscheiden, als Erkennungszeichen der Ismenischen.  Edorians Silberwölfe trugen ebenfalls die markanten Armbinden, mit Heiliggans-Schleife. Alrik musste zugeben, dass es die erfahrenen Söldner waren, die gerade den Kampf entschieden. Vor allem diese verrückte Doppelsöldnerin Walburga beeindruckte den Gegner, dank des imposanten Zweihänders, der wie ein Windmühlenflügel um ihren Kopf schwirrte. 

Der heutige Baron von Friedwang hatte sich damals, in Brabak, in seiner Jugend Rahjatagen, Schlachten als rauschhaftes Ereignis vorgestellt, als Zusammenprall zweier Heerhaufen, die sich gegenseitig tollkühn mit Gebrüll und Blutnebel in den Boden zu stampfen versuchten. Das stimmte nur bedingt, auch wenn hie und da bereits Blut suppte, aus Köpfen, Armen oder Beinen, oder von den Rinnen der Stahlklingen herab tropfte.

Echte Fechter waren schnell, aber vorsichtig, ebenso die Hellebarden- und Spießträger. Man pendelte sich aus, umkreiste sich, griff an, schlug auch mal mit dem Griff zu, wich sofort wieder zurück, wohl wissend, dass jeder erlittene Treffer der letzte oder zumindest vorletzte im Leben sein konnte. Die Kampfmoral schien auf beiden Seiten nicht sehr hoch zu sein – es ging ums reine Kriegshandwerk, das wie das Handwerk des Ingerimm vor allem des Stolzes, der "Zunftzugehörigkeit" oder des Geldes wegen geführt wurde.

Alrik musste zugeben, dass er bislang am meisten Erfahrung mit Schlachten gegen die Schattenländer gesammelt hatte. Gut gegen Böse. Klare Verhältnisse. Die Jungen, die da unten rauften, von denen hatten sicherlich die wenigsten schon mal Lebende Tote gerochen, in das  fliegende Glubschauge eines Gotongi gestarrt oder das heiße Hecheln eines Zant im Nacken gespürt. Damals hatte man noch gewusst, für was man kämpfte. Gut gegen Böse eben. Anfangs war es ums nackte Überleben gegangen, nach der Rückkehr des Dämonenmeisters. Darum, das Grauen zu überstehen, ohne wahnsinnig zu werden. Was war dagegen schon so eine lauschige kleine Fehde zwischen eifersüchtigen Baronen.

Der Fuchs von Friedwang wollte bereits zur Schnupftabaksflasche greifen – da hatte ihm der Plagegeist von Feldscher doch glatt das Kettenrauchen verboten und mit der Blauen Keuche gedroht! Plötzlich sah er, wie Hesindian, der Magier und Tierfreund, auf den Stall zulief, um das liebe Vieh zu retten. Fast wie damals, im Haus zum Steinbock in Rommilys?! 

Prompt wurde der Edle von zwei Adranschen attackiert, die ihn im ganzen Durcheinander wohl nicht sofort als Magier erkannten. Ein Spießträger büßte diesen Fehler als lebende Statue, die sogar recht beeindruckend aussah, seine Gefährtin drosch unverdrossen mit dem Schwert auf Hesindian ein, der sich mehr schlecht als recht mit dem Zauberstab wehrte.

Alrik verzog das Gesicht. Hesindian hätte die Oppsteinerin mit einem unsichtbaren Mörderhieb von den Beinen fegen oder mit dem Flammenschwert in rauchende Einzelteile zerlegen können. Offenbar fühlte der weißhaarige Magus sich an Ismenas Zusage gebunden, in dieser Fehde keine Magie einzusetzen. Sprich, keine tödlichen Sprüche ?! Nun, davon, dass sich ein Magiekundiger selbst in Stücke hacken lassen musste,  davon war nicht die Rede gewesen.

Seufzend gab der Mondschatten seinem treuen Streitross Fersendruck, und ließ es Richtung Stall antraben. Brüllend stürmte ein Oppsteiner mit gefällter Hellebarde auf ihn zu, um sie dem treuen Funke in den Bauch zu stoßen. Alrik zog die kleine Armbrust aus der eigens dafür angefertigten Satteltasche und schoss. Der winzige Bolzen traf den Angreifer knapp in den Oberarm, ins geschlitzte und gepuffte, goldrote Wams. Der Friedwanger tadelte sich für seine Lässigkeit, und beschloss insgeheim, seine Burgwachen demnächst ebenfalls in den barönlichen Farben Blau und Silber einzukleiden. Vornehm sah das schon aus.

Funke stieg und strampelte mit den Hufen, was den Hellebardier auf Abstand hielt. Die Attacke geriet ins Stocken, Alriks Rapier hatte wenig Mühe, den Hieb mit der Stangenwaffe abzuwehren. Klirrend schlug Rabenfraß die Beilseite beiseite. Dann wirkte bereits das Schlafgift und schickte den Oppsteiner in den Drachenschlaf.

Hesindian lag derweil halb am Boden und wehrte die unbeherrschten Hiebe seiner Gegenüber ab, die offenbar entdeckt hatte, dass sie es mit einem Zauberer zu tun hatte – und ihn voller Angst und Hass niederzumachen trachtete. Alrik hieb ihr im Vorbeireiten den Rapierknauf auf den Hinterkopf. Ächzend sank die Frau in die Knie. Ein Hieb mit der flachen Seite der Klinge gab ihr den Rest.

Der Freiherr sprang aus dem Sattel, musterte kurz die Statue des Spießträgers und dann seinen Magierfreund, der sich eine klaffende Wunde an der Seite hielt und einen Heilzauber murmelte.

"Magie...ist verboten!" jammerte die Oppsteinerin und hielt sich mit blutverschmierter Hand den Hinterkopf.



"Dann solltest du besser die Klappe halten!" zischte Alrik. Seine spitze Klinge fuhr herab – und bohrte sich um Haaresbreite neben ihrer Kehle in die Erde. Die Frau erstarrte.
Zufrieden sah der Baron, wie mehrere Bauern herbei eilten und die Stalltüren öffneten. Blökend und brüllend liefen die Tiere heraus, zwischen eine gackernde Hühnerschar.


Mit wuchtigem Tritt trat Timoin die Tür ein, die krachend aus den Angeln brach.

Der Glorianer hatte sich hinter einem umgekippten Tisch verschanzt und mit der Armbrust auf ihn angelegt. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht, dass die Eingangstür genau auf ihn fallen würde, wie die herunterstürzende Zugbrücke eines Belagerungsturms. Benommen ließ der Mann die Armbrust fallen und taumelte zurück, um blank zu ziehen.

Erst jetzt sah er den mächtigen Elfenbogen in der Hand des Eindringlings, der bereits einen Pfeil an die Sehne gelegt hatte.

"Nein, ich..."

Der Schlag eines Riesen knallte in seinen Lederkurbul und fegte ihn gegen ein Regal. Hausrat, Bretter und Töpfe mit Eingemachtem polterten oder klirren zu Boden. Schreiend merkte der Oppsteiner, dass ihm das Geschoss fast bis zur Befiederung in der Schulter steckte.

Die Bäurin, die ebenfalls in der Guten Stube stand, hatte sich mit einem Beil vor ihre weinenden Kinder gestellt. Die rotgetigerte Hauskatze brachte sich mit einem Satz durch die offene Tür in Sicherheit.

"Für Adran oder Ismena?" brüllte Timoin und zog den nächsten Pfeil aus dem Köcher.

Die Frau ließ polternd ihr Beil fallen. "Hoch Ismena!" rief sie etwas theatralisch und nahm ihren Nachwuchs schützend in die Arme.

Der Glorianer versuchte derweil blank zu ziehen. Der schwarzgelockte Ismenische mit der breiten Nase zückte ein riesiges Jagdmesser.

"Liebe Güte, Timoin, du willst den armen Kerl doch nicht etwa skalpieren?" Ein spitzbärtiger, etwas zwielichtig aussehender Bursche in marderfellbesetztem Umhang trat ein und griff beiläufig in einen Obstkorb.

"Ein Apfel täglich, keine Krankheit quält dich!" brummte der Baron von Friedwang und biss herzhaft hinein.  "Igitt, die sind ja vom vorletzten Herbst!"

Kopfschüttelnd spießte Alrik das runzlige Obst auf die Schwertspitze, die ihm der Oppsteiner zitternd und linkshändig entgegen reckte: zitternd vor Schmerz und Blutverlust, linkshändig, weil ihm der Pfeil in der rechten Schulter steckte.

Timoin sah seinen Oheim kurz an, dann nickte er und steckte sein Messer weg. Stattdessen trat er dem  Oppsteiner das Schwert aus der Hand.

"Wir kämpfen nicht gegen Oppstein, sondern nur gegen den Emporkömmling Adran!" verkündete Bishdarielons Bastardsohn mit fester Stimme.

"Du kannst anfangen, aufzuräumen", beschied Alrik der Bäuerin und ging mit geducktem Kopf wieder nach draußen.

Der Kampf um Bethel hatte tatsächlich so jäh geendet, wie er begonnen hatte. Einschließlich der "Statue" waren fünf Gefangene eingebracht worden. Es gab nur Verwundete, auf beiden Seiten, Phex sei Dank. Der Rest der werten Herren und Damen Gegner flüchtete in Richtung Markt Oppstein. Bethel, der Stachel in der östlichen Flanke der Ismenischen, war gezogen.

Hesindian, der gerade sein eigenes Blut aus der aufgeschlitzten Robe zu waschen versuchte, an einer Tränke, würde sich um die schlimmsten Fälle kümmern. Alrik hatte seinen Kämpfern eingeschärft, Oppsteinische Leben möglichst zu schonen. In ein paar Wochen, vielleicht Monden, würden die Sichelhager wieder zusammenleben müssen, die Oppsteinischen mit Ismena Rondria als "Ihre Hochgeboren".

Die beste Methode, böses Blut zu vermeiden, war nun einmal, es gar nicht erst zu vergießen. Wäre Severin Rammhölzel vor ein paar Tagen nicht rangegangen wie Marschall Voltan, in der Klamm, könnte er jetzt noch am Leben sein. Gesche war eine zuverlässige Burghauptmännin. Aber wenn es um ihren glatzköpfigen, grobschlächtigen Schneißer Jugendfreund gegangen war, da war sie dahingeschmolzen wie ein Räuberliebchen. Alrik hatte nie so ganz vergessen, dass der Leutinger eine Zeitlang in Diensten der Thronräuberin Alara gestanden und erst im allerletzten Moment die Seiten gewechselt hatte.

Der Baron zückte seine Schnupftabakflasche, streute sich etwas Schmalzler auf den Handrücken und sog die Krümel ins Nasenloch ein, knapp über dem Spitzbart. Ahhhh. Wer säuft, benimmt sich wie ein Schwein, wer raucht, riecht wie ein Schwein – und wer schnupft, der i s t ein Schwein. Dem Mondschatten kam der launige Spruch seines Brabaker Lehrmeisters Kedio in den Sinn, eine der wenigen Weisheiten des Halbmohas, die er, als einstiger Schüler, nicht beherzigte. Der Tabak machte den Kopf frei, ebenso wie die Nase. Schon früher hatte er damit den grausigen Gestank der Untoten vertrieben. Die Erinnerung allein weckte in ihm Brechreiz. 

Der Baron von Friedwang war für einen Moment zufrieden, während hinter ihm der brennende Stall einstürzte. Die Bethelaner hatten Glück, der Wind stand günstig und wehte die Funken auf die offenen Felder und Wiesen. Flatternd nahmen die Hühner Reißaus.

Im Augenblick war Alrik Tsalind wirklich mit sich und der Welt im Reinen. In wenigen Tagen hatten sie den Süden der Baronie "befreit", insofern Alrik seine eigene Propaganda ernst nahm – was ein kluger Befehliger natürlich niemals so ganz tun sollte. Im Wald bei Buchen hatte es gestern Nacht ein kurzes Scharmützel gegeben, bei dem sich Timoin ebenfalls wacker geschlagen hatte. Der feindliche Spähtrupp hatte sich rasch wieder ins Unterholz davon geschlichen, zurück ins Holzfällerdorf südwestlich von Markt Oppstein. Die Alborandiner, die als Wachhunde ums Feldlager geführt wurden, waren ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Bislang hätte die Oppsteiner Fehde schlechter laufen können, dachte Alrik vergnügt und sah auf die Schmalzlerflasche: "Travia mit Dir, Du Land der Darpaten", stand in kühn geschwungenen Buchstaben auf der Vorderseite, während auf der Rückseite noch das gute alte Fürstenwappen prangte. 

 

Die Sprossen der langen Holzleiter ächzten, als Franka, die Steinbockgardistin, nach oben stieg. Ihren behelmten Kopf deckte sie mit dem blausilbernen Schild. Auch das Visier der Schaller hatte die Burgwächterin geschlossen, als stürme sie gerade eine Festungsmauer und müsse jederzeit mit siedendem Öl oder einem Steinwurf von oben rechnen.

Alrik, der unten in der Tenne, neben dem Erntewagen stand, blickte hinauf zum Obergeschoss der Scheune. Franka hatte leise keuchend das Ende der Leiter erreicht und krabbelte umständlich auf den Dachboden. Das Klettern fiel ihr sichtlich schwer, mit Schild, Schwert, Helm, Gambeson, Waffenrock, einer auf den Rücken geschnallten Armbrust, einem Bolzenköcher und dem Wurfbeil, das seitwärts am Gürtel baumelte.

"Und, ist die Luft rein?" fragte Alrik ungeduldig, der, die kleine Handarmbrust im Anschlag, noch einmal zwischen die Heuhaufen spähte. Staub tanzte in der hellen Rahjasonne, die durch das weit geöffnete Tennentor hereinfiel.

Oben schrie die Gardistin erschrocken auf, als gurrend einige Tauben nach draußen flatterten. Alrik schmunzelte. Franka würde diese Fehde überleben, das spürte er. Sie war mehr als vorsichtig.

"Ja, Herr, es waren nur Vögel!" rief die junge Bauerntochter und versuchte möglichst tapfer zu klingen.

Alrik steckte die Reiterarmbrust in die Umhängetasche und nahm selbst die Leiter in Angriff. Ganz unrecht hatte seine Waffenmagd nicht gehabt. Das Dachgeschoss war leicht zu verteidigen, so lange niemand Feuer legte. Hätte jemand die Kletterhilfe umgestoßen, wäre das mindestens so tödlich wie ein Wurfgeschoss gewesen. Die Sprossen standen ziemlich weit auseinander, vermutlich, um Mäusen das Hinaufklettern zu erschweren.

Unter dem Dach wurde das Getreide gelagert. Einzelne Garben hingen von den Dachbalken, was Alrik nicht verstand - war das Zierde, Aberglaube, oder eine besonders raffinierte Art der Lagerung? Manche der niedrigen Schüttkästen waren leer, vielleicht ob des langen, harten Winters. Womöglich auch, weil darin das Saatgut fürs Frühjahr gelagert worden war. Franka ließ andächtig goldbraunes Korn durch ihre Finger gleiten. Ein angenehmer Brotgeruch lag in der Luft. 

Alrik ging über knarrende Balken hinweg zur Lüftungsgaube, durch die gerade die Tauben entschwunden waren. Für die "Ratten der Lüfte", pardon, die heiligen Tiere von Rahja und Marbo, musste der Spicher ein wahres Festbankett sein.

 

Im nächsten Moment sah der Baron den Grund, warum der Holzladen weit offen stand. Die Adranschen hatten am Seil, das an einem Flaschenzug unter dem Gaubendach eingehakt war,  das Drachenbanner der Baronie gehisst, wie am Mast einer Schivone. Vermutlich wurde die Dachgaube nur ab und an geöffnet, beim Durchlüften oder Wenden des Korns. Durch die an einem Dachbalken festgebundene Fahne stand sie gerade dauerhaft offen.

Franka ließ die rieselnden Roggenkörner Getreide sein, patschte Staub und Spelzen aus den großen Händen und wandte sich dem Feldzeichen des Feindes zu, um es zu Fall zu bringen.

"Runter mit dem Oppsteinfetzen!" brummte sie diensteifrig, ein Messer in der Hand. Das trug sie auch noch in ihrer beeindruckenden Waffensammlung mit sich herum. Fehlten eigentlich nur noch Schleuder und Bleigeschosse. 

Der Freiherr fiel ihr in den Arm. "Nicht doch...wie oft soll ich es noch sagen. Wir kämpfen hier nicht gegen die Baronie Oppstein. Sondern allein gegen Adran, den Verderber der guten Sitten und des wahren Glaubens im Sichelhag."

Der Mondschatten nestelte das orangefarbene Band hervor, das er in seiner Gürteltasche trug. Die "Gänseschleife" war zum Erkennungszeichen der Ismenischen geworden. Spätestens seitdem Priorin Herdegard aus Markt Oppstein zurückgekehrt war. Abgesehen davon, dass Freund und Feind in diesem Kampf manchmal kaum zu unterscheiden waren – nicht allein der Gewandung nach, wie Alrik zugeben musste – sollte die Kennzeichnung auch dazu dienen, die Friedensmission der Traviageweihten zu sabotieren. Von wegen "neutrale" Traviakirche. Die größten Spenden sowohl für die Abtei als auch des Tochterklosters an der Rausche kamen nun einmal vom Haus Friedwang.

 

Adrans "Angebot" war lächerlich gewesen – Ismena als Edle von Blauweiher, nach dem sofortigen Rückzug aus der Baronie! Abgesehen davon, dass Alriks Schwager Corelian bereits diesen Titel führte. Hätte der Oppsteiner es ernst gemeint, dann hätte er mindestens noch die Junkerin von Drachweiler oben drauflegen müssen. Zeit schinden wollte er, der feine Herr Adran, wie ein angezählter Faustkämpfer auf dem Jahrmarkt. Wollte bis zum Jahreswechsel über die Runden kommen.

"Die gesegnete Schleife am Banner wird Adrans Spähern zu denken geben", verkündete Alrik und reichte Franka das Flatterband. Die junge Frau nickte, schnitt es großzügig zurecht und band es stolz oberhalb des Banners ans Seil.

"Vergiss nicht, wir sind auf einem heiligen Gänsezug", fügte der Freiherr in salbungsvollen Ton hinzu, "um altes Recht und gute Sitten nach Oppstein zurück zu bringen." Alrik räusperte sich. "Zumindest sowas in der Art."

 Der Mondschatten musste zugeben, dass er Jadwinas Tempelpredigt gerade höchst eigenwillig deutete. Eigentlich sollten die Gänseschleifen die Ismenischen Streiter daran erinnern, Travias Gebote zu achten, auch in der Kleinen Reiterei, wie die "Fehde" früher genannt worden war. Im Gegenzug würde das segensreiche Tuch den göttlichen Schutz der Mutter Alverans auf die Träger herabrufen. Von Adran erwartete die Hochgeweihte nicht einmal mehr, Travias Gebote in Friedenszeiten zu wahren. Nichtsdestotrotz war die sanfte Jadwina Brinske meilenweit davon entfernt, irgendeine Art von heiligem Krieg gegen die "Ungläubigen" auszurufen, nach Art der Rastullahanbeter.

 

Alrik trat, an Franka vorbei, an die kleine Plattform und sah nach draußen. Schwarzer Qualm stieg noch immer von der Brandruine auf. Die Streiter Ismenas waren damit beschäftigt, das entlaufene Vieh einzufangen und, im einen oder anderen Fall, abzuzweigen. Um es abzustechen. Das Plündern hatte der Friedwanger ihnen verboten. Offenbar wollten die Söldner eine Art Finderlohn in Anspruch nehmen. Der Baron war sich ziemlich sicher, dass einer der Silberwölfe den Stall angezündet hatte, wahrscheinlich aus Gewohnheit.

Der Überblick von hier oben war famos, gerade weil die Scheune in einigen Abstand zu den Höfen gebaut war. Bethel war nicht etwa bettelarm, wie er sich das vor kurzem noch vorgestellt hatte, nur winzig. Es bestand aus schmucken Stein- und Fachwerkhäusern, im schönen Oppsteiner Tal. Von der Gaube aus hatte man Drachweiler, einschließlich des Feldlagers und seiner vielen Lagerfeuer, bereits im Blick. Eigentlich war geplant gewesen, die Zeltstadt gen Firun, auf die andere Seite des Dorfes zu verlegen, aber im Moment richteten es sich Ismenas Landsknechte gemütlich ein. Im Krieg geschah oft lange Zeit nichts, bevor sich die Ereignisse wieder überschlugen, diese Erfahrung hatte Alrik Tsalind in den letzten zwanzig, dreißig Götterläufen gemacht. Sicherlich hatten die Adranschen hier oben einen Wachtposten aufgestellt. Schlauer wäre es gewesen, einen Armbruster zu postieren, auch das Schussfeld war gut.

 Hatten die Oppsteiner Angst gehabt, selbst ein leichtes Ziel abzugeben, oder mehr noch, den Fluchtweg aus der Scheune abgeschnitten zu bekommen? Aber es half nichts, sich den Kopf des Gegners zu zerbrechen. Markt Oppstein war im Norden bestenfalls noch zu erahnen, neben dem Burgberg.

 "Du hältst hier oben Wache", beschied Alrik Franka knapp. "Am besten, du schaust auch in die andere Richtung!"

Der Baron ging zur östlichen Seite des Dachbodens, wo kleinere Fenster eingelassen waren. Hatte er vorhin nicht Hufgetrappel gehört? Er entriegelte den Laden, der dem Weg Richtung Berge am nächsten war, und spähte hinaus.

 

Einen Moment lang stutzte er, als er tatsächlich eine zarte Staubwolke auf der Straße entdeckte. Eine Windhose? Aber so trocken war es jetzt im Rahja noch gar nicht. Sie schien sich zu entfernen, nicht näher zu kommen. 

Zum Glück hatte er sein gutes altes Fernrohr dabei, in der völlig unstandesgemäßen Hirtentasche, gleich neben dem Armbrüstchen. Er zog es auseinander und suchte die Ursache. Wie immer, dauerte es eine Weile, bis er sich orientiert hatte, zwischen einem verschwommenen Waldrand, einem Weidezaun, einem Acker voller Frühjahrsgetreide, einem Stapel Baumstämme und einem unverdrossen kauenden Schaf. Tatsächlich, zwischen Obstbäumen entlang galoppierte ein Glorianer, gut erkennbar am rotgoldenen Drachenwappen, und verschwand wenig später zwischen den dichten Baumreihen.

 

Dass Soldaten mitunter, nach Art der Goblins, "in die falsche Richtung angriffen", war bekannt. Dass sie in die völlig falsche Richtung flüchteten, kam dem Baron schon etwas ungewöhnlich vor. War der Bursche ein Deserteur – oder wollte er Gefährten warnen, die am Ende der Straße auf ihn warteten? Warnen oder zur Hilfe rufen? Soweit Alrik wusste, hatte dieser Weg früher nach Markt Windsbucht geführt, einer aufstrebenden Bergwerksiedlung, deren Niedergang aber schon im Jahr des Feuers begonnen hatte. Der Marktflecken war schon vor vielen Götterläufen aufgegeben worden, vermutlich zur Freude der Marktoppsteiner, die froh gewesen sein mussten, ihre Konkurrenz losgeworden zu sein. Dahinter sollte sich nun der Firunspfad erstrecken, oder besser gesagt, eine von mehreren möglichen Routen auf dem Bogen des Weißen Jägers.

 

Alrik visierte mit seinem "Meulenarsauge" die Berge gen Rahja an. In einigen Meilen Entfernung hatte sicher einmal Windsbucht aufgeragt. Aber da drüben erstreckte sich nur noch tiefer, erst langsam, dann immer steiler ansteigender Wald. Sokramorsland. Dahinter ging es bereits nach Echsmoos. Lauerten vielleicht schon die Echsmooser auf eine Möglichkeit zum Eingreifen? In der letzten Fehde hatte es auch in der Nachbarbaronie Unruhen gegeben. Aber Baronin Denira wäre heutzutage froh, wenn sie auch nur die Herrschaft über das eigene Land innehätte. Vogt Alwan von Unterallertissen-Rabenmund, der mit seinen Immlingern an der Seite Edorians in die Schlacht geritten war, der war auch froh, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, nach dem Sturz seines Verbündeten. Oder besser gesagt, mit zwei tiefschwarzen Rabenmund-Augen.

Womöglich lagerte der Gegner gerade so außer Sichtweite, zwischen den Baumreihen. Aber für eine Falle war der Waldrand zu weit entfernt.

Alrik teilte Franka mit, was er gesehen hatte, und schärfte ihr ein, bis zur Ablösung wachsam zu bleiben. Dann trat er auf die Plattform hinaus. Das "Fahnenseil" war am unteren Ende an einem schweren Balken festgeknotet. Kurz entschlossen schwang er sich hinaus und ließ sich zu Mutter Sumu gleiten. Das klappte besser als befürchtet, auch wenn er vermutlich aussah wie einer der Getreidesäcke, die hier in der Erntezeit hochgezogen wurden.

Einen Moment lang kam der Baron sich verwegen vor wie "Käptn Alrik", mit seiner Augenklappe. Das waren noch Zeiten, als er auf einem Piratenschiff durch die Blutige See gefahren war. Nicht die eigene Schivone, aber immerhin. Nun stritt er sich fast schon im eigenen Vorgarten mit dem Nachbarn. Egal. Im Alter wurde man ruhiger.

 

Alrik merkte, dass er nach der Landung leicht humpelte. Der vollendete, jugendfrische Fassadenkletterer von einst war er halt doch nicht mehr. Auch sein Federbarett war in den Schmutz gefallen. Er hob es auf und schlug die Kappe am Marderfellmantel aus. Hühner gackerten auseinander, als er in den Weiler zurückkehrte. Nebenbei raunzte er ein paar Friedwangen zusammen, die in einem Obsthain halbreife Pflaumen plünderten.

"Davon bekommt Ihr nur die Scheißerei!" Andere "Plünderer" stapften durch Gemüsebeete und verproviantierten sich mit Grünzeug.

Kopfschüttelnd hinkte er zu den Gefangenen, die in einem Hof zusammengetrieben worden waren. Die "Statue" und das Schlafgiftopfer waren wieder zum Leben erwacht und völlig eingeschüchtert. Vor allem verwirrt, denn der "böse Zauberer" spielte gerade "Mutter Traviata" und heilte den Glorianer, der von Timoin einen Pfeil verpasst bekommen hatte.

Sowas nannte man im Südmeer "die Herzen und Köpfe der Eingeborenen gewinnen". Sogar eine Pfeife und eine tönerne Schnapsflasche kreisten. Sehr gut. Alrik hoffte nur, dass der Fusel die Gefangenen einlullen statt auf dumme Gedanke bringen würden.

Drei Steinbockgardisten trugen mit angelegter Armbrust zur entspannten Stimmung bei. Die Oppsteiner brauchten ja nicht zu wissen, dass die Jungs und das Mädel allesamt keine Odilons waren, und ein Treffer selbst auf diese lächerlich geringe Entfernung nicht garantiert war. Immer wieder sanken die Schusswaffen nach unten, ob des Gewichts, nur um dann mit entschlossenem Blick wieder hochgerissen zu werden.

"Hat euch diese Rutmaide von Firunslicht die Dinger nicht verboten ?" Halb frustriert, halb erheitert, deutete die Gefangene, der Alrik die Kopfnuss verpasst hatte, auf die Armbrüste. Mit bandagiertem Kopf saß sie auf einem Bänkchen, auf dem zu normalen Zeiten der Altbauer oder die Altbäuerin sitzen mochten.

"Zielt mal kurz woanders hin!" kommandierte Alrik – vor allem der jüngste Armbruster, dessen Name dem Baron gerade nicht einfiel, wirkte nervös, mit seinen schwitzigen, unruhigen Händen. Er schien mehr Angst vor den Gefangenen zu haben als umgekehrt. So ein Schuss löste sich phexverflucht schnell. Vor allem, wenn man erst seit ein paar Wochen wusste, wie rum man so ein Schießgerät richtig hielt.

"Schön habt ihrs hier in Oppstein!" Alrik fläzte sich auf die Bank, als wären sie beide schon seit Jahren beste Freunde. "Yandrade hieß unsere Burgkaplanin."

"Hieß?" Die Bandagierte sah Alrik müde an. Vermutlich war sie das wirklich. Sie schien eine erfahrene Kämpferin zu sein, hatte vermutlich die Wildermarkzeit, womöglich auch den Haffaxfeldzug miterlebt. Da war es natürlich enttäuschend, in der eigenen Heimatbaronie bei einem unbedeutenden Geplänkel hopps genommen zu werden.

"Ja, unsere Rondrageweihte hat offenbar das Zeitliche gesegnet," verkündete Alrik, mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. 

"Schicken die euch eine neue Kaplanin?"

"Danke der Nachfrage. Wie mans nimmt." Der Baron war leicht irritiert. Die Oppsteiner Amazone schien sich ja bestens mit friedwängischen Problemen auszukennen. "In der Löwenburg hieß es, Hochwürden Deggen von Baernfarn soll unseren Schrein mitversorgen. Von Schlotz aus. Der Bund des Schwertes hatte einen ziemlichen Verschleiß an Geweihten. Große Schlachten gabs wahrlich genug."

"Leider...Ihr habt da was am Schnurrbart, Euer Hochgeboren."

"Oh". Der Baron von Friedwang rieb sich etwas Schnupftabak aus dem Nasenloch. "Danke."

Deggen hatte noch gar nicht gemerkt, dass die Friedwangen seit neuestem wieder mit seelenlosen Schießmaschinen herumliefen. Alrik würde seinen Leuten Anweisung geben müssen, die "firungefälligen Jagdwaffen" im Feldlager nicht offen zu tragen.

"Wie ist dein Name?"

"Weibelin Burgstaller...Euer Hochgeboren!"

"Angenehm. Ich brauche mich wohl nicht mehr vorzustellen?"

"Das habt Ihr bereits zur Genüge getan." Die Weibelin blickte mit trüben Augen zur sich langsam auflösenden Rauchwolke, die gemächlich über der Hofmauer nach oben qualmte.

"Schnupftabak?" Alrik griff nach der Schmalzlerflasche in der Innentasche seiner Schaube.

"Danke, nein." Tatsächlich rümpfte die Weibelin auch so schon die Nase.

"Hm...einer eurer Leute ist im gestreckten Galopp auf den Waldrand zugeritten. Gerade eben. Den Waldweg gen Rahja entlang. Einer der Glorianer." Alrik blickte auf seine langen, zarten, geschmeidigen Finger, fast ein bisschen selbstverliebt. "Was könnte er dort wollen?"

Weibelin Burgstaller, die für einen Moment so etwas wie Zutrauen hatte fassen wollen, blickte desillusioniert.

"Das müsst Ihr ihn schon selbst fragen....Hochgeboren"

"Aber...es ist nicht so...dass da drüben ein ganzes Banner Oppsteiner oder Echsmooser im Wald versteckt ist?"

"Davon weiß ich nichts."

"Natürlich." Alrik war selbst ein viel zu guter Lügner, um die Unsicherheit in der Stimme der Weibelin zu überhören. Und nun? Die Gefangene foltern zu lassen, das hätte die schöne Vergeschwisterung zwischen ihnen zunichte gemacht.

"Und die anderen?" fragte der Baron streng in die Runde, mit Peitsche statt Zuckerbrot in der Stimme. "Niemand eine Idee, was es dort im Wald geben könnte? Außer Rehen, Wildschweinen und Goblins?"

Ein kurzer Wink zu seinen Schützen, die ihre Armbrüste wieder hoben. Im nächsten Moment patschte auch schon ein Armbrustmechanismus. Der Junge mit dem nervösen Zeigefinger, natürlich. Die Umstehenden hatten Glück. Der Bolzen schlug harmlos in einen alten Eimer, der wohlweislich mit Löschwasser gefüllt worden war, und ließ eine kleine Fontäne sprudeln. Nach kurzer Zeit hatte das Rinnsal die Füße des Schlafgiftopfers erreicht, das noch immer reichlich benommen auf einem Gartenmäuerchen saß. Erschrockene Gesichter starrten den Friedwanger an.

"Den Alten Stollen gibts dort" lallte der Eingeschläferte.

"Ah so." Warteten die Oppsteiner am Ende noch auf eine Silberlieferung, ähnlich wie die, die in diesem Jahr in Gießenborn nicht zustande gekommen war? Das würde erklären, warum Adran in den letzten zwei Tagen so viele Leute nach Bethel geschickt hatte. Fast zwei Lanzen.

"Das Bergwerk ist nicht mehr im Betrieb", ergänzte die Statue, deren Augen nervös umherwanderten. Der Glorianer, den Timoin im Bauernhaus angeschweißt hatte, schwieg stur und bedeutete seinen Gefährten mit Blicken, es ihm gleich zu tun.

Draußen auf dem Acker quiekte das erste abgestochene Schwein.

Alrik blickte zu seinem Magierfreund.

"Es gibt Zaubersprüche, mit denen man verstockte Zungen lösen kann. Schmerzhafte und weniger schmerzhafte, nicht wahr, Hesindian?"

Dieser nickte schicksalsergeben, wenn auch nicht allzu begeistert.

"Euer Rondritscherl hat gesagt, in dieser Fehde gibts keine Hesinderei" maulte die vormalige Statue.

"Du hast Recht. Mein Hofmagier spielt auch schon mit dem Gedanken, seine Heilzauber wieder rückgängig zu machen." Alrik stand auf. "Außerdem heißt Eure Baronin Ismena Rondria, das könnt Ihr Euch merken. Hochgeboren Ismena Rondria. Also, was ist da drüben? Verstecken sich welche in Markt Windsbucht?"

"Markt Windsbucht." Der Glorianer schüttelte den Kopf, während er seinen durchlöcherten, blutverschmierten Waffenrock herabblickte. "Das Dorf gibt es schon lange nicht mehr...das Bergwerk auch nicht mehr. Ist jetzt wieder Goblinland."

"Das Erdbeben von Boronia", nickte Hesindian. "Bevor die Golgaritenfeste gestürmt wurde, unten in Rammholz, haben die Dreckigen einen Amrifas beschworen, heißt es. Den neungehörnten Erderschütterer. Damals sollen die Stollen eingestürzt sein, ebenso die Tempel von Windsbucht. Das Haus der Rondra und sogar das Haus des Ingerimm. Die Bewohner sind alle geflohen...waren ja meistens Tobrier. "

Die Gefangenen zuckten allein beim Dämonennamen Amrifas zusammen.

Alrik nickte. Burg Friedstein war damals ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden, gleich nach dem Wiederaufbau. Der Riss im Pflaster des Innenhofs, der die Grenze zwischen seiner und Bishdarielons Ganerbschaft anzeigte, stammte noch von diesem unglückseligen Tag.

"Da oben ist nichts mehr" bestätigte der "Schläfrige", der sich anhörte, als wäre ihm ein Wahrheitstrunk verabreicht worden. "Alles überwuchert. Da ist nur noch das Nebelwasser. Ein großer Bergsee, mit einer Insel in der Mitte. Da wohnt ein Druide drauf, mit einem Baumkreis außen rum. Vielleicht will Kordan den um Hilfe bitten..." Der Gefangene blickte mit verschleiertem Blick ins Leere. "Also ich kenn die Geschichte, dass es der Druide war, der Windsbucht in Sumus Leib hat versinken lassen. Aus Zorn, weil sich die Bergleute durch den Leib der Erdmutter gewühlt haben. Der Wald gerodet und alles verpestet wurde, mit dem Rauch der Schmelzöfen. In den Namenlosen Tagen war das, als Windsbucht in der Erde versunken ist...soviel steht fest."

Alrik blickte hoch. Das versunkene Dorf Windsbucht? Ein wenig erinnerte ihn die Geschichte an das Geisterdorf Kurgasberg, in den Trollzacken. Bloß jetzt nicht daran denken.

Auch Hesindian wurde hellhörig: "Ein Druide? Auf einer Insel in einem Baumkreis?"

"Sieben Bäume", sagte der Schläfrige. "Eichen, denke ich. Die eine kahl, die andere mit Knospen, die dritte mit erstem Frühlingsgrün und Blüten. Die vierte Eiche steht in voller Pracht, die fünfte ist schon über den Sommer ihres Lebens hinweg...die sechste hängt voller Eicheln und beim siebten Baum fallen bereits die rotgoldenen Herbstblätter."

Weibelin Burgstaller räusperte sich. "Das sind doch alles Ammenmärchen. Da oben ist nichts mehr außer Bergwald, seit vielen Jahren schon. Nur noch ein paar überwucherte Mauern im Nirgendwo. Das Geröll aus dem Bergwerk, das liegt auch noch reichlich herum. Das Nebelwasser ist ein kleiner Tümpel, mit ein bisschen Dunst am Abend und am Morgen. Also der Weissagende See ist das nicht gerade."

Alrik musterte die Gefangene, deren Gesicht nun wieder abweisend und geheimnisvoll wirkte.

Tek-tek-tek. Ein kleiner, rundlicher, graubräunlich gefiederter Vogel war auf dem Hoftor gelandet und hüpfte aufgeregt herum, mit kräftigem Gesang. Ein Zaunkönig. Der König der Vögel war für seine Schlauheit bekannt. Hatte der Heimliche ihm gerade ein Zeichen gesandt?

 

Laut einem alten Märchen hatte es einst einen Wettstreit unter den Gefiederten gegeben, wer ihr König sein sollte. Sieger sollte sein, wer sich am höchsten in die Lüfte erheben konnte. Der Adler war kühn in den Himmel aufgestiegen – aber der kleine Zaunkönig hatte sich auf dessen Rücken gesetzt und war am Ende noch höher geflogen. Alrik musste schmunzeln. Ein kleiner, lautstarker Emporkömmling also, der angeblich mehrere Weibchen hatte. Das passte gut für einen Bewohner von Adrans Reich… Phexgefällig war so eine List sowieso. List, hm.

 Alrik musste an brütende oder fütternde Vögel denken, die Menschen mit Gehüpfe und Gezeter von ihrem Nest weglockten. Um die Brut zu schützen.

Das Naheliegendste war, dass Adran in Bethel für Ablenkung sorgen wollte, während er seine Kämpfer in Markt Oppstein sammelte. Vielleicht sogar schon einen Boten zu Onkel Gernbrecht nach Pertakis geschickt hatte. Gut möglich, dass der Glorianer deswegen in den Wald geritten war - um die Eindringlinge zu einem Abstecher in die Wildnis zu verlocken. Dazu, sich auf dem Weg Richtung Schloss zu verzetteln?! Während der Rest der Oppsteiner unbeschadet nach Norden floh. Oder ging es darum, Goblins anzuheuern, als Verbündete im Kampf gegen die Eroberer? In Gießenborn gab es den Schwank, dass Bethel nach den bettelnden Rotpelzen benannt war, die sich hier schon in besseren Zeiten herumgetrieben hatten. Die "Suulak" waren ganz verrückt nach Salz, Branntwein oder Eisenwaffen.

Der Zaunkönig flatterte auf und war im nächsten Augenblick verschwunden.

"Genug geplaudert", sagte Alrik, setzte seinen Hut auf und tippte an die Krempe. "Ich wünsche den Herrschaften noch eine angenehme Gefangenschaft. Vielleicht können wir morgen in Drachweiler weiter plaudern."

Der Baron ging nach draußen, wo sich die größte Aufregung gelegt hatte. So langsam sammelten sich die "Streiter der guten Sitten" wieder. Timoin, dieser Hitzkopf, hatte versucht, die ausgeflogenen, rotgoldenen Vögelchen über die Felder und Wiesen zu jagen. Ohne besonderen Erfolg, der unverminderten Zahl der Pfeile im Köcher nach zu urteilen. Nun kam Bishdarielons Bastardsohn zerknirscht zurück geritten, mit dem Elfenbogen über der Schulter. Sein Eifer würde eine andere Aufgabe brauchen.

"Nimm dir zwei Leute. Am besten Parik und Diebold. Der mit dem Alarmhorn. Schaut euch mal den Wald da hinten an. Vorhin ist einer der Glorianer drin verschwunden, hoch zu Ross." Seine Hochgeboren deutete über die Schulter. "Kann sein, dass es nur eine Finte ist. Aber ich möchte sicher gehen, dass dort nicht die halbe Oppsteiner Reiterei lauert. Oder ein Rudel Goblinsöldner."

 

Im Wald unweit der Wüstung Windsbucht, am Nachmittag des 18. Rahja

 

Der Bastard des edlen und wohlgeborenen Herrn von Senkenthal hatte nie verstanden, warum sein Spitzname Bornländer war.

Anfangs, da hatte Timoin, genannt von Binsböckel, noch geglaubt, der Grund wäre sein etwas trauriger, aber gutmütiger Hundeblick. Manch Bankert, der keinen traviagefälligen Vater hatte, neigte zu Schwermut und Melancholie. Womöglich verdankte er den Namen auch dem Zorn, mit dem er Menschen verteidigte, denen er sich besonders verbunden fühlte. Dazu zählte sein Lehrmeister Odilon Wildgrimm von Baernfarn, der für ihn ein Vaterersatz gewesen war. Sein Schwertvater war verschwunden, ebenso wie seine Kousine Tsalinde. Es war, als hätte sie das Weiße Nichts der Winterberge verschluckt, damals, bei ihrer verrückten Schlittenfahrt von der Friedwanger Hütte hinab in Richtung Paßbergklippen. Auch die Schutzhütte gab es nicht mehr, Goblins hatten sie niedergebrannt.

Gut möglich, dass der Spitzname Bornländer gar nicht die Hunderasse meinte, sondern sein inniges Verhältnis zu Schnee. Der junge Waidmann liebte Firuns Pracht, seitdem er seinen ersten Schneeball geformt hatte. Als Kind sollte Timoin einmal geschlafwandelt haben, im eisigen Winter am Gernat, und in der Wildnis unweit von Gut Gernatsquell herumgeirrt sein. Timoin konnte sich nicht daran erinnern. Vier Götterläufe war er damals alt gewesen. Ein wenig bornländisch sollte er aussehen, woran immer das einer aus Gernatsquell sah.

Sein Pferd schnaubte und grollte. Odilons Knappe rief sich selbst mit einem Räuspern zur Ordnung. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren, statt sich Tagträumen hinzugeben. Timoin spähte in den Wald, der nicht winterlich war, sondern sonnendurchflutet, hell und freundlich. Im Moment saß er auf dem starken Rücken der Barnfarni-Stute, die ihm seine Mutter Valyria mitgegeben hatte. Es war ein nicht ganz so nobles Geschenk gewesen, wie es Travian von Schlotz erhalten hatte, der Sohn von Valyrias Lehnsherrin, der lange vor seiner Schwertleite ein eigenes Streitross sein Eigen hatte nennen dürfen.

Nichtsdestotrotz war die Stute eine wendige Füchsin, überaus trittsicher und ausdauernd, wie geschaffen für Spähritte im schwer zugänglichen Gelände, bei einem Stockmaß von vielleicht 80 Fingern. Ein wenig eigenwillig und temperamentvoll war Atzel schon. Nun, Timoin hatte in den 17 Götterläufen, die sein Leben nun schon währte, gelernt, sich durchzusetzen.

Für das felsige Waldland, durch das sich der selten benutzte Karrenweg schlängelte, war Atzel bestens geeignet.

Der frisch ernannte Kundschafter spürte so etwas wie Herrenstolz. Zum ersten Mal hatte Timoin den Befehl über andere Bewaffnete erhalten. Der dicke, pausbäckige Diebold und der fesche, stets wohlgepflegte und rasierte Parik trendelten auf Aarmaris hinterdrein, wie die friedwängischen Ponys genannt wurden.

Der schwarzhaarige junge Adelige schmunzelte, unter seinem lindgrünen Jägermantel. In der Zeit der Erbfehde waren die von Friedwang berüchtigt dafür gewesen, alles nachzuahmen, was die Gallyser Rivalen ihnen voraus hatten, in echt oder vermeintlich – vom Stadtrecht für den Residenzort, wie es Gallys innehatte, einmal abgesehen. So war in Gießenborn die Zucht der Aarmaris begründet worden, deren Name eindeutig den Wohlklang des Wortes Barnfarni nachahmen sollte. Tatsächlich waren es "gewöhnliche" Maraskanerponys, mit dichtem, flauschigem Fell, wie man sie überall im Raulschen Reich finden konnte. Von den Alten wurden sie manchmal auch Riesländer genannt. Es gab das Gerücht, dass die seetüchtigen Pferdchen einst über das Perlenmeer auf die namensgebende Insel gebracht worden waren, vom wilden Ostkontinent her. Im Sichelhag war Derekunde noch nie besonders verbreitet gewesen. So hatte das geltungsbedürftige Haus Friedwang seine Riesländer kurzerhand zu Aarmaris erklärt, somit zu Bewohnern des darpatischen "Rieslands" Aarmarien.

Die Ponys hatten ihre Qualitäten, was nicht zuletzt am angelernten Trenteln lag, auch Tölten oder Paßgang genannt. Die ruhige Gangart hatte früher dafür gesorgt, dass die Gebirgsschützen leichter vom Sattel aus hatten zielen können, mit der Armbrust. Bis heute erleichterte sie das Reisen.

Timo zog Atzel vor, auch ohne Paßgang. Der aufgeschnappte Name hatte ihm irgendwie gefallen, erst spät war ihm klar geworden, dass es die alte Bezeichnung für Elster war. Was irgendwie keinen Sinn ergab, denn Atzel hatte kaum einen weißen oder schwarzen Fleck auf dem Fell, und ihm nur einmal ein klein wenig Süßmoos aus der Tasche "gestohlen".

Mit Schaudern dachte der junge Binsböckel an den Traum, der ihn hin und wieder ereilte. Darin sah er seine wahre Mutter, wie sie sich vor ihm in Fesseln wand, auf dem Gutshof von Gernatsquell, eine bleiche, schwarzhaarige, katzenäugige Frau, die dennoch rassig wirkte, und, ja, irgendwie bornisch. Eine Frau, die ihn entsetzt anstarrte, und sich dann langsam, quälend langsam, in einen Vogel verwandelte, mit Krallen, spitzen Schnabel, schwarzweißen, an den Schwingen blauschillerndem Gefieder. Während ihm selbst das warme Blut nur so über das Gesicht rann, oder waren es heiße Tränen? Am Ende verschwand immer eine zeternde Elster über den schneebedeckten Bäumen.

Timoin hatte nie gewagt, Valyria auf diesen merkwürdigen, wenn nicht unheiligen Alptraum anzusprechen. Von seiner Mutter, seiner wahren Mutter, wusste er nicht einmal den Namen. Eigentlich dachte er selbst ungern darüber nach, geschweige denn, dass er mit anderen Menschen darüber sprach. Eine Jägerin sollte ihn kurz nach der Geburt auf dem Gutshof abgegeben haben, im tiefsten Winter. "Räuberbalg" so war er früher manchmal gehänselt worden, von anderen Kindern – bevor ihn Herr Bishdarielon als seinen Bastard anerkannt hatte, mit dem er ein untrügliches Merkmal teilte: ein fehlendes Stück des rechten oberen Ohrs, ein Erbfehler, der unter den männlichen Nachkommen des Hauses Friedwang recht häufig vorkommen sollte.

Bishdarielon von Senkenthal, Landmeister der Golgariten und Herr auf Schloss Suunkdal, war ein borongläubiger Mann. Entsprechend breitete er bis heute den Mantel des Schweigens über diesen Teil von Timoins Herkunft. Der Bastard hatte seinen Vater ein paar Mal auf Suunkdal besucht, das adrette Wasserschlösschen, das im Volksmund auch Rabsburg genannt wurde. Der Golgarit war freundlich gewesen und hatte es nicht an Dukaten, nicht einmal an einem Lächeln fehlen lassen, das seinen Ordensgeschwistern nur selten über die Lippen kam.

Selbst durch Syrenia, seine Stiefmutter, war ihm keinesfalls die kalte Schulter oder eisige Verachtung gezeigt worden, wie er es zunächst befürchtet hatte. Ein Bastard mehr oder weniger, darauf kam es in der Welt des Hochadels nicht an. Man ging taktvoll über das kleine Missgeschick seines Vaters hinweg, gab sich fast schon gefühllos. Echte Adelige zeigten überhaupt wenig Sentimentalität. Contenance, darauf kam es an. Gerade dann, wenn ein junger Edelmann wieder einmal auf törichte Weise von seinen Gefühlen hinweg geschwemmt worden war.

Bürgerliche glaubten an die eine, große Liebe und die gemeinsame Haushaltskasse, Geweihte tadelten und mahnten mit hohem Sinn, Bauern stampften oder schrien grob herum, wenn ihnen irgendetwas missfiel. Syrenia hatte einfach überlegen und nachsichtig geschwiegen, als wäre der Ausrutscher ihres Gemahls wirklich nur ein Stolperer im Ballsaal gewesen.

So wie es aussah, hatte es sich bei Timoins Mutter um eine hübsche, freiheitsliebende Waidfrau gehandelt, zu der Zeit, als Bishdarielon noch als einfacher Ritter des Golgaritenordens gedient hatte, auf Burg Boronia. Ungewöhnlich an dieser Bastardgeschichte war nur, dass die Frau ihr Kind in adelige Hände gegeben hatte, in diesem Fall in die Obhut Valyrias von Binsböckel.

Timoin fühlte sich jedenfalls im Wald wohl und stellte keine Fragen mehr. Gewiss, seine leibliche Mutter hatte ihn verstoßen, zumindest fühlte es sich für ihn so an. Merkwürdigerweise war der Schmerz, den er bei diesem Gedanken empfand, immer erträglich gewesen.

Soetwas kam in Firuns Reich vor. Odilon, sein Schwertvater, hatte ihm vom Jahr des Feuers und dem grausigen Winter `28 erzählt. Seine Mutter habe ihm, den Neugeborenen, allein das Leben retten und es sicher später wieder abholen wollen – so viele seien damals umgekommen, in der Wildermark. Wohin hätte die unglückliche Frau sich wenden sollen, Boronia war zu dieser Zeit ja längst ein Trümmerhaufen gewesen?

Nur der gelegentlich wiederkehrende Elstertraum, der blieb beunruhigend. Ebenso die Tatsache, dass auch Odilon verschwunden war, aus seinem firunsgefälligen Leben. Firunsgefällig, das bedeutete, all die Schmerzen zu ertragen, die einem die Natur abverlangte, all das Leiden und Zähnezusammenbeißen, nicht allein im körperlichen Sinn.

Solange du Schmerzen spürst, bist du noch am Leben. Einen Moment lang glaubte Timoin die Stimme des alten Waldläufers am "Halbohr" zu hören. Also sorge dafür, dass du sie regelmäßig spürst.

Odilons Knappe, der seine Jägerprüfung bereits erfolgreich abgelegt hatte, lächelte grimmig. Als er den verschlungenen Weg des Waldläufers eingeschlagen hatte, war das seine Art gewesen, gegen einen ebenso übermächtigen wie abwesenden Vater zu rebellieren? Was war die inbrünstige Verehrung von Schlaf, Tod und Vergessen denn anderes als Feigheit vor den ewigen Gesetzen des Firun? Der Alte vom Berg verlangte den unaufhörlichen Lebenskampf, mit all seinen schrecklichen und erhabenen Seiten. Jedenfalls – Boron verzeih! - keine marbide Lebensangst, wie sie sich in Papas matt schimmernder Golgaritenrüstung widerspiegelte, deren filigrane Ziselierungen den kleinen Timoin an ein schauriges Skelett erinnert hatten. Ebenso wie der dunkle Helm an einen Totenschädel.

Der blutjunge Befehliger der "Drittellanze" spähte über den Köcher und den Elfenbogen hinweg nach hinten.

Der wanstige Diebold blickte gerade ängstlich in den Wald, vor allem nach oben, als könnte jederzeit ein Schwarm Oppsteiner von den Felsen springen. Seine wurstfingrige Hand zitterte am Zügel. Nun, Alrik hatte den rotbackigen Drückeberger offenkundig nur wegen des eisenbebänderten Darpatbullenhorns mitgeschickt, dessen Tröten man sicherlich bis nach Bethel hören würde. Dafür brauchte es kräftige Lungen, über die Diebold in jedem Fall verfügte. Von Tuten und Blasen hatte sein Waffenknecht schon einmal eine Ahnung.

Parik, der barönliche Lieblingsleibwächter, sah etwas mutiger und gelassener drein. Was sie von ihm, den "Grünen Knappen" hielten, wie er im Feldlager auch genannt wurde, war schwer einzuschätzen. Das "grün" bezog sich jedenfalls nicht allein auf Timoins Gewandung.

Wie auch immer, die Fährten, die Timoin von Atzels Rücken aus las, sahen auf den ersten Blick nicht allzu beunruhigend aus.

Vor kurzem war hier ein Reiter entlang getrabt, das war eindeutig. Es gab ältere Hufspuren in die andere Richtung, dazu Spurrinnen von Karren, Trittspuren, Hasenpfoten, eine Rehfährte. Nichts, was man auf einem Waldweg am Rand der Sichelberge nicht hätte erwarten dürfen. Hier und da führte ein Rückepfad ins Grün des Mischwaldes, der immer mehr anstieg und nach und nach in reinen Nadelwald überging. Timoin vermisste Odilon, der hätte ihm mit einem Blick sagen können, welche Fellfarbe das Pferd des Glorianers hatte. Der Wald selbst war wild zerklüftet, und weder als Lagerplatz noch für einen Sturmangriff aus dem Hinterhalt geeignet. Heckenschützen, die hätten es gewiss einfach gehabt.

Timoins Blick ging zu den schneebedeckten Bergen, die in der Ferne, zwischen den Wipfeln, aufragten. Nun ja, eigentlich waren es nur Schneereste, die sich jetzt, im Sommer, auf den höheren Bergen hielten. Es war Sokramors Land, dass sich dort oben erstreckte. Einen Moment lang versuchte sich Timoin die schlafende Gigantin vorzustellen, die Bergseele, von der er noch nie eine Statue oder ein Bild gesehen hatte. Vor seinem inneren Auge tauchte eine steinerne Riesin auf, mit blitzenden Augen und drallen Brüsten, Steinbockhörnern und eine Sichel, die eher eine langstielige Streithacke war. Eine Goblinsense vielleicht. Es war eine fast schon dämonische Vision...

Timoin zügelte Atzel und ließ seine Gefährten aufschließen.

"Na, Männer, was haltet ihr davon?" fragte er leutselig. “Ist die Luft sauber?”

Parik nickte.

"Hier wächst die Wirsel nicht", murmelte Diebold. Das alte Sprichwort meinte eine Gegend, die derart unwirtlich, vielleicht auch verflucht war, dass dort Peraines liebstes Heilkraut nicht gedieh.

Der junge Binsböckel spähte nach verdächtigen Bewegungen. Aber da war nichts. Entweder gab es keine Feinde im Wald, oder drei einsame Rotpelzigs waren denen nicht die Mühe eines Überfalls wert. Wobei Timoin streng genommen nicht zu Friedwangen zählte, die im übrigen Sichelhag diesen Spottnamen führten: Answin Rotpelzig, der einfältige, grobschlächtige Hinterwäldler mit schlichter Bauernhaube, mürrischem Freibiergesicht, roter Goblinnase und ewiger Sehnsucht, nach den besseren Zeiten unter Graf Answin.

Hinter der letzten Abzweigung schien der Waldweg schon seit längerem nicht mehr benutzt worden zu sein. Nach ein paar Bogenschüssen Ritt hörte er einfach auf, verrann im Nichts. Kleine Bäumchen und Farne wuchsen zwischen den letzten Überbleibseln der Spurrinnen. Wie eine verfluchte Gegend sah der Wald nicht aus, Praios Sonnenstrahlen fielen golden zwischen den harzigen Stämmen auf den grünbemoosten Boden, wie durch die Fenster der St. Alboran-Siegesbasilika. Hie und da ragten ein paar Pilze und Blumen auf.

Timoin tippte auf seinen Oberarm, zum Zeichen, dass seine Gefährten die gut sichtbaren, fast schon orangefarben leuchtenden Gänseschleifen abnehmen sollten. Er selbst trug das auffallende "Traviazeichen" gar nicht erst. Besonders hoch waren die Bäume nicht, die höchsten ragten vielleicht fünf oder sechs Schritt in den blauen, mit weißen Schäfchenwolken bedeckten Himmel.

Timoin vermutete, dass die Tannen und Fichten im besten Fall zwanzig Götterläufe hier wuchsen. Wobei er schwer einzuschätzen vermochte, wie sich die Berglage auf das Wachstum auswirkte. Wieder einmal vermisste er Odilons Ratschlag. Sie ritten weiter, in einen buchtähnlichen Talkessel hinein, der von großen Schieferfelsen flankiert wurde. Die Nadelbäume rauschten im Frühlingswind.

Nach und nach bemerkte Timoin die Steine, die überall herumlagen, mal moosgrün, mal wurzelüberrankt, gelegentlich noch zu einer Andeutung von Mauerwerk aufgeschichtet. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er sich bereits in Markt Windsbucht befand, der einstmals aufstrebenden Bergwerksiedlung. Der Marktflecken war einfach verschwunden, durch Firuns Macht. Sicher auch durch die übliche Steinklauerei der Bauern. Eine Wüstung, sie ritten hier durch eine Wüstung. Der Boden war gewellt, uneben, rissig, wie ein zu Erde erstarrtes Meer. Es roch nach Tannennadeln, Harz und Moos.

Timoin sprach ergriffen ein Gebet zum Weißen Jäger.

Als der Jäger weiter ritt, hörte er ein Knacken. Atzel hatte eine große Tonscherbe zertreten, nein, einen halben, völlig verwitterten Krug.

Sie waren viel zu laut. Hinter ihm flüsterten seine Untergebenen, die Pferde schnaubten und stampften unruhig. Timoin stieg aus dem Sattel und gab den Gardisten ein Zeichen, zu schweigen. Sie sollten mit den Reittieren zurückbleiben – schon allein, um die Fährten nicht zu zerstören, von denen es hier einige geben musste. Tatsächlich, nur wenige Schritt entfernt war der Glorianer abgesessen. Die Spur führte geradewegs in Richtung mehrerer halb zugewachsenen Grundmauern, die schon eher einer Ruine ähnelten.

Timoin spürte sein Herz höher schlagen und das grausam-liebliche Kampffieber, das der Jagdlust so nahe verwandt war. Jeden Augenblick konnte ihn ein Pfeil treffen, oder er selbst sein Geschoss ins Ziel jagen...Was Wunder, dass manche alte Krieger nach diesem Gefühl süchtig wurden. Ein Waldkäfer brummte schwerfällig an ihm vorbei.

Timoin schnürte den linken Armschoner wieder zusammen, dessen Riemen sich ein wenig geöffnet hatte. Dann schob er das Knappenkurzschwert zurecht, das im Nahkampf zwar wenig taugte, aber einen Waldläufer nicht so sehr behinderte. Genau genommen handelte es sich dabei um einen Hirschfänger, mit dem sich der Namensgeber ebenso wie ein Reh oder eine Wildsau niederstrecken ließ. Am Gürtel baumelte außerdem ein kleiner Nicker, ein Messerchen für den Fangstoß in den Nacken. So wie es aussah, war der Elfenbogen gerade seine stärkste Waffe.

Timoin zog einen dunkel befiederten Pfeil aus dem Lederköcher, legte ihn klappernd zwischen Sehne und Schwinglingen ein. Dann spannte er Bavhano Bvaith ein wenig und versuchte die Spannung zu halten, was dank der dem Bogen innewohnenden Elfenmagie wunderbar gelang. Der Knappe hatte nie verstanden, wie Odilon das ohne Fingerschutz ausgehalten hatte: Dieses schneidende Gefühl.

Nun gut, der Schwarze Bär hatte auch eher schwielige, dickhäutige Pranken denn Menschenhände gehabt. Hatte...gehabt...Unsinn, Odilon war noch am Leben, das konnte Timoin mit jeder Faser seines Körpers spüren. Stoßartig atmete er aus, als ließe sich solcherart die Nervosität herauskeuchen.

Wie auf Katzenpfoten schlich der Schütze näher, wobei er sorgfältig die Deckung des verbliebenen Mauerwerks suchte. Das war teilweise aufgebrochen und ineinander verschoben, ganz so, als habe ein Erdbeben das stolze Bauwerk zum Einsturz gebracht. Ob die Trümmer einmal zu einem Tempel gehört hatten? Der Größe nach kam das hin. Kleine Sträucher und Mauerpflanzen wucherten in den Spalten. Odilon hatte ihm beigebracht, wie die Kräutlein hießen, aber irgendwie fiel ihm gerade kein einziger Name ein.

Er hatte andere Sorgen.

Odilons Knappe linste um die Ecke, an  Buschwerk vorbei. Seine Vorsicht war berechtigt.

Im "Tempel" kniete der Glorianer, vor einem Schwert, das vor den Überresten der Rückwand in den Boden gerammt war. Daneben lag eine Beckenhaube. Sein Gegner trug eine Kettenbrünne, den rotgoldenen Waffenrock der Oppsteiner und darunter einen Gambeson.

Timoin schlug das Herz bis zum Hals. Am übrigen Körper befiel ihn eine kalte, irgendwie unangenehme Ruhe. Zuerst dachte er, der Oppsteiner bete vor seiner eigenen Klinge, mit zusammengelegten Händen. Aber die Waffe war von dunklem Efeu umrankt, die in vielen Tagen empor gewachsen sein musste. Die Ranken waren von den Steinwällen herangekrochen, ein wildromantischer Anblick. Überall auf dem Boden wuchs Löwenzahn. Ein dem Verfall preisgegebenes Heiligtum der Kriegsgöttin?

Der Binsböckel hätte seinen Gegner von hinten niederschießen oder zumindest lautstark zu seinem Gefangenen erklären können. Odilon hätte so ein Vorgehen vermutlich für ehrlos empfunden. Es war zumindest riskant. Geweiht mochte der Boden nicht mehr sein, aber eine Ahnung göttlicher Kraft war noch spürbar. Vor allem war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich noch weitere Drachen in der Nähe befanden. Lautlos würde Timoin seinen Kontrahenten nicht unschädlich machen können. Das Nickermesser sah nicht so aus, als könne es Wehrheimer Stahlgeflecht durchdringen, und einen wirklich sauberen Meuchlerschuß traute sich Timoin nicht zu.

Am besten wäre es, er würde dem zweibeinigen Wild heimlich folgen, und erst einmal die Lage erkunden. Der Jäger entspannte den Bogen wieder, hielt aber den Pfeil auf Sehne. Tatsächlich, die Pferdespur, der er gefolgt war, führte ein Stückweit am Tempel vorbei. Der Betende schien ihm von der Seite her, durch eine große Lücke, betreten zu haben, zu Fuß. Irgendwo musste der Kerl sein Streitross angebunden haben.

Der Bärleinshahn stand mit klirrendem Kettenzeug auf, stülpte sich die Beckenhaube über und schlug das Schwertzeichen. Dann verneigte er sich knapp vor dem echten Stahl. Soweit Timoins scharfe Augen es sehen konnten, zeigte das Rondraschwert kein einziges Anzeichen von Rost und war auch sonst nicht von Satinavs Zahn angenagt. Womöglich trug der Platz, an dem einst der Altar und die Statue gestanden hatten, wirklich noch einen Funken von Rondras Kraft in sich.

Timoin duckte sich hinter einem Mauerrest, während sich sein Gegner entfernte. Erst jetzt merkte der Binsböckel, dass er sich die ganze Zeit hinter einem mehrfach geborstenen Zinnenkranz verborgen hatte. Stirnrunzelnd betrat er das ehemalige Langschiff des Tempels.

Schiff, der Begriff passte. Es waren Zinnen, die im Geviert aufragten, zumindest deren Überreste. Dachzinnen? Tatsächlich, er stand nicht im Allerheiligsten, sondern auf dem ehemaligen Dach des Tempels, der in Sumus Reich versunken zu sein schien. Die Dachummauerung wirkte irgendwie schief, wie bei einem gekenterten, nur noch teilweise aus dem Wasser ragenden Wrack. Der Boden war ziemlich uneben.

Langsam begriff Timoin, wo er gerade stand. Das hier war das zinnenbewehrte Flachdach eines Wehrtempels der Himmlischen Leuin. Dort, dicht eingewachsen zwischen Gebüsch, ragte der krumme, mehrfach zerbrochene, traurige Stumpf des dazugehörigen Turms auf.

Die Schäden wirkten völlig chaotisch, als wäre der Bau erst von heftigen Erdstößen durchgerüttelt und dann mit einiger Schlagseite in die Tiefe gezogen worden. Als wäre der steinig wirkende Boden flüssig geworden, oder breiig. Timoin schauderte. Wirklich fest und verlässlich wirkte der brüchige Untergrund noch immer nicht. Sicherlich gab es Hohlräume und Spalten unter seinen Füßen, mit entsprechender Einsturzgefahr. Der Glorianer hatte gut daran getan, das einstige Heiligtum von der Seite her zu betreten.

Timoin kam sich vor, als wäre er unvermittelt in ein Feld voller Fallgruben und Krähenfüße geraten. Sollte er auf gleichem Weg zurückkehren? Die Leichtfüßigkeit der Jugend trug den Sieg davon, im Wortsinn. Nur einmal sank er kurz ein.

Das "Rankenschwert" steckte nicht in der dünnen Erdschicht, stellte Timoin fest, sondern in einem kleinen Steinhaufen. Davor lag ein lederner Dukatenbeutel im Gras. Der Tragriemen war gerissen. Erfreut griff der Jäger nach der "Beute", und schrak vor seiner eigenen Ruchlosigkeit zurück: Er war doch nicht wegen ein paar kläglicher Münzen hier. Oberflächlich tastete er den Inhalt ab. Ein paar Silbertaler, Heller und Kreuzer vermutlich, Spielwürfel, Feuerstein, Stahl und Zunder...

Im nächsten Moment hörte der Waldläufer Schritte, von der Lücke in der einstigen Brustwehr her, durch die der Besitzer gerade verschwunden war. Der Glorianer hatte seinen Verlust ebenfalls bemerkt. Timoin fluchte lautlos. Am Dachrand erspähte er eine Öffnung, irgendeine halb verfüllte Einbruchstelle. Im letzten Moment rollte Timoin hinein.

Leise pfeifend nahm der Oppsteiner seine Geldkatze an sich und knotete sie umständlich fest. Wie ein Murmeltier spähte Timoin aus dem Bau und zog sich noch ein Stückweit in die Spalte zurück. Der feindliche Reiter bemerkte ihn nicht, sondern ging in Richtung Tannicht davon.

Timoin atmete erst einmal durch, während er mit seinen Füßen nach Halt suchte. Steine und Erdbrocken polterten an Wurzelwerk vorbei nach unten. Es schien noch tiefer hineinzugehen. Selbst wenn er eine Lichtquelle gehabt hätte, wäre er da unten nicht hinein gekrochen.

Heilige Artema, was in Firuns Reich vermochte ein derartiges Zerstörungswerk anzurichten? Im Jahr, bevor er geboren worden war, da sollte Wehrheim, der Mittelpunkt der Grafschaft, in der Erde versunken sein, im Schatten der Fliegenden Festung, durch ein abscheuliches erzdämonisches Ritual. Danach sollte es immer wieder Erdbeben in der Umgebung gegeben haben. Was immer das Wort "Umgebung" meinte.

Die alte Welt war untergegangen, im Wortsinn. Ein neues Zeitalter hatte begonnen – so behauptete es zumindest sein Lehrmeister Odilon. Der zwölfte Äon seit Anbeginn der Welt. Nun würden Menschen und Nichtmenschen um die Vorherrschaft kämpfen müssen. Er, Timoin, durfte sich als Kind einer neuen Zeit fühlen, immerhin.

Der Jäger kroch heraus, stand, klopfte sich die Überreste der alten Welt ab und heftete sich dem Oppsteiner auf die Fersen. Auch wenn der Boden felsig und wenig zum Spurenlesen geeignet war, machte es ihm sein "Wild" leicht. Dort vorne wackelte noch ein Lärchenzweig, grobe Stiefel hatten einen kleinen Pfad in die moosigen Steine gekerbt. Schon bald trat zarter Rauchgeruch an seine Nase. Ein Lagerfeuer? Es roch verführerisch nach gebratenem Fisch.

Geduckt huschte Timoin durch das Grün, Pfeil und Bogen wieder in Händen. Nach einer Weile weitete sich der Weg und gab den Blick auf einen kleinen, seerosenbewachsenen See frei, umringt von Felsformationen. Timoin hatte den Eindruck, dass das Gewässer früher einmal größer gewesen und der Wald auch hier vorgerückt war, über Geröll hinweg. Hatte die Erderschütterung dafür gesorgt, dass ein Teil des Wassers verschwunden war?

Am Ufer stand eine Holzerhütte mit Stall, hinter der eine geborstene Rutsche den Hang hinauf führte. Eine Rutsche für Baumstämme?! Natürlich, in Markt Windsbucht war Bergbau betrieben worden, dafür hatte es jede Menge Holz gebraucht. Wie sagte man dazu? Stollenholz? Grubenholz....

Neben dem Holzfällerhaus erstreckte sich ein Lagerplatz für kleinere Stämme und Brennholzstapel. Eine wahre Trollaxt steckte in einem Hackklotz, große Sägen und Spitzhacken zum Stämmeziehen lehnten an der Blockhütte. Vier Pferde waren an einen Holm gebunden, allesamt mit Satteldecken in der rotgoldenen Farben der Glorianer. Bei den Tieren handelte es sich um geländegängige Ponys, Aarmaris, wahrscheinlich sogar aus Gießenborner Zucht. Eine erneute Erinnerung daran, wie nahe sich die Kontrahenten in dieser Fehde standen.

Mit rötlichen Flammen knisterte und knackte ein Lagerfeuer in der Nähe des Sees, an dem aufgespießte Fische gebraten wurden. Der Geruch war wirklich lecker, Timoin vernahm ein Knurren im Magen. Aber als Firunsjünger war er Entbehrungen gewohnt. Er zählte fünf Fische.

Im nächsten Moment öffnete sich bereits knarrend die Tür. Timoin hechtete hinter einem breiten Fichtenstamm in Deckung und zog sich die grüne Kapuze übers Gesicht.

Zwei Glorianer traten aus der Blockhütte,  eine Frau und ein Mann – der Betbruder vom Tempel.

"Hab....doch gesagt...Wachen aufstellen." Der Rondragläubige war kaum zu verstehen. "Ganz schön... Feuer."

"Wenn...brennt, sieht man....Rauch bis Bet...", sagte die Frau.

Die beiden traten näher. "Du hast Glück, Kordan, die Holzer sind gerade oben im Wald. Der Fisch reicht für alle."

"Kordan" setzte sich schwerfällig auf eine Holzbank und streckte seine Beine. Missmutig starrte er ins Feuer.

"Haben uns einfach überrannt."

Die Oppsteinerin drehte die Fischspieße ein wenig. "Sind gleich durch. Verdammt, wären wir nur dabei gewesen."

Der stoppelbärtige Mann namens Kordan seufzte. "Das hätte nichts gebracht. Mit den Rotpelzigs wären wir fertig geworden, beim Heiligen Leomar. Diese verfluchten Silberwölfe verstehen ihr Handwerk. Vor allem kennen die sich in der Gegend aus...als ob...es wirklich Edorian wäre, der sie anführt." Der Glorianer warf einen schweren Holzklotz ins Feuer. "Verdammt, ich will nicht zweimal den gleichen Zwist durchkämpfen müssen. Die Jungs und Mädels haben Angst, als hätten sie Redenhardts Vogt persönlich die Hand abgehackt. Gut möglich, dass er zurückgekehrt ist, um sich zu rächen."

"Wir hätten sie gestern schon nach Oppstein bringen sollen", seufzte die Frau. "Statt uns im Wald zu verkriechen."

Kordan trat das zurückgerollte Holzstück wieder in die Mitte der Flammen.

"Nein, das war schon richtig...Unser Spion hat berichtet, dass ne Lanze Markgräfliche eingetroffen ist, bei den Ismenischen."

"Verdammt, steht Swantje jetzt auch auf deren Seite?" Die Frau klang ebenso erschrocken wie empört.

"Nein, da ist so ne Traviatante dabei. Ehemalige Gänseritterin. Die sollen wohl nachsehen, dass wir uns gesittet umbringen, bei der Fehde."

Timoin bekam spitze Ohren. Davon hatte er gar nichts mitbekommen.

"Ich dachte, dafür sind diese Badilakaner da...wollten die nicht nen Waffenstillstand vermitteln?"

"Jaaa", sagte Kordan gedehnt. "Jetzt denk mal drüber nach...Im Kloster wollen sie Frieden, klar, die haben Angst, dass ihnen die Pilger durch die Lappen gehen. Bei der Gänsbergwallfahrt im Herbst. Während sie in der Friedensstadt Angst haben, dass im Sichelhag der Frieden ausbricht?! Mit dem Verhandeln ist jetzt erstmal Schluß, soviel steht fest."

Kordan lachte auf und rupfte ein wenig Brot auseinander, das auf einem Stein gelegen war. "In Rommilys hätten einige wohl nichts dagegen, wenn unser Herr abgesetzt wird."

"Meinst du wirklich?"

"So ein Krieg, groß oder klein. Der ist im Grunde doch nichts anderes als ein Zweikampf... ein Traviaurteil. Bei dem die Pfaffen manchmal nachhelfen. Seine Hochgeboren soll ein großer Freund der traviagefälligen Kochkunst sein. Aber sonst? Mit unserem Fundstück können wir jedenfalls nicht einfach so nach Oppstein reiten. Der Bauer hat gemeint...ein treuer Untertan unseres Herrn Adran, der seine Felder kurz vor Bethel bestellt. Nun, er hat aufgeschnappt, dass die Markgräflichen mal hierhin, mal dorthin reiten sollen. Nachsehen wollen die, ob alles hübsch traviagefällig zugeht. Auf beiden Seiten der Front." Kordan verteilte ein paar Tonbecher. "Wie die Wachgänse. "

"Kommt raus, Essen ist fertig", rief die Frau in Richtung Hütte. Sie schien froh zu sein, nicht sofort antworten zu müssen.

"Für alle?" tönte es halblaut aus der Tür.

"In Travias hochheiligem Namen, ja..."

Unter dem Dachunterstand, der den Eingang vor Regen schützte, war Bewegung auszumachen.

Zwei weitere Adransche traten heraus. Sie waren nicht allein. Eine junge Frau mit halblangen braunen Haaren wurde nach vorne geschoben, mit verbundenen Augen und vor dem Bauch gefesselten Händen. Die grün schimmernden, weit wallenden Gewänder sahen elfisch aus, ebenso die gezaddelten Filzstiefelchen. Leider war durch die Augenbinde nicht zu sehen, ob die Ohren der Fremden spitz waren.

Der Fremden? Timoin spähte aus dem Versteck. Er kannte die junge Frau, er kannte sie sehr gut...Hastig duckte er sich hinter einem großen Farn, als die Blicke der Wachen in seine Richtung wanderten. Zum Glück patschte ein Fisch im See und lenkte die Aufmerksamkeit ab.

"Baroness Tsalinde von Friedwang", sagte Kordan feierlich. "Es ist eine große Ehre für uns, Euch in unserer Mitte zu haben. Die Stimme des Gardisten klang bei allem Spott ein wenig unterwürfig. "Ihr seid herzlich zum Essen eingeladen."

"Wie gut zu wissen", sagte die Erbin der Baronie Friedwang und klang nur spöttisch. "Ich dachte schon, ihr wollt blinde Kuh spielen."

"Verzeiht, Euer Wohlgeboren", sagte einer ihrer Bewacher, ein bärtiger, breitschultriger Glorianer. "Aber bei Spionen...da kann man gar nicht vorsichtig genug sein.”

"Fangt ihr wieder mit dem Unsinn an. Ich möchte auf schnellstem Wege zu meinem Vater gebracht werden, dem Baron von Friedwang.  Es soll euer Schaden nicht sein."

Die Gardistin zog einen der Spieße aus der Erde und reichte sie Tsalinde, die einen eigenen Faltstuhl erhielt. "Vorsicht, heiß. Eine nicht ganz so vornehme Speise wie auf Burg Friedstein...aber im Anbetracht der Umstände?! Und passt auf die Gräten auf."

Timoin glaubte seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. So waren es also wirklich die verdammten Adraniten gewesen, die Tsalinde entführt hatten, im letzten Hesindemond? Wie immer sie das geschafft hatten! Nun hielten sie die Hochadelige am erbärmlichsten Ort gefangen, der in Oppstein vorstellbar war – und ließen es dennoch nicht an Travias Gastfreundschaft mangeln? Mehr als einen Moment lang war der Grüne Knappe verwirrt. Dass die Rommilyser "Schiedsrichter" nichts von diesem ungeheuren Schurkenstück mitbekommen sollten, lag auf der Hand.

Die feindlichen Soldaten begannen zu essen. Offenbar fühlten sie sich im Moment vollkommen sicher.

"Ich muss schon sagen" nuschelte Kordan unter einem schweren Bissen. "Respekt...Ihr Ismenischen, ihr habt Mumm. Wenn auch sonst nicht viel auf der Pfanne. Aber Schneid habt Ihr. Erst dieser verrückte Pferdedieb...und nun Ihr, Euer Wohlgeboren. Aber die Verkleidung, na...ich weiß nicht. Das ist doch eher was für nen Ballabend in Rommilys. Nee, in Gareth ziehen die so einen Fummel an. Also für den Windsbuchter Wald ist das nichts."

Verhaltenes Gelächter.

"Welcher Tag ist heute?" fragte Tsalinde und blies sachte über ihren "Steckerlfisch". Sie wollte ein Stück abbeißen, verbrannte sich aber die Lippen. "Das hat mir immer noch keiner gesagt. Vor allem, welchen Götterlauf haben wir?" Die Baroness klang beinahe schon flehend.

Erneut Gelächter, das jetzt leicht beunruhigt klang.

"Euer Wohlgeboren", sagte die Glorianerin, "es ist ja eine nette Geschichte, die Ihr Euch da ausgedacht habt. Aber...das glaubt Ihr doch selber nicht, dass Ihr das letzte halbe Jahr in der....in der Feenwelt zugebracht habt. Ein Stück Brot und etwas Wein?"

Tsalinde hatte dafür kein Ohr. Soetwas wie Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus.

"Ein halbes Jahr nur, den Göttern sei Dank. Aber...wie kann es sein, dass unsere Baronien plötzlich in Fehde liegen?"

"Fragt das Euren Herrn Vater." Kordan hatte Fisch und Brot auf einen flachen Schieferstein gelegt und schnitt sich das Essen mit dem Messer zurecht. "Weit weg ist er ja nicht...Hat behauptet, unser guter Herr Adran würde hinter Eurem Verschwinden stecken. Aber zum Glück wissen wir ja nun, wo Ihr Euch versteckt habt." Belustigung schwang in diesen Worten mit.

"Sollen wir Euch füttern?" fragte die Frau besorgt. Die Baroness hatte sich tatsächlich ziemlich vollgekleckert.

"Wenn du mir die Fesseln lösen könntest, das würde schon reichen." Tsalinde klang ungnädig, versuchte angesichts der Umstände aber höflich zu klingen. Die Gardistin begann tatsächlich am Knoten zu nesteln.

"Nun mach mal halblang, Winelind." Der vierte Oppsteiner, der ein blondes Oberlippenbärtchen trug, fiel der Glorianerin in den Arm. "In Drachweiler, da haben ihre Leute uns mit Pfeilen überschüttet. Dieses hinterhältige Pack. Rhufon hats erwischt, ein paar gute Leute schmachten jetzt in Gefangenschaft...und du willst die Friedwangerin verhätscheln?"

Winelind begnügte sich damit, die Fesselung ein wenig zu lockern. "Das müsste reichen. Kommt ja nicht auf dumme Gedanken, Euer Wohlgeboren."

"Auf noch dümmere Einfälle", kicherte das Bärtchen. "Läuft auf den erstbesten Holzknecht zu und fragt ihn, wo es auf schnellstem Weg zu den Friedwängischen geht."

"Weit ist es wirklich nicht mehr." Kordan klang besorgt. "Nach dem Essenfassen sollten wir aufbrechen."

Tsalinde grinste in sich hinein. Sie schien verstanden zu haben, dass die Fehde für die Oppsteiner momentan nicht gut lief. Dann begriff sie, dass dies genauso gut auf ihre Lage zutraf. "Mein Vater wird Euch belohnen, wenn Ihr mich zu ihm bringt. Einige von Euch sind in Gefangenschaft? Vielleicht ist ja ein Austausch möglich."

"Hört, hört", sagte Kordan. "Welch großherziges Angebot. Für jemand, der erst gestern aus einem Erdloch im Wald gekrochen ist."

"Das...das muss der Nexus gewesen sein...eine Art Tor, aus Wurzeln. Da waren leuchtende Funken...und Pilzfäden...dann sind die Bäumlinge zurückgekehrt und haben nach mir gegriffen. Ich bin ab durch das Tor...glaube ich...in diesen Spalt gekrochen, und dann immer dem Licht nach. Odilon, ich muss nach Odilon suchen. Lasst mich zurück, auf den großen Baum, ich bitte euch."

Tsalinde wollte aufstehen, aber der Bärtige drückte sie unsanft zurück. "Gemach, junge Dame."

"Pilze?" fragte Kordan kauend. Dann genehmigte er sich einen Schluck Wein, aus einem der Tonbecher.

"Ja, so ein leuchtendes Pilzgeflecht. Alles hat geleuchtet...da waren diese fliegenden Lichtkugeln. Eine hat mit mir gesprochen...glaube ich...Bilder hat sie mir gezeigt, versteckt hinter einem Satuariensstrauch. Odilon, wo ist Odilon?"

Winelind gluckste. "Ah so. Langsam verstehe ich. Rauschpilze?! Die Kleine haut mit irgendwelchen Sokramorspinnern ab und dröhnt sich bis zum Frühling mit...was weiß ich...Fliegenpilzen und Marbotäublingen zu."

"Vorsicht mit Sokramorspinnern", warnte der Vollbärtige ernst.

Schweigen.

"Wie auch immer", sagte Kordan. "Einstweilen sind die Ismenischen noch mit Plündern und Brennen beschäftigt, in Bethel. Aber früher oder später werden sie unser Versteck finden."

"Wir Friedwanger plündern nicht", sagte Tsalinde entschieden. "Nehmt mir endlich diese verdammte Augenbinde ab. Ich bin doch kein Pferd, dass man mit verbundenen Augen ans Feuer führen muss."

"Wenn dich Adran gegen die Gefangenen austauscht...dann kannst du nichts Falsches erzählen". Winelind goss sich etwas Wein ein. "Davon, was du bei uns gesehen hast."

"Was soll ich schon groß erzählen? Dass ihr zu viert seid, einer Kordan heißt und du Winelinde?"

"Wer sagt dir, dass wir nur zu viert sind?" Kordan tat geheimnisvoll. "Außerdem heißt sie Winelind."


"Verstehe...ich soll nicht mitbekommen, wie wenige ihr eigentlich seid." Die Baroness lächelte spitzfindig. "In einer elenden, verwanzten Holzfällerhütte müsst ihr auch übernachten? Was Wunder, die stolze Burg Oppstein gibt es ja nicht mehr."

Erneut verlegenes Schweigen. Tsalinde schien gerade den wunden Punkt der Glorianer getroffen zu haben.

Die gutmütige Winelind nestelte bereits am Knoten des Lumpen, der Tsalindes Augen verdeckte, als sie ein scharfes Räuspern Kordans innehalten ließ.

"Die Holzer haben uns gewarnt. Ihre Augen sind so starr und leblos wie die einer Schlange."

Der Waffenknecht schlug das Zeichen des Praios. "Wer mit dem Schlitten über die Oppsteiner Wälder fliegt, in seltsamen Gewändern durch den Wald irrt...der verfügt über den Bösen Blick. Sie ist die Tochter Serwas von Friedwang."

Nun verzog die Baroness ihren schönen Mund. "Ihr Oppsteiner betet doch zu Alten Göttern..."

"Nicht mehr als andere auch, im Sichelhag. Manche sagen sogar, Ihr wärt Adrans Tochter, Euer Wohlgeboren."

"Dann sollte ich nicht gefesselt an einem nach Fisch stinkenden Lagerfeuer sitzen, findest du nicht...Kordan?"

Winelind hüstelte nervös: "Ihre Klamotten schauen wirklich vornehm aus. Vielleicht hat sie ja den letzten Winter auf der Schwerterburg verbracht. Bis zum Hexentanzplatz auf dem Hörnerberg ist es da nicht weit."

Schweigen.

"Diese irre Fehde soll einer verstehen", brach es aus dem Bärtigen heraus. "Ist unser Prinzesschen jetzt die Tochter Adrans oder Alriks?"

"Ich bin die Tochter des Barons von Friedwang, da könnt ihr Gift drauf nehmen", sagte Tsalinde entschieden. "Auf jeden Fall bin ich nicht euer Prinzesschen. Ich bin überhaupt kein Prinzesschen. Apropos Gift. Meine Augen sind in Ordnung, bei Hesinde. Wahrscheinlich lag es am Schlangengift, dass die Pupillen geweitet waren."

"Was denn für Schlangengift schon wieder? Das nächste Rauschzeug? Also ich hab davon gehört, dass die Sokramorier an Kröten lecken." Winelind war sichtlich stolz auf ihr Wissen. "An Hexenkröten, kann einer sich sowas vorstellen?"


"Hm...könnte es sein, dass das Schicksal gerade…nett zu uns ist?”  Kordan ließ seine Stimme harmlos klingen, ganz so, als würde er nur laut nachdenken. “Vielleicht versündigen wir uns an den Göttern, wenn wir Tsalinde Adran ausliefern? Alrik würde mehr für die Kleine zahlen. Soviel steht fest. Und wir könnten wirklich unsere Gefangenen austauschen."

"Das ist jetzt nicht dein Ernst, Kordan", knurrte der Bärtige und ließ seine Hand wie zufällig auf den Schwertgriff sinken. "Wir haben Baron Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen einen Eid geschworen. Unsere Zeichen auf den Dienstvertrag gesetzt."

"Ja, einen Eid als Burgwachen. Nur leider gibts keine Burg Oppstein mehr, die wir hüten können." Winelind stocherte missmutig im Feuer. "In der Schwerterburg halten die Koppeler Bauern Wacht."

"Ja, weil wir die Burghut dort abgelehnt haben", sagte der Bartträger. "Einige von euch...leider wars die Mehrheit."

"Die Schwerterburg, das ist doch am Arsch der Baronie", maulte Kordan. "Da oben heulen sogar die Wölfe vor Hunger. Keinen verdammten Winter würde ich in dem kalten Loch aushalten, und mein Gaul auch nicht. Wir sind doch kein Strafbanner, bei Rondras Ehre!"

"Du hast gehört, was unser Herr gesagt hat. Den Hof bewachen demnächst die Ritter vom Stein allein. Unsereins wird gar nichts anderes übrig zu bleiben, als das Quartier zu räumen."

"Bevor ichs vergesse", meldete sich Winelind zu Wort. "Kordan hat erzählt, dass eine Lanze Markgräfliche in Drachweiler aufgetaucht ist, mit einer Traviageweihten vorneweg."

"Doch nicht, um auf der Seite des Rondritscherls zu kämpfen?" Der Bärtige klang ungläubig. "Wieso fallen alle auf diese Baernfarner Blenderin herein? Die hats nicht geschafft, den albernischen Fürstenthron zu erhaschen...jetzt muss es die Baronin Oppstein sein ?! Das ist doch alles so fadenscheinig."

"Nen Levthanspriester hat Swantje schon mal nicht geschickt",  sagte Kordan, scheinbar vergnügt. "Die sollen die Fehde beobachten, heißt es. Interessant, findest du nicht? Damit alles schön traviagefällig aussieht. Fällt bei euch der Heller? Als erstes kommen sie ein paar Sonnenläufe zu spät. Nachdem Drachweiler längst erobert ist. Jetzt sorgen sie dafür, dass die Hexen und Druiden Adran nicht zur Hilfe kommen können. Jedenfalls nicht offen. Rafft ihr eigentlich, was der Praiosgong geschlagen hat? Adran ist bei der Markgräfin in Ungnade gefallen, so schauts aus...und wir mit ihm?"

"Ach, und deswegen wollt Ihr Alrik abzocken, auf eigene Faust?" Der Bärtige schüttelte unwillig den Kopf. "So richtig Duckern aus ihm herauspressen? Danach habt ihr beide als Feind, Adran wie Alrik. Wollt ihr euch in die Schattenlande absetzen?!"

"Neee, zu Arngrimm, da mach ich nicht rüber. Aber bei der Rommilyser Reiterei solls recht lauschig zugehen, bei den Liebfeldern und Gernbrecht. Glorianer...der alte Glorian von Oppstein würde sich im Grab umdrehen, wenn er seine Baronie heute sehen könnte. Von wegen Gloria Darpatia. Wir sind sowas von am Arsch. Darpatien kaputt, die Baronsburg kaputt, Windsbucht kaputt, der Weg zu Adrans Palast offen...." Kordan wies um sich. Dann spuckte er wütend eine Gräte aus.

"Man könnte deine Worte leicht als Verrat auslegen, Kordan."

"Bullenscheiß. Ist Gernbrecht ein Verräter, oder Elissa, unsere Altbaronin? Die sitzt schon lange wieder in Methumis. Ich hab mich damals mit den Feldschen unterhalten. Wisst Ihr eigentlich, was einer bei der Dukatengarde verdienen kann, oder bei der Rommilyser Reiterei? Die schwimmen da unten in blinkenden, schweren, goldenen Horasdor. Und wir....hocken mitten in der darpatischen Misere. Wo plötzlich jeder gegen jeden kämpft, wie bei einer Kneipenschlägerei."

"Glaubst du, das ist bei den Horasiern anders, Kordan? Schon mal was vom Thronfolgekrieg gehört? Wir sind Adran zu Treue verpflichtet und haben eine Aufgabe zu erfüllen."

"Ach ja? Adran hat die Gemahlin des Barons von Friedwang gevögelt und die Mersingens beleidigt. Redenhardt hat die Baernfarns ans Messer geliefert. Alle wollen sie das Oppsteiner Silber! Sollen die Götter darüber richten. Aber was geht mich das an?" Kordan lachte freudlos auf und klimperte mit dem Dukatenbeutel, den Timoin bereits kennengelernt hatte. "Wenn ich ein Ritter vom Stein wäre...also steinreich...mit Land und Lehen. Ja, da würde ich noch was auf Oppsteiner Treue und Ehre geben."



"Heute Nacht werden wir uns an den Ismenischen vorbeischleichen. Morgen früh sind wir in Oppstein, mit unserem kleinen Faustpfand hier. Dann gibts eine nette Belohnung....vielleicht sogar eine Beförderung."

"Hast du nicht zugehört?" Kordan tippte sich mit der Klinge an die kettenbewehrte Stirn. "Was, glaubst du, werden die Markgräflichen sagen, wenn du mit der Tochter des Barons von Friedwang durch Oppstein reitest? Die Baroness, die seit einem halben Götterlauf verschwunden ist. Weil sie unser Herr angeblich verschleppt hat, ganz ohne Fehde. Seit Monden schwört Adran Stein und Bein, dass er unschuldig ist, und jetzt kerkert er die Kleine doch ein? Toller Plan. "

"Da hinten im Wald beginnt irgendwo der Firunspfad", schlug Winelind vor. "Auf dem können wir sie weitläufig umgehen, die Markgräflichen wie die Ismenischen."

"Der Firunspfad?" Der Vollbart stemmte seine Hände in die Seite. "Da kommen wir irgendwo bei der Schwerterburg raus, frühestens."

"Wäre das so verkehrt?" fragte Winelind. "Dort wäre die Baroness sicher verwahrt, ohne dass es jeder mitbekommt. Mit ihr als Faustpfand kann unser Herr die Fehde für sich entscheiden.”

"Der Firunspfad verläuft doch überall und nirgends." Kordan hob wieder sein Messer. "Glaubt mir, mein Plan ist am vernünftigsten. Wir übergeben Tsalinde ihrem Vater, kassieren Alriks Finderlohn, tauschen die Burgstaller und die übrigen Gefangenen aus....und verschwinden auf schnellstem Weg ins sonnige Horasreich. Bevor der Winter kommt, vor dem es mir in diesem firunsverfluchten Land jetzt schon graust."

Timoin kauerte hinter seinem Farn und schüttelte den Kopf. Bei den Adranschen schien es mit der Kampfmoral nicht allzu weit her zu sein, trotz aller Gebete zu Rondra.

Ameisen krabbelten auf ihm herum, mit unangenehmen Kitzeln. Vorsichtig wischte er die Tierchen ab.

 

Wie sollte er nun vorgehen? Zwei Adransche würde er garantiert auf Anhieb erwischen, mit Pfeil und Bogen. Aber dann? Vermutlich wäre es am besten, er würde zu seinen Leuten zurück schleichen und Verstärkung holen. Drei gegen vier, das war machbar, wenn einer das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Irgendwie schienen sich die Glorianer nicht vorstellen zu können, dass ihnen die Friedwangen bereits dicht auf den Fersen waren.
Timoin wollte wegrobben, da knackte auch schon ein Tannenzapfen unter seinem Arm. Der Waldläufer verzog das Gesicht. Irgendwie nahm er diesen Kleinkrieg auch nicht ernst genug. So etwas konnte leicht tödlich enden.

Stille breitete sich aus, nur das Knistern des Lagerfeuers war zu hören.
Vorsichtig drehte sich Timoin zur Seite, bereit, den ersten Verfolger mit einem Pfeil zu empfangen.

"He, du da....komm raus!" Es war Kordan, der mit rauer Stimme den Befehl gesprochen hatte. "Rauskommen, sag ich !!!"

Der Jäger hätte ihm beim Aufspringen am liebsten sofort einen Pfeil verpasst, aber Tsalindes schwerer Seufzer hielt ihn davon ab – ein Laut, der mindestens ebenso empört wie schmerzerfüllt klang.

Timoin warf sich gegen seine Fichte und spähte vorsichtig um den Stamm.


Kordan stand am Lagerfeuer, hatte die Baroness am Haar gepackt und presste ihr die Spitze eines Dolchs an Kehle. Unter der Kettenhaube, in seinen weit geöffneten Augen, flackerte Angst, aber das machte es nicht besser. Der Kerl versuchte doch wirklich, sich hinter der Gefangenen zu decken?

"Loslassen!" schrie Timoin und spannte den Bogen ein wenig.

Die übrigen Glorianer schienen jetzt erst zu begreifen, was die Stunde geschlagen hatte.

Sie zogen ihre Klingen und verteilten sich.

"Wenn sich noch einer bewegt, verpasst ihnen einen Pfeil" kommandierte Timoin, ganz so, als säße eine Geisterarmee zwischen den Bäumen. Den Trick hatte er bei diesem Rottmeister Tanner gelernt. Ein, zwei Tage lang hatten ihn die Friedwangen für seine  Kriegslist gefeiert.

"Darauf falle ich nicht rein!" knurrte Kordan. "Den Bogen fallen lassen und rauskommen. Wirds bald? Ich zähle bis fünf."

"Wenn sie sich nicht ergeben, schießt sie über den Haufen!" befahl Timoin. Tatsächlich irrten die Augen der übrigen Glorianer nervös hin und her. "Ich zähle bis drei!"

"Eins!" schrie Kordan.

"Eins!" antwortete Timoin, ebenso lautstark.

"Zwei!" schallte es zurück.

"ZWEIIII!" brüllte der Jäger hitzköpfig.


Timoin trat aus seiner Deckung und spannte die Sehne von Bavhano Bvaith bis zum Ohr.

Mit voller Wucht wurde ihm etwas Schweres in den Rücken geschlagen. Ächzend ging er zu Boden.

Der Pfeil schwirrte ins Lagerfeuer und ließ einen Schwall Funken aufstäuben.

Es dauerte einen Herzschlag, bis Timoin merkte, dass er nicht tödlich getroffen war. Der Köcher schien einen Großteil des Hiebs aufgefangen zu haben. Firun sei Dank!

Mit der Hand am Hirschfänger wälzte er sich zur Seite. Keinen Augenblick zu früh. Ein Trollbart mit Bundhaube und Holzfällerweste hieb eine riesige Axt in den Waldboden. Timoin sprang auf, kassierte aber einen derben Hieb mit dem Axtstiel gegen die Schläfe. Der Waldläufer stolperte mit beiden Füßen gegen einen dicken Ast, was Glück und Unglück zugleich war. Glück, weil er soviel Schwung entwickelte, dass der nächste Streich des verrückten Holzknechts nur die Luft zerschnitt. Pech, weil Timoin mit dem Hinterkopf gegen eine Schieferplatte stürzte. Diesmal milderte die Kapuze die Attacke, aber der junge Binsböckel hatte dennoch genug.

Fast das Letzte, was er hörte, war der mächtige, durchdringende Laut eines Darpatbullenhorns, ganz in der Nähe. Es hörte sich so an, als käme ihnen gerade eine Heerschar Thorwaler zu Hilfe.

Dann erklang Wiehern und Pferdegetrappel, das von den Felswänden der "Windsbucht" widerhallte. Die rettende Reiterei?

Der Holzer fluchte irgend etwas Derbes auf Schwärz, was Timoin nicht verstand. Ein Schleudergeschoss fauchte am Axtschwinger vorbei und prallte gegen einen Stamm. Hastig trat Timoins Gegner den Rückzug an.

Schwärze.

"Herr Timoin, Herr Timoin ?!" Dicke, fleischige Hände wurden dem Bastard ins Gesicht gepatscht. Verschwommene Wipfel tauchten über seinen flatternden Augenlidern auf und rauschten noch heftiger als ohnehin schon.

Es war der wohlbeleibte Diebold, der Timoins Sinne ins Hier und Jetzt zurück zu holen versuchte, und ihm dazu brackiges, irgendwie übelriechendes Wasser auf den Kopf schüttete.

"Bah, in welcher Pfütze...ah...hast du denn deine Flasche aufgefüllt?"

Stöhnend ruckte Timoin hoch. Er fühlte sich an, als hätte er gerade eine Kneipenschlägerei hinter sich. Der Waidmann griff nach dem Köcher, den ein wilder Axthieb getroffen hatte. Bis auf vier Pfeile war sein Vorrat fein säuberlich durchgehackt. Das fünfte verbliebene Geschoss verbrannte gerade im Feuer.

"Na, im Wald da hinten."

"Damit holst du dir doch nur Würmer." Timoin tastete erst nach der blutenden Schläfenwunde und dann zur Beule am Hinterkopf. Am Rücken konnte er keinen klaffenden Spalt spüren, da hatte es der neunschwänzige Kor wohl bei einer üblen Prellung belassen. Er durfte sich glücklich schätzen, derart glimpflich davon gekommen zu sein.

"Den Göttern sei Dank, Ihr seid nicht schwer verwundet", freute sich Diebold. "Könnt Ihr stehen?"

Der Gardist wollte ihm mit der nassen Gänseschleife über die Stirn tupfen, aber der Knappe wehrte ab.

"Jaja...schütt das Wasser weg, ich bitte dich Diebold. Der See dort drüben, der ist einigermaßen sauber."

Es dauerte eine Weile, bis Timoin verstand, was geschehen war. Der Holzer war verschwunden, von den Glorianern fehlte ebenfalls jede Spur. Ebenso von deren Pferden. Und Tsalinde.

Der Firunsjünger hob den Elfenbogen auf, der zum Glück heil und unbeschädigt zu sein schien.

"Wo...wo ist Parik?"

"Fängt die Aarmaris wieder ein."

"W...was?"

"Sind durchgegangen, äh...als sie das Tuten gehört haben. Wollte verhindern, dass euch der feige Meuchler von hinten erschlägt. Hab ihn leider verfehlt." Der Gardist klopfte auf die Tasche mit der Schleuder und den Bleigeschossen.

Erfreut entdeckte der dicke Diebold den Wein, das Brot und den Steckerlfisch am Feuer.

"Die Zwölfe meinen es gut mit uns", jauchzte er.

Timoin wollte nach Atzel fragen, da kam das treue Barnfarni auch schon aus dem Waldesgrün gezockelt.

"In welche Richtung sind die Oppsteiner verschwunden?", fragte der Grüne Knappe, nachdem  er seine Stute an den Holm gebunden hatte. So langsam verstand er. Parik war bei den Pferden geblieben, Diebold hatte nachgesehen, wo sein Anführer blieb, und sofort zu seiner schärfsten Waffe gegriffen, dem Horn. So feige schien er gar nicht zu sein. Womöglich war er aber auch einfach nur dem Bratfischduft gefolgt.

"Ich...keine Ahnung, Herr. Wir sollten froh sein, dass sie weg sind. Oooh, die haben sogar Gewürze."

Halb dankbar, halb verächtlich blickte der schwankende Timoin auf den Vielfraß, der aussah, als wäre er allein für sämtlichen Hunger in der Wildermark verantwortlich. Ächzend torkelte er auf den See zu, wusch sich das Blut aus dem Gesicht. Kühlte seinen Brummschädel. Langsam ging es ihm wieder besser, was auch an der frischen Luft lag.

Es dauerte eine Weile, bis der Waldläufer das wirre Bild der Spuren durchschaut hatte. Der Holzfäller war in den Wald geflüchtet, die Glorianer auf schnellstem Weg zu ihren Gäulen. Kordan hatte die sich heftig wehrende Tsalinde mitgenommen, hoch zu Roß, den etwas tiefer eingegrabenen Hufen nach zu urteilen.
Zwischen den Bäumen hatte sich die kleine Schar erst einmal gesammelt – und einen Münzwurf entscheiden lassen?!


Tatsächlich, auf einem Baumstumpf lag ein abgegriffener, leicht rostiger Eisenkreuzer. Rohalsstab und Szepter, die gekreuzten Namensgeber, lagen unten, ein Fuchskopf zeigte nach oben. Das garetische Wappentier. Fuchs bedeutete offenbar Firunspfad, denn die Spuren wiesen grob nach Norden. Fast schon bewunderte Timoin die Zwanglosigkeit der Glorianer, die ein Stück Metall über ihre Treue zu Adran entscheiden ließen. Das Rohalskreuz hätte dann wohl das Liebliche Feld bedeutet?

Er verstaute das Glückskreuzerchen an seinem eigenen Gürtel und setzte sich in den Faltstuhl, in dem vor kurzem die Baroness hatte Platz nehmen dürfen. Dankbar nickte er Diebold zu, der ihm den erbeuteten Weinschlauch und einen Becher reichte. Vielleicht hatte der feiste Gardist gar nicht mal so unrecht. Erstmal wieder Kräfte sammeln...Weit würden Tsalindes Entführer heute ohnehin nicht mehr kommen.

Selbst alteingesessene Sichelhager glaubten, dass der Firunspfad ein fest ausgetretener Menschenweg war, den man einfach nur zu finden und zu folgen brauchte. Wenn der Bogen des Weißen Jägers nicht gleich mit dem Karrenweg von Gallys zur Burg Madaleth verwechselt wurde. Streng genommen meinten die Firunspfade nur ein Gewirr von Wildwechseln, an denen die Tiere vom Sommer- zum Wintereinstand, von Tränken und Äsungsflächen zu Schlaf-, Suhl- oder Brunftplätzen folgten. Es gab ausgedehnte Fernwechsel von Nord nach Süd, auf denen Rotwild viele Meilen zurücklegte, entlang des Gebirgskamms.


Dem Pilger stand es frei, in diesem Netzwerk seinen eigenen Weg zu finden - solange er nur seine zehn Zeichen erhielt, an den heiligen Orten der Zweibeiner. Dass in Nordenheim ein Odilonsapfel in den Bogen gebrannt wurde, erfüllte dessen Schüler mit unbändigem Stolz. Natürlich trug Bavhano Bvaith sämtliche Brandmarken, dank seines Vorbesitzers. Versonnen strich Timoin über das edle Holz.

Notdürftig band Timoin den lädierten Köcher zu einem Bündel zusammen, mit Hilfe einer Spannschnur. Die Schnur diente eigentlich dazu, die Wurfarme des Bogens gleichmäßig zu belasten, statt sie zu verdrehen - beim Auf- oder Abziehen der Sehne, während man mit den Füßen auf ihr stand. Eine sinnvolle Erfindung.

Der Verlust von über einem Dutzend guter Pfeile war ärgerlich, aber deren Spitzen und Befiederungen würde er noch gebrauchen können. Nun nutzte der Binsböckel den ledernen "Schuh" der Spannschnur, der unten am Bogen aufgesteckt wurde, und den beweglichen "Gleiter" an deren anderen Ende, um den Knoten am Köcher festzuzurren. Dann lehnte er sich erst einmal zurück.

Es dauerte noch eine Weile, bis der dritte Mann zurückgekehrt war, die störrischen Aarmaris am Zügel.

Timoin stand auf. "Diebold, du reitest unverzüglich nach Bethel und gibst Alrik Bescheid", kommandierte der Binsböckel knapp. "Parik, wir beide verfolgen die Glorianer. Wahrscheinlich wollen sie Baroness Tsalinde zur Schwerterburg bringen. Sieh nach, ob du in der Hütte etwas brauchbares findest, Proviant für die Wildnis, Decken, sowas in der Art..."

Parik sah nicht gerade begeistert drein, salutierte aber knapp.

"Diebold...gut gemacht mit dem Horn." Timoin nickte anerkennend in Richtung des Dicken, der ihn freudestrahlend anblickte, als hätte er gerade den Greifenstern erhalten. Vor allem schien der verhinderte Koch froh zu sein, wieder aus dem Windsbuchter Wald herauszukommen.



Wüstung Windsbucht, Praiostag, 19. Rahja 1045

 

"Ich frag dich zum letzten Mal, verdammter Abschaum. Wo ist meine Tochter?"

Grob drückte Alrik von Friedwang den Holzer auf den Hackklotz und gab ein Zeichen. Der Steinbockgardist hob die schwere Axt.

"Glaubst du, wir fangen mit dem Kopf an? Neiiin. Erst der kleine Finger, dann die ganze Hand.

Der Baron packte die rechte Hand seines Opfers und drückte sie neben das Gesicht. "Spuck aus, wo Tsalinde ist, oder du kannst deine Bäume künftig durchnagen wie ein Biber!"

Der Holzfäller war ein kräftiges Mannsbild, aber er wimmerte und schluchzte, als wäre er ein kleines Kind. Rotz, vermischt mit Blut, quoll aus seiner Nase, Sabber tropfte aus dem Mund. Der Steinböckler fing bereits an, sich den Kleinfinger zurechtzulegen.

"Gna....Gnade, Herr! Ich weiß nix, Herr, von Eurer Tochter, Herr...nur von einer Pilgerspionin im grünen G´wand, der hochedle Herr. Erbarmen, im Namen der allerheiligsten Zwölffaltigkeit Alverans!" Zumindest übersetzte Alrik die brabbelige Schwarzsychler Mundart so.

Mit der freien Hand nestelte der Bursche ein Artemabildchen hoch, dass er unter der Weste getragen hatte. Die Schutzheilige vor den Gefahren der Wildnis ähnelte sogar ein wenig Tsalinde – was Wunder, sollte die Gründerin von Gallys doch deren Vorfahrin sein.

Pilgerspionin im grünen Gewand? Alrik verstand. Der Mondschatten hatte einige Unruhestifter nach Oppstein geschickt, meist als Traviagläubige verkleidet. Aber ein paar Perainejünger "auf dem Weg nach Prähnskaten" waren auch dabei gewesen. Der Heilige Hain der Milden Göttin sollte Äpfel sprießen lassen, die heilkräftig waren. Nicht, dass die armseligen Nester Unter- und Oberprähnskaten deswegen zum überlokalen Wallfahrtsort aufgestiegen wären...ein bisschen Werbung war bei den falschen Pilgern auch dabei gewesen.

Alrik Tsalind hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn im Moment mehr beeindruckte: Das einfältige Bildchen der Heiligen Artema, die als Lichtgestalt in einem verschneiten Winterwald stand – und einen stürzenden Baumstamm in die richtige Richtung lenkte, mit einer segnenden Hand. Oder die Erkenntnis, dass womöglich er selbst, Alrik, ihr Vater, es gewesen war, der seine verlorene Tochter in höchste Gefahr gebracht hatte. Von wegen Spionin im Pilgergewand.

Der Büttel neben ihm begann den Finger schon wenig zu ritzen, durchaus mit einer gewissen Wolllust. Sein Gefangener quiekte und strampelte wie ein Schwein unter dem Messer eines ungeschickten Schlachters.

 

"Lass gut sein, Travius" sagte Alrik und tätschelte dem gealterten Waffenknecht auf die Schulter. "Ich denke, er hat seine Lektion gelernt. Aber wenn er noch einmal die Erbin von Friedwang anrührt, nagele ich ihn persönlich an seine Hütte."

Travius stieß den Mann mit verächtlichen Schnauben in den Schmutz. Der Baron sah sich um, mehr, um sich abzuregen. Ein halbes Dutzend Friedwanger war damit beschäftigt, die Feste Stube der Holzknechte zu durchsuchen. Ebenso, den Gefährten des "Hackklotzlauschers" im See zu versenken, festgebunden auf einem schweren Sommerschlitten. Die Luftblasen, die im brackigen Wasser blubberten, wurden bereits schwächer und schwächer.

Der Freiherr von Friedwang gab ein Zeichen. Zwei Büttel schleiften den keuchenden, prustenden Delinquenten wieder zurück ans Ufer und ließen ihn sich erstmal die nassen Lungen aushusten.

Diebold, der Botenreiter, stand verloren inmitten der Schreckensszenerie, erschrocken ob der unverhohlenen Brutalität seiner Gefährten.

"Na, spielst du wieder Rohaja von Gareth?" fragte Hesindian, sein weißhaariger Magierfreund, der gerade den Trampelpfad vom versunkenen Tempel entlang wanderte.

Alrik verstand die Anspielung. Er ging ans Lagerfeuer, das wieder lichterloh brannte, zog zwei Zinnbecherchen aus seiner Tasche. Dann genehmigte er sich einen Schluck aus dem zweiten Weinschlauch, den sie, immerhin, in der Winterhütte der Holzfäller gefunden hatten. Der Rote schmeckte liebfeldisch, in jedem Fall war es ein gutes Tröpfchen.

Er bot dem Graumagier einen Becher an, der auf der Sitzbank Platz nahm, seinen Stab beiseite stellte und zögerte.

"Unsere geliebte Kaiserin lässt Adelige aufknüpfen", sagte Alrik. "Was ist dann schlecht daran, verbrecherisches Bauernpack zu köpfen?"

"Ein Ritterschlag ist sowas auch nicht gerade" antwortete der Edle von Orweiler leichthin und stieß nun doch mit dem Wein an. "Alrik, schau sie doch an. Die Burschen sind bettelarm...wahrscheinlich haben die Holzer sich irgendeine tolle Belohnung von ihrem Herrn Baron versprochen. Wenn sie Tsalinde gefangen halten..."

Alriks Blick wanderte zur eingerollten Rinde, die neben der Blockhütte lag. An der Wand lehnten zwei Schäleisen. Häuten, das wäre natürlich auch eine schöne Foltermethode gewesen. Leider war sein erster Zorn schon verraucht. Die hellsten Kerzen im Praiostempel schienen die Gefangenen wirklich nicht zu sein. Hatten einfach ihre Waldarbeit fortgesetzt – das Schinden von Bäumen – als ginge sie die Fehde nicht wirklich etwas an. Als wäre Timoin irgendein Bär oder Wolf gewesen, der plötzlich aus dem Unterholz gebrochen war und abgewehrt hatte werden müssen.

Viel herausgefunden hatten die Friedwangen bislang nicht. Franka, ihre fähigste Spurenleserin, war hinauf in den Hangwald geritten, aber noch nicht wieder zurückgekehrt.

Alrik mochte sich nicht wirklich vorstellen, dass die Glorianer bis zur Schwerterburg reiten würden. Der Bergwald war kein yaquirisch anmutender Schlosspark, auch jetzt im Sommer nicht. Die Nächte waren kalt, im Gebirge. Es gab ein paar Rindenkobel dort oben, Nurdach-Hütten, die mit der Rinde gedeckt wurden, die von den beiden Einfallspinseln gesammelt worden war. Das hatten sie in Erfahrung gebracht. Einen Moment lang starrte der Baron einfach nur in die Flammen. Seine Tochter war aus dem Land Jenseits zurückgekehrt und befand sich gleich wieder in Gefahr...in einer höchst derischen Notlage. Wütend ballte er die Faust. Erneut fühlte der Herr von Friedwang sich vollkommen hilflos.

Das Meilersgrunder Urteil drängte sich Alrik in den Sinn. In Rommilys war viel über das Großfürstliche Fuchsrudel gesprochen worden, und dessen Ende im Tal der Kaiser, im letzten Efferd. Hesindian hatte mehr Einzelheiten mitbekommen, bei seinem Besuch in der alten Heimat Almada. Fehden gab es reichlich, vor allem drüben im Garetischen, aber der Untergang Sigman von Gareth-Firdayons war ungewohnt blutig gewesen. Hatte sich mal eben zum Großfürsten von Garetien ausgerufen, der Narr. Zu zwölf Jahren Verbannung war der junge Spross der Kaiserfamilie verurteilt worden. Rohaja hatte das Urteil verschärft, zum Tod durch Enthaupten. Erst vor wenigen Wochen war das Richtschwert auf den Nacken des dummen, halbstarken Jungen herabgesaust. Einige Füchse sollten schmählich aufgehängt worden sein, darunter halbe Kinder. Aber auch Aristokraten hatten baumeln müssen, wie zu Zeiten des Thronräubers Answin.

Alrik griff sich versonnen an den Hals. Serwa hatte zu Beginn ihrer Herrschaft mal zwei Edelleute aufgehängt, aber gut, das waren borbaradianische Verräter gewesen. Mit seinem Bruder Bishdarielon, dem ehemaligen Knappen des Grafen Answin, brauchte er über solche Dinge gar nicht erst zu reden. Dessen Urteil über die vermeintlich törichte, unbesonnene "Rohela von Gareth" stand ohnehin fest.

 

"Bindet den anderen los!" befahl Alrik über die Schulter. "Gebt ihnen was von ihrem Mus, oder wie immer der Fraß heißt." Tatsächlich waren die Holzer gerade damit beschäftigt gewesen, sich irgendein ekliges Gemisch aus Wasser, Mehl und Schmalz in die Pfanne zu hauen. Als das barönliche Strafgericht über sie hereingebrochen war...

Das Ende des selbsternannten Großfürsten Sigman. Alrik hatte überlegt, ob sich die trübe Geschichte irgendwie für die Fehde gegen Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen nutzen lassen würde. Neureichisch-horasische Mischehen hatten momentan einen schweren Stand, Sigman war gleichermaßen Nachkomme des Vinsalter wie Garether Kaiserhauses gewesen. Da musste so ein Jungspund ja überschnappen, ähnlich wie der Adoptiv-Berlînghan in seinem Schloss.

Aber an Ränken innerhalb der kaiserlichen Familie verbrannte sich einer schnell die Finger. Die Ismenischen durften froh sein, wenn nicht von der anderen Seite her eine Verbindung hergestellt werden würde. Gisla, Glyranas Knappin, entstammte den Häusern Rathsamshausen und Zweifelfels, Namen, die auch auf Seite der Rebellen aufgetaucht waren. Der Sichlerbund hatte sich ebenfalls die Wiederbelebung der alten ritterlichen Ideale von Jagd und Turnier verschrieben. Alrik war wiederum als "Fuchs von Friedwang" bekannt. Wenn auch nicht als Großfuchs. Aber wer wusste schon, was sich ein kaiserlicher Federfuchser aus derartigen Kleinigkeiten zusammenreimen würde...

 

Alrik drehte sein Becherchen ein wenig hin und her. Lauschte dem Rauschen der Tannen. Blickte hinaus auf den See, dessen Wasserkringel sich langsam wieder beruhigten.

"Und, was hast du herausgefunden, während wir mit den armen, notleidenden Bauernburschen da hinten geplaudert haben?

"Mein Heim ist meine Burg", murmelte Hesindian. "Altes darpatisches Sprichwort. Sie haben nur ihre Hütte verteidigt...die Hütte und ihren Besitz."

"Den Besitz ihres Holzmeisters, meinst du wohl? Schon gut. Ich verteidige nur meine Familie. Also, was ist mit Markt Windsbucht passiert? Vor allem – was ist mit meiner Tochter passiert?"

Hesindian legte ein wenig Holz ins Feuer. "Tsalinde hat eine schöne Spur hinterlassen. Was ihre arkane Residualstrahlung betrifft. Will sagen...ihr Schuhwerk scheint neuerdings magisch zu sein."

"Aha. Trägt sie jetzt Siebenmeilenstiefel oder was?"

"Nun, die Matrix erinnert tatsächlich an Magica Movimenta. Bewegungsmagie...aber die Spuren sind bereits am Verblassen. Dazu gesellen sich arkan aufgeladene Anhaftungen. Erde, die sie vermutlich"- Hesindian senkte seine Stimme verschwörerisch- "aus der Anderwelt mitgebracht hat. Es ist ziemlich eindeutig. Sie kam aus einem Loch im Rondratempel und ist fast schnurstracks auf die Blockhütte zugelaufen. In besagter Öffnung gab es vor kurzem eine größere Exposition von Astralenergie. Ich bin ein Stückchen reingekrochen." Tatsächlich war das Reisegewand des Magus ziemlich dreckig, wie Alrik bemerkte.

"Dort scheint mal eine Treppe gewesen zu sein, die jetzt schief und einsturzgefährdet ist. Ich hab mit dem Flim Flam reingeleuchtet...offenbar befindet sich darunter eine größere Erdhöhle, mit Resten von Säulen und Inschriften. Außerdem jede Menge Wurzeln, die aussehen wie ein Tor."

"Ein Tor in die Feenwelt?"

"Gut möglich. Da kam so eine bläuliche Lichtkugel auf mich zu, wahrscheinlich angelockt vom Flim Flam. Eigentlich sollen sich Pforten ja bevorzugt in den Namenlosen Tagen öffnen...da ist es noch ein bisschen hin.”
"Moment...im Tempel schwirrt gerade eine Lichtkugel herum?"

"Sie kam aus dem Wurzeltor, denke ich. Da war überall so ein komisches Pilzgeflecht, in dem Blitze gezuckt haben."



"Blitze?" Alrik hatte gerade selbst Zweifel, ob er so viel schlauer wirkte als die beiden Holzknechte.

"Ja, es kommt noch besser. Einen Moment lang...nun, ich habe Tsalindes Gesicht in der Kugel gesehen, wenn auch nur schemenhaft. Ich hatte das Gefühl...als würde die Kugel deine Tochter vermissen."

"Da haben wir etwas gemeinsam, ich und die Lichtkugel", sagte Alrik ernst. "Versuch mal, mehr herauszufinden...vielleicht kann man sich mit ihnen irgendwie verständigen?"

"Mit ihnen?" Nun klang Hesindian verständnislos.

"Naja, mit der Feenwelt. Immerhin wurden uns von dort schon zweimal Botschaften gesandt. Wir haben doch darüber gesprochen. Vielleicht ist sowas auch in die andere Richtung möglich. Mit Blinkzeichen oder etwas in der Art."

"Gewagte These, Eure Spektabilität", scherzte der Edle von Orweiler. "Leider ist die Kugel wieder im Tor verschwunden. Als von oben immer mehr Erde herunter gerieselt ist. Wie gesagt, besonders vertrauenserweckend wirkt die Höhle nicht."

Alrik zwirbelte sich nervös den Schnurrbart. "Was...beim Heiligen Assaf...schafft es, einen Tempel untergehen zu lassen wie eine Schivone, mitten auf dem Land? Einen Tempel und ein ganzes Dorf?"

"Wühlschrate? Sokramors Erwachen? Namenloses Wirken?" Hesindian zuckte mit den Schultern.

"Mittlerweile fallen ja sogar die Sterne vom Himmel. Das Magnum Opus des Weltenbrands käme in Frage, oder Amrifas der Erderschütterer vielleicht...aber Burg Boronia wurde erst bei der Rückeroberung restlos zerstört. Womöglich war es auch die Nähe zur Feenwelt, die sich beim Untergang von Windsbucht ausgewirkt hat....ich müsste genauere Untersuchungen..."

Hufgetrappel lenkte sie beide ab.

Franka kehrte mit ihrem Pony zurück, im schnellen Tölt.

"Eine Unterhändlerin naht!" rief sie aufgeregt.



Alrik packte seinen Rapier fester, stand auf, trank einen Schluck Rotwein, schloss genussvoll die Augen und schluckte. "Der Mittelteil hat eine milde Tannennote, aber im Abgang ist er doch ein klein wenig holzig." Beiläufig schüttete er den Rest ins Feuer.

Der Freiherr ging zu seinem Streitross und schwang sich in den Sattel.

"Soll ich dich begleiten?" fragte Hesindian, der den Wein noch immer in Händen hielt, dem Baron aber gefolgt war.



"Behalte du hier den Überblick. Pass vor allem auf, dass die Holzknechte nicht türmen."

Der Fuchs von Friedwang ritt Franka entgegen. Tatsächlich, aus dem Wald trabte ein weiteres Aarmari, mit einer Oppsteinerin im Sattel, von der Alrik nicht wusste, dass sie Winelind hielt. An einem schlichten Stecken hatte sie irgendeinen weißen Fetzen gebunden, der als Marbofahne dienen sollte.

"Behalt sie mit der Armbrust im Auge!" raunte Alrik im Vorbeireiten.

Der Baron versicherte sich, dass seine eigene Faustarmbrust in der Satteltasche steckte, und gab Flocke noch einmal Fersendruck.

Winelind merkte, dass sie es mit dem Herrn von Friedwang zu tun hatte, einem der Anführer ihrer Feinde, zügelte das Pony und schluckte. Sie hob die freie Hand.

"Will sie sich ergeben?" Alrik lehnte sich im Sattel zurück und beobachtete die Umgebung. Es schien alles ruhig zu sein.

"Nein, Herr, ich komme mit einem Angebot!" sagte Winelind und schwenkte die Fahne. Erst jetzt sah Alrik, dass die Waffenmagd einen Bogen über die Schulter gelegt hatte. Einen Elfenbogen. Hätte der Baron noch einen letzten Zweifel gehegt, es mit Timoins Waffe zu tun zu haben, die gut sichtbaren Firunszeichen hätten ihn ausgeräumt.

Nun war es an Alrik, zu schlucken.

Winelind wurde selbstsicherer. "Ganz schön arrogant, Euer Kundschafter! Zwei gegen vier, und nur noch eine Handvoll Pfeile im Köcher. Dazu die Prellung am Rücken. Sehr unangenehm, wenn man da einen Bogen spannen will....und sonst keine andere Waffe hat."

Alrik schwieg und machte eine auffordernde Handbewegung.

"Wir haben jetzt drei Gefangene!" sagte Winelind. "Eure Tochter Tsalinde, diesen verrückten Timoin...und wie hieß der Büttel noch gleich?"

"Parik?"

"Parik. Ihr müsst verzeihen. Im ersten Moment dachten wir, die halbe Ismenische Reiterei wäre hinter uns her...deswegen der schnelle Rückzug. Das hat eure Kundschafter wohl zu falschen Schlussfolgerungen verleitet. Allerdings hätten wir nicht gedacht, dass sich die beiden so billig verkaufen. Dieser zarte Jüngling hat erst geschrien und ist dann einfach aus dem Sattel gekippt. Eine Folge der Gehirnerschütterung, vermutlich. Der andere hat fast sofort die Hände gehoben."

"Billig verkaufen..." Der Baron schlang den Zügel um seine Hände. "War das jetzt das Stichwort, um zum Geschäftlichen zu kommen?"

"Wir wissen, dass Ihr zwei der Unsrigen als Gefangene haltet. Zwei Glorianer. Lefke und Erlan. Die wollen wir gegen Parik und diesen hitzköpfigen Jäger tauschen. Eure Tochter ist natürlich ein wenig teurer. 250 Dukaten obendrauf, und wir sind uns handelseinig."

Der Baron rührte keine Miene. Immerhin, die Oppsteiner schienen nicht gemerkt zu haben, dass sie einen echten Binsböckel gefangen hielten. Nun ja, einen fast echten.

"Laut Adran ist meine Tochter nur 250 Goldstücke wert? Das ist arrogant, finde ich. Keine Aufforderung, mich aus Oppstein zurückzuziehen? Oder ihm sämtliche Anteile an der Gießenborner Miene zu übereignen? Wie ist Tsalinde überhaupt in die zarten, weichen Elfenhände eures Barons gefallen?"

Winelind atmete tief durch, mit leichter Röte im Gesicht. "Ihr missversteht mich. Adran hat damit nichts zu tun. Wir haben uns gestern noch lange unterhalten. Für ein wenig Startkapital in eine bessere Zukunft würden wir Eure Tochter freilassen. Außerdem würden wir euch anbieten, die Baronie unverzüglich zu verlassen, um uns, äh, dem Liebfelder Zweig des Hauses Oppstein anzuschließen. Natürlich können wir da nur für uns sprechen, nicht für Lefke und Erlan. Aber viel mehr Glorianer gibt es ohnehin nicht mehr, fürchte ich."

"250 Goldstücke? Da muss ich erstmal mit meiner Kämmerin reden. 150 Dukaten hätte sie eher parat, denke ich."

"Wir sind ja kein Raubgesindel. Mit 220 Goldmünzen könnten wir auch leben. Müssen ja auch irgendwie transportiert werden."

"Überspann den Bogen nicht!" Alrik zielte mit dem Zeigefinger auf seine Gegenüber, als wäre der eine Handarmbrust.

"Z..Zweihundert?"

"Der Bogen, um deine Schulter. Du solltest ihn mal abspannen. Er hat schon einen Riss, zwischen Wolfskopf und Firunskristall."

Verwirrt nahm Winelind die Schusswaffe herunter.

"Ja, da, siehst du?" Alrik packte Timoins Bogen und deutete auf die eingebrannten Zeichen – wo in Wirklichkeit nichts Auffälliges wahrzunehmen war. Dann lehnte er sich zurück. Bavhano Bvaith hatte er schon einmal zurückerobert.

"180 Dukaten, mein letztes Wort. "

"A...also gut, Euer Hochgeboren. Wir werden die Übergabe hier stattfinden lassen. In drei Tagen, am 22. Rahja?"

"Ich habe am 22. noch nichts anderes vor."

"Gut. Übergabe an der Hütte, zur Mittagsstunde. Keine faulen Tricks, Euer Hochgeboren." Winelind versuchte, hart und verrucht zu klingen, wie eine abgebrühte Söldnerin. Dann wendete sie ihr Aarmari und ritt wieder in den Wald.

"Natürlich nicht", rief ihr der Mondschatten hinterher. Alrik überlegte, wie viel Falschgeld er noch auf Burg Friedstein gelagert hatte – und ob er die Münzen in drei Tagen würde heranschaffen können.

 

Auch Alrik kehrte zu seinen Leuten zurück. Diebold hielt das Streitross seines Herren am Halfter, während dieser abstieg. Erschrocken sah der Steinböckler auf den markanten Elfenbogen. "Ist Herrn Timoin etwas zugestoßen?"

"Nennen wir es Kriegerpech", sagte Alrik, und zog seinen Schnupftabak hervor. Er bot die Flasche dem dicken Waffenknecht an, aber der lehnte dankend ab.

"Keine Sorge, er lebt noch. Scheint einen Schwächeanfall erlitten zu haben, beim Bogenspannen. Wurde gefangen genommen, genauso wie Parik. Diebold, merk dir eines. Wenn du glaubst, dass dein Herr nicht mehr Herr...also, ich meine...nicht mehr so ganz Herr seiner Sinne ist. Dann bist du ihm nicht zum Gehorsam verpflichtet".

Wenns denn nur so einfach wäre, schien Diebolds Blick sagen zu wollen. Murmelnd ruckte er sein Hifthorn zurecht.

Alrik tippte dagegen: "Hast du eigentlich einen Namen für das kleine Branibeth da?"

Diebold sah nicht so aus, als kenne er das legendäre Jagdhorn Rauls des Großen, das in der Schlacht im Tal der Kaiser geblasen worden war. Er schüttelte den großen Kopf mit dem Mehrfachkinn.

"Dann nennen wir es einfach Branibetchen", lächelte der Baron. Bei allem Geiz war er froh, seine Tochter bald wieder in die Arme schließen zu können, trotz des verlangten Lösegelds.




Holzklause über dem Nebelwasser, Wassertag, 22. Rahja, kurz nach der Praiosstunde

 

Alriks Hände krallten sich in das Holzgeländer. Dann wanderten sie zur Schaube. Nervös rieb er sich den Schweiß von den Handflächen ab, und widerstand der Versuchung sich, zum ersten Mal seit langem, eine Pfeife anzuzünden.

 

Die Glorianer waren geschickte Entführer. Sie hatten den Ort der Übergabe im letzten Moment geändert, von der Holzfällerhütte hinauf zu der kleinen Holzklause hoch oben am Berg: eine aus Baumstämmen gezimmerte Stauwehr, hinter der ein kleiner See angeschwollen war. Die wenige Götterläufe alte Klause sollte wohl der Ersatz für die beim Erdbeben zerstörte Holzriese sein und diente der Holztrift in Richtung Nebelwasser. Kein Wunder, dass der See derzeit geschrumpft war. Öffnete man das Tor, wurden die Baumstämme den Berg nach unten geschwemmt, eine gefährliche Arbeit.  

 

Wie eine schmale Brücke führte die Klause über den Wildbach, der eine schnelle Verfolgung oder gar Umzingelung der Oppsteiner verhindern würde, ebenso wie der Stausee. Auf der anderen Seite führte der Weg bereits in Richtung des "neutralen" Echsmoos. Die Aussicht von hier oben war gut, man sah sogar, was unten am Nebelwasser und der Holzerhütte geschah.  

Als Vater war Alrik halbwahnsinnig vor Sorge, als Baron von Friedwang und Mondschatten durfte er zufrieden sein.  

Die Menschen mochten keine komplizierten Geschichten. Man musste schon ein Graumagier wie Hesindian sein, um die nebligen Zwischentöne zwischen "Schwarz" und "Weiß", "Gut" und "Böse" schätzen zu können. Oder ein Phexgeweihter, so wie Alrik, der Streunerbaron. Für alle Welt würde es so aussehen, als ob die Adranschen Tsalinde verschleppt und gefangengehalten hätten. 

Offenbar waren die desertierten Glorianer selbst entsetzt gewesen, ob der ruhmlosen Tat ihres Barons, und hatten sich zum Austausch entschlossen. Bis die Fehde siegreich beendet war, bis dahin würde die Geschichte tragen, davon war der Friedwanger überzeugt. Stellte sich die Frage - wie mit dem Umstand umgehen, dass die Baroness nicht wirklich in Adrans Kerker geschmachtet hatte? Der Hohe Hexenkommissar der Praioskirche würde Tsalinde früher oder später mit Fragen löchern. Fragen, denen sein Töchterlein gewiss nicht gewachsen sein würde. 

Aber immer hübsch ein Schritt nach dem anderen. Noch war der Austausch nicht gelungen. 

Kein Magier, nur der Truhenträger, zwei weitere Wachen und die beiden Traviadienerinnen, das war die Bedingung der Glorianer gewesen. Alrik durfte natürlich auch dabei sein, sowie Weibelin Lefke Burgstaller und der Glorianer namens Erlan. Eigentlich hatte der Freiherr keinen Grund, sich zu beklagen. 180 Dukaten, dafür bekam man ein gutes Pferd, aber für die Baronieerbin von Friedwang war es eine sehr bescheidene Summe. Hoffentlich würde Tsali nie feststellen, dass die Plattenrüstung, die ihr Halbbruder Alboran geschenkt bekommen hatte, anlässlich seines Hochzeitsturniers, teurer gewesen war. 

Wie Nebel stäubte das Wasser aus dem engen, kaum geöffneten Durchlass der Klause. 

Noch trieben wenige Baumstämme im Oberwasser, an einer ruhigen Stelle des Stausees. Priorin Herdegard und Novizin Irmlind standen am Felsenufer und beteten. Travius hatte die kleine Schatzkiste abgestellt, in Richtung Brücke gedreht und geöffnet, um zu zeigen, dass sie neun prall gefüllte Säckchen und nicht etwa Steine enthielten. Fehlten eigentlich nur noch die Handelspartner. Aber die sondierten wohl erst einmal die Lage, aus dem nebligen Bergwald heraus. 

Versonnen sah der Baron den Bach hinunter, der über mehrere Kaskaden hinweg, durch eine enge Klamm zum See floss. Wenn am oder im See wirklich einmal ein Druide gelebt hatte, so war ihm mittlerweile längst das Wasser abgegraben worden. Die Silberminen und die Dörfer brauchten Holz dringender als die Weisheit des Waldes.  

Der Ausblick Richtung Windsbucht wäre dennoch malerisch gewesen, wenn die Lage entspannter gewesen wäre. Alrik hatte sich auf schnellstem Weg nach Gießenborn begeben, mit kleinem Geleit, um sich dort von Mena 180 Dukaten zu pumpen (eine richtige Kriegskasse hatte er in Drachweiler nicht dabei). 

Zuletzt hatte die Zeit sogar gereicht, um Herdegard nebst Novizin mitzunehmen, auf Mauleseln. Offiziell würden sie den Friedensschluss zwischen ihm und den Glorianern - sowie Alriks friedliche Absichten - bezeugen. Inoffiziell würden sie dafür sorgen, dass sich Adrans Schandtat so schnell wie möglich herumsprechen würde. Gegen die Wahrheit, die ganze Wahrheit, half nur ein rechtzeitig ausgestreutes Gerücht: ein zähes Unkraut, pardon, Wildkraut, das weitaus schneller wuchs und gedieh als das zarte Pflänzlein namens Ehrlichkeit.   

Viel verpasst hatte Baron Alrik in Drachweiler nicht. 

Das Lager war mittlerweile in den Norden des Dorfes verlagert worden, näher auf Markt Oppstein hin. Gestern hatte es geregnet, die Kampfeslust war auf beiden Seiten gering und das Wetter eher frisch und kühl. In den Bergen auf Gießenborn zu hatte es ein paar Geplänkel mit herumstreunenden Rotpelzen gegeben. Die Verhandlungen plätscherten ein wenig formal und lustlos dahin - mehr, um den eigenen Friedenswillen zu unterstreichen, in Gegenwart von Swantjes Gesandtschaft, nicht, um all die guten Absichten wirklich umzusetzen.

 

Momentan war es Armarsland, der Herold des Sichelbundes, der zwischen den verfeindeten Lagern hin und herritt. Adran hatte eine Vermittlung der übrigen Bundesmitglieder gefordert, aber die alten Artikel galten nicht mehr, in der neuen "Turniergesellschaft". Die Einberufung des Familienrats der Oppsteins scheiterte schlicht daran, dass es ihn streng genommen gar nicht gab. Seit neuestem war Adran immerhin bereit, Ismena als Junkerin von Drachweiler anzuerkennen - unter der Bedingung, dass sich ihre Streitmacht auf schnellstem Wege zurückziehen würde. Sie selbst könne mit ein paar Bewaffneten gerne in Oppstein bleiben...wie überaus großzügig.  

Herdegard hatte gemerkt, dass sie als Unterhändlerin keinesfalls im Auftrag der Friedensstadt gehandelt hatte, und war ein wenig eingeschnappt - eine Erinnerung an die alten Flügelkämpfe zwischen den idealistischen Badilakanern und der machtbewussten "Staatskirche", in der einstigen Traviamark? Nun, Alrik würde den Gefangenenaustausch als Herdegards Werk darstellen und sie den Frieden mit den"reumütigen" Glorianern bezeugen lassen. Der Propagandacoup namens "Tsalindes Befreiung" war in jedem Fall eine Kiste voller Dukaten wert.  

Der Geweihten fröstelte, die "Windsbucht" am äußersten Rand des Oppsteiner Tals trug ihren Namen zu Recht. 

"Was ich nicht verstehe," hob die Priorin an. "Wenn Adran Eure Tochter ermorden lassen wollte, oben auf dem Pass...warum hält er sie dann monatelang gefangen, mitten im Wald? Travia sei Dank ist Ihre Wohlgeboren noch am Leben, aber irgendwie ergibt das doch keinen Sinn..."  

"Wer kann schon in die verwirrte Seele eines Mannes blicken, der sich eine Zeitlang als Sohn des leibhaftigen Levthan hat huldigen lassen?" Alrik seufzte theatralisch. "Allerdings wissen wir nicht, ob die Baroness wirklich ermordet oder nicht von vorneherein entführt werden sollte. Laut einer alten Volkssage...nun, zur Zeit der Wintersonnenwende werden unartige Kinder von den Bergfaunen mitgenommen, gefangen gehalten und bestraft. Bergfaune, Krampusse, Perchten...das meint nichts anderes als die gehörnten Diener des Levthan. Was für unsereins wie Ammenmärchen klingt...nun, für Sokramorier ist das fester Bestandteil ihres Irrglaubens. Es gibt ja das lächerliche Gerücht, wonach es sich bei meiner Tochter um das sogenannte Kultkind handelt...das bei der levthanischen Schändung meiner Gemahlin entstanden sein soll, auf einem Hexenfest." Nun schluchzte der Baron von Friedwang matt. "Verzeiht...auch nach zwanzig Jahren kann ich noch immer nicht offen darüber sprechen."  

Sowohl die Geweihte als auch die Novizin schlugen erschüttert das Gänsezeichen, im vollkommenem Gleichklang der Bewegungen. 

"Nun, Tsalinde wurde einige Monde vor dem Hexensabbat geboren. Aber Logik und Verstand sind nicht gerade die Stärken dieser wahnhaften Gestalten. Diebold meinte, dass meine Tochter ein merkwürdiges Gewand getragen hat. Ich befürchte, dass sie behext und beschwatzt wurde...womöglich hat man ihr sogar Rauschkraut verabreicht, um ihre Sinne zu verwirren...der Brief, den sie uns zugespielt hat, deutet leider darauf hin. Sie sollte wohl zum sokramorischen Götzenkult bekehrt werden. Ich kann nur hoffen, dass sie traviagefällig widerstanden hat." 

Die kleine Irmlind bekam bereits große Augen. 

Alrik lehnte sich erneut gegen das Geländer. "Dennoch, ich rechne damit, dass meine Tochter schwer verstört sein wird, wenn ich sie wieder in die Arme schließen darf. Deswegen hätte ich noch eine weitere Bitte an Euch, Euer Gnaden. Nachdem Ihr Euch derart aufopferungsvoll für den Frieden im Sichelhag eingesetzt habt. Auch wenn es Euch am Oppsteiner Hof schlecht gedankt worden ist, durch den Friedensbrecher...Nun, ich bitte Euch, versucht, den Seelenfrieden der unglücklichen Baroness wiederherzustellen. Nehmt sie eine Weile mit in die Priorei Sumus Säule. Behütet sie vor allen schädlichen Einflüssen von außen..." 

"Ihr habt Recht, Euer Hochgeboren". Herdegard nickte ernst. "Wer weiß, was Tsalinde miterleben musste, in den verfluchten Oppsteiner Wäldern...nackte Körper, unzüchtige Tänze, berauschende Tränke und Kräuter, sicher auch Selemie. Hoffen wir, dass es nicht zum Schlimmsten gekommen ist, und sie wenigstens die Reinheit ihres Leibes bewahren durfte." Die Priorin schickte ein Stoßgebet zum grauen Himmel.

 "Ja, das hoffe ich auch", murmelte Alrik. 

Die Novizin blickte fragend, erhielt aber keine Antwort. 

Alrik wies auf den gegenüberliegenden Bergwald. "Da kommen sie!"  

Tatsächlich war Winelind zwischen den Nadelbäumen aufgetaucht, ihre weiße Fahne in der Rechten.

Misstrauisch spähte sie umher, schien aber mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.  

"Euer Hochgeboren, wie wollen wir anfangen?" fragte sie ein wenig unsicher. 

"Parik gegen Erlan?" 

"Was ist mit den Pferden?" 

"Meine Leute hatten ihre eigenen Pferde dabei..." 

"Es wäre schön, wenn unsere Leute ebenfalls beritten wären." 

"Davon war nie die Rede", sagte Alrik ungnädig, wenn auch mehr aus Gewohnheit. Diese Winelind hatte einfach schlecht verhandelt.  

"Pferd gibts nur gegen Pferd", hielt die Unterhändlerin dagegen. 

"Ist das nicht ein wenig gierig?" 

"Euer Hochgeboren, soll der Austausch daran scheitern? An so einer Lappalie?" 

Alrik klopfte nervös aufs Holz. Dann gab er Befehl, die Ponys den steilen Pfad hinauf zu schaffen, auf denen die Gefangenen erst zur Hütte und dann in den Bergwald gebracht worden waren. 

"Zeigt mir Parik!" 

Sein Leibwächter wurde gefesselt herangeführt, durch einen stoppelbärtigen Waffenknecht. Alrik war sich nicht ganz sicher, aber der Bursche sah aus wie der Glorianer, der aus Bethel in den Wald getürmt war. 

Die Stricke des Gefangenen wurden gelöst, dann ging Parik auf die "Brücke" zu, mit Pferd. Die Holzklause war ziemlich eng. 

Das Pony schnaubte nervös. Hoffentlich fällt keiner ins Wasser, dachte Alrik. So ähnlich stellte sich der Baron es vor, wenn Mittelreicher und Horasier Spione austauschten, an irgendeiner Grenzbrücke.  Sein sonst so geschniegelter Gardist wirkte abgekämpft, die Haare waren ungekämmt, der Stoppelbart stand dem seines Bewachers kaum nach. Die Überquerung gelang. 

Dann setzte sich Erlan dumpf polternd in Bewegung, ebenfalls mit Reittier im Schlepptau. Besorgt sah Winelind auf dessen durchlöcherten, braunrot befleckten Waffenrock, aber der Glorianer schüttelte den Kopf. Die Oppsteiner umarmten sich.  

"Alles in Ordnung soweit?" fragte Alrik Parik und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Lebt Timoin noch?" 

"Ja, auch wenn er ziemlich leidet. Üble Rückenprellung. Eurer Tochter geht es wohl, den Umständen entsprechend. Tut mir leid, dass es so gekommen ist...." 

"Schon gut, ist wie beim Boltan. Mal verliert man, mal gewinnt man." 

Der Tausch Lefke gegen Timoin ging nicht völlig reibungslos vonstatten. Lefkes Pony, das wohl seine Friedwanger Herde nicht verlassen wollte, scheute und sprang pflatschend ins wild aufspritzende Wasser. 

Nach einigem Rufen, Armwedeln und Geschrei schwamm das Aarmari aus eigener Kraft ans "richtige" Ufer. Timoin ging schief und gekrümmt, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Atzel, sein Barnfarni, blieb auf der anderen Seite zurück, es war einfach zu groß und ungestüm für die Stauwehr. Nun gut, sie würden die Stute einfach später abholen und auf Umwegen ins Tal bringen.  

Der Grüne Knappe sagte nichts und wich Alriks Blick schamvoll aus. Was hatte der Jüngling erwartet? Vielleicht war es ganz gut, dass Timoin beizeiten eine Niederlage erlitten hatte. Schwarzpelze, Goblins, Oger - oder Schattenländer - würden nicht so zart mit ihm umspringen, wenn er sich das nächste Mal selbst überschätzte.  

"Wo ist meine Tochter?" fragte Alrik laut. 

"Erst die Dukaten!" befahl der Stoppelbart auf der anderen Seite und klang durchaus phexisch. 

"Travius, stell ihnen die Truhe auf den Steg. In die Mitte." 

So geschah es.

Dann wurde Tsalinde aus dem Waldesdunkel herbeigeführt, von einem Gloranier mit Vollbart und einem mit Oberlippenbärtchen.

Die Baroness wirkte müde, aber als sie ihren Vater erblickte, lächelte sie glücklich. Ihre Gewandung war wirklich merkwürdig, als wäre sie längere Zeit Mitglied in einer Sekte gewesen. Im wallenden Nebel schritt sie über die Holzplanken, an der "Schatztruhe" vorbei.  

Sie umarmte den Baron innig. Eine Ahnung von überderischem Frühlingsduft strömte aus ihren Haaren und ihrem seidig glänzenden Gewand. 

"Willkommen daheim!" sagte der Baron mit belegter Stimme. "Bist du verletzt?"

Tsalinde schüttelte den Kopf. "Ich hab dir soviel zu erzählen...kam Samiras Brief an?

Alrik nickte.                                     ,

"Ich...ich bin einem echten Einhorn begegnet...und...und...auf einem Schmetterling geritten, auf dem Weg zum Wipfelpalast. Du wirst es nicht glauben, wie es drüben in Ianna´aya zugeht."

"Ja, und manch anderer auch nicht", flüsterte ihr Vater. "Was auch immer Inaja ist. Zu mir und Serwa kannst du offen sprechen, aber ansonsten musst du vorsichtig sein. Sag einfach, du hast Gedächtnislücken."

"Die habe ich wirklich", sagte die Baroness irritiert. Ihre Augen waren stark geweitet, als hätte sie ein ganzes Beet voll Ilmenblatt geraucht. "Es ist alles...so anders hier. So....traumlos.""

"Traumlos?"

"Ist das nicht das Gegenteil von traumhaft?" Tsalinde lächelte entrückt. Für den Augenblick würde ihr jeder das Rauschkrautopfer abkaufen. 

Die Glorianer waren derweil damit beschäftigt, das Kistlein auf ihre Seite zu schleifen und den Inhalt zu verteilen.

"Werdet ihr Frieden halten?" rief der Baron hinüber.

"Wir sind schon fast auf dem Weg in den Süden", grinste der Stoppelbärtige. "Werdet Ihr uns verfolgen?"

"Nein. Mutter Herdegard ist meine Zeugin, dass der Handel gilt...und eure Zeugin. Travia wird euch strafen, wenn ihr unsere Abmachung brecht." 

"Gewiss...und umgekehrt, Euer Hochgeboren. Danke für die Dukaten und die Pferde." Kordan warf dem Baron frech eine Kusshand zu. Dann eilte er  in den Wald, seinen Gefährten hinterher.

 



Priorei Sumus Säule, bei Senkenthal, Feuertag, 28. RAHja 1045 BF

 

Es kam selten vor, dass sich Tsalinde über ihre runden Kulleraugen, den süßen Schmollmund oder die allzu niedliche Stupsnase freute. Trotz ihrer 21 Götterläufe hatte sie noch immer ein recht kindliches Aussehen. Scheu strich sie sich durch ihr halblanges, brünettes Haar.  Mit zitternden Knien und nervös trippelnden Füßen saß sie dem Hohen Hexencommisarius gegenüber, in der Besuchsstube am Rande des Klausurbereichs von Sumus Säule, den zu betreten ihr untersagt war.

Der Edle von Zaunberg  sah beeindruckend aus, schon durch seine goldenen, gelockten Haare und den allzeit forschenden, kühnen Habichtsblick. Dazu gesellte sich das prachtvolle, reinweiße und rotgoldene Ornat eines Tempelvorstehers. Zuletzt hatte sie seine salbungsvolle, befehlsgewohnte Predigerstimme in der Vision des Lichtwichtels vernommen, wenn auch verzerrt. Ihr Blick fiel auf die beiden Sphärenkugeln am Gürtel des Lichthüters. Lichthüter, Lichtwichtel, Sphärenkugeln… Einen Moment lang wirbelte alles durcheinander, die Welten, Satinavs Element, ihre eigenen Gedanken und Gefühle.

Einen Augenblick lang sah sie wieder den kleinen Ravenhart vor sich, Glyranas Pagen, der fast das erste bekannte Gesicht gewesen war, im quirligen Feldlager von Drachweiler. Lorenz Suunkdaler, sein Leibwächter, wich ihm dort nicht von der Seite - auch wenn der zittrige Rottmeister der Senkenthaler Streithähne, mit seinem weißen Haarkranz und dem altmodischen Prinz-Storko-Bart, aussah, als könne er selbst Betreuung gebrauchen.

Mit entrücktem Lächeln hatte der betagte Büttel die Baroness als "Eure Hochgeboren Tsalinde Kalmanderia" begrüßt. Rottmeister Suunkdaler zählte bereits mehr als siebzig Götterläufe. Offenbar hatte Lorenz ihre Großmutter, die Irre Tsalinde, noch persönlich gekannt. Die Irre Tsalinde... Die Altbaronin sollte öfters einmal Stimmen gehört haben, einmal sogar das Rauschen der Ochsenwasserfälle, wohlgemerkt bei einer Audienz am Grafenhof, im fernen Wehrheim. Tsalinde II. wusste nur zu gut, was die Leute denken würden, sollte sie zuviel von ihrem Erlebnissen in der Feenwelt erzählen. Ganz die Großmutter. Soetwas überspringt gerne mal eine Generation...und dergleichen mehr.

Trotzdem hatte die Baronieerbin sich gefreut, Ravenhart wiederzusehen, ihren putzigen "Spielzeugjungen". Für den sie eine in sich widersprüchliche Zuneigung empfand,  als Schicksalsgefährte einer lieblos arrangierten Verlobung. Wäre sie ein wenig länger in der Anderswelt geblieben, wer weiß, vielleicht wäre der kleine Mersingen ihr als Gleichaltriger begegnet, nach der Rückkehr. Aber dann wäre die Baroness endgültig ein Fall für die Inquisition und deren nimmermüden Handlanger geworden.

Tsalinde lächelte unsicher, was nur wenig gespielt war. Belehrt mich, bringt mich zurück auf den rechten Weg, schienen ihre Augen zu betteln. Von ihrer Mutter, die sie gestern in der Priorei besucht hatte – ein Wiedersehen reich an Freudentränen– wusste sie, dass der Hohe Hexenkommissar sehr viel auf seinen vermeintlichen Scharfsinn gab. Dass er zu Suggestivfragen neigte und am liebsten Antworten hörte, die ihm bestätigten "was er ohnehin schon gewusst hatte".

Noch immer war das Kratzen der Schreibfeder das einzige Geräusch, in der Empfangsstube. Hochwürden Falkwart von Zaunberg stand ungeduldig auf und blickte zu seiner Schreiberin hinüber, eine hübsche, aber einfältig blickende Büßerin. Die Skribentin beendete ihre Schnellschrift, streute Sand über die nasse Tinte, stellte die  Schreibsandbüchse weg und schüttelte die schmerzende Hand.

"Wenn ich jetzt einmal kurz zusammenfassen darf, Wohlgeboren. Ihr wurdet von einem Armbrustbolzen getroffen, einem vergifteten Bolzen, womöglich...soweit mag ich noch zu folgen. Kukris war ebenfalls im Spiel. Dann wurdet Ihr von Bergfaunen auf einen großen Hornschlitten gepackt...und habt Euch auf einer wunderbaren Frühlingswiese wiedergefunden. Wo Ihr von einer Blütenfee und....einem Einhorn von Euren Qualen geheilt worden seid?"

"Gewiss, so hat es sich zugetragen. Ich bin nur ehrlich, Hochwürden, ganz so, wie es der Herr Praios verlangt."

"Eine wunderschöne Lichtwelt also." Falkwart, der in der kleinen Kammer umhergelaufen war, trat hinter die junge Adelige. "Zu schön, um wahr zu sein? Verlockend und verführerisch schön?!"

"S...so könnte man es sagen, ja."

"Was genau macht Euch so sicher, dass Ihr an diesem unseligen Tag nicht in den Niederhöllen gelandet seid?" Falkwart klang spitzfindig und ungnädig zugleich. "In den Niederhöllen oder deren Vorhof?"

"Ich...ich wurde auf der Wiese geheilt. Fast auf Anhieb."

"Es war ein Land ohne Götter, soviel steht fest. Ohne klare Abgrenzung zur Siebten Sphäre. Und doch habt Ihr Euch dort wohl gefühlt? Wohler als auf Dere und Feste, wo die Gebote der unsterblichen Zwölfe gelten?"

"Ich weiß nicht, ob die Götter dort keine Macht haben", sagte Tsalinde ehrlich. Mutter Herdegard lächelte ihr begütigend zu, wenn auch ein wenig verwirrt. "Es war alles....so friedlich. Ich glaube nicht, dass dort das Böse oder das Chaos herrschen. Es ist einfach....eine andere Welt."

"Halten wir uns lieber an das, was wir wissen, dank der Gelehrten und Kundigen. Kukris ist ein heimtückisches Meuchlergift, das völlig zu Recht auf dem Index Wehrheimium steht. Allerdings ist es nur für kurze Zeit haltbar, einige wenige Wochen lang. Gemäß Aussage der Gefangenen wurde das Gift in Yol-Ghurmak hergestellt, der Brutstätte der Verderbnis im Osten. Ich war so frei, sowohl die aufgefundenen Geschosse als auch das dazugehörige Fläschchen ans Informationsinstitut nach Rommilys zu schicken. Mein erster Verdacht hat sich vollauf bestätigt." 

Der landlose Edle zwinkerte selbstzufrieden in die Sonne. "Es handelt sich dabei um Kukris, das auf magische Weise haltbarer gemacht worden ist. Unberührt von Satinav, so hieß der Spruch. Welch Anmaßung gegen die praiosgefällige Ordnung, aber nun gut, was erwarte ich von schwarzberobten Giftmischern. Mehr noch, hielten die Weißmagier es für möglich, dass sich eine überderische Entität in das Gebräu eingeschlichen haben könnte. Ein Mindergeist, vielleicht sogar ein niederer Dämon. Verzaubertes Gift lockt derlei unheilige Kreaturen wohl ähnlich an wie Honig die Wespen oder Unflat Schmeißfliegen. Heilige Lechmin von Weiseprein, steh uns bei!"

Falkwart Malachanias schlug das Praioszeichen. Tsalinde schluckte. Sie hatte nicht das Gefühl, vergiftet worden zu sein. Der Treffer war auch so schon schwer und schmerzhaft genug gewesen. Gut möglich, dass es dieser Kukrisdämon gewesen war, der den Pfeil in den Meuchler gelenkt hatte. In den Kerl, der draußen vor der Hütte sein Leben ausgeröchelt hatte. Aber mit solchen Dingen kannte sie sich nun wirklich nicht aus.

"Ich...war nicht besessen, oder sowas", sagte sie scheu. "Falls Ihr das meint, Hochwürden. Das hätte ich gemerkt."

"Hättet Ihr das?" fragte Falkwart Malachanias spitz, aber auch ein wenig mitleidig. "Zum Glück gibt es einen Präzedenzfall... Es ist schon einige Götterläufe her, kurz vor Varenas Überfall war das. Da wurde Bruder Praiosîn Xerber von einem verfluchten Blutegel gebissen. Während der darauf folgenden Namenlosen Tage haben ihn verrückte Visionen und groteske Ereignisse gepeinigt. Ja, in seiner Umnachtung hat er sogar geglaubt, mit Hexen an einer Schwarzen Messe teilzunehmen, im Eulenkuhl. Erspart mir weitere Einzelheiten".

Falkwart Malachanias runzelte die Brauen. Er hatte etwas entdeckt – eine Art Holztonne in der Außenwand der Stube. Der halb eingemauerte Zylinder stand auf einem Podest, er schien beweglich zu sein. Darüber hing ein kleines Glöckchen, verbunden mit einer Kordel, die ebenfalls nach draußen, in Richtung Straße führte.

"Was ist das?" Der Commissarius klopfte gegen das Holz. Es klang hohl.

"Eine Drehlade,", sagte Mutter Herdegard ernst. "Für Findelkinder. Es werden nicht weniger verzweifelte Mütter, die ihre Kinder aussetzen. Bevor sie das im Wald tun, oder ihren Säugling an den nächsten Schwarzmagier verkaufen....nun, dann ist es besser, das junge Leben in Travias Hände zu legen. Auf der anderen Seite befindet sich eine Klappe, in der Lade ist ein Korb, mit wärmendem Stroh."

Falkwart Malachanias wollte bereits am Glöcklein ziehen, aber Herdegard hielt ihn davon ab.

"Das solltet Ihr nicht tun. Eine der Schwestern würde herbeieilen und nachsehen, ob sich ein Kindlein im Körbchen befindet."

"Nun, ins Findelhaus möchte ich eigentlich nicht einziehen", sagte der Commissarius süffisant. "Eine überaus göttergefällige Einrichtung", fügte der Commissarius eilig hinzu. "Auch wenn sie womöglich schwache Seelen dazu verleitet, sich erst der Rahjalust hinzugeben und dann der Mutterpflicht zu entziehen?" Kopfschüttelnd wandte er sich wieder Tsalinde zu.

"Sei´s drum. Wenn selbst einem geweihten Diener des Praios derartige Halluzinationen widerfahren können...glaubt mir, Wohlgeboren, Ihr hättet Euch weit weniger dagegen wehren können. Dämonen lieben es, Sterbliche mit Täuschung und Trugbildern zu foppen. Da fällt mir ein...Im Wald wurde einige Monde später eine Schlittenglocke gefunden, unweit der Stelle, wo die Lawine herabgedonnert ist. Im Oppsteiner Wald, nicht in der Feenwelt. Daran war kein Funken magisch, wenn wir den Rommilyser Hellsichtsmagiern glauben dürfen. Dieses Fahrzeug war kein fliegender Hexenschlitten, auch kein Gefährt der Feen. Sondern allein von dieser Welt. Ich bin sicher, dass sich der Schlitten irgendwo in Oppstein befindet. Das Wappen auf der Glocke könnte auf die Baronie Rosenbusch verweisen. Die Brillantzwerge dort sind geschickte Handwerker. "

Hochwürden Malachanias sah die Knappin durchdringend an: "Das bringt mich darauf, dass in Rosenbusch die Schwägerin unserer Markgräfin herrscht. Baronin Oleana von Bregelsaum ist eine geschworene Feindin der Alten Kulte. Manche handeln sie bereits als künftige Herrin einer eigenen Grafschaft Sichelhag. Es wäre gut möglich, dass Ihr Oleana dereinst den Treueid schwören müsst, Wohlgeboren Tsalinde. Vergeudet Eure Zeit also nicht mit....Feenschwärmerei, wie sie sich im Reich  leider immer mehr auszubreiten scheint. Von Weiden bis Albernia."

"Aber ich war wider meinen Willen in den Traumlanden..."

"Dennoch scheint es Euch dort gefallen zu haben?! So beginnt es immer. Mit dem Traum von einer besseren Welt...Besser als das, was die Götter Alverans uns Sterblichen gewähren, bevor wir zuletzt die Herrlichkeit der Zwölfgöttlichen Paradiese schauen dürfen."

Falkwart schüttelte erneut den Kopf. "Praioslob sind Übergänge von Dere und Feste zu irgendwelchen....Schweinwelten..." Der Hilfsinquisitor räusperte sich. "Scheinwelten äußerst selten. Gleichwohl sind derlei Störungen der Weltordnung gefährlich!"

Auf knarrenden Dielen schritt der Lichthüter in der Stube auf und ab: "Schädliches Hämmern an den Grundfesten von Dere und Alveran. Selten trifft diese Straftat den, äh, Nagel derart auf den Kopf wie hier. Die Anderwelten sind eine fürchterliche Anomalie, die wahrscheinlich durch Madas Frevel entstanden ist. Eine ewige Bedrohung für die göttliche Ordnung. Jedes Mal, wenn ein Sterblicher in eine Minderglobule wechselt, werden die Grundfesten ein wenig mehr geschwächt. All die Säulen, das Gewölbe, die Fundamente und Stützmauern, die unsere Welt im Innersten zusammenhalten. Wie leicht vermögen durch solche Schlupflöcher dämonische Entitäten nach Dere und Feste vorzudringen. Aber schon der Umgang mit feeischen Kreaturen ist gefährlich – Wesen, die keinen Unterschied zwischen Gut und Böse kennen, womit sie den wahren Glauben ebenso unterhöhlen wie Feentore das Sphärengefüge."

Erneut sah Malachanias die junge Frau durchdringend an, ganz so, als würde er bereits alles wissen: Von ihrem Einbruch ins Kloster Alveranskuppen, im Schelmengewand. Von der magisch beflügelten Unzucht mit einem Elfen oder ihren ketzerischen Gesprächen mit der Herrin des Baumes. Schuldbewusst senkte die Baroness den Blick.

"Die Prophezeiung der Illumnestra besagt, dass am Ende aller Zeiten der Dämonenbaum durch sämtliche Sphären wachsen, das kosmische Gefüge durchbrechen und sich zuletzt mit dem Chaos der Heptasphäre verbinden wird. Dann wird der Himmel endgültig über uns einstürzen und der Namenlose das letzte Tor der Welten öffnen. Damit dürfte klar sein, dass Feenpfade, Feenpforten, Schutzfeen, Feenpakte..." Malachanias Hand rotierte in der Luft, "keinesfalls harmlos sind, sondern den Keim des Untergangs in sich tragen. Des Verderbens der gesamten Menschheit. Die ersten Sterne stürzen bereits herab, Sumus Leib wankt allerorten. Das sind erste Vorboten der nahenden Endzeit. Des letzten, des Dreizehnten Zeitalters."

Der Custos ließ seine Worte ein wenig nachwirken. "Zum Glück finden derartige Weltensprünge nur äußerst selten statt, und wenn, dann zu gewissen Grenzzeiten. Die in diesem Fall nicht gegeben waren, gemäß den einschlägigen Schriften. Weder herrschte Monatsende, noch die Zeit der Sonnenwende, noch ging ein Jahr in das andere über. So wie es übermorgen der Fall sein wird. Ebensowenig ist mir von einem Feentor auf dem Paß der Freundschaft bekannt."

Mutter Herdegart hüstelte. "Verzeiht, Hochwürden, aber Almrausch gedeiht dort oben schon reichlich. Das ist mir auf dem Weg von Oppstein her aufgefallen. Zusammen mit Malven. Heißt es nicht, dass beide Pflanzen die Nähe eines Feentors anzeigen? Der Paß ist ja nun wirklich ein Grenzland, nicht allein zwischen zwei Baronien....sondern auch zwischen Himmel und Erde, zwischen Fels, Humus und Luft. Allzu weit weg von der Wintersonnenwende haben sich die Ereignisse auf dem Paßberg nicht ereignet. Überhaupt, Feenwesen halten sich meines bescheidenen Wissens nach wenig an feste Regeln. An unsere Regeln."

Malachanias antwortete nicht sofort, sondern blickte die Traviageweihte durchdringend an, mit loderndem Blick, so schien es.

"Wie oft wurden mir bei Seelenprüfungen Märchen erzählt, von Reisen in die Feenwelt, wo es wunderbar betörend und verlockend zugegangen sein soll. Märchen, die von den Verwirrten selbst geglaubt worden sind. Dutzende Male wurde von einem Wunderland gefaselt, das angeblich gleich hinter dem Regenbogen beginnt. Oder hinter dem eigenen Kuhstall. Immer hat sich herausgestellt, dass der Weltenwanderer Opfer von Rauschkraut geworden ist. Ogerschelle soll fantastische Visionen hervorrufen, die kaum von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind."

"Ich bitte Euch...wollt Ihr behaupten, dass Baroness Tsalinde in einem fort berauscht war? Ein halbes Jahr lang?"

"Wie gesagt, in diesem Casus vermute ich dämonisch verseuchtes Kukris, auch Königsmacher genannt. Schon der Name ist eine ungeheuerliche Lästerung Unseres Herrn, durch dessen Gnade allein sich die Kronen auf die würdigen Häupter senken." Einen Augenblick lang sonnte der Hochgeweihte sich in einem goldfarbenen Lichtstrahl.

Die Schreiberin blies lächelnd den Sand von ihrem Protokoll. 

"Habe ich erwähnt, dass Kukris aus der Mirhamer Seidenliane gewonnen wird? Die wiederum an Baumriesen im Tiefen Süden schmarotzt." Dem Hilfsinquisitor war anzumerken, wie stolz er auf dieses botanische Fachwissen war. "Notgedrungen kenne ich mich ein wenig mit der Alchimie aus. Ketzerei und Giftmischerei sind nun einmal nahverwandte Schwarzkünste. Das eine vergiftet die Leiber, das andere die Seelen. Ähnliches bewirkt Ähnliches, heißt es bei den Sympathetikern. Entsprechend könnte eine giftstrotzende Ranke, die schlangengleich an einem Alveranspfeiler im Urwald wächst, die Wahnvorstellung hervorrufen, auf einem großen Baum gelandet zu sein. Wer weiß zudem, welch vermeintliches Gegengift der Baroness gereicht worden ist. Wenn ich da an Belmartfieber oder ähnliche Nebenwirkungen eines Antidots denke..."

"Die Einstiche an Tsalindes Körper deuten für mich schon auf den Biss einer Schlange hin", sagte Herdegard. "Einer gewaltigen Schlange, wenn man die Abstände der Wundmale betrachtet!"

"Einer Riesenschlange, die nicht einmal in diese Kammer hier passen würde?" Der Commissarius deutete milde lächelnd um sich. "So groß wie eine Mirhamer Seidenliane? Ich bitte euch, diese beiden Löchlein, was sage ich, Rötungen, die ihr mir gezeigt habt. Es könnten ebenso gut Wanzenbisse gewesen sein. Zwei von vielen, in dieser völlig verwanzten und verflohten Hütte. Wenn Tsalinde wirklich in der Feenwelt war...wie erklärt Ihr Euch, dass ihre Eltern wenige Wochen später einen Brief von ihr erhalten haben. In dem sie behauptet, an einem traviagefälligen Ort zu sein? Es sei denn natürlich, Baron Alrik und Baronin Serwa haben mir die Unwahrheit gesagt?" Der Hochgeweihte blickte schon wieder lauernd, wie eine Schlange vor dem Kaninchen.

Tsalinde schluckte. So langsam begriff sie, was es bedeutete, im Hier und Jetzt als Feeische zu gelten. Von einer traviagefälligen Zuflucht hatte sie Mama und Papa jedenfalls nichts geschrieben.

Falkwart Malachanias legte väterliche Sanftmut in seine Stimme. "Ihr habt eine lebensbedrohliche Verwundung, wahrscheinlich auch Vergiftung erlitten. Hernach ist...seelische und geistige Verwirrung nichts Ungewöhnliches. Ich gehe davon aus, dass Eure Entführer...die sich als Bergfaune verkleidet haben...nur Euer Bestes wollten. Das, was sie dafür gehalten haben. Zumindest wollten sie Euch vor einem weiteren Attentat schützen. So wie Ihr sie jetzt schützt? Thorwalsche Verwirrung, so nennt man so etwas in der Seelenheilkunde. Seeleute, die von den Barbaren in die Nordlande verschleppt werden. Nun, es kommt nicht selten vor, dass sie nach wenigen Wochen anfangen, sich wie die Thorwalpiraten zu kleiden. Sich Zöpfe und Bärte wachsen oder Hautbilder stechen lassen. Unmengen an Met und Premer Feuer trinken, in einem fort Das wohl und Bei Swafnir rufen..."

Falkwart Malachanias lächelte versonnen, als hätte ihn gerade eine alte Erinnerung eingeholt.

"Zwei Tage war ich in der Feenwelt", murmelte Tsalinde, scheinbar unsicher und kleinlaut. "Glaube ich. An vieles fehlt mir wirklich die Erinnerung.  Es war, als wäre ich aus einem wirren Traum erwacht. Was danach geschehen ist...das kann ich leider auch nicht so genau sagen. Mir wurden ja ständig die Augen verbunden...meine Beschützer....oder waren es Bewacher...trugen Masken. Ja, sicherlich waren es nur Tiermasken. Bis die Glorianer gekommen sind.."

"Seht Ihr" sagte der Hochgeweihte, zur Priorin gewandt. "Es ist gar nicht so schwer, die Wahrheit zu erkennen. Euer Wohlgeboren, in Anbetracht der Umstände will ich gnädig über Eure Schwachheit hinwegsehen. Darüber, dass Ihr versucht habt, mich, den Diener des Allsehenden Sonnengottes, hinters Licht zu führen. Sicherlich werdet Ihr nach Albenhus zurückkehren, um dort Eure Knappschaft zu beenden? Nun, ich denke, wenn Ihr auf dem Weg dorthin die Stadt des Lichts besucht und zwölf Kerzen spendet, wird dies Eure Seele sicherlich ausreichend stärken. Die großen, reinweißen Tempelkerzen, versteht sich. Wann immer Ihr einen Docht entzündet, sprecht das Bußgebet, das ich Euch mitgeben werde. Ansonsten muss ich Euch ein Schweigegebot auferlegen, über alles, was seit Eurem Verschwinden geschehen ist. Ebenso Euch, Mutter Herdegard."

Die Priorin verzog ihren Mund. "Ich soll....auf den Götterfürsten schwören, in einem Kloster der Himmlischen Mutter?"

"Ihr könnt gerne auch auf Mutter Travia schwören" sagte Falkwart Malachanias gönnerhaft. "Hauptsache, die Wahrheit dringt in diesem Fall nicht an die Ohren der Feinde der Wahrheit. Muss ich Euch daran erinnern, dass die Schattenlande gleich hinter den Bergen beginnen? Unsere Todfeinde dort lauern auf jeden Fehltritt der praiosgegebenen Obrigkeit. Das Ansehen der künftigen Baronin von Friedwang könnte ebenfalls Schaden erleiden. Mehr noch, der Handel im Sichelhag ist gerade erst dabei, sich zu erholen. Nicht auszudenken, wenn sich das Gerücht verbreiten sollte, dass über dem Passweg von Friedwang nach Oppstein ein Feentor lauert. Oder dort echte Bergfaune herumgeistern, um arglose Reisende zu entführen. Ich sehe schon die ersten Bauernlümmel, die sich auf Schlitten in den nächsten Abgrund stürzen, weil sie dort das Paradies vermuten...ein Paradies ganz ohne Götter." Der blondgelockte Herr von Zaunberg verzog angewidert den Mund. "Ein Schlemmerland, in dem es keinen Zehnt und keine Fron mehr gibt, nur noch Völlerei, Wollust und andere Ausschweifungen."

Tsalinde verspürte fast so etwas wie Erleichterung. Es war offensichtlich, dass ihr Vater versuchte, ihre Befreiung zu nutzen, um die Fehde weiter anzuheizen. Sie wollte das nicht – nicht den Grund dafür liefern, dass Menschen, Nachbarn, Rechtgläubige, Mittelreicher, mit gezückten Klingen aufeinander losgingen. Ein Schweigegebot, warum nicht. Sie nickte.

"Eine Frage wäre allerdings noch offen!" Malachanias Zeigefinger ruckte schon wieder vor. "Was ist eigentlich aus Eurem Großonkel Odilon geworden?"

Ja, was war aus Onkel Odilon geworden? Sie hatte ihn auf der anderen Seite zurückgelassen, mehr wusste sie nicht. Dort, wo er angeblich den Riesenbaum gepflanzt haben sollte, vor gerade mal vierzig Götterläufen.

"Seht Ihr, schon wieder ein Schwachpunkt in Eurer Geschichte, Baroness." Falkwart Malachanias lächelte überlegen, während er eine kleine Schriftrolle auf den Tisch legte, offenbar das Bußgebet.

"Wir haben Zeugenaussagen, die ihn im letzten Winter gesehen haben, vermutlich auf dem Weg nach Schlotz. Nach Eurem Verschwinden. Glaubwürdige Zeugenaussagen...Ich denke nicht, dass er Friedwang einfach so den Rücken gekehrt hätte. Es sei denn, er hätte gewusst, dass Ihr in Sicherheit seid?"

Tsalinde runzelte die Stirn. Was hatte das wieder zu bedeuten? Konnte es sein, dass die Augenzeugen Odilon mit dessen Knappen Timoin verwechselt hatten, der sich ähnlich gewandete wie sein Lehrmeister? Der dessen markanten Elfenbogen geerbt und vermutlich Acatenango nach Gernatsquell gebracht hatte, Odilons treues, ebenfalls unverwechselbares Pferd - das zuletzt in den Stallungen von Burg Friedstein gestanden hatte. Im Winter verhüllte einer gerne sein Gesicht, zumal wenn der so grimmig und kalt war wie im letzten Hesindemond.

Oder war "Odilon" ein zufälliger Doppelgänger gewesen? Tsalinde verscheuchte den Gedanken, und folgte dem Möchtegerninquisitor nach draußen. Den sie durch eine Art Drittes Auge gesehen hatte, gesehen und vor allem belauscht hatte, im Gespräch mit dem Eiferer Ucurian. Sie musste froh sein, wenn sie derart glimpflich davon kam. Tsalinde, die Tochter der Hexenfreundin Serwa. Herdegard und die Schreiberin schritten hinterdrein. 

Einen Moment lang genoss sie den Sommer, der draußen auf dem Hof der Priorei herrschte. Das Schwirren der Schwalben, das Schnattern der Gänse. Ebenso das namensgebende Geräusch des Rauschenbachs, der sich in der Nähe schlängelte, aber seinen Verlauf nicht willkürlich veränderte. Wie fest und wunderbar derisch Dere und Feste war. Im Gästehaus hatte sie eine Zeitlang das Bett, den Tisch und die Stühle gestreichelt. Wie herrlich...holzig sich Holz in der Dritten Sphäre anfühlte. Eigentlich war sie froh, wieder zuhause zu sein.

Das Klösterchen war wahrlich nichts besonderes, es hätte auch eine große Bauerei oder ein Herbergshof sein können. Der Klausurbereich hinter ihr war deutlich kleiner als in Alveranskuppen und nur durch ein Gartenmäuerchen abgeschieden. Alles wirkte bescheiden, unscheinbar, bodenständig, selbst die alles einhegende Natursteinmauer. Im Unterschied zur Mutterabtei, die aus vorbadilakanischer Zeit stammte und noch immer den Sieg über die Wildnis oder die besondere Nähe zu Alveran feierte. Nur das Tempelchen stach ein wenig aus dem Einerlei hervor, als schmuckes, sauberes, gemütliches Fachwerkhaus, mit hochaufragendem Giebel, Butzenfenstern, Blumenpracht auf den Fensterbrettern. Mehrere Treppenstufen führten hinauf, zur Tür, die mit feinem Schnitzwerk verziert war. Aus dem Schornstein quoll anheimelnder Rauch.

Daneben ragte ein Dachreiter auf, mit Glocke.  Vor dem Haus der Göttin erstreckte sich ein großer Weiher, in dem Enten und Gänse einträchtig badeten.

Schon zu normalen Zeiten lebte nur ein Dutzend Badilakaner in der Priorei, von denen die Hälfte derzeit im Feldlager bei Drachweiler wirkte. Außer dem sogenannten Ordenshaus, in dessen Nebentrakt gerade das Gespräch stattgefunden hatte, gab es einige Ställe, Beete und Wirtschaftsgebäude, ein Spital und das Findelhaus. Außerdem eine große Armenküche, wo sich Landstreicher, arme Bauern, Alte, Kinder und Kriegsinvalide zu einer langen Schlange reihten.

Die Erinnerung an die blutige Fehde, die sie, Tsalinde, vielleicht mit ausgelöst hatte, traf die Baroness schwer. Auch wenn die abgehackten Arme, Nasen und Beine, die verbrannten Gesichter, fehlenden Ohren, Augen oder Finger aus älteren Schlachten stammten. Hie und da wurde noch immer gebaut. Eigentlich waren nur das Ordenshaus, der Tempel und die große Scheune zur Gänze fertiggestellt. Syrenia hatte ihren Bauern einen Teil der Fron erlassen, falls sie Sumus Säule vollenden würden. Es war ein seltsames Gefühl, dass es Tsalindes dispensierte Verlobung mit dem kleinen Ravenhart gewesen war, die für ausreichend Spendendukaten gesorgt hatte.

Sie blickte in den Gänseweiher, der eigentlich ziemlich trübe und schmutzig hätte sein müssen. Da das steingefasste, von Grün umstandene Bassin noch keinen Götterlauf alt war, vermochte sie sich im Wasser sogar zu spiegeln. Irgendwie sah man ihr die 21 Götterläufe nicht an. So...mädchenhaft hatte sie zuletzt im Alter von 16 oder 17 Jahren ausgesehen. War ihr in der Feenwelt sogar Lebenszeit geschenkt worden? Ein Märchen aus der Sammlung von Traviola Derpflinger kam ihr in den Sinn, der Vor-Vorgängerin der heutigen Traviahochgeweihten von Markt Friedwang. Darin kehrte ein Bauernsohn aus dem Land hinter dem Regenbogen zurück und wurde daraufhin von Jahr zu Jahr jünger. Wurde wieder zum Jüngling und zum Kind, zuletzt zu einem Säugling, der von Peraines Klapperstorch geholt wurde.

Tsalinde gefiel dieser Teil der Geschichte nicht besonders: Hätte sich der Heimkehrer am Ende nicht in einen Homunculus verwandeln müssen, einen blutigen, kaulquappenähnlichen Klumpen, oder – sie lächelte versonnen – in einen rahjagefälligen Glücksrausch für alle Umstehenden?

Sie gingen in den kleinen Tempel. Der frisch geschnitzte und bemalte Heilige Badilak von Mendena kniete demütig zu Füßen Travias. Mit Brot und Wasserkrug in der Hand betrachtete er verklärt das gütige Antlitz der Mutter Alverans.

Die Sakristei war mit orangefarbenem Tuch abgetrennt, an der Wand luden Bänke die Fußschwachen zum Verweilen ein. Zwischen den großen Fenstern hingen Teppiche, die Szenen aus dem Leben des Heiligen sowie seines Nachfolgers und seligen Klostergründers Aranil zeigten. In der Mitte des Sanktuariums gloste das heilige Herdfeuer, überwölbt von einem kupfernen, durch keinerlei Patina befleckten Rauchfang. Sanfte Wärme hüllte die Baroness ein. Ein wohliges Gefühl durchschauerte ihren Körper. So fühlte sich Heimkehr an.

Ein Klimpern lenkte sie ab. Erstaunt sah Tsalinde, dass der Hilfsinquisitor einige glänzende Silberlinge ins Spendenkästchen legte und ein Gebet vor dem Altar sprach. Herdegard schlug das Zeichen der Gans und lächelte zufrieden. Das momentane Bündnis der beiden Kirchen war nicht gespielt.

Falkwart Malachanias forderte Herdegard und Tsalinde auf, ihre rechte Hand vor dem Altar zu heben.

"Schwört Ihr, Baroness Tsalinde von Friedwang, und ihr, Mutter Herdegard Huntstößer, bei Travia, ihren zwölfgöttlichen Geschwistern und allem, was Euch heilig ist. Dass Ihr getreulich Stillschweigen bewahren werdet - über all das, was der Baroness zwischen Ihrem Verschwinden und ihrer Freilassung widerfahren ist. Solange, bis dieses Schweigegebot von mir oder einem anderen Bevollmächtigten meiner Kirche von euch genommen werden wird!"

"Ich schwöre es, bei Travia, ihren zwölfgöttlichen Geschwistern und allem, was mir heilig ist", sagte Herdegard feierlich. Tsalinde wiederholte den Schwur.

Als sie nach draußen traten, klirrten zwei Büßer heran, in vollem Harnisch. Sie trugen rot und gelb gestreifte Schleifen an ihren Schwertgehängen und Hellebarden, was Tsalinde an die orangefarbenen "Gänseschleifen" der Ismenischen erinnerte. Für einen Moment fürchtete die Adelige, sie könnte jetzt doch unter Arrest genommen werden. Malachanias lächelte generös. "Die Namenlosen Tage sind nicht mehr fern. Es gab einen Überfall auf Euch, Wohlgeboren, der sich jederzeit wiederholen könnte. Bis auf weiteres werden Euch zwei Büßer beschützen, als Eure Leibwächter, rund um die Uhr, im regelmäßigen Wechsel."

Herdegard kraulte eine Gans, die sich gerade an ihre Robe schmiegte wie ein Hund oder eine Katze. "Schön, dass ich auch einmal davon erfahre."

"Seid unbesorgt, die Büßer sind drüben im Schloss untergebracht. Ihr wisst ja, da Syrenias Gardisten nach Oppstein gezogen sind, habe ich mir erlaubt, Schloss Suunkdal derweil von den Streitern des Praios bewachen zu lassen. Sie werden die Priorei ebenfalls beschützen....falls Ihr nichts dagegen habt, Mutter Herdegard!"

"Ich danke Euch für Eure Bemühungen!" sagte die Priorin und wirkte dabei kurz angebunden. "Werdet Ihr heute Nacht unser Gast sein?"

"Leider nein. Ich ziehe es vor, die unseligen Tage des Jahreswechsel im Siegestempel zu verbringen. Um meiner Gemeinde beizustehen gegen alle Anfechtungen des Bösen. Hernach gilt es das Neujahrsfest zu zelebrieren, den Großen Mittag, die Jubelfeier der Sommersonnenwende." Hochwürden blinzelte in das freundliche Rahjalicht. "Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum ihr zu Jahresbeginn auf einen dreitägigen Traviafrieden gedrängt habt?"

"Dauert das Praiosfest nicht drei Tage lang? Frieden den Menschen, Treue den Fürsten, Gehorsam den Göttern. So lautet doch der entsprechende Gurvanische Choral?"

"Zu Neujahr sollten heilige Gebete und Choräle jedweden Schlachtenlärm zum Verstummen bringen, gewiss. Aber gerade die Fürstentreue und die Götterfurcht drängen uns dazu, hernach wieder das blitzende Schwert und das funkelnde Sonnenszepter zu ergreifen. Um mit den Waffen des Lichts jedweden Dunkelsinn zu vertreiben. "

Malachanias faltete die Hände vor seinen beiden Sphärenkugeln. "Nach den Exerzitien zum Jahreswechsel werde ich mich nach Elenvina begeben, zum Wahrer der Ordnung Mittellande. Albenhus liegt auf dem Weg, insofern vermag ich Euch Geleitschutz anzubieten, Wohlgeboren? Natürlich erst, nachdem unsere Gebete für einen raschen Sieg in Oppstein erhört worden sind."

Tsalindes Hand verirrte sich an die Seite, wo "bis vor einigen Tagen" ihr Knappenschwert gebaumelt hatte. Nun gut, in Gauhaven würden sie keine Leibwache mehr haben, aber bis auf weiteres sollte es ihr recht sein. Eigentlich war sie froh, die nächste Zeit fernab dieser unseligen Fehde verbringen zu dürfen. Die Baroness nickte. "Bringt Ihr mir Illkhold vorbei? Er steht auf Burg Friedstein im Stall. Mein Knappenpferd, meine ich."

"Sehr gern. Euer Bußgebet...habt Ihr an Euch genommen?"

Die Baroness tastete verlegen über die Gürteltasche. "Verzeiht, ich werde es schnell holen."

Falkwart Malachanias lächelte ihr begütigend hinterher. "Wenn es doch immer so einfach wäre, verirrte Schäflein auf den rechten Weg zurück zu bringen" hörte sie den Hochgeweihten zu Herdegard sagen.

Tsalinde steuerte wieder das Parlatorium an. Tatsächlich, dort lag die kleine Schriftrolle. Die Baroness öffnete sie, überflog die strenge, makellose Schrift des Hochgeweihten. Praios, bewahre mich vor den Schatten meiner Taten...die mir auf Schritt und Tritt folgen...ich habe gegen Deine Ordnung gesündigt... führ mich hinauf zur Reinheit und Wahrheit, in deinem göttlichen Licht, in ewiger Klarheit.

Tsalinde zuckte mit den Schultern. Das Gebet schien ziemlich lang zu sein. Die zwölf Kerzen in der Stadt des Lichts würden sie nicht nur einige schöne Taler, sondern auch reichlich Zeit kosten. Die Baroness lächelte, durchaus ein wenig zynisch. Immerhin, Falkwart verlangte nicht von ihr, sich zu geißeln. Es war schon unangenehm genug gewesen, sich vor ihm zu entkleiden. Um ihm die Spur der Schlangenzähne zu zeigen. Versonnen kratzte sie die entsprechenden Stellen. Die kleinen Wunden waren tatsächlich ziemlich verheilt. Für den oberflächlichen Blick – den Falkwart wahrlich besaß - hätten sie wirklich Flohbisse oder Wanzenstiche sein können.

Ein herrisches Bimmeln der Glocke ließ sie zusammenzucken, wie ein Mahnruf des Praios. Kleine Sünden straften die Götter sofort – und wenn sie nur in Gedanken begangen wurden?

Mit dumpfem, walzendem Geräusch setzte sich die Drehlade in Bewegung.

Tsalinde sprang verlegen auf. Sie hatte erwartet, dass ein Säugling im Körbchen liegen würde, auf Stroh gebettet, aber dem war nicht der Fall. Stattdessen kauerte ein Kleinkind in der Holztrommel, ein hübscher Blondschopf mit blauen Augen, die Ärmchen vor die angewinkelten Knie gelegt. Verlegen sah sich die Baroness um. Einstweilen eilte keine Badilakanerin herbei.

Sie nahm den Jungen aus der Drehlade, der ziemlich eingeklemmt wirkte und bereits eine Schnute zog, als würde er jeden Moment losgreinen. Sein Kinderkörper fühlte sich warm an, und wirkte vertraut, ebenso wie seine Gewandung, ein grünes Kapuzenmäntelchen auf roter Tunika.

Ein Neugeborenes auszusetzen, das war verwerflich genug. Auch wenn sie, die wohlgeborene Baronstochter, kein Recht hatte, über die armen Frauen und halben Mädchen zu richten, die so etwas taten. Die nicht in einem Himmelbett zur Welt gekommen waren, wie sie, durch den Kalifenschnitt eines teuren Medicus. Aber wer zwängte einen kleinen Jungen von vielleicht anderthalb Götterläufen Alter in einen Holzzylinder, um ihn hernach durch eine Klostermauer zu bugsieren? Wie Brot und Wasser in einen Kerker. Am liebsten wäre Tsalinde nach draußen gerannt, und hätte den Unbekannten, wahrscheinlich eher die Unbekannte, zur Rede gestellt. Aber bis zur eigentlichen Klosterpforte war es ein ganzes Stück. Der Kleine schien ihre Aufmerksamkeit nötiger zu haben. 

Tsalinde stellte den verlegen lächelnden Jungen auf den Boden und runzelte die Stirn. Irgendetwas löste das Kerlchen in ihr aus. Eine Art Erinnerung. Ja, ja, nun fiel es ihr wie Drachenschuppen von den Augen. Sie war nicht vor den Bäumlingen durch den Nexus geflohen, nach ihrer Rettung vor der geflügelten Schlange. Sondern noch einmal in die Oberwelt zurückgekehrt.

Da waren Fjorg und Torgwyn gewesen, neben dem Kadaver der Riesenechse. Die beiden Wutzenritter, die sie ebenso erleichtert wie freudig umarmten, mit klirrenden, silbrig glänzenden Rüstungen. Was für ein Hallo, welch freudiges Wiedersehen. Odilon war vom Großen Baum herbeigeeilt und hatte mit einem geborgten Elfenbogen zum Sieg über das Ungetüm beigetragen.

Was war danach geschehen? Sie waren zum König des Waldes zurückgekehrt, aber nicht den berggroßen Stamm hinauf geklettert. Da war ein Tor gewesen, zwischen den gigantischen Wurzeln, das in eine Halle geführt hatte – die Burg der Eberritter, wo es hoch her gegangen sein musste. Met, Bier und Wein waren reichlich geflossen, daran konnte sie sich noch erinnern. War das der Grund für den "Seilriss"? Samira, die kleine Blütenfee, war dort ebenfalls herumgeschwirrt, lachend und tanzend. Alle waren glücklich gewesen, über den Ausgang des Abenteuers, am Ende des zweiten Tages. Dennoch...

Es musste noch einen dritten Tag in der Feenwelt gegeben haben. Daran konnte sie sich jetzt wieder erinnern. Ebenso an das selige Lächeln des Kindes, das gerade vor ihr stand.

Tsalinde hatte Sie geradewegs zu ihm geführt. Die schreckliche Erkenntnis kehrte nun mit voller Wucht zurück. Wer waren sie? Da war ein Reiter gewesen, auf einem finsteren, zweifach gehörnten Ross, mit purpurnem Kapuzenmantel, das Gesicht unter einer goldenen Maske verborgen, der viel zu lange Hals grotesk verrenkt. Da waren kleine, spindeldürre, spitzohrige, nachtschwarze Flatterwesen gewesen, die den Purpurnen umschwirrt hatten wie Motten ein trübes Licht, mit infernalischem Kreischen, glühenden Augen, todtraurigem Gesang. Die Baroness war vor diesem lebenden Alptraum geflohen, erfüllt von Grauen und Angst, das weinende Kind in den Armen.

Bis sie wieder vor dem Weltentor gestanden war, unter dem versunkenen Tempel. Die Bäumlinge hatten sie nicht verfolgt, sondern beschützt, vor den Häschern. Tsalinde hatte ihren Schützling vorausgeschickt, einem Lichtwichtel hinterher. Daran konnte sie sich nun wieder erinnern. War selbst durch das Tor gestolpert, hatte sich ihren Weg nach oben gebahnt, durch eine Art Erdspalte, voller Steine und Wurzeln. Bis sie zwischen den Ruinen der Wüstung Windsbucht herausgekrochen war wie ein Dachs oder Maulwurf.

Der kleine Junge war verschwunden gewesen, oder täuschte sie da ihre Erinnerung? Verwirrt musterte sie den Blondschopf, der ihr gerade die Beine umarmte und leise summte. Sie wuschelte ihm die Haare.

Das Kindlein strahlte sie herzig an.

"Wer...wer bist du?" fragte die Adelige.

Das Büblein lächelte selig und patschte in die Händchen. "Schwester?" hauchte es mit zarten Stimmchen. "Sao´line?!!"

Die Baroness schloss erschüttert die Augen. "Fi...Firunian? Dein Name ist...Firunian, nicht wahr?"

Schweigen. Dann waren ungleichmäßige Schritte zu hören. Aus einem warnenden Gefühl heraus legte die Baroness den Finger auf ihre Lippen: "Psst."

Knarrend öffnete sich die schwere Tür, die in die Klausur führte. Eine ältere Badilakanerin humpelte heraus, in orangefarbener, schlichter Robe.

"Grundgütige, was ist uns denn da ins Haus geflattert?"

Tsalinde berichtete, was gerade eben geschehen war.

"Nein sowas. Wer steckt denn ein...ein Kleinkind in unsere Säuglingsklappe?"

Die Antwort auf diese Frage hätte Tsalinde auch gerne gewusst. Das Kind lächelte unverdrossen, schien aber weder willens noch fähig zu sein, zu antworten. Offenbar hatte es Tsalindes Geste verstanden. 

Der dritte Tag. Was um  alles in der Feenwelt war dort am dritten Tag geschehen?

  

 

Hochwürden Malachanias haßte Herumtrödelei.

Wo blieb Wohlgeboren Tsalinde denn nur? Die Klosterknechte hatten bereits die Pferde gebracht, ans Hoftor, für ihn und Brinburia. Die Schreiberin säuberte sich gerade umständlich mit einem Lappen die Finger, neben der Pferdetränke. Bienen summten umher. Es roch nach Kräutern aus dem Klostergarten. 

Der Commissarius klappte die kleine Taschensonnenuhr auf, der ganze Stolz des Siegestempels. Ein kleiner Kratzer am Rand zeigte, dass der kostbare Zeitmesser gelegentlich in unberufene Hände gegeben worden war. In die Hände Bruder Feenbeins etwa. Mit zusammengekniffenen Auge las der Prätor das Stundensymbol ab.

Beinahe Hesindestunde. So spät schon? Malachanias schüttelte den Kopf. Er wollte bis Sonnenuntergang im "Feurigen Lindwurm" zu Rübenscholl sein, was zu Pferde etwa zwei Stunden Ritt bedeutete.

Baroness Tsalinde, die Träumerin. Es fehlte nicht viel, und sie haschte gerade irgendeinen Schmetterling. Davon flatterten einige zwischen den grünen Hecken, Sträuchern und bunten Beeten umher, die ihm die Sicht aufs Haupthaus versperrten.

21 Götterläufe zählte die Knappin nun, sah aber deutlich jünger aus. Jünger, aber nicht unbedingt reifer. Einem Bauerntölpel mochte man es nachsehen, wenn er Halluzinationen im Giftrausch für bare Münze nahm. Wenn er sich von Kultisten alter Götzen einschüchtern und beschwatzen ließ. In diesem Alter sollte eine künftige Hochgeboren etwas vernünftiger sein. Die Pferdeprobe ihres Bruders Solalin, der eigenständige Ritt nach Nordenheim, stand noch aus, aber Malachanias  gab sich keinerlei Illusionen hin. Das "Wechselbalg" würde nie als vollwertiger Herr von Friedwang akzeptiert werden. Die Mersingens würden weiterhin auf die Verwandtenehe zwischen Tsalinde und ihrem Kousin Ravenhart drängen und auf die besonderen Tsakräfte verweisen, die angeblich in beiden Kindern wirkten. In zweiter Generation.

Hochgeboren Syrenia, die Erbvögtin, hatte völlig Recht: Es machte keinen Sinn, das kluge, aber unreife, offenbar noch leicht zu verwirrende Mädchen schon jetzt zur Herrin von Friedwang zu erheben. Es würde besser sein, erst einmal nicht am Status Quo zu rühren. 

Falkwart schloss mit knappen Nicken die oberen Schnallen des leichten Reisemantels, den ihm Brinburia umgelegt hatte.

Ah, da kam Tsalinde auch schon herbei geeilt, mit dem Gebet in der Hand. Endlich.

Malachanias tippte demonstrativ auf die Praiosuhr, bevor er sie am Sattel verstaute, sorgfältig in ein Leinentüchlein eingewickelt.

Die rotwangige Baroness schnaufte erst einmal durch. Mit der Hand wischte sie sich eine Strähne aus der Stirn. "Verzeiht, Hochwürden, aber...es wurde gerade ein Kind abgegeben....in der Drehlade!"

Herdegard, die einer Gärtnerin im Gemüsebeet Anweisungen gegeben hatte, wandte sich erstaunt ihrem Schützling zu. "Schon wieder ein Neugeborenes? Travia, steh dem unschuldigen Kindlein bei - und verzeih der Mutter ihre Tat!"

"Nun, eigentlich war es mehr ein Kleinkind als ein Säugling...vielleicht anderthalb Götterläufe ist es alt. Sagt, was hat das zu bedeuten?"

Ein merkwürdiges Leuchten war in Tsalindes Augen zu sehen. Entwickelte die Baroness bereits Muttergefühle? Die Priorin sah es mit Wohlgefallen, während der Lichthüter mißtrauisch blickte. Mißmutig öffnete er den drittobersten Knopf wieder, ob der Rahjawärme, die bereits die gewittrige Schwüle der Namenlosen Tage erahnen ließ.

"Ein bemerkenswerter Zufall" sagte der Praiot spitz. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass phexische und hexische Nebel um ihn herum wallten. 

"Eingebildet hab ich das Kind mir jedenfalls nicht", sagte Tsalinde und klang ein wenig frech.

"Womöglich irgendein dummer Kinderstreich!" Die Priorin versuchte den Prätor abzulenken. "Die Drehlade kreiseln zu lassen ist eine beliebte Mutprobe bei den Dorflümmeln. Aber das geht zu weit, bei Badilaks Suppenkessel."

"Ich werde mir das Kind einmal ansehen. Kobolde lieben es, durch Wände zu gehen."

"Hochwürden, das ist eine Säuglingsklappe, keine Schelmenpforte." Mutter Herdegard schüttelte pikiert den Kopf. "Außerdem stiehlt das Kleine Volk Kinder und gibt sie nicht im Kloster ab."

Die Baroness lächelte unschuldig und war ehrlich verwirrt.  

Malachanias wurde von Hufgetrappel abgelenkt. Ein Reiter galloppierte heran, auf dem staubigen, sonnendurchfluteten Rübenscholler Weg her, der zwischen Obstbäumen, Steinmäuerchen und Hecken verlief. Der Neuankömmling trug einen großen Eisenhut und hatte nur noch einen Arm, der den gezaddelten Lederzügel hielt. Der andere Arm schien ihm  im Krieg abhanden gekommen zu sein. Sein rotblauer Waffenrock war staubbedeckt. Die Büßer, die als Tsalindes Leibwachen auserkoren waren, wollten schon in Kampfstellung gehen, erkannten dann aber den Barönlichen.    

Der Bote sprang regelrecht aus dem Sattel, während - "Ho, ho" - Brinburia sein Pony einfing.

Etwas übertrieben kniete der Kunbert, wie die Baronswachen nach ihrem Wappentier genannt wurden, nieder.

"Hochwürden Malachanias...es gibt schlechte Nachrichten."

Tsalinde blickte erschrocken, während der Invalide nach Luft rang.

"Aus...aus Berchweiler!" fügte der Mann hinzu.

"Nicht aus Drachweiler?" Malachanias klang ebenfalls besorgt. "Stehe er erstmal auf!"

Der Mann, der nicht mehr der Allerjüngste zu sein schien, erhob sich wankend. Natürlich, die besseren Kämpfer der Haustruppen befanden sich alle im Norden.

"Nein...nein. Aber Baronin Serwa war der Meinung, dass Ihr unverzüglich benachrichtigt werden solltet. Sumudane Hornhusen, die Berchvögtin, wurde abgesetzt. Die Rebellen haben sich offen auf Seiten Baron Adrans von Oppstein gestellt, den sie als Beschützer der Alten Kulte sehen. Die Hornhusen hat sich in einen Turm über dem Dorf zurückgezogen. Herdans Turm. Der wird nun von den Ungetreuen belagert. Kastellan Gänsberg harrt dort mit ein paar Getreuen darin aus. Auf dem Dach weht noch das Friedwanger Banner. Vorgestern war das zumindest noch der Fall..."

Ein Moment lang war der Praiosdiener überrumpelt. Der Reiter ließ sich eine Trinkflasche geben und schlürfte gierig das Nass, was Malachanias die Muße gab, nachzudenken.

Die Berchweiler Freibauern und ihre selbstgewählten Vögte. Die Schwarzsychler Fryheyt wurde im Bergdorf und den umliegenden Höfen groß geschrieben. Ihre Herren kürten sie, in dem sie Ochsen, Kühe, Schafe, Ziegen durch das Joch des jeweiligen Kandidaten trieben. Einen großen Steinbruch gab es im Dorf auch, von wo aus gerade die Baustellen in Gießenborn und Senkenthal, aber auch Markt Oppstein beliefert wurden.

Berchvögtin Sumudane war  offenkundig eine  Anhängerin der Alten Kulte. Galt aber mittlerweile als "gemäßigt", oder, für besonders eifrige Sokramorier, als "Verräterin". Nachdem das wohlhabende, viehreiche Berchweiler Land im Krieg immer wieder von Schattenländern und Goblins heimgesucht worden war, hatte es zuletzt eine vorsichtige Annäherung an das Baronshaus gegeben. Zumindest an das benachbarten Nordenheim.

Auch die Freisinnigsten wussten heutzutage Recht, Ordnung, Schirm und Schutz wieder zu schätzen. Im früheren Magierturm, der hoch über dem Jargeltal aufragte, war eine kleine Wache einquartiert worden, eben besagter Kastellan, Herdfried Gänsberg. Ucurian, Malachanias rechte Hand, hatte vor ein paar Jahren die Überreste der Großen Schlange zerstört, den schon lange entweihten Hesindetempel. Da er sie für eine alte Götzenstätte hielt, ähnlich der Steinernen Schlange von Paavi, die früher ebenfalls der Allweisen Herrin geweiht gewesen war. Sich in der Schlacht an der Trollpforte aber als gigantischer, agrimothisch belebter Golem entpuppt hatte, bemannt von zwei Dutzend Bogenschützen. Die der Dämonenmeister gegen den eroberten Todeswall geschickt hatte.

 

Eine vergessene, liegen gebliebene "Wandelfestung" war die Kleine Schlange von Berchweiler wohl nicht gewesen. Ihre feierliche Schleifung, mit Hammer, Meißel, Brechstange und Feuer, hatte dem Marktfriedwanger Siegestempel eine grimme Schelte eingebracht, durch die Halle der Erleuchtung in Rommilys. Malachanias musste zugeben, dass Serwa die Situation gerettet hatte. Indem die hesindenahe Baronin den Grund und Boden gekauft hatte, um sie der Traviakirche zu spenden, zur Gesichtswahrung aller Beteiligten.

An den Bau eines Praiosschreins, wie ihn Ucurian Lansborn vorgeschwebt hatte, als Ausgangspunkt für die Rückbekehrung der Sichelberge, war nicht zu denken gewesen. Die Hesindepriester hatten zischend daran erinnert, dass es die Mutter der Weisheit gewesen war, die ihren berühmten Trichter erschaffen hatte, um das Gift der Vielleibigen Bestie zu analysieren. Im Götterkrieg war Sie zu dem göttlichen Ratschluss zu kommen, dass die Gigantenweiber Sokramor, Hazaphar und Mithrida in gewaltige Waffen verwandelt werden mussten – als einzige Möglichkeit, das Zerrbild des Lebens selbst zu besiegen. In Erinnerung an das schlangenmäulige Infundibulum habe die Kirche dem Berchweiler Tempelchen seine ungewöhnliche Gestalt gegeben - aus keinem anderem Grund!

Einem Luminifer Ucurian Lansborn war bereits der Gedanke suspekt gewesen, tumben Bergbauernkindern ein wenig Lesen, Schreiben oder Rechnen beizubringen – und mit dem Unwissen zugleich die Götterfurcht zu mindern? Wissen und Erkenntnis sind die Fundamente des Glaubens, hieß es bei den Hesindianern. Ronderian Zabelstein, der Hohe Lehrmeister, war indes im Krieg umgekommen, der Schlangentempel von den Dunkelländern geschändet worden.

Mittlerweile stand an seiner Stelle ein züchtiges Haus der Travia, zur Empörung vieler "Altgläubiger" und Traditionalisten. Sogar Abgaben wurden wieder gezahlt, an die Schutzherren auf dem Friedstein, was früher keinesfalls selbstverständlich gewesen war.  Berchweiler galt nichtsdestotrotz als Hochburg der Sokramorier in der Baronie Friedwang. Erst vor kurzem hatte er mit Ihrer Hochgeboren darüber gesprochen, dass nach dem Sieg über Adran auch der eigene Stall ausgekehrt werden müsste.

Die rothaarige, hexisch wirkende Sumudane, die hätte auch er gestürzt. Aber gut, diese Aufgabe hatten jetzt andere für ihn übernommen. Die Eiferer des wirren Sokramorunglaubens, ausgerechnet. Bei Alvan Scheyadingsbums von Baernfarn, der spitzohrigen Edlen zu Nordenheim, mit ihrem verrückten Zweigottglauben, würde man sehen. Sie galt gemeinhin als enge Vertraute der Hornhusen, was tief blicken ließ. Malachanias neigte dazu, eine eher harmlose Exzentrikerin in ihr zu sehen: Adelige Weltenbummler und weitgereiste Seefahrer neigten oft zu Marotten. Ucurian hätte die "gestrandete Piratin" und "maraskanische Meuchlerelfe" am liebsten sofort aus der Mark verbannt.

Der alternde Büttel hatte sich mittlerweile ein wenig erholt. Offenbar war er Opfer eines leichten Praiosstichs geworden, unter seinem schweren Eisenhut und der wattierten Haube. Schnaufend saß er auf einem Bänkchen und ließ das Wasser über sein verschwitztes Haar rinnen.

"Wie konnte das passieren?" fragte Malachanias tonlos und meinte damit den Umsturz in Berchweiler.

"In den Bergen gärt es schon länger" sagte der Bote. "Irgendjemand muss den Bergbauern erzählt haben, dass die Unsrigen bei Drachweiler eine Niederlage erlitten hätten. Eine derbe Niederlage. Die Ismenischen wären auf der Flucht, nein, in heller Auflösung. Adran zieht schon auf Marktfriedwang, heißt es."

"Was für Dummköpfe!" Der Custos Lumini schüttelte verständnislos den Kopf. "Der Sämann der Zwietracht wandelt unter ihnen. Weiß man, wer der neue Berchvogt ist?"

"Der muss noch gewählt werden. Derzeit haben die Bauernfünfer das Sagen...Die fünf Berater des Vogts. Die reichsten Bauern im Ort. Senner, Misbrun, Freyschütz, Rudeiner...den fünften kenn ich nicht."

"Die Namen kommen alle auf die Liste. Man sollte derlei yesatanischen Unsinn gar nicht erst zulassen. " Malachanias pochte auf das Sonnenszepter an seinem Gürtel. "Sonst blüht bald dem ganzen Sichelhag das Chaos."

"Die Aufständischen versuchen auch die umliegenden Dörfer aufzuwiegeln, Herr", sagte der Bote. "Wer auf Seiten Adrans ist, der soll die Namenlosen Tage wieder auf die alte Weise feiern. Als Fest der Göttin der Dunkelheit, die über die unheiligen Nächte wacht." Betreten schlug der Mann die Augen nieder. "Feuer und Brand sollen in die Häuser der Obrigkeit gelegt werden. Verzeiht, das sind nicht meine Worte, Herr. Das mit Sokramors Wacht, meine ich."

"Ich hoffe sehr, dass es ebensowenig deine Gedanken sind", anwortete der Hexenkommissar knapp. "Es droht also offene Rebellion, auf Seiten des Unruhestifters Adran? Tsalinde, so wie es aussieht, habt Ihr schon jetzt Gelegenheit, Euren Fehltritt wieder gut zu machen. Etwas früher als gedacht. Lasst Euch im Schloss Schwert, Rüstung und Pferd geben. Wir brauchen jeden Kämpfer und jede Kämpferin."

"Sollten wir nicht besser auf Verstärkung aus Drachweiler warten?" fragte Tsalinde, die ebenso erschrocken blickte wie Mutter Herdegard.

"Mir scheint es wenig ratsam, unsere Kräfte zu zersplittern. Das Wichtigste ist, dass der Oppsteiner Hexenbaron geschlagen wird. Endgültig geschlagen. Er ist der geistige Anstifter des Aufruhrs. Womöglich mehr als das. Die Hälfte der Büßer wird mit uns nach Burg Friedstein reiten. Zusammen mit den verbliebenen Burgwachen haben wir eine ordentliche kleine Streitmacht zusammen. Um die Sokramorier von einem offenen Aufstand abzuschrecken. Und Entsatz für den Berchweiler Turms zu bringen...Die Landwehr könnte unzuverlässig sein. Jetzt gilt es, die Flamme des Aufstands möglichst schnell auszutreten, bevor daraus ein Flächenbrand wird."

Malachanias blickte Tsalinde an, mit durchdringenden blauen Augen.

Wenig später trabte eine Halblanze Büßer in Richtung Rübenscholl, Malachanias und die überrumpelte Tsalinde vorneweg, die, in Kettenhemd, ein echtes Schwert an der Seite, ungewohnt rondrianisch aussah. Ein klein wenig auch rahjagefällig, ob der Beckenhaube, die ihr liebliches Mädchengesicht ebenso verbarg wie betonte. Zu ihrer Rechten plätscherte die Rausche, während die wohlhabendste Gegend der Baronie in voller Pracht blühte. Rund um das stockkonservative, satte und zufriedene Senkenthal würde es so schnell keinen Aufstand geben.

Der Hexenkommissar hatte überlegt, ob er die gesamte Lanze aus Schloss Suunkdal abziehen sollte. Aber das hätte bedeutet, die Erbvögtin düpiert und schutzlos zurück zu lassen.

Einen kurzen Blick auf das Findelkind hatte er ebenfalls geworfen, das aber nur seinen Namen gewusst hatte: Firodil. Oder so ähnlich. So ganz hatte er das Kindergebrabbel nicht verstanden. Ein väterliches Tätscheln der blonden Haare hatte zwei kleine Beulen offenbart, die ein wenig an Hornknospen erinnerten. Ein Dämonenzeichen war es aber nicht, das hätte Malachanias gemerkt. Vor allem hätte es der kleine Firodil gemerkt, schließlich war er auf geweihtem Grund ausgesetzt worden. Madaverflucht schien er auch nicht zu sein.

Nach Hause, dass hatte sich das Kind ebenfalls gewünscht, und auf die Frage, wer ihn zum Kloster gebracht hatte, etwas von einer Muhme erzählt. Eine nicht sehr erquickliche Befragung. Was hatte er erwartet? In Friedwang wurden offenkundig auch Kleinkinder ausgesetzt, ob der grassierenden Not und Armut. Ein Bauernbalg, mehr nicht?! Womöglich hörte Malachanias mittlerweile selbst schon die Giftranken wachsen.

Seis drum, Sumudanes Absetzung bot eine einmalige Gelegenheit, für Ordnung in Berchweiler zu sorgen. Angeblich, laut einer alten Legende, war das Dorf einst von Magiern, Hexen und Druiden gegründet worden, die vor der "Priesterkaisertyrannei" in die Berge geflohen waren. Nun, es wurde viel Unsinn erzählt, über die angebliche Praiokratur, die in Wahrheit die längste Friedenszeit gewesen war, die das Neue Reich je gesehen hatte. Ein Reich der Sonne, in dem Praios Lichterglanz niemals erloschen war, vom theologisch gereinigten Bornland bis zu den bekehrten Götzenanbetern des Südens.

Malachanias kannte das buntscheckige, flatterhafte Volk der Zauberer. Es war völlig ausgeschlossen, dass Töchter Satuarias völlig einträchtig in einem Dorf zusammen lebten, um ein Heiligtum der Hesinde. Zusammen mit Vertretern der Magierzunft oder eigenbrötlerischen Sumuanbetern. Historisch einigermaßen verbürgt war, das Aldoria von Weldorn, eine Schwester des gestürzten Barons von Gallys, sich damals in der Gegend versteckt hatte, in einem Vorgängerbau des heutigen Weldornhofs. Später war diese Linie des Hauses Baernfarn zu Erbrittern von Nordenheim aufgestiegen - weswegen Gallys bis heute über einigen Einfluss in den Bergen verfügte. In der Wildermark war das Dorf eine Zeitlang durch Edorlyser Freischärler beschützt oder besetzt worden, je nach Sichtweise. 

Der Custos kannte die Anekdote, wonach Alrik damals versucht hatte, Alvan Scheyhatirgendwas von Nordenheim zur Berchvögtin von Berchweiler wählen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er ihr eine Herde erbeuteter Maultiere geschenkt, als unschlagbares "Stimmvieh". Nur leider waren die Grautiere in der Nacht vor der Wahl aus den Ställen oder Koppeln gelassen worden und hatten sich in den Bergen verstreut. Die berühmte, vielbelachte Maultierwahl des Jahres 1029, aus der Sumudane Hornhusen knapp als Siegerin hervorgegangen war...

Allzuweit her war es mit der Mär von der besonderen "Berchweiler Freiheit" jedenfalls nicht. Soweit Malachanias wusste, hatte es dort seit der Rohalszeit einen "reichsfreien" Steinbruch gegeben, dessen Bewohner aber keinesfalls frei gewesen waren. Als Sträflinge des Reiches hatten sie Granit brechen müssen, zusammen mit gefangenen Goblins.

Heldarn Edarna, ein adeliger Magus und Stammvater des Hauses Friedwang, hatte wohl in Wahrheit den Schlangentempel erbauen lassen. Zumindest war das Heiligtum durch den Edlen von Berchweiler erneuert worden, nach den Magierkriegen. Der frühere "Kriegsherr" der Baronie hatte durch die klugen Bestimmungen des Garether Pamphlets sämtliche Herrschaftsansprüche verloren. Stattdessen war sein Sohn Giselher zum ersten Baron des Hauses Friedwang-Glimmerdieck aufgestiegen. Heldarn hatte sich in seinen Magierturm bei Berchweiler zurückgezogen, um sich dort ganz der Sterndeutung und der Hesinderei hinzugeben.

Zu dieser Zeit hatte der Zauberer noch den Titel eines Edlen geführt, aber korrekt einen Vogt über seine Besitzungen eingesetzt. Nach Heldarns Ableben, mit fast hundert Jahren, hatte das Amt rasch ein Eigenleben enwickelt. Wenig später hatten sich die Berchweiler das Recht verbriefen lassen, ihren Vogt selbst wählen zu dürfen. Hernach hatte sich die Vogtwahl mit der Bergrechnung vermischt, der alljährlichen Verteilung der Sömmerrechte, bei der wiederum der Statthalter des Hauses Friedwang das letzte Wort gehabt hatte.

Der Berchvogt wurde seither gewählt, in dem die Bauern ihr Vieh durch das jeweilige Joch ihres Kandidaten hindurchtrieben, das dann, mit unterschiedlichem Wert, gezählt wurde, je nachdem, ob es sich um Stiere, Kühe, Kälber, Schafe oder Ziegen handelte. Im Zweifelsfall entschied das Gewicht auf der Viehwaage.

Ein merkwürdiger, umständlicher Brauch, das mit dem Stimmvieh, über den sich leicht schmunzeln ließ. Das Verfahren mochte rechtens sein, verbrieft und gesiegelt. Uralt oder gar "sokramorisch" war dieses Recht nicht, sondern erst großzügig vom Hause Friedwang gewährt worden. Wenn man es im Lichte des Praios betrachtete, dann besaßen die Freiherren nach wie vor das letzte Wort, im entlegenen Osten ihres Lehens. Dass die Berchweiler Sumudane Hornhusen abgesetzt hatten – was sie sogar durften - , mochte sich als Glücksfall erweisen. Der Weldornhof hatte einer freibäuerlichen Seitenlinie des Hauses Baernfarn gehört, die im Bethanierkrieg ausgestorben war. Heldarns Turm wiederum befand sich wiederum im Besitz des Hauses Friedwang, laut Alriks Rechtsauffassung.

Somit würde es vollkommen legitim sein, Baroness Tsalinde demnächst zur Rittfrau vom Weldornhof zu ernennen. Ein Amt, in dem sie Erfahrung in der Güterverwaltung sammeln konnte. Durch den Land- und Viehbesitz würde sie zudem das Recht erhalten, bei der nächsten Wahl zur Berchvögtin anzutreten. Der Rest ließe sich arrangieren. Bald schon würde das vermögende Bergbauerndorf zurück an die Friedwangs fallen. Zusammen mit den übrigen Gütern Marktfriedwang, Prähnskaten und Klosterdorf würde das eine respektable Hausmacht bedeuten, mit entsprechenden Einkommen. Ebenso die Möglichkeit, sokramorische Umtriebe schon im Ansatz zu unterdrücken.



Marktfriedwang, Erster der Namenlosen Tage, Erdstag, 1045 nach Bosparans Fall

 

Die Bühne des heiligen Mysterienspiels erinnerte Tsalinde auf Anhieb an ein Schafott. Das mochte zum einen am Beginn der verfluchten Zeit des Jahreswechsels liegen. Zum anderen daran, dass auf dem Marktplatz tatsächlich schon Blut geflossen war. Reichlich Blut, damals, beim Aufstand gegen die falsche Baronin Alara - Lebenssaft, der sich zartpurpurn in den Pfützen widerzuspiegeln schien, die der nächtliche kühle Regenschauer auf dem glitschigen Pflaster hinterlassen hatte.

 

Der Himmel über dem Sankt-Alborans-Platz war noch immer bewölkt. Praios blinzelte unsicher in Richtung Menschenwelt. Heute morgen hatte es ein wenig Aufregung gegeben, weil eine warzige Hexenkröte im Gänsebrunnen gesichtet worden war, paddelnd und quakend, unter der Statue des Heiligen Alboran. Natürlich waren sofort Bauernlümmel ausgeschwärmt, um die Unglücksbotin zu erschlagen. Tsalinde wusste nicht zu sagen, ob die Hatz Erfolg gehabt hatte – wenn ja, dann hatte der Mord an dem harmlosen Tier erst das Böse in die Ortsmitte von Marktfriedwang getragen.

 Womöglich lag es an der nahen Siegesbasilika und Praios Wirken, dass an einem beklemmenden Tag wie diesem dennoch Leben im Hauptort der Baronie herrschte. Die armen Neudörfler, die keinen eigenen Brunnen hatten, füllten ihre Butten am plätschernden Marktbrunnen, Hexentier hin oder her. Hier wurde ein eiernder Holzschubkarren gerollt, dort ein Paar geflickte Schuhe zum Kunden gebracht, durch den Lehrling der schönen Schuhmacherin Travianella.

Ein freilaufendes Schwein wackelte umher, Hühner gackerten, Tauben gurrten von den Dächern der vornehmen, schiefergedeckten, altehrwürdig krummen und teilweise überkragenden Fachwerkhäuser. Das einzige Ungemach, das Tsalinde bislang widerfahren war, war ein Tritt in eine Kuhflade gewesen.

Marktfriedwang hatte sich kaum verändert, seitdem die Baroness vor vielen Götterläufen in die Nordmarken aufgebrochen war. Natürlich nicht. Vermutlich hatte das Kaff schon vor hundert Jahren so ausgesehen.

Ungewöhnlich waren nur die Büßer, die allenthalben Wache standen oder Streife gingen, in matt glänzenden Harnischen, unter federgeschmückten Sturmhauben. Vom angedrohten Bauernaufstand war wenig zu merken. Die Heufuhre, die gerade das "Gallyser Tor" blockierte (wie das südliche Torhaus hochtrabend genannt wurde), war mit Karacho gegen einen Prellstein gefahren und mit Radbruch liegen geblieben. Gebrochene Räder, die waren immer ein schlechtes Vorzeichen, zumindest für den Bauern, der sie auswechseln durfte. Mit Absicht war das Unheil jedenfalls nicht geschehen. Noch schwang niemand den Dreschflegel oder Fackeln gegen die bigotten Zwölfler.

An eines der Fachwerkhäuser hatte jemand blutrote Widderhörner geschmiert, eine Zeichnung, die gerade von einer schwitzenden Baronsgardistin abgeschrubbt wurde.

Die schwere Eingangstür des verhassten Bleiturms (in den schon so mancher Zauberkundiger geworfen worden war) hatte ein nächtliches Strohfeuer angekokelt. Vom Narrenstüblein, unter der Rathaustreppe, her war helles Rasseln und Klingeln zu hören. Eine Delinquentin schritt missmutig auf den Hexenturm zu, "geschmückt" mit einem eisernen Schellengürtel. Zwei Tempelwachen stießen die zerknirschte Halbwüchsige vorwärts. Würde sie einen Fluchtversuch unternehmen, dann wären die Schellen weithin zu hören. Offenbar eine Altkultistin.

Tsalinde knabberte an einem Fingernagel, beim Gedanken an das klingelnde Schelmengewand, das sie beim Einbruch ins Kloster Alveranskuppen getragen hatte. Sie versuchte ihrer "Schicksalsgefährtin" aufmunternd zu zu zwinkern, aber die Bauerntochter hielt ihren Kopf zerknirscht gesenkt und beachtete sie kaum. Die Sokramorierin hatte einfach nur Pech, während der Namenlosen Tage und dem dreitägigen Praiosfest tagte das Niedergericht nicht. Wahrscheinlich würde sie eine ganze Woche auf fauligem Stroh verbringen müssen, im Halbdunkel, umwuselt von Ratten, bei Wasser und Brot. Während andere Neujahr feierten.

Am Pranger stand ein bereits abgeurteilter Sokramoranbeter mit Schandmaske, in Form eines eisernen, rostroten, grotesken und hauergeschmückten Schweinekopfs.  Kein Zweifel, für Malachanias waren die Alten Kulte nichts weiter als "säuischer" Rotpelzaberglaube, eines zivilisierten Zweibeiners unwürdig. Tsalinde wollte gar nicht daran denken, dass sie selbst die Freundin zweier Feenwesen war, die echte, borstige Eberköpfe trugen. Irgendwie kam sie sich im Moment ungeheuer scheinheilig vor

Ein rotfelliges, kahlschädeliges Gesicht starrte Tsalinde an, nicht Mensch, nicht Goblin. Es war Burchert der Halbgoblin, der vor ihrem inneren Auge erschien, ohne jede Vorwarnung. Zornig war er nicht, eher freudig überrascht. Die Baroness hielt dessen Zipfelmütze in der Hand. Hatte sie dem Druiden die magiebannende Kopfbedeckung abgenommen? Der Feensträfling legte die behaarte Hand auf ihre Stirn und formte lautlose Worte, mit seinen äffisch wirkenden, dicken Lippen: "E-r-i-nn-e-r-u-n-g ..... v-e-r-l-a-ss-e d-i-ch!"

 

Tsalinde erwachte aus der Vision, oder besser gesagt, der jäh aufblitzenden Erinnerung.

War das des Rätsels Lösung? Hatte Burchert sie beschwatzt, ihn zu befreien? Schemenhaft sah sie den verbannten Rotbart wieder vor sich, der das kleine Kind an der Hand hielt. Firodil....Ganz sicher war sich Tsalinde nicht mehr, dass der Junge vor ihr durch das Feentor gegangen war.

"Nein-ich-werde-dem-Wahren-Glauben-niemals-abschwören!Mein-Gott-ist-Praios-der-Herr-des- Sommers- und-des-Lichts!" Oben auf der Bühne fand gerade eine Probe für das Mysterienspiel statt, aufmerksam begutachtet von ein paar Kindern. Am dritten Tag des Praios würde das Auszugsfest gefeiert werden, das an den Exodus des Heiligen Alboran aus dem sündigen Gallys erinnerte. Mitsamt der 14 Familien, die in den Dunklen Zeiten das schöne Nordenheim gegründet hatten, am Jargel, mitten im Schratenwald.

Es war niemand Geringeres als der Heilige Alboran, der dort oben seine Glaubensfestigkeit beteuerte, auf knarrenden Brettern. Ein leidlich gut aussehender Dorfbursche, der noch keine Verkleidung trug. Die Rolle hatte nach wie vor der schnöselige Edelfried inne, dieser Möchtegern-Schauspieler. Dann musste es die strohdumme, aber verlockend hübsche Hildmara sein, die ihm gegenüberstand und die Heilige Artema mimte. "Firun...will...will...möchte...", reklamierte die Dienstmagd mühsam.

"Dass wir zuerst dem Wintergott ein Haus weihen", half irgendeine pausbäckige Souffleuse. "Firun, dem Sohn der finsteren Gigantin Sokramor..." fügte sie hinzu. Die Geschichte der beiden Streitenden Heiligen war nun wirklich abgedroschen, auch wenn das Mysterienspiel alle paar Jahre ein wenig verändert wurde. Früher war darin gerne  gegen die Nachbarbaronie Gallys, die Baernfarns und deren "Elfenheilige" gehetzt und gestänkert worden. Seit der Verheiratung Baron Alriks mit ihrer Mutter, Serwa von Baernfarn, kam das einfältige Stück ein wenig ausgewogener daher.

Aber wirklich nur ein wenig. In der neuesten Version schien Artema wieder als zwielichtige Wegbereiterin der Alten Kulte dargestellt zu werden, gegen die ein Praiosdiener wie Sankt Alboran standhaft sein musste. Tatsächlich wurde der künftige Baron von Schratenwald von der "Heiligen Praiociosa" bearbeitet, die hinter ihm stand und in Richtung der Sonne blinzelte. Die Schauspielerin hieß Praiodane und galt als einfältige Frömmlerin. "Lenker der Sonne und allen menschlichen Geschicks, steh uns bei gegen den Unglauben in der Schwarzen Sichel!" rief sie theatralisch, aber mit klarer, fester Stimme.

Unter dem rotgolden gestreiften Baldachin war wieder eine Art wolkengeschmückte Empore oder Tribüne aufgebaut worden, auf der die Zwölfgötter Platz nehmen würden. Dieses Zwischenspiel hatte Tsalinde früher am besten gefallen: Praios, Rondra, Efferd....kommentierten das närrische Treiben der Menschen, von Alveran herab, und bauten jede Menge Ortsgeschehen ein. Der trinkfeste Zwölferrat war eine freche friedwanger Institution, Garant für herzhaftes Gelächter. Verrucht nahe an der Götterlästerung, aber beim Volk viel zu beliebt, um vom gestrengen Prätor abgesetzt zu werden.

Auch Yel´Arizel war eine Rolle, die Tsalinde zum Schmunzeln brachte: Der Sämann der Zwietracht hatte eine gespaltene Zunge aus Papier, die er immer wieder aufblies, war grell geschminkt, besaß Fledermausflügel, spitze Ohren und einen Pfeilschwanz, außerdem einen großen Sack voll Münzen und Süßigkeiten, die er zuletzt ins Publikum warf, was jedesmal eine tolle Balgerei auslöste. Yel´Arizels Aufgabe war es, Kaiser Usim-Horas zu beschwatzen, der verführerisch schönen, aber eiskalten Waldläuferin Artema und nicht dem wackeren, gutherzigen Burghauptmann von Baliho die Herrschaft über Gallys zu übertragen.

Als geborene Gallyserin und Baernfarntocher kam sich Tsalinde ein wenig verloren vor, im überschaubaren Publikum. "Musiziert" würden auch werden, mit Trommeln, Sackpfeifen und Tröten, und am Ende der jubilierende Alboranschoral gesungen werden. 

Früher, während der Erbfeindschaft, sollte Artema noch als betrügerische Elfe dargestellt worden sein, aber irgendwann hatte der Protest der Firunskirche überhand genommen. Dennoch, die einstige Schmähversion des Mysterienspiels war näher an der Wahrheit als die fromme Legende. Das wusste Tsalinde jetzt aus erster Hand. Die Baroness musste an ihr "hochphilosophisches" Gespräch im Wipfelpalast denken. Irgendwie brachte die Adelige die echte Artema auf ihrer Schaukel nicht mit der drallen, aber völlig geistlosen Dorfschönheit da oben zusammen. Was für ein schlecht gespieltes Provinztheater! Marktfriedwang wär´ ein Gnadenort, gäbs nicht so viele Lumpen dort. Der Reim aus einem Spottlied der Nordenheimer kam ihr in den Sinn, die längst wieder zum Firunsglauben gefunden hatten.

Unter dem Baldachin lagen allerhand Requisiten und Kulissenbilder herum; das lichterloh brennende Baliho, der feurige Stierdämon der Orken (der ein wenig an einen lebendig gebratenen Ortlieb erinnerte), Stangen, Seile, eine Kurbel und ein gutmütig grinsendes Sonnengesicht.

Wenn es noch die gleiche Dekoration war wie in ihrer Kindheit, dann würde die Praiosscheibe über die Köpfe der Mysterienspieler hinweg gekurbelt werden, an einem Seilzug, und am höchsten Punkt innehalten. Zum Stillstand gebracht vom Götterfürsten selbst, der solcherart die Zeit angehalten hatte, wie in einer gewaltigen, streng geordneten Weltenmechanik.

Außer für die fliehenden Balihoer. Die erstarrten, schwarzgeschminkten, felltragenden Orken, die feixend und kichernd in den merkwürdigsten Posen verharrten, an die vermochte sich Tsalinde ebenfalls noch zu erinnern. Solche Statistenrollen waren eine Aufgabe für die Kinder und Halbstarken gewesen. Dort drüben lugte Greif Nerdan hervor, der Alborans Exodus voranfliegen würde. Durchschimmerndes blaues Tuch und ein grobes Netz waren ebenfalls zu sehen, für die letzte Szene, in der Alboran durch den Orkhäuptling in die Tiefe der Orckensauffe gezogen wurde. Bevor Fischer seinen unversehrten Leichnam bergen und der Heilige gen Alveran aufsteigen würde, zu den Unsterblichen Zwölfen, mit Hilfe einer Leiter.

Irgendwie beschlich Tsalinde das Gefühl, ein weiteres Mal entführt worden zu sein. Dieses Mal durch Hochwürden Malachanias, aus der heimeligen Klosteridylle von Sumus Säule. Entführt und zur Büßerin erklärt. Ging es darum, wer am meisten Einfluss ausüben konnte, auf die künftige Baronieerbin? Krawall und Aufruhr hatte sie jedenfalls nicht wahrgenommen, auf dem holprigen Weg in den Marktflecken. Niemand schwang den Dreschflegel oder zündete Strohfeuer an. Auch in Friedwang selbst herrschte eher bleierne Ruhe, zu Füßen der altehrwürdigen Baronsburg.

Gestern hatte sie fast den ganzen Tag bei Serwa verbracht, ihrer Mutter, die am 30. Rahja Geburtstag feierte, ein Ehrentag, der nur im kleinen Kreis begangen worden war. Tsalinde hatte ihr das Feengewand geschenkt, das sie sorgfältig vor Malachanias verborgen hatte. Ein Geburtstagsständchen hatte sie ebenfalls dargebracht, auf der Laute. "Deine Rückkehr ist mein schönstes Geschenk", hatte Mutter geflüstert und sich eine Freudenträne aus dem Auge gewischt.

Vor allem die Geschichte mit "Firodil" hatte es der Baronin angetan und Serwa ihrer Tochter versprochen, rasch eine angemessene Pflegefamilie zu finden. Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, Tsalinde ein warmes, dampfendes, nach Kräutern duftendes Bad zu bereiten. In Rufus Munkels Badstube oder den Darpatthermen hätte sich die Knappin nicht besser erholen können. Mutter und Tochter hatten sogar gemeinsam gebadet, ein herrlicher Spaß, mochte der eine oder andere Diener auch mit Kopfschütteln reagiert haben.

Firodil...Firodil. Je mehr Tsalinde an den "Dritten Tag" zu denken versuchte, desto mehr entzog sich ihr die Vergangenheit, wie ein zappelnder, glitschiger Fisch - was sie zugleich beunruhigte wie besänftigte.

Onkel Bishdarielon, der sollte im Khomkrieg mit dem Stab des Vergessens berührt worden sein, durch den ebenso grausamen wie skrupellosen Patriarchen Tar Honak daselbst.

Und darob sein ganzes bisheriges Leben vergessen haben, als Baronssohn, der in die Al´Anfanische Sklaverei verschleppt worden war. Es musste seltsam gewesen sein, plötzlich im nächtlichen Unau gestanden zu haben. Ohne zu wissen, wie man hieß, wer man war, wie man überhaupt an diesen Ort gelangt war – auf welcher Seite man stand. Bisch hatte erzählt, dass er sich wie ein Schiffbrüchiger gefühlt habe, mit einem unbekannten Strand vor sich und einem Meer aus fehlender Erinnerung hinter sich. Tsalinde hatte dieses Bild nie richtig verstanden. Schiffbrüchig...Meer… das alles inmitten der größten Wüste Aventuriens?

So langsam ahnte die junge Frau, was ihr golgaritischer Verwandter gemeint hatte.

Es fühlte sich schauderhaft an, wenn auch nur ein einziger Tag im Leben fehlte. Ganz abgesehen davon, dass dieser eine Tag in der Feenwelt auf Dere mehrere Monde gedauert hatte. Vielleicht war ihr halbwüchsiger Oheim sogar glücklicher gewesen. Wie in einem Traum sollte Bishdarielon sich gefühlt haben. Von dem er nicht wusste, ob es ein fürchterlicher Alptraum oder Bishdariels Paradies gewesen war.

Wer keine Vergangenheit mehr hatte, nun, der hatte auch deren Last hinter sich gelassen. Bishdarielon war quasi neu geboren worden, mit geläuterter Seele. Zumindest bis zu dem Moment, als Amir Honak die Stirn des Ordensritters mit dem anderen Ende des Stabs berührt hatte. Um den langjährigen Leibwächter gleich danach in die Sklaverei zu schicken, als dessen "wahre Bestimmung".

Tsalinde blickte befremdet an sich herunter, wie Bisch damals an seinem staubigen Burnus.

Sie trug noch immer Kettenhemd, Schwert und Beckenhaube, letztere unter dem Arm. Das alles fühlte sich wie eine lächerliche Verkleidung an. Serwa hatte ihr geraten, die Rüstung anzubehalten. In der Rolle der Büßerin wäre sie vor allzu bohrenden Nachfragen geschützt. Vor allem würde sie als künftige Baronin ernst genommen, jedenfalls nicht als Drückebergerin wahrgenommen werden. Als Tsajüngerin, inmitten einer Fehde mit den Nachbarn. Besonders kriegerisch war die Stimmung in Markt Friedwang nicht, trotz der Vorfälle in Berchweiler. Von den wenigen verbliebenen Baronswachen zeigte niemand Eifer, während der Zeit der Sternenleere in einen weiteren Feldzug zu stapfen. Noch dazu in die friedwängische Wildnis.

Im Moment schien sie auf dem Marktplatz niemand als Baronieerbin zu erkennen, was Wunder, nach Jahren der Abwesenheit. Tsalinde beschloss, hinüber in den Siegestempel zu gehen und den Prätor nach dessen weiteren Plänen zu fragen. Zwei Posten standen am Eingang des Wehrtempels Wache und grüßten respektvoll.

Sie schritt über den Gadenhof und beschloss, zunächst das prachtvolle Tor anzusteuern, das unter einem Vordach mit Szenen aus allen drei Dämonenschlachten geschmückt war, unter der großen Greifensolette.

Über allem ragte die Kuppel auf, mit ihren tragenden Säulen. Flankiert wurde die Basilika von den vier luftigen Gongtürmchen. Tsalinde trat in die kleine Vorhalle und dann in das eigentliche, lichtdurchflutete Solatrium. In den großen Glasfenstern waren die Szenen aus dem Leben des Heiligen Alboran zu sehen, die draußen auf dem Marktplatz nachgespielt wurden. Überall brannten reinweiße Kerzen, auf Kandelabern und eisernen Tischen. Eine Novizin war damit beschäftigt, herabgetropftes Wachs aufzusammeln oder wegzukratzen. Ansonsten war sie allein.

Vor den Stufen, die zum Altar führten, ragte der große Heliodangsgong auf, der an Praios- und Festtagen zum Götterdienst rief. Ansonsten bestand die Aufgabe der Scheibe darin, die Größe der Greifenstatue zu betonen, die hinter dem zwölfseitigen Altar aufragte, mit weit ausgebreiteten Schwingen. Als wäre Praios Sendbote gerade aus dem Lichtermeer hereingeflogen, das durch die mächtigen Fenster hinter ihm hereinbrandete. Und habe dabei das Lux Aeterna mitgebracht, aus der gleißenden Götterburg Alveran. In seiner rechten Klaue hielt er die strahlengeschmückte, laternenähnliche Monstranz, durch deren Glasscheiben reinweißes Licht in den Tempel strömte.

Ein süßer, schwerer Wohlgeruch lag in der Luft, der von den Räucherschalen aufstieg, in denen Sandelholz und Weihrauch brannte. Beinahe sofort fiel die nagende Unruhe von Tsalinde ab, die sie draußen auf dem Alboransplatz geplagt hatte. Ihr namensgebender Vorfahre wurde im rechten Seitenaltar von St. Alboran verehrt, gleich gegenüber dem Erzheiligen Gilborn aus Punin. Die Baroness vermehrte den Schein des Ewigen Lichts, indem sie eine Opferkerze spendete. Zum Wohlgeruch trug ein kleiner Bernstein bei, den sie in die daneben stehende Feuerschale legte, ebenfalls gegen ein paar Münzen.

Dann kniete sie vor dem marmornen Altar nieder, und spürte den harten Boden, trotz der scharrenden Beinschützer. Wenn sie gehofft hatte, dass der Druidenzauber von ihr abfallen würde, sobald sie die Lichthalle betrat, dann wurde diese Hoffnung enttäuscht. Sie musste an das verschwommene, milchige, unstete Licht der Feenwelt denken, dass dem überderischen Glanz im Solatrium geähnelt und gleichzeitig widersprochen hatte. Im Haus des Praios wirkte alles klar und geordnet, unverrückbar und rein, unter dem Kuppelgewölbe. Kein einziger Schatten war rund um das Allerheiligste zu sehen. Oben, auf der Empore, von der aus man die Seitentürmchen erreichen konnte, stand eine Gestalt, deren genaues Aussehen ihre geblendeten Augen nicht wahrnehmen konnten.

Wenig später trat der Zuschauer näher, mit hallenden Schritten: Ein gewichtiger Mann mit rötlichen Haaren, leicht abstehenden Ohren und prachtvoll besticktem Wams, das einem Rommilyser Kaufmann Ehre bereitet hätte. Noch prachtvoller war nur noch der feiste Wanst, der sich unter dem feinen Tuch wölbte.

Der dicke Hals wurde durch einen leicht geckenhaften Mühlsteinkragen verdeckt, unter dem ein Sonnenamulett baumelte. Nun erkannte Tsalinde ihren Besucher, der ein samtglänzendes Kissen in Händen hielt. Ewald Karrer war Besitzer der Brauerei Hergoldsbräu, gleich neben dem Güldenen Greifen, als vornehmstes Wirtshaus des Marktfleckens. Außerdem Ratsherr und Vorsteher der Praiosgläubigen im Marktrat. Ein Bruder von Helmbrecht Karrer, dem Schultheiß, ebenso von Ingrimma Karrer, die Besitzerin der nahen Waldglashütte sowie ebenfalls Ratsherrin war. Eine beeindruckende Ämterhäufung innerhalb der Familie. Allerdings wusste Tsalinde, selbst als "Nordmärkerin", dass Brüderchen und Schwesterchen völlig zerstritten waren.

Es gehörte zur besonderen Machtstellung der Familie Karrer, dass sie gar nicht so leicht zu benennen war, auch und gerade im reinweißen Licht des Praios nicht. "Kaufleute", diese Bezeichnung war ein wenig zu hoch gegriffen. Ewalds Vorfahren hatten als wohlhabende Großbauern und Viehhändler in Senkenthal gelebt, nun zählte er eindeutig zu den Honoratioren des barönlichen Residenzortes. Nur die verfeindete Bleigießerdynastie Butzenbinder vermochte noch einigermaßen mit dem Einfluss der Karrers mithalten.

Ewald spendete zwei protzige Kerzen, ebenso einen Bernstein, der deutlich größer war als Tsalindes bescheidene Opfergabe. Dann platzierte er sein kostbares Kissen neben der Baroness.

"Ihr gestattet, Wohlgeboren?" schnaufte der Honoratior.

Die Baronstochter legte die Hände gegeneinander und nickte knapp. Der Braumeister ging schwerfällig in die Knie, schlug das Praioszeichen und tat, als wollte er beten. Ewald murmelte etwas, das auswendig gelernt klang, und wandte sich dann Tsalinde zu.

"Die Monstranz habe ich gespendet", tat der Karrer halblaut kund. "Feinste Goldschmiedearbeit. Nicht aus Rommilys. Aus Gareth. War nicht ganz billig..."

"Wie überaus lobenswert", sagte Tsalinde und klang ein wenig spitz. "Sankt Alboran und der Heilige Gilborn werden es Euch sicherlich überreichlich vergelten."

Ihr Blick ging über die Schulter. Sie beide knieten genau zwischen Altar und Gong, ein Platz, der vom Tempeleingang her schwer einsehbar war. Die Baroness ahnte, dass diese Stelle gerne für "vertrauliche" Gespräche genutzt wurde. So widersinnig der Gedanke auch sein mochte, in einem Praiostempel. Womöglich glaubte Ewald, der oben auf der Empore "gelauert" hatte, dass sie es gewesen war, die ihn zu einer diskreten Plauderei hatte einladen wollen.

Ein weiches Kissen, das hätte sie jetzt ebenfalls gerne unter ihren Knien gehabt. Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Altes Sprichwort. Durfte sie sich dem berüchtigten Ränkeschmied neben sich, der angeblich seinen Spezl Gernot zurück an die Macht gebracht hatte, wirklich überlegen fühlen? Vor kurzem hatte Tsalinde noch mit einer Hohen Fee über eingebildete Götter und deren Seelenernte geplaudert...oder mit Lichtwichteln getändelt, statt sich vor Ewigen Lichtern zu beugen.

Ewald schien ein wenig eingeschnappt zu sein. Seine Katzbuckelei vor ihr, der Adeligen, war nicht gespielt. Also probierte es die Baroness mit einem freundlichen Lächeln und einer Floskel.

"Man erhält an diesem Ort neue Zuversicht, nicht wahr, in einer derart unsicheren Zeit?"

Der Dicke nickte, soweit sein Doppelkinn es zuließ. "So ist es, bei allen Heiligen. Wie steht es um Oppstein? Ich habe gehört, die Unsrigen hätten dort einen großen Sieg errungen?"

"Ein entscheidender Sieg war es nicht. Aber Drachweiler befindet sich bereits in Händen Ismenas. So es den alveranischen Göttern gefällt, wird diese Fehde bald siegreich beendet sein."

"Beten wir dafür", grunzte der Braumeister und blickte ehrfürchtig zum Altar. "Ebenso, dass die Namenlosen Tage ohne größeres Unheil vorübergehen."

Tsalinde nickte. Okdarn Karrer, ein weiterer Bruder und früherer Schultheiß, sollte irrsinnig geworden sein, als er einem geflügelten Etwas ansichtig geworden war. Dass sich zwischen den Jahren auf dem Dach seines Hauses niedergelassen hatte, während des Bethanierkriegs. Zerline, die mit Gundo Karrer und in zweiter Ehe mit Kanzler Herdmund Weißenkohl verheiratet gewesen war – nun, bei Ewalds steinherziger Schwägerin sollte es sich um eine Paktiererin des Gierigen Feilschers oder gar selbst um eine Anhängerin des Dreizehnten gehandelt haben. Zerline, die Schwarze Witwe.

Eine alte Frau in schwarzen Gewändern, mit hagerem, eingefallenen Mumiengesicht, die Stoppelhaare grau und kurz geschnitten. Ihre kalten, leblosen Augen schienen Tsalinde zu durchbohren. Sie fletschte ihre Fangzähne. Hob die krallenbewehrten Hände. "Gib mir das Balg", krisch die Vampirin. "Und ich werde dein Blut verschonen." Die Blutsaugerin wirkte erbärmlich, abgemagert. Ausgehungert. Die Kreatur ähnelte mehr einem Tier als der Mensch, der sie vor langer Zeit einmal gewesen war.

Die Baroness schreckte hoch, aus ihrem erneuten Traumgespinst. Nun war es am frommen Ewald, dünn zu lächeln.

"Zerline ist tot. Endgültig tot. Gepflockt und zu Asche zerfallen."

"Ww..was?"

"Gerade habt Ihr an meine Schwägerin gedacht, Wohlgeboren. So ist es doch?" Wieder ein frommer Blick zur Monstranz. "Im Ewigen Licht unseres Herrn Praios bleibt keine Wahrheit verborgen."

"Woher wisst Ihr das?" Tsalinde war perplex. "Könnt Ihr ebenfalls Gedanken lesen?"

"Ich bitte Euch, Wohlgeboren. Die Schwarze Witwe ist der große Schwachpunkt in unserer Familiengeschichte. Der dunkle Fleck. Ein Makel, der nicht weichen will. Wenn jemand ein Gesicht zieht, wie Ihr gerade...in meiner Gegenwart. Dann ist es wahrlich nicht schwer, zu erraten, an wen er gerade denkt. Auch ich wusste lange nicht, was aus Gundos Witwe geworden ist. Bis Hochwürden Malachanias das Tagebuch von Inquisitionsrat Rabensang wiedergefunden hat."

"Zweifelsohne eine spannende Lektüre." Tsalinde kämpfte um innere Haltung, was nicht nur am Ymrablitz lag. Es war, als würde gerade etwas Namenloses von außen her in diesen Tempel kriechen, wie kalter Hauch oder giftiger Nebel.

Sie hatte Ewald Karrer unterschätzt. Wie eine dumme junge Schwertkämpferin, die sich leichtsinnig auf einen vermeintlich schwerfälligen Gegner gestürzt hatte.

"Was steht denn so drin...im Tagebuch?" hakte sie nach und versuchte, eben wie eine junge, naive Adelige zu klingen.

"Hochwürden hat mich nicht darin lesen lassen, falls Ihr das meint. Aber wir beide haben ein durchaus  vertrauensvolles Verhältnis." Der Karrer lächelte selbstgefällig. "Die Wahrheit ist mitunter schmerzlich, aber wenn wir sie verdrängen oder vergessen wollen, mag weitaus mehr Leid daraus erwachsen."

"Vergessen?" echote Tsalinde. Sie hatte tatsächlich laut gesprochen, so dass das Wort ein wenig im Tempel nachhallte.

Ewald ging darüber hinweg. "Zerline war eine schwierige Schwägerin, fürwahr. Eine geborene Stichelstroh, keine wirkliche Karrer...in den Wilden Zeiten soll sie....Gilborn steh uns bei...von einem Vampir gebissen und ebenfalls in eine Blutsaugerin verwandelt worden sein. Praioslob konnte sie rasch vern...erlöst werden. Sie soll zu Asche zerfallen sein....in Gallys war das, bei Bärenried, oder wie der Gutshof heißt."

"Beornsried?"

"Ihr kennt Euch aus, Wohlgeboren." Ewald wischte sich ein paar Tränchen aus den Schlupflidern. "Verzeiht, Zerline war trotz allem ein Familienmitglied. Wenn auch nur für kurze Zeit eingeheiratet. Früher meine ich. Vor der Erhebung. Ihr zweiter Traviabund, mit diesem intriganten Kanzler Herdmund Weißenkohl, hat sie gewiss mehr geprägt. Sie war nicht immer...so...so..."

"Bissig?" Tsalinde spürte, wie ihre gewohnte aristokratische Selbstsicherheit zurückkehrte.

Der Ratsherr zuckte mit den Schultern. "Selbfried Rabensang hat Zerlines Asche aufkehren und in den Jargelbach schütten lassen. Es wurden Gebete gesprochen, so dass es eine zwölfgöttergefällige Bestattung war. Dafür sind wir dem Inquisitionsrat überaus dankbar." Ewald klang kein bisschen sarkastisch. "Mir scheint, die Kirche hat die Verdienste von Walerian Karrer nicht vergessen, der ein berühmtes und hochgelobtes Mitglied des Bannstrahlordens war. Ein echter Karrer noch dazu."

Tsalinde runzelte die Stirn. Walerian Karrer, der Zorn des Praios, den Namen hatte sie schon gehört. "Berühmt" und "hochgelobt"? Soviel angenehmer als Zerline sollte der Geißler nicht gewesen sein. Die Stimme ihrer Mutter bebte noch immer vor Haß, aber auch Furcht, wenn sie über den fanatischen, völlig verrückten Hexenbrenner sprach. Der mit einem weißen Nachtwind Jagd auf Zauberkundige gemacht hatte. Der Oppsteiner Hofrichter sollte sogar Dythlind von Bregelsaum ermordet haben, die Baronin von Mistelhausen, bevor ihn die Töchter Satuarias zur Strecke gebracht hatten.

"Vielleicht ist es nicht der richtige Ort und die Zeit, um über solche Dinge zu sprechen", sagte Tsalinde leise. "Wir sollten die unseligen Jahre der Wildermark ein für alle mal hinter uns lassen."

Ewald Karrer seufzte schwer. "Sagt das den Verrückten in Berchweiler....die sich noch immer an das Vergangene klammern."

"Nun, der Aufstand auf Seiten Adrans scheint mir eher ein laues Lüftchen zu sein." Tsalinde war froh über den Themenwechsel.

"Ungehorsam gegen die Obrigkeit muss bestraft werden, Euer Wohlgeboren." Auch der Braumeister schien mit dem Gedanken an die Schwarze Zerline abgeschlossen zu haben.

"Soweit ich weiß, verfügt das Bergdorf über alte, verbriefte Rechte. Bevor gestraft wird, muss erst einmal geurteilt werden. Bevor ein Urteil gesprochen und gerichtet werden kann, muss erst einmal die Wahrheit bekannt sein. Die ganze Wahrheit." Tsalinde lächelte in die Lichtkugel. Irgendetwas in deren sphärischen Leuchten schien ihr sogar Recht zu geben. "Nur so entsteht wahre Gerechtigkeit und eine dauerhafte Ordnung."

"Weise Worte", schmeichelte der Ratsherr. "Aber es ist bekannt, dass die Berchweiler mitunter auf verschrobene Gedanken kommen, da draußen in ihrer Einöde..."

"Immerhin, das ehemalige Reichsgut Rohalingen..."

"Das mit der Reichsfreiheit ist, mit Verlaub, Unsinn" sagte Ewald und reichte Tsalinde einen grauen, leicht schimmernden Gesteinsbrocken. "Der Steinbruch dort war zu Rohals Zeiten einmal ein Krongut, aber glaubt mir, dort hat alles andere als Freiheit geherrscht. Übrigens wird bei Berchweiler streng genommen Gneis abgebaut, nicht Granit, wie viele behaupten. Außerdem Hornfels, bestens geeignet für Schotter."

Tsalinde tastete über das Steinchen, das im Ewigen Licht, nun ja, nicht gerade magisch funkelte. Aber doch ein überderisch wirkendes, zartes Glitzern verbreitete, das sie von Burg Friedstein her kannte. "Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess ich nimmer", murmelte sie.

"Wie ich sehe, kennt Ihr Euch aus", sagte Ewald erstaunt. "Das ist genau die Mischung, die Gneis ausmacht."

"Der Name unseres Hauses ist Friedwang-Glimmerdieck. Was im Westen unseres Reiches soviel wie Schimmerteich bedeutet. Wir lieben alles, was funkelt..."

"Da hat Euer Haus mit den Karrers etwas gemeinsam. Vor einigen Jahren hat mein Neffe Traviano den Steinbruch erworben. Der eigentlich nur wegen der Kriegswirren aufgelassen worden ist. Die Wachen für die Sträflinge wurden anderswo nötiger gebraucht. Travianos Gedanke war einfach, aber hesindial: Sowohl Burg Friedstein als auch die Abtei Alveranskuppen sind aus Berchweiler Granit erbaut worden, wie das Gestein üblicherweise genannt wird. Es muss also früher einmal eine Wegeverbindung gegeben haben. Hohlwege, die geradewegs zum Friedstein, aber auch in Richtung Kloster geführt haben. Leider sind die vollkommen zugewuchert und verschüttet. Er hat den Berchweilern vorgeschlagen, sie freilegen zu lassen, auf eigene Kosten. Was war der Dank? Unfrieden und Geschrei. Der Lefthannswald gilt den Sokramoriern sogar als eine Art heiliger Hain, rund um die heilkräftige Eselsquelle..." Ewald verzog den Mund.

"Zum Glück lohnt sich selbst noch der Umweg durch das Jargeltal. Baustellen gab es in den letzten Götterläufen genug, Schloss Suunkdal, der Wiederaufbau der Abtei, die neue Priorei Sumus Säule...dann der Rahjatempel zu Gießenborn oder der Oppsteiner Hof. Vom Senkenthaler Boronanger, den zerstörten Bauernhöfen oder der notwendigen Reparatur der Reichsstraße ganz zu schweigen. " Der Braumeister schloss genießerisch die Augen, als würde er gerade ein frisch gezapftes Hergoldsbräu schlürfen.

Tsalinde verstand. Die Karrers, die im Krieg herbe Verluste erlitten hatten, waren in letzter Zeit wieder steinreich geworden. Besaßen reichlich Schotter, wie ihr Vater gerne spottete. Für den neuen Wohlstand mussten arme Steinhauer schuften, meist Kleinbauern,  von denen es in Berchweiler einige gab. 

"Die ganze Baronie profitiert von diesem Steinbruch, kaum weniger als von der Fürstenmine zu Gießenborn. Aber Ihr wisst ja, was für einen Unsinn die Götzenanbeter schwatzen. Im Bergwerk lauert der giftige Odem der Vielleibigen Bestie..." Ein hastig geschlagenes Sonnenzeichen, gefolgt von einem inbrünstigen Kuss auf das Greifenamulett. Tsalinde merkte, dass auf der Rückseite das Allsehende Auge des Götterfürsten eingraviert war. Solche Amulette waren das Erkennungszeichen der Ehrbaren Sankt Alborans-Gesellschaft gewesen, einer frommen Betgemeinschaft, die sich früher um das Mysterienspiel, den Praiosschrein auf der Burg und die Förderung des Wahren Glaubens bemüht hatte. Ob zahlreicher Ränke und Intrigen war der "Geheimbund" (ein widersinniger Begriff für eine praiotische Brüder- und Schwesternschaft) aufgelöst worden. Zumindest offiziell.

Der Ratsherr drehte seine frömmelnden Augen hinauf zum Ewigen Licht, das sich in seinem rotbackigen Gesicht spiegelte. "In Berchweiler behaupten die Narren, dass die Hämmer und Schlageisen der Steinhauer den Schlaf der Sokramor stören. Oder gar den Leib der Gigantin zerstückeln. Dass wir irgendwann zu tief graben und die Bestie befreien werden...wenn diese Aufgabe nicht bereits die Gießenborner Bergleute erfüllen. Auch in Zaberg, wo Alaun gefördert wird, in den sokramorheiligen Feengrotten, kommen sie dem weltenfressenden Ungeheuer zu nahe." Mit spöttischem Lächeln ließ der Karrer das Amulett sinken und patschte seine dicken Finger wieder in Gebetshaltung zusammen.

"Der Steinbruch ist der wahre Grund für den Aufstand in Berchweiler", fügte der Karrer hinzu. "Sie bilden sich ein, dass alles beim Alten bleibt, wenn wir nur aufhören, den Geboten des Phex und des Ingerimm zu folgen."

"Vor allem den Geboten des Phex, nehme ich an", entschlüpfte es Tsalinde.

Ewald Karrer hatte die Anspielung verstanden. "Von einer Erweiterung des Wegenetzes würde auch die Baronie Nutzen ziehen, glaubt es mir. Wenn ich allein an die Abgaben aus Klosterdorf denke, die derzeit nur mit größter Mühe zur Burg gebracht werden können...auf Saumtieren."

Laut hallende Schritte lenkten Tsalinde ab. Hochwürden Malachanias kam  mit wallender Robe vom Seiteneingang herbeigeeilt.

"Ah, da seid Ihr ja, Baroness.  Hoffentlich störe ich Euch nicht im Gebet?"

Tsalinde nahm den abgelegten Helm an sich. "Wir beide haben es gerade beendet, denke ich."

"Gut. Ich muss mit Euch reden. Über Eure künftige Rolle als Rittfrau vom Weldornhof und Untervögtin des Berchweiler Landes etwa..."

"Untervögtin, Hochwürden?"

"Gewiss, da es mit Syrenia von Mersingen bereits eine Vögtin gibt, über die ganze Baronie."

Irrte Tsalinde sich, oder huschte ein zufriedenes Lächeln über Ewalds Gesicht? Schnaufend, mit rudernden Armbewegungen versuchte er aufzustehen. Als ihn die Baroness stützte, nickte er ihr dankbar zu.

"Ihr solltet Hochwürden gut zuhören, Wohlgeboren. Besonders gut, meine ich."

 

 

Eine Stunde später eilte Tsalinde die abgetretenen Treppenstufen hinauf, zur Spitze des Bergfrieds von Burg Friedstein. Ihre Mutter folgte ihr. Das uralte Gemäuer stammte noch aus der Zeit der Klugen Kaiser. Als einziger Teil der Burg hatte es sämtliche Großbrände und Belagerungen überstanden.Die Baroness kannte den wuchtigen, fast dreißig Schritt hohen Turm, noch als Ausweichquartier ihres Vaters, der eine Zeitlang die beiden oberen Stockwerke bewohnt hatte.

Nun, ihre Eltern schliefen wieder zusammen, im Rotgoldenen Gemach. Der Bergfried war nun auch oberhalb des Erdgeschosses, mit seinem Vorrats-, Material- und Waffenlager, unbewohnt. Im beheizbaren ersten Stock fand sich  eine heimelige Plauderstube, das Garadanzimmer, mit Kachelofen und mehreren Stühlen rund um einen Tisch. Hier, in dem Teil der Ganerbenburg, der weder der Senkenthaler, noch der Schneißer und Marktfriedwanger Linie des Hauses gehörte, tagte jedesmal zum Heimkehrfest der gemeinsame Burgrat. Dass sich die Herren oder Herrinnen des Friedstein zum Brettspiel trafen, kam weitaus häufiger vor.

Eine überdachte Holzbrücke führte hinüber in den Rohalssaal, dem Fest- und Tanzsaal der Burg. Wandteppiche zeigten Szenen aus der Burggeschichte, einschließlich des Reichsbehüters Tedesco von Perricum, der hier einmal Recht gesprochen haben sollte. 

Anders als die meisten Räume des Palas war der Turm nicht weiß verputzt. Der freiliegende "Granit" funkelte und glitzerte tatsächlich, zumindest da, wo Sonnenlicht auf ihn fiel. Gneis eben, dessen Glimmer zum Namen der Baronsfamilie passte. Über der Plauderstube schloss sich mittlerweile der Taubenschlag der Burg an, aus dem stetes Gurren und ein stechender Dunggeruch drang. Serwa hatte von ihrer Konkurrentin Syrenia gelernt und züchtete Dutzende der fliegenden Kuriere, die hier nisteten. Aber nicht wirklich unparteiisch waren: Eine der wichtigsten Aufgaben der Turmwache war es, eine anfliegende Botin rechtzeitig von ihrer Botschaft zu befreien. Die war zwar meist verschlüsselt, sollte aber dennoch nicht Kastellan Wulfger in die Hände fallen, der die benachbarte Erbvogtei hütete.

Tsalinde war froh, dass sie die schwere Rüstung abgelegt hatte. Auch ihre Mutter, die nicht mehr die Allerjüngste war, schnaufte schwer, auf dem Weg nach oben. Gestern hatte sie ihren 59. Tsatag gefeiert. Der Baroness wurde schmerzhaft bewusst, dass sich ihre Mutter schon im fortgeschrittenen Alter befunden hatte, als sie mit Tsalinde schwanger gewesen war. Stolze 38 Jahre alt, gemäß der Rechenkunst. Mehr noch, hätte ihre Mutter um ein Haar in den Namenlosen Tagen das Licht der Welt erblickt, oder besser gesagt, das trübe, lähmende, leicht schwefelfarbene Zwielicht, wie es gerade rund um den Bergfried herrschte. Serwas Zwillingsbruder Veneficus, der Magier, sollte sogar "ein paar Stunden später" geboren worden sein, was immer das bedeutete.

Oben, in der Wachstube, hielt die Knappin erst einmal inne und rang um Atem, was nicht allein am mühseligen Treppenaufgang lag. Die namenlose Finsternis war den Menschen näher, als sie es gemeinhin wahrhaben wollten. Sie begann immer in ihnen selbst...

Serwa hatte den jungen Türmer entdeckt, der gelangweilt auf dem äußeren, regenfeuchten Wehrgang umherschlenderte, über den Zinnenkranz spähte, am Efeu zupfte und dann mit dem Fuß irgendeine Brotkrume durch das Wurfloch des Maschikuli beförderte. Offenbar vertrieb er sich die Zeit, in dem er gelegentlich die Tauben fütterte.

Erschrocken zuckte der Bauernbursche zusammen, als er Seiner Hochgeboren gewahr wurde. Es war windig, hier oben, aber einigermaßen sonnig. An normalen Tagen wäre die Aussicht ins Umland grandios gewesen – als würde man auf einer farbenfrohen Karte der Baronie Friedwang stehen. Aber wirklicher Frohsinn wollte sich nicht breitmachen. Der Himmel schien schwerer auf Dere zu drücken als sonst.

"Geh runter in die Küche und hol dir einen Krug Bier", sagte Serwa aufmunternd.

"Herrin?"

"An einem freudlosen Tag wie diesen kann eine kleine Aufmunterung nicht schaden, Arddur." Die Baronin zwinkerte verschwörerisch. "Es gab gestern einen kleinen Umtrunk, zur Feier meines Tsafests. Hab gehört, du hast nichts von dem Gerstensaft abbekommen?"

"D...Danke, Herrin." Freudig erstaunt eilte der Gardist nach unten. Serwa wartete, bis sein leises Pfeifen auf der Treppe – das eher nach Pfeifen im Walde klang – verstummt war.

Die Baroness blickte hinunter zum Marktflecken, der sich im Tal erstreckte, zwischen saftigen Weiden, fruchtbaren Äckern und sanft gewellten Hügeln.

 Unweit von Praios- und dem Traviatempel ragte der Kullernturm auf, als weiteres Wahrzeichen von Mark Friedwang. Der angeblich ebenfalls von Heldarn Edarna bewohnt und aufgestockt worden sein sollte. Ihrem magiebegabten, um den Baronstitel "geprellten" Vorfahren. Bevor er in Berchweiler residiert hatte, sollte er diesen viereckigen Klotz hochgemauert haben. Der sah überhaupt nicht aus, wie sich Klein-Alrik einen Magierturm vorstellte. Das hohe Spitzdach erinnerte ein wenig an einen Magierhut, das schon. Aber die Friedwangen waren seit jeher groß darin, sich bedeutsamer aussehen zu lassen, als sie wirklich waren. Angeblich formte sich Blei, das von der obersten Spitze nach unten gegossen wurde, zu makellos runden Ballästerkugeln, deswegen der Name des Kullernturms. 

Darpinian Butzenbinder stellte zu seinen Füßen auch noch Bleifassungen für Glasfenster her. 36 Schritt Höhe hatte die letzte Vermessung des Gemäuers ergeben, einschließlich gänseförmiger Wetterfahne. Eine andere Vermutung behauptete, dass sich darin einmal das Wutzenwalder Tor befunden hatte, an einem Karrenweg in die gleichnamige Nachbaronie. Friedwang, dem bereits vor 800 Jahren das Marktrecht verliehen worden war, hatte sich nach und nach in Richtung Efferd erweitert, als der Schratenwald immer mehr zurückgewichen war. So dass der Kullernturm jetzt fast in der Ortsmitte stand.

Der Weg nach Wutzenwald, den es wohl wirklich gegeben hatte, war während der Kaiserlosen Zeit verschwunden. Ebenso wie das stolze Dorf Ermersruh in Flammen aufgegangen war, das auf halber Wegstrecke, am Zusammenfluß von Rausche und Gießen aufgeragt haben sollte – ungefähr dort, wo heute der Weiler Lucranns End lang. Womöglich war es auch durch die Zorganpocken entvölkert worden, im endlosen Erbfolgekrieg. 

Seit einigen Götterläufen wurde im Marktrat darüber debattiert, ob man den alten "Kohleweg" durch die Einöd nicht wieder erneuern sollte. Mit Arkuhlacher Zwergenkohle waren früher die Schmelzöfen der Silberminen befeuert worden, in Oppstein und Friedwang. Aber die Dörfer am Vierbaronienweg, der im Norden Wutzenwald, Rosenbusch, Friedwang und Schlotz miteinander verband, sperrten sich vehement gegen eine konkurrierende Südroute. Zumindest die einflussreichen Grundherren dort.

Ob das mit dem Tortum stimmte, war nicht mehr festzustellen. Dort, wo sich die Torbögen und die Durchfahrt befunden haben mochten, lehnten sich nun weitere Gebäude an, darunter die Gießerei, eine Schmiede und der Ingerimmsschrein. Wenn die Geschichte zutraf, dann war der Turm dort unten kaum jünger als der Bergfried, auf dem sie gerade stand. Tsalinde schauerte, was nicht nur am kühlen Höhenwind lag. Es war, als könne sie den Eishauch von Satinavs Atem selbst spüren, der heute, am ersten der Unheiligen Tage, frösteln ließ...was waren Jahrhunderte im Angesicht der Unsterblichen?

 

Sie gingen auf die andere Seite des Wehrgangs, wo es noch schwerer sein würde, sie zu belauschen. Tsalinde erzählte, was sie am heutigen Tag erfahren hatte. Vor allem berichtete sie von ihrer Erinnerung an einen Dritten Tag und ihren düsteren "Visionen".

 "Ich habe das Gefühl, dass mir der verbannte Druide die Erinnerung geraubt hat, aus welchem Grund auch immer."

 Serwa blickte hinaus in den schweigenden Bergwald, wo selbst das muntere Gezwitscher der Vögel verstummt war. "Hast du Veneficus davon erzählt? Hat mein Bruder dich...auf einen Beherrschungszauber hin untersucht? Oder Einflusszauber, wie man heutzutage korrekt sagt, zur Magica controllaria."

"Ich war mal kurz in seinem Zelt, gewiss..."

"Was hat Veneficus festgestellt?"

"Schmetterlingsseide, mit leicht erhöhtem Schutzwert. Flickt sich selbst und verschmutzt nicht."

"Bitte?"

"Das grün glänzende Feengewand, das ich dir geschenkt habe..."

Serwa lächelte ungnädig, fast schon ein wenig leidend ob der Narrheit der Welt. "Das sieht meinem Bruder ähnlich. Dass ihm feeische Artefakte wichtiger sind als das eigene Fleisch und Blut. Wieder einmal."

"Wir waren nicht gerade ungestört, im Feldlager. Außerdem hab ich da selbst noch nichts von einer Verzauberung gewusst. Einer möglichen Verzauberung..."

"Am besten, Gwandromir schaut sich das nochmal an, in Gallys."

"Ich glaube nicht, dass das Hochwürden Malachanias gefallen wird. Er will mich schnellstmöglich zurück nach Gauhaven eskortieren. Während er selbst sich auf den Weg zum Wahrer der Ordnung begeben will."

"Da wird es wohl schon um den künftigen Prätor in Oppstein und derlei Dinge gehen." Serwa schüttelte den Kopf und ballte die Hand zur Faust. "Es hilft alles nichts, wir brauchen den Pfaffen momentan als Verbündeten. Was sage ich, als unseren geistlichen Schutzherren. Es ist sonnenklar, dass die Zwölfler den Kehraus fortsetzen werden, sobald Adran erst einmal gestürzt ist. Versuch den Hexenkommissar irgendwie abzulenken, und mit Gwandromir zu sprechen, in der Lindwurmburg. Wir müssen wissen, was geschehen ist...Womöglich ist der Zirkel der Purpurpfeile wieder erwacht."

"Der Zirkel der Purpurpfeile?"

"Ja, eine Gruppe von Anhängern des Nicht zu Nennenden. Wir dachten eigentlich, er wäre ausgelöscht worden. Golo, der Nachtmahr, und Zerline, die Schwarzen Witwe, waren die Hohepriester...oder besser gesagt, sie haben sich um diesen Titel gezankt. "

Die Baronin dachte nach. "Gut möglich, dass sie irgendwie in der Feenwelt weiter existieren. Selbfried hat die Vampirasche in den Jargel schütten lassen? Nun, der Bach fließt geradewegs in den Wilwatsee – die Sokramorier behaupten, dass sich dort manchmal Pforten in die Anderwelt öffnen...Besonders wahrscheinlich ist diese Variante nicht. Hm. Golo...Golo ist eine Alptraumgestalt geworden...Es heißt, dass es neben dem Limbus und den Globulen auch noch ein Reich der Träume geben soll. Von wo aus man ebenfalls in die Gefilde der Feen gelangen kann. Veneficus kommt es mehr wie ein krudes Märchen oder eine Magiersage vor. Aber möglich wäre es, dass die Traumlande existieren. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Dere, als deine Schulweisheit sich träumen ließe, Tsalinde."

Die Baroness schluckte und dachte an ihre eigenen Tagträumereien. Wenn der Druide ihr die Erinnerung geraubt hatte, warum sah sie diese Bilder? Womöglich versuchten ihre Feinde gerade, sie mit Halluzinationen einzuschüchtern, auf der Suche nach dem Kind? Sie langsam in den Wahnsinn zu treiben, wie er die erste, die Irre Tsalinde ereilt hatte...

"Wer weiß schon, zu was eine namenlos verfluchte Vampirin imstande ist, selbst nach ihrem Ableben." Serwas graublonde Haare flatterten im Luftzug. "In welche Gefilde ihre schwarze Seele zu gelangen vermag. Aber reden wir lieber über andere Dinge, an einem Tag wie heute."

 

Tsalinde zuckte zusammen, als eine schwarze Katze schmusend an ihrem Bein entlang strich. Eine große schwarze Hexenkatze?! Aus ihrem blutverschmierten Maul ragte ein buntschillerndes Flügelchen, durchscheinend und feingeädert, wie von einer riesigen Libelle. Ein ausgerissener Feenflügel? Samiras Flügelchen ?!!! Erschrocken griff Tsalinde danach, und schrie auf, als die Katze gehässig kreischend hinein hackte, in den Zeigefinger, mit mörderisch langen, scharfen Krallen. Es war mehr als nur ein Kratzer, den das Biest hinterlassen hatte. Fauchend löste sich das Untier in Luft auf, die spitzen Zähne mit dem Feenflügel zuletzt.

Die Baroness erwachte aus der erneuten Schreckensvision. Sie tastete nach ihrer Hand, aber da war kein Blut, kein Hautfetzen, keine Schramme. Nur eine gerötete Beule wuchs auf ihrem mittleren Fingerglied empor, durchaus schmerzhaft.

"Tsalinde?" Die besorgte Stimme ihrer Mutter drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. "Alles in Ordnung?"

Die Knappin nickte beherrscht und deutete auf eine schwarzgelb gestreifte Wespe, die es fast bis hinauf zur Turmspitze geschafft hatte. Die kleine "Mersinger Kriegerin" brummte triumphierend davon. Ein stechender, pochender, leicht juckender Schmerz bereitete sich von der Schwellung her aus. Hatte Tsalinde nach dem Grasbüschelchen gegriffen, das in einer Steinritze wucherte, um es auszurupfen? Irgendwie schienen sich Wahn und Wirklichkeit gerade zu vermischen...

Sie versuchte sich auf letzteres zu konzentrieren. Auf die dunklen, irgendwie schmutzfarbenen Wolken. Die rastlosen Schatten, die sie auf Wälder, Berge, Hecken und Felder warfen. Den Vogelschwarm, der dort drüben von ein paar Krähen gehetzt wurde. Auf das kräftige Muuuh der Hörnerträgerin, die irgendwo in der Nähe aufs abendliche Melken wartete, vielleicht auch von namenloser Unruhe ergriffen war.

"Geht es?" Serwa, die Heilerin, hob die Hand an. Tsalinde hatte Angst, dass ihre Mutter auf den Einstich spucken und dieser einfach verschwinden würde, durch Sumukraft. Ähnliches war früher einmal geschehen.

Sie bejahte und lutschte am Finger, um ihn zu kühlen.

"Jemand versucht gerade, uns kleinere und größere Stiche zu versetzen", verkündete die Baronin und blickte zum östlichen Horizont. "Nicht nur die Wespe gerade eben."

Über einen der verwitterten Wasserspeier hinweg, der angeblich einmal den löwenköpfigen Drachen des Theaterordens gezeigt hatte, spähte Tsalinde in Richtung Berchweiler. Zumindest dorthin, wo sie das Dorf vermutete.

Die Fernsicht war gar nicht mal so schlecht, trotz der Eintrübung. Selbst Schneiß war zu erahnen gewesen, auf der anderen Seite der Heimsteine, zumindest die Schratenburg.

 Berchweiler hingegen war wie vom Erdboden verschluckt, obwohl es ebenfalls einen Wohnturm besaß. Nur der Steinbruch mit seinen schroffen Abbruchkanten und Stufungen war zu sehen. Ob dieses Phänomen der eigentliche Grund für die Sage vom verborgenen Magierdorf war? Zehn, zwölf Meilen mochte das Dorf in Drachenfluglinie entfernt liegen. Allerdings widersprachen sich die Karten in solchen Dingen öfters. Ihr selbst fiel es schwer, Distanzen zu schätzen.

Auch den Hohlweg, den Ewald Karrer erwähnt hatte, nahm sie nirgendwo wahr, im zerklüfteten Hügelwald. Nur den einsamen Fladrikshof auf der anderen Seite des Burgbergs, mit steilen Dächern, umgeben von einem Flechtzaun.

"Malachanias möchte, dass ich zunächst Ritterin vom Weldornshof werde, und dann Untervögtin des Berchweiler Lands...Weißt du davon?"

"Selbstverständlich. Der Weldornshof gehört unserer Familie, und das schon seit Jahrhunderten. Bist du erst einmal im Oberen Jargeltal ansässig, nun, dann hast du auch das Recht, zur Vögtin gewählt zu werden. Im Dorfweistum steht nirgendwo, dass Adelige von diesem Amt ausgeschlossen sind."

Tsalinde zog den "Berchweiler Granit" aus ihrer Tasche. "Die Karrers wollen dort Gneis abbauen, ohne sich um die Beschwerden der Sokramorier kümmern zu müssen...und neue Wege zum Dorf erschließen. Wer garantiert, dass ich die einzige Herrin dort sein werde?"

"Die Angehörigen unseres Marktschultheißen kümmern sich wenigstens um die Zukunft."

Die Baroness steckte den Stein rasch wieder weg. Bevor er ihr noch aus der Hand fiel und jemanden vom Gesinde traf, das unten auf dem Burghof herum wuselte. Heute lauerten die Missgeschicke an jeder Ecke. 

"Irgendjemand muss die Dörfler aufgewiegelt haben...ich meine, sie beginnen doch keinen Aufstand auf ein bloßes Gerücht hin?"

"Aufstand." Serwa schmunzelte. "Ein großes Wort. Wusstest du, dass Pernilla Grütz, die dortige Traviageweihte, eine begeisterte Taubenfreundin ist, ebenso wie ich....oder Syrenia? Wir tauschen unsere kleinen Lieblinge sogar untereinander aus. Schau mal, da kommt wieder eine geflogen." Die Baroness deutete auf ein weißes Flirren, dass sich von Rahja her näherte. Der Schemen wurde größer und entpuppte sich tatsächlich als Brieftaube, die geradewegs auf den Bergfried zuhielt.

"Aber...sie belagern doch gerade den Turm von Berchweiler?"

"In dem allein Kastellan Herdfried und Sumudane ausharren, mit niemandem sonst. Wenn die Sokramorier es wollten, hätten sie den Turm längst stürmen können. Der ehemalige Turm eines Magiers...Herdfried war an der Trollpforte dabei, seitdem hat er Nerven aus Koschbasalt. Sumudane hat länger getanzt als manche Hexe, früher, ums große Feuer. Aber die Bauern fürchten die minderen Geister, die angeblich spuken, in Heldarns Turm."

Die Taube ließ sich geradewegs auf Serwas Zinne nieder, und gurrend in die Hand nehmen. Tsalinde war sich keinesfalls sicher, wie normal derartige Zutraulichkeit war. Dem Tier war eine kleine Lederkapsel ans Bein gebunden worden. Die Baronin nahm sie mit geübtem Griff ab und zog ein zusammengerolltes Zettelchen hervor, während die Taube im Halbbogen ihren Schlag ansteuerte. Die Knappin blickte ihrer Mutter über die Schulter, sah aber nur eine Abfolge unverständlicher Zeichen, die entfernt an astrologische Symbole erinnerten.

"Ah, sieht so aus, als hätten die Bauernfünfer ihren Irrtum eingesehen. Das mit Adrans Sieg. Pernilla bietet sich an, zu vermitteln. Womöglich war ja alles nur ein Missverständnis." Die Baronin lächelte fein. Offenbar vermochte sie die Geheimschrift bereits ohne Dechiffrierhilfe zu lesen.

"Sicherlich wird sich eine einvernehmliche Lösung finden lassen. Jedenfalls werde ich meine eigenen Dörfer nicht gewaltsam unterwerfen, wie Praiosob von Selem die Ländereien der Rondragläubigen. Adrans Sturz wird diese Unbotmäßigkeit in Windeseile in sich zusammenstürzen lassen. Davon bin ich felsenfest überzeugt."

Tsalinde musterte ihre Mutter. Hatte sie am Ende diese Intrige ausgeheckt, zusammen mit der Traviageweihten?

"Natürlich war es kein Missverständnis." Serwa schien Tsalindes Gedanken zu ahnen. "Diese Aufsässigkeit wird schon seit längerem geschürt. Es gibt da einen alten Brauch, das Berchweiler Treicheln. An den Sonnwendfeiern werden die bösen Geister ausgetrieben, mit Kuhglocken. Die größte Treichel ist das Amtszeichen der Berchvögtin, die dem Umzug voranschreitet. Das Insignium ist Sumudane abhanden gekommen, schon vor dem letzten Tag der Jagd. Ziemlich sicher wurde die Treichel gestohlen."

"Doch nicht etwa von uns?"

"Wo denkst du hin....von den Karrers auch nicht. Ganz so durchtrieben sind sie nicht. Aber jemand will Zwietracht stiften, in der Schwarzen Sichel, soviel steht fest. Rohalskappe, so wird die Treichel genannt, wegen ihrer Verzierungen. Ich hab das Scheppern einmal gehört...da ist dein Lautenspiel lieblicher. Meine Feinde behaupten, Sumudane hätte sie mir heimlich ausgeliefert, als Zeichen der Unterwerfung. Keine kleine Sache. Wenn ein Berchvogt zweimal nicht das Treicheln anführt, darf er abgesetzt werden. In Berchweiler hat man nur auf eine derartige Gelegenheit gewartet. Töricht war Sumudanes Abwahl in jedem Fall. Denn ohne Amtsglocke kann auch kein Nachfolger gewählt werden."

"Vielleicht möchte der Bauernrat allein regieren?" schlug Tsalinde vor.

"Das glaube ich nicht. Dafür sind sie selbst viel zu zerstritten. In jedem Fall verlangen die Fünfer die Auslieferung der Rohalskappe." Serwa hob ratlos beide Arme. "Wie soll ich etwas herausgeben, was ich gar nicht habe?"

Tsalinde strich sich über das Kinn. "Könnte man nicht einfach eine Glocke gießen, die genauso aussieht? Und sie großmütig zurückgeben - zu unseren Bedingungen?"

"Daran habe ich auch schon gedacht. Hm. Streng genommen ist das Ding keine Glocke. Treicheln werden nicht gegossen, sondern aus Blech gehämmert. Menzel Pulverberger, unser `Hofmaler´, hat sie mal in Öl gebannt, auf einem Porträt des Vogts Aldewin Siebenheller. Genannt Siebenhöller. Muss ein harter Hund gewesen sein...wie auch immer, es gibt noch Skizzen des Gemäldes. Damit müsste es möglich sein, die Rohalskappe nachzubilden. Quasi als Doppelgängerin."

"Wenn das Meisterin Thyra übernimmt, unsere Schmiedin. Sowas lässt sich doch gar nicht geheimhalten." Tsalinde rieb über die Schwellung an ihrem Finger.

"So ist es. Vor allem brauchen wir eine glaubwürdige Fälschung. Die Treichel soll hervorragende Zwergenarbeit gewesen sein, aus Stahlblech, mit ein paar markanten Beulen. Als Rohalskappe bemalt. Was immer die Angroschim mit Rohal dem Weisen zu schaffen hatten."

Die Baron steckte das Zettelröllchen in ihre Gürteltasche. "Wie sieht es eigentlich mit Albenhus aus? In den Bergen der Umgebung gibt es doch sicherlich einige zwergische Meisterschmiede?"

Tsalinde lächelte. "Nicht nur im Amboss oder Eisenwald. Ramox, Sohn des...des...Rambax hat seine Werkstatt in der Altstadt. Ein begnadeter Plättner ist er auch. Eckbert ist dort gelegentlich Kunde, er kennt ihn ganz gut. Ein Priester des Feuergottes aus Xorlosch...Väterchen Ramox hat sogar eine Zeitlang in der Wildermark gekämpft, gegen die Ingerimmfeinde. Er müsste eigentlich Verständnis für unser Anliegen haben, die Befriedung der Rommilyser Mark."

"Wenn er sich mit guten Dukaten überzeugen lässt, würde das schon genügen. Eine heimtückische List bekämpft man am besten mit einer Gegenlist."Serwa schlug auf den Almosenbeutel, der an ihrer Seite baumelte. "Wenn du die falsche Treichel beschaffst, bis zum nächsten Jagdtag....dann hast du dir den Ritterschlag und den Weldornhof redlich verdient. Den Transport der Treichel könnte das Handelshaus Romerzi übernehmen, das ist weniger auffällig. "

 

Oppsteiner Hof, 4.Praios 1046 BF, Erdstag

 

Lares war froh, dass das verdammte Pardelfell aus dem Speisesaal geschafft worden war. Wenigstens heute. Die Überreste des seligen Tjar waren nicht nur eine stete Stolperfalle, sondern wären dem Hochfelser wie ein schlechtes Omen vorgekommen, bei einer Stabsbesprechung. 

 

Der ölig glänzende Tisch mit den gepolsterten Stühlen war lang genug, um einer übergroßen Karte des Sichelhag Platz zu bieten, die gerade von zwei livrierten Dienern ausgerollt und beschwert worden war.

 

Baron Adran von Oppstein stützte sich gravitätisch auf die Tafel, in der Pose eines horasischen Kondottiere. Dann griff er beiläufig nach einem Schälchen mit Wutzenwalder Trüffeln, und zerkaute die Delikatesse genüsslich.

 

Die Ritter vom Stein und die übrigen Kleinadeligen standen ein wenig verlegen herum, tuschelten im Saal oder sahen auf die bunten Figuren. Die "Spielzeugtruppen" wurden von ihrem Lehnsherren gerade aus einem fein ziselierten Kästchen geholt und fein säuberlich aufgestellt, neben blakenden Kerzen. Der graumelierte Aristokrat in der Brokatweste wirkte nicht unbedingt wie ein Feldherr, eher wie ein verschmitzter, rahjagefälliger Gutsbesitzer, der von Räubern bedrängt wurde. Oder wie ein wohlhabender Gastwirt, der sich gerade bemühte, randalierende Gäste wieder nach draußen zu befördern.

 

Lares trat neugierig näher. Der Hauptmann der Oppsteiner Haustruppen war sich keinesfalls sicher, wie genau die vorliegende Landkarte war.

 

Es gab das nicht ganz bierernst gemeinte Gerücht, wonach das Fürstentum Darpatien absichtlich falsche oder sich widersprechende Karten in Umlauf gebracht hatte, damals, im großen Krieg, um die Eroberer aus dem Osten zu verwirren. Nebst umgedrehten Wegweisern an der Reichsstraße. Ein finsterer Witz behauptete, dass der Wehrheimer Weltenbrand auch die gezeichneten oder aufgemalten Wege und Straßen durcheinander geworfen hatte. 

 

"Meine Herren und Damen", verkündete Adran und sah vom Plan auf, "so langsam gefällt mir das." Ah, die alte Floskel aus der letzten, siegreich beendeten Fehde, die Lares und mancher der Umstehenden noch gut kannte.

 

"Die Götter scheinen unserer Sache wirklich gewogen zu sein. Nicht nur, dass wir eine Rotte Söldner unter Vertrag nehmen konnten, die eigentlich in die Sichel unterwegs waren, Richtung Transysilien...Nein, bei Alrik, dem räudigen Fuchs von Friedwang, scheint es derzeit größere Probleme zu geben. In Berchweiler stehen die Zeichen auf Rebellion, die Freibauern haben mich eindeutig als rechtmäßigen Herrn von Oppstein anerkannt...nicht, dass ich darauf angewiesen wäre...aber bemerkenswert ist diese Insubordination schon. Altgläubige Bauern haben die diesjährigen Greifenprozessionen nach Markt Friedwang mit ihren Fuhrwerken blockiert. Das Amtshaus der guten Mena von Gießenborn wäre um ein Haar in Flammen aufgegangen...meine gute Tante Ismena nennt sich ja jetzt so, damit sie niemand mit dem Rondritscherl verwechselt...es ist wirklich verwirrend, was unsere Feinde so treiben! Sogar in die falsche Baronie haben sie sich verirrt. Wir werden ihnen rechtzeitig den Weg heimleuchten."

 

Untertäniges Lachen und wissendes Kopfnicken. Lares war sich nicht ganz so sicher, ob ihm "das" alles gefiel.

 

Eigentlich hatte er erwartet, dass es in Drachweiler Widerstand geben würde, wie damals, unter Edorian, als dessen verrückter Hofrichter Walerian eine Hexe auf dem Scheiterhaufen hatte verbrennen wollen (der durch einen wundersamen Regenguss gelöscht worden war).

 

Aber nichts dergleichen war geschehen. In den Scharmützeln rund um das älteste Dorf Oppsteins, um den Weiler Bethel und die Wüstung Windsbucht waren zuletzt die Glorianer "versprengt" worden, die beste Lanze der Baronsgarde. Immerhin, die Berichte der Spione schienen zuverlässiger geworden zu sein, die jetzt aus dem besetzten Oppsteiner Land eintrafen.

 

Demnach traute sich Wehrvogt Storko nicht, offen in die Fehde einzugreifen, als Diener von Erlaucht Swantje. Nur die Balliste aus seiner Burg Gernatsborn war im Feldlager eingetroffen - ein Belagerungsgerät, das den Ismenischen wenig bringen würde, in offener Feldschlacht. Davon war Lares überzeugt. Baroness Tsalinde von Friedwang sollte ebenfalls aufgetaucht sein, in Markt Windsbucht. Eine ominöse Geschichte. Offenbar hatte Alrik die Befreiung seiner Tochter aus Oppsteiner Händen inszeniert, um Adran ein weiteres Schurkenstück vorwerfen zu können. Als nachträglichen Fehdegrund.

 

Wie auch immer. Die Ismenischen hätten nach ihrem Erfolg im Rahja rasch nach Norden vorstoßen können, hatten sich aber lieber in kleinen Geplänkeln verzettelt. Trotz des herben Verlusts von Drachweiler, der Lares noch immer auf der Seele brannte - es hätte schlimmer laufen können.

 

"So langsam sollten wir wirklich mal zum Gegenangriff ansetzen", hörte der Hochfelser sich sagen. "Und die Eindringlinge  aus Oppstein hinaustreiben." 

 

Einen Moment lang fürchtete er eine spöttische Bemerkung seines Barons, ob der Niederlage, die er kurz nach dem Sankt-Artema-Tag erlitten hatte. Als buchstäblich das Pferd mit ihm durchgegangen war, im hexischen Gewitter. Aber die Sottise blieb aus.

 

"Ich weiß, dass du darauf brennst, die kleine Scharte vom Rahjamond auszuwetzen", sagte sein Lebensmensch sanft.  "Aber es war richtig, erst einmal in Oppstein abzuwarten und Kräfte zu sammeln. Noch steht keinesfalls fest, wie sich die Rosenbuscher verhalten werden...Aus Mistelhausen haben wir wohl nichts zu befürchten. Aber wir sollten unseren Hauptort nicht ohne Not entblößen. Das Ganze könnte eine Finte sein und der Hauptangriff von Westen her kommen."

 

Lares runzelte die Stirn. "Die Rosenbuscher", das meinte Oleana von Bregelsaum, immerhin die Schwägerin der Markgräfin. Wahrlich eine erbitterte Feindin der Alten Kulte. Der Gedanke, dass die scheinheiligen Heuchler und "Rückbekehrten" des Sichlerbundes nur vorgeschickt waren, zur Ablenkung, nun, ganz so abwegig war er nicht.  

 

Die Bundesgenossen waren einmal Freunde gewesen, immerhin. Adrans Verhältnis zu den Bregelsaums - was "die Mistelhausener" mit einschloss - war seit mehr als zwanzig Jahren angespannt. Der Hochfelser wusste nicht so genau, ob der alte Bannfluch noch galt, wonach Adran unerwünschte Person auf sämtlichen Bregelsaumgütern war. Ob seiner Verstöße gegen "Travias gute Sitten."

 

Die umstehenden Edelleute blickten ebenfalls verdrießlich, beim Stichwort Rosenbusch. Oleana wurde von einigen schon als künftige Gräfin des Sichelhag gehandelt - Adrans Sorge war eine unangenehme Erinnerung daran, dass es mit seiner Reputation in Rommilys nicht zum Besten stand.

 

"Gäbe es die Burg noch, hätten wir aus dieser Richtung wenig zu befürchten", sagte der edle Dardulan von Sturmfels zur Goblinwehr, eigentlich einer der Treuesten der Treuen. Der Gutsbesitzer klang ungewohnt aufsässig. "Bei einem Angriff aus Rosenbusch hätten wir uns dort verschanzen und bis zum Winter ausharren können."

 

"Mein werter Dardulan." Adran schlürfte am Wein. "Warum sollten wir uns auf Burg Oppstein einschließen lassen? Selbst wenn es den altmodischen Klotz noch gäbe, wäre so ein Vorgehen nicht klug. Unsere Stammburg war schon lange nicht mehr so wehrhaft, wie es von außen den Anschein hatte. Die neue, horasische Art, Krieg zu führen...das bedeutet Kampf in Bewegung...ein Krieg der Landsknechte und offenen Feldschlachten..."

 

"Sage ich ja", hakte Lares von Hochfels nach. "Markt Oppstein ist kaum zu verteidigen, ohne Türme und Mauer. Abgesehen von den Zerstörungen, die das mit sich brächte...Die Ismenischen sollen über heimtückische Feuerbolzen verfügen, für ihre Balliste. Nicht auszudenken, wenn ein Geschoss das Schloss hier in Brand steckt. Wir sollten endlich die Initiative ergreifen. Das Heft des Handelns in die Hand nehmen..."

 

"Hätten wir die Waffenruhe brechen sollen, während des Praiosfests?" Der Baron von Oppstein und blickte wieder auf die Karte. "Ich weiß, dass du ein Anhänger Folnors von Sirensteen bist."

 

Lares blickte fragend.

 

"Des ehemaligen Staatsmarschalls des Horasreichs." Adran tippte auf irgendein kriegskundliches Büchlein. "Die Folnoresci sind Verfechter kühner Vorstöße und Reiterattacken. Wie oft habe ich mich mit Onkel Gernbrecht darüber unterhalten...Er scheint es mehr mit Condottiere Zandor von Nervuk zu halten, Rommilyser Reiterei hin oder her. Bei den Zandoresci kommt es ganz auf die Autorität des Befehlshabers an...um dessen Strategie, die bis ins Detail stimmen muss. Vor allem muss sie wortgenau umgesetzt werden, um das Blut der Untergebenen zu schonen."

 

"Adran, in Drachweiler, da...." Der Hochfelser senkte schuldbewusst den Kopf. 

 

"Schon gut. Soldatenglück braucht es natürlich ebenfalls. Man kann auch von den Strategemen des Helme Haffax einiges lernen. Selbst wenn er ein Verräter war. Nichts vermag besser abzulenken, als gelenktes Scheitern. Für einen umfassenden Sieg mag es sogar hilfreich sein, wenn die Ismenischen weiter nach Norden vorrücken. Hätten wir sie bis nach Friedwang verfolgen müssen, um sie von einem erneuten Überfall abzuhalten...dann wäre vieles schwieriger geworden..."

 

Adrans Finger glitt zur dünnen blauen Linie, die am Hauptort vorbei nach Süden verlief und dann Richtung Efferd abschwenkte. "Wir brauchen gar keine Mauern und Türme. Der Oppenbach ist ein natürliches Weghindernis...hier am Brücklein werden wir auf den Feind warten."

 

Die Herrin von Natternwiesen blickte skeptisch. "Mit Verlaub, Hochgeboren, aber der Oppenbach ist ein...Bächlein...Bei uns wird er ein bisschen breiter, bis er in seinem Schluckloch verschwindet. Aber man kann leicht hindurchwaten, dafür braucht es den Steg nicht. Für Reiterei ist die Überquerung ohnehin kein Problem."

 

"Ich habe den Zünften hoch und heilig versprochen, die Kämpfe von Markt Oppstein fernzuhalten." Der Baron hüstelte und stellte den Becher beiseite. "Soweit das möglich ist."

 

Lares verstand diesen Punkt sogar. Die Oppsteiner Landzünfte waren in den letzten Jahren immer einflussreicher geworden - und besorgt um ihren Besitz. Allgemein wirkten die Oppsteiner nicht mehr besonders kriegslustig, nach den Schrecken der Vergangenheit. Allein der Gedanke an eine erneute Feuersbrunst, wie damals, als der Reitdrache Arlopir das halbe Dorf in Schutt und Asche gelegt hatte, mit unzähligen Opfern, nagte an der Kampfmoral. Ismenas Feuerpfeile waren schon jetzt in aller Munde, bevor überhaupt ein einziges Brandgeschoss herangeflogen war. Im Feldlager von Drachweiler - der Name passte wie die Faust aufs Auge - sollte es bereits Übungsschüsse gegeben haben.

 

"Meine liebe Natternwiesen" Adran blickte ebenso charmant wie neckisch, eine Art, die Lares besonders an ihm liebte. "Bei euch drüben, da mag der Oppenbach ein sanft dahin plätschernder Bach sein. Bei uns, da hat er noch viel von einem ungestümen Wildwasser. Die Strömung ist stark, gerade jetzt im Sommer. Oben in den Bergen schmelzen tagsüber die Gletscher und Schneereste. Dazu kommen tückische Untiefen, ein steiles Ufer, Büsche und glitschiges Geröll. Ihn mit voller Rüstung zu durchwaten ist gar nicht so einfach, in einer Schlacht. Wir werden morgen an die Oppenbachbrücke marschieren und den Feind die Schlacht anbieten. Zu unseren Bedingungen. Lasst uns den Bach mit Blut weihen - dem Blut unserer Feinde."

 



Am Oppenbach, 5. Praios 1046 BF, Praiostag, abends

 

Tief, scharf und schneidend drang die Klinge ins Fleisch ein. Blut suppte hervor.  

Dardulan von Sturmfels verzog das feine, edel geschnittene Gesicht, als sich das Rot auf dem Neethaner Porzellan ausbreitete. Zu allem Überfluss zeigte der hübsch bemalte Teller auch noch eine Schlachtszene, Liebfelder gegen Novadis.

Was für ein korgefälliges Massaker.  

"Ah, so ganz durchgebraten ist es nicht, das Darpatrind. Wie sagt man dazu - thorwalsch?" 

"Albernisch vielleicht." Adran, der an der Kopfseite der kleinen Festtafel saß, tupfte sich die Lippen sauber und lächelte. "Mein werter Sturmfels, so ein thorwalsch gebratenes Fleisch ist nicht die schlechteste Vorbereitung auf einen Waffengang." Der Baron vollführte eine kaum merkliche Handbewegung. Ein Diener huschte herbei, verneigte sich, nahm den Teller und eilte zu einem munter prasselnden Lagerfeuer davon.

Der Edle zur Goblinwehr lächelte tapfer. Nur keine Nerven zeigen, dachte er. Haltung bewahren, als "von und zu". Auch wenn die Situation unwirklich war.  Sie speisten hier wie bei einem Jagdausflug, im Oppsteinischen Feldlager, auf den Grundwiesen des Oppenbach, der in einiger Entfernung rauschte. Morgen würde die "große Schlacht" geschlagen werden und Menschenblut fließen. Am heutigen Praiostag, da hatte sich ein göttergefälliger Waffengang von selbst verboten. Aber mit der trügerischen Ruhe der letzten Wochen war es endgültig vorbei.

Wie erwartet hatten die Rommilyser "Gänsereiter", die diese ständigen Fehdeunterbrechungen überwachten, dem Rondritscherl vom Aufmarsch berichtet. Der Feind war bereit, die Schlacht anzunehmen. Die gegnerischen Lagerfeuer leuchteten und flackerten bereits südlich des Oppenbachs, im Hütewald der Bauern, der mehr einem verwilderten Park ähnelte. Auf der anderen Seite des Brückleins harrte noch ein Vorposten der Oppsteiner aus, ansonsten war der gesamte Süden der Baronie Feindesland. Feindesland...der Wind wehte Lautenmusik und kehlige Gesänge heran, die seltsam vertraut klangen. Der "Feind" sang die gleichen schwarzsichler Weisen wie die Verteidiger der älteren Oppsteiner Rechte.  

Während die Ismenischen nur wenige Bogenschüsse entfernt lauerten, saßen Dardulan und die übrigen Adeligen neben dem barönlichen Zelt, im unsteten Kerzenlicht, dinierten und schlürften am Wein. Wohl wissend, dass es mit den derischen Genüssen bald schon vorbei sein konnte.  

"Solange das Fleisch nicht orkisch serviert wird, so wie denen da." Adran warf einem seiner Hunde eine halb abgenagte Keule zu. Mit gierigem Gurgeln stürzten sich die Tiere auf den Leckerbissen.  "Morgen, nach der Bärenjagd, werden wir fürstlicher speisen."

"Markgräflicher, Papa, markgräflicher..." Die vornehm blasse Baroness von Oppstein hatte gesprochen, während sie mit mädchenhaftem Lächeln an einem Fleischstück kaute. Entschuldigend schob sie die weiße Hand vor die Lippen und unterdrückte ein Kichern.

"Praiodane?"

"Das Fürstentum Darpatien gibt es ja nicht mehr." Die blutjunge Edle von Senwitz bemühte sich, geistreich zu klingen, nicht ridikül, wie man im Horarsreich sagte. Um solcherart ihrem Vater zu gefallen. "Also müssen wir...markgräflich feiern. Nicht fürstlich."

"Verstehe. So sind wir also bescheiden und planen ein Siegesbankett, das....zumindest eines Grafen würdig wäre." Der Baron von Oppstein lächelte verschmitzt. 

"Oder des einzig wahren Barons von Oppstein", schmeichelte Lares, der den zweithöchsten Ehrenplatz innehatte, zur Linken Seiner Hochgeboren. "Was kein großer Unterschied ist, dünkt mir."

"Denken wir für einen Moment an unsere werten Herren und Damen Gegner" meldete sich eine Steinritterin zu Wort. "Die drüben im Wald sitzen müssen und wahrscheinlich gerade an… armseligen Pilzen, Beeren und Wurzeln nagen, haha...." 

"Oder am Bärnfarn, ha-ha-ha-haha..." gab ein anderer Adeliger zum Besten, der Ritter von Natternwiesen vermutlich, oder war es der Herr von Immeln?

Für einen Moment schien sich echte Heiterkeit am weißgedeckten Tisch auszubreiten.

Dardulan lachte tapfer mit. Dankbar nickte er, als ihm ein gut und "mittelreichisch" durchgebratenes Stück Fleisch gereicht wurde.

So richtig Appetit hatte er nicht. Eigentlich sollte man vor einer Schlacht nicht mehr üppig essen, der möglichen Bauchverletzungen wegen...Dardulan war kein unerfahrener Kämpfer. Auch wenn es die letzten Jahre vor allem gegen Goblins und blankhäutige Marodeure gegangen war. 

Gerade deswegen fühlte er sich, als säße er auf einem Haufen brennender Kohle. Als Knappe hatte er an der Schlacht an der Trollpforte teilgenommen, sein Schwertvater war am Todeswall gefallen. Er wusste, was Krieg war. Wie er aussah, sich anhörte, roch...wie sich der neuzeitliche, zunehmend ehrlose und unrondrianische Krieg anfühlte, der selbst noch mit Dämonenmacht und schwärzester Magie geführt wurde. Er hatte erlebt, wie sich das Grauen und der Wahnsinn in die Leiber und Seelen der Sterblichen fraß, um nie mehr daraus zu weichen. Die Fehde, die gerade um seine Heimat geführt wurde, sie schien ein Nachhall dieses niederhöllischen Wahnsinns zu sein. Irgendwann wurde der Kampf zum Selbstzweck, zerfleischten sich die bislang Rechtschaffenen gegenseitig.... 

War das Ganze hier nun eine Henkersmahlzeit, ein vorgezogenes Siegesbankett - oder eine Mischung aus beiden? Manche der Waffenmägde und Kriegsknechte, die um ihn herum ihre Feuer schürten, würden den morgigen Tag nicht überleben. Falls doch, dann nur mit abgehackten Armen, Beinen oder sonstigen Verwundungen. Schreiend vor Schmerz und Panik. Auch hier am Tisch saß bereits der eine oder andere Boronsliebling, ohne es zu ahnen...was Dardulan selbst keinesfalls ausschloss. Der Sturmfelser schluckte.

Der Edle zur Goblinwehr zwang sich zur Zuversicht. Adran hatte mehr als 200 Kämpfer zusammengezogen, 220 Streiter vielleicht, während auf der anderen Seite höchstens 150 Eindringlinge ausharren sollten, wenn die Berichte der Spione stimmten. Es wäre rondrianischer, selbst anzugreifen. Ismena würde nicht ohne Not den Sturmbefehl geben. Dass sie kein törichtes Mädchen mehr war, hatte sie zur Genüge bewiesen. 

Ebenso wenig verstand Dardulan, warum Lares von Hochfels die Truppen anführen würde, ein weiteres Mal, nach dem Debakel von Drachweiler. Es genügte bereits, dass er als Adrans Günstling und Pechvogel galt, um den Glauben an den Sieg zu dämpfen, auf Seiten der Oppsteiner.

Der Baron wollte sich derweil zurückhalten, mit ein paar Getreuen. Was der Kampfmoral ebenfalls nicht zuträglich war. Dardulan spürte die Angst seines Oberherrn, hinter der heiteren Maskerade.

 

Adran entstammte einer Familie von Answingetreuen, die im Bürgerkrieg fast vollständig ausgelöscht worden war, mit Schwert und Dolch...Viele Götterläufe lang hatte der Sohn Baron Wisshards sich verbergen müssen, statt den Ritterschlag zu erhalten. So etwas prägte ein Kind fürs Leben. Wenn Du einmal flüchtest, hörst Du nie wieder damit auf. Thesia von Ilmenstein, die frühere bornische Adelsmarschällin, sollte das gesagt haben.

Beinahe empfand der Edle von Sturmfels Mitleid für seinen Baron. Flammen stiegen vom Küchenfeuer in den Nachthimmel, als nachgeschürt wurde. Hinauf zum Madamal, das gerade im Kelch stand. Es hätte ein wunderbarer, lauer Sommerabend sein können, nach der Sonnenglut des Tages, aber ein düsteres Verhängnis lag über allem. 

Beim Anblick des funkensprühenden Feuers dachte Dardulan an Redenhardt von Oppstein, dem er einst das Leben gerettet hatte. Im letzten Moment hatte er den Baron zu Boden gerissen, als ihn der Flammenstrahl einer Borbaradianerin treffen sollte. Damals, bei dessen Hochzeit mit Elissa von Berlînghan, die mit Adrans Rückkehr aus dem Nirgendwo eine unerwartete Wende genommen hatte.

Was war Hagwulf, sein Vater, stolz gewesen, über den Ritterschlag, den ihm Hochgeboren Redenhardt höchstselbst erteilt hatte, gefolgt von der Ernennung zum Edlen der Goblinwehr.  Seltsamerweise war Corelian von Hochfels, Lares Bruder, dann der einzige gewesen, der sich offen gegen Adran gestellt hatte, nachdem dessen Ansprüche durch den Saal gehallt waren. Dardulan war in diesem Moment eher verwirrt als feige gewesen, aber hernach hatte er sich dennoch geschämt - er würde sich nie wieder treulos und wankelmütig verhalten, selbst wenn sein Herr nun Adran hieß, gemäß des boronseligen Baron Redenhardts Willen.

"Verzeiht, Herr, aber was geschieht eigentlich, wenn uns der Bär nicht den Gefallen erweist, in die Falle zu tappen", sagte er, und drehte sein Weinglas in der Hand. "Wenn Ismena nicht angreifen sollte? Es wird morgen heiß werden, oben auf der Anhöhe, während die Ismenischen im Schatten sitzen."

Adran gab das Zeichen, abzudecken, und ließ sich dann seine übliche Verdauungscigarillo reichen. Der Baron lächelte nachsichtig. "Unsere Position ist einfach zu gut und beherrschend, um sie nicht zu nutzen. Haben sich unsere Kämpfer mit ausreichend Wasser versorgt?"

"Es gab ein wenig...Unmut, weil die Bauern nur ihre Feldflaschen dabei haben. Während sich unsere Reiter die Sättel mit prall gefüllten Schläuchen vollhängen." 

"Unsere Bauern. Immer finden sie etwas zum Nörgeln und Maulen." Adran schüttelte den Kopf, dann schob er die Tabaksrolle in den Mund und zündete sie lässig an einer Kerze an. Auch den übrigen Rauchern wurden Cigarillos gereicht. "Wie sollen sie den Kriegsflegel schwingen oder mit der Glefe zustoßen, wenn sie voller Wasserschläuche hängen? Schaut lieber nach, dass sie keinen Schnaps in den Flaschen haben. Das Perainevölkchen trinkt sich gerne Mut an, vor einer Schlacht."

Der Baron paffte genussvoll. "Jeder braucht morgen einen klaren Kopf."

Dardulan nickte, während er den dargebotenen Glimmstängel freundlich ablehnte. "Allerdings könnte das Rondritscherl wirklich versuchen, uns oben auf dem Hügel schwitzen zu lassen....während sie es im Wald kühl und schattig hat. Und dann, wenn uns das Wasser ausgegangen ist, greift sie an?! Ein paar Bogenschützen reichen, um uns vom Bach fernzuhalten."

"Schön, dass du dir auch um die Feinheiten Gedanken machst, Dardulan." Der Baron nickte anerkennend. "Ich denke da an einen kleinen Scheinangriff an der Brücke, gefolgt von einem raschen Rückzug...Wir werden die Truppen auf der Anhöhe natürlich nicht in voller Pracht aufstellen, sondern die meisten hinter dem Hügel verborgen halten. So dass sie den Karrenweg in breiter Linie attackieren können, sobald das Rondritscherl anrückt. Dass sie hitzköpfig ist und ungeduldig, hat sie bereits zur Genüge bewiesen. Schon bald wird sie das närrische Glück verlassen..."

"Warum nutzen wir nicht unsere zahlenmäßige Überlegenheit - und greifen selbst an, als erste und mit voller Wucht?" Dardulan ließ nicht locker.

"Mehr als die Hälfte unseren wackeren Streiter sind Landwehrbauern", antwortete Praiodane, anstelle ihres Vaters. "Sie machen sich ganz gut als Holzfiguren, kämpfen aber auch so. Wie Holzfiguren."

"Kommt ganz darauf an, aus welchem Holz sie geschnitzt sind", sagte Dardulan.

"Bauern bleiben Bauern." Praiodane seufzte, mehr mitfühlend als verächtlich. "Du hast es ja selbst gesagt - schon nach dem kurzen Fußmarsch von Oppstein her jammern sie über fehlendes Wasser."

"Um genau zu sein. Sie haben Angst, dass ihnen morgen das Efferdsnass ausgehen könnte, oben auf dem Sonnenhügel. Bauern haben ein Gespür für das Wetter..."

"Eigentlich sind sie es doch gewohnt, den ganzen Tag in der Hitze zu ackern", sagte eine Grünauer Adelige blasiert. "Mit ihrer braungebrannten Bauernhaut. Ihr Platz ist oben auf dem Hügel. Für unsereins werden dort sicher Zelte aufgebaut?" Die Ritterin tastete besorgt über ihre schneeweiße Haut. "Praios verzeih, aber der Name des Hügels klingt ja schon nach Sonnenbrand. Unsere Grundholden werden über uns lachen, wenn wir schwarz wie die Mohas zurückreiten."

"Heißt der Hügel Sonnenhügel?" Amüsiert blickte Adran in die rauchende oder Wein schlürfende Runde. "Das wusste ich gar nicht....Klingt wie ein gutes Omen. Wir sitzen auf der Sonnenseite, während unsere Gegner im tiefsten Goblinwald hocken, haha..."

"Das ist auch sowas", warf Dardulan ein. "Wir wissen nicht genau, was sie dort treiben. Im Wald. Eine der Streifen hatte das Gefühl, was gesehen zu haben, auf der anderen Bachseite. Gleich dort drüben..." Dardulan deutete in die grobe Richtung. "Weit weg vom Lager. Genau genommen haben sie etwas gehört."

"Was wird es schon gewesen sein, durstiges Wild vielleicht, oder zurückgelassenes Vieh." Auch Adran genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. "Das Licht der Lagerfeuer lockt die Tiere an, und natürlich das Wasser. "

"Man sollte mal einen Spähtrupp auf die andere Seite schicken." 

"Mitten in der Nacht? In den  Wald? Das wird ein schönes Gelächter bei unseren Gegnern geben...wenn die armen Tröpfe vom Oppenbach weggespült werden." Der Baron verwedelte mit der Hand die schweren, süßlich duftenden Rauchwolken. "Am Ende machen die Ismenischen noch Gefangene und erfahren unseren Plan."

Lares nickte dem Baron eifrig zu. Dann hob er das Glas in Dardulans Richtung:  "Mir gefällt das Motto deines Hauses, Dardulan. Wie der Fels im Sturm, so leben wir, so dienen wir. Wir alle sollten diesen Spruch beherzigen."

Insgeheim war sich der Hochfelser seiner Sache nicht gar so sicher. Ein weiteres Zitat des Schattenmarschalls Helme Haffax kam ihm in den Sinn. Kein Plan überlebt Feindkontakt. 

Adran offen zu widersprechen wagte dessen Schlachtenlenker nicht. 

 

Südlich des Oppenbachs, 6.Praios 1046 BF, Rohalstag

 

Frühe Firunsstunde

 

Die Kälte des Wildbachs war atemberaubend. Das eisige Wasser schwappte von oben in Pariks bergtaugliche Stiefel. Im nächsten Moment rutschte er in eine Untiefe. Sein Schuhwerk wurde geflutet wie zwei Humpen unter einem weit aufgedrehten Zapfhahn.

Parik keuchte, während rundliche Steine unter seinen ungelenken Tritten weggkollerten. Mit rudernden Armbewegungen versuchte er das Gleichgewicht zu halten und sich aus der Falle zu befreien. Einen Moment lang kam er sich selbst vor wie ein Schübel, eine der Eisschollen, mit denen die Brauerei Hergoldsbräu selbst jetzt, im Hochsommer, ihren Gerstensaft kühl hielt. Ewald Karrer, der praiosfürchtige Braumeister, hatte den wackeren Streitern des Lichts einige große Fäßer geschickt, ins Feldlager von Drachweiler. Die letzten Krüge waren gestern geleert worden, der Restrausch trug nicht wenig zu Pariks momentaner Beherztheit bei. 

Auch die Luft war noch unangenehm kühl, zumal hier, im Schatten der kleinen Holzbrücke, die den wenige Schritt breiten Oppenbach überspannte. In den frühen Morgenstunden hatte es ein wenig geregnet. Nun stieg zarter Nebeldunst über dem Wald hinter ihm und dem hügeligen Weideland vor ihm auf. Allein der Gedanke, dass in wenigen Stunden Praios Flammenschild heiß und gnadenlos herunterbrennen würde, ließ "Kreuzer" das Fußbad aushalten, das von unten die zitternde Beine heraufkroch, den rotblauen Waffenrock durchnässte und seine Zähne zum Klappern brachte.

Ein grelles Zwitschern in einer der Hecken lenkte ihn ab. So langsam erwachte die Vogelwelt. Unter den Avestieren schien es sich noch nicht herumgesprochen zu haben, dass sich die Menschen hier und heute,  an diesem Hügel zur Schlacht verabredet hatten.

Parik hätte auch den Holzsteg nutzen können, aber er wollte nicht schnurstracks in sein Verderben laufen, gerade weil um ihn herum der Nebel wallte. Der Baronsgardist wundert sich selbst, dass er sich freiwillig als Späher gemeldet hatte. Die Nacht war kurz gewesen, sie alle hatten kaum geschlafen.

Am Abend waren große Feuer geschürt worden, zwischen den farbenfrohen Zelten, die sich im lichten Sommerwald am Rande des Karrenwegs reihten.

Die zurückgebliebenen Ismenischen hatten nach Herzenslust bechern, grölen, lachen, fluchen, würfeln, klampfen, singen dürfen – um dem Vorposten der Oppsteiner vorzugaukeln, dass er bereits der Hauptmacht der Friedwangen gegenüberstand und nicht nur zwei Dutzend Friedwangen, die Hälfte davon beritten.

Die Hauptmacht war in der Nacht bachaufwärts abgerückt, erstaunlich lautlos und in kleinen Gruppen. Parik hatte lange gerätselt, wie seine Gefährten dieses Kunststück fertig gebracht hatten, in der Selemischen Finsternis, die außerhalb des Feuerscheins geherrscht hatte. Mittlerweile wusste er, dass der eine oder andere Nachtschwärmer Carlogblüten eingenommen hatte, die das Sehen bei Dunkelheit ungemein erleichterten. Wie einäugige Bettler ihre blinden Kameraden, so hatten die "Sehenden" ihre Schützlinge durch den Wald geführt, gruppenweise an Seilen. Veneficus, der Gallyser Zauberer, sollte ein gut sortierter Alchimist sein. 

Wie auch immer. Mit Einsetzen der Dämmerung hatten sich auch die Herren und Damen Gegner unsichtbar gemacht und auf die andere Bachseite zurückgezogen. Vom Stellungswechsel der Ismenischen schienen sie nichts mitbekommen zu haben. Das eine oder andere Vieh trieb sich ebenfalls noch im Hütewald herum und hatte mit Schellengeklimper und Muhen die Oppsteinischen Streifwachen in falscher Sicherheit gewiegt. 

Kreuzer, den Spitznamen verdankte Parik seine Gefährten, die ihn seit Ende Rahja stetig damit aufgezogen, dass er für teuer Geld hatte ausgelöst werden müssen, aus der Gefangenschaft. Von der Kiste voller Münzen, die bei Windsbucht den Besitzer gewechselt hatten, da sei er wohl nur einen Kreuzer wert gewesen, hatte Arnulf gespottet. Das war natürlich Unsinn, die Gemeinen waren anders als die adeligen Herren gegen gefangene Glorianer ausgetauscht worden. Dennoch traf Parik dieser Makel schwer, so dass er den Schandnamen ebenso klaglos auf sich genommen hatte wie die heikle Mission, auf der er sich gerade befand. "Kreuzer", das klang immer noch besser als das spöttische "Panik", das ihm ebenfalls nachgerufen wurde. Er würde allen beweisen, dass sein Mut mehr als nur einen Kreuzer wert war. 

Die Brücke mied er schon allein deswegen, weil die Oppstis sie mit klebrigem Pech vollgeschmiert und Strohwische ans Geländer gebunden hatten, um sie jederzeit verbrennen zu können. Sollte das eine Falle sein? Aber dafür war der "Hinterhalt" viel zu offensichtlich. Den harzig-teerigen Geruch nahm einer schon von weitem wahr. 

Was Kreuzer am meisten erstaunte, war, dass er überhaupt durch den Oppenbach stapfen konnte. Gestern am späten Nachmittag hatte Adrans "Wassergraben" noch an einen der ungezähmten Gletscherbäche erinnert, von denen er gespeist wurde.

Was für ein merkwürdiges Element das kühle Nass doch war. Ähnlich wie der obere Gießen führte der Oppenbach früh wenig Wasser und verwandelte sich in der späten Mittagszeit, gerade dann, wenn es am heißesten war, in einen reißenden Wildbach. Weiter bachaufwärts sollte an jedem Morgen eine breite Furt entstehen, die selbst ein Heerhaufen gefahrlos überqueren konnte, nebst schwerer Reiterei und rollender Balliste. Der eigentliche Grund, warum das sicher sündhaft teure Carlog so freigiebig verteilt worden war. Firun schien auf der Seite der Ismenischen sein. Wer sonst als der Gottes des Eises sorgte dafür, dass es gerade zur Praiosstunde am meisten abschmolz, oben auf dem Hängenden Gletscher - was dem schnell vorbei strömenden, schäumenden Wasser fast schon einen Hauch von Heiligkeit verlieh? Der Weiße Jäger selbst hatte die Furt geschaffen, der Herr der Waldläufer und Wegfinder, im Augenblick auch sein Beschützer. 

Ismena Rondria hatte es ja gesagt, beim Abmarsch aus Drachweiler. Firun und Praios, die alten Schutzgottheiten des Sichlerbunds, waren auf ihrer Seite. Adran würde seine gerechte Strafe erhalten, dafür, dass er versucht hatte, ketzerische Lehren in die Reihen der Schwarzsichler zu tragen. Ein dunkles Gerücht behauptete, dass der Hexenbaron sein Heer nur deswegen am Oppenbach aufgestellt hatte, weil das Gewässer nahe Natternwiesen in einem Erdloch verschwand, somit im Reich der Sumu und der Sokramor. Mit Blut wollte der Baron den "sokramorheiligen" Bach weihen und es als Opfergabe in die Unterwelt schicken.  Um solcherart Sumu am Leben zu erhalten und ihre schlafende Tochter zu erwecken. Welch schauderhafter Aberglaube!

Kreuzer hatte nun den gegenüberliegenden, recht steilen Uferhang erreicht und kletterte hinauf. Schmatzend und glucksend riefen sich die vollgesogenen Stiefel in Erinnerung, während der nasse Waffenrock unter ihm über das dunkle Schiefergestein schleifte. Der Friedwanger robbte nach oben, wie ein Belagerer im vordersten Graben und spähte über die Kante. Etwas Tierhaftes hatte sich seiner bemächtigt, das Vertrauen auf die natürlichen Instinkte und die Anpassung an die Umgebung. Etwas, was tiefer ging als der löwenhafte, anerzogene Mut der Rondra. Dieses ältere, zeitlose Spiel nannte sich Jäger und Gejagter. Sein Reiz bestand darin, dass man nie genau wusste, was man in Firuns Augen gerade war, schleichendes Raubtier oder ahnungslose Beute. 

"Paniks" Vorsicht zahlte sich aus. Nicht, dass er aus dem Nebel heraus mit Pfeilen beschossen wurde oder in Schwertspitzen blickte, wie er befürchtet hatte. Nein, hier oben lagen überall Krähenfüße. Vierzackige Eisendorne, die, egal wohin man sie warf, immer mit einer nach oben ragenden Spitze liegen blieben. Es gab keine heimtückischere Waffe gegen Pferdehufe oder Menschenfüße. Die Dinger waren überall ausgestreut und begannen nun, da der Dunst sich langsam hob, auf den taufeuchten Wiesen zu glänzen, als schmaler Streifen beiderseits des Karrenwegs. Zumindest hie und da. Im hohen Gras, zwischen Blumen, Geröll und einzelnen Büschen, war das Dämonenzeug kaum zu entdecken. Der Weg und die Holzbrücke schienen frei davon zu sein, aus welchen Gründen auch immer.

Ftttt....t-t-t-t-t.

Keckernd flatterten einige Rebhühner auf.

Geduckt spähte Kreuzer zu einigen Hecken, die als Versteck für Armbruster taugen mochten. Keine Bolzen schwirrten heran. Die letzten Nebelfetzen schwanden und enthüllten eine seltsame Szene, begleitet von halblauten Geräuschen, Scheppern, Scharren, Husten, Stimmengewirr. Der die Landschaft beherrschende, wenn auch eher breite als hohe Hügel zur Linken erwachte. Parik wusste nicht so genau zu sagen, ob die Oppsteiner im Gras geschlafen hatten, erst jetzt aufmarschierten oder beides. Aber selbst wenige Dutzend Kämpfer waren ein beeindruckender Anblick, wenn man sich plötzlich allein zwischen zwei verfeindeten Scharen befand. Banner flatterten in der Morgenluft, von denen Kreuzer auf Anhieb nur den roten Oppsteiner Drachenkopf auf Gold erkannte.

Wie ein Größenwahnsinniger, der es allein mit einem ganzen Kriegshaufen aufnehmen wollte, stand er, der kleine Burgwächter, nun da und starrte das Verhängnis an. Dumpfer Trommelwirbel erklang.

Die ersten Bogenschützen schwärmten aus und nockten ein, um auf das scheinbar verirrte Wild anzulegen. Zum Klang des Kalbsfells gesellte sich  Hufschlag. Fast ein ganzes Banner Reiterei walzte auf dem Karrenweg heran, mit stahlblinkenden Rüstungen, eingelegten Lanzen, drohend erhobenen Schwertern. Das Ziel war eindeutig die Brücke.

"Für Oppsteeeeeeiiin....den Siieeg!" brauste der kehlige, durch geschlitzte Visiere verzerrte Schlachtruf des Feindes.

Kreuzer dachte keinen Augenblick daran, selbst blank zu ziehen. Um Haaresbreite wäre er in einen dieser verfluchten Spreizdorne gelaufen, als er auf den Weg lief. Tropfnass, mit pflatschenden Schritten eilte er auf das Brücklein zu: "Sie kommen!!!"

Hohl polterten die schwarzklebrigen Brückenplanken unter seinen Stiefeln. Der Steinbockgardist schrief auf, als hart und spitz etwas seinen Stiefelschaft durchbohrte.

Im ersten Moment dachte er an Krähenfüße, die vielleicht doch zwischen den pechgetränkten Strohballen lauern mochten. Dann sah er, dass ein rotgolden gefiederter Pfeil in seiner Wade steckte. Es fühlte sich an, als hätte ihn ein wütender Hund gebissen, auch wenn das Geschoss sicher mit letzter Kraft herangesegelt war. Er wollte weiterhumpeln, aber der gleißende Schmerz allein schickte ihn auf die Bretter. Sein Blut mischte sich mit Pech. Selten hatte er sich derart als Pechvogel gefühlt wie gerade jetzt – für den unsichtbaren Schützen hingegen war es ein Glückstreffer gewesen, auf diese Entfernung. Parik wollte die Zähne zusammenbeißen und sich wieder aufrappeln, ließ es aber bleiben, als er die Friedwängischen Armbrustschützen und Bleischleuderer zwischen den Bäumen sah. Das fehlte noch, dass er seinen Gefährten im Schussfeld herumrannte. Also kroch er los, beflügelt durch einen weiteren Boronsboten, der hinter ihm ins Holz schlug. Einen Herzschlag lang peinigte ihn die Vision eines Brandpfeils, der die Brücke in einen heißlodernden Scheiterhaufen verwandeln würde, mit ihm als lebender Fackel in der Mitte. Das feurige Ende blieb aus, also robbte er weiter.

Die Rotblauen im Grün des Hutewald wichen bereits zurück, was vor allem an der donnernden Kavalkade lag, die geradewegs auf sie zupreschte, in deutlicher Übermacht. Diebolds Alarmhorn dröhnte - wohl, um dem Feind weiszumachen, dass auf der anderen Bachseite weit über hundert Kämpfer zu den Waffen griffen statt klägliche zwei Dutzend.

"Friedwang hääält Staaand!" klang das vertraute Brüllen Gesche Bretzelbecks.

Parik wurde kotzeschlecht. Es war seine erste schwere Verwundung, und sie schmerzte niederhöllisch, trotz des zweifelhaften Versprechens alter Veteranen, dass man nach einem Treffer wie im Rausch weiterkämpfte. 

"Armbruster, schießt endlich auf die Scheiß Plänkler" befahl Gesine, die Konnetabelin. "Schleuderer, lasst die Reiter heran, bis ihr das Weiß in den Augen ihrer Pferde seht. Haltet mir ja Stand, bei Rondras Donnerfürzen!"

Kreuzer wollte weiter kriechen. Im nächsten Moment wurde er von ungemein kräftigen Händen gepackt. "Ich ergebe mich!" wimmerte er, verwirrt von der dunklen Korgabe namens Schmerz. Einen Augenblick später wurde ihm klar, dass die Oppsteiner vermutlich einfach über ihn hinweg galoppieren würden. Ohne Gefangene zu machen.

Es war ausgerechnet Gesine, seine humpelnde, nicht mehr ganz jugendfrische Befehligerin, höchstselbst, die ihm aufhalf, gedeckt unter einem Schild. Gemeinsam hinkten sie auf die schützende Baumreihe zu, während das Stampfen der Hufe lauter und lauter wurde:

"Oppsteiiiin.....Sieg!"

 Aus den Augenwinkeln sah Kreuzer flatternde Schabracken und das Glänzen von Waffen und Rüstungen. Ein einzelner Karren versperrte den Oppsteinern den Weg zum Lager. Das war nicht viel.

"Wir müssen die Brücke anzünden!" stöhnte Parik, nachdem ihn Gesche gegen einen knorrigen Eichenstamm gelehnt hatte.

Die Konnetabelin grinste schief. "Müssen wir das? Die hat auch mal ein Zehntpflichtiger bezahlt." Kurz und rabiat packte sie den Pfeil, der aus Pariks Stiefel ragte, und knickte ihn knapp hinter der Einschlagsstelle ab. Der Pechvogel brüllte vor gnadenlosem Schmerz, röchelte zum Peraineerbarmen, spuckte klebrigen Speichel und sackte dann mit unterdrücktem Stöhnen in sich zusammen. 

"Oder ein Fronbauer zusammengenagelt!" ächzte er zwischen zusammengepressten Zähnen.

Gesche lachte herzhaft auf. Zur guten Laune trug auch ein Bleigeschoss bei, das einen der Oppsteiner Reiter – Päng – am Helm traf. Mit Müh und Not hielt er sich im Sattel, musste aber zur Seite hin ausweichen.

Der Rest staute sich wie erhofft an der Brücke. Zwei Bolzen trafen ihr Ziel, ein Schwergerüsteter rutschte in den Bach und blieb scheppernd liegen.

"Kämpfend zurückziehen!" hörte Gesche neben sich ihren Baron sagen, der hoch zu Ross auf die Angreifer blickte. Alriks Lieblingsmanöver.

"Zurückweichen!" kommandierte sie laut. Die ersten Hufe dröhnten auf dem mit Pariks Blut und Pech verschmierten Brücklein. "Langsam."

Die Friedwangen hasteten erleichtert in den Wald. Die Schützen warfen sich die Armbrüste an dicken Riemen über die Schultern, während die flinken Schleuderer weiter auf die Reiter zielten, die nun mit schnaubenden Rössern heranpreschten. Auch Parik hinkte los, ein wenig enttäuscht, dass ihn nun niemand mehr aus dem Gefahrenbereich zerren wollte. Im nächsten Moment wurde er auch schon gepackt und über Flockes Rücken geworfen, wie ein entführtes Burgfräulein. Mit wehendem Mantel ritt Alrik durch den Hutewald. Parik sah zu seinem Erstaunen, dass der Herr Harnisch trug, was reichlich ungewöhnlich war, und in Verbindung mit dem bunt gefiederten Streunerhut erst recht merkwürdig aussah. 

Ein Oppsteiner Reiter, vermummt in Stahl, versuchte ihnen den Weg abzuschneiden und zielte mit der Lanze auf den Baron. Im nächsten Augenblick hatte Alrik eine Reiterarmbrust in der Hand. Pläng. Das winzige Geschoss prallte von der Rüstung seines Gegners ab – wenig überraschend. Einen Herzschlag später durchbohrte die Lanze die Flanke von Feuerflocke, vielleicht sogar unbeabsichtigt.

Kreuzer stürzte aus dem Sattel, verblüffend sanft zwischen Farne und Sträucher. Dann hörte er den schrillen Schrei von Alriks gestürztem Streitross. Die Kriegslanze hatte sein eigenes Bein nur um Fingerbreit verfehlt. Der Baron war unter dem herrlichen Tier eingeklemmt, und brüllte selbst vor Schmerz. Der Oppsteiner trabte ein weiteres Mal an, und versuchte dem Baron von Friedwang, wenig rondrianisch, mit der Lanze den Rest zu geben. Offenbar hielt er den phexischen Herren des Friedstein selbst nicht für besonders ehrenhaft.

Ohne auf das Blut und das Wasser in seinen Steifeln zu achten, den Schmerz in einem zornigen Angriffsschrei heraus brüllend, warf sich Parik auf den Gegner, sein Schwert mit beiden Händen wie ein Hellebarde umklammert. Die Klinge bohrte sich durch die Schabracke des feindliches Streitrosses und drang mit nassem Geräusch durch Fell und Bauchdecke.

Nun stürzte auch der Oppsteiner. Parik sank  in die Knie. Mehr als einen Augenblick lang war er benommen. Alles verschwamm vor seinen Augen, der ganze Wald verwandelte sich in ein Unterwasserreich. Als Kreuzer wieder einigermaßen klar sehen konnte, rasselte vor ihm ein Morgenstern. Der feindliche Ritter holte lässig aus, um dem Gegner den sturen friedwängischen Bauernschädel zu zertrümmern. Im nächsten Moment wurde der Steiner selbst durch einen trollhaften Hieb von den Beinen gefegt. Es war Alrik, der den Prügel aufgelesen hatte. Patschend fiel der Schwergerüstete in eine schlammige Pfütze, die der nächtliche Regen im Hütewald hinterlassen hatte. Brüllend vor Wut warf sich der Friedwanger auf seinen Gegner, riss ihm den Helm herunter, und versuchte ihn ungalant im Dreck und Schlamm zu ersticken.

Feuerflockes Mörder erwartete ihn mit einem Dolchstoss, der an Alriks Harnisch abprallte, nicht ohne eine häßliche Delle zu hinterlassen. Dann traf den Friedwanger ein wuchtiger Hieb mit dem Panzerhandschuh. Stöhnend sank der Baron zu Boden. Klirrend und scharrend rappelte sich sein stoppelhaariger, verschwitzter Kontrahent auf.

"Halt dich da raus, Hundsfott", raunzte der Adranit und trat Parik, der matt sein Schwert heben wollte, mit eisernem Schuh zur Seite.

Dann wandte er sich dem schwankenden Baron von Friedwang zu, der mühsam auf die Beine fand. "Jetzt zu dir, Streunerlein. Ich werd dich lehren, Oppstein zu bedrängen wie eine deiner Huren!"

Arik wischte sich etwas Blut aus der Nase und sah beiläufig auf das Wappen seines Kontrahenten.

"Der Herr von Pimmeln, sieh an! Stößt dich Adran auch in den Arsch oder warum bist du so erpicht darauf, über den Yaquir zu gehen?"

Es war der Herr von Immeln, der da gerade heranstapfte. Parik staunte nicht schlecht, soweit es seine gebrochene Rippe und die durchbohrte Wade es zuließ.

Der Oppsteiner hatte die Waffe getauscht und drang mit schnellen, schwungvollen Schwerthieben auf den Friedwanger ein, der mit dem Rapier konterte. Es war ein häßlicher Kampf. Der Immelner versuchte dem Streuner die Schwertpommel ins Gesicht zu rammen – ein weitverbreiteter Trick, der auch bei der Steinbockgarde geübt wurde. Alrik war leichter gerüstet und bewaffnet, aber schneller. Er duckte sich. Mit einem häßlichen Ratschen durchtrennte er dem Geharnischten die ungeschützte linke Kniekehle. Der Verwundete schrie und wehrte einen Kehlstoß ab. "Ehrloser...Hochstapler!"

Zufrieden sah Alrik auf das Blut, dass die Klinge herab rann. "Du hast Funke aufgespießt, verdammte Orkfresse. "

Schreiend griff der Herr von Immeln an. Der Hieb durchtrennte Alriks Augenklappe und schrammte böse über dessen Gesicht. Im nächsten Moment schlug der Baron den Oppsteiner den Rapiergriff ins Gesicht. Der Ritter stolperte, ein Tritt gegen das blutende Bein brachte ihn endgültig zu Fall.

Im nächsten Moment hatte er Rabenfrass´ Spitze an der ungeschützten Kehle. Alriks freie Hand umschloss den Rapierknauf, um dem Todesstoß mehr Kraft zu geben.

Die Augen des Delinquenten waren weit aufgerissen. "Gnade!" würgte er widerwillig hervor. "Ich ergebe mich!"

Alriks Augen wanderten zu Feuerflocke, dessen Hufe schwach zuckten. Mühsam versuchte sein vierbeiniger Gefährte, den Kopf zu heben. Von ihm Abschied zu nehmen?! Es fehlte nicht viel, und der Baron von Friedwang hätte losgeheult.

"Verrecken sollst du!" brüllte er und meinte den Herrn von Immeln. Speichelspritzer flogen umher.

Der Stoppelhaarige hatte seine Augen fest geschlossen. Die Lider flatterten.

"Tut es nicht", hörte Alrik eine ruhige, oder besser gesagt mühsam beherrschte Stimme sagen. "Ein Pferd....ist ein Pferd, Herr...und ein Mensch...ist trotz allem... ein Mensch!"

Es war Parik, der gesprochen hatte. Jedes einzelne Wort schien ihm kaum erträgliche Qualen zu bereiten.

Der Herr von Friedwang atmete tief durch. Dann trat er beiseite. "Euer Leben war gerade nur noch einen Kreuzer wert. Von Immeln, Ihr seid mein Gefangener!"

Alrik von Friedwang sah zu seinem Streitross hinüber, das noch immer ein mattes Schnauben von sich gab. Der Baron von Friedwang ging hinüber, ohne jede äußere Regung, und gab ihm den Gnadenstoß. Kurz bäumte sich das edle Tier noch einmal auf, ein jämmerliches Zittern, dann lag es reglos in seinem Blut. Feuerflocke war verweht.

 

 

Gesche wich derweil zurück. Der lichte Wald war nicht das schlechteste Gelände, um sich in der Unterzahl gegen Reiterei zu behaupten. Auf Dauer aufhalten würden die Bäume den Gegner nicht. Dafür gab es einfach zu wenig Unterholz. Die Konnetabelin verstand die Welt nicht mehr. In der gestrigen Besprechung hatte es geheißen, dass die Oppsteiner nie im Leben über die schmale Brücke hinweg Ismenas Hauptmacht angreifen würden. Nun taten sie genau das. Hatten sie doch spitz bekommen, dass nur eine kleine Truppe auf dieser Seite des Baches ausharrte? Würden sie dem Gros der Ismenischen folgen, konnte es schnell unangenehm werden. Sie mussten den Gegner binden, zumindest eine Zeitlang, koste es, was wolle.

Ihre Friedwangen schlugen sich nicht schlecht, vor allem die Schleuderer, aber auch ihre Beilwerfer heizten den Reitern tüchtig ein. Ein Tock zeigte an, wenn ein Bleigeschoss in den Baum schlug, ein lautes Pläng einen Treffer gegen Metall. Dennoch wichen die Steinböcke immer mehr zurück. Dort drüben leuchteten bereits die gestreiften Zelte des Nachtlagers, mit den qualmenden Überresten der Lagerfeuer. Klirren, Brüllen, Wiehern hallte zwischen den Bäumen wieder, unwirklich und überderisch, als hätten sie bereits Rondras Vorburg betreten. Zwei der Friedwangen hatte Golgari schon erwischt, Arnulf und Perainike, beides gute Leute. Ein dritter Kämpfer lag bäuchlings am Boden, ein tiefes Lanzenloch im Rücken, und zuckte sein Leben aus. War das Goswin ?

Die Oppsteinischen waren klug genug, sich auf dem Karrenweg zu halten, jedenfalls nicht im Wald zu zerstreuen, wie Gesche gehofft hatte. Zwei Knappen, ein Bursche und ein Mädel, waren abgestiegen und versuchten den Karren beiseite zu schieben. Gesche schloss das Visier des Schallers, hob ihr Schwert und drang auf die beiden Halbwüchsigen ein, die erschrocken zurückwichen und ihre Kurzschwerter zogen. Rondra befohlen. Es waren halbe Kinder, auf die sie nun einhieb, aber bereits gut ausgebildete Lehrlinge im Kriegshandwerk. Nach wenigen Stichen und Hieben blutete Gesche aus mehreren Wunden, ohne einen einzigen Treffer gesetzt zu haben.

"Sie gehört mir!" gellte eine mädchenhafte, aber befehlsgewohnte Stimme, hinter einem drachenkopfähnlichem Visier. Das Wappen zeigte die Baroness von Oppstein an, Wohlgeboren Praiodane. Deren junge Mitstreiter zogen sich zurück.

Mit schrecklicher Klarheit spürte Gesine Bretzelbeck aus Schneiß, dass sie dieses Gefecht nicht überleben würde. Gar nicht überleben konnte. Dennoch hob sie ihr Schwert, um ihr Leben so gut wie möglich zu verteidigen. Wenn schon eine unadelige Kämpferin, dann wenigstens eine untadelige Kämpferin, bei der Himmlischen Leuin! 

Zu ihrem Erstaunen glitt die Baroness aus dem Sattel, und klirrte zu Fuß auf sie zu. "Du bist tapfer", hörte Gesche die Drächin sagen. "Außerdem hinkst du. Ich möchte dich nicht abstechen wie ein waidwundes Tier."

Gesine nickte anerkennend und hob die Klinge zum Rondragruß. Was Praiodane wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass die Feindin mal vor vielen Jahren mit ihrem Vater geschlafen hatte?

Die Art, wie Praiodane angriff, hatte etwas Tänzerisches und ungemein Elegantes. Offenbar glaubte sie wirklich, dass Gesche erst vor kurzem am Bein verwundet worden war, zumindest griff sie nicht allzu tief in die Trickkiste eines Schwertkämpfers. Fast schien, als wolle sie die Friedwangerin schonen. Gesche wiederum wollte der Baroness zeigen, dass sie zu fechten verstand wie eine "von und zu". Praiodane blockte Gesches Angriff, Funken sprühten. Dann hieb sie selbst eine üble Delle in den Schaller der Konnetabelin. Ein Schaukampf war das hier trotz allem nicht.

Im schnellen Konter schrammte Gesches Schwert über den Panzerhandschuh der Baroness. Diese gab nun doch einen Schmerzenslaut von sich. Die nächste Attacke kam von unten: Gesches Spezialität. In diesem Fall funktionierte die ungewohnte Attacke im Immanstil nicht. Praiodane parierte, wenn auch taumelnd. Nicht schlecht. Auch einen Spalthieb über Kopf schlug die Oppsteinerin kraftvoll beiseite.

Praiodanes Gegenstoß ging ins Leere. Die Bewegungen der beiden Frauen wurden schwerfälliger. Sie umkreisten sich, prüften die Schwäche der jeweils anderen. Gesche merkte, wie ihr unter dem Helm langsam die Luft knapp wurde. Ihr war heiß, sie schwitzte zum Praioserbarmen und begann zu stinken, nach Blut und Schweiß, während die Wunden wie Feuer brannten.

Dumpfer, durchdringender Hörnerklang ließ die Baroness in der Bewegung erstarren. Die kleine friedwängische Reserve stürmte aus dem Lager herbei, auf wendigen Aarmaris. "Friedwang voran, für Alboran und Alveran!" brüllte der Leutinger Herdfried Thanner theatralisch.

Praiodane wich zurück und riss das Visier hoch. Ein hübsches, zierliches, typisch märkisches Jungfrauengesicht kam zum Vorschein. "Das ist eine Falle!" rief die Baroness mit heller Stimme. "Rückzug! Rückzuuug!"

Diebolds Alarmhorn ersetzt wirklich eine ganze Armee, dachte Gesche zufrieden, die ihr eigenes quietschendes Visier hochruckte und keuchend durchatmete.

Sie deutete mit dem Schwert erst auf Praiodane, dann auf deren Streitross, das mit rohalscher Geduld auf dem Kampfplatz ausgeharrt hatte. "Bitte, Euer Wohlgeboren!"

Praiodane sah sie durchdringend und ein wenig ungnädig an. Dass sie von einer Gemeinen großmütig und ehrenvoll behandelt wurde, wie von einer gleichgestellten Aristokratin, schien durchaus an ihrem Selbstbewusstsein zu nagen. Gesche gab einem Friedwangen, dessen Gesicht sie unter dem klobigen Eisenhut nicht erkannte, und der sich aus dem Hinterhalt anschleichen wollte, ein Zeichen, sich zurückzuhalten. Der Mann senkte das Wurfbeil. Praiodane von Oppstein beeilte sich, in den Sattel zu kommen. Mit knappem, herrischem Gruß warf sie den Zügel herum und sprengte ihren Gefährten hinterher.

Nur langsam beruhigte sich Gesches Atem. Sie ahnte nicht, dass die blutige Attacke gerade eben nur ein Scheinangriff gewesen war, mit dem Ziel, die Ismenischen aufs freie Feld zu locken. Das Scharmützel im Hütewald war zu Ende.

Die Schlacht am Oppenbach hatte gerade erst begonnen.



Auf dem Hügel nördlich des Oppenbach, erste Tsastunde

 

 

Mit der menschlichen Ehrsucht war es so eine Sache.

 

Aarmarsland, der prunkvoll geschmückte Herold des Sichlerbundes, musste zugeben, dass ihm derische Eitelkeit keineswegs fremd war. Seufzend legte er seinen Federhut auf den Herrentisch, der nach dem Aufbruch der Reiterei verwaist wirkte. Im Schatten des schabrackengeschmückten Baldachins, der sich auf der höchsten Anhöhe erhob, war es jetzt, zur frühen Morgenstunde, noch immer frisch.

 

Dankbar nickte er dem Pagen zu, der ihm einen Becher Hippokras reichte, pappsüßen garetischen Würzwein.

 

Auf den ersten Blick hätte sich der Herold auf einem Turnier wähnen können. Wie von einer Tribüne aus vermochte man auf dem Hügel die gesamte Umgebung zu überblicken, mit der Biegung des rasch dahin rauschenden Oppenbachs als Blickfang.

 

Der Wasserlauf näherte sich von Norden, Adrans Residenzort her, und bog dann, an der Holzbrücke, elegant gen Südwesten ab.

 

Auf der anderen Seite erstreckte sich lichter Wald, der in Richtung Berge überwiegend aus Nadelbäumen bestand, ansonsten rasch in Mischwald überging. Einige rauchende Nebelreste hielten sich tapfer zwischen den Bäumen.

 

Im Talgrund erstreckten sich hie und da ein paar Brachen und langgestreckte Getreidefelder, die, von Hecken eingerahmt und halbhoch bewachsen, nicht sonderlich zum Schlachtfeld taugten.  

 

Aarmarsland war froh über seinen Tappert, den Wappenrock mit den schwarzsichler Farben, in der doch noch kühlen Luft. Auf dem Hügel wehte ein zarter Wind, das Gras war taufeucht. Einige der Bauernsoldaten husteten. Später würde der Herold sicherlich  schwitzen, wie es gestern den ganzen lieben Praiostag über der Fall gewesen war. Den Adran etwas heuchlerisch mit einem alveransgefälligen Götterdienst hatte ausklingen lassen. 

 

Der Herold hatte es geschafft, sämtliche Beobachter und "Schiedsrichter" auf der Anhöhe zu versammeln. Sehr zur Freude Baron Adrans, der diesen Umstand wohl als diskrete Parteinahme verkaufen wollte. Zumindest schien die Anwesenheit der Traviadiener und Rommilyser Ritter die Kampfmoral der Oppsteinischen zu heben - die unter dem Gerücht litt, dass ihr Herr in der Markgrafenstadt in Ungnade gefallen sein sollte. Aarmarsland war in Wahrheit daran gelegen, dass kein Außenstehender etwas von Ismenas Kriegslist mitbekam - die im Wesentlichen ein Werk der durchtriebenen Jadvige von Kressenbrück war, Glyranas Hausritterin. Jadvige war neben Deggen von Baernfarn, Ismenas rondrageweihtem Vater, die eigentliche Planerin auf der Gegenseite, wenn es um Kriegskunst ging. 

 

Im Schutze der Nacht hatte es einen Stellungswechsel der Ismenischen gegeben, hinauf zu einer seichten Stelle im Bach, die im Laufe des Tages wieder überflutet werden würde, vom Schmelzwasser der Gletscher. Der Herold bemühte sich, nicht zu der Stelle zu blicken, an der Baumstämme im Wasser lagen, neben großen Trittsteinen, und wohl auch Seile über den Bach gespannt worden waren.

 

Lares hatte davon nichts bemerkt, was sicher auch an der grellen Morgensonne lag. Womöglich missfiel es Rahja, als Herrscherin der Himmelsrichtung, dass sich Adrans Gespiele dem schnöden Kriegshandwerk hingab, statt sich ganz der Liebe zu widmen. 

 

Aarmarsland hatte ein paar Mal mit dem Befehliger angestoßen, um ihn abzulenken. Seine Hoffnung, den Feldherren betrunken zu machen, ein wenig zumindest, hatte sich nicht erfüllt. Lares ließ sich jedes Mal reichlich Wasser in den Kelch schenken.

 

Der Hochfelser schien froh zu sein, dass der blonde Herold, dem er nicht traute, auf dem Hügel festsaß und nichts an Ismena berichten konnte - auch wenn es für Aarmarslands Berufsstand nun wirklich als ehrenrührig galt, sich als Spion für eine Seite zu verdingen. Nein, das Wirken seines Gastes war dezenter: Aarmarsland hatte dafür gesorgt, dass seit gestern Abend keine "Gänse" mehr Ismenas Lager aufgesucht und die Kriegslist mitbekommen hatten. Verplappert hatte sich einer schnell, unparteiisch hin oder her...

 

Aarmarslands Aufgabe würde es sein, nach der Schlacht die Oppsteiner Gefallenen festzustellen, vor allem natürlich die Verluste unter den Wappenträgern, vielleicht auch schon erste Lösegeldverhandlungen zu führen. Sein treuer Persevant war mit der gleichen Aufgabe auf der Gegenseite betraut - es herrschte gerade Bruderkrieg in den Reihen des Schwarzsichlerbunds. Nicht zuletzt oblag ihm auch das Verfassen eines Berichts, für die Chronik der Aarmarischen Lande, die er schon seit vielen Götterläufen führte.

 

Waffenlärm lenkte ihn ab. Die Traviajünger, zu denen auch einige Badilakaner zählten, beobachteten gerade das Scharmützel an der grauschwarz glänzenden, mit Pech, Stroh und zusätzlichen Holz präparierten Brücke. Der Scheinangriff der Reiterei hatte begonnen.

 

Vor allem die Mönche und Nonnen verzogen schmerzhaft das Gesicht, als es den einen oder anderen Oppsteiner frühzeitig aus dem Sattel hob. Ansonsten war die Kampfszene mäßig spannend. Ein rotblauer Friedwanger oder Schlotzer, der sich zu weit vorgewagt hatte, war von einem Pfeil getroffen und von seinen Leuten in die Sicherheit des Waldes geschleppt worden. Die Kämpfe schienen sich gerade dorthin zu verlagern, Brüllen, Wiehern und Schreie wehten matt den Hügel hinauf.

 

"Krähenfüße, musste das denn unbedingt sein?", sagte die ehemalige Gänseritterin gerade, deren Name irgendwie niemand zu kennen oder auszusprechen schien. Jeder nannte sie "unser Rommilyser Kindermädchen", mit dem üblichen Misstrauen, den Sichler Tiefländern entgegenzubringen pflegten.  Zumal, wenn die Bergbewohner den Alten Kulten nahe standen. Die ehrwürdige Mutter hatte mehrfach Flüche und Ausrufe der Oppsteiner getadelt, die in einem fort die Namen Sokramors, Satuarias, Levthans oder Sumus im Munde führten - selbst noch beim vermeintlichen Zwölfgötterdienst.  

 

"Eine grausame und wenig ehrenvolle Waffe, dünkt mir", nörgelte das Kindermädchen. 

 

"Die Unfriedwangen haben sie als erste eingesetzt, oben am Verräterpass". Lares klang leicht ungehalten. "Unsere Sperre ist ja keine hinterhältige Falle, Euer Gnaden, anders als bei den Kunberts. Sondern für die Angreifer gut sichtbar. Wir schützen damit nur unsere Heimat..."

 

"Gänsefüßchen sind es nicht", entschlüpfte es dem Herold. Um abzulenken, hob er lächelnd den Hippokras. Er musste keinen kühlen Kopf bewahren, im Gegenteil, wenn er in ein paar Stunden das Schlachtfeld inspizieren würde, wollte er nicht mehr allzu nüchtern sein. Die ersten Krähen saßen schon in den Bäumen und warteten ebenfalls geduldig. 

 

"So waren es also die Oppsteiner, die Alriks Wagenschanze angezündet haben", fragte die Geweihte, "noch vor Fehdebeginn?! Ebenfalls nicht sehr ehrsam, dieser Überfall, scheint mir..." 

 

Die Priesterin blickte ungnädig auf einen Landwehrsoldaten, der eine Handvoll Erde an den Mund führte. Diesen abergläubischen "Sumukuss" hatte sie den Oppsteinern ebenfalls abgewöhnen wollen. 

 

Eine Bäuerin huschte gerade hinter einen Busch, zog dort ihre Hose herunter und ging in die Hocke. Der eine Fußsoldat blickte apathisch, der andere neidisch auf das protzige Zelt der Adeligen, das einer Jagdgesellschaft gut zu Gesicht gestanden hätte.

 

Eine Bäuerin spuckte gerade zum wiederholten Mal aus, offenbar nicht nur Speichel. Der Milizionär dort nahm in einem fort den Eisenhut ab und wischte sich nervös über die Stirn, auch wenn jetzt, zur Tsastunde, noch niemand schwitzte. Gebete wurden gemurmelt, hie und da sogar gemeinsam mit den orangeberobten Badilakanern. Mut war das eine, aber der sterbliche Leib selbst, der am Leben hing, ließ sich vor einer Schlacht nicht so leicht betrügen. 

 

Aarmarsland seufzte. Auf dem Hügel grassierte die Angst, wie eine Seuche. Er war sicher, dass es auf der Ismenischen Seite nicht sehr viel anders aussah, zumindest unter den einfachen Kämpfern. Es hatte seine Vorteile, Herold und damit unantastbar zu sein, bei den Rechtgläubigen zumindest.

 

Lares schien das alles nicht zu bemerken, auch wenn seine Hand ebenfalls leicht zitterte. "Wer die Wägen angezündet hat, das weiß Phex allein", sagte er, mit rauer Stimme. Hastig hustete er sich frei. "Mag sein, dass empörte Oppsteiner Bauern zur Selbsthilfe gegriffen haben. Allerdings....Ich traue es Alrik zu, den Zwischenfall selbst inszeniert zu haben. "

 

"Nun, auf seine Leute darf er ja wohl Spreiznägel werfen." Die Traviageweihte verzog den Mund, als sie den Ritter sah, der in den Oppenbach gerutscht war, mühsam an der Brücke nach oben kroch, seinen Helm herunter zerrte und reglos liegen blieb. Am liebsten hätte die Geweihte ein paar ihrer orangefarbenen "Kupferlinge" losgeschickt, um den Verwundeten zu bergen. Der schien sich vor allem beim Sturz verletzt haben zu schien. Aber um den Schwergerüsteten bis zum Verbandsplatz zu schleppen, dafür hätte es schon einen Karren gebraucht. 

 

Ein Alarmhorn dröhnte, mit mehrfachem Nachhall zwischen den Bäumen. Die Trägerinnen der echten Krähenfüße flatterten erschrocken hoch und ließen sich erst wieder in einiger Entfernung nieder. 

 

Aarmarsland sah, wie Praiodanes Reiter aus dem Wald zurückkehrten, und polternd über die pechverschmierte Brücke ritten. Den hastigen Rückzug nach dem Scheinangriff spielten sie glaubwürdig. Auch die Bogenschützen am Ufer zogen sich zurück, in Erwartung einer großen Konterattacke. Die Schlacht rückte spürbar näher. Hastig trank Aarmarsland noch einen süßen, schweren, würzigen Schluck.

 

Ismenas Ansturm blieb aus, natürlich. Lares kratzte sich nervös am Bart. Die Reiter sammelten sich in einem Pfeilschuss Entfernung von der Brücke. Armbrustbolzen flogen aus dem Grünen, in Richtung von Adrans Plänklern. Diese rückten wieder vor und erwiderten den Beschuss der Rotblauen.

 

Ein Oppsteiner Schütze wurde voll getroffen und fiel ins Gras, wie ein gefällter Baum. Ein wenig kam sich der Herold wie ein Besucher der Al´Anfaner Arena vor, der sich gefahrlos am Leiden anderer Menschen ergötzte.

 

"Da drüben...sie kommen von da drüben!" rief einer der Söldner, der seine Augen mit der einen Hand schützte und mit der freien Hand aufgeregt gen Rahja deutete, zur Furt.

 

Tatsächlich, im Gegenlicht waren nun Dutzende Schemen zu sehen, die scheinbar mühelos über den Oppenbach setzten,  wie  Geister. Die Ismenischen kamen geradewegs aus der Sonne, als wären sie Greifen im Kampf gegen die Schattenländer. Reiter galoppierten vorneweg, zur Sicherung. Der Vormarsch sah ziemlich ungeordnet aus, trotz allem. Auch wenn der Spielzug geschickt war - egal ob ihn sich nun Deggen oder die Kressenbrück ausgedacht hatte - es waren keine Gardebanner, die dort unten aufmarschierten.  

 

Lares sah stirnrunzelnd zu, wie sich die feindliche Heerschar auf der Bachwiese entfaltete. Er schien zu überlegen, ob er den Großangriff auf die "Eindringlinge" wagen und vom Hügel herunter steigen sollte. Unsicher blickte er zur Brücke.

 

Aarmarsland konnte das Dilemma des Hochfelsers verstehen. Würde er frontal über den Karrenweg hinweg die Neuankömmlinge attackieren, musste er damit rechnen, dass ihm weitere Feinde in die Flanke fallen würden, von der Brücke her.

 

Zünde die Brücke an und greif auf der Wiese an, dachte Aarmarsland bei sich, aber wirklich nur bei sich. Eine einzelne stahlglänzende Reiterin löste sich aus dem Pulk, der sich vor dem Steg versammelt hatte. Es war Baroness Praiodane, die ihren Rittern den Rücken kehrte und den Hügel hinauf ritt. Nicht gerade das, was man von einer Befehligerin im Kampf erwarten durfte. Aber nun gut, die Edle von Senwitz war noch jung und unerfahren.

 

Praiodane parierte ihr Pferd und öffnete das Drachenkopf-Visier: "Sie haben im Wald auf uns gelauert", sagte die junge Frau, eher aufgeregt als ängstlich. "Ein Hinterhalt...aber sie verfolgen uns nicht. Sollen wir sie auf der linken Flanke angreifen?" Sie deutete zur "Furt". 

 

Lares nagte an seiner Unterlippe. 

"Das könnte eine Falle sein", sagte er dann. "Wir greifen sie vom Hügel herunter an und der Rest fällt uns in die Seite...von der Brücke her?"

 

"Dann müssen wir sie sofort in Brand stecken" sagte Praiodane und versuchte ihr wild stampfendes Streitross zu bändigen. "Wenn wir jetzt auf der Wiese angreifen, sind die Ismenischen im Nachteil..."

 

"Das will das heimtückische Biest doch", sagte der Hochfelser. "Uns vom Hügel runterlocken." Lares hatte gemerkt, dass sich der Riemen seiner Schulterplatte gelöst hatte. Herrisch winkte er einen Knappen herbei, um sie wieder zu befestigen.

 

"Du warst doch auf der anderen Seite, Praiodane. Wieviele Feinde sind  drüben im Wald? Steht dort Ismenas Hauptmacht? Oder ist das der Heerhaufen dort unten auf der Wiese...?" Der Hauptmann blinzelte in diese Richtung. Es war, als wolle Praios selbst der jungen Baernfarn beistehen. Nun blinkten und glänzten auch noch die Rüstungen der  Ismenischen, als wären sie geradewegs von Alveran gesandt worden.

 

Die Baroness wirkte verlegen - und ein wenig erbost. Fast schien es, als wolle Lares ihr die Verantwortung zuschieben, für jede Abweichung von Adrans Befehlen. Wie hieß es so schön beim Imman: Nimm du den Kork, ich hab ihn sicher.  

 

"Ich weiß es nicht", sagte Adrans Tochter ehrlich. "Nicht...genau...Da waren..vor allem Friedwangen im Wald, denke ich."

 

"Dann müsst ihr die Ismenischen dort noch einmal angreifen und versuchen, mehr über ihre genaue Stärke herauszufinden. Die Lage, äh, sondieren...erst dann kann ich eine Entscheidung treffen."

 

Praiodane nickte knapp und ritt zu ihren Waffengefährten zurück. Der Herold schüttelte innerlich den Kopf. Lares schien der Tochter seines Geliebten nicht besonders gewogen zu sein. Wenn die Reiter Pech hatten, würden sie von zwei Seiten her in die Zange genommen. Womöglich wollte der Hochfelser die Adeligen sogar als eine Art Köder benutzen, um den Feind endgültig aus der Deckung zu locken.

 

Ein Feuerschweif lenkte Aarmarsland ab, der im niedrigen Bogen von der Wiese her aufstieg und in Richtung der Oppsteiner Ritter sirrte, als wäre nun endgültig der Zorn des Praios entbrannt. Schon die langgezogene Rauchfahne sah beeindruckend aus.  

 

Es war ein flammender Speer, der über die behelmten Köpfe hinwegflog, sie deutlich verfehlte und geradewegs in der Brücke einschlug. Die Pferde scheuten, das eine oder andere Streitross begann zu steigen. Eine grelle Stichflamme stieg am Bach empor, in Windeseile stand erst das Stroh und dann die ganze Holzbrücke in Flammen. 

 

Aarmarsland war sich nicht ganz sicher, ob das gerade eben ein Versehen oder Absicht gewesen war. Aber Lares musste nun klar sein, dass der Hauptangriff von der Furt her erfolgen würde. Die Sonne wanderte weiter und enthüllte die Feldballiste, die vor den vordersten Reihen der Ismenischen stand, gedeckt von einigen Pfahlgardisten. Eine Riesenarmbrust, die auf einem vierrädrigen Karren stand.

 

Die Reichweite des Geschützes war beeindruckend, das Ding befand sich fast eine Viertelmeile von Praiodanes Kämpfern entfernt. Die junge Oppstein blickte zu den  Fanfarenbläsern, die am Hang vor dem Baldachin standen, und wartete auf ein Zeichen: Angriff? Rückzug?

 

Das Zeichen kam nicht, was auch an den Marktschützen lag, die gerade versuchten, den armen Ritter am Bach zu bergen. Sie hatten ihn schon ein ganzes Stück von der Feuersbrunst fortgeschleift, dem dichten Rauch zum Trotz. War der Verwundete der edle Dardulan von Sturmfels, ein weiterer Günstling des Barons? Ja, der Waffenrock, der ihm abgenommen wurde, zeigte den roten Sparren auf silbernen Grund. Aarmarsland stellte den Hippokras beiseite und zückte sein Notizbrett. Das Treffen war noch keine Stunde alt und bereits der erste Adelige schwer blessiert. Das würde heute ein heftiger Kampf werden. 

 

"Verzeiht, Herr." Ein silberhaariger alter Landwehrmann näherte sich Lares. Den Eisenhut hatte er abgenommen, nur die Bauernhaube schmückte noch sein wettergegerbtes Gesicht. "Ich bin aus Oppstein, Euer Wohlgeboren...darf ich sprechen?"

 

Lares winkte ihn großmütig heran, während seine Blicke mal dem Rettungsversuch, mal der lichterloh brennenden Brücke galten. "Diese Narren!" sagte er laut. "Was für ein jämmerlicher Fehlschuss! Ja, spreche er. Nicht so schüchtern, komme er ruhig näher."

 

"Ich kenn...den Oppenbach gut, Herr. Jetzt im Sommer...wird er vom Firunsheiligen Gletscher gefüllt. Je heißer die Sunn scheint....desto mehr Wasser ist im Bach. Zur Mittagszeit kommt keiner mehr rüber oder zurück, vom Feind...dann ist er wieder ein reißender Bach."

 

"Soso." Lares musterte den Bergbauern. "Er meint also, dem Rondritscherl ist zur Praiosstunde der Rückzug abgeschnitten?"

 

Der Mann nickte. "Spätestens zur Rondrastunde."

 

"Gut...gut...da scheint ja ein Feldherr an ihm verloren gegangen zu sein. Neinnein, ich danke ihm. Auch wenn ich selbst schon von der Firunsflut gehört habe. Wie ist sein Name?"

 

"Semond aus Markt Oppstein, Herr, halten zu Gnaden."

 

"Sehr gut,  Semond, dein Hinweis wird angemessen belohnt werden." Lares wollte den Bauern mit einer Handbewegung verscheuchen.

 

"Ich danke Euch, Herr. Mein Sohn, Herr, der Edric...könnt ihr ihn...ich meine...könnte er ein wenig weiter hinten seine Pflicht erfüllen? Nicht in der vordersten Reihe...ein klein wenig weiter hinten nur..."

 

Lares schaute verwirrt. 

 

"Er ist noch so jung, Herr, der Bruder und eine Schwester sind im Krieg geblieben...im großen Krieg, mein ich."

 

"Soso." Adran merkte, wie die übrigen Bauern große Ohren bekamen. 

"Ist er gut zu Fuß, sein Edric?"

 

"Gewiss Herr...er ist ja noch so jung. Keine achtzehn Götterläufe alt. Mein Jüngster. "

 

"Gut, dann soll er sich auf schnellsten Weg zu Seiner Hochgeboren Adran begeben, und ihm getreulich Bericht erstatten. Er soll ruhig auch das mit dem Bach berichten. Die Falle wird bald zuschnappen."

 

Es war offensichtlich, dass Lares auf neue Anweisungen vom Baron warten würde, auch wenn er das nicht sagte. Es würde eine Weile dauern, bis Edric zurückgekehrt war, Adran hielt ein ganzes Stück weiter oben am Karrenweg Richtung Oppstein Wacht. Irgendjemand hatte behauptet, dass seine "wahre Feindin", die Herrin von Rosenbusch, bereits Reiter an die Grenze geschickt hatte, um dem "Hexenbaron" bei erstbester Gelegenheit in den Rücken zu fallen.

 

Aarmarsland beobachtete derweil die Balliste, die nachzuladen nicht einfach zu sein schien. Offenbar wurde die "Riesenarmbrust" mit Hilfe einer Stange, nicht einer Kurbel, gespannt, die seitlich in eine hölzerne Welle gesteckt wurde. Nach einer gewissen Umdrehung rastete der Mechanismus ein, der Spannhebel wurde umgesteckt, wie beim Ankerspill auf einem Schiff und die Sehne wieder ein Stückweit nach hinten gezogen.

 

Fünf Schwarzgelbe waren damit beschäftigt, das klotzige Ding zu bedienen. Besonders ausgefeilt schien der Mechanismus nicht zu sein - allerdings, eine Kurbel hätte sich beim Abschuss in einen rotierenden Dreschflegel verwandelt, abgesehen von der Erschwernis beim Zielen. Da unten stand eine robuste, bewährte Kriegsmaschine, nicht mehr und nicht weniger. 

 

Auch das Ausrichten und Zielen schien länger zu dauern. In der Höhe erfolgte es durch ein verstellbares Stützbrett, unterhalb des Schafts, das wiederum in ein geriffeltes Stellbrett einrastete. Das Geschütz wurde ein wenig herumgefahren und immer wieder neu justiert, was weitere Zeit in Anspruch nahm.

 

"Ein schweres Belagerungsgerät" sagte Lares verächtlich. "Völlig falsch eingesetzt. Viel zu plump und schwerfällig für eine rondragefällige, offene Feldschlacht. Das hat man ja gerade gesehen."

 

"Die Eurigen nennen ihn den Balihoer Stier", sagte Aarmarsland ausweichend. Tatsächlich ähnelte die Armbrust einem wütenden Bullen, der seine Hörner senkte, kurz vor dem Lospreschen.

 

"Stier,  das verstehe ich. Aber warum.... Baliho?"

 

"Wegen der Brandgeschosse. Als Artema und Alboran aus Baliho geflohen sind...nun, da soll ein Orkzauberer einen Feuerstier beschworen haben, der die Stadt in Brand gesteckt hat."

 

"Gewiss, deswegen versuchen wir Ismenas Brandstifter ja auf Abstand zu halten, von unserem schönen Oppstein. Bevor die ach so firunsgläubige Baernfarn den Ort in ein zweites Baliho verwandelt", grollte der Edle von Hochfels. "Nie im Leben stammt die Erbschleicherin von der Heiligen Artema ab...Seis drum. Offenkundig bereitet das Rondritscherl gerade den Sturm auf den Hügel vor… Adran hat also völlig richtig gelegen. Wir müssen diese Position halten, und den Stier bei den Hörnern packen."

 

Aarmarsland widersprach nur in Gedanken. Gegen sich schnell bewegende Einzelziele war die Balliste, der Feuerstier, oder wie immer man die Wurfmaschine nennen wollte, sicher nicht die geeignete Waffe.

 

Irgendwie schienen es Praiodanes Reiter dem Gegner aber leicht machen zu wollen. Sie umringten den gestürzten Dardulan - eine Leibwache, die eines verwundeten Kaisers würdig gewesen wäre - und hoben ihre bunt bemalten Schilde, als könnten sie solcherart das nächste Geschoss abwehren, sei es nun Pfeil oder Speer. Drei Dutzend zusammengeballte Reiter waren einfach nicht zu verfehlen. In der Mitte wurde der unglückliche Sturmfels gerade seiner Rüstung entkleidet und auf eine Tragbahre  gelegt, halb verdeckt von seinen Standesgenossen. Aarmarsland kam es so vor, als solle das Bauernvolk den Wohlgeborenen nicht derart würdelos sehen: blutend, besiegt und besinnungslos im Staub. Womöglich wollten die Herren und Damen auch ihre Verachtung gegenüber einer derart unrondrianischen, ehrlosen Waffe zeigen, wie sie der "Stier" in ihren Augen war. Anbandeln mit Marbo nannte man solch tollkühnes Verhalten wohl. 

 

Die sinnlose Eitelkeit und Ehrsucht der Sterblichen eben...Es kam, wie es kommen musste. Der Mersinger Richtschütze zog an der Auslöserleine. Ein Speer flog von der Sehne, als wäre er Uthars unabwendbarer Pfeil daselbst, diesmal ohne Feuerschweif.

 

Die Herrin von Grünau schrie grell auf, als sie wie ein Spanferkel oder Brathähnchen durchbohrt wurde, einschließlich Schild und Harnisch. Das Ballistenopfer ließ den Streitkolben fallen und stürzte mitsamt Pferd zu Boden. Das Tier rappelte sich verstört wieder auf, mit rot bespritzter Schabracke. Die Ritterin blieb in einem regelrechten Blutsee liegen, der sich rasch unter ihrer herrlichen Rüstung ausbreitete. Die übrigen Ritter sprengten nun doch auseinander, aber es war zu spät. 

 

"Das sieht den feigen Mersinger Mordbuben ähnlich...auf Edelleute zu schießen, die einen Verwundeten retten wollen".  Lares blickte zu "Adrans Kindermädchen", das zunehmend erbleichte. Die Geweihte schien zu ahnen, was gerade hinter dem Kopf des Hochfelsers vor sich ging: Vielleicht ist es ganz gut, dass ich hier oben von Traviadienern und einem Herold umgeben bin, als lebende Schutzschilde.

 

Adrans Befehliger ließ nun doch zum Rückzug blasen. Das triumphale Schmettern der Fanfaren, die von den Oppsteiner Wappenfarben Rot und Gold geziert wurden, passte irgendwie nicht zum Anlass. Nun waren es zwei zerschundene Leiber, die den Hügel hinauf getragen wurden, eskortiert von den Rittern und Knappen, wie in einem Trauerzug.

 

"Was für eine überlegene, tadellose Haltung" verkündete Lares lauthals. "Ich erwarte, dass sich alle Oppsteiner Kämpfer ein Beispiel daran nehmen!"

 

Aarmarsland spürte den ersten Schweißtropfen auf der Stirn. So langsam heizte sich das Schlachtfeld auf. 

 

Am Mühlenbach, zwei Meilen nördlich des Schlachtfelds, Phexensstunde

 

Adran sprang klirrend und rasselnd aus dem Sattel. Nur kurz ging er unter dem Gewicht seiner fein ziselierten Rüstung in die Knie - wie es sich für ordentliches Plattnerhandwerk nebst Kettenschutz gehörte, spürte man die Last kaum. Er reichte einem seiner Leibwächter erst den Zügel und dann den Helm. 

 

"Reitet auf den Hügel dort",  befahl der Baron knapp, "meldet sofort, falls auf dem Burgberg Blinkzeichen gegeben werden".

 

Der Herr von Oppstein wischte sich etwas Staub von der blank polierten Schulterplatte und blickte verträumt auf den Oppenbach. Das Wildwasser rauschte hier oben in mehreren schäumenden Kaskaden, über einzelne Steinstufen hinweg, in Richtung Tal. An einigen Stellen gab es regelrechte Wasserfälle. Auf den Wiesen standen Sommerblumen in voller Pracht, Käfer und Bienen summten umher. Hie und da taumelte ein Schmetterling. Es war ein Bild vollkommenen Friedens - und es täuschte. 

 

"Sollte Praios Schild verdeckt sein...was heute unwahrscheinlich ist...dann werden sie ein stark rauchendes Feuer entzünden."

 

"Was ist, wenns regnet?" Ein einfältig wirkender Waffenknecht mit Topffrisur kratzte sich an den unrasierten Wangen. Er stank zum Peraineerbarmen, aber nun gut, schon gestern war ein schweißtreibender Tag gewesen. 

 

Adran lächelte fein. "Was weis ich. Dann wird es vielleicht ein Trompetensignal geben." Seine Gardisten, manchmal waren sie wie kleine Kinder.  "Hademar, glaub mir, ihr bekommt es mit, wenn die sumuverdammten Rosenbuscher anrücken."

 

"Herr, sollen wir euch wirklich alleine lassen?" fragte eine Ritterin vom Stein besorgt. Sie spähte in den Wald auf der anderen Seite des Bachs. Rechnete sie mit einer Meuchlerattacke der Ismenischen? Roana von Hochfels war Lares´ und Corelians Schwester - nicht mehr ganz so hübsch wie vor einigen Götterläufen, aber immer noch gutaussehend. Adran wollte sie bewusst vom Schlachtengetümmel fernhalten. Ein Hieb in dieses elfengleiche Gesicht wäre nun wirklich ein Rahjafrevel gewesen. Roana war eine der wenigen Schönheiten in seiner Umgebung, mit der er nie geschlafen hatte, wie er bedauernd feststellte. 

 

"Zwei von euch sollten am Weg warten.... falls Nachrichten von der Brücke kommen." Adran zog den Gürtel mit dem Schwertgehänge fester.  

 

Der Baron musste seine Stimme heben. Eine kleine Mühle klapperte laut, ihr mächtiges Rad wurde von einem Mühlbach angetrieben, der vom Oppenbach her abzweigte. Kurz vor dem windschiefen  Bauwerk wurde das Wasser angestaut und im mächtigen Schwall auf die Schaufeln gelenkt.

 

Dem grauhaarigen, feinsinnigen Aristokraten fiel es schwer, bei diesem Anblick nicht an das Rad des Schicksals zu denken, das bekanntlich von den Launen des Phex angetrieben wurde. Mal hob es einen Sterblichen nach oben, mal drohte es ihn jäh nach unten zu schleudern. Das Mühlendach und die Steinmauern, die es hier ebenfalls gab, waren dicht mit Moos bedeckt, in der feuchten Luft, die rund um das hochgewirbelte Wasser herrschte. Eine kleine Holzgalerie war mit Blumen geschmückt. In Oppstein, in seinem Oppstein, herrschte noch immer Wehrheimer Sauberkeit, allen Gerüchten über die schmuddeligen Erdanbeter zum Trotz.

 

Versonnen betrachtete Adran eine Bachstelze, die am Mühlgraben herum hüpfte. Beinahe beneidete er das Tierchen, in dessen Welt es keine Machtkämpfe, Schlachten und sonstige Herrschersorgen gab.

 

Er ging auf das kleine, aber schmucke Mühlhaus zu und öffnete die knarrende Tür in die gute Stube. Er musste seinen Kopf ordentlich senken, und zugleich das gepanzerte Bein über eine große Schwelle heben, um eintreten zu können.

 

Es dauerte eine Weile, bis sich seine geblendeten Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.

 

Am Tisch saß eine schemenhafte Gestalt, die kunstvoll einen Apfel schälte, dessen Haut sich wie eine Luftschlange zu Boden ringelte. Staub tanzte im milchigen Licht, das durch die kleinen Fensterscheiben hereinfiel, wie Myriaden von Sternen. 

 

"Du kommst spät, Adran" sagte eine fast schon beunruhigend sanfte Frauenstimme. Ihr Gesicht ruckte vor, ins Sonnenlicht. Prachtvolle rote Haare fielen zu den Schultern herab, was Adran irgendwie an die Apfelschale erinnerte. Die hübschen Rahjahügel waren so makellos rund und fest wie der Apfel selbst. Zwei blaue Augen blitzten ihn neckisch an. 

 

Alissia wirkte auf den ersten Blick wie eine niedliche Halbwüchsige. Der Baron wusste, wie sehr dieser Eindruck täuschte.

 

"Meine schöne Müllerin." Lächelnd wich Adran einigen Räucherschinken aus, die über der Feuerstelle aufgehängt waren. "Ich war noch einmal auf dem Burgberg. Ausschau halten nach Oleanas Wappenträgern..."

 

An der Wand lehnte ein Reisstrohbesen. 

 

"Du hast doch nicht etwa ausgefegt?"

 

"Das war gar nicht nötig.  In deiner Baronie herrschen auch so schon Sauberkeit und Ordnung."

 

"Dann müsste ich dich eigentlich in den Kerker werfen lassen, wegen Traviafriedensbruch. Und Mundraub..."

 

"Mühlen sind Freistätten, Adran. Jedes Haus hat eine Seele, wusstest du das? Es hat mir erlaubt einzutreten. Das Schloss ist beinahe von selbst aufgesprungen. Der Müllermeister und seine Gemahlin, die sind ins Dorf geflohen. Sie scheinen nicht allzu sehr auf den Sieg der Oppsteiner Waffen zu vertrauen."

 

Die Tochter Satuarias durchschnitt den nunmehr gelblichweißen, nicht mehr roten Apfel, steckte sich einen Schnitz zwischen die rosenfarbenen, feuchtglänzenden Lippen und leckte sich dann, durchaus sinnlich, den Finger sauber. "Und du, Baron? Solltest du nicht bei den wackeren Verteidigern deiner Baronie weilen?"

 

Adran lachte und verschränkte die stahlgeschmückten Arme: "Was ist mit dir, Alissia? Solltest du nicht an unserer Seite weilen, als Hüterin des Leibes der Sokramor?" Dann setzte er sich auf einen der grob gezimmerten Stühle, nicht ohne zu testen, ob das Möbel das Gewicht seiner Rüstung aushielt. Der Stuhl hielt stand, wenn auch knarrend und ächzend.

 

"Wie oft habe ich dir schon Beistand geleistet, Baron, ohne jedwede Gegenleistung."

 

"Ach..."  Adran warf zwei Holzwürfel, die auf dem Tisch lagen. Eine 5 und eine 2. Kopfschüttelnd schob er sie beiseite. "Hast du das?"

 

"Habe ich dich nicht gewarnt, dass Rosenbuscher Reiter im Anmarsch sind? Aber Oleana ist schlau. Sie hat Einfluss, gewiss, im steinernen Rommilys, und einiges zu deinem schlechten Ruf beigetragen. Dennoch, Bregelsaum bleibt Bregelsaum, und Rabenmund Rabenmund. Alles lässt Erlaucht Swantje  ihrer Schwägerin nicht durchgehen. Die Markgräfin mag keine Fehden, derart nahe am Feindesland. Vor allem nicht, wenn so ein kleiner Krieg größer und größer wird wie ein Schneeball, der den Hang hinab rollt. Oder eine Feuersbrunst, die sich mehr und mehr ausbreitet. Noch ist nicht entschieden, wer zum Grafen des Hag bestimmt ist, oder zur Gräfin. Nein. Oleana wird geduldig warten, wie die Schlacht heute ausgeht, und erst zuschlagen, sobald ihre Beute hilflos im Netz zappelt. Wenn du bereits als Verlierer feststehst, mein lieber Adran." 

 

"Miez, miez." Der Baron blickte auf eine struppige Katze, die maunzend das Stuhlbein entlang strich. "Gehört die zu dir?"

 

"Nein, das ist die Mäusejägerin des Müllers. Das Korn und sein Mehl sind noch da..zumindest rechnet er nicht mit dem Schlimmsten."

 

"Das tue ich auch nicht, liebe Alissia, gewiss nicht”. 

 

“Heißt es nicht, dass Heerführer stets mit dem Schlimmsten rechnen sollten?” stichelte die Oberhexe. 

 

“Zum Glück gibt es ja noch die Schwerterburg. Die Rommilyser Reiterei wird uns heraushauen, falls es hart auf hart kommt.” Adran winkte ab.  “Soweit wird es nicht kommen. Aber ein wenig mehr helfen könntet ihr mir schon...Oleana will die Alten Kulte in der Sichel auslöschen. Das wird sie, wenn ich ihr nicht Einhalt gebiete. Was die Schattenländer nicht geschafft haben und die Praioseiferer… das gelingt am Ende dieser Federfuchserin in Dornach?"

 

"Dann sollten wir ihr keinen Grund dazu geben, uns zu jagen, findest du nicht?" Die Oberhexe vom Hörnerberg kaute genussvoll am nächsten Stückchen Apfel. "Keine Rose ohne Dornen, so ist es immer."

 

"Nun, ich muss zugeben. Das Gewitter war eine wertvolle Hilfe, unten in Drachweiler. Oder hätte es sein können. Um ein Haar hätten wir die verfluchten Eindringlinge...ersäuft wie die kleinen Kätzchen." 

 

Mit empörten Maunzen huschte der Stubentiger nach draußen.

 

"Wer, glaubst du, hat den Sturmwind geschickt, der unseren Wetterzauber vereitelt hat?" Die Hüterin deutete mit dem Messerchen genau auf Adran. Der Baron schauderte. Alissia war hübsch, das schon, aber er fürchtete ihre Aura. Selbst die Staubflöckchen um sie herum vollführten merkwürdige Tänze, die nicht an der sanften Zugluft allein lagen.

 

Ein zufälliger Augenzeuge wäre niemals auf die Idee gekommen, dass ihm hier eine Eigeborene gegenüber saß, somit eine der Mächtigsten unter den Töchtern Satuarias. Wenn die Legenden stimmten, die man sich über sie erzählte.

 

"Nicht jeder meiner Schwestern ist begeistert von der Idee, dass Adran von Oppstein der auserwählte Anführer der Alten Kulte in der Sichel sein soll. Oder dass er es bleiben soll. Zumal du wenig dazu beigetragen hast, die großen Erwartungen zu erfüllen, die in dich gesetzt worden sind...Die Gemeinschaft des Hexenrings ist zerbrochen...schon lange. Das Wort Verrat ist ebenfalls gefallen. Soll ich wegen irgendwelcher Adelsränke den Schwesternkrieg risikieren? Wir haben uns geeinigt, still zu halten. Beide Seiten. Sollen die Alten Götter entscheiden, wer sie am würdigsten auf Sokramors Leib vertritt...."

 

Adran schnaubte. "Ich bitte dich, hätte ich dich und deine flatterhaften Schwestern zum Hexentanz auf den Burgberg einladen sollen? Nach dem Ende der Wildermark musste ich Kompromisse eingehen...überhaupt, nicht ich habe die großen Hoffnungen enttäuscht..." Die Stimme des Barons stockte. Er hustete.

"Serwas Kind...unser gemeinsames Kind… Firunian ist nach kurzer Zeit gestorben. Der wahre Auserwählte, der dereinst die Alten Kulte anführen sollte, als Bote der Dunkelheit." Adran blickte zum Deckenbalken, in den ein Drudenfuß eingeritzt war, der wohl böse Geister abwehren sollte. Ihn über der Tür anzubringen hatte der Müller wohl nicht gewagt.

 

Einen Moment lang herrschte Schweigen am Tisch. Draußen stieg die Sonne höher und höher. Mittlerweile war es auch in der Mühlstube hell. Das Rad klapperte und klapperte. Adrans Geist begann zu schweben. In Alissias Gegenwart musste er sich konzentrieren, im Hier und Jetzt zu bleiben. Das herrliche Schwert an seiner Seite, das war ein würdevolles Geschenk des Zirkels gewesen. Das schon. 

 

Alissia lehnte sich zurück, und zeigte die volle levthansgefällige Pracht, die sie unter ihrem Schnürmieder...nun, nicht gerade verborgen hatte.

 

"Wer hat behauptet, dass das Satuar´than wirklich gestorben ist?"

 

Adran war überrumpelt. "Was sagst du?" Der Baron von Oppstein setzte sich aufrecht.

 

"Höre ich recht, das Kind...lebt?"

 

"Hast du geglaubt, dass wir seine Existenz in alle Welt hinaus posaunen? In diese Welt da draußen?" Alissia deutete ins Sonnenlicht, das langsam unangenehm wurde. Eine einzelne Fliege patschte summend gegen die Scheibe, immer und immer wieder.

 

"Aber...ihr...warum habt ihr mir… warum habe ich davon nichts gewusst? Ich meine...immerhin war ich in dieser Nacht Levthan...und Serwa...sie hat Satuaria verkörpert."

 

Alissia lachte glockenhell und wickelte den Zeigefinger um einen ihrer roten Locken. "Sie sind spröde, meine Haare, nicht wahr? Ich sollte sie einmal mit Kräutersud ausspülen."

 

"Hüterin, bitte...ihr wisst nicht, was ihr mir damals angetan habt. Ein Teil von mir...ist damals mitgestorben... ein Teil meines Glaubens an die Alten Kulte....und nun...erfahre ich...erzählst du mir nebenbei, dass Firunian noch lebt?" Adran beugte sich klirrend vor. "Ausgerechnet an einem Tag wie heute?"

 

"Was können wir für deine Glaubensschwäche, Adran...von Berlînghan...Oppstein...Mersingen?" Alissia blies spielerisch eine einzelne Strähne hoch. "Wo denkst du hin? Glaubst du, wenn sich `Satuaria´ und `Levthan´ paaren, kommt die Heilige Familie der Travia dabei heraus?" Ein grausames Lachen.

 

"Wo....wo...ist mein Sohn jetzt?" Adran rang nach Luft, ebenso wie nach Fassung. "Vor allem...wer ist es? Amant? Amant von Dornheck? Natürlich, Serwa hat den Erwählten bei Lares Bruder versteckt...so ein Taschenspielertrick sieht ihr ähnlich."

 

Die blauen Augen der Hexe funkelten kalt. "Wie? Ach so. Neeeiin. Ein Ablenkungsmanöver vielleicht, von unserer süßen kleinen Serwa, eine falsche Fährte. Du hast deine Schuldigkeit getan, Adran Levthan, zusammen mit Serwa Satuaria. Alles andere geht dich nichts mehr an."

 

"Ich bin der Verteidiger der Alten Götter in der Sichel..." Adran schlug auf sein Schwert. "Trotz allem bin ich es noch. Auch wenn ich eine Zeitlang mit den Wölfen heulen musste, gewiss. Aber ich diene nach wie vor den Mächten der Erde...Levthan hat viele Gesichter, im Lieblichen Feld, im Tulamidenland...bei uns im Norden. Ihr müsst mir beistehen, oder sie werden euch jagen und auslöschen, wie sie es schon einmal versucht haben..."

 

"Müssen wir das? Glaub mir. Wir würden dir nicht wirklich einen Gefallen tun, wenn wir hier und heute die Kraft der Alten heraufbeschwören. Vor den Augen dieser heiligen Traviagans aus Rommilys. Oder schlimmer noch, vor dem Ohr der verstümmelten Baronin von Rosenbusch...Ludwina mag eine elende Spielverderberin sein, voller Missgunst und Neid. Aber in einem hat sie Recht: Unsere Macht wirkt am Besten im Verborgenen. Der Hass unserer Feinde und grausame Verfolgungen machen uns nur stärker, seit vielen Jahrhunderten schon."

 

"So ist das also." Adran schüttelte langsam den Kopf. "Und du wunderst dich, dass ich dir zuletzt nicht mehr getraut habe? Sag mir wenigstens, wie die Schlacht heute ausgehen wird? Du kannst doch in die Zukunft sehen, oder?" Der Baron nickte. "Gewiss hast du in den Weissagenden See geblickt, während der Namenlosen Tage."

 

Die Hexe sah ihren Gegenüber ernst an. Dann hob sie ein irdenes Schälchen und spuckte klackernd einige Apfelkernchen hinein. 

 

"Glaubst du...eine Weissagung...das ist so etwas wie die Phantasmagorie, die Baron Redenhardt für seine Hochzeitsfeier bestellt hat? Eine Illusion, die sich im Nachhinein als wahr herausstellt? Die Wellen des Weissagenden Sees sind unergründlich....nicht mit menschlichen Blicken allein zu durchdringen." 

 

"Die Magierin, ja, ich erinnere mich daran" Adran lächelte versonnen. "Die große....wie hieß sie noch gleich... Rahjella von Grangor. Sie hat einen Tiger erscheinen lassen, aus dem Dschungel, und eine leicht bekleidete Schönheit. Und dann hübsche Jünglinge und Mädchen, die der Göttin der Liebe gehuldigt haben. Wenn man so will, sind diese Illusionen wirklich wahr geworden. Ich habe Thahira kennen gelernt, mit ihrem zahmen Tjar...und der Rest...der hat irgendwie auch gepasst...das Feuerwerk am Schluss...war einfach großartig. Nur diese Innocensierin, die war völlig aus dem Häuschen." 

 

"Heiß heute, nicht wahr?" Alissia öffnete ihr Mieder. "Der Weissagende See zeigt keine Bilder, jedenfalls nicht so, wie du sie dir vorstellst. Es sind...Gedankenbilder, gepaart mit Gefühlen..."

 

"Gepaart mit Gefühlen, so so..."

 

"Ja, ich habe hinein geblickt, bis auf den Grund und sogar noch darüber hinaus. Bis auf die andere Seite. Lange habe ich dem Klang des Wassers gelauscht, dem glucksenden Lachen des Seengeists. Eine Sprache, die nur wenige Sterbliche verstehen."

 

"Was hat er dir gesagt, der See?"

 

"Er wünscht, dass wir Levthan ein würdiges Opfer bringen...ohne dass ich es selbst zu deuten vermag. Sicher ist nur, dass dieses Opfer den Ausgang der heutigen Schlacht entscheiden wird."

 

"Und woraus sollte dieses Opfer bestehen?" Adran hätte nicht zu sagen vermocht, ob seine Frage nun einfältig oder raffiniert klang.

 

"Es sollte nicht nur Tod, Zorn und Gewalt herrschen, während eine Schlacht tobt. Wer die größere Leidenschaft für seine Sache empfindet, der wird auf Dauer gewinnen."

 

Eine Handbewegung der Hexe, und Adrans Rüstungsteile fielen scheppernd zu Boden. Nur die eiserne Schamkapsel löste er keuchend von Hand. 

 

 

Wenig später lagen sie beide innig umschlungen im Bett des Müllermeisters und huldigten hemmungslos dem Sohn der Rahja. Es war, als würden sie beide von den Flammen reiner, unverfälschter Levthanslust verzehrt, Baron wie Hexe. Alissia war eine ebenso vollendete wie grausame Liebhaberin. Es war, als wäre Adran mit Rahjellas Tigerin ins Bett gestiegen. Oder Tjar zu neuem Leben erwacht.

 

Mit wildem Fauchen zerkratzte Alissia ihm den Rücken, biss ihm in die Unterlippe. Ritt auf ihm wie auf einem Hexenbesen, mit lustvollem Keuchen, schrillen Schreien und abgründigem, fast schön dämonischen Stöhnen.

 

Ein Stöhnen, das bereits nach wenigen Stößen so laut war, dass beide das schüchterne Klopfen an der Eingangstür nicht hörten. "Oh....Mutter Sumu...Oh meine Götter! Oooh meine Götter!!! Ja...ja...jaaaa.....jaaAAAHHH!"

 

Edric, der Bote vom Schlachtfeld, linste ins Nebengemach, nun eher verstört als schüchtern. Was er erst hörte und dann sah, ließ es an Eindeutigkeit nicht vermissen. Er konnte es nicht fassen.

 

Mit feuerrotem Kopf huschte Semonds jüngster Sohn wieder nach draußen. Vor der Mühle kamen ihm die Tränen. Sein erster Gedanke war, einfach davonzulaufen, sich irgendwo zu verstecken, bis diese unselige Fehde zu Ende war.

 

Ein paar Schritte lief er los, ohne auf die Wachen zu achten, die ihm irgendetwas zu riefen, mehr verwundert als erbost. Irgendetwas mit "falsche Richtung eingeschlagen".

 

Dann trottete er schicksalersgeben zurück. Wartete, bis die tierhaften Brunstlaute im Schlafgemach nachließen und das rhythmische Ächzen des Holzbetts verebbte.

 

"Euer...Hochgeboren?" fragte Edric, mühsam beherrscht. 

 

Erschrockene Stille.

 

"Äh...jaaa?" Die Stimme seines Herren erklang.

 

"Ich...äh...bringe Zeitung vom Schlachtfeld, Herr".

 

"Verstehe...moment, äh..." Geräusche verrieten hektische Betriebsamkeit.

 

Aus dunkler Neugier heraus trat der Halbwüchsige näher, über einzelne Rüstungsteile hinweg, mit leuchtenden Augen.

 

Öffnete zaghaft die angelehnte Tür. Zu seinem Erstaunen war das Bett leer. Seine Hochgeboren Adran Aurentian Randolph von Berlînghan-Oppstein-Mersingen zog sich gerade die Hose hoch, schnürte sie zu und stopfte sein Hemd hinein. Der Baron lächelte bemüht über den Rüschenkragen hinweg.

 

"Heiß heute...ich habe mich entschlossen, die Rüstung doch lieber abzulegen." Das Lächeln wurde dreister. "Schade, dass du jetzt erst kommst. Ich hätte Hilfe gebrauchen können."

 

"Das habe ich gehört", murmelte Edric. Erschrocken senkte er den Blick zu Boden, auf dem zwei Damenstrümpfe lagen, nebst weiteren Frauenkleidern, die halb unter das Bett geschoben worden waren. Darunter lag zu seinem Erstaunen niemand.

 

Adran ging hochherrschaftlich über die Bemerkung hinweg, während er in die eigenen Stiefel schlüpfte. "Was gibts?" fragte er betont gleichmütig.

 

"Die...Ismenischen...haben uns umgangen, Herr. Mitsamt ihrer heimtückischen Mordmaschine." Der Bauernsohn berichtete, was geschehen war. 

 

"Eine Balliste auf einem Karren? Lächerlich. Die Horasier würden ihnen dafür die Köpfe abreißen, für diese Verhunzung der hohen Kriegskunst...Nun, Lares hat jetzt den Befehl, aber ich rate ihm, auf dem Hügel auszuharren. Das Rondritscherl soll sich ruhig beim Sturm verschleißen, beim Gegenangriff treiben wir sie dann in den Oppenbach."

 

Beim "wir" zuckte es in Edrics Gesicht. Verlegen musterte er das völlig zerwühlte Bett, das nicht unbedingt so aussah, als habe Herr Adran darin mit seiner Rüstung gekämpft. 

 

"Sehr wohl, Euer Hochgeboren."

 

"Richte das Lares aus, genau so, Wort für Wort."

 

"Ich werde ihm...getreulich Bericht erstatten, über alles." Der junge Oppsteiner murmelte etwas Unverständliches und taumelte ins Freie.

 

Adran lachte stoßweise auf und blickte dann nach oben, wo Alissia spinnengleich und eigenartig verrenkt an der Decke klebte, nackt, wie sie Satuaria geschaffen hatte. Ihr feuerrotes Haar hing herab, als wäre es Schratmoos im Hexenwald. Leichtfüßig und scheinbar schwerelos sprang das Satuarienskind zurück auf die Bettdecke.

 

"Puuh, das war knapp" Adran schluckte. "Zum Glück haben wir diesen Bauerntölpel rechtzeitig gehört."

 

Die Hüterin saß mit locker angewinkelten, nackten Beinen da, ohne dabei ihren geheimen Garten zu verstecken. Die alterlose, scheinbar ewigjunge Frau sah Adran zwischen roten Haarsträhnen hindurch an, voller Lust und Gier. Ihre schneeweißen Zähne hatten nun etwas Wölfisches. Die herrlichen Brüste standen noch immer aufrecht, wie der Oppsteiner eher irritiert als erregt feststellte. 

 

"Dann können wir ja weitermachen ?!" säuselte die Hüterin des Leibes. 

 

Adran band sich sorgfältig die Ärmel zu. "Wo denkst du hin, Alissia, ich habe eine Schlacht zu gewinnen. Nicht, dass das heute mein Hemandu wird... Ein vortrefflicher Scherz, das mit dem Weissagenden See. Ich muss schon sagen, beinahe hätte ich es geglaubt."

 

Mit wenigen Handgriffen verwandelte sich der vollendete Liebhaber wieder in "Seine Hochgeboren", steif und würdevoll. Zuletzt richtete Adran seine Frisur. Der Oppsteiner warf der Hexe eine Kusshand zu. "Flieg bitte durch die Hintertür, ja?"

 

Die nackte Alissia starrte dem Baron noch lange hinterher, mit merkwürdigem Blick. Dann schwang sie sich leise pfeifend aus dem Bett.

 

 

Südliches Schlachtfeld, am Oppenbach, Perainestunde

 

Ein Wehrheimer Offizier verlangt von seinen Untergebenen nichts, was er selbst nicht zu leisten bereit ist.

 

Der Gedanke huschte gerade durch den gebückten Kopf des Herrn von Friedwang. Alriks Beutelschneider-Messerchen stocherte ins hohe Gras, das am Oppenbach nicht ganz so verdorrt war wie oben auf dem Hügel. Vermutlich war es leichtsinnig, sich als Baron derart zu exponieren - gerade erst hatte er selbst einen adeligen Pferdeschinder gefangen genommen und unter Bewachung ins Lager bringen lassen. Er hielt es einfach nicht länger aus. Im Wald stillzusitzen, neben dem Kadaver von Feuerflocke. Vor allem konnte der Mondschatten hervorragend schleichen, ebenso wie Franka, seine beste Fährtensucherin und Waldläuferin.

 

Wehrheim...Die Grafschaft  gab es schon lange nicht mehr. Geblieben waren nur die blausilbern schraffierten Schilde der Friedwangen. Die Wappenfarbe, die hinter ihm zwischen den Bäume leuchtete, war nur noch eine Erinnerung, an die einstige Heerfolge für die stolzen Herren am Dergel.

 

Am Bach brannte die Brücke, mit prasselnden, mehreren Schritt hohen Flammen. Es roch brenzlig, nach Pech und Holzofen. Schwarzbräunlicher Rauch wälzte sich über die Weide hinweg, die mit Kuhfladen bedeckt war. Zum Glück getrockneten Kuhfladen. Dazu gesellten sich die Krähenfüße. Weiter vorne, wo der Oppsteiner Plänkler von einem Bleigeschoss getroffen war, summten bereits die Fliegen.

 

Immer wieder regneten Funken herab und sorgten für kleine Glutnester, die aber nach wenigen Augenblicken wieder verloschen. Nahe am Oppenbach war das Gras noch ebenso hoch wie feucht. Der Phexgeweihte zuckte  zusammen, als ihn so ein verdammtes Glühwürmchen die Wange versengte. Mit unterdrücktem Fluch patschte er auf die schmerzende Haut. Dann tastete er sich mit der Klinge weiter vor.  

 

Tick. 

 

Das Messer stieß auf etwas Metallisches. Da vorne lag noch so ein verdammter Krähenfuß, krumm aus Eisen zusammen geschmiedet . Das belhararische Ding hatte sich im zäh wuchernden Gras verhakt, Alrik musste es regelrecht freischneiden. Mit verkniffenem Mund tippte er auf den spitzen Stachel. Dann reichte er den Spreiznagel nach hinten, wo Franka lag, mit einem großen Stoffsack.  Die Gardistin schob ihn in den Beutel, was, wie jede weitere Bewegung, ein unangenehmes Klirren verursachte.

 

Dennoch, Phex stand ihnen beiden bei. Das Dröhnen der Flammen übertönte alles, auch wenn der Hitzeschwall im Rücken schmerzhaft war. Ein Grund mehr, sich fest an Sumus Leib zu pressen. Noch stand die Rauchfahne günstig - würde sie ein wenig drehen, vor allem aber, sich absenken, war ihnen eine verräterische Hustenattacke sicher.

 

Gleich hinter dem Krähenfuß lag bereits der nächste. Was für eine Drachensaat. Heiliger Assaf, die Sperre war breiter, als Alrik erwartet hatte. Eine erneute Handbewegung nach hinten, dann verschwand auch dieser Eisenigel in Frankas Tasche.

 

Vorsichtig schob er das fast hüfthohe Riedgras auseinander, wie einen Vorhang. Dort vorne ragte bereits der Weidezaun auf, der die Grenze zum Karrenweg markierte. Davor stand ein schwarzroter Setzschild, der Kor im Kampf mit der Vielgestaltigen Bestie zeigte. Die Weltenverschlingerin sah aus wie eine mehrköpfige, glupschäugige und gehörnte Hydra.

 

Sie hatte bereits einen Kopf verloren, im Kampf mit dem Rondrasohn. Kor schwang deutlich sichtbar die sichelförmige, gezackte und nachtschwarze Gigantin Sokramor. Giftgrünes Blut tropfte von der Götterklinge  - der Künstler hatte sich richtig Mühe gegeben, bei der Verzierung des leinenbespannten Holzschilds. Oder bestand der äußere Schutz aus Leder? Einen Logenplatz hatte Alrik nicht gerade. 

 

Hinter der mannshohen Pavese verbarg sich ein Armbrustschütze, ein Oppsteiner Marktschütze vielleicht, der einen Bolzen quer im Mund hielt, unterm Birnhelm, und geduckt eine Geißfußarmbrust spannte.

 

Alrik deutete erst auf Franka und dann auf den Adraniten. Seine kampflustige Büttelin missverstand die Geste und tastete bereits nach der Wurfaxt an ihrem Gürtel. Der Baron bedeutete mit der Hand, dass sie es lassen sollte. Wo ein Soldat war, verbargen sich sicherlich noch weitere. 

 

Der Friedwanger fluchte innerlich. Hätte er die Senkenthaler Streithähne in seiner Truppe gehabt, immerhin gut zwanzig Kämpfer, wäre ein Flankenangriff möglich gewesen. Aber Syrenia hatte darauf bestanden, dass sie in jedem Fall an Glyranas Seite kämpfen sollten, im Wortsinn, schon allein, um den kleinen Ravenhart im Blick zu haben.

 

Alrik sollte es recht sein. Das Wasser des Oppenbach war schon wieder am Steigen. Seine Leute waren gerade dabei, Baumstämme auf den Karren zu laden, die überall im Wald lagen, als Hinterlassenschaften der Holzfäller. Die Wurfbeile seiner Kunberts waren Gold wert, spätestens, wenn es um das Zurechthacken ging. 

 

Mit dem Holz würde es möglich sein, einen Ersatzsteg zu improvisieren, und in ein bis zwei Stunden in die Schlacht einzugreifen. Alriks Gespür sagte ihm, dass die Entscheidung auf den Oppenbachwiesen stattfinden würde, die aussahen, wie sich ein Rondrianer eine mythraelsgefällige Walstatt vorstellte.

 

Alriks Leute würden zum großen Finale den (hoffentlich leeren) Hügel besetzen. Um dort den "Levthanszipfel" aufzurichten, die friedwängische Sturmfahne, und als Siegessymbol flattern zu lassen. Am besten mehrere Gardisten gleichzeitig, damit es dramatischer aussah. Solche Bilder blieben haften, vor allem brauchte der Herr von Friedwang sich nicht vorwerfen lassen, die halbe Schlacht untätig im Wald gehockt zu haben.

 

Kriegskunst bestand zur Hälfte aus Seelenkunde.

 

 

An der Traviansfurt, östliches Schlachtfeld, zur gleichen Zeit

 

Mit metallisch klingendem Ratschen und Klackern spannte das Zugseil die Sehne. Diese rastete klickend ein.  

 

"Noch ein Sichelbolzen", kommandierte Weibel Hagen Wehrheimer und schob die Sturmhaube ein wenig zurück.

Der Karren, auf dem das Geschütz montiert war, sah lächerlich aus, nach Improvisation und Stückwerk. Das "bespannte Geschütz" hatte sich aber erstaunlich gut bewährt. Wäre die Wiese nicht von unzähligen Kuh- und Ochsenhufen zertreten worden, das Rangieren wäre ein Kinderspiel gewesen. Auch auf einzelne Steinbrócken musste man aufpassen. Einer der fünf Schützen hielt die Deichsel und lenkte damit, der Rest schob,  mit keuchenden, schwitzenden Gesichtern. 

 

Die Umgehung von Adrans "Ardarestellung" war leidlich geglückt.

 

Aber nun, aus der Nähe betrachtet, erwies sich der Karrenweg als weiteres, überraschendes Hindernis. An einigen Stellen hatte er sich tief eingegraben, unter der Last der Fuhrwerke, wie ein Hohlweg. Am bachwärts gelegenen Rand ragten zudem Hecken, Sträucher, einzelne Bäume, Mäuerchen und Weidezäune auf.

 

Wäre Ismena so töricht gewesen, einfach über die Brücke hinweg angreifen zu lassen, wäre sie im Karrenweg in der Falle gesessen, während linkerhand die Oppsteiner hätten herunter stürmen können. Eine plumpe Falle, trotz allem. Allerdings wirkte der Wegrand nun wie ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Sieg. Das Gattertor, durch das die feindliche Reiterei entschwunden war, hatten die Gegner längst wieder geschlossen und mit schweren Stricken zugebunden. 

 

Die Oppsteiner Armbruster hatten dort ihre bunten Pavesen aufgestellt, außerdem huschten bewegliche Bogner auf dem Weg hin und her. Ismenas eigene Schützen lieferten sich seit etwa einem Wassermaß einen wilden Stellungskampf mit dem Gegner. Hie und da kam es auch zu kleineren Nahkämpfen.

 

Im Grunde musste Hagen froh sein, dass es diese Hürde gab. Hätte Lares entschlossen angegriffen, vor allem angreifen können, auf breiter Front, wäre ihr schwacher Brückenkopf nicht zu halten gewesen.

 

"Shamaham" lautete das Tarnwort für die Stelle, an der sie heute morgen übergesetzt waren. Warum auch immer - womöglich lag es an den Shamahampinjons, die dahinter im Wald wuchsen. Noch immer fehlten Dutzende Kämpfer, die sich nachts im Wald verirrt, oder, was wahrscheinlicher war, wenig Lust auf eine offene Feldschlacht hatten. Jadvige von Kressenbrück war vollauf damit beschäftigt, die Irrläufer einzusammeln und über die Furt zu schicken. “Traviansfurt”, so wurde sie augenzwinkernd genannt, nach dem Baronet von Schlotz, der den Übergang gefunden hatte.



Nur nach und nach entwirrte sich das Durcheinander. Langsam hielt so etwas wie eine Schlachtordnung auf den Grundwiesen Einzug, mit den Hellebardieren, den Schützen und der Feldballiste in der vordersten Reihe. 

 

Die Ladeschützin war polternd auf den Karren gesprungen und legte den Sichelbolzen ein, der Größe nach eigentlich ein Sichelspeer.

 

Angeblich hatten sich die Dinger bei der Wolkenschlacht um Gareth bewährt, gegen die geflügelten Ungeheuer des irren Galotta. Im Bergfried von Gernatsborn wurden einige davon gelagert - spätestens seitdem die Fliegende Festung Wehrheim ausgelöscht hatte, galt auch der Himmel als mögliches Schlachtfeld.

 

Nun, die Geschosse besaßen mit ihren mondsichelähnlichen Spitzen zumindest ein wenig Wuchtwirkung. Seine Leute schossen damit nach und nach eine Bresche in die "Befestigung" am Karrenweg. Gerade eben war ein kleines Bäumchen umgefallen, zur Freude seiner Schützen. Hagen hatte das Gefühl, dass er in Wahrheit einen Durchgang für die Adranschen freischoss. Die saßen in Mehrzahl immer noch oben auf dem Hügel, und haderten vielleicht schon mit ihrem starren Schlachtplan.

 

Der Weibel stopfte sich ein paar nussig schmeckende Pilze in den Mund und kaute sie genussvoll. Hagen hoffte, dass es wirklich Shamahampinjons und nicht irgendwelche Giftknollen waren. Das wäre ein unrondrianisches Ende gewesen, mitten in einer Schlacht an einer Pilzvergiftung zu sterben!

 

"Auslösen!" kommandierte er etwas nuschelig. Die Balliste gab ein patschendes Geräusch von sich. Der Sichelbolzen surrte im flachen Bogen auf die gegnerischen Reihen zu, und krachte dann in das halbzerstörte Gattertor, das bereits an der letzten Angel hing. Als wäre gerade der Zugang zu einer Burg freigeschossen worden, begannen die Ismenischen zu johlen und jubelnd ihre Banner zu schwenken.

 

Hügel nördlich des Oppenbachs, Ingerimmstunde  

 

"Sieh an, sie bereiten also wirklich den Sturmangriff vor" Lares nickte zufrieden. "Adran hatte völlig Recht, diese Position ist hervorragend...ich hätte nie gedacht, dass auch der Karrenweg als Hindernis taugt."  

 

"In beide Richtungen, scheint mir." Der Herold war neben dem Hochfelser getreten. "Vielleicht wollen sie ja Euch zum Vormarsch einladen, Euer Wohlgeboren." 

 

"Adran hat jede Kleinigkeit bedacht", widersprach Lares, voller Stolz und Bewunderung. "Wahrlich ein Schüler des großen Gernbrecht. Meisterliche Ausnutzung des Geländes, darauf kommt es an. Ihr werdet sehen, am Ende wird er Ismena in die Flanke fallen, vom Dorf her."

 

Praiodane, die Baroness von Oppstein, saß gerade am Tisch, wo sie sich einige Blutspritzer und Ascheflecken aus dem Gesicht oder von der Rüstung wischte. Ihre andere Hand, die sie gerade auf den schwerverwundeten Dardulan gelegt hatte, war rotverschmiert. 

 

"Papa hält Wacht gegen die Rosenbuscherin, und er tut gut daran", sagte die junge Adelige. "Es hat schon seinen Grund, dass er dich damit beauftragt hat, die Stellung an der Brücke zu halten, Lares."

 

Aarmarsland entging die Betonung des "dich" nicht.  Er deutete nach unten.

 

"Da kommt ja Euer Laufbursche...pardon, Meldegänger."

 

Tatsächlich eilte der junge Bauernsohn herbei, verschwitzt und mit hochrotem Kopf, obwohl gerade ein paar Wolken vor die Sommersonne gezogen waren. Keuchend blieb er am Hang stehen, schnaufte aus und wechselte einige Worte mit seinem Vater. Der keinesfalls froh zu sein schien über die Rückkehr seines Jüngsten. Die beiden unterhielten sich ziemlich lange.

 

Lares schüttelte erbost den Kopf: "Eigentlich soll er mit Bericht erstatten....He, du da, herbei!"

 

Edric kämpfte sich mit letzter Kraft hinauf. Immerhin, Lares gönnte ihm einen großen Schluck Wasser.

 

Semonds Sohn hustete und kam langsam wieder zu Atem, im Schatten des Baldachins.

 

"Wie sieht es aus bei unserer...äh, Reserve?" fragte der Edle.

 

"B...Baron Adran ist in der Mühle."

 

"In der Mühle?"

 

Ein mattes Nicken. 

 

"Hesindial...hesindial...ich glaube, ich verstehe. Sicherlich wird Adran den Mühlteich öffnen und den Oppenbach vorzeitig fluten." Triumphierend sah Lares zu Aarmarsland, als hätte der gerade seinen Herrn geschmäht. "Was sagen Seine Hochgeboren zu der Gesamtlage?"

 

"Er meinte, Herr, Ihr hättet jetzt den Oberbefehl..."

 

"Selbstverständlich habe ich das."

 

"Aber er rät Euch, Herr,  auf dem Hügel standzuhalten. Das Rondritscherl soll sich beim Sturm aufreiben, beim Gegenangriff treiben wir sie dann in den Oppenbach. Hat der Herr Baron gesagt"

 

"Das war der Plan." Lares blinzelte, was nicht nur an der Sonne lag, die jetzt wieder hinter den Wolken zum Vorschein kam. Ihm war das aufgeregte Getuschel nicht entgangen, das unten bei der Landwehr herrschte, genau da, wo Sem...Sam...wie hieß der Bauer noch gleich - seinen Sohn im Empfang genommen hatte.

 

Auch Edrics Gesichtsausdruck war irgendwie rätselhaft.

 

Der Halbwüchsige wollte dem Pagen den Wasserschlauch zurückgeben.

 

"Nimm ihn ruhig mit. Aber das nächste Mal eilst du unverzüglich zu mir, nicht erst zu deinem Vater. Ist das klar?"

 

"Das nächste Mal, Herr?"

 

"Ja, du wirst noch einmal zu Herrn Adran zurückkehren, und ihm meinen Vorschlag unterbreiten....das er Ismena mit seiner Reserve in die Flanke fällt."

 

Edric sah demonstrativ zur Reiterei, die sich ebenfalls auf dem Hügel versammelt hatte. Sein Blick war fast ein wenig aufsässig. Hübsch ist er, dachte Lares. Nicht der Allerhübscheste, aber mit der Schönheit der Jugend gesegnet. Dem Edlen von Hochfels gefiel es irgendwie, wie der kräftige Bursche keuchte und nach Atem rang. 

 

"Ah, verstehe...Soll ich auf einen wertvollen Reiter verzichten, kurz vor der eigentlichen Schlacht? Dein Vater wollte, dass ich dich schone! Nun, dann zeige, dass du zu etwas nütze bist...bei deiner neuen Aufgabe."

 

Mit leicht pervalischem - vielleicht sogar oronischem - Lächeln musterte Lares den Jungen. Er hat auf jeden Fall hübsche Zähne, dachte er versonnen, ganz anders, als es das Klischee über die elenden Ackermäuse behauptete. Außerdem Temperament. In Edrics Inneren schien ein Feuerberg zu brodeln, was nicht allein an der Praioshitze lag. Dem Hochfelser gefiel der Gedanke, dem Jüngling seinen Willen aufzuzwingen wie einem bockenden Pferd.

 

Edric verneigte sich resignierend. "Jawohl, Herr." Dann wollte er wieder den Hang hinab stolpern.

 

"Einen Moment", rief ihm der Hochfelser hinterher. 

 

Der Bauer blieb stehen, vielleicht einen Moment zu spät. Drehte sich halb um.

 

"Was genau hast du deinem Vater gerade eben erzählt?"

 

"Nichts Besonderes, Herr...ich...ich wollte ihm nur Mut für die Schlacht zusprechen."

 

"Lüg mich nicht an." Lares merkte, wie der feurige Blick des Götterfürsten sein eigenes Blut in Wallung brachte.

"Ich kann dich noch dreimal zwischen diesem Hügel und der Mühle hin und her schicken, wenn dir das lieber ist..."

 

"Vielleicht ist seine Hochgeboren hernach mehr entkräftet als ich", entschlüpfte es Edric. Hastig trank er noch einige Schluck, als fürchte er, das Wasser könne ihm für seine Worte abgenommen werden. Ein wenig wirkte der Bauer aber auch trotzig.

 

"Ich verstehe nicht, was Er meint?" Lares merkte, dass er zum weniger vertraulichen "Erzen" zurückgekehrt war.

"Was hast du gerade gesagt?"

 

"Herr Adran hat mir aufgetragen, dass ich alles berichten soll." Plötzlich sprudelte es aus Edric hervor. "Bei Travia, das werde ich....alles erzählen...in...in der Mühle hat er es getrieben, mit irgendsoeinem Weibstück. Der Müllerin, nehme ich an...ich habe...habe alles gehört..."

 

Lares  sagte einen Moment nichts. Dann lachte er, ebenso leise wie ungläubig.

 

"Mir scheint, du hast schon einen Praiosstich ?!  Was faselst du da?"

 

"Während wir den Arsch für Adran hinhalten...." Erschrocken hielt Edric inne. "Während wir für ihn kämpfen...herrscht da oben bei der Mühle...Selem und Zamorrah. Bei der Mutter Alverans, das ist einfach nicht Recht. Ja, der Herr Baron stand neben dem Bett, halbnackt, und war völlig überrumpelt. Seine Dirne hat sich wohl irgendwo versteckt...Wenigstens das Weibstück hatte noch Scham!!!!

 

Der Hochfelser erbleichte, trotz der Sonne. "Sicher nur ein Missverständnis..." keuchte er.

 

"Herr, ich..."

 

"Schon gut, Edric. Geh zum Verbandsplatz und schau, dass du dich dort nützlich machen kannst. " Praiodane hatte sich eingemischt, mit scheinbar ruhiger und besonnener Stimme. "Kein Wort mehr zu den anderen, hörst du?"

 

 

Lares taumelte einige Schritte vom Baldachin weg, zu einem felsigen Abhang.

 

Es war, als höre er um sich herum eine abgründige Musik, aber es war nur das Schreien und Wiehern, das vom Schlachtfeld herauf drang. Tatsächlich, die Ismenischen johlten, schöpften Wasser aus dem eiskalten Oppenbach, tranken es aus ihren Helmen oder schütteten es sich verschwenderisch über den Kopf. Dann sah er, wie die eigenen Ritter ihre Pferde aus großen Eimern tränkten, während die Landwehrbauern die Feldflaschen leerten, mit hitzeverbrannten Gesichtern und trockenen Zungen, die regelrecht aus ihren verdorrten Kehlen heraushingen.

 

Die Moral war jetzt schon nicht gut - würde sich die unselige Geschichte mit Adran herumsprechen, wäre die Schlacht beendet, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.

 

Um den Hochfelser schien sich die Welt zu drehen. Wie konnte Adran ihm das antun? Gewiss, der Oppsteiner war immer lässig und leichtsinnig gewesen, gerade im Angesicht der Gefahr, und ganz bestimmt kein treuer Liebhaber.

 

Aber dieses unwürdige Verhalten ging zu weit. Hatte der hohe Herr überhaupt verstanden, dass an diesem Tag über sein Schicksal entschieden wurde? Die Herrin von Grünau war gefallen, der Immelner verschollen, wahrscheinlich gefangen, der tapfere Dardulan von Sturmfels schwer verwundet....und der Herr Baron vögelte ein paar Meilen von hier mit der erstbesten Gemeinen? 

 

Lares spürte nur Leere. Fast schon war ihm der Ausgang der Schlacht gleichgültig. 

Wie ein berauschter Schänkenbesucher kurz vor dem Zusammenbruch sah er einen weiteren Brandspeer heranrauschen, vom Balihoer Stier her. Diesmal zielten die Ismenischen geradewegs auf den Hügel, vermutlich, um dort Unruhe zu stiften. Es war, als wollten sie ihn verhöhnen.

 

Das Geschoss schlug feurig in den Abhang ein, ohne größeren Schaden anzurichten. Nur die Pferde schnaubten und stampften nervös.

 

Erst jetzt merkte Lares, dass die Traviadiener verschwunden waren. Praiodane kam im gleißenden Licht auf ihn zu. 

"Vater...ist manchmal so", sagte die Baroness. "Ich glaube, es ist seine Art zu zeigen, dass er vom Sieg überzeugt ist."

 

Lares lachte schmerzhaft auf, ein klein wenig hysterisch und überdreht, wie er selbst fand. "Gewiss, Borons Nähe ist das beste Rahjaikum. Nur dass wir hier dem Tod ins Auge sehen...während er...herumhurt wie ein...wie ein belkelelischer Wüstling."  

 

"Nicht so laut!" sagte Praiodane erschrocken, ohne zu wissen, ob sie nun den unheilbringenden Dämonennamen oder die sonstigen Worte meinte. Rumpelnd brach die brennende Brücke über den Oppenbach in sich zusammen. Dampf stieg aus dem Wasser auf und mischte sich mit dem dunklen Rauch.

 

Der Edle von Hochfels atmete tief durch. "Es ist nicht die Müllerin, die kenne ich… die ist eine traviagefällige Frau. Ich tippe auf Lanore...die Bereiterin. Die ach so heimtückische Spionin, die einfach verschwunden ist. Jetzt wissen wir ja, wohin...hahaha..." Mit freudlosem Lachen starrte Lares in weite Ferne. 

 

"Langsam glaube ich, dass Adran der Herrin der Schwarzfaulen Lust verfallen ist" sagte er nach einer Weile.

 

"Lares, das darfst du nicht sagen...so darfst du nicht einmal denken."

 

"Liebe ist Geben und Nehmen. Er nimmt immer nur, und nimmt und nimmt, beschenkt sich selbst mit den Gefühlen anderer....bis nichts mehr übrig ist. Der gehörnte Sohn des Levthan." Einen Moment lang kämpfte Lares mit den Tränen. 

"Wurde der Mannwidder nicht auch in die Niederhöllen gestürzt ?"

 

"Aber von Rahja daraus gerettet" sagte Praiodane besänftigend. "Liebe besiegt alles! Wahre Liebe."

 

Mit bösem Zischen schwirrte ein weiteres Brandgeschoss herbei - es schien geradewegs auf Lares gezielt zu sein.

Praiodane duckte sich, aber der Edle von Hochfels stand einfach nur da, als erwarte er, ja, wünsche er sich, durchbohrt zu werden. Einige Schritte vor ihm schlug der Speer ein, mit letzter Kraft, in einen vertrockneten Busch. Als das Gehölz schlagartig in Flammen aufging, mit infernalischem Knistern, wich Lares dann doch erschrocken zurück.

 

Erst jetzt merkte er, dass die rot züngelnden Flammen am ersten Einschlagsort keinesfalls verloschen waren. Feuer und Rauch breitete sich in Windeseile aus, so auch rund um den brennenden Strauch.

 

Husten und Schreie drangen an sein Ohr, ebenso das panische Wiehern der Pferde. Ein Alptraum, das alles hier war nur ein Alptraum. 

 

Auch Lares begann zu husten. Sollte er auf diesem Hügel verbrennen, wie auf einem Scheiterhaufen, zur Strafe für seine - und für Adrans Sünden? 

 

Plötzlich kam sanfter Wind auf, nicht gerade kühl, aber doch mild, und trieb den Rauch hangabwärts, auf die Ismenischen zu. Das wilde Grasfeuer verebbte. Noch war nicht alles verloren ?! Wenn er hier und heute einen großen Sieg erringen würde....dann musste Adran die Finger von dieser durchtriebenen Stallmeisterin lassen, die einfach nur nach Pferd und Mist stank! Natürlich, das war des Rätsels Lösung. Adran wollte ihn anfeuern, sein Bestes zu geben ?!

 

"Verdammt gute Sichtdeckung", raunzte er, und schniefte die Tränen weg, die er nun gut auf den Qualm schieben konnte. Augenzeugen gab es einige. 

"Scheint so, als wären die Götter doch auf unserer Seite. Die Bauern sollen sich fertigmachen zum Angriff! Wenn sie frisches Wasser saufen wollen, dann müssen sie es sich verdienen. Wo sind die Trommler und Trompeter?"

 

Lares zog sein Schwert, um die verstreuten Landwehrleute zusammen zu treiben, die teilweise erschöpft auf dem Boden kauerten. Dem Schatten nach zu urteilen, den das Oppsteiner Drachenbanner warf, war bereits Rahjastunde.

 

Er würde siegen oder fallen, bei der Schutzherrin der Liebenden! Allerdings hätte der Hochfelser gerade selbst nicht sagen können, welche Aussicht ihm die liebste war. 

 

 

An der Oppenbachmühle, Perainstunde

 

 

Ein großer, dunkelroter Blutstropfen fiel aus Adrans aufgeschlitzter Wange, stürzte in sein Gesicht und ließ es in tausend Teile zerfließen. 

Der Baron von Oppstein prallte zurück und schrie leise auf, was nicht allein dem grotesken Bild geschuldet war, das nun zu einem einzigen großen, wässrig roten Fleck verschwamm.

 

Brennender Schmerz  machte sich nun ebenfalls bemerkbar. Adran tastete an die klaffende Wunde, die der Fingernagel in seiner Wange hinterlassen hatte 

Alissia, was bist du doch für ein rahjaverfluchtes Biest. 

Hastig tauchte er seine Hand in das Wasser des Mühlenteichs, um den hässlichen Schnitt gleichermaßen zu säubern wie zu kühlen. Gut, dass er das Schandmal früher gesehen hatte als seine Wachen. Mit einer Verletzung beim Rasieren hätte er sich nicht herausreden können. 

Langsam beruhigte sich die aufgewühlte Oberfläche des kleinen Stausees wieder, und zeigte erneut Adrans Spiegelbild. Der Baron fand, dass er bleich und erschöpft aussah. Seine Augen waren dunkel unterrändert, als wollten sie Schwarzen Augen Konkurrenz machen. Tatsächlich fühlte er sich ausgebrannt, ausgelaugt, müde.

Zum Glück waren ein Schwan und ein paar Enten die einzigen Zuschauer. 

Welcher Dämon hatte ihn geritten, sich derart hemmungslos der Wollust hinzugeben? Vor allem, sich der Dunklen Wonne der Eigeborenen Alissia auszuliefern?

Adran wusste, dass es einen Zauber gab, mit denen die Hexenweiber die Hingabe eines Opfers erzwingen, mehr noch, mit dem sie ihm Lebenskraft rauben konnten. Das Wort "Levthansopfer" war wohl wörtlich zu verstehen gewesen.

Sein Kopf dröhnte, ihm war schwindelig. Der Leibwache durfte er so schon mal nicht unter die Augen treten. Vom  Biss in die Lippe ganz zu schweigen...salzig und süß schmeckte er das eigene Blut. 

Er ging einige Schritte in das feuchte Wäldchen hinein, das sich zwischen Teich und Oppenbach erstreckte. Verstohlen sah er sich um, dann zog er vorsichtig sein Schwert und wich dabei der rasiermesserscharfen Schneide aus.

Farrazar, der Weltenbrecher, war derart scharf, dass man seine Schärfe sehen konnte. Ein rundliches Pappelblatt, das herabgefallen war, wurde allein durch die Berührung des schwarzen Obsidians in zwei Hälften geteilt.

Das Steinerne Schwert, die Korgefällige Klinge, der Weltenbrecher, wie immer man die Waffe nennen wollte, bestand aus Vulkanglas, das auf dem ersten Blick  wie schwarzer Stahl aussah. Erst bei näherer Betrachtung offenbarte sich die Schichtung des Gesteins, dessen Wellenlinien hell im Sonnenlicht funkelten. 

"Geholt aus den Tiefen des Humus, gereinigt in der Klarheit des Wassers, geschmiedet aus der Härte des Erzes, gegossen in der Hitze des Feuers, gehärtet in der Kälte des Eises, geprüfet in den Stürmen der Luft, gesegnet mit der Kraft der Magie." Feierlich wiederholte er die Worte, mit denen ihm die Diener der Erde das Schwert überreicht hatten. Eine Waffe, die angeblich nicht von dieser Welt war. 

Adran stieß das Druidengeschenk in die dunkle, moosbedeckte, sumugefällige Erde, wo die Steinklinge mühelos, wie in einem Butterfass versank. 

Dann ließ er seinen Geist ebenfalls hinanbsinken. Spürte die Urkräfte, das Wurzelwerk, die Steine, das Erdreich unter sich....Sumus ewige Kraft, die seit Anbeginn der Zeit aus dem Leib der Großen Kosmischen Mutter strömte.

So auch hier. Adran schloss die Augen, spürte, wie sanfte Wärme aus der Erdentiefe in seine erschöpften Glieder floss, wie sich die vielen kleinen Wunden schlossen. Selbst die Risse in seiner Seele. Einen Moment lang fühlte sich der Oppsteiner vollkommen eins mit der Natur, die rund um ihn herum jubilierte, im Halbschatten der Bäume, an diesem herrlichen Sommertag.  

Beinahe kam er sich vor wie neugeboren. Der Schmiss in seinem Gesicht war verschwunden, ebenso die tiefen Kratzer auf seinem Rücken und dem Oberkörper.

Glücklich lächelnd stand Adran auf, blies die Erde von der lichtlosen Klinge, die, breit und mit einer Ausbuchtung in der Mitte, einem Barbarenschwert ähnelte.

Eine Waffe nach Pharraz´, des Namensgebers Geschmack. Der kahlschädelige Rauschebart war damals der mächtigste der Druiden gewesen, die ihm die Waffe überreicht hatten. Ein geistloser, herrschsüchtiger Grobian, trotz allem. Adran hatte rasch festgestellt, dass die "Weisen des Waldes" kaum weniger bieder und spießig sein konnten als Traviadiener. Extreme berührten sich eben oft. Gewiss, ein röhrender Hirsch klang beeindruckend, ein Opferstein am Wegesrand sah wildromantisch aus, aber wie sagte Lares immer so schön: Natur ist langweilig. 

Rasch hatte Pharraz ihm Vorhaltungen gemacht, nicht nur, aber nicht zuletzt auch wegen seiner "unnatürlichen" Liebe zum Hochfelser. Der Sokramoreiferer hatte wohl den Naturburschen im Baron von Oppstein sehen wollen. 

Machtgierig und menschenfeindlich waren Druiden sowieso, finster und eigenbrötlerisch. Bald schon hatte Pharraz versucht, Einfluss am Oppsteiner Hof zu gewinnen, gegen die steinerne Burg gewettert, überhaupt gegen Stadtmenschen und die zwölf "landfressenden Götzen".

Adran war bereit gewesen, die Alten Kulte zu verteidigen, aber nicht, den offenen Aufstand gegen die Neue Ordnung zu wagen. Es war bereits ein Fehler gewesen, den Abbruch der Baronsburg zu erlauben, die angeblich auf sokramorheiligem Grund stand. Zumindest hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die vielen Risse und Einstürze im Mauerwerk auf einen Fluch des Druiden zurück gingen. 

Als das Chaos der Wildermark ausgebrochen war, hatte sich Pharraz dem Raubritter Trak von Keckrach zugewandt, einem narbenbedeckten, muskelbepackten Hünen, der statt Farrazar eine riesige Streitaxt geschwungen hatte. 

Dem tumben Hünen die Sphärenschneide auszuhändigen, hatte sich Adran geweigert. Ihre Macht war gewaltig. Im Jahr des Feuers hatte der Baron damit manchen bleichen Wanderer zur Strecke gebracht und später sogar dem Drachen Arlopir einen tüchtigen Hieb versetzt. Was er mit schweren Verbrennungen gebüsst hatte. Aber Sumus Macht hatte ihn auch in diesem Fall geheilt.

Pharraz, der selbsternannte Oberpriester der Sokramor. Mit einem Heer aus Goblins und Söldnern, unter dem prahlerischen Namen "Sokramors Faust”, hatte der Fanatiker versucht, Zweimühlen niederzubrennen - nachdem er dort die Gilbe verbreitet hatte, mit finsterster Zauberei.

In Wutzenwald war der Pfleger des Landes vom Schwarzdruiden verschleppt worden. Einige reichstreue Helden hatten ihn an der Opferung des Perainegeweihten hindern können. Sowohl Pharraz als auch Trak waren danach "pharrazt" gewesen, wie man bis heute im Sichelhag spottete. Geschah diesen Verrückten recht - aber den Ruf der Aufrührer und Alveransfeinde waren die Sokramorier hernach nie wieder los geworden. Selbst die gemäßigten Anhänger der Alten Kulte nicht.   

Burchert, einer von Pharraz gelehrigsten Schülern, hatte noch eine Zeitlang versucht, das Erbe von "Sokramors Faust" fortzuführen, war aber mittlerweile selbst verschollen. Soweit Adran wusste, galt heute Arthorn von Kallerishain, der Gallyser Haindruide, als einflussreichste Stimme in diesem verschlossenen Zirkel. 

 

Adran hieb sich mühelos, fast schon beiläufig, einen Rückweg ins Unterholz, in Richtung der Staumauer. Unzerbrechlich war die Schneide sowieso, aber sie hatte noch einige andere erfreuliche Eigenschaften: Sie gab Lebenskraft zurück und zertrümmerte mühelos Stein oder Metall.  Eine besonders abenteuerliche sokramorische Legende behauptete, dass man mit ihr sogar die Grenzen zwischen den Sphären durchbrechen konnte.  

Nun, ein Riss zwischen den Welten hatte sich bislang nicht aufgetan, auch nach dem schärfsten Hieb noch nicht, Farrazars Spitznamen zum Trotz.

Dennoch, der Weltenbrecher war ein zweischneidiges Schwert. Adran hatte das Gefühl, dass die magische Klinge durchaus unsichtbare Erschütterungen durch die Sphären sandte, die kleinere Öffnungen in die Anderwelt, vielleicht auch noch in ganz andere Welten hervorriefen.

Zum endgültigen Bruch mit Pharraz war es gekommen, als Adran das Schwert in der Mine von Windsbucht eingesetzt hatte - die Geschwindigkeit, mit der sich das magische Vulkanglas durch das silberhaltige Gestein gefressen hatte, war atemberaubend gewesen. Wie auch immer, der Einsatz im Bergbau war nicht die Verwendung gewesen, die sich sein Hofdruide in spe vorgestellt hatte.  Pharraz hatte getobt, von der Schändung des Leibs der Sokramor und einer Vergewaltigung Sumus gebrüllt. 

Danach war Trak von Keckrach der neue starke Mann gewesen - bevor dem Zippeldinger sein Schicksal ereilt hatte. Allerdings war zuvor auch  Markt Windsbucht vom Erdboden verschluckt worden. Bis heute war sich Adran nicht ganz sicher, ob es derart machtvolle Druidenzauber gab - oder sich nicht vielleicht doch eine kleine Feenpforte geöffnet hatte, unter der Bergwerkssiedlung.

In den letzten Jahren hatte er Farrazar wohlweislich verborgen. Hatte sich von der stumpfen Barbarei eines Pharraz oder Trak distanziert, hatte beweisen wollen, dass man sowohl einfühlsamer Sumufreund als auch kultivierter Städter sein konnte. Viele hatten seinen Wandel oder "Verrat" nicht verstanden, die Sokramorier ebenso wenig wie die Zwölfler. Die Extreme berührten sich, so war es immer.

Schließlich hatte Adran das Staumäuerchen erreicht, dass den Teich vom Mühlgraben abtrennte. Das Rad klapperte und klapperte.

Adran hatte natürlich geahnt, dass Ismena die Schwindfurt am Oppenbach nutzen würde. Schließlich lebte er nicht erst seit gestern im Oppsteinischen. Dass seine Feinde so dreist waren, bei finsterster Nacht durch den Wald zu marschieren, nun, das hatte ihn doch überrascht. Er hatte erst einige Stunden nach Sonnenaufgang mit einer Bachüberquerung gerechnet - gut, Ismena hatte da auf Risiko gespielt und  gewonnen. In jedem Fall saßen seine Feinde nun genau da, wo er sie haben wollte.

Ironischerweise war es der Sturm von Gernatsborn gewesen, der Adran zu seinem Plan inspiriert hatte - die Überflutung von Glyranas Kupferbergwerk. Der Mühlteich, der im Winter als Eislieferant diente, war flach, aber gar nicht mal so klein. Würde die Staumauer einbrechen - nun, die Ismenischen würden wohl nicht von einer gigantischen Flutwelle hinweg gespült werden, wie damals das alte Havena. Das leider nicht. Aber es würde ausreichen, um den Oppenbach gehörig ansteigen zu lassen. 

Als der Teich vor einigen Götterläufen übergelaufen war, bei Starkregen, da war das Wasser am Ende kniehoch auf der völlig verschlammten Wiese gestanden. Den Ismenischen würde gar nichts anderes übrigbleiben, als den Hügel endlich anzugreifen. Zumindest wäre damit die verfluchte Balliste ausgeschalten.

Ein paar Enten flatterten hoch, als Adran den Mühldamm betrat, über das Brücklein hinweg, das über die Stauwehr und den Wasserfall des schmalen Mühlgrabens führte. 

Mit kindlicher Zerstörungslust hieb er auf das grobe Holzgeländer ein, das Besucher vor dem Absturz schützen sollte. Nach wenigen Schlägen war es nur noch Kleinholz. Dann waren die schweren Steine an der Reihe, die den Damm bildeten. Steinbrocken und Mörtelstückchen flogen umher, Funken sprühten, verbanden sich zu regelrechten Blitzen. Die ersten Risse breiteten sich im Mauerwerk aus. 

Adran hob das Schwert zum Keilstoss, wohl wissend, dass ihm bei einem Einsturz nur wenig Zeit bleiben würde, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Klug wäre es gewesen, seine Leibwächter herbeizurufen - aber zu viele Zeugen konnte er sich in seiner Lage auch wieder nicht erlauben 

Ein blubberndes Geräusch lenkte ihn ab. In die Mitte des Teichs kam Bewegung. Erschrocken flog nun auch noch der Schwan davon. Ein helles Licht flackerte im Trüben auf, das Wasser geriet in Wallung, schwallte hoch, wie bei einem Zierbrunnen. 

 

Ohne Vorwarnung schoss eine Fontäne in den Himmel. Was dort entstand, war kein Mahlstrom, sondern...ein Zufluss von unten her?

 

Im nächsten Moment fiel die Wassersäule wieder in sich zusammen. Das vielfarbene Leuchten im See wurde stärker. Majestätisch stieg eine Lichtkugel aus den Wellenkreisen empor, die an der Oberfläche noch zu sehen waren: Eine irisierende, in allen Regenbogenfarben schillernde Globe. Lautlos glitt die Erscheinung auf den verdutzten Baron zu, schien ihn eine Weile ebenso erstaunt zu betrachten. Die Farbe veränderte sich in ein mattes, fast gelbliches Rot. Wie eine zweite Sonne flog der  Kugelblitz zurück zum Ausgangspunkt und versank wieder in der Tiefe, ohne Dampf und Zischen. Ein heißer Feuerball verbarg sich dahinter schon einmal nicht.

 

Dann ging alles ganz schnell. Der gerade noch so beschauliche, unscheinbare Mühlteich schien regelrecht zu explodieren.

 

Das Wasser schoss auf Adran zu… wo kam nur dieses Wasser her? Adran war eine Weile orientierungslos… 

Als der Oppsteiner das belebende kühle Nass in seinem Gesicht spürte, bemerkte er, dass nicht das Wasser auf ihn zukam. Im Gegenteil… wie von einem mächtigen Sog angezogen, war er in das Wasser gefallen. Wie war das geschehen? Adran war noch immer völlig desorientiert. Wo war oben? Wo unten? 

Gab es irgendeinen halt? Irgendetwas, an dem er sich festhalten konnte? 

Natürlich gibt es etwas, das Dir halt bietet. 

Eine Stimme hallte um ihn herum. Wer sprach da mit ihm? 

Die Sichel lässt ihre Kinder nicht fallen. Auch dann nicht, wenn sie fehl gehen. Selbst Gernot, der Übleres kaum hätte tun können, hat seine zweite Chance erhalten… Deine Verfehlungen sind weitaus geringer, natürlich gibt die Sichel Dir halt, Adran!

Eine kräftige Hand griff nach der Seinen, zog ihn aus dem sprudelnden nassen Element. Adran blickte auf, er staunte nicht schlecht, als er in ein bärtiges, freundliches Gesicht blickte. Ein alter Mann zog ihn mit kräftigem Ruck aus dem Bach… Fluss… auf einen über das Fließende Wasser hinausragenden mannsdicken Ast einer Hainbuche. 

Verwirrt blickte Adran sich um. Dann blickte er dem Alten ins Gesicht. Adran war überrascht. So viel Kraft hätte er einem ergrauten Mann - sicher über sechzig Winter, vielleicht siebzig, mochte er alt sein, gar nicht zugetraut. Adran war kein Fliegengewicht. Ihn mit nur einer Hand einem tosenden, rauschenden Bach zu entreißen hätte er so manchem seiner Krieger nicht zugetraut. 

“Du… Du hast mir das Leben gerettet…” stammelte Adran. 

“Ach nein… nicht doch. Aber vielleicht werde ich das noch. Einstweilen biete ich Dir nur Gastung, hier über den Quellen des Gernat… oder des Jargelbachs… oder des Oppenbachs… oder der Gieße… ach, ist doch egal wie der Fluss heißt. Alle Flüsse fließen ins Meer, so heißt es. Spielt es da eine Rolle, ob sie alle die gleiche Quelle haben oder nicht?”

Adran glotzte den Alten mit offenem Mund an. Er verstand nichts. 

Der Alte lachte. Braunes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar, wippte leicht und rutsche dem alten vor sein rechtes Auge, eine kaum mehr sichtbare Narbe darüber verdeckend…

“Kennen wir uns?” wollte der Oppsteiner wissen. 

“Nein…ja… doch, ich denke schon. Bei den alten und neuen Göttern, das ist verwirrend hier an diesem Ort, an dem Satinavs Vermächtnis so durcheinander gewirbelt wird wie die Bäche der Sichel. Jetzt weiß ich noch nicht einmal, ob ich mich schon vorgestellt habe. Nein, natürlich habe ich mich schon vorgestellt, aber es ist gut möglich, dass dieses Ereignis erst noch eintreten wird und noch nicht geschehen ist. Nein, mein Freund, Du musst nicht verwirrt sein. Ich verstehe das auch nicht alles. Kom mit… Ich bin übrigens Odilon.”

“Nenne mich nicht Freund, Baernfarn!” fuhr Adran auf. Ein Baernfarn kann nicht mein Freund sein, wenn dieses Rondritscherl…” 

“Sicher, mein Freund. In einem Teil der Zeitlinie sind Baernfarns und Oppsteins keine Freunde. Aber nur in einem kleinen Teil der Zeitlinie. Das kann sich ja auch wieder ändern. Wir sind… doch alle Kinder der Schwarzen Sichel.” 

Odilon schritt voran, balancierte über den Ast zum Ufer hin. Adran folgte dem Feind, der sich Freund nannte. Mit jedem Schritt zum Ufer hin fühlte er sich besser, sicherer, klarer. 

Odilon lächelte ihn an. “Es ist leichter, hier am Ufer zu reden. Man kann sich einfach besser konzentrieren, wenn Satinav nicht so verwirbelt ist.” 

“Wo… ist der Mühlbach. Wo sind wir?” Der Oppsteiner herrschte Odilon an, zog sein Messer und hielt es ihm vor das Gesicht. “Bring mich sofort zurück. Ich habe eine Schlacht zu schlagen.”

“Soso, hast du das…” brummte Odilon unbeeindruckt. “Warum dabei sinnlos Bauern sterben müssen, nur weil die Herrschaft sich nicht einig ist, habe ich noch nie verstanden.” 

Adran lachte auf. “Müssen sie nicht… ich könnte mich auch mit dieser Baernfarnschlampe duellieren, dann müsste kein Bauer leiden. Ein Duell… egal ob nach Rondras oder nach Rahjas Regeln, würde ich sagen, wenn ich an diese Götzen….

“Nanana… “ unterbrach Odilon. “Ein Duell würde auch nichts mehr ändern. Die Entscheidung ist schon längst gefallen. Gegen Dich, Adran. Nicht für Ismena Rondria. Einfach nur schlicht gegen Dich. Der weitere Weg der Sichel, der Weg Oppsteins, ist schon längst von deinem Lebensweg abgebogen. Du hast es nur noch nicht gemerkt. Die Sichel ist stark weil sie im Verborgenen lebt, Adran, verstehst du? Nicht weil sie offen aufbegehrt und dabei nur Gegner auf sich zieht. Du hast nicht verstanden, wer sich in der Natur durchsetzt. Nicht derjenige gewinnt, der besser kämpft und erfolgreicher tötet, Adran. Es gewinnt, wer erfolgreicher überlebt. Also vergiss das Duell. Das ändert nichts mehr. Aber eines kannst du noch erreichen. Du kannst sinnloses Blutvergießen vermeiden…”

“Schwätzer” murrte Adran. Hirnloser Baernfarnschwätzer. Bring mich zurück zu meiner Schlacht!” befahl Adran ihm. 

“Sicher” nickte Odilon. “Das werde ich!”

“Aber ein bisschen hurtig!” befahl Adran. 

“Gemach, mein Freund… hurtig spielt hier keine Rolle. Wann wir zurückkommen zur Schlacht hängt nicht davon ab, wie lange wir hier reden. Wir sind hier an der Quelle der Flüsse, da spielt Satinav keine Rolle. Nein, nicht keine Rolle. Aber eine andere Rolle. Also… wo war ich stehengeblieben… Ach ja… mein Freund… Sieh es einmal so. Du willst die Alten Kulte stärken? Dann tu das und geh, lass die alten im Verborgenen blühen, aber lass es nicht zum Streit kommen zwischen den Alten und den Zwölfen. Das nutzt niemand, das nutzt nur dem Feind…

Sieh mal, Adran. Selbst wenn du heute nicht als Verlierer vom Schlachtfeld gehen würdest… es ändert doch nichts daran. Die Rosenbuscherin ist als Gräfin der Sichel gesetzt, das werden weder du noch irgendjemand sonst verhindern. 

In Rosenbusch ebenso wie in Rommilys hat man den Untergang der Sokramurier beschlossen. Und für die Sokramurier stehst du. 

Und wenn du heute gegen die Ismenischen gewinnen solltest, dann wirst du dennoch morgen gegen die Allianz von Rommilys und Rosenbusch verlieren. Und alles, was du für die Alten Kulte aufgebaut hast, geht mit Dir unter. 

Aber wenn du verlierst… dann werden Rommilys und Rosenbusch denken, die Alten Kulte hätten verloren. In Wahrheit aber werden sie im Verborgenen weiter blühen, so wie sie es seit Jahrhunderten tun, wie sie es seit Artemas und Alborans Zeiten getan haben. 

Die Sokramurier werden Tsa sagen, aber Tsatuaria meinen. Sie werden die Wilde Jagd verehren, dem Herrn Firun zur Ehr, und dennoch werden sie die gleichen Kräfte der Natur ehren wie zuvor. Sie werden Peraine ehren, aber im Herzen Sokramur tragen. Sie werden im Verborgenen blühen und wachsen statt heldenhaft und, man möchte sagen rondragefällig, untergehen. Es ist Deine Entscheidung, Adran. Kämpfe gegen Ismena, und bringe deinen Leuten den Tod. Oder verliere und bringe damit dem Land das Leben. 

Erst das Land, dann die Familie, dann man selbst. Unter dieser Devise herrschen die alten Familien seit Anbeginn der Geschichte erfolgreich über die Lande Aarmariens. Stelle du jetzt nicht dein eigenes Schicksal über das der dir anvertrauten Menschen, über das des Landes als solches. Verliere die Schlacht, und lebe, mein Freund, und ich verspreche Dir, dass man dein Andenken in der Sichel in Ehren halten wird.”

Adran antwortete nichts. Mit vielem hätte er gerechnet, zuallererst damit, dass der alte Baernfarn ihn einfach mit dem Bogen niederstrecken würde, um damit seiner Großnichte auf den Thron zu helfen. Er hätte es hier nicht verhindern können. Aber dass der alte Waldläufer ihn zum Aufgeben zu überreden versuchte… das hatte er nicht erwartet. 

“Ich versprach, dich zurück zur Schlacht zu bringen, und ich stehe zu meinem Wort. Vergiss nicht, Adran, mehr als von allen anderen, die am heutigen Tag eine Klinge in der Hand halten, hängt von Dir Wohl und Wehe Aarmariens ab. Es ist Deine Entscheidung. Handle weise.”

Odilon führte Adran mit sicheren Schritten wieder auf den Hainbuchenast zurück, hielt dann an über einem strudelnden und wirbelnden Wasserschwall. Adran sah Odilon fragend an. Der alte Waldläufer nickte ihm freundlich zu. 

Adran sprang…. Die Fluten schlugen über ihm zusammen. Für einen Moment wirbelte Adran orientierungslos umher. 

Dann packte seine Hand den in den Oppenbach hineinragenden Zaun, der den Garten der Mühle umschloss und ins Wasser reichte, mit seiner linken und zog sich ans Ufer. 

Adran blickte auf die Bewaffneten beider Heere, die in ihren Positionen verharrten und sich belauerten.  

 

Zumindest konnte Adran sich das für einen Moment einreden. Tatsächlich war es vor allem Rauch, der über dem Hügel aufstieg, den Sonnenhügel, wie er ihn kurzerhand getauft hatte. Die Anhöhe schien sich in einen regelrechten Scheiterhaufen verwandelt zu haben - niemand konnte es dort oben aushalten!

Das Mäuerchen hielt noch immer stand. Einer seiner Ritter hatte die Schleuse ein wenig geöffnet,, um den Damm zu entlasten. Odilon hatte unfreiwillig Recht getan, ihn von der Überflutung des Schlachtfelds abzuhalten, Adran hätte damit auch den eigenen Leuten geschadet. 

“Herr Baron….Euer Hochgeboren!” hallte es aus dem umliegenden Bergwald. Seine Wachen suchten ihn, natürlich, sie konnten es wohl nicht glauben, dass er in den seichten Mühlteich gefallen, geschweige denn dort ertrunken war. 

Adran tastete nach dem Steinschwert und stellte entsetzt fest, dass es verschwunden war.  Fluchend watete er in den Teich hinaus, dort, wo er hineingestürzt war, aber da war nichts, obwohl man an vielen Stellen bis an den Grund sehen konnte.

Odion hatte ihn aufs Kreuz gelegt - und bestohlen! Der Baron von Oppstein brüllte seine Wut in einem einzigen Schrei hinaus, der noch lange an den Berghängen widerhallte!

 

Odilon blickte auf die steinerne Klinge in seiner Hand, die Klinge, die er Adran aus dem Gürtel gezogen hatte, als er ihn aus dem Fluss der Zeit gezogen hatte. Die druidische Klinge. 

Farrazar war keine mächtige Waffe, eher von symbolischer Bedeutung. Sie war eine Klinge, die ihrem Träger symbolisch zur Autorität unter den Anhängern der Alten Kulte machte. Für die kommende Schlacht hatte sie keine Bedeutung. Die Heere standen, egal ob nun Adran die Klinge noch führte oder nicht. 

Aber für die Zukunft war Farrazar wichtig. Sie würde als Reliquie einen Platz im Firuntempel der Baronie Oppstein erhalten, der, würde man den Plänen der Firunhochgeweihten Tiinana Järvimäkinnen glauben, aus der Firunkapelle am Bogen des Weißen Jägers entstehen sollte. Ein Tempel, der die erfolgreiche Rückkehr in den Schoß der Zwölf Göttlichen Geschwister für jeden sichtbar zeigen sollte. Und der gleichzeitig für jeden Anhänger der Alten, der Farrazar auf dem Altar des Firuntempels sehen konnte, eine Einladung war, den alten Glauben im neuen Gewand weiter zu leben. 



 Vor der Traviansfurt, Rahjastunde

 

Schmutzigweißer Rauch wehte vom Hügel herab. Drang beißend in die Augen, Nasen und Hälse der Ismenischen.

Die Handvoll Armbruster, die vorne ausgeharrt hatten, wichen nach und nach zurück. Adrans Landwehrbauern drängten schreiend durch das geöffnete Gatter oder sprangen, Kriegsflegel, Sturmsensen und Glefen schwingend, über den Zaun.

Trommeln dröhnten, Fanfaren schmetterten. Ein besonders kühner Bursche schwang das Oppsteiner Banner, mit dem blutroten Drachenkopf auf Gold und den drei goldenen Ähren auf Rot. Das Korn war eine Erinnerung daran, dass einer von Adrans Vorfahren als Bauernbaron geschmäht worden sein sollte.

"Für Oppstein, den Siiieeg!" hallte es dumpf aus dem wabernden Brodem. 

Der wandernde Nebel wurde dichter und dichter.

Die Ismenischen Hellebardiere, die in vorderster Reihe ausharrten, gerieten in Panik, als sie der Rauch blendete und ihnen die Sicht raubte. Keuchend und würgend, wie Halbwüchsige, die Großvaters Pfeife gestohlen hatten, um zu paffen, taumelten sie umher. Einige wandten sich bereits zur Flucht.

"Zurück mit Euch, verdammt noch mal!" Jadvige von Kressenbrück trieb die Feiglinge mit Schwerthieben zurück auf deren Posten. Einstweilen führte sie die Hiebe noch mit der flachen Klinge aus. So erstickend war der Rauch nun auch wieder nicht – bei jeder Stadtplünderung qualmte es mehr.

"Das ist der Feenwind!" würgte eine Schlotzerin unter Tränen hervor und riss sich bereits ihr orangefarbenes Armband ab.

"Für Oppstein, den Siiieg!" Schemenhaft tauchten die ersten Adranschen im Rauch auf, stürmten voran. Womöglich war es die Heimatliebe, die sie antrieb, vielleicht auch der Durst und die Gier auf das kühle, frische Bachwasser. In jedem Fall machten sie gerade eine bessere Figur als die verunsicherten Streiter Ismenas.

"Kniet nieder", befahl Jadvige, ohne auf die eigenen Tränen zu achten, die ihr durch das russverschmierte, narbengeschmückte Gesicht rannen. Glyranas Hofritterin schwang ihr Schwert. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Ismena Rondria hoch zu Ross hin und her ritt und an den Flanken ihre  schwankende Heerschar zusammenhielt.

Die Hellebardiere duckten sich, spähten angstvoll unter Birnhelmen, Sturmhauben und Eisenhüten in Richtung Feind. Zwischen Söldnern und Haustruppen gab es längst keinen Unterschied mehr.  Immerhin, knapp über dem Boden war die Luft frischer. 

"Schüttet euch Wasser über den Kopf!" schrie Jadvige. Kopfschüttelnd riss sie einem Dummkopf den Tellerhelm herunter, von dessen Eisenkrempe das Wasser herunter tropfte. "Über den Kopf, habe ich gesagt, nicht auf den Helm. Der Nächste, der sich das Traviaband herunterreißt, wird als Fahnenflüchtiger bestraft!"

Eine junge Frau schrie auf, als sie aus dem Nichts ein Armbrustbolzen traf, und sank röchelnd ins Gras. Erneute flammte Panik auf. Fluchend rammte Jadvige das Schwert in die Scheide und packte die frei gewordene Hellebarde, ohne auf das Zucken der Sterbenden neben ihr zu achten.

"Es ist der Wind", jammerte ein anderer Hellebardenträger. "Das ist Hexenrauch!"

Hexenrauch? Feenwind? Glyranas Dienstfrau wusste, dass viele Ismenische die Alten Götter fürchteten, kaum weniger als es die Oppsteiner taten. Man konnte Adrans Leute leicht als Verräter an den Zwölfen abhandeln. Aber die Ihrigen schienen ebenfalls zu glauben, dass der heranwehende Hexenrauch die Strafe Levthans, Satuarias oder Sokramors war.

Vielleicht auch schwarze Magie, was im Wesentlichen auf das Gleiche hinauslief. Ein wenig seltsam war es schon, dass der Rauch vom Hügel herabstieg, Feuer brannte eigentlich nach oben. Womöglich hielten sich auch auf der Gegenseite nicht alle an das vereinbarte Magieverbot?! Jadvige betete zu den Zwölfgöttern. Die Doppeldeutigkeiten, die den Alten Kulten anhafteten, waren ihr fremd, Rondra war eine Göttin, die das Eindeutige und Geradlinige liebte.

Tatsächlich begann sich der Rauch wieder zu lichten – und die tobende Schar der Landwehrbauern zu enthüllen. Einige rannten genau vor die Balliste.

Der Vordermann wurde von einem Speer durchbohrt, der ihn an die Hinterfrau heftete und beide in einem Blutnebel nach hinten schleuderte. Walburga, die Doppelsöldnerin der Silberwölfe, ließ ihren Zweihänder in den Reihen der Angreifer kreisen, hackte durch Arme, Beine, Köpfe. Dazu kam Beschuss von der Seite. Jadvige stieß die Glefe eines jungen Narren beiseite, der sie damit aufspießen wollte, stieß ihm die Spitze der Hellebarde in den Unterleib und gab ihm mit der Axtseite den Rest. Armbrustbolzen prasselten von der Seite in die Bauernschar, deren Angriff deutlich an Schwung verlor. Die Hellebardiere, zu denen sowohl Silberwölfe als auch Pfahlgardisten und Senkenthaler zählten, rückten brüllend vor. Das Gras unter ihren Füßen war bereits glitschig vor Blut. Die Kressenbrück stürzte, ließ die Hellebarde fallen, griff in etwas Glibbriges, von dem sie gar nicht wissen wollte, was es war, erhob sich wieder, raffte die Stangenwaffe auf, wehrte einen Angriff mit einer Hippe ab. Brülle, Schreie, Keuchen.

Pfeile schwirrten. Jadvige sah, wie Travian mit den Schlotzer Waldschützen auf die Flanke der Bauern zuhielt und sie mit Geschossen überschüttete. Die Schnayttacher Garde griff zu Beilen und hackte im Nahkampf auf die Oppsteinischen ein. Die Bauern versuchten sich einzuigeln, das Drachenbanner in der Mitte, im toten Winkel zur Balliste. Offenbar hatten sie immer noch nicht begriffen, dass das schwere "Belagerungsgeschütz" beweglich war, dank des Karrens. Die Richtschützen rissen die Sehne mit behandschuhten Fäusten nach hinten, die Stiefel gegen die Halterung gestemmt, obwohl ihnen Jadvige genau das verboten hatte – das rabiate Spannen per Hand war der beste Weg, das Geschütz zu beschädigen, die Finger abgerissen zu bekommen und  gefährliche Fehlschüsse zu riskieren.

Mit Wutgeschrei schob die Begleitmannschaft den Karren nach vorne. Die Oppsteiner bemerkten die nahende Gefahr nicht. Erbarmungslos fuhr ein weiteres Ballistengeschoss in ihre viel zu dicht stehenden Reihen. Das Landvolk zeigte Nerven und zog sich teils kämpfend, teils panisch zurück. Immerhin, ihre Fahne vermochten sie zu verteidigen. Ismenas berittene Armbrustschützen wichen zur Seite aus und bezogen Flankenstellung, wie es Schützenart war.

Erneute Fanfarenstöße. Schwere Hufe dröhnten und donnerten. Die Stahllawine, die nun vom Karrenweg heranwalzte, sah aus wie der Alptraum eines jeden Fußsoldaten. Staub wirbelte hoch, ebenso Erdbatzen und Grasfetzen. Vermischte sich mit Rauchfahnen, die noch immer umher waberten. Eine Reihe Kriegslanzen wurde wie eine absurde Hinrichtungsmaschine auf die Ismenischen ausgerichtet. Stahlfratzen starrten ihre Opfer an, unter bunten Helmzieren. Lares galoppierte vornweg, gut erkennbar an seinem Wappen, und dem rosenfarbenen Helmband. Leichen und Verwundete wurden gleichermaßen zerstampft.

"Schlachtreihe – öffnen!" brüllte Jadvige noch. Die Hellebardiere traten jeweils zwei Schritte zur Seite. Anders als ein übervorsichtiger Pikenier brauchte so ein wackerer Hellebardier Platz, schon allein, um selbst kein  leichtes Ziel zu bieten.

Dann ging alles ganz schnell. Das menschliche Gehirn war einfach nicht dafür gemacht, den heranbrausenden Tod in seiner ganzen Unerbittlichkeit wahrzunehmen. Alles war seltsam, wie in einem Traum, der nicht einmal wie ein Alptraum wirkte. Der Zeitfluss selbst schien sich zu verändern.

Die Stahllawine brauste über sie hinweg. Jadvige sprang zurück und zur Seite, duckte sich unter einem mörderischen Lanzenstoß. Sah aus den Augenwinkeln, wie Rottmeisterin Birte durchbohrt wurde, die Anführerin der Senkenthaler. Ließ wie eine verrückte Roßschlächterin die Beilklinge kreisen und hackte die Vorderhufe des nächsten Pferdes einfach ab. Mit grauenhaftem, schrillem Wiehern stürzte das Tier zu Boden, walzte über seinen Reiter hinweg. Den Rest erledigte ein Axthieb, genau in das Visier des Reiters, das regelrecht aufplatzte, als wäre das Gesicht darunter nur eine überreife Frucht. Blut sprudelte und schwappte hervor.

Dann brauste die zweite Welle heran. Ein Schwerthieb zersplitterte den Hellebardenschaft, die gepanzerte Brust des Pferdes stieß Jadvige grob beiseite. Sie stürzte, sah stahlbewehrte Hufe über sich. Die Kressenbrück hatte Glück, es war ein Knappenpferd, das noch nicht gelernt hatte, einen Menschen totzutrampeln, und erschrocken über das kettenklirrende Etwas hinweg sprang.

Glyranas Hofritterin sprang auf, zog ihr Schwert, parierte einen Morgenstern, schlug wütend einem Steiner gegen den Drachenschild. Die feindliche Reiterei war tief in die Reihen der Hellebardiere eingedrungen, die sich klug verteidigten, kämpfend zurückwichen, die Ritter von der Seite attackierten, sie mit Haken herunterzogen, durchbohrten, die Rüstung mit Axthieben aufbrachen. Aber der Blutzoll war hoch.

Jadvige merkte, dass hinter der Kavallerie bereits das feindliche Fußvolk herantobte. Von der Seite schwirrten Pfeile und Bolzen in die Reihen der Gegner. Die ersten Feinde fielen unter dem Beschuss. Adrans Reiter merkten, dass die meisten Gegner bereits hinter ihnen standen, und versuchten umständlich zu wenden. Pferde stiegen, Ritter stürzten zu Boden, majestätisch wie gefällte Eichen. Was für ein Durcheinander!

Die Ritterin von Kressenbrück führte die Hiebe und Stiche nur noch mechanisch aus, inmitten einer Schar tobender, brüllender Leiber. Hackte hier in ein Gesicht, durchbohrte dort eine Achselhöhle. Drehte sich um, schlug zu. Um ein Haar hätte sie einem Schlotzer den Kopf geteilt, der wie ein Irrsinniger brüllend über das Schlachtfeld taumelte. Ein hünenhafter Landwehrbauer stürzte sich auf Jadvige, drosch mit einer Stachelkeule auf sie ein, riss das Kettenhemd auf. Die Kordienerin gab ihm das Schwert zu fressen. Dann wurde sie umgerissen, fiel in den feuchten Schlamm.

Feuchter Schlamm? Wie konnte das sein, an einem Hitzetag wie diesen? Erst jetzt merkte sie, dass die Erde feucht vom Blut, nicht vom Regen war. Dunkle. matschige Hirnmasse spritzte ihr ins Gesicht, als links von ihr eine Oppsteinerin den Schädel zertrümmert bekam. Mit aufgeschlitztem Bauch sank ein Soldat, dessen Zugehörigkeit sie nicht erkannte, vor ihr in die Knie und versuchte seine Eingeweide am Herausglitschen zu hindern.

Kor übernahm immer mehr die Herrschaft über das Schlachtfeld. Die Gänsebänder zahlten sich nun aus, als Erkennungszeichen, auch wenn diese jetzt schwarzrot bespritzt waren, nicht mehr orangefarben leuchteten. Aufstand im Noionitenkloster – wäre die irre Kakophonie aus Sinneseindrücken ein Gemälde gewesen, dieser Titel hätte gepasst. Nur dass längst nicht mehr klar war, wer hier zu den Wärtern, wer zu den Wahnsinnigen zählte.

Nein, der Boden war nicht feucht vom Lebenssaft der Kämpfer, stellte die Ritterin fest, mit einer gewissen Erleichterung. Das hier war nicht die Vierte Dämonenschlacht, trotz allem. Um Hin- und Hergerenne Richtung Bach zu vermeiden, hatte die kluge Ismena – oder war es die menschenfreundliche Glyrana gewesen?- einen Karren voller Wasserfässer auf die Wiese fahren lassen und sogar mit einem Sonnenschutz überspannt. Das feindliche Fußvolk hatte diesen kostbaren Schatz entdeckt und ihn partout erbeuten wollen. War es törichter Übereifer der Durstigen gewesen, oder ein Gegenangriff der Ismenischen?  Das kleine Fuhrwerk war jedenfalls mitsamt Markise umgestürzt und fassweise Wasser auf die Wiese geströmt, wo es sich nun mit Blut und Dreck mischte. Der Sumpf war eine tückische Falle, Pferde und Schwergerüstete rutschten gleichermaßen darin aus. Gerade erwischte es Travian von Binsböckel, der von seiner geliebten Yolante in Sumus feuchte Arme geschleudert wurde.

Jadvige hinderte einen feindlichen Waffenknecht daran, den armen Travian in einem Schlammloch zu ertränken, mit einem wenig rondrianischen Stoss in den Rücken. Dann sprühte ihr von der Seite Blut ins Gesicht. Gisla von Zweifelfels hatte ihrem Gegner fein säuberlich den Arm abgehackt, der seinen Lebensaft nun freigiebig auf dem Schlachtfeld verteilte. Sehr gut. Die Ritterin spuckte Blut aus, das zum Glück nicht ihr eigenes war, und gab dem waidwunden Feind den Rest. Gisla stand totenbleich daneben und kämpfte mit ihrem Mageninhalt.

"Du musst noch lernen, deine Beute zu erlegen, junge Löwin." Jadvige lachte wie eine Irrsinnige. Sie kannte diese Phase einer Schlacht nur zu gut – in der man seine Stärke kennengelernt hatte und den Feind für die Angst büßen ließ.  Jadvige wusste, dass ein Kampfrausch kaum mehr wert war, als sich in einer schmierigen Kaschemme mit billigem Fusel zu betrinken. Die Katerstimmung danach würde fürchterlich sein, selbst wenn einer die Schlacht überlebte. Einstweilen galt es, den Schwung zu nutzen. Dahinten rauschte bereits der Oppenbach, auf dessen Steinen Gefallene lagen. Verdammt, sie war schon ziemlich weit zurückgedrängt worden.

"Vorwärts, vorwäärts, für Ismena und das Recht!" brüllte sie. "Mit uns die Zwölfe! MIT UNS DIE ZWÖLFE!"

Gisla erbrach sich nun doch. "Die Hitze" stammelte sie verlegen und spuckte aus.

"Schon gut!" Tatsächlich fühlte sich Jadvige selbst wie in einem Backofen, in ihrem Kettenhemd. Mehrere Wunden brannten, die sie gar nicht mitbekommen hatte. Ihr Körper klebte vor Schweiß und Blut. Am liebsten hätte sie sich einfach in den Wildbach gelegt, und das eiskalte Wasser den Rest des Tages nicht mehr verlassen. Nein, am liebsten hätte sie sich einfach bachabwärts treiben lassen, und Dere Dere sein lassen. Aber am Ende lauerte  ein finsteres Erdloch, wie immer im Leben...

"Für die Zwölfgötter! Für Alveran!" nahm Gisla von Zweifelfels den Schlachtruf auf und hob ihr eigenes, blutbenetztes Schwert. Jadvige klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. "Tu mir den Gefallen, und überleb diesen Tag!"

 

Am Karrenweg nach Oppstein, Praiosstunde

Alboran zügelte sein Pferd und versuchte, das Visier des Schallers zu öffnen. Ein Visier, das vom Einschlag eines Armbrustbolzens völlig zerbeult war. Der Baron von Schlotz hatte die Schlacht bisher nur durch den Sehschlitz wahrgenommen – gar so, als hätte er in den Schaukasten eines Jahrmarkts geblickt. In eine Welt, in der buntgewandete Kämpfer, in den Wappenröcken ihrer Gebieter, wie verrückt aufeinander eindroschen, stachen, schossen. Bislang war der Bastardsohn des Herrn von Friedwang froh gewesen über sein eingeschränktes Sichtfeld. Das ihm die Illusion erlaubte, nicht wirklich an diesem erbitterten Gefecht teilzunehmen, auf Leben und Tod.

Wenn ja, dann nur als Zaungast, was sogar stimmte. Da vorne ragte der Weidezaun auf, hier und dort lag eine umgestürzte Pavese. Die feindlichen Schützen waren verschwunden, vermutlich Richtung Oppstein, nachdem sie ihre letzten Bolzen verschossen hatten.

Albo durfte gar nicht daran denken, dass Ismena im ersten Moment ihn, den Ranghöchsten, zum Befehlshaber der "Schweren Reiter" hatte ernennen wollen. Ihn, der seit Knappentagen mit Pferden auf Kriegsfuß stand. Scheinbar bescheiden hatte er diese Ehre abgelehnt. Ismena Rondria höchstselbst hatte das Kommando übernommen, über die Lanze von Adeligen, die trotz des Namens über keine einzige Kriegslanze verfügten. An seiner Seite waren Ismena, Glyrana sowie Gerhard von Weißentraut mit seinen Streitern in den Kampf geritten, der mehr einem Jagdausflug ähnelte. 

Schon beim ersten Antraben hatte Alboran gemerkt, dass er sehr am Leben hing, als junger Familienvater. Alrik, sein eigener Erzeuger, hatte ihm viel vom Rausch einer Kavallerieattacke erzählt, wenn man Seite an Seite, im wilden Galopp und scheinbar schwerelos, auf den Feind zudonnerte, bis zum Aufprall.

Im Moment mochte sein Bastard die Begeisterung nicht recht zu teilen. Mit Haldana hatte er verabredet, dass sie sich ein wenig zurückhalten sollte, schon allein um der kleinen Alfhildr, ihrer Tochter, willen. Andererseits hatte Albo einen Ruf als rondragefälliger Baronieherr zu gewinnen, nach dem peinlichen Debakel beim Gernatsborner Lanzengang. Der erste Angriff war auf die Armbruster gegangen, die an der nördlichen Flanke versucht hatten, die Balliste unter Beschuss zu nehmen.

Nein, die kühne Attacke war wider Erwarten nicht in einem Hagel aus Armbrustbolzen untergegangen, auch wenn Alboran Glück gehabt hatte, dass das Geschoss am Helm abgeprallt war. Ein Weißentrauter war aus dem Sattel gestürzt, aber rasch wieder aufgestanden, einen Bolzen in der Schulter. Dann waren die Schützen bereits getürmt, wohl wissend, dass sie keine Zeit mehr haben würden, nachzuladen. Womöglich war ihnen zwischenzeitlich auch die Munition ausgegangen – die Ismenischen Schützen hatten sie tüchtig beschäftigt, mit Dauerbeschuss. Mit dieser Kampfweise kannten sich die  "Firunsgesellen" nun wirklich aus. Haldana hatte dafür gesorgt, dass ständig neue Pfeilbündel nach vorne gebracht worden waren, vom Versorgungskarren aus, um die Zwanzigerköcher der Schützen wieder aufzufüllen. Ein steter Nachschub, über den die werten Herren und Damen Gegner schon mal nicht verfügten. Solche "Kleinigkeiten" konnten Schlachten mitentscheiden, soviel hatte der junge Binsböckel bereits gelernt.

Die Adranschen waren getürmt wie die Hasen. Selbst Alboran hatte es geschafft, einen Oppsteiner umzureiten, der seine Schwertattacke frech mit dem Kurzschwert hatte parieren wollen. Im letzten Moment hatte der Kerl sich unter dem Weidenzaun hindurch gewälzt, mit blutiger Nase.

Albo spürte eine fiebrige Nervosität in sich, gepaart mit einem Hauch freudiger Erregung. Bislang war der "korgefällige Krieg" weniger grausam und lebensgefährlich gewesen, als er ihn sich vorgestellt hatte. Aber nun gut, streng genommen handelte es sich bei diesem Waffengang  ja nur um eine Fehde. In Drachweiler war der Baron mal hierhin geritten, am Oppenbach mal dorthin, mehr nicht. "Ihr jungen Leute haltet den Krieg für ein Brettspiel" hatte Gesine vor vielen Jahren mal geschimpft, die Waffenmeisterin seines Vaters, die ihm Nachhilfe im Schwertkampf, aber auch der ungeliebten Kriegskunst erteilt hatte.  "Ein Spiel, bei dem die Figuren magisch hin und her bewegt werden ?!"

Stimmte schon, die Partie "Schlacht von Jergan" damals hatte ihn weit mehr gefordert, gegen Lares, als das bisherige Geplänkel. Und ja, Kriegskunst war, neben dem Reiten, das Fach gewesen, damals auf der Knappenschule, in dem er am meisten Schelte bezogen hatte. Es war wirklich bewundernswert, wie Feldherren Armeen mit tausenden Soldaten zu dirigieren vermochten. Hier schlugen einige wenige hundert Kämpfer aufeinander ein, ohne dass Alboran verstand, wie die momentane Lage war.   

Langsam sammelte sich die Lanze der Blaublütigen wieder, um sich neu zu orientieren. Die Reiter ein ganzes Stück vom eigentlichen Schlachtfeld wegzulocken, das hatten die orkschen Heckenschützen schon einmal geschafft.

Wie eigenartig sich so ein Schlachtfeld anhörte, wie entrückt und unwirklich es aus der Ferne aussah. Beide Seiten hatten sich am Oppenbach verkeilt, die Adranschen waren tief in die Reihen der Ismenischen eingebrochen – und dabei Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Der schweren Reiterei fehlte es an Bewegungsfreiheit, um die Wucht ihrer Lanzen und Schwerter voll zu entfalten, sie schien Mühe zu haben, sich wieder freizukämpfen. Von hinten war Adrans Fußvolk nachgedrängt, und offenbar mit Schlotzer Pfeilen überschüttet worden. Nun kämpften alle im Nahkampf miteinander, ein wildes Handgemenge, das genau so aussah, wie der Page Alboran sich eine mittelreichische Schlacht vorgestellt hatte.

Nur die Landwehrbauern waren zur Seite hin ausgewichen, und zogen sich erschöpft zurück – ein kläglicher Anblick. Der eine stützte sich auf seinen Dreschflegel, als wäre es eine Krücke, die andere hatte einen verwundeten Kameraden im Schlepptau, dessen Hand um ihre Schulter baumelte. Nicht wenige sanken in die Knie, obwohl sie gar nicht ernsthaft verwundet zu sein schienen. Wahrscheinlich lag es an der verdammten Goblinhitze, die langsam, aber sicher einer ekligen Schwüle wich. Tatsächlich, gen Efferd brauten sich dunkle Gewitterwolken zusammen. Hatte das nahende Unwetter den Rauch vom Hügel in Richtung Oppenbach geschoben? Sah fast so aus. Noch immer wehten Rauchfetzen über das zertrampelte Weideland und vermehrten das Chaos. Es war ohnehin seltsam genug, dass sich Ismena, ihrer Oberbefehligerin, dieser Anblick bot – als wäre die Admiralin mit dem Beiboot aufs offene Meer hinaus gefahren, weg von ihrer Flotte, und würde jetzt die Seeschlacht aus einiger Entfernung beobachten. Aber jeder wusste, dass die eigentlichen Befehlshaber Deggen, Rauline und Jadvige hießen.

Donner grollte.

Albo nutzte die kleine "Kampfpause" – wirklich gekämpft hatte er heute noch nicht - um sich ein wenig lauwarmes Wasser in die Kehle rinnen zu lassen. Und noch einmal das zerdellte Visier zu betasten, das ihn sich wie ein erfahrener Veteran vieler Schlachten fühlen ließ.

Hauptmann von Weißentraut deutete mit seinem blutverschmierten Rabenschnabel, den er gerade einer Armbrusterin in den Rücken gehackt hatte, auf das Bauernvolk. "Wir sollten ihnen den Rest geben!" knurrte der ehemalige Answinist. "Zeit, dass die Wühlmause  Respekt vor der Katze lernen!"

"Ich bin ihre künftige Baronin, nicht ihre Katze", sagte Ismena Rondria in Richtung ihres früheren "Stiefvaters". Fast schon spiegelte sich Mitleid in ihren Löwinnenaugen. "Soll ich meine eigenen Untertanen niedermetzeln? Wer bringt dann im Herbst die Ernte ein?" Die Thronanwärterin warf ihren rotbraunen Zopf nach hinten, unter dem Helm. "Adran, dieser Lump... es war ausgemacht, dass keine Bauern geopfert werden sollen, im Streit um das Erbe."

"Ihre Zahl macht sie schon zu gefährlichen Kämpfern." Gerhard musterte Deggens Tochter, aus kalt wägenden Soldatenaugen, die weit mehr Elend gesehen hatten als ein paar niedergehauene Bauern. "Wenn die Landwehr sich erneut sammelt, könnten sie die Schlacht noch wenden."
"Die haben genug vom Ballistenbeschuss", verkündete Glyrana, die froh zu sein schien, nicht im Hauen und Stechen vor ihnen festzustecken. Die Mersingen war keinesfalls feige, das wusste Ismena, aber, wie sie selbst, auch nicht gerade die geborene Kriegerin. "Unser Gegner ist Praiodanes Reiterei!" verkündete sie knapp. Tatsächlich gelang es den "Rittern vom Stein", sich langsam und sicher aus dem Tumult freizukämpfen – wobei sie weder mit Freund noch Feind besonders zimperlich umsprangen.

“Hältst du das für eine gute Idee?” fragte Glyrana. “Ich meine….falls dir, Rondra bewahre, etwas zustoßen sollte….” Die Junkerin von Gernatsborn sprach nicht weiter, aber jeder in der Nähe wusste, was gemeint war.  Dann wäre die Schlacht und die Fehde verloren. Die Mersingen deutete auf den Hügel: “Sollten wir nicht besser die Anhöhe besetzen und nachsehen, ob sich dort noch Feinde verbergen?”

Ein ungesunder Glanz lag in Ismenas Augen. Gewiss, sie hatte ein paar leichte Siege davongetragen, war eine talentierte Jägerin - nicht die schlechteste Voraussetzung für die Hatz auf Menschen! Dazu kam der rondrianische Beiname, ihre Geburt in den Tagen der Dämonenschlacht und das Blut eines Geweihten der Kriegsgöttin, das in ihren Adern floss. Dennoch, die Aspirantin auf den Oppsteiner Baronsthron verfügte über wenig Kampferfahrung, die Zahl ihrer Leibwachen war gerade überschaubar. Einen Moment lang kämpfte jugendfrischer Übermut, ja, Leichtsinn, nebst Ehrgefühl, mit der Besonnenheit, die Ismena ebenfalls auszeichnete. 

“Gut möglich, dass sich dort oben irgendwo Adran versteckt, der falsche Baron”, sagte Gerhard von Weißentraut, mit verächtlichem Lächeln. Der Hauptmann deutete erst auf den scheinbar verlassenen Baldachin und dann den Verbandsplatz. “Sie scheinen dort ihre Verwundeten zu versorgen ….das bedeutet Lösegeld!”

Ismena schüttelte den Kopf: “Ich bin nicht wie Adran und schaue von einem Hügel aus zu, wie andere für mich kämpfen.  Geschweige denn, dass ich auf schnödes Gold aus bin. Vorwärts, meine Gefährten! Wer die Wappenträger besiegt, gewinnt die Fehde!"

Nun würde es also doch noch in eine echte Schlacht gehen.  Schicksalsergeben schloss Albo das Visier – das hieß, er versuchte das Visier zu schließen. Alles Rucken und Zerren am völlig verbeulten Metall half nichts. Am Ende hielt der Baron von Schlotz das abgerissene Stahlstück in der Hand. Achselzuckend warf er es ins Gras und tastete an die Wange, die nun ein leichter Kratzer zierte. Erstes Blut. Wenn schon so ein Riss schmerzhaft war - wie mochte sich erst ein abgehackter Arm oder ein Rumpftreffer anfühlen? Albo schluckte. Bloß nicht daran denken. 

Der Schlotzer Baron musste aufpassen, den Anschluss nicht zu verlieren.

Sie trabten am Bauernhaufen vorbei. Scheu, wie Schafe, die von einem Rudel Wölfe bedrängt wurden, wichen die Landleute zurück. Eine gespenstische Szene. 

Was tat Ismena jetzt? Sie hob ihre Klinge vors Gesicht, und senkte sie dann langsam? Der Rondragruß, mit der ein tapferer Gegner geehrt wurde – vor einfachen Bauern, noch dazu einer feindlichen Miliz??? Albo glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die Oppsteiner neigten ihr Haupt, zerknirscht ob der Niederlage, müde, beschämt, oder gar ehrerbietig? Einige weitere Kämpfer gingen in die Knie.

Auch Glyrana grüßte, mit dem schmalen Schwert am gelb-schwarz-blauen Schild. Gerhards Wink mit dem Rabenschnabel wirkte eher drohend, die übrigen Reiter nickten knapp. Der Baron von Schlotz hätte gerne salutiert, aber sein Pferd stolperte über einen Stein und er hatte wieder einmal alle Mühe, nicht aus dem Sattel zu rutschen.

Dann befahl Ismena, vom Trab in den Galopp zu wechseln und sich aufzufächern. Fast gleichzeitig brachen Lares Leute hoch zu Roß aus dem Schlachtengetümmel aus – ja, es war eindeutig das Wappen des Hochfelsers, das zerfetzt und blutgetränkt an dessen Rüstung hing. Die Steiner flohen nicht, offenbar wollten sie sich vom Feind lösen und neu formieren. Es war immer noch ein halbes Banner, das da fest im Sattel saß.

Praiodane lüpfte kurz ihr Visier und zeigte mit der Lanze auf Ismena. "Sie gehört mir!" brüllte Lares – zumindest waren seine Lippenbewegung leicht zu lesen, nachdem auch er den Gesichtsschutz angehoben hatte. Rauline, die Artemareiterin, versuchte derweil, den Oppsteinschen Reitern den Weg abzuschneiden, hatte aber alle Hände mit zu tun, sich der feindlichen Spießknechte zu erwehren. Deggen, der Rondrageweihte, kämpfte mit einem ganz anderen Problem: Niemand wollte mit ihm die Klinge kreuzen, sei es, weil die Gegner ihn als Ritter der Himmlischen Leuin erkannten, sei es, weil sie um seine vollendete Fechtkunst wussten.

Dieses Luxusproblem hätte Alboran auch gerne gehabt. Ohne jede Vorwarnung blieb sein "treues Schlachtross" stehen, das eindeutig klüger war als die Menschen. Zumindest hing es mehr an seinem Leben. Es half kein Schenkeldruck mit den goldenen Sporen, kein Schlagen mit dem Zügel, kein "Hü" und "Hott": Hildelind bewegte sich keinen Spann mehr, wie eine störrische Eselin.

Nun preschte auch noch Praiodane von Oppstein auf Alboran zu, die drachenköpfige Ritterin, ganz so, als hätte Satinav das Rad der Zeit zurückgedreht. Als wäre Albo wieder auf dem vermaledeiten Turnierplatz von Gernatsborn gelandet. Nur, dass seine Gegnerin wild entschlossen war, ihn, den Baron von Schlotz zu töten, dem Rang nach sicher eines der edelsten Ziele, das man auf diesem Schlachtfeld durchlöchern konnte. Hildelind übte weiterhin Hochverrat. Nein, aus dem Sattel springen und fliehen würde Alboran nicht. Wild entschlossen hob er den Schlotzer Schild und das Schwert, als wäre er selbst ein Flinker Ferdoker – die Übungsdrehpuppe, die er in Rommilys gleichermaßen fürchten und hassen gelernt hatte.

Die scharfe Lanzenspitze wies nun genau auf seinen Brustkorb. Zitternd schloss Albo die Augen, ob er wollte oder nicht.

Ein scharfer Luftzug.

Als Alboran die Augen wieder aufriss, war Praiodane  bereits an ihm vorbei geschossen, als hätte sie einen Sehfehler. Adrans Tochter fiel die Lanze aus der behandschuhten Hand, sie taumelte, wie bei einem Turnier.

Wenige Wimpernschläge später sah der Baron den Grund – in ihrem Rückenpanzer steckte ein großer Pfeil. Als nächstes merkte der Schlotzer, dass er sein Schwert fallen gelassen hatte, womöglich war es ihm auch aus der Hand gerissen worden. Er spürte einen unangenehmen Druck auf der Blase, aber nein, sich einnässen würde er sich nicht, auch wenn er es liebend gerne getan hätte.

Er spähte nach dem Schützen. Tatsächlich, da drüben ritt Timoin, sein Mitbinsböckel, auf dem Barnfarni, und schwenkte, ein wenig spöttisch, den Elfenbogen, den ihm sein Lehrmeister Odilon geschenkt hatte. Wie hieß das Pferd noch gleich? Atzel...Lässig erwiderte Albo den Gruß, als hätten sie sich gerade auf dem Marktplatz von Rommilys entdeckt. Ein wenig ehrlos war dieser Schuss in den Rücken schon. Was erwartete Alboran. Timoin war ein echter Bastard, den Onkel Bisch mit einer Gemeinen gezeugt hatte. Aber Valyrias Schützling hatte ihm gerade das Leben gerettet, zumindest die Knochen. 

Albo rief einige Fußknechte herbei, ließ sich seine Klinge reichen und die besinnungslose Praiodane vom Schlachtfeld bringen. Den Schild hängte er sich über den Rücken, um leichter reiten zu können. Dann gab er Hildelind ein weiteres Mal die Sporen: "Du bist nach der Siegerin der Ogerschlacht benannt. Reiß dich zusammen, elendes Miststück!"

Ein verirrter Bolzen traf, wohl mit letzter Kraft, die Kruppe seines Schlachtrosses, in das plötzlich wieder Leben kam. Ein schriller Pferdeschrei. Als wäre Hildelind von einer Hornisse gestochen worden, stürmte sie besinnungslos in das schönste Schlachtgetümmel hinein. Ritter Alboran hatte ein weiteres Mal Mühe, sich oben zu halten.

Fluchend teilte Baron Albo Hiebe und Stiche aus, wobei ihm gar nicht so klar war, wen er da gerade traf. Der Schwarzgelbe, der unter seinen Attacken zusammesackte, sah verdammt nach einem Mersinger aus. Na gut, die zerdellte Sturmhaube hatte das Schlimmste abgehalten, vermutlich war der Unglückliche nur ohnmächtig. Hoffentlich...

Welch verrückter Buhurt, was für ein irrsinniges Gestampfe! Albo wehrte einen Spieß ab, der seitlich gegen seinen Harnisch prallte und einen üblen Bluterguss zurücklassen würde. Der Baron ließ Hildelind steigen, die Hufe fegten den Feind beiseite. Seltsamerweise spürte er kaum Schmerz oder Angst. Wahrscheinlich lag es an der Mittagshitze, dass er sich wie betrunken fühlte. Wo war Ismena, die einzig wahre Baronin von Oppstein? Mit grimmen Hieben versuchte sie, den Hochfelser zu erreichen, der sich wiederum in den Kopf gesetzt zu haben schien, mit dem Ende der feindlichen Heerführerin die Schlacht zu gewinnen. Was war denn in ihre Herrin gefahren? Wollte sie sich vor ihrem Vater beweisen?

Lares merkte, dass ihm seine schwere Lanze in dem Gedränge wenig helfen würde. Er ließ sie zu Boden fallen und zog blank. Vielleicht war es auch rondrianisches Ehrgefühl, dass Adrans Geliebten antrieb. Beide, Lares und Ismena, lenkten ihre schnaubenden Streitrösser nebeneinander, tauschten erbittert Hiebe und Stiche aus. Funken sprühten, Stahl sang.

Der Wind wurde heftiger, ebenso das Wetterleuchten. Die Sonne verdunkelte sich.

Albos Blick wanderte zu Deggen, Ismenas Vater. Der junge Baron hätte erwartet, dass der Baernfarner seiner Tochter zur Hilfe eilen würde, aber dessen Rondraglaube war rein und stark. Stolz sah der Geweihte dem Zweikampf zu, der sich in der Mitte des Schlachtfelds entfaltete. Fast schien es, als würden die übrigen Kämpfer innehalten, um das Duell zu bewundern. Nein, so einfach war es nicht. Hart knallte ein Morgenstern gegen Albos stählernen Handschuh und brach ihm den linken Zeigefinger. Der Binsböckel musste sich erneut seiner Haut wehren und verpasste wiederum dem Angreifer einen harten Stoß in die Schulter. Als der  Baron sich wieder umblicken konnte, war Ismena Sattel leer. Die "Baroness von Oppstein" war gestürzt? Deggen versuchte nun doch und zunehmend verzweifelt, seiner Tochter zur Hilfe zu kommen, wurde aber abgedrängt. Das Gleiche galt für Glyrana von Mersingen, die mit schier übermenschlichen Kräften um sich schlug. 

Lares sprang triumphierend aus dem Sattel, eine merkwürdig unpassende Geste. Und dennoch ehrenhaft. Mit beidhändig gehobenem Schwert trat er auf Ismena zu, die hilflos im Schlamm lag. Im Schlamm? Tatsächlich, das Gewitter hatte das Schlachtfeld erreicht, Blitze zuckten durch das finstere Wolkenmeer, Sturm fauchte, Donner grollte. Einen Moment lang schien Lares´ Ehrgefühl mit der Gewissheit zu kämpfen, das nun ein einziger Stoß diese Fehde siegreich beenden konnte. Lachend hob er das Schwert.

Wie gerne wäre Albo seiner Befehligerin beigesprungen, aber Hildelind begann wieder zu bocken. Gleißender Schmerz breitete sich von der verwundeten Hand her aus. 

Das Schwert des Hochfelser sauste herab, als führte er das Beil eines Henkers.

Eine zweite Klinge wehrte den Hieb ab, linkshändig geführt. Edorian, der Leitwolf des friedwängischen Söldnerhaufens, hatte den Todesstoß abgefangen. Lares prallte zurück. Erkannte er seinen Peiniger aus der ersten Schlacht von Drachweiler? Keuchend langte sich Adrans Günstling an den Hals. Der bärtige Söldnerführer lachte wie ein Wahnsinniger, voller Haß und Rachsucht, so schien es zumindest. Brüllend deckte er seinen Gegner mit Hieben ein, trieb ihn Schritt für Schritt von der Baroness weg. Die Götter selbst schienen den Atem anzuhalten. Ein gewaltiger Blitz zerriss das Firmament, gefolgt von infernalischem Krachen.

 

Schlachtfeld am Oppenbach, Rondrastunde

Der Regen prasselte und prasselte herab. Adrananhänger und Ismenische saugten gleichzeitig das kühle Nass ein. Welch Erlösung, welch Labsal.

Nur einer trank den unverhofften Efferdstrunk nicht. Edorian, der Anführer der Silberwölfe, starrte auf die Klinge, die seinen Hals durchbohrt hatte, ebenso auf das hervorsprühende Blut. Der Mann, der vielleicht einmal der Kanzler von Oppstein gewesen und damit Adrans Erbfeind gewesen war, ließ das Schwert fallen, riss seinen Armstumpf hoch, vielleicht anklagend, womöglich krampfhaft. Der Söldnerführer stürzte, zuckte und hauchte sein Leben aus. Die Götter hatten ein Urteil gesprochen – einen Richtspruch Alverans, der nicht leicht zu deuten war.

Lares wich zurück, griff nach dem Zügel eines Pferdes, das nicht sein eigenes war. Irgendwie schaffte er es, sich in den Sattel zu schwingen. "Für Oppstein, den Sieg!" schrie er, kraftlos und heiser. Mit hilflos kreisenden Bewegungen seines Schwerts versuchte der Edle von Hochfels, seine Streiter noch einmal anzuspornen. Vergebens.

Erneut zerteilte ein Blitz den Nachthimmel, der sich mitten am Tag über den Wiesen am Oppenbach erstreckte. Die Schleusen des Himmels hatten sich weit geöffnet, Regen peitschte herab. Wer zum Hügel blickte, sah die Friedwanger Steinbockfahne, die wie ein frecher Spötter im Sturmwind flatterte, hoch über der Anhöhe. Für die meisten Oppsteiner gab es keinen Rückzugsort mehr und auch sonst nichts, für das es sich noch zu kämpfen lohnte.

Einer Handvoll, nein, drei Handvoll Adrangetreuer gelang der Ausbruch, was mehr dem Toben der Elemente als eigener Kraftanstrengung geschuldet war. Viele der Fliehenden waren verwundet. Vorneweg preschte Lares von Hochfels, in Richtung des Karrenwegs, ohne sich noch einmal nach seiner Gegnerin umzudrehen. Zuletzt fiel das zäh verteidigte, rotbespritzte Drachenbanner in den Schlamm, in Pfützen aus Wasser und Blut. Helfende Hände stellten Ismena Rondria wieder auf die Beine. Wer von den Streitern Adrans nicht geflohen war, ließ nun seine Waffen sinken oder fallen. Hände wurden gehoben, als Zeichen der Niederlage.

Panisch wiehernd eilte ein herrenloses Pferd in den Gewittersturm davon.  

 





Marktfriedwang, Abend des 10. Praios, Erdstag

Die Oger brannten lichterloh, auf der Festwiese zwischen Burg und Marktflecken. Rauchfahnen stiegen zum feierlich blinkenden Sternenhimmel empor. 

Wie in jedem Jahr waren zum Gedenken an die erste Schlacht an der Trollpforte übermannsgroße Strohpuppen aufgestellt und mit mächtigen Holzkeulen bewaffnet worden. Stroh wie Holz verschwanden nun gleichermaßen in den lautstark prasselnden Flammen. Es waren keine tausend Oger, aber doch eine ganze Handvoll Unholde, denen die Fantasie der Dorfjugend Lendenschurze oder Halsketten sowie Tierschädelchen oder Knochen als makabren Menschenfresser-Schmuck verliehen hatte.

Zwei offene Festzelte standen im Grünen, ein kleineres, aber auch prachtvolleres für die Honoratioren, ein großes und schlichtes Zelt für das gemeine Volk, für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch noch ein Unwetter heraufziehen würde. Allerdings war es ein wunderbarer Sommerabend, und die Hitze der vergangenen Wochen einem milden, fast schon liebfeldischen Wetter gewichen. Glühwürmchen schwärmten umher, im Wettstreit mit dem Funkenflug der Strohoger.

Unweit des Residenzorts herrschte eine eigenartige Stimmung, zwischen Beklemmung und Freude, nachdem die Siegesmeldung aus Oppstein eingetroffen war. Die Schlacht am Oppenbach war alles andere als unblutig gewonnen worden. Erste Meldungen hatten von drei, vielleicht vier Dutzend Gefallenen auf beiden Seiten gesprochen – unter Adrans Kämpfern sollten die Verluste deutlich höher sein als bei den Ismenischen, immerhin. Erneut hatten einige wackere friedwängische Büttel ihr Leben gelassen, darunter Perainike, die treue Perainike Derbenbrod, ausgerechnet, sowie Feuerflocke, das Streitross des Barons, mit seiner markanten Blesse.

Die Baronin verzog bei diesem Gedanken den Mund, auf ihrem Steckstuhl. 

Seis drum, Alrik hatte überlebt, und alle anderen nahen Verwandten, was keinesfalls selbstverständlich war. Adran sollte in die Schwerterburg geflohen sein, zusammen mit seinem unglücklichen Feldherren Lares, und etwa zwanzig verbliebenen Getreuen. Hatte Serwa, seine frühere Geliebte und Glaubensgefährtin,  wirklich Grund, diesen “großen Sieg” zu feiern?

Ein wenig ratlos sah die Adelige auf die schmalzglänzende, feiste Teigfigur, die vor ihr auf dem Teller lag, mit mächtiger Keule: Ein Senkenthaler Ogermännlein, das Syrenia von Mersingen im Burgofen hatte backen lassen, ganz so, als hätten sich Baronin und Erbvögtin zu einem erbaulichen Frauenabend verabredet. Oben, in Senkenthal, rächten sich die Darpaten an den Menschenfressern, in dem sie deren Leiber verspeisten, zum Festtag, seit mehr als dreißig Jahren schon. Nun, das besaß Stil. Serwa puhlte eine der Rosinen hervor, die der kleinen Schreckgestalt als Augen dienten und verspeiste sie. Tsalinde, ihre Tochter, die links neben ihr saß, brach knackend den ganzen Oger entzwei.

Zwei Plätze weiter rechts vertilgte Ucurian Lansborn sein fettiges Backwerk, der Luminifer des Praiostempels. Wer fehlte, war der Custos von Sankt Alboran und Gilborn. Noch am Neujahrstag hatte Hochwürden Malachanias die Nachricht erhalten, dass seine dringende Anwesenheit in Rosenbusch erwünscht war. Als wäre er von Ucuri, dem Herold des Praios, persönlich und stante pede hinauf nach Alveran zitiert worden, war er mitsamt einer Lanze Büßer gen Dornach aufgebrochen – im Fackellicht. Zum Glück ohne Baroness Tsalinde. Ein paar Tage lang hatten Adrans friedwängische Anhänger und Sympathisanten Narrenfreiheit gehabt. Sturmfreie Bude sozusagen. Dann war die Nachricht von dessen verheerenden Niederlage eingetroffen. Der Machtbeweis der Ismenischen hatte den Übermut der Möchtegernrebellen doch ein wenig gedämpft.

Der Ehrenplatz zu Serwas Rechten gebührte der Erbvögtin, die versonnen auf ihren Weinbecher blickte. Die Edle von Senkenthal schien vollkommen mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Syrenia war nur zu gerne zum großen Dankgottesdienst nach Marktfriedwang gereist. Beim Heldengedenktag wurde schon in normalen Götterläufen den rondraseligen Kämpfern der Baronie gedacht.

Der heutige Praiosdienst, der war allerdings wieder ein echter "Lansborn" gewesen. Ucurian hatte es geschafft, die Verbindung zwischen dumpfen, triebhaften Ogern und sokramorischer Götzenverehrung herzustellen, die nun beide ein für allemal besiegt worden seien: Gelobt sei Praios in der Höhe. Hatte von fliegenden Festungen salbadert und fliegenden Hexenbesen, von feuerroten Hexenhaaren und der scharlachrotfarbenen Haut des irren Dämonenkaisers – untrügliche Schandmale der Götter, zur ewigen Warnung der Rechtgläubigen...

Der Luminifer schien auch zur fortgesetzten Abendstunde noch streitlustig zu sein. Sichtlich ermuntert wurde er durch Syrenias Anwesenheit, die er wohl als Verbündete im Kampf gegen Satuarias Hexenkult und Sokramors Dunkelsinn sah.

"Ich sage es noch einmal", verkündete der Geweihte, scheinbar ruhig und mit Blick in die zahlreichen Feuer, die kräftige Hitze in Richtung Herrentisch schickten.

"Es ist ein Unding, wenn beim alljährlichen Mysterienspiel...wenn dort die Heiligen Zwölfe selbst geschmäht werden, vor den Toren unseres Tempels. Wir befinden uns nicht in den Schattenlanden, wo Frevler die guten Götter verhöhnen mögen. Bevor sie sich vor Dämonenmacht im Schlamm wälzen. Nein, das alles geschah am hellichten Tag, auf einem Platz, der den heiligen Namen von Sankt Alboran daselbst führt. Der Heilige, der uns gerade den großen Sieg über Ketzerei und Glaubensverirrung geschenkt hat. Trotz dieser Blasphemie während des Praiosfests ...."

Natürlich, das leidige Thema Zwölferrat. In diesem Jahr hatten sich die "Laienschauspieler" wieder ordentlich betrunken und die üblichen Zoten gerissen. Serwa räusperte sich. "Nun, ich habe gehört...meines Wissens könnte es sein...dass die zwölf Alveransräte Geweihte darstellen sollen, nicht die Götter. Rondra war zumindest ein Mann, und Ingerimm eine Frau, wenn ich mich recht entsinne. Ganz ohne angeklebten Bart."

"Selbst wenn es so wäre. Das würde es nicht besser machen...wenn das Zwölfgöttliche Kollegium in Gareth verhöhnt wird." Ucurian musterte Serwa von der Seite, der die zwiespältigen Gefühle ins Gesicht geschrieben waren. Ganz so, als erwarte er, dass sie im nächsten Moment aufspringen und schluchzend zu ihrem Liebhaber auf die Schwerterburg eilen würde.

Syrenia wickelte derweil ihren fettigen Schmalzoger in eine Serviette, um sich nicht die Finger schmutzig zu machen. "Ein Mysterienspiel... Dient so etwas nicht dazu, dem gemeinen Volk Dinge verständlich zu machen, die es sonst nur schwer verstehen würde? Überderische Dinge, die sich unserem kümmerlichen Menschenverstand entziehen. So ist es doch, Ehrwürden? Nun, ich finde keinen Fehl darin... wenn die Friedwangen begreifen, dass die Zwölfe alle unsere Handlungen sehen und beurteilen...gerecht beurteilen. Hoch oben in Alveran, das den Menschen mitunter näher ist, als sie glauben..."

Serwa hob freudig erstaunt die Augenbrauen. Die Erbvögtin sprang ihr bei? Ganz spannungsfrei war ihr Verhältnis ja nicht. Die junge Mersingen schien vollauf zufrieden zu sein mit der Entwicklung, die ihren Neffen Gisborn bald schon zum Baron von Oppstein erheben würde. Mit entsprechender Wirkung auch auf die friedwängischen Verhältnisse, wo ihr geliebter Ravenhart den gleichen Karrieresprung anstrebte.

Die Baronin nickte eifrig. "Bei den letztjährigen Mysterienspielen der Hesinde zu Salmingen...das liegt bekanntlich in der Grafschaft Ferdok...nun,  dort durfte 1045 erstmals eine Frau die Rolle des Weisen Rohal spielen. Dazu sang selbstverständlich ein Choral der Alveraniare."

Die schwarzhaarige Mersingen nickte beipflichtend: "Singt unser Zwölferrat am Ende nicht sogar einen Lobpreis Alverans? Was darauf hindeutet, dass die Schauspieler keine Götter darstellen wollen...sondern...Allegorien? Vielleicht könnte man die zwölf Räte ebenfalls als Alveraniare deuten. Das Volksbrauchtum ist mitunter schwer zu verstehen."

"Ich weiß, wo die Hesindestadt Salmingen liegt, Euer Hochgeboren Serwa." Beim Wort "Hesindestadt" verzog Ucurian den Mund, was an dem Steinchen liegen mochte, das sich im Ogermännlein befunden hatte, vermutlich als Überrest des Mühlsteins. "Pah. Götterlästerliches Brauchtum lässt sich...mitunter ändern, mit Praios Hilfe....wie wir es gerade in Oppstein erleben dürfen. Gurvan, Alboran und allen anderen Heiligen sei Dank!"

"Gewiss." Serwa deutete zunehmend entspannt auf die Festwiese, wo einige Dorfjugendlichen barfuß und mit rot bemalten Gesichtern über glühende Holzkohle tanzten – was wohl als Veräppelung des berüchtigten Scharlachkappentanz gedacht war. "Beim Galottaaustreiben...da wurde früher irgendein Landstreicher oder sonstiger Störenfried kahlrasiert, mit rotem Saft beschmiert und anschließend aus dem Dorf gejagt. Diese Unsitte habe ich beendet." Serwa lachte, als eine Feuertänzerin jammernd vom "heißen Tisch" sprang. Nicht aus Schadenfreude, die jugendliche Lebenslust, Heiterkeit und Unbekümmertheit gefielen ihr, gerade nach den blutigen Ereignissen in Oppstein. "Wie hat Rohal der Weise so schön gesagt: Wer den Esel schlagen will, sollte zuvor klären, wer der Sack und wer der Esel ist."

Ucurian lächelte ebenfalls, als die junge Frau in einen Wasserbottich sprang, durchaus pervalisch. "Schön, wenn die nächste Generation lernt… beizeiten lernt… dass man sich bei manchen Bräuchen… mehr als nur die Finger verbrennen kann." Die Augen des Luminifers, in denen sich die Scheiterhaufen widerspiegelten, blickten nun zu Baroness Tsalinde, die vornehm an ihrem Ogergebäck knabberte und die Brösel mit der Hand auffing.

"Wie seht Ihr das, Wohlgeboren?"

Fast hätte sich die sensible Baronstochter verschluckt. Ihre Nerven waren derzeit gespannt – ihr Vater hatte die Schlacht am Oppenbach überlebt, aber die Fehde war noch nicht zu Ende. Derzeit sah alles nach einer Belagerung der Schwerterburg aus. Es würden Armbrustbolzen und Steine fliegen, Sturmangriffe und Ausfälle unternommen werden.

"Nun, Ehrwürden." Tsalinde versuchte, mit einem sanften Lächeln ihrem Namen alle Ehre zu bereiten. "Also ich denke...bei der Geschichte vom Scharlachkappentanz geht es um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Aber nicht nur. Seine Allergöttlichste Magnifizienz befiehlt seinem Hofmagier, einen Dämon zu beschwören – mögen die guten Götter uns beistehen. Bei einem tulamidischen Abend, wenn ich es recht gehört habe. Die Kreatur der Niederhöllen reißt einer Tänzerin den Kopf ab. Galotta erhält ein übles Schandmal, nach Art der Südländer… wie es heißt auf Anraten Nahemas...und wird verbannt. Der Rübenschädel schwört bittere Rache, tausende und abertausende Menschen mussten sterben." Die Baroness schnippte kess ein verbranntes Rosinchen ins Gras.

"Ah...und was genau möchte uns diese Geschichte sagen, Wohlgeboren?" Ucurians Falkenblick verharrte auf der jungen Thronerbin. "Eurer Meinung nach? Doch nicht etwa, dass die Bestrafung des Magiers unverhältnismäßig war? Dass in Wahrheit Seine Kaiserliche Majestät an allem schuld war?"

"Gewiss nicht, Ehrwürden." Tsalinde lächelte unschuldig. "Ich vermute, dass es eine Prüfung Galottas durch Seine Allergöttlichste Magnifizienz sein sollte. Wie gesagt, es ging um das rechte Maß, aber nicht nur. Kaiser Hal wollte wissen, ob er seinem Hofmagier noch vertrauen konnte, angesichts des drohenden Ausschlusses aus der Weißen Gilde. Er hat wohl schon geahnt, dass Galotta seinem Amt charakterlich nicht gewachsen war. Der Zauberer hätte Hals Befehl ablehnen müssen. Aber der Rübenschädel hat es nicht getan, wohl aus Machtgier und moralischer Verkommenheit. Dafür hat ihn der Kaiser bestraft, denke ich. Nicht für sein Versagen bei der Beschwörung. Ein Mensch, der glaubt, über den Geboten Alverans zu stehen, widersetzt sich in jedem Fall seinem göttergegebenen Herrn. Egal wie er handelt. Selbst wenn er scheinbar dessen Willen ausführt."

"Ah, interessant… wenn auch vielleicht ein klein wenig spitzfindig !? Was bedeutet das nun für unser Schwarzsichler Volksbrauchtum?" Fast schon amüsiert sah Syrenia erst zu ihrer künftigen Schwiegertochter, dann zu Serwa. Du hast aber eine kluge, gebildete und redegewandte Tochter, schien ihr spöttelnder, aber auch neugieriger Blick sagen zu wollen.

"Nun, eigentlich ist es ganz einfach. Wir alle sollten uns ein Beispiel am großen Kaiser nehmen...Manchmal müssen wir gemeinsam mit anderen Menschen an Grenzen gehen. Um zu sehen, wer sie am Ende einhält, wer sie auf Dauer überschreitet. Damit wir feststellen, wem wir wirklich vertrauen können." Tsalinde hatte nun mit fester Stimme gesprochen. "Den wahren Glauben lernt man mitunter dort, wo er von anderen missachtet wird."

"Mir scheint, es war unsere Tsalinde, die in Salmingen in der Rolle Rohals aufgetreten ist." Syrenia setzte sich aufrecht. "Der letzte Satz könnte glatt aus den Kaisersprüchen unseres guten Kaisers Hal stammen."

Ucurian, der die Anspielung auf Adran und Serwa verstanden hatte, wollte antworten, aber Hufgetrappel lenkte ihn ab. Die beiden Baronswachen, die am Gesindetisch speisten, drehten sich auf der Bank um, die Hand bereits am Schwert.

"Den wahren Glauben lernt man am besten praiostags, bei uns im Tempel", sagte der Luminifer schnell. "Wer ihn rein und aufrecht gelehrt bekommt, widersteht jeder Versuchung. Aber es ist schön, dass Ihr Euch über solche Dinge Gedanken macht, Wohlgeboren. Über Eure Grenzen als künftige Baronin."

Es war der alte Lorenz, Rottmeister der Senkenthaler, der vom Dorf herbei ritt, mit weißen Backenbart und Kopfverband auf dem ansonsten kahlen Schädel. Ächzend und umständlich stieg er aus dem Sattel. Die Gäste befürchteten schon schlechte Nachrichten, dann sahen sie, wie der Hahnengardist ein Kästchen aus der Satteltasche zog. Eine Burgwächterin übernahm sein Pferd. Steifen Schrittes ging der nicht mehr ganz jugendfrische Kämpfer auf die Festtafel zu und grüßte ehrerbietig.

"Lorenz, gibt es Neuigkeiten aus Oppstein?", fragte Syrenia besorgt.

"Nicht wirklich Neues, Euer Hochgeboren."

Serwa zuckte kurz zusammen, ob des barönlichen Titels, der ihrer Erblehensvögtin allerdings zustand.

"Rosenbuscher Reiter und die Büßer Hochwürden Falkwarts haben Markt Oppstein besetzt. Gleich nach der Schlacht, noch vor den Unsrigen. Bevor sich Adran dort verschanzen konnte. Er soll Richtung Koppeln geflohen sein, auf die...äh, äh, Schwesternburg. Sagt man Schwesternburg?"

"Schwerterburg", half Serwa.

"Schwerterburg, gewiss. Es wird wohl eine Belagerung geben. Offenbar hofft Redenhardt...Adran...noch immer auf Beistand, von seinem aranischen Vetter vielleicht."

"Du meinst Gernbrecht, seinen Oheim, wie er ihn gerne nennt." Diesmal verbesserte Syrenia ihren Gardisten. "Der Kondottiere sitzt allerdings weit entfernt im Lieblichen Feld."

"So ist es. Bei Königin Amene, in....Bosparan?" Lorenz lächelte selig.

Syrenia verdrehte leicht die Augen.

"Das wird Erlaucht Swantje zu verhindern wissen", sagte Ucurian. "Das sich die abtrünnige Rommilyser Reiterei in die Fehde einmischt. Hochwürden Falkwart wurde von Gräfin....Baronin Oleana beauftragt, Beweismittel sicherzustellen. Es besteht der Verdacht, dass gewisse Archivalien aus der Zeit des Inquisitionsrates Parinor im Schloss gelandet sind. Ebenso könnte es Hinweise auf hochverräterische Beziehungen zum Horasreich geben. Ich nehme an, in dem Kästchen befinden sich solche....brisanten Dokumente?"

"Davon weiß ich nichts, Herr. Ich soll das Kistchen auf schnellstem Weg zu Wohlgeboren Syrenia bringen, und es ihr persönlich überbringen. Glyrana von Mersingen hat mich damit beauftragt."

"Auf schnellstem Wege....und persönlich?" fragte die Erbvögtin.

"Verzeiht, Herrin, ich bin erst nach Suunkdal geeilt. Ich wusste ja nicht, dass ich Euch hier finde." Lorenz lächelte und wirkte dabei ein wenig geistesschwach, wie Serwa fand. Er war wirklich nicht mehr der Jüngste, und schien erneut einen schweren Kopftreffer abbekommen zu haben, wie vor einigen Götterläufen als Leibwächter Solalins.

Scheinbar überrascht und betont gleichmütig blickte Syrenia auf die Siegel. "Ein geflügelter Stier...und die Initialen der Fürstlich-Darpatischen Expeditions-Abteilung?"

Ucurian grapschte bereits danach. "Wie gesagt, Hochwürden Malachanias obliegt es, sich um derartige Dinge zu kümmern. Zumal die FDEA nicht mehr existiert."

Syrenia klopfte mit den Fingern auf den Tisch, ein wenig nervös, wie Serwa fand. "Was....ist mit Birte? Ich dachte, Ihre Verwundung wäre nicht so schwer, wie es zunächst aussah."

Der alte Büttel drehte sein Ohr zur Erbvögtin. "Wie meinen, Wohlgeboren?" nuschelte er. "Hochgeboren, meine ich?"

"Birte Burgwart...ich dachte...einer der Magier hätte sie geheilt", verplapperte sich die Mersingen, die zunehmend durcheinander zu sein schien. Serwa lachte in sich hinein. So langsam war offensichtlich, dass ihre Erbvögtin etwas zu verbergen hatte. Die beste Gelegenheit für eine "persönliche Übergabe" war so ein Festabend nun wahrlich nicht. Birte, die der Erbvögtin treu ergeben war, hätte sie als Botin auch mehr vertraut als dem sicher gutmütigen, aber altersschwachen Lorenz. Tatsächlich wanderten Volkes Blicke bereits zum Herrentisch, vom Vertreter der Praioskirche ganz zu schweigen.

Der Luminifer, der das Kistchen an sich ziehen wollte, hielt beim Wort "Magier" inne. "Bitte?"

"Euer Wohlgeboren, wie...? Was? " Lorenz schien immer noch nichts verstanden zu haben.

"Die Rottmeisterin...was ist mit ihr?" rief Syrenia laut. "Ist sie schwerer verwundet, als ich dachte?"

"Ah so!" Der Gardist nickte eifrig. "Nicht doch. Sauber durchbohrt, die Schulter. Hätte kein Feldscher besser machen können. Wird schon wieder werden." Lorenz blickte scheu zum Luminifer. "Verzaubert werden wollte sie nicht, Euer Gnaden, da sei Herr Praios vor."

"Das möchte ich mir aber auch ausbedungen haben!" sagte Ucurian scharf. "Sonnenlicht heilt Wunden immer noch am besten."

Serwa schüttelte den Kopf, ob der steilen These des Lichtträgers. "Ein wenig hat die Gütige Peraine da schon auch ihre Finger im Spiel...Darf ich mal?" Ohne weiter zu fragen, ergatterte die Baronin das Kistchen, dessen Inhalt dumpf klapperte.

Mit hesindegefälliger Miene drehte Alriks Gemahlin den verschlossenen Kasten hin und her. Klopfte darauf und drehte ihn sogar um, was ein Rumpeln verursachte.

"Da haben wir es ja schon!" sagte sie und tippte auf die Rückseite.

Fragende Blicke.

Tatsächlich waren im Kerzenschein einige Farbreste zu erkennen.

"Euer...Hochgeboren?" Ucurian wurde ungeduldig. Die Baronin hob die Kerze etwas an.

"Hatten wir es nicht gerade von Rohal dem Weisen? Nun, der Reichsbehüter hat sinngemäß einmal gesagt: Auch wenn wir nicht alles Verborgene in der Welt zu erkennen vermögen...so sagt doch die Art der Verhüllung viel über das Geheimnis aus."

Der Praiosgeweihte strich sich über das Skapulier und schüttelte ungehalten den Kopf. "Rohal musste es wissen. Er wurde am Ende auch verhüllt." Ucurian merkte, dass er unangemessen ironisch geworden war. "Alles tritt im Lichte des Allerhöchsten offen zu Tage, wirklich alles....gibt es irgendwo ein Messer, damit wir diese Kiste aufbrechen können? Ich möchte den Deckel nicht mit dem Sonnenszepter einschlagen müssen."

"Ich habe einen Schlüssel", sagte Lorenz dienstbeflissen.

"Wir sollten vorsichtig sein", meinte Serwa und ließ der Ironie freien Lauf. "Es könnte auch ein Rohalsches Gefäß sein, etwas in der Art...und einen Fluch oder einen bösen Geist beinhalten. Umsonst wird dieses Kistchen nicht versiegelt sein."

Ucurian ließ sich davon nur kurz beeindrucken. Sein Hand glitt vom Sonnenszepter zurück auf den Deckel.

"Dann bräuchte es stärkeren Schutz...als ein Siegel der FDEA, dünkt mir."

"Ich glaube, ich kann Euch beruhigen. Natürlich, das ist die Lösung." Serwa wischte über das Fleckchen. "Schusterfarbe. Zum Färben von Leder." Die Baronin sah den Sonnenpriester über die Kiste hinweg an. "Ortfried Emmeran...besser bekannt als der Alte Fried. Der Schustermeister hatte schon einen besonderen Humor. Was sein Siegel anging. Von wegen FDEA."

"Ich fürchte, Ihr sprecht in Rätseln, Euer Hochgeboren. Wieder einmal."

"FrieD EmmerAn." Serwa wies bei jeder Betonung auf die jeweiligen Großbuchstaben. "Der Großvater von Meisterin Travianella. Unsere Hofschuhmacherin, sozusagen. Trägst du die Schuh der Emmeran, schwebst wie auf Ortfrieds Hufen du heran. Oder so ähnlich. Ortfried, der geflügelte Tierkönig der Darpatrinder. Ihr habt doch sicherlich auch welche?"

"Mein Schuhwerk stammt aus Rommilys...ebenfalls bestes Darpatbullenleder." 

"Ingerimm schütze das ehrbare Handwerk", seufzte die Erbvögtin, ebenso sarkastisch wie schicksalsergeben.

"Gibt es einen...Grund, Hochgeboren Syrenia...warum Euch diese....doch etwas schlichte Schusterkiste derart am Herzen liegt?" Ucurian klang wie bei einem Verhör. "Ich frage für Hochwürden. Auch wenn unsere Kirche nun wirklich nicht für Belange der Schuhmacherei zuständig ist"

Syrenia schwieg verlegen. Betretenes, fast schon peinliches Schweigen breitete sich aus. Mit nonchalantem Lächeln sprang Serwa ein. "Ich habe da so eine Vermutung. Der Inhalt besteht aus Schusterleisten, nicht wahr?"

Die Erbvögtin blickte zu Ucurian, als wäre dieser die Greifenstatue im Siegestempel. Sie nickte, wie unter einem höheren Zwang.

"Jeweils zwei Paar. Die Schusterleisten deines Gemahls ebenso wie von Alrik, seinem Bruder. Mein werter Gatte..."

Die Mersingen murmelte etwas Unverständliches und stopfte sich den Rest des Schmalzogerchens in den Mund, vermutlich, um nicht sofort antworten zu müssen. Warum plauderst ausgerechnet Du alles aus, Serwa, schien ihr verständnisloser Blick fragen zu wollen.

"Nun, wir vermissen die Leisten schon lange… Wir und Meisterin Travianella. Seit der letzten Plünderung Marktfriedwangs, um genau zu sein. Sie sind also Adran in die Hände gefallen, interessant. Sollen wir die Kiste öffnen?"

"Schon gut, das Klappern war eindeutig. Ich vergreife mich nicht an barönlichem Eigentum." Ucurian verschränkte seine Arme und schmatzte, wie immer, wenn er scharf nachdachte. "Was wollte der Hexenbaron damit? Seinen Nachbarn neue Stiefel zusammenschustern lassen? Beilunker Stiefel womöglich?" Bei der Erwähnung des Folterwerkzeugs lachte der Praiot auf. "Die wird er selber bald anziehen dürfen, hoffe ich doch… dazu den Warunker Helm, als passende Krone."

"Ich kenne mich mit solchen Dingen ja nicht besonders gut aus", sagte Serwa sanft. "Bei weitem nicht so gut wie Ihr, Ehrwürden. Es ist nur eine vage Vermutung, aber… Wahrscheinlich sollten die Holzfüße als Ritualgegenstände dienen. Man nennt Adran den Hexenbaron, aber genauso gut könnte man von ihm als Druidenfreiherr sprechen. Er soll sich ja eine Zeitlang mit diesen finsteren Schwarzkünstlern umgeben haben. Mein Bruder Veneficus, als rechtschaffener Gildenmagier, hat mir einmal erzählt, dass Druiden mittels Haaren, Blut oder anderen persönlichen Gegenständen eines Opfers...nun, dass sie damit Macht über andere Menschen ausüben können. Die dadurch regelrecht willenlos werden und zu Taten gezwungen werden können, die sie eigentlich gar nicht vollführen wollten. Stimmt das, Ehrwürden Ucurian?" Die Baronin sah den Pfaffen aus großen Lämmchenaugen an, als wäre sie die verfolgte Unschuld vom Lande.

"In die Abgründe der Schadensmagie haben wir nur wenig Einblick. Praios sei Dank, oder Praios sei es geklagt, wie immer man es sehen möchte." Der Luminifer wirkte ein wenig ermüdet, in jeder Hinsicht. "Aber es stimmt, nach Adrans Verbindungen zu diesem verhinderten Geweihtenmörder Pharraz suchen wir ebenfalls. Ein finsterer Schwarzdruide, der den Pfleger des Landes opfern wollte. Ebenso müssen wir mehr über Adrans Beziehung zu Trak von Keckrach herausfinden. Dem wahnsinnigen Raubritter und Anführer der Banditen, die sich Sokramors Faust genannt haben. An Eurem Verdacht könnte etwas dran sein, Hochgeboren. Dass diese Holzschnitzereien für einen Fluch dienen sollten. Wie auch immer. Ihr solltet derartige Heimlichkeiten in Zukunft vermeiden, Hochgeboren Syrenia. Bevor daraus ernstere Missverständnisse entstehen".

"Natürlich, Ehrwürden." Die Erbvögtin verneigte sich. "Ich konnte ja nicht wissen, dass....Meine Schwester Glyrana...hätte den Boten...einfach besser instruieren müssen."

"Die gute Nachricht ist, dass sich unsere Gatten bald über neue Stiefel freuen können!" sagte Serwa, übertrieben fröhlich. "Der nächste Winter kommt bestimmt."

Das Siegesfest ging gerade in den Sankt Valpo gefälligen Teil über, beim einfachen Volk. Es wurde gegrölt, gelacht, getanzt und gezecht. Eine Sackpfeife begann im Duett mit einer Drehleier zu brummen – ein Grund mehr für den biederen Stellvertreter des Hochgeweihten, sich rasch zurückzuziehen.

Serwa sorgte dafür, dass Lorenz verpflegt wurde. Dann ließ sie sich neben Syrenia und Tsalinde in den Stuhl fallen. "Nun zum gemütlichen Teil des Abends" sagte sie leise und goss sich selbst den Weinbecher voll.

Ihr Blick fiel auf die Erbvögtin. "Ich danke dir für deine Hilfe. Was den Chor der Alveraniare angeht, meine ich."

"Keine Ursache", antwortete die Mersingen einsilbig. Syrenia ahnte, dass das letzte Wort in Sachen Schusterleisten noch nicht gesprochen war.


Etwa zur gleichen Zeit, im Schlosspark von Oppstein


Gesine hackte dem feinblättrigen Satyr schwungvoll den Kopf ab, packte das grüngehörnte Haupt, hinkte zum Lagerfeuer und warf es schwungvoll in die aufprasselnden Flammen. Die Zahl der "Lebenden Büsche" und Baumfiguren hatte bereits ordentlich abgenommen, in den letzten Tagen.

"Ogerschlachtgedenktag", murmelte sie, kauerte sich neben die knackende, qualmende Ingerimmsgabe, rieb die Handflächen gegeneinander und hielt sie dann in den glosenden Feuerschein. Die Nacht war ganz schön frisch, für den Praiosmond, hier oben in den Bergen. "Ob sie zu Hause in Friedwang auch feiern? Sicher denken sie jetzt an uns."

Die Konnetabelin blickte zu Baron Alrik, der auf einem der fein geplosterten Stühle saß, wie sie überall im Schloss herumstanden, diesem schnieken Prachtbau. Ihr Befehliger hatte eine Flasche feinsten Almadaner Rebensaft entkorkt, aus Adrans Weinkeller, die nun unter den Friedwangen die Runde machte. Im Widerschein des Lagerfeuers sah der Freiherr aus wie ein Räuberhauptmann, mit seiner verwegenen Augenklappe. Vom Nachbarlagerfeuer wehte ein raues Lied heran, begleitet von Lautenklängen. Der Schlosspark war längst zum Heerlager geworden.

 

Yppolitas Tochter, die Erbin von Kurkum
War einem Fluch verfallen und zog geblendet herum
Die Folgen ihrer Liebe
War ihrer Schwestern Tod
Gefallen sind so viele
Und gefallen ihre Burg

Goldene Blüten auf blauem Grund
Das Banner der Walküren
Naht in dunkler Stund′
Es sind geflügelte Reiter
Mit Lanze, Schwert, und Pfeil
Die kommen um zu streiten
Für unser Seelenheil

Wie ein Phönix aus der Asche
Steht Gilia wieder da
Versammelt neu die Schwestern
Legt den Todesvormarsch lahm
Doch goldene Blüten auf blauem Grund
Das Banner der Walküren
Naht in dunkler Stund'
Es sind geflügelte Reiter
Mit Lanze, Schwert, und Pfeil
Die kommen um zu streiten
Für unser Seelenheil


 

Alrik sah griesgrämig drein, spätestens als es um die Reiterei ging. Der Baron rauchte seit neuestem wieder, den billigen Warunker Knaster seiner Soldaten. "Bosparans Fall" hieß die ruppige Bardengruppe, die das Lied gedichtet hatte, Spielleute, die aus Tobrien oder der Beilunker Gegend stammen mochten. "Goldene Blüten auf blauem Grund" nannte sich das düstere Lied, das wenig geeignet war, seine Stimmung zu heben. Aber irgendwie passten die Strophen dann doch wieder. "Walküren" und "Amazonen", von denen zogen einige mit, in Ismenas Heerbann, der vor ein paar Tagen in Markt Oppstein einmarschiert war, völlig kampflos und diszipliniert. Dafür hatte bereits die "Vorhut" der Rosenbuscher und Praioten gesorgt. Allen ging es nur ums Seelenheil der Sterblichen, wie immer...um den Sieg des Guten über das Böse. 

"Sind die geflügelten Reiter nicht im Bornischen rumgaloppiert", fragte der Friedwanger, eher sich selbst. Der Streunerbaron kratzte sich mit dem Daumen an der kaum verschorften Platzwunde auf seiner Stirn, die vom Sturz stammte. Feuerflocke war tot und würde es für immer bleiben, bis an den Tag des Weltenendes. Alrik spürte erneut ein Würgen im Hals. Verdammt, er musste sich zusammenreißen. So viele Menschen waren am gleichen Tag gestorben. Alboran hatte überlebt, sein Sohn, um Haaresbreite. Er durfte nicht jammern wie ein altes Goblinweib, nicht einmal in Gedanken. 

Adelige hatten die Pflicht, in vorderster Schlachtreihe zu kämpfen, das war der Preis für ihre Privilegien. Aber es hätte nicht viel gefehlt, und Adrans Tochter hätte den Baron von Schlotz aufgespießt. Für immer zu Boron geschickt. Verdammt, Timoin war die vielen guten und ein paar gefälschten Münzen wert gewesen, die er für die Freilassung des Meisterschützen bezahlt hatte. Vielleicht würde Praiodanes Gefangennahme jetzt die Kapitulation des Noch-Barons von Oppstein beschleunigen.

"Was für ein Spinner, dieser Adran", sagte der mächtig angetrunkene Trauthold, der sich gerade am Heckenlabyrinth erleichtert hatte, wie ein streunendes Hündchen. "Baut der doch glatt den Wirrniswald nach, in seinem Garten, mit Sträuchern..."

Der Mondschatten sah kurz hoch. Sollte er den Bröckelmoos zusammen stauchen, ob seines Zustands und der respektlosen Worte über einen Hochgeborenen? Nein, nicht an einem  zwanglosen Abend wie diesen.

"Park heißt das", sagte Gesine beiläufig.

Trauthold blickte zu Parik, der mit seiner dick verbundenen Wade auf einem standesgemäßen Hocker saß und seine Schmerzen mit härterem Zeug linderte. Der Sohn des Bauern Bröckelmoos dachte, dass der Name "Park" witzigerweise etwas mit seinem Waffengefährten zu tun haben musste, und lachte einfältig auf.

Sie alle dachten an diesem Abend an die Wanderer, die übers Nirgendmeer gegangen waren, Arnulf, Goswin, Perainike, der Baron zudem an sein Streitross. Alrik kannte das Gefühl, wenn neben einem ein Kamerad oder eine Kameradin ins Gras biss: Hauptsache er und nicht ich. Er oder sie. Wer zählte noch im Krieg, sobald er für immer zu Boden sank. Außer für die Herolde. Zum Heldengedenktag war das schlechte Gewissen zurückgekehrt – darüber, dass sie den Sieg feiern durften und drei der Ihren nicht mehr. Die ewige Schuld der Überlebenden plagte ihre Seelen.

"Spiel endlich mal was Lustiges!" befahl Alrik dem Lautenspieler, über die Schulter. "Das Oppsteinlied, wenn ich bitten darf!"

"Oh ja, jetzt sind wir die Oppstis!" kicherte Franka, die sich frech in das Pardelfell gehüllt hatte, das sie im Rittersaal gefunden hatte, und am Lagerfeuer kauerte.

"Es führt ein Karrenweg, nach Oppsteiin, es führt ein Karrenweg nach Haus!" Nicht nur der Barde, auch die übrigen Kämpfer sangen nach Herzenlust mit. "Ich wink zum Abschied Gallys, sag Friedwang Wiedersehen, es wird Zeit hinauf nach Koppeln, in die Heimat jetzt zu gehen." Das mit Koppeln, Adrans Zufluchtsort, hatten sich die Büttel selbst ausgedacht, zu ihrer eigenen Begeisterung.

Das Liedstück verebbte nach einigen Wiederholungen, wich kehligem Gelächter und Stimmengewirr. Alrik wusste, dass seine Jungs und Mädels bei "nach Hause" insgeheim an Friedwang dachten. Die Fehde war etwa einen Monat alt, die Grenze einen Tagesritt entfernt, und seine Streiter bekamen bereits Heimweh?! Aber so waren sie halt, die darpatischen Landeskinder.

Allzu lange durfte sich die Fehde jetzt nicht mehr hinziehen, in Travias Namen. Das war das Gefährliche an einem "großen Sieg" - die Leute glaubten, alles wäre erledigt. Die Schwerterburg war eine kleine, abgelegene Feste, aber würde gerade deswegen nicht leicht zu stürmen sein. Wenn sie Pech hatten, würde sich die Belagerung bis in den Herbst, vielleicht sogar Winter hinziehen, mit Beschuss, Aushungerung, Lagerleben, Zermürbung. Eine Zermürbung, die ebenso leicht die Kampfmoral der eigenen Leute schwächen konnte wie die des Gegners.

Einen Moment lang breitete sich Stille aus.

"Ich werde mein Amt als Hauptmännin niederlegen", sagte Gesine unvermittelt. "Wenn das hier vorbei ist..."

Alrik war überrumpelt. "Das ist nicht dein Ernst, Gesche." Der Baron paffte hektisch. "Ich brauche dich noch...wo willst du hin, nach all den Jahren?"

Schweigen.

"Mein Onkel Gundo will sich endlich zur Ruhe setzen, in Schneiß. Ich soll die Schänke übernehmen, und sein zahmes Reh noch dazu."

"Der Wirt vom Wilden Mann?"

Ein zustimmendes Brummen. Mit dankbarem Nicken nahm Gesche die Pfeife entgegen und rauchte einige Züge. Die Oppsteiner mussten denken, dass Yesatan von Eslamsgrund, der große Gleichmacher, nicht Ismena von Oppstein, in ihren Markflecken Einzug gehalten hatte. Aber so war Alrik eben. Manchmal. Ein Kumpel auf dem Baronsthron, der den Schmutz der Straße selber kennengelernt hatte, unten in Brabak. Vor ein paar Jahren hatten die Leute ihn dafür verachtet, heute galt so etwas als volkstümlich. Das Volk war launisch, seine Gunst konnte man ebenso schnell gewinnen wie verlieren. Darin unterschied es sich wenig von den Blaublütigen.

"He, du Drecksau, hör auf in den Park zu kacken", dröhnte sie laut, in Richtung eines Übeltäters. "Die Latrinen sind im Schloss, wenn du weißt, was das ist, Rübenscholler!"

Gesche lachte leise und auch über Alriks Gesicht huschte ein Schmunzeln.

"Du....möchtest...Schenkenwirtin werden?" fragte der Baron ungläubig. "Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen, Gesche."

"Soviele Hauptmänner sind vor mir im Dienst gestorben. Valdar, Gisbert. Zeit, den Fluch zu brechen."

Alrik zwirbelte seinen Spitzbart. "Es waren aufregende Zeiten, im letzten Vierteljahrhundert. Ist es wegen...Sewerin?"

Gesche schaute nicht auf, sondern stocherte ein wenig im Feuer herum. "Sewerin" wiederholte sie ausweichend, mit rauer Stimme. Sie schniefte, und versuchte dabei möglichst derb zu klingen, als zöge sie einfach nur das Feuchte in der Nase hoch. "Ich würde sagen, wenn wir nicht im Kampf draufgehen, wie die Besten. Nun, dann packt uns alle so langsam das Alter, oder nicht? Man soll mit dem Kämpfen aufhören, solange man von Rondra noch nicht ausgelacht wird."

"Na, wunderbar, und wer soll dein Nachfolger werden? Doch nicht der da?"

Alrik blickte zum Leutinger, der gerade reichlich angeheitert einem der Pfauen hinterher taumelte. Nicht, um ihn zu schlachten und zu braten, wie der Baron zunächst befürchtet hatte. Herdfried Tanner ging es allein um die passende Zier für seinen Helm. Zwei Federn hatte er dem wehklagenden Tier schon ausgerissen und war ordentlich gehackt worden, nachdem er in der Schlacht keinen einzigen Kratzer davongetragen hatte. Phex verteilte das Glück höchst ungleich.

"Ich sags dir, Baron, bald gibts ohnehin nur noch Hausritter im Mittelreich. Es kommt nicht mehr allein auf gute Klingen an...nein, auch auf das Wohlklingen der Namen. Ein gefälliges Gesicht muss einer auch vorzeigen, wenn die Kutschen mit den hohen Herrschaften anrollen. Nicht seine Narbenfresse zeigen, so wie ich, und herumhinken wie ein Bettler."

"Du denkst jetzt aber nicht an...Amant von Dornheck?" Alrik schnaubte belustigt.

"Warum nicht? Ein echter Ritter. Verdammt gut aussehend noch dazu....hübscher und adeliger als die kleine Gesine Bretzelbeck, das auf jeden Fall."

"Meine Gemahlin hat seinen Onkel aufknüpfen lassen, bei euch in Schneiß. So einem soll ich meine Burg überlassen? Am Ende baumel ich selbst am Birnbaum im Hof."

"Serwine wird ihn schon irgendwie bändigen, ihren Schönling", sagte Gesine leichthin und wunderte sich selbst über ihre vertrauliche Art. Mischte sie sich gerade ernsthaft in die Hausmachtpolitik ihres hochgeborenen Herrn ein? Aber sie war eine Schneißerin, das konnte sie schwer verleugnen.

"Meine Nichte...soll den Dornhecker heiraten?" Alrik war ehrlich überrascht. "Schön, dass ich das auch mal erfahre, als Senior der Familie."

Gesine nickte, stolz, dass sie zur Abwechslung mehr wusste als der Fuchs von Friedwang. "Mein Onkel Gundo erfährt alles, in seinem Wirtshaus. Na, fast alles. Jedenfalls vieles von dem, was in der Baronie getuschelt wird. Vielleicht kann ich dir im Wilden Mann nützlicher sein...statt irgendwann verwirrt durch die Burg zu hinken, wie der gute alte Lorenz."

Alrik stand mit schweren Beinen auf. "Darüber reden wir noch, sobald die Fehde wirklich gewonnen ist."

 

Auf der Schwerterburg, 13.Praios 1046, Rohalstag, morgens

Es war gar nicht einmal so sehr das herbe Gefühl der Niederlage, das Adran schmerzte.

Der Baron von Oppstein war schon öfters als Verlierer vom Platz gegangen, in der Wildermarkzeit sowieso. Nicht einmal der Verrat der "Vertrauten", sprich, seiner neidischen und rachsüchtigen Nachbarn oder entfernten Verwandten, bereitete ihm wirklich Verdruss.

Dafür hatte sich die Familie Oppstein, seine Familie, viel zu oft untereinander zerfleischt. Angefangen bei seinem Vater, Baron Wisshard, den der eigene Bruder verstoßen hatte, als Anhänger des falschen Kaisers Answin. Wie ein wildes Tier hatten sie den Gebannten gehetzt, Vater ebenso wie Jostarne, seine arme Mutter. Irgendwie hatte Adran es geahnt, dass die Wiedereinsetzung seiner Linie nur ein Waffenstillstand sein würde, zwischen den Erben der Answinisten und den Garethtreuen. Deren Seite hatte am Ende sogar das Fürstentum Darpatien geopfert, um ihre Macht zu erhalten. Selbst der Kampf zwischen "Zwölflern" und "Alten Kulten" war da nur ein wenig romantisches Beiwerk.

Nein, was wirklich weh tat, das war das Verhalten seiner Oppsteiner Untertanen. Nun, da er auf der grauen, einsamen Schwerterburg weilte, der letzten Bastion, wo er in die schaurigen Bergwälder Oppsteins ebenso starren durfte wie auf seine verlorene Residenz in der Ferne. Da behandelten sie ihn plötzlich wie einen gestürzten Kriegsherren und Emporkömmling, in den einsamen Dörfchen rings umher. Seine wenigen verbliebenen Getreuen hatten die Herausgabe von Wasser und Proviant teilweise mit Waffen erzwingen müssen, in Koppeln, Immeln und wie die armseligen Nester zu Füßen der Festung alle hießen. Der Anblick der Ruine bei Oppstein war wenig geneigt, seine Stimmung zu heben.

Nun, nach der erneuten Versöhnung mit Lares, stand er nackt wie St. Firungald an den Zinnen, und sah hinunter zum Waldpfad, auf dem seine kleine Truppe ein paar Ziegen, Schweine und Schafe herantrieb, nebst einem vollbeladenen Karren und schwer bepackten Maultieren. Ohne Mampf kein Kampf. Wie der Heilige Firungald wollte er eigentlich nicht enden – der angeblich ohne jede Bekleidung die Eiszinnen überquert haben sollte, auf Wunsch seines Gnadenlosen Gottes. Die Berge an der Mistelhausener Grenze waren nicht die Eiszinnen, auch wenn selbst jetzt, im Hochsommer, eine frische Brise wehte. Aber es ging hier oben deutlich firunsgefälliger zu als unten im Oppenbachtal.

"Du solltest dir was anziehen", sagte sein Hauptmann, der neben ihn getreten war und reichte ihm einen linnenen Morgenmantel. "Nicht, dass sie dich so sehen." Lares musterte Adran von oben nach unten, und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Leise brummend nahm der "Baron von Oppstein" das weiße Gewand entgegen, das mehr für einen Delinquenten auf dem Henkerkarren als einen Hochadeligen gepasst hatte. Der Pinkelschlitz vorne war großzügig geschnitten, immerhin – ein wenig zu großzügig, wie Adran fand.

"Erkläre es mir nochmal, nur damit ich es verstehe." Lares blickte eher beiläufig zu den Neuankömmlingen, und dann über die Schwerterburg, die irgendwie vom Himmel gefallen zu sein schien, geradewegs in die Einöde.

"Alissia....die rothaarige Schlampe...sie verdreht dir also mit einem Hexenzauber den Kopf...mitten in der schönsten Schlacht." Der Edle von Hochfels war ehrlich erleichtert, dass es wenigstens nicht Lanore gewesen war, der sich sein Gönner hingegeben hatte. "Dann trifft dich so eine Art....Havener Flutwelle, geradewegs aus dem Mühlteich. Du bist kurz weggetreten?! In einer Art Vision... erscheint dir der Heilige Odil und sagt, dass die Alten Kulte fortan im Verborgenen wirken sollen. Du also am besten die Waffen strecken solltest?" Lares klang eher verwirrt als ungläubig.

"Nicht der Heilige Odil. Odilon von Baernfarn, der Waldläufer...Es war auch keine göttergesandte Vision. Das Steinerne Schwert war wirklich weg. Farrazar, die Trollzacker Klinge, mit der ich eigentlich den Mühldamm zerstören wollte. Hast du meine Beweggründe immer noch nicht verstanden? Warum ich im Verborgenen handeln musste? Farrazar, der Name allein ist gefährlich. Dennoch, seine magische Macht ist enorm. Es schneidet durch alles, auch durch Stein. Was für eine wunderbare Flutwelle das geworden wäre...Wir hätten die Ismenischen zwingen können, den Hügel anzugreifen, mit nassen Füßen. Als ich erwacht bin, da saßen die verfluchten Rosenbuscher schon in Oppstein, wie ich es befürchtet habe." Adran sah seinen gescheiterten Feldherren geradewegs an, mit bitterem Lächeln. Gut sah er aus, wie von einem cyclopäischen Bildhauer aus Marmor gemeißelt. Der einzige Lichtblick in diesem Kerker hier oben, den seine Vorfahren für Schlachtenverlierer wie ihn gebaut hatten. Wer schön sein will, muss leiden, in diesem Satz steckte sehr viel Wahrheit. Leid und Unglück weckte oft die rahjagefällige Schönheit im Menschen, während sie das Wohlleben am schnellsten verwelken ließ. 

"Orksch, Lares. Glaubst du nicht, dass ich mir eine bessere Ausrede einfallen lassen würde...wenn ich wirklich der feige Hurenbock wäre, für den mich offenbar viele halten?"

"Ich weiß nur, dass wir diese verdammte Schlacht verloren haben. Einige gute Leute sind in Rondras Hallen gegangen. Dardulan ist Ismena in die Hände gefallen, ebenso Praiodane, deine Tochter..."

"Meine Tochter?" Adrans Stimme war unterkühlt. "Jedes Kind weiß, dass sie eigentlich Redenhardts und Thahiras Tochter ist. Als Faustpfand ist sie wenig wert. Ganz im Gegenteil...vermutlich begaffen sie schon das Gehörn auf ihrer Schulter und schichten den Scheiterhaufen für das Hexenkind auf. Mit euren Eigenmächtigkeiten habt ihr mehr zur Niederlage beigetragen als ich mit meiner Arglosigkeit, bei Sokramors Sichel!"

"Praiodane soll schwer verwundet sein", murmelte Lares, erschrocken ob der Kälte und Missachtung in der Stimme des Barons. "Die Baroness hat gekämpft wie eine Löwin, wie so viele, für deinen Sieg...den Sieg und dein Erbe. Nenn mich eigenmächtig, ja. Aber es war richtig, die Entscheidung im Wiesengrund zu suchen...statt uns auf dem Hügel in unseren Wehrheimer Rüstungen braten zu lassen. Vom Himmelsfeuer ebenso wie den Brandgeschossen..."

Adran hob die Hand, zum Zeichen, dass er fürs erste nicht mehr über die Schlacht am Oppenbach sprechen wollte.

" Lassen wir das Thema. Krieg ist zu viel Zufall, hat ein maraskanischer Feldherr mal gesagt. "

"Lass mich raten  - nachdem er geschlagen worden ist?"

"Vermutlich." Adran lachte bitter auf. "Könnte König Frumold gewesen sein. Er ist auch auf eine Prophezeiung hereingefallen. Mein Plan war gut, aber es hilft nicht, herum zu lamentieren. Klappen musste er auch noch. Ja, natürlich, ihr habt euch ehrenhaft geschlagen. Nun müssen wir versuchen, die Niederlage doch noch irgendwie in einen Sieg zu verwandeln."

Lares sah Adran ungläubig an. Sie verfügten über gerade mal zwei Dutzend Kämpfer, viele davon verwundet, alle demoralisiert– und sein Baron sprach allen Ernstes von einer erneuten Wendung?

"Wer eine Schlacht verloren hat, hat deswegen den Krieg noch lange nicht gewonnen", murmelte der Edle sarkastisch. "Wer sollte uns jetzt noch zu Hilfe eilen?"

"Wulfhelm mit der Reichsarmee sicher nicht. Dieser verdammte Streber, wer will so einen Laufburschen schon als Oberhaupt der Familie? Jetzt, wo die verdammten Praiospfaffen nach Oppstein gekrochen sind, wie Fäulnis in eine Wunde. Da wird Parinors Sohn sicher seinen Greifenschweif einziehen. Gernbrecht, ja, das ist einer nach meinem Geschmack. Der hat die Baronie schon einmal befreit...die schwere Rommilyser Reiterei wird uns zu Hilfe eilen, ganz sicher. Das wird ein Hauen und Stechen geben unter den Verschwörern. Unsere Abrechnung, die wird herrlich..."

"Erlaucht Swantje wird nicht begeistert sein, wenn liebfeldsche Söldner eingreifen. Andere ebenfalls nicht. Die Überläufer ziehen in dem Fall nicht mehr gegen den Feind im Osten. Sondern gegen die Günstlinge ihrer Schwägerin, Oleana von Bregelsau...saum."

"Nun, das eine schließt das andere nicht aus." Adran schmiedete schon wieder Pläne, mit leuchtenden Augen. "Gernbrechts Mercenarios haben auf Ucurians Seite gekämpft. Warum nicht künftig für dessen Tochter?"

"Dein Wort in Rondras Ohr. Aber wie willst du Gernbrecht anheuern? Er sitzt gerade Hunderte von Meilen entfernt, am schönen blauen Yaquir." Lares seufzte erneut. Es klang wie: Da wäre ich jetzt auch gerne, statt mitten in der Wildnis eingesperrt zu sein. Statt im schönsten Praiosmond im ewigen Halbdunkel dieses Gemäuers zu frösteln, in Zugluft, trüben Gedanken und Modergestank. "Selbst im besten Fall wird es viele Wochen dauern, bis er hier eintrifft. Dann naht schon der Winter."

"Solange müssen wir eben ausharren. Eine Fehde ist kein Honigschlecken, aber das gilt zum Glück auch für unsere werten Herren und Damen Gegner. Bei einer Belagerung hungern nicht nur die Eingeschlossenen....unter derart schwierigen Bedingungen, wie sie hier oben nun einmal gegeben sind."

Lares antwortete nicht.

"Komm besser wieder rein" sagte der Edle schließlich und wandte sich schicksalsergeben in Richtung Haupthaus: "Sonst verkühlst du dir noch dein bestes Stück." Wie es schien, hatte der Edle von Hochfels beschlossen, ganz im Hier und Jetzt zu leben.

Diesen Luxus wollte sich der Baron nicht leisten. Gespannt sah er zu, wie sich Proviant für mehrere Wochen den Burghügel hinauf bewegte, eskortiert von Fußsoldaten, mit den großkrempigen Eisenhüten der Sichler und dem gelbroten Waffenröcken des Hauses Oppstein. Die Tiere würde man schlachten und das Fleisch einpökeln. Die allermeisten zumindest. In den Säcken befand sich Mehl, Käse und Brot, dazu kam korbweise Gemüse und Obst, dessen Bedeutung im Herbst nicht zu unterschätzen war. Auch an Brennholz und Reißig hatten sie beim Requirieren gedacht, sehr gut. Brennholz würde ebenfalls noch wichtig werden, im Abnutzungskampf.

Mit neuer Zuversicht blickte er über die Festungsanlage, die gar nicht mal so klein und hervorragend zu verteidigen war. Den Namen Schwerterburg verdankte sie wohl ihrer langgezogenen Form auf dem Felsvorsprung, die ein wenig an Schwertknauf und -Schneide erinnerte. Der steile Hügel war schwerlich zu erstürmen, dazu kam ein guter Blick Richtung Mistelhausen und Markt Oppstein gleichermaßen. Auf dem südlichen Turm war früher ein Warnfeuer entflammt worden, sobald sich Feinde – Goblins zumal – genähert hatten. Die Trinkwasserversorgung bereitete allerdings Probleme, in der kleinen Zisterne glitzerte nach der Trockenheit der vergangenen Wochen weniger Wasser als sonst. Wie bei einer Schiffsreise würde Adran reichlich Fässer und Krüge befüllen lassen müssen. Bier und Most würden die schwermütige Stimmung sogar besser heben als das brackige Regenwasser.

 

Plötzlich brach Unruhe im Fouragiertrupp aus. Bewaffnete Reiter brachen aus dem Unterholz, Schafe, Schweine und Ziegen liefen in Panik davon. Auch wenn Ismenas Hauptmacht noch nicht nach Norden marschiert war, ihre Streifscharen hatten die Umgebung der Burg bereits erreicht.

Es gab ein kurzes Geplänkel, das mit einem gellenden Schrei endete – der gepanzerte Anführer der Feinde, den Adran unter seiner Rüstung nicht erkannte, brüllte eher erschrocken als schmerzhaft auf, als sein Mantel urplötzlich in Flammen aufging. Im letzten Moment gelang es ihm, die Schließe zu öffnen, der brennende Stoff fiel zu Boden. Die Kettenhaube seines Nebenmanns fing ebenfalls kurz Feuer, als hätte er einen Heiligenschein erhalten. Da bekam das Wort Hitzkopf eine ganz andere Bedeutung...

Die ersten Armbrustschützen legten von der Mauer aus an, aber deren Eingreifen war auf diese Entfernung weder möglich noch notwendig.

Die Handvoll Störenfriede hatte genug und flüchtete so schnell, wie sie aufgetaucht waren, begleitet von Johlen der Oppsteinischen.

Adran war freudig überrascht.


Im nächsten Moment hörte er Flügelschlag, unterhalb der Zinnen.


Der Baron von Oppstein schrie auf, als sich ein Drache über die Mauer hob und ihn mit goldgelben Augen anstarrte. Ein graubraungrüner, glitzernd geschuppter Drache mit lindgrünem Kamm. Nicht sehr groß, einschließlich geringeltem Pfeilschwanz war er vielleicht zwei bis drei Spann lang. Seine scharfen Klauen klickten, als er sich genau vor Adran in eine Zinne krallte. Adran merkte, dass er unbewaffnet war, wich erschrocken zurück und wollte nach den Wachen rufen.

Der kleine Drache schnaubte, schlug mit den übergroßen Fledermausflügeln und stieß einige Rauchwölkchen durch seine geblähten Nüstern. Schwefeldunst breitete sich aus, die Luft roch angesengt.

"Du da, im Nachthemd, bring mich sofort zu deinem Baron! Aber ein bisschen zackig." Die grollende, zischelnde Stimme formte sich wie aus dem Nichts in Adrans Kopf.

Der überrumpelte Burgherr wusste nicht, ob er lachen oder schimpfen sollte. "Der Baron von Oppstein, das bin noch immer ich! Was möchtest du von uns? Fleischtribut? Einen Hasen oder ein Karnickel kannst du gerne haben. Oder ist dir ein Huhn lieber?" Der Herr der Schwerterburg deutete auf den Hof, wo tatsächlich einige Käfige standen.

Die geflügelte Echse legte den Kopf zur Seite. "Greif einem Nackten mal in die Tasche! So heißt es doch bei euch Menschen? Ein schmuckes Wappen hast du, Baron, das muss man dir lassen, auch wenn du ein Verlierer bist." Der Besucher wies mit dem schnabelähnlichen Maul auf den Drachenkopf, der über dem höchsten Turm wehte. "Nimm dir gefälligst ein Beispiel dran. Unsereins verliert nie einen Kampf! Fast nie!"

"Sch...schön für dich. Hast du die Ismenischen in die Flucht geschlagen? Dann danke ich dir für deine Hilfe! Momentan kann ich den Beistand jedes Verbündeten gebrauchen, das stimmt schon...selbst wenn er noch so klein ist."

Adrans gute Laune wich sofort Misstrauen. Hatten die Hexen diesen frechen Feuerspucker geschickt? Mit deren "Beistand" hatte er zuletzt schlechte Erfahrungen gemacht. "Wie heißt du eigentlich?"

"Knister....Knister der Hausdrache. Mag sein, dass mich die Hexen geschickt haben...die, mit denen du so gerne das Bett krachen und ächzen lässt, du Lüstling! Die war ja heißer als ich, deine Braut in der Mühle."

"Contenance, wenn ich bitten darf! Woher weißt..."

"Du solltest deine Gedanken besser im Zaum halten, Armdran von Deppstein. Mal flattern sie hier hin, mal flattern sie dorthin...ich fliege aber auch selbst viel herum!" Knister lächelte, wenn man das Fletschen messerscharfer Zähnchen so bezeichnen konnte. Tatsächlich schienen sich seine Worte unmittelbar in Adrans Geist zu formen. Ebenso wie die barönlichen Gedanken im Kopf des Drachen?!

"Hat dich....Alissia geschickt?"

"Könnte gut sein", sagte Knister geheimnisvoll und blies erneut Wölkchen aus. "Sie ist eigeboren, ich bin eigeboren. Beide sind wir Eingeborene, sehr lange schon. Während du nur eingebildet bist, Barönchen ohne Land!"

"Nun mach mal halblang. So bist du also im Auftrag der Hüterin hier??! Was will Alissia denn noch alles von mir? Das Levthansopfer hat mir bereits die halbe Baronie gekostet!"

"Du bist halt einfach ein Opfertyp", kicherte Knister. "Vielleicht möchte sie ja...Wiedergutmachung leisten? Die überaus mächtige Hexe, die mich geschickt hat."

"Ach, und wie sollte eine angemessene Entschädigung aussehen? In meiner Lage? Für all das Unglück, das sie mir bereitet hat?"

Die goldenen, irgendwie katzenartigen Echsenaugen musterten Adran lange. "Wünsch dir was!"

"Ich soll...ich darf mir was wünschen?" Der Baron im Morgenhemd rieb sich das Kinn. "Kannst du Ismenas Feldlager in Brand stecken – trotz deiner Größe?"

Knister verzog die Nüstern. "Sicher kann ich das Lager niederbrennen, aber dann würde dein protziges Schloss ebenfalls in Flammen aufgehen."

Adran verschränkte die Arme. "Einen Boten, den könnte ich schon gut gebrauchen. Mal nachdenken. Wie lange würdest du...sagen wir, bis ins Liebliche Feld brauchen?"

"Was quatscht du da? Was fürn lieblicher Acker?"

"Nun werd mal nicht frech! Hast du noch nie vom Horasreich gehört? Dort herrscht der Sohn des prächtigen Kaiserdrachen Shafir. Du scheinst mir nur ein kleiner Heckenritter unter Deinesgleichen zu sein?! Ach egal. Ein paar Tagesreisen wären es für dich schon, bis nach Pertakis. Du musst in diese Richtung fliegen." Der Baron deutete nach Südwesten. "Den Raschtullswall runter und dann immer den Yaquir entlang." Adran schöpfte wieder Hoffnung. "Es geht darum, einen Brief an meinen Oheim zu überbringen, Gernbrecht von Oppstein."

"Kotzt dein Onkel gerne, oder warum hat der so einen bescheuerten Namen?"

"Möchte Alissia mir nun helfen oder nicht?" Adran runzelte die Augenbrauen. "Sie hat gesagt, dass mein Levthansopfer über den Ausgang der Schlacht...oder der Fehde? Ja, der Fehde...entscheiden wird. Also bitte sehr. Das wäre ja wohl das Mindeste, was sie für mich tun kann."

Knister antwortete nicht sofort, sondern atmete mit zischendem Schnaufen, eben knisternd, was sich wie das Bollern eines kleinen Ofens anhörte, ein wenig auch wie das Schnurren einer Katze. "Briefe überbringe ich gerne, solange es an die richtigen Leute ist...wo hast du deinen Schrieb, Barönchen ohne Krönchen?"

"Wir bedanken uns für Eure Hilfe, werter Knister, und werden über Euer Angebot nachdenken!"

 

Eine wohlklingende Stimme hatte sich in das Gespräch eingemischt. Erstaunt blickte der Taschendrache zu einer Gestalt in grauer Robe, dessen Gesicht weitgehend unter einer Kapuze verhüllt war. Nur ein verschlungener, hennagefärbter und zum Zopf geknoteter Bart lugte darunter hervor. Ein fein gedrechselter Stab lag in der linken Hand des Neuankömmlings, während in dessen Rechten ein kleiner Bergkristall funkelte. "Das soll Eure Anzahlung sein, für den Drachenhort. Kommt morgen um die gleiche Stunde wieder, dann erfahrt Ihr unsere Antwort! Erfüllt Ihr den Botengang, dann wird der nächste Edelstein wertvoller sein."

 

Das Drächlein sah verdutzt zum Magier, der wie aus dem Nichts auf der Mauer erschienen war, und duckte sich ein wenig ob des gleichwertigen Gegners.

 

Fragend blickte Knister zum Baron.

 

"Ja...ja", sagte Adran bestimmt. "So sehe ich es auch. Armdran von Deppstein braucht noch ein wenig Bedenkzeit. Der Brief muss ohnehin erst geschrieben werden. Du kannst die Zeit nutzen, um an deinen höfischen Umgangsformen zu feilen, Taschendrache. Taschendrache, so sagt man doch zu euereins? Oder Meckerdrache?"

 

Knister hatte bereits nach dem Kristall geschnappt. Auch wenn er eigentlich nicht mehr antworten konnte, formten sich erneut Worte hinter Adrans hoher Stirn. "Ich bin Hausdrache, Andrang von Hüpfschwein...überleg besser nicht zu lange!"

 

Knurrend hob der Zwergdrache seine Flügel und schwirrte davon.

 

Adran atmete erst einmal durch, nachdem der Schwefelgeruch verschwunden war. Drache war Drache...

 

"Was meint Ihr dazu, Meister Baduron von Eslamsbrück?" Der Burgherr wandte sich zu seinem Hofmagier, den die Ismenischen bislang nur als Gärtner kennengelernt hatten. Adran hatte den Grauen eigentlich nur deswegen angeheuert, um vor Pharraz´ Nachstellungen geschützt zu sein. Zuletzt hatte der Magus ein wenig beim Formschnitt seiner Lebenden Statuen nachgeholfen.

 

"Wie seht Ihr das? Können wir dem geflügelten kleinen Kerl trauen?"

 

Der Graumagier lachte freudlos auf. "Selbstverständlich nicht. Die Hoffnung ist ein trügerischer Gefährte. Eure alten Verbündeten scheinen euch wirklich für einen Narren zu halten." Der Rotbart verneigte sich mit raschelnder Robe. "Verzeiht, Euer Hochgeboren...aber ich erkenne einen Spion, sobald ich ihn sehe."

 

"Schon recht, ich schätze ehrlichen Ratschlag. Für einen Moment kam mir die possierliche Kreatur vertrauenswürdig vor. Aber wirklich nur für einen winzigen Augenblick. Gebrannte Kinder scheuen das Feuer, wie meine verkommenen Nachbarn so schön sagen, in Friedwang."

 

"Ein Minderdämon wäre ein zuverlässiger Bote", raunte Meister Baduron.

 

"Ich bitte Euch, wir wollen meinen guten Onkel nicht verschrecken. Schließlich sind wir in diesem Zwist die Guten, nicht wahr? Nein, Ihr selbst werdet Gernbrecht aufsuchen, und, falls nötig, mit ein klein wenig Magie nachhelfen... So ein Imkerabi wirkt Wunder...habt Ihr das nicht selbst gesagt?"

 

"Imperavi", verbesserte Baduron mit dumpfer Stimme. "So nennt sich das Sprüchlein. Glaubt Ihr nicht, dass ich Euch auf der Burg nützlicher sein könnte?"

 

"Damit sich meine Feinde noch mehr das Maul zerreißen? Ihr habt die Schwerverwundeten geheilt und den Rauch vertrieben, auf dem Schlachtfeld, dafür danke ich Euch...aber ich für meinen Teil halte mich an die Vereinbarung, in dieser Fehde keine Magie anzuwenden. Jedenfalls nicht offen."

 

Baduron kicherte. "Landwehrbauern waren ebenfalls verboten...jetzt sind die Wiesen am Oppenbach mit ihren Leibern bedeckt."

 

"Nur, dass mir keine Perainegeweihten im Nacken sitzen, sondern Praioten und Traviaeiferer. Sokramor sei´s geklagt! Ich brauche einen wirklich zuverlässigen Kurier...und absolute Gewissheit, dass Gernbrecht mir Entsatz leisten wird. Dieser Dienst ist mehr wert als jede Kampfmagie. Nachdem Ihr nicht in der Lage ward, den Damm zu zerstören..."

 

"Ich arbeite noch am Desintegratus..." Der Kapuzenträger senkte den Blick, so schien es zumindest.

 

"Schon Recht. Ich ziehe weniger auffällige Methoden vor."

 

"Warum flieht Ihr nicht selbst ins Liebliche Feld, Euer Hochgeboren?" wisperte der Verhüllte. "Einer der Gardisten, Grome, sieht Euch ein wenig ähnlich. Es gibt eine Formel, mit der man diese Ähnlichkeit....noch erhöhen könnte...bis sie die Täuschung bemerken, seid Ihr längst über alle Berge."

 

Adran stützte sich auf die Zinnen und sah zufrieden zu, wie sich seine Soldaten dem Burgtor näherten, mitsamt Proviant. Rumpelnd wurde die Zugbrücke heruntergelassen. Streng genommen traute er diesem Baduron ebenfalls nicht über den Weg. Aber seinen Hofzauberer kannte - und bezahlte er - wenigstens gut. Gut genug für seine Zwecke. 

 

"Ja, und am Ende herrscht ein gewisser Baduron über die Baronie, mitsamt seiner Mirhamionette ?!" Adran lachte auf, wie nach einem vortrefflichen Scherz.  "Neinnein, so schnell gebe ich nicht auf. Was hat Lares eigentlich mit diesem...Heiligen Odil gemeint, der mir erschienen sein soll? In der Feenwelt?"

 

"Ein Traviaheiliger aus den Nordmarken...der den wahnsinnigen, eitlen Fürsten Gurd geheilt hat, laut Legende. Ein Monstrum, das bei allen Menschen verhasst war und einsam durch die Wildnis geirrt ist. Gurd der Verfluchte. Bis der Bäckersohn ihn zu sich ans Lagerfeuer eingeladen hat, um sein Brot mit ihm zu teilen."

 

"So ist das also." Adran ballte die Faust. "Lares hält mich für ein Scheusal, das seinen Verstand verloren hat...? Aber ich werde beweisen, dass es der Verstand ist, der Kriege gewinnt." Der Baron drehte sich um. Dass er im Morgenmantel vor dem Berobten stand, schien er ganz vergessen zu haben.

 

“Was wird mit Eurer Tochter?” wollte Baduron wissen. “Soll sie wirklich in Gefangenschaft versauern? Und womöglich als Druckmittel dienen, für Ismena?”

 

 "Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ihr werdet Euch nach Markt Oppstein begeben, und meine unglückliche Kousine...pardon, Tochter...aus dem Kerker befreien. Falls nötig, auch heilen. Sie und möglichst viele andere Gefangene. Sie sollen auf schnellstem Weg zur Schwerterburg kommen, das wird die Kampfmoral heben. Dann begebt Ihr Euch nach Pertakis. Wir haben uns einen Tag Bedenkzeit ausgebeten, somit habt Ihr einen gewissen Vorsprung". 

 

Keller des Oppsteiner Palazzo, Nacht zum 15.Praios 1046, Wassertag

 

Bedächtig, fast schon liebevoll strich Hochwürden Malachanias das Haar der "Jungfrau von Oppstein" auseinander.

 

Das berüchtigte Schandmal trat offen zu Tage, zwischen den Schultern, ein seltsames Bild, das an Widdergehörn ebenso erinnerte wie an zwei auseinander wuselnde Eidechsen. Normalerweise hätte der Hochgeweihte dieses mögliche Hexenmal, vielleicht sogar Dämonenzeichen, mit einer Nadel durchbohren lassen. Aber das Stigma war bereits von einem Pfeil getroffen worden, und reichlich Blut geflossen, trotz der schweren Rüstung der Baroness. Die Seelenprüfung hatte ebenfalls keinerlei Auffälligkeiten ergeben...bei einer Dämonenbuhle hätte sich das Mal womöglich sogar bewegt, jedenfalls nicht geblutet.

 

Der Custos Lumini trat  zurück und betrachtete den Rücken der Delinquentin, die bäuchlings an ein Ogerkreuz gekettet war, der Form wegen auch Xeraanisches X oder Drachenlibelle genannt. Zumindest von seinen Gehilfen.  Praiodane von Oppstein war vom Blutverlust geschwächt und wurde vom leichten Fieber geschüttelt, in dieser warmen Vollmondnacht. Die betäubenden, schmerzstillenden Tränklein taten ihr Übriges, um die Examination schweigsam verlaufen zu lassen. Nur das Knistern der Pechfackeln war zu hören, und das Klirren der schweren, magiebannenden Ketten. Sicher war sicher. 

 

"Anregend" sah sie ja aus, die halbnackte Adelige, mit ihren ins X-Kreuz hineinragenden Rahjahügeln, dem wohlgeformten Gesäß in einer wattierten Reithose, einem entzückenden Rücken, den gespreizten Beinen oder dem matten, hilflosen Stöhnen...Nun, mit einem Hauch von Belkelels Macht hatte Malachanias rechnen müssen. Selbstverständlich widerstand er jedweder Versuchung, was nicht allein den Zeugen geschuldet war.

 

Womöglich hatten die Streiter Ismenas das unschuldige Mädchen gerade noch rechtzeitig aus den Klauen der Levthansanbeter befreit...Die Tochter Thahiras von Birkenbruch, gezeugt mit Stadtvogt Redenhardt, hernach dem wollüstigen Adran von Oppstein als vermeintliche Tochter untergeschoben. Man stelle sich vor! Diese niederhöllisch verworrenen, völlig chaotischen Verwandtschaftsverhältnisse waren typisch für Sokramoranbeter, soviel hatte er bereits gelernt. Thahira - das klang schon wie ein Hexenname. Die verschollene Vögtin von Zwerch hatte sogar ein Vertrautentier besessen, einen zahmen Pardel namens Tjar - eine riesige Katze also. Verborgen unter Thahiras Hinterhaar hatte sich ein Hautbild befunden, laut Aussage der Dienerschaft, das ein geflügeltes Etwas gezeigt hatte, vielleicht ein Falke, womöglich etwas Abscheulicheres. Die Korklaue im Nacken des gefangenen Meuchlers kam Malachanias in den Sinn, des Spitzbuben, der Baroness Tsalinde hatte ermorden wollen. 

 

Malachanias konnte Tätowierungen nicht ausstehen. Schon allein deswegen, weil die Thorwaler Barbaren ihnen ebenso eine magische Wirkung zuschrieben wie die Wilden des Regenwaldes oder die grausamen Orken. Alfhildr, seine einstige thorwalsche Vertraute, hatte sich ebenfalls solche Bilder stechen lassen...was kaum weniger zum Zerwürfnis mit ihm, dem Streiter des Lichts, des Schönen, Wahren und Guten, beigetragen hatte, als die schamlose Lüge mit der angeblichen Walwut.

 

Konnte es sein, dass sich das Hautbild der mutmaßlichen Hexe Thahira irgendwie auf deren unglückliche Tochter vererbt hatte? Malachanias berührte die rotklaffende Wunde, die der Pfeil im linken Horn hinterlassen hatte - oder in der linken Eidechse. Praiodane stöhnte auf. Keinerlei Wollust schwang in diesem Laut mit, nur jämmerlicher Schmerz. Malachanias hielt fast sofort mit der "Folterung" inne. Oronische Gelüste rief dieses Zeichen also nicht hervor.

 

Etwas anderes fiel Malachanias ein. 

 

"Retobert, notiere, dass ich einmal den Baron von Schlotz fragen muss, warum er seine Tochter Alfhildur genannt hat! Ausgerechnet." Das galt dem Schreiber, der im Fackellicht das stete Gemurmel des Hilfsinqusitors mitgekrakelt hatte. Wollte der junge Binsböckel ihn etwa verspotten, ob seiner unglücklichen Liaison mit der Thorwalschen? Aber so richtig Sinn ergab das nicht.

 

Eine durchdringende, kaum weniger machtgewohnte Stimme in seinem Rücken lenkte ihn ab.

 

 "Wie gesagt, ich könnte das Zeichen ebenfalls untersuchen!"

 

Malachanias drehte sich um, und sah dem Magus geradewegs in die mattglänzenden Augen, über dem rot gefärbten Bart. "Was würdet Ihr sehen, das Praios und seine Diener nicht schon längst gesehen haben? Ausgeschlossen."

 

Der Lichthüter ging zu einem kleinen Beitisch, wo der Brief lag, den Adran an Gernbrecht von Oppstein hatte schicken wollen.

 

"Wie Ihr seht, bin ich vollkommen vertrauenswürdig", lächelte Baduron von Eslamsbrück. "Sogar die Rommilyser Reiterei will Adran auf die Kämpfer des Wahren Glaubens hetzen! In seiner Verzweiflung."

 

"Verräter", seufzte Praiodane, die sich ein wenig im Ogerkreuz aufbäumte. Sie schien doch mehr mitzubekommen, als Malachanias erwartet hatte. Die Baroness stöhnte qualvoll und zerrte an den kurzen Ketten. "Wieviel zahlen sie dir, damit du meinen Vater im Stich lässt, du namenlose Ratte?"

 

"Ganz im Gegenteil, Wohlgeboren, ich verzichte auf einige schöne Goldstücke. Aus dem Notheller, den Euer Vater auf die Schwerterburg geschleppt hat. Euer angeblicher Vater." Der Hofmagier lachte leise auf. "Soll ich wirklich wiederholen, was Adran über Euch gesagt hat? Als Tochter Redenhardts, die als eigenes Kind anzuerkennen er lediglich gezwungen war. Ich konnte so etwas wie väterliche Gefühle in ihm wecken...zuletzt wollte er Euch sogar befreien lassen. Aber glaubt mir, das wäre keinesfalls in Eurem Sinne. Geschweige denn in meinem. Mit der Gemeinschaft des Lichts lege ich mich nicht an."

 

"Sehr vernünftig", lobte der Hochgeweihte, nicht ohne Zögern. "Euer Hesindeglaube scheint sich nicht nur auf Zauberei zu beschränken. Das gefällt mir."

 

"Ich kenne eben meine Grenzen." Eine angedeutete Verbeugung des Robenträgers. "Auch und gerade als Mitglied der Großen Grauen Gilde des Geistes."

 

"Der Brief ist wirklich aufschlussreich", sagte Malachanias und hob das Büttenpapier an. "In mehr als einer Hinsicht. Das Wasserzeichen entspricht exakt dem auf dem Brief, der bei den verhinderten Meuchlern Tsalindes gefunden worden ist. Eine Baroness, wie Ihr, Praiodane, im gleichen Alter." Der Custos hob das Schreiben vor eine Fackel. "Vom wirklich verräterischen Inhalt dieses Schreibens hier ganz zu schweigen."

 

"Stellt Euch vor, Hochwürden, ich sollte Gernbrecht sogar mit einem Beherrschungszauber gefügig machen. `Notfalls´. Adran scheint mich mit dieser zwielichtigen, ziemlich dunkelgrauen Gestalt zu verwechseln...auf deren Dienste sein Adoptivvater Redenhardt zurückgegriffen hat. Eine Zeitlang."

 

"Nichtsdestotrotz ist Wohlgeboren Praiodanes Frage berechtigt. Was genau bewegt Euch dazu, als Madav...Magier der Praios-Commission zu helfen?"

 

"Nun, mit einer Ratte teile ich schon einmal das untrügliche Gespür dafür, wann es sich lohnt, ein sinkendes Schiff zu verlassen." Ein amüsiertes Lachen. "Nein, ernsthaft. Die Hand, die nährt, die wird gebissen. Ihr ward ein wenig weggetreten, Wohlgeboren. So habt Ihr nicht mitbekommen, wie ich Fürsprache für Euch gehalten habe. Weil ich Euch für vollkommen unschuldig halte, insofern es um Hexenwerk und Dämonenanbetung geht. Weil ich Euch helfen will, wirklich helfen...Ich möchte mir ebenfalls nicht nachsagen lassen, mit finsteren Mächten im Bunde zu stehen. Ich stamme noch aus dem freien tobrischen Eslamsbrück, nicht aus der Stadt des Pandämoniums. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Niemals würde ich gegen die Gebote des Codex Albyricus handeln - und dazu zählt nun einmal Respekt vor der praiosgegebenen Obrigkeit. "

 

Malachanias nahm das Sonnenszepter an sich, das er als Briefbeschwerer auf den Tisch gelegt hatte. "Ihr habt Recht gehandelt, Meister Baduron. Man könnte Euch in diesem Fall als eine Art Kronzeuge sehen... Über den schädlichen Einfluss dieses Schwarzdruiden Pharraz werden wir uns noch einmal gesondert unterhalten müssen. Seinen Einfluss auf Adran..."

 

"Ich danke Euch, Hochwürden."

 

"Nun zu Euch, Praiodane. Man wird Euch nun wieder in den Kerker bringen, was ich bedauere. Nach dem Wechsel des Verbands. Allerdings könnte ich ein gutes Wort für Euch einlegen....so dass man Euch vielleicht auf Ehrenwort in einen milden Arrest verbringen wird." Malachanias blickte anerkennend zu Baduron. "Bedankt Euch beim Hofmagier, er versucht nur, das Schlimmste von der Baronie Oppstein abzuwenden."



Am Oppsteiner Praiostempel, 15.Praios 1046, Wassertag

 

Ismena Rondria von Oppstein hatte ihre feierliche Ansprache beendet, auf den reinweißen Stufen des Praiostempels, im hellen Schein der Sommersonne. Zumindest deren ersten Teil.  

Mit schweren Händen patschte Hochwürden Malachanias Beifall. Die Roschenbuscher Gardisten, ebenso wie Ismenas Streiter, zeigten dezent ihre Klingen, und die örtlichen Honoratioren stimmten, etwas zögerlich, in den Applaus ein. Nach einer Weile klatschte sogar das einfache Volk. Nur von den Mutigsten war Murren zu hören. Dazu gesellten sich viele versteinerte Gesichter. Manch Bauer trug den Arm in der Schlinge oder hatte einen Kopfverband.  

Es war das erste größere Treffen mit den Oppsteinern, nachdem die Siegerin die Ratsherren, Geweihten und Zunftmeister ins besetzte Schloss eingeladen hatte. Mit einbezogen waren erstmals die einfachen Untertanen. 

Der Blick des Commissarius schweifte umher. Ein unwissender Beobachter hätte meinen können, der Residenzort wäre in schweren Kämpfen gestürmt und gebrandschatzt worden. Überall ragten Ruinen auf, das Gerichtsgebäude neben dem Allerheiligsten war bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden. Natürlich nicht durch die Ismenischen, vor elf Jahren hatte der Drache Arlopir seine Spuren im Sichelhag hinterlassen. Spuren der Verwüstung.  

Kurz nach der Schlacht hatte es eine alveransgefällige Trauerfeier auf dem Boronanger gegeben, am Ortsrand - soweit dies beim Zuscharren eines Massengrabs möglich gewesen war. Hauptsache, die Oppsteiner Toten wurden nicht heimlich verbrannt, eine Unsitte, die bei den Sokramorischen weit verbreitet war. 

Niemand wusste so genau, wie viele Gefallene es gegeben hatte, es kursierten die unterschiedlichsten Zahlen, zwischen 27 und 58. Die erschlagenen Pferde waren ein Fall für den Schinder und die Abdeckerei gewesen. In der dortigen Grube wurde alles verscharrt, was nicht zu  Lampenfett, Knochenmehl-Dünger, Hufleim, Seife, Roßhaarbürsten, Bogensehnen, ein frisch gegerbtes Fell oder dergleichen verarbeitet werden konnte...Baron Alriks geliebtes Schlachtross war ebenfalls auf dem Luderkarren gelandet, ein trauriger Anblick. 

Malachanias Stimmung hatte sich ein wenig gebessert, passend zum goldenen Glanz des Monatsherrschers, dessen Augen wieder wohlgesonnen auf Dorf und Land ruhten. Mit wenigen Ausnahmen, wie dieser häßlichen grauen Schwerterburg da oben in den Bergen. Aber das letzte verbliebene Nest der Altgläubigen würde ebenfalls noch ausgeräuchert werden. 

Sein Vorschlag, weitere Katapulte zu konstruieren, für eine rasche Erstürmung, war im Kriegsrat freundlich abgelehnt worden - so einen Kleinen Zyklop oder Onager baute man nicht mit ein paar Fronbauern. Auf dem freien Markt würden die schweren Waffen tausende Dukaten kosten...und derlei Geschütz gab es nicht beim Zwergen um die Ecke. Die vorhandene Balliste wiederum hatte beim letzten Schuss einen Schaden an der Feinmechanik davon getragen. Es würde eine Weile dauern, bis Ersatz aus der friedwängischen Schmiede eintraf. Thyra, die dortige Ingerimm-Akoluthin galt als besonders geschickt. 

Die letzte Woche war nicht einfach gewesen. Manch harte Erfahrung würde Malachanis noch lange begleiten: Das viehische Stöhnen der Verwundeten, auf dem Weg in die notdürftigen Spitäler, das gurgelnde Gebrüll bei den Amputationen, der süßliche Gestank, den die reiche Ernte des Geifernden Schnitters verbreitet hatte, auf dem Weg zum Boronsacker, umschwirrt von fetten, schwarzen Fliegen...das ganze praiosungefällige Durcheinander nach der Eroberung einer, nun ja, "Stadt". Aber nach und nach hatte sich das Chaos entwirrt, das mit jeder Fehde einherging. Bis deren blutige Mahd eingefahren war...Sogar die nördlichen Dörfer schickten mittlerweile Boten, um sich Ismenas Herrschaft zu unterwerfen, ängstlich besorgt, den richtigen Zeitpunkt für einen Seitenwechsel zu verpassen. 

Die Schockstarre der Einheimischen schien sich langsam zu lösen, der Trauer um die Schlachtopfer zum Trotz. Rasch war klar geworden, dass mit Ismenas Schar nicht die x-te Söldnerhorde in die Baronie eingefallen war, dass es keinen Rahjafrevel und keine travialästerliche Plünderung geben würde. Die Anwesenheit der Badilakaner sowie Rosenbuscher und Rommilyser "Unparteiischen" trug nicht wenig zur Entspannung bei. Als Zeichen der Ergebenheit flatterten an manchen Fachwerkhäusern bereits die orangefarbenen Gänsebändchen, sei es an einer Laterne, am Handwerkerzeichen oder am Wirtshausschild, sei es am Fensterladen oder am Arm der Bewohner. 

Gestern waren die ersten Zettel im aufgestellten "Greifenkasten" gelegen, mit den Namen besonders eifriger Sumugläubiger, Satuarienskinder, Levthanskultisten oder Sokramoranbeter. Malachanias fühlte sich hin und her gerissen: Oleana hatte ihn zum scharfen und raschen Durchgreifen gegen die Götzendiener aufgefordert, Ismena um Zurückhaltung gebeten, bis ihre Macht gefestigt sein würde.  

Im Gegenzug hatte die Baroness das Volk zum Praiostempel gerufen. Nun trat der örtliche Geweihte auf sie zu. Der greise Tempelvorsteher erinnerte ein wenig an Roderik vom Tann, den einstigen Wahrer der Ordnung, der Answin zum Kaiser gekrönt hatte, im zarten Alter von...Malachanias überlegte. Mehr als 90 Götterläufe hatte der Praiospriester damals sicher gezählt. Zittrig überreichte der Kirchenmann Ismena einen silbernen Schlüssel, der auf einem (schon etwas abgewetzten und fleckigen) roten Samtkissen lag. Malachanias dachte erst an den Schlüssel zum Stadtor, aber soetwas gab es ja nicht. Retobert raunte ihm ins Ohr, dass dieser phexgefällige Schlüssel den barönlichen Besitz der Oppsteiner Silberbergwerke symbolisieren würde.  

Erst danach folgte die reifähnliche Baronskrone, die  aus einer Kiste geholt und Ismena lediglich gezeigt wurde. Der eine oder andere Kopf wurde gereckt, begleitet von aufgeregtem Getuschel. Manch einfältiger Bauer glaubte wohl, dass sich das Rondritscherl die "Beute" einfach auf den Kopf setzen würde. Aber die Insignien würden nur als Pfand dienen. Es folgten der barönliche Siegelstempel und die blut- und schlammbefleckte Fahne, die Ismena an Jadvige von Kressenbrück weiterreichte. Der junge Travian von Schlotz hatte die Ehre, das Gänseband an den Schaft zu knoten und ein frommes Gebet zu sprechen. 

Malachanias nickte anerkennend. Wenn er sich mit etwas auskannte, dann mit Ritualen und Zeremonien - diese hier besaß durchaus eine eigene Würde. Noch einmal drehte sich die Baroness zu den Zuschauern um.  

"Höre, Volk von Oppstein! Niemals würde ich mir Ämter anmaßen, die mir im Angesicht des Götterfürsten nicht gebühren!" sagte Ismena laut und blickte scheu in die Sonne. "Über das Erbe Baron Redenhardts wird allein der Rat meiner Familie, der Familienrat des Hauses Oppstein, entscheiden. Bis dahin werde ich die Insignien, die der falsche Baron, dessen Namen ich nicht mehr nennen werde...die der Betrüger widerrechtlich an sich gerissen hat, unter Verwahrung nehmen. Nicht mehr und nicht weniger, bei allen guten Göttern Alverans. Dennoch wollen wir die Untaten nicht vergessen, mit denen diese Zeichen der Baronswürde beschmutzt worden sind. Ein Hochzeitsfest steht unter dem besonderen Schutz von Mutter Travia, ein Ehevertrag wird mit dem Segen von Vater Praios gesiegelt. Allein mit List, Dreistigkeit und Gewalt hat der falsche Thronerbe seine vermeintlichen Ansprüche durchgesetzt...was sage ich, erzwungen...vor vielen Götterläufen." Ismena hob den Schlüssel ebenso wie das Siegel. "Der Ungenannte allein trägt die Schuld an dem unseligen Familienzwist, der schon einmal, vor zwanzig Jahren, für Blutvergießen gesorgt hat. Recht und Gerechtigkeit haben endlich obsiegt, nach einer langen Zeit der Täuschung und Verwirrung. Diese Zeit ist ein für allemal vorbei. Hoch lebe das alveransgefällige Oppstein!" 

"Hoch lebe das alveransgefällige Oppstein!" jubelte Malachanias und applaudierte erneut. Der Wortlaut der Rede stammte im Wesentlichen von ihm. Adrans Rückkehr und die völlige Übergehung der Rechte des Hauses Berlînghan sowie der Altbaronin Elissa waren gegen jedwede gute Sitten gewesen. Von allen anderen finsteren Umtrieben ganz abgesehen. 

Das Volk klatsche ein weiteres Mal Beifall, lebhafter als zuvor, so schien es zumindest. Nur der halblaute Ruf "Wulfhelm muss Baron werden" störte die versöhnliche Szene dann doch ein wenig. 

 



Wenig später, auf der Schwerterburg

 

"Haltet mir ja die Türen der Vorratskammern geschlossen!" Adrans Augen leuchteten, während seine Hände über eine mächtige, eisenbeschlagene Truhe strichen. "Haltet sie fest geschlossen! Gut möglich, dass der Zwergdrache wiederkehrt, um überall Feuer zu legen." 

Der Baron von Oppstein steckte den kleinen, eisernen Schlüssel ins Schloss und ließ es aufspringen. Dann hob er den schweren, knarrenden Truhendeckel. Die Münzlein waren alle noch da, Sokramor der Silberschenkerin sei Dank! Versonnen lächelnd wühlte er in den Talerchen, ließ sie klimpernd durch die Finger rinnen - am liebsten hätte er darin gebadet.

"Knister, auch diesen Schatz wirst du nicht bekommen!" 

Wenn nur auf diesen untreuen Baduron Verlass gewesen wäre! Mit seiner Hesinderei wäre der eine wertvolle Hilfe gewesen, gegen so eine Zauberkreatur, aber auch die Überzahl zweibeiniger Feinde. 

Die Havener wussten schon, warum sie das Magiergesocks aus ihrer schönen Stadt verbannt hatten. Um die Mittagsstunde war der Abtrünnige vor der Burg aufgetaucht, mit einigen Ismenischen, und hatte lautstark verkündet, dass kein Entsatz aus Pertakis mehr kommen würde. Der untreue Bote hatte seinen Verrat weitschweifig begründet. Sogar philosophisch: Als Anhänger der Grauen Gilde wolle er zwar den Gegensatz von Gut und Böse überwinden, den es für die Alten Kulte ebenfalls nicht gebe. Aber anders als die Sokramorier hoffe er auf die Hebung der Sterblichen hin zu einem höheren Bewusstsein, am Ende aller Zeiten. Vom wilden Tanz ums Feuer, von Unzucht, Ausschweifungen und dem Verrat an Hesindes Idealen halte er nichts...und überhaupt, als geborener Tobrier wisse er, wie Glaubensabweichungen jedes Mal enden würden. 

Die Burgwachen hatten mit höhnischem Gemecker und Schafsgeblöcke geantwortet, auch wenn der Armbrustbolzen den biederen tobrischen Zauberer nicht erreicht hatte. Leider. Verrat, Verrat, wohin das Auge blickte. 

 

Rüstungsklirren ließ Adran hochblicken. Es war Roana von Hochfels, Lares Schwester, die mit ihm in das Verlies eingetreten war und dem Baron mit der Fackel leuchtete. Wahrlich ein Lichtblick in der momentanen Finsternis.

 

Die junge Ritterin hatte Adrans taktischen Rückzug in Richtung Schwerterburg gedeckt und die vorübergehende Schlachtreihenbegradigung ermöglicht. Wie sich der alte Kaiser Perval ausgedrückt hätte.

Versonnen wischte Adran mit dem pelzbesetzten Ärmel über einen matt blinkenden Silberling. "Damit gewinnt man heutzutage Schlachten, meine liebe Roana!" Mit entrücktem Lächeln musterte der Baron die Hochfelserin. 

"Zwanzig Kämpfer lassen sich von dem Geld anheuern!" sagte Roana matt und hatte Mühe, das Brausen der Pechfackel zu übertönen. "Zwanzig weitere Verteidiger, für ein paar Wochen...Wer auch immer sich freiwillig in unsere Lage begeben würde. Da draußen warten 150 Feinde oder mehr. " 

"Warten sie eben nicht!" sagte Adran, mit schrulliger Beharrlichkeit in der Stimme. "Wenn Ismena wirklich so stark wäre...wie sie uns glauben machen will...dann hätte die Belagerung schon längst begonnen." 

Die Ritterin vom Stein blickte sich im Gewölbekeller um, in dem noch einige weitere Truhen standen. "Früher oder später werden sie kommen. Irgendwann werden unsere Vorräte zur Neige gehen." 

"Es ist unwichtig, wie oft einer zu Boden geschlagen wird", grummelte der Oppsteiner. "Wichtig ist, wie oft er wieder aufsteht."  

Roana blickte zur Tür, wo eine weitere Wache ausharrte, mit dick bandagierter Schwerthand und Nasenverband. 

"Wir brauchen Entsatz. Gernbrecht ist zuweit weg, so oder so. Zu weit weg, zu teuer, zu unzuverlässig. Abgesehen davon, dass die Kaiserin nie 150 Verräter durch das Mittelreich marschieren lassen würde..."

"Das lässt sie doch schon längst, Oppstein ist gerade voll davon. Wulfhelm, das As habe ich noch im Ärmel. Er wird für ein Machtwort sorgen, wenn nicht in Gareth, dann in Rommilys!" Adran ließ den Taler zurück in die Truhe fallen. 

"Was ist mit dem Clan der Wulfbergen?" fragte die Ritterin unvermittelt. "Sie haben der Baronie Oppstein die Treue geschworen." 

"Die Trollberger?" Adran winkte ab, klappte die Truhe zu, verschloss sie sorgfältig und rüttelte vorsichtshalber am Deckel. "Die sind doch längst über alle Berge, seitdem Rhufon zu den Ahnen gegangen ist. Die eine Hälfte ist mit Pharraz nach Zweimühlen gezogen und dort untergegangen, die andere Hälfte hat sich Chaykas Blutigen Äxten angeschlossen...Verräter, allesamt Verräter...Von Sturmhöh ist ebenso wenig geblieben wie von Markt Windsbucht."

 

Der Baron stand auf. "Beide Dörfer sind längst vom Winde verweht." 

 

"Aber..." Roana schluckte. "Wir können doch nicht einfach hier sitzen und auf das Ende warten, mein Baron!" 

Adran dachte an das Fläschchen mit Gift, das er klugerweise mitgenommen hatte. Es zu trinken, dafür war die Zeit  noch lange nicht reif. Abgesehen davon, dass ein gewisser Baduron von Eslamsbrück ihn den Gnadentrunk gemischt hatte...

Bedächtig tätschelte er die rußverschmierte Wange der Hochfelserin. "Ist dein Glaube an die Alten Götter so schwach? Das hier ist Sokramorsland, vergiss das nicht. Die Abtrünnigen werden Ihre Macht schon bald zu spüren bekommen, Roana. Hab ein bisschen mehr Vertrauen in die Herrin der Nacht und der Dunkelheit."




An der Kapelle des Firun nahe Goblinwehr, zur gleichen Zeit

 

  

Der kühle Lufthauch, der von den Bergen herab strich, war angenehm an einem so heißen Tag im Praios. Nach dem anstrengenden Anstieg auf dem steilen Pfad hier die Hänge hinauf, auf dem sich auch mehrere Pilger auf ihrer Reise befanden, hatte sich hingezogen. Anders als die Pilger, die von Firun her auf dem Bogen des weißen Jägers gen Gallys zogen, war die Geweihte in der anderen Richtung unterwegs, nordwärts. Und das hieß zuallererst einen guten Fußmarsch bergauf, ehe man über den Kamm gelangte und dann ein paar letzte Schritte auf die Kapelle zu lief. Tiinana schwitzte von der anstrengenden Reise, aber jetzt war es geschafft.

Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung gewesen. Im Firuntempel zu Gallys – der, wie den Eingeweihten bekannt war – auch den Gläubigen der Elemente von Firuns Wilder Jagd offen stand – hatte man das anfangs nicht wirklich verstanden, welche Folgen die Fehde in Oppstein haben würde. Ein Zwist zweier Adeliger, was kümmerte das den Tempel. So hatte sie selbst lange gedacht. Bis ihr zugetragen wurde, dass sowohl die Rosenbuscher als auch die Kirche des Praios Partei ergriffen hatte auf einer Seite. Und dass damit weniger Adran selbst, als vielmehr das offene Ausleben der Alten Kulte, das in Oppstein jahrelang Usus war, bekämpft werden sollte.

Und dabei hatte Tiinana kein gutes Gefühl. Nicht, dass ihr diese wilden Sitten, die Adran in Oppstein auslebte, irgendetwas bedeutet hätten. Aber es ging um die Menschen. Die Menschen, die auf die eine oder andere Art und Weise den Willen des Herrn Firun befolgten… selbst die, die seinen Namen nicht im Munde führte, hielten seine Gebote in Ehren, achteten den Kreislauf des Werdens und Vergehens in der Natur, ehrten das Wild, das sie jagten – nun gut, zum Teil auch wilderten, aber das war eine weltliche und keine religiöse Kategorie. Tiinana, und nicht wenige andere Gläubige des Firun und der Sokramur, fürchteten, dass manche Eiferer bei der Bekämpfung Adranischer Umtriebe, nun ja, übertreiben könnten.

Die Hochgeweihte des Gallyser Tempels des Firun und der Sokramur wollte diesen Menschen eine Tür bieten, um Zuflucht zu finden. Eine Zuflucht beim grimmen Herrn Firun und seiner milden Tochter Ifirn. Allein auch schon deswegen, damit diese Menschen nicht eine leichte Beute der Diener des nicht zu Nennenden wurden, dessen verborgener Einfluss ebenfalls wuchs, wie man in den zwölfgöttlichen Kirchen sorgenvoll bemerkt hatte.

Verfolgte Gläubige der Alten Kulte sollten nicht in die Arme des Unheiligen getrieben werden, es bedurfte des Firunkultes, um in dieser Zeit des Umbruchs an der Seite der Menschen zu stehen. Sie wollte diesen Menschen eine neue Tür öffnen.

Die schwarzhaarige Nivesin öffnete die Tür zu der hölzernen Kapelle. Der durch die Bewegung des Türblattes entstehende Luftzug wirbelte Staub auf, die Geweihte hustete. Eine schattige, dunkle Kühle herrschte im Inneren der Stabkapelle vor.

„Öffne die Fenster, Krusa. Du, Edelfrid, mach die Kerze auf dem Altar an. Wir brauchen Licht. Es scheint sich schon länger niemand wirklich um dieses Haus des Herrn der Jagd gekümmert zu haben. Und du, Albrecht, kehr mit Odiliane mal draußen den Weg frei und mach ein wenig Ordnung, dass das nicht so verwahrlost aussieht hier.“

Die beiden Novizen gehorchten. Sicher, die Kapelle war an sich, baulich gesehen, in gutem Zustand. Immer wieder hatten durchreisende Jäger oder Pilger mal dieses und mal jenes repariert, ausgetauscht, gepflegt. Aber das war natürlich nie das gleiche wie ein dauerhaft benutztes Haus des Herrn der Jagd.

Edelfrid hatte die Kerze entzündet, und ein warmes, helles Licht ließ die Kapelle, den künftigen Tempel, gleich viel angenehmer erscheinen.

„Im Norden, um Markt Oppstein, scheint ein ziemliches Denunziantentum vorzuherrschen, sagt man. Das haben jedenfalls die Bauern von Goblinwehr erzählt.“ begann Krusa. „Jeder bezichtigt jeden, auf infame Weise den Alten Kulten gedient zu haben.“

Tiinana nickte. „Ja, ich habe es auch erfahren. Ich hoffe, die Diener des Gottes der Wahrheit erkennen, dass die eine Hälfte sich nur an irgendjemand mit billigen Vorwürfen rächen will, wie das immer so ist, wenn man zur vermeintlichen Wahrheitsfindung auf Denunzianten setzt. Wieder andere wollen nur die eigenen Handlungen vergessen machen und sich als geläutert geben. Nach der Devise lieber zuerst den anderen anschwärzen als selbst ans Messer geliefert zu werden. Ein würdeloses Spektakel. Es sollte sich schämen, wer daran mitwirkt. Nun, die Kirche des Firun ist berechtigt, die Beichte abzunehmen und Verfehlungen zu vergeben. Das sollten wir tun, dafür sind wir da. Nicht für so ein unwürdiges Spektakel wie diesen Greifenkasten in Markt Oppstein. Hängt der immer noch dort, oder hat ihn irgendjemand bei Nacht und Nebel abgenommen?“

Natürlich konnte niemand die Frage beantworten, aber auch Tiinana ging nicht davon aus, dass irgendjemand den Mut hatte, sich offen mit der Praioskirche anzulegen. Sie selbst wollte sich ja auch nicht mit Hochwürden Malachanias anlegen, auch wenn ihr das alles missfiel, was der neue starke Mann der Praioskirche tat. Der größte Lump im ganzen Land, ist immer der Denunziant, so hieß es nicht von ungefähr. Aber Menschen zum Denunziantentum auffordern, war etwas, was bei den stolzen traditionsbewussten Sichlern ganz schlecht ankam.

Edelfrid wischte den steinernen Altar sauber. „Wir sollten uns da nicht einmischen, Hochwürden. Die Kirche des Firun hält sich fern von der Politik.“

Tiinana nickte, obgleich sie genau wusste, dass sie Edelfrid diesen Wunsch nicht erfüllen würde. Der gebürtige Sennwitzer Bauernbursche war zu sehr der klassischen Lehre Firuns zugehörig, mit den Feinheiten der Alten Kulte war er nicht vertraut. Edelfrid war nicht der Typ Mensch, der Intrigen und Ränkespiele durchschaute. Überhaupt war er nicht die hellste Kerze im Leuchter. Aber er war loyal und verfügte über handwerkliches Geschick. Deswegen hatte sie ihn mitgenommen. Und weil er aus Oppstein war, ortskundig war und den Dialekt der Täler Oppsteins gut verstand.

„Naja, Edelfrid. Du hast in einem Recht, ich werde ganz sicher nichts tun, was Prätor Malachanias uns übel nehmen wird. Aber wenn Menschen, denen die Umwälzungen zu schnell gehen, verunsichert sind und Trost brauchen. Dann stehen wir bereit, schon allein, damit sich keine radikalen oder unheiligen Kräfte anderer… naja, du weißt was ich meine.“ Tiinana redete nicht weiter. Edelfrid war der beste Kandidat dafür, sich zu verplappern, wenn man zu viel redete. Also würde sie den Novizen genau mit den Informationen füttern, die jeder Lauscher gerne vernehmen dürfte.

„Ist der Altar bereit?“

„Ja, natürlich. Geweiht ist er, dem Herrn der Jagd heilig. Was willst du machen, Tiinana? Du hast nichts erzählt bislang?“ Edelfrid war neugierig. Auch Krusa gesellte sich um den Altar. Die Novizin Odiliane hielt sich still im Hintergrund. 

„Nun, der Tempel soll gemahnen, nicht der falschen Seite anheim zu fallen und erinnern, dass Zwölfgötter hier in diesem Land Vielleibige Bestie bezwangen mit ihren Klingen.“ Das weitere, was sie sich dachte, sagte sie nicht. Nämlich dass auch die Gigantin Sokramur das ihre zu diesem Sieg beigetragen hatte. Nun, wer verstand, wer kundig war, der würde auch die Symbolik hier im Tempel erkennen. Und wer es nicht wusste, nun, der musste es nicht wissen.

„Ich habe die Druidenklinge Farrazar, die vormals Adran getragen hat. Nie wieder soll Unheil mit dieser Klinge vollbracht werden, nunmehr wird die steinerne Klinge zur Versöhnung und zum Frieden und zum Ruhm des Herrn Firun beitragen. Sie soll Teil des Altars werden für immer, es sei denn, der Herr Firun gibt sie frei, um seinem Träger zu ermöglichen, damit im Sinn des Firun zu wirken. Nie wieder soll sie für weltliche oder machtpolitische Zwecke missbraucht werden. Daher habe ich sie in diesen Tempel gebracht.“

So hatte sie es verkündet, und so sollte jeder es erzählen. Was sie nicht erzählte war, dass der Dolch eine zentrale Rolle für viele Anhänger der alten Kulte einnahm, und dass es somit auch möglich war, dass nun der Firuntempel eine ähnliche Rolle einnehmen könnte. Ebenso wenig erzählte sie, auf welche Weise sie in den Besitz des Dolches gelangt war. So etwas erzählte man auch nicht. Man wusste es, oder man wusste es nicht. Und dabei blieb es. Niemand musste wissen, dass ihre Novizin Odiliane von Baernfarn ihr den Dolch gegeben hatte, und auch niemand musste wissen, wie wiederum die junge Novizin daran gelangt war. 

„Krusa, ist der Weihrauch bereit?“

Die Novizin, die vor langer Zeit aus dem Friedwangschen nach Gallys gekommen war, nickte. Auch Albrecht, der Wanderprediger aus Schnayttach, der sich dem Gallyser Tempel im vergangenen Sommer angeschlossen hatte, war wieder in die Tempelhalle zurückgekehrt.

Tiinana strich sich ihre Geweihtenrobe glatt. Sie hatte eine schwarze Robe, untyptisch für einen Firunpriester, ohne die Stickereien mit Motiven aus Firuns Wilder Jagd wäre sie beinahe als Boroni durchgegangen.

„Gut… ein wenig nach Tempel darf es schon riechen. Ich denke, wir laden die Gläubigen aus Goblinwehr zum Eröffnungsgottesdienst, und auch alle Pilger, die durchkommen, werden wir zum verweilen auffordern. Ein wenig Würde muss die Zeremonie schon ausstrahlen.“

Und es sollte auch genug Zeugen geben, dachte Tiinana bei sich. Zeugen, die überall berichten würden, dass hier jetzt ein Tempel des Firun steht und nicht nur eine Kapelle, und dass es hier eine besondere Reliquie zu sehen gäbe. 

Tiinana wandte sich wieder dem Schnayttacher Wanderprediger zu. Der gewitzte und für einen Jäger ungewohnt redegewandte Wanderprediger schien ihr genau der richtige für ihre Pläne zu sein. 

“Gut, Albrecht…" Ich habe einen Auftrag für dich. Berichte in Goblinwehr, dass wir den Tempel hier einweihen. Und dann eilst du nach Markt Oppstein. Ich habe da einen besonders wichtigen Auftrag…”

 

 

 

Gleichzeitig, auf der Schwerterburg 

 

Adran hatte ein Feuer im Kamin anschüren lassen. Nicht dass es kalt gewesen wäre in den Gemäuern der Schwerterburg. Aber es war einfach gemütlicher. Er erinnerte sich an Knisters Auftritt, das Vertreiben einer kleiner Schar Angreifer durch den kleinen Drachen. Nun, wer weiß, wie sich die Lage noch entwickeln würde.

Ab vor allem... es war einfach entspannt, dem Knistern und Prasseln zuzuhören und für einen Augenblick die ausweglose Lage zu vergessen, in der er sich gerade befand. Nur wenige Getreue, eingeschlossen in einer Burg. Nun, Adran wollte einen Moment nicht daran denken.

Die Flammen im Kamin des großen Saals schlugen auf, eine wohlige Wärme strahlte das Feuer aus. Adran steckte sich eine Pfeife an und lehnte sich mit dem Ellbogen an eine der hölzernen Säulen. Es wurde Zeit, dass Lares zurück kam von seinem Rundgang über den Wehrgang. Mit nur zwanzig verbliebenen Getreuen wäre die Burg, egal wie wehrhaft sie angelegt war, schwer zu verteidigen. Es waren einfach nicht genug Kämpen übriggeblieben, alle erforderlichen Posten zu besetzen. Herrje, Adran wollte doch die scheinbar ausweglose Lage für einen Moment vergessen.

Es qualmte und rauchte, aus der Pfeife wie aus dem Kaminfeuer. Ein wenig schwindelte Adran. Hatte er zu viel Rauch eingeatmet? Er fühlte sich… irgendwie schwerelos. Als spürte er den Boden unter seinen Füßen nicht… Ein Hauch Angst kam in Adran hoch.

„Ich sehe, du willst immer noch kämpfen, Adran? Hatte ich dir nicht geraten, Frieden zu suchen und aufzugeben? Noch einmal komme ich als Freund zu Dir, um dir Ratschlag zu erweisen. Ein drittes Mal, wenn es denn erforderlich sein sollte, kann ich dir das nicht versprechen.“

Erschrocken drehte der Oppsteiner sich um. Er hatte niemanden erwartet, niemanden außer Lares, und dessen Stimme war es nicht, die er vernahm. Es war eine andere Stimme… die er unlängst erst gehört hatte.

Langsam verzog sich der Rauch, und schemenhaft erkannte er die hünenhafte Gestalt eines bärtigen alten Mannes. Erst als sich das letzte Rauchwölkchen verzogen hatte erkannte er, was er schon befürchtet hatte.

„Wie kommst du hier herein? Wachen, ergreift…“

Der Mann lachte.

„Hast du noch immer nicht begriffen, dass deine Wachen Dir nicht helfen können. Und außerdem, dass Dir von mir keine Gefahr droht? Sondern eher Ratschlag… und vielleicht ein Quäntchen Weisheit, die euch Kurzlebigen nur all zu oft abgeht?“

„Verschwinde, Odilon. Ich habe dich nicht gerufen, dich und deine dreizehnmal verfluchte Baernfarnsippe!“

„Vorsichtig, mein junger Freund. Flüche beim Dreizehnten sind eine gefährliche Sache. Meistens gehen sie nach hinten los.“ antwortete Odilon ruhig.

„Wachen!“ rief Adran erneut.

„Na gut, Adran. Da du es nicht verstehst, will ich es dir erklären. Dort, wo Satinav nicht herrscht, können keine Wachen kommen. Keine Bewegung ohne Zeit. Und so lange du mit mir redest, geschieht das außerhalb der Zeit. Ich dachte, du hättest das inzwischen verstanden, dass ich nicht mehr in deiner Welt weile, sondern dass du dich, während wir uns begegnen, in meiner Welt bist. Bei den alten und neuen Göttern, Adran, gerade du als Anhänger der Alten solltest doch wissen, dass in der Natur manchmal Kräfte wirken, die mit dem Verstand nicht zu fassen sind.“

Adran schnaufte unwillig, beruhigte sich aber.

„Und was willst du schon wieder? Warum stiehlst du mir meine Zeit?“

Odilon lachte.

„Ich stehle dir gar nichts… und deine Zeit kann dir auch niemand stehlen, solange sie nicht vergeht.“ Odilon sah den – inzwischen vormaligen – Baron von Oppstein an.

„Und auch deine andere Frage ergibt keinen Sinn. Die Frage ist vielmehr: Was willst du? Ich dachte, du willst den Menschen, die dir anvertraut sind oder waren, dienen. Das wäre die Aufgabe eines Barons. Ich dachte, du willst den Menschen den Glauben an die Alten ermöglichen. Momentan stärkst du aber nur die Widersacher des Alten Glaubens. Für Adelige in Verantwortung für ihr Land heißt es immer erst das Land, dann die Familie, zuletzt man selbst. Warum handelst du nicht danach?“

„Das tu…“ brauste Adran auf.

„Wirklich? Momentan schicken sich die religiösen Eiferer der Praioskirche an, die Eiferer der Alten ausfindig zu machen. Und nicht nur die Eiferer, auch die einfachen Gläubigen. Deine früheren mitgläubigen bezichtigen sich gegenseitig, den alten anzuhängen, bei der Praioskirche. Wenn das so weiter geht steht es arg um die, die das gleiche glauben wie du, Adran.“

„Erzähl das dem Rondritscherl. Die hat doch die Praioten gerufen!“ brauste der Oppsteiner auf.

Odilon blieb ruhig. „Na so einfach ist das nicht. Ismena hat keinen einzigen Praioten gerufen. Sie konnte es aber auch nicht verhindern, dass sich die Praioten aus der Fehde ihr Kapital schlagen, den Einfluss ihrer Kirche vergrößern versuchen.

Gerufen… nun, gewissermaßen gerufen hast du die Praioten. Auf den Plan gerufen hast du sie, wie man so sagt. Dadurch, dass du offen die Kirche des Praios herausgefordert hast. Dass du die Regeln der Praioskirche offen und vorsätzlich ignoriert und verletzt hast, damit hast du die Praioskirche gerufen. Lange bevor Ismena jemals daran dachte, nach dem Oppsteiner Thron zu greifen. Übrigens, in gleicher Weise hast du auch die Kirche der Travia gerufen. Also schiebe nicht Ismena die Schuld für etwas in die Schuhe, was du selbst zu verantworten hast.“

„Du verdrehst die Fakten so, wie sie dir genehm sind, Waldläufer!“ schimpfte Adran.

„Oder du siehst die Welt nur so, wie du sie sehen möchtest, mein Freund.“

„Erstens, du bist nicht mein Freund, und zweitens, ich hatte alles recht dazu. Niemand hat das Recht, den Menschen hier ihren Glauben vorzuschreiben, auch die Praioskirche nicht, und ebenso nicht die spießigen Travioten, die in der Liebe alles ablehnen, was nicht der Fortpflanzung dient. Diese bornierte Haltung will ich meinen Sichlern nicht zumuten!“

Adran schrie fast.

„Und doch bist du dabei, gerade das zu tun.“ antwortete Odilon nach einer kurzen Pause. „Oder was meinst du, was die Praioskirche hier durchsetzen wird, wenn die Fehde noch lange so weiter geht? Es wird Zeit, dem ein Ende zu setzen. Denke an die, die an dich geglaubt haben. Warum dankst du ihnen so ihre Loyalität, Adran. Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen. Aber du kannst entscheiden, wie er endet.“

„Du redest wirr, alter Mann. Aber was erwartet man von einem störrischen Baernfarn auch… ich hatte das Recht, als Herr dieses Landes, andere Religionen als die an diesen Kriecherischen Sonnengott…“

Odilon lachte.

„Wenn es eines gibt, das gerade ich als störrischer Baernfarn lernen musste, dann dass in der Politik derjenige das Recht hat, der damit Erfolg hat. Hat man keinen Erfolg, ist man ein Verräter. So einfach erklärt sich in der Politik, was Recht und Unrecht ist. Also lass nun die Menschen in Oppstein nicht leiden, nur weil du zu stolz bist einzusehen, dass du im Unrecht bist – selbst wenn dein einziges Unrecht darin besteht, Einfluss und Ausdauer deiner Gegner zu unterschätzen.“

Das war die erste Aussage des alten Waldläufers, die Adran zum Nachdenken brachte. Eines stimmte… Recht und Unrecht war immer auch eine Frage der Macht und des Einflusses. Nicht umsonst war Odilons Nachfolger zu Gallys als Verräter verurteilt worden. Nicht, weil er tatsächlich einen Verrat begangen hatte. Sondern allein, weil der Truchsess der Fürstin es damals so wollte, und er hatte die Macht dazu gehabt.

„Nun gut… zu streiten mit Dir bringt wohl nichts, alter Zausel.“ Zuzugeben, dass er ins nachdenken gekommen war, musste Adran ja deswegen noch lange nicht. „Also sag, was du mir vorschlagen willst. Und dann zisch ab.“

Odilon ließ sich nicht provozieren.

„Die Frage ist, denkst du zuerst an das, was deinem Volk dient, oder steht Dir deine Eitelkeit im Weg? Nun, fangen wir strategisch an. Deine Lage ist aussichtslos, und das weißt du selbst. Es werden keine entfernten Verwandten aus Horasien kommen. Und auch sonst niemand. Du kannst hier einfach ausharren, bis dir der letzte Getreue von der Stange rennt oder dir die Vorräte ausgehen oder bis ihr alle hier einer nach dem anderen unter den Pfeilen oder Schwerthieben von Ismenas Gefolgsleuten fallt. Es wird noch viel Blut vergebens fließen, bis zum Ende, vor allem das Blut deiner Gefolgsleute, deiner Anhänger und zuletzt dein Eigenes. Das ist dein Schicksal, wenn du nicht aufgibst. Und du weißt selbst, dass ich recht habe.

Aber es gibt etwas, dass du tun kannst. Du kannst aufgeben und dafür Bedingungen heraushandeln. Wenn es die richtigen Bedingungen sind, und wenn sie richtig präsentiert werden. Du darfst – ich sage das mal als Jäger – den Bogen nicht überspannen, denn sonst bricht er. Aber du darfst ihn gespannt halten in einer Weise, dass Ismena nicht möchte, dass du den Pfeil abschießt… Bildlich gesprochen. Lass einen Boten zu Ismena schicken und teile ihr mit, zu welchen Bedingungen du bereit bist, aufzugeben. Natürlich forderst du freies Geleit für Dich und Lares und jeden deiner Getreuen hier, die dir folgen wollen. Das ist klar. Aber du hast noch die Macht, eine zweite Forderung zu stellen. Fordere, dass diejenigen, die an die Alten glauben oder glauben wollen, dafür keine Repression, keinen Zwang, keine Strafe, erwarten müssen.“

„Ha, du Träumer. Versprechen kann Ismena viel, daran halten wird sie sich nie.“ widersprach Adran ungläubig.

„Das kommt darauf an. Denn du stellst nicht nur deine Bedingung, du sorgst natürlich auch dafür, dass die Forderungen auch bekannt werden. Dein Bote wird nach Markt Oppstein ziehen und dafür sorgen, darauf bestehen, seine Forderungen auf dem Marktplatz vorzutragen, im Beisein von Ismena und, als Zeugen, einem der Wahrheit verpflichteten Geweihten des Praios.“

„Hah“ entfuhr es Adran. „Ein Praiot! Du bist echt irre, Odilon.“

„Genau, ein Praiot. Ein Praiot darf nicht lügen, das weißt du.“ erläuterte Odilon.

„Und? Sie scheren sich nicht darum, die Praioten, das ist doch alles nur aufgesetztes Gehabe!“ schimpfte Adran.

„Damit hast du vielleicht sogar recht. Vielleicht auch nicht. Aber es ist egal. Sorge dafür, dass eine Lüge jedem bekannt würde. Ein Praiot, der darum weiß, der kann nicht lügen, wenn er sich nicht selbst unglaubwürdig machen will. Nutze das aus.“

„Hmm“ brummte Adran.

„Also, dein Bote möchte, das Ismena dem anwesenden Praiosgeweihten schwört, dass die Anhänger der Alten nicht verfolgt, nicht belangt werden. Was wird Ismena dann tun. Soll sie es ablehnen? Dann verliert sie die Herzen der Menschen in Oppstein gleich am Beginn ihrer Herrschaft. Das kann sie nicht tun, denn Volkes Meinung, wenn auch nicht die oppurtune öffentliche Meinung, so doch die Meinung der schweigenden Mehrheit, hat kein Verständnis für das Eifern wider die Alten Kulte.

Setzt sie den Kampf gegen dich fort, belagert sie deine Burg, dann wird sie für jeden weiteren Tod verantwortlich gemacht, der nur erfolgte, weil sie Deine Kapitulation nicht annahm. Halte als Feldherr über einen längeren Zeitraum die Moral aufrecht, wenn der Kampf längst beendet hätte sein können, wenn es nur um die Eitelkeit der Befehlshaber geht. Keine leichte Aufgabe.

Lass sie dem Praiosgeweihten schwören. Kein Priester der Kirche Praios wird sie dafür belangen können, ihren Eid vor einem ihrer Diener zu halten. Ismena hat kein Interesse an einer weiteren Missionierung oder gar Verfolgung derjenigen ihrer Untertanen, die den alten anhängen. Sie muss jedoch gegenüber der Praioskirche den Anschein waren, wenn sie vor der Fürstin und im Kreis der anderen Adeligen des Reiches und der Mark anerkannt werden will. Aber… gib ihr einen guten Grund, einer Forderung der Praioskriche zu widerstehen. Und was wäre Ismena willkommener als einfach eine Forderung zurückzuweisen mit der Aussage, sie wolle nicht eidbrüchig werden bei einem Eid, den sie im Beisein eines Praioten geleistet hat. Kann ihr das irgendein Geweihter übelnehmen? Niemals.“

Odilon ließ seine Erläuterung wirken.

„Du kannst nicht gewinnen, Adran. Aber du kannst dafür sorgen, dass dein Vermächtnis in diesem Land weiterlebt. Du kannst dafür sorgen, dass dein Vermächtnis von den Menschen in guter Erinnerung gehalten wird, dass du vielleicht in der Stunde deines Scheiterns eine Größe zeigst, die man nicht erwartet hätte, die deinen Ruf über Jahrzehnte, über Generationen in Erinnerung behält.

Oder du kannst schlicht als besiegte Randnotiz der Baroniegeschichte enden. Es ist deine Entscheidung. Entscheide weise!“

Odilon sah Adran mit durchdringlichem Blick lange an. Dann ging er einen Schritt rückwärts, noch einen… umherziehende Rauchwolken aus dem Kaminfeuer umhüllten den alten, versperrten Adran die Sicht auf den unerwarteten Besucher.

Adran war wieder allein.




Markt Oppstein, 19.Praios, 1046, Praiostags

 

Hochwürden Malachanias blinzelte in die Sonne, als er aus dem kleinen, für seinen Geschmack zu kleinen Tempel des Götterfürsten trat. Es war nicht mehr so heiß wie in den letzten Wochen. Die alten Bauern behaupteten, dass die nächsten Tage Regen, Sturm und Gewitter bringen würden. In den Bergen grummelte es bereits, dunkelgraue Wolken ballten sich zusammen. Was gut war für die verdorrten Felder, würde für die Fehde leider eine unschöne Verzögerung bedeuten. Im peitschenden Dauerregen eine Burg zu belagern, war kein Vergnügen.  

Hoffentlich brachte das Unwetter keinen Hagelschlag. Die verdammten Hexen hatten jeden Grund, sich zu rächen...nachdem ihr Gespiele vom Drachenthron vertrieben worden war.  

Der Hochgeweihte von Markt Friedwang hatte vorsorglich seinen Umhang und den Hexenjägerhut zur Predigt mitgenommen, eine hohe, breitkrempige Kopfbedeckung, die durch ein schmuckes Lederband mit Schnalle geschmückt war. 

Malachanias sinnierte darüber nach, dass diese Tracht eigentlich von den Lowanger Dualisten stammte, freudlose Eiferer aus dem Svellttal. Die Sektierer sahen einen Gegensatz zwischen Praios, dem glücksbringenden Herrn des Lichts, und Boron, dem unheilvollen Herrscher der Nacht. Firun diente in diesem Weltbild, das während des Ersten Orkensturms entstanden sein sollte, als Mittler zwischen "Gut" und "Böse". Immerhin, Praios war selbst für diese Hinterwäldler der Gute. 

Im Sichelhag war es ein vereinfachter Dualismus aus Firun und Praios gewesen, der zum Zerwürfnis zwischen Sankt Alboran und Sancta Artema geführt hatte - ein Zwist, der bis heute nachwirkte. 

Selbstzufrieden trat Malachanias auf den kleinen Vorplatz, und sah der Büßerin zu, die ihren Pinsel in einen Farbeimer tauchte. An einer Kleinbauernhütte malte sie dann sorgfältig ein purpurnes Rohalskreuz auf, ein "Krückenschrägkreuz", wie es heraldisch genannt wurde - ein Kreuz, das jeweils in Querbalken endete, wie auf der nach ihm benannten Münze. 

Der Custos Lumini war überaus zufrieden, mit seinem Einfall, der durch das "Xeraanische X" ebenso inspiriert war wie die sokramorischen Schmierereien in Friedwang. Überall im Dorf leuchteten nun die Ixe, an den Häusern, die nicht von den Gänsebändern geziert wurden. Einige wenige Ausnahmen gehörten keiner der beiden Fraktionen an. Das Rohalskreuz, ein Szepter, gekreuzt mit einem Zauberstab, stand für die weltliche Herrschaft ebenso wie die Gildenmagie - die ebenfalls keine "Freizauberei" duldete. 

Angeblich war das X sogar ein altes Geheimzeichen für Hexe. "Ixe", das klang nach Echsen und Hexen gleichermaßen. Die Form erinnerte zudem an Feenflügel, die mit ihrem Geschwirre und Geflatter den Geist der Sterblichen verwirrten. 

Die schlimmsten Sünder trugen den purpurroten Buchstaben auch auf ihren Gewändern. Als schandbare Tracht und mahnende Erinnerung daran, wie nahe sie dem Pesthauch des Namenlosen bereits gewesen waren. Malachanias hatte damit dem Gebot Oleanas, hart und schnell durchzugreifen, ebenso Rechnung getragen, wie Ismenas Wunsch, es sich mit ihren neuen Untertanen nicht zu verscherzen. Einstweilen würde er es bei dieser Ehrenstrafe belassen.  

Ansonsten war "Teile und herrsche" die beste Methode, Menschen zu unterwerfen - auch wenn Malachanias vor allem das Seelenheil der Bestraften im Blick hatte. Die Hexenfeste als Zaungäste besucht hatten, um sich Unzucht und Rausch hinzugeben, die zu Sokramor gebetet oder Levthan mit unehelichen Kindern und  Seiten-Bocksprüngen "geehrt" hatten.   

Malachanias hatte in seiner "Gastpredigt" auch Milde gezeigt: Wer regelmäßig die Götterdienste besuchen, reichlich spenden, inbrünstig zu den Wahren Göttern beten, andere Sünder melden und zum Sieg über den Unglauben wie den falschen Baron beitragen werde. Der könne das Schandzeichen schnell wieder loswerden. Dass "Baroness Praiodane" am Ogerkreuz hatte stehen und ihr Frevlermal entblößen müssen, im Schlosskeller, das war ohnehin bereits Dorfgespräch. 

Der Praiosgeweihte hatte seine vorsichtige Deutung erwähnt, wonach das Mal ein Zeichen Alverans sein könnte. Ein Zeichen dafür, dass Praiodane nicht zur Herrschaft über die Baronie berufen gewesen sei, von Geburt an. Die beiden auseinander laufenden Eidechsen stünden womöglich für die Aufspaltung Tsatuarias in Tsa und Satuaria,  in kindliche, glückselige Unschuld und hasserfüllte, wilde Leidenschaft, die auf Dere einfach nicht mehr zusammenfinden könnten. Das zwischen den Schultern ebenfalls sichtbare Levthansgehörn sei eindeutig. 

 

Hufgestampfe lenkte Hochwürden ab, der gedankenversunken zum Marktplatz hinübergegangen war. Malachanias glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als ein Streitross herantrabte, dessen Reiterin das gelbrote Wappen des Hauses Oppstein zeigte. Erst dann sah er die schneeweiße Marbofahne in der Linken der Rittfrau. Eine Unterhändlerin? Die Wachen am Ortsrand hatten sie einfach eingelassen, ohne Eskorte, unglaublich. 

Malachanias versicherte sich der Gegenwart seines Sonnenszepters, als die Adelige geradewegs auf ihn zu ritt, mit dem Schwert an der Seite. Die Frau lächelte unter ihrem Helm, als wäre sie freudig überrascht. 

"Die Götter zum Gruße, Hochwürden Malachanias! Mein Name ist Roana von Hochfels. Seine Hochgeboren Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen schickt mich, um Ismena von Baernfarn Verhandlungen anzubieten." 

"Praios und die übrigen elf Götter zum Gruße!" antwortete Malachanias kühl, der sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellte. Es half nichts, Roana von Hochfels ragte immer noch hoch über ihm auf, im knarrenden Sattel, ganz stolze Aristokratin. Roana von Hochfels? Soweit der Hohe Commissarius wusste, war die gut aussehende Rittfrau vom Stein die Schwester von Adrans Günstling Lares sowie des edlen Corelian Falconor, dem Schwager des Friedwanger Barons. Keine schlechte Wahl als Unterhändlerin, das Haus Hochfels stand in dieser Fehde beiden Seiten nahe. 

Das Streitross schnaubte, mit warmen Nüstern, und versuchte an Malachanias Schärpe zu knabbern. Das Zaumzeug klirrte. Malachanias wich zurück. Fehlte es in dieser Baronie selbst den Pferden an Respekt vor den Dienern der Unsterblichen Zwölfe? 

"Über den wahren Glauben gibt es nichts zu verhandeln!" sagte der Hochgeweihte, noch immer im Tonfall des Predigers und spähte nach den eigenen Bewaffneten. "Kein Wort, keinen Fingerbreit!" 

Roana ließ den Blick über den Marktplatz schweifen, mit den flatternden Gänseschleifen ebenso wie den hexenbannenden Rohalskreuzen. Ein halb bitteres, halb verächtliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. 

"Sagt Adran, dass wir nichts anderes akzeptieren werden als seine bedingungslose Kapitulation", verkündete Malachanias selbstherrlich. "Viel mehr hat der Hexenbaron auch nicht mehr anzubieten, in seiner Lage. Über die Nachfolge wird der Familienrat des Hauses Oppstein entscheiden. Zur gegebenen Zeit. Für seine Umtriebe wird er sich wohl vor Gericht verantworten müssen. Wahrscheinlich sogar vor der Heiligen Inquisition! Wenn ich allein an seinen hochverräterischen Brief an diese Deserteure im Drachenkaiserreich denke!" Der Praiot hatte sich fast in Rage geredet. "Das Wiedererstandene Reich der Hela-Horas oder wie immer sich die Nachfolger der Dämonenbeschwörerin heute nennen!"  

"Wie Ihr wisst, Hochwürden, ist Adran durch Adoption Mitglied des horasischen Hauses Berlînghan. Eine weitere Botschaft ist gerade zu Esquiria Rondane ya Sirensteen-Schelf unterwegs, der horaskaiserlichen Gesandten in Rommilys, mit der Bitte um...sagen wir einmal, Vermittlung. Niemand will diplomatische Verstimmungen zwischen zwei Großreichen, nicht wahr? Reichshauptmann Wulfhelm von Oppstein wird sich zudem an Ihre Kaiserliche Majestät wenden, und von den ungeheuerlichen Vorfällen im Sichelhag berichten. Diese Geschichte kann schnell Kreise ziehen, wenn Ismena nicht zur Vernunft kommt. " 

Roana hatte ein Boltanspielergesicht aufgesetzt, aber Malachanias war nun wirklich ein guter Menschenkenner. Die Hochfelserin wusste, dass ihre Karten nicht mehr allzu gut waren. Sie weigerte sich aber noch, sie offen auf den Tisch zu legen. 

Beruhigt sah Hochwürden, wie sich nun doch einige neugierige Pfahlgardisten näherten.  

"Was verlangt Ihr? Dass man Euch zu Ismena von Oppstein bringt?" fragte Malachanias, vor allem, um Zeit zu gewinnen.  "Ihr solltet froh sein, von Hochfels, wenn Ihr diesen Platz noch als freie Frau verlassen werdet. Für Ketzer gelten gewisse rondrianische Gepflogenheiten nicht." 

"Nein. Ich verlange, dass Ismena hierher auf den Platz kommt! Sie soll in Eurer Gegenwart Adran freies Geleit zusichern. Ihm, mir, meinem Bruder Lares und allen seinen Getreuen, die ihm folgen wollen. Ihr als Diener des Praios werdet diesen Eid bezeugen! Dann wird Adran kampflos aus seiner Baronie abziehen, wohin auch immer es ihm beliebt. Die Waffen werden wir mitnehmen. Es ist bereits genug Blut vergossen worden, zwischen den Mitgliedern des Sichelbundes. Während im Osten noch immer die Schattenländer drohen und sich genüßlich die Hände reiben, ob dieser sinnlosen Fehde. Adrans Verdienste um das Reich und die Rommilyser Mark dürfen  nicht vergebens gewesen sein. Ihm gebührt eine ehrenvolle Behandlung, bei der Himmlischen Leuin!" 

Malachanias hob freudig erstaunt die Augenbrauen. Das Angebot kam einer Kapitulation schon ziemlich nahe. Natürlich wäre es ärgerlich, wenn der Druidenfreund erst einmal straffrei davonkommen würde, aber der Arm der Praioskirche reichte weit. Er selbst würde keinen Schwur leisten, beim Erzheiligen Gilborn. 

"Nun, das ist zumindest etwas, worüber es sich zu verhandeln lohnt." Der Custos packte das Streitross am Zügel - und zuckte gleich wieder zurück, als das prachtvolle, vor allem kräftige Tier, den Hals zur Seite warf. Um ein Haar hätte es ihm auch noch mit dem schweren Huf auf den Fuß getreten. Roana versuchte ihr nervöses Pferd wieder zu beruhigen 

Malachanias merkte, dass der Handrücken aufgerissen war, und führte ihn zum Mund. 

Nun, Selbstbeherrschung war eine weitere seiner Tugenden. Mit dem aufgeleckten Blut schwand auch seine Verärgerung.

"Ich werde der Thronprätendentin von Eurem....Vorschlag berichten”. 

Weibel Wehrheimer  trat neben den Praioten, die Hand am Schwert, und starrte das Drachenwappen auf Roanas Waffenrock ungnädig an. "Gibt es ein Problem? Der Fetzen da sollte über der Schwerterburg wehen!" Mit dem Kopf wies der Mersinger auf die weiße Fahne. 

"Ich möchte mit Ismena sprechen, hier auf dem Marktplatz!" Roana wich dem Blick des Weibels keinen Wimpernschlag aus 

"Das Angebot sollte sich Wohlgeboren Ismena auf jeden Fall anhören. Aber steigt zuerst aus dem Sattel, Roana von Hochfels, so verhandelt es sich leichter." Malachanias klang gebieterisch. 

"Nicht so schnell, Hochwürden. Für seinen Abzug wünscht sich Adran eine Gegenleistung. Er hat sich dem Schutz der Alten Kulte in der Schwarzen Sichel verpflichtet. Wenn Seine Hochgeboren den Thron räumen soll. Dann muss Ismena  ihm zusichern, dass die Anhänger der alten Götter unter ihrer Herrschaft keine Repressionen, keinen Zwang und keine Strafe befürchten müssen. " Roana straffte sich. "Keine Repressionen, keinen Zwang, keine Strafe."

Malachanias blickte ungläubig, ob dieser Dreistigkeit. "Erzählt das Oleana von Bregelsaum, der Schwägerin Ihrer Erlaucht, der Markgräfin. Die in Swantjes Namen den wild wuchernden Unglauben in der Sichel bekämpft." Der Geweihte merkte, dass ihm ein wenig Blut am Mundwinkel klebte - den "vampirischen" Anblick sah er zum Glück nicht - und wischte es sich mit dem Handrücken ab. "Was für ein Dämonenpferd, bei der Erzheiligen Lechmin von Weiseprein... Ja, fordert das von Hochgeboren Oleana oder der Heiligen Familie Travias - dass sie ihre Augen und Ohren vor Hoffart und Sünde verschließen! Die Gemeinschaft des Lichts soll einen derart lästerlichen Schwur auch noch bezeugen?" 

Roana blieb aufreizend ruhig. "Ich bin nur die Botin." 

"Ismena ist noch nicht einmal Baronin dieses Landes. Über die Nachfolge entscheiden der Familienrat und die Markgräfin. Wie kann Ismena etwas schwören, was sie nicht gewährleisten kann, so oder so nicht?" 

"Jeder weiß, wer die nächste Herrin dieses Landes sein wird, sobald Hochgeboren Adran aus Oppstein weicht, Hochwürden...sobald er unter Zwang weicht." 

Erneut grummelte das nahende Gewitter. In der Ferne zuckte der erste Blitz. Lange würde es nicht dauern, und Regen herab prasseln. Die Zeit drängte. Roana lächelte verschmitzt. Offensichtlich sah sie darin ein Zeichen ihrer Herrin Rondra. 

"In der Götter Namen, ich schau mal nach der jungen Herrin!" sagte Weibel Wehrheimer dienstbeflissen. 

"Rondra vergelt´s" , antwortete die Hochfels, fast schon ein wenig frech. 

 

Der Wetterumschwung kam schneller als gedacht, wie so oft in den Sichellanden. Ein jäher Windstoß fegte den ledernen Hexenjägerhut des Praioshochgeweihten davon. Ein beflissener Oppsteiner Handwerker, der schon seit Wochen darauf gewartet hatte, dass Baron Adran seine Rechnungen bezahlte, eilte hinterher. Malachanias glaubte, einen seiner Wahrheitsbringer zu erkennen. Wie die angeblichen "Denunzianten" praiotisch korrekt genannt wurden, die den Greifenkasten gefüllt hatten - ein Vorgang, den der Commissarius gerne einmal "hinter der Wolke" beobachtete. Schließlich verbarg auch Praios gelegentlich das gleißende Antlitz, ebenso wie er abends hinter dem Horizont versank, zum Schutze seiner Getreuen vor zuviel Himmelsfeuer. 

 

Genau dies geschah nun über Markt Oppstein. In Windeseile verdunkelte sich der Himmel, Regen prasselte mit voller Wucht herab. Blitze zuckten durch die Nachtschwärze, wahre Feuerbäume, die sich im grellen Lichterspiel verästelten. Gewaltige Donnerschläge rollten hinterher und hallten von den Bergen wieder, als würde der Riese Aarmar brüllen. Fensterläden klappten auf und zu.  

Ein Apfelbäumchen am Rande des Marktplatzes wurde sauber durch einen Feuerstrahl gespalten. Der Lichthüter erbleichte und fiel auf die Knie: "Sankt Alboran, steh uns bei!" Einen Herzschlag lang glaubte er eine feurige Gestalt im brennenden Baum zu sehen, einen bizarr gepanzerten Krieger, der eine Sichelklinge zu schwingen schien. Im nächsten Moment traf den Geweihten etwas am Kopf und an der Schulter. Malachanias war überzeugt, dass nun Hagelkörner herabstürzen, Hausdächer zerschlagen, die Ernte verwüsten würden - die grausame Rache der Hexen und Sokramorkriecher! Aber es waren verkohlte, feuchte Holzstückchen, die von oben herabfielen.  

Roanas Streitross, das sonst wenig erschüttern konnte, stieg und ruderte wiehernd mit den Hufen. Die Hochfelserin, die bislang keinen einzigen Kratzer erlitten hatte, wurde mitsamt Marbofahne aus dem Sattel geschleudert. Einen Moment lang war sie weggetreten. Die Windböen weckten sie rasch wieder, gemischt mit kaltem Efferdsguß. Umständlich versuchte sie sich aufzurappeln, warf ihre abgerissene Armschiene in eine Pfütze. Starke Hände packten und stellten sie auf die Beine. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihr Pferd in Panik davon galoppierte.  

Schlimmer als der Regen wütete der Sturm, der die Adelige wie mit unsichtbaren Schildstößen umzuwerfen versuchte. Ihr Mantel wurde abgefetzt und davon geweht. Ein schwarzes Etwas zischte aus dem Nichts heran. Ihr Begleiter wehrte das Geschoss ab, mit dem stahlgepanzerten Arm: Eine Schieferschindel? 

Erst unter einem schmucken Laubengang, am Rande des Marktes, erkannte sie ihren Retter: Es war Deggen von Baernfarn, der Ritter der Leuin, durchnässt und patschnass. Sie wollte sich bedanken, aber die brausende Luft riss ihr die Worte von den Lippen und erstickte sie in Donnerhall. Eine ganze Abfolge von Blitzen fauchte herab und erhitzte bei jedem Himmelsriss die Gesichter. Beim letzten Rondraspeer musste sich Roana geblendet abwenden. Das Spiel der Wolken war atemberaubend: Roana sah einen riesigen schwarzen Panther, der mit einem einzigen Satz durch das rotleuchtende Avesreich sprang. Oder war es ein gigantischer Reiter mit Drachenhelm, der Rondras Heerscharen in den letzten Kampf führte? 

Gemeinsam mit dem Geweihten sank sie in die Knie, vollführte das Zeichen des Schwertes und sprach wohl dasselbe Gebet, scheinbar lautlos ob des Tobens der Elemente. 

Genauso schnell, wie das Unwetter gekommen war, zog es weiter. Der Regen verebbte. Die Wolkendecke riss auf, und Praios übernahm wieder die Herrschaft. Tropfen fielen von den Dächern.  

Deggen atmete durch und stand wieder auf.  

"Ich danke Euch, Euer Gnaden!" sagte Roana, in jeder Hinsicht unterkühlt und deutete eine höfliche Verbeugung an. 

"Schon in Ordnung. " Der Rondrianer nickte anerkennend. "Es gehört Mut dazu, mitten ins Feindesland zu reiten". 

"Oppstein ist für mich nicht Feindesland." 

Der Ritter lächelte, und wischte ein herangewehtes Blättchen von seiner Brünne. "Für mich auch nicht. Ich habe Eure Worte zufällig mit angehört, auf dem Weg zur Schmiede." 

Der Baernfarn deutete auf die Delle in seinem Schulterpanzer. "Hübscher Hieb, den mir eine der Eurigen verpasst hat. Konnte das Gesicht leider nicht sehen." Ein grimmiges Lachen. "Das ward nicht zufällig Ihr?" 

Roana schwieg für einen Moment und senkte den Kopf. Wasser lief von ihrem Körper auf dem gepflasterten Laubengang und verwandelte sich in einen großen grauen Fleck. Einen Moment lang dachte sie an fließendes Blut. An die Ströme von Blut, die vergossen worden waren.  

"Na, kommt schon, ich war froh über jeden, der überhaupt mit mir das Schwert gekreuzt hat."

Deggen merkte, dass er ein wenig prahlerisch klang, was nicht seine Absicht gewesen war. "Hab eigens meinen Waffenrock abgelegt. Damit die Leute nicht glauben, sie dürften nicht auf einen Ritter der Himmlischen Leuin einschlagen." 

"Ich...ich..." Roana von Hochfels lief rot an. "Ich war bei Adrans Leibwache. Er wollte nicht, dass ich in die Schlacht reite. Hab nicht mitgekämpft." Es klang wie ein schamvolles Geständnis. 

"Ich doch auch nicht." Deggen lachte. "Jedenfalls nicht richtig. Vielleicht sind wir eines Tages noch froh, dass wir die Schwerter nicht in Blut getaucht haben, in dieser Familienfehde. Wenn meine Tochter nicht übelst beleidigt worden wäre...nun, ansonsten wäre ich auch lieber in meinem Tempel geblieben." 

Roana konnte nicht glauben, dass sie gerade neben dem Vater Ismenas stand, der Peinigerin ihrer Heimat. Am liebsten hätte sie ihm Vorhaltungen gemacht, über einen Rondrianer, der seinen Stand versteckte oder Partei für diese Erbschleicherin ergriff, statt ihr die Flausen auszutreiben. Stattdessen schwieg sie. 

Einen Moment lang wunderten sie sich beide, über die scheinbare Vertraulichkeit zwischen ihnen. 

"Adran...ist nicht immer leicht zu verstehen, Euer Gnaden", sagte sie vorsichtig. "Oder heißt es...Hochwürden?" 

"Hochwürden, ja. Da habt Ihr Recht. Was Adran betrifft. Was hat ihn zu seinem plötzlichen Sinneswandel bewogen? Unseren Parlamentär hat er noch mit einem Armbrustschuss davongejagt." 

"Den Verräter Baduron? Das war kein Unterhändler!" 

"Magier sind auch schwer zu verstehen." Deggen lachte. "Hab einen als Bruder." 

"Mein Bruder...Ihr wisst ja, wie Lares so ist." 

Der Rondrianer winkte ab. "Verstehe schon. Lares hat ihn überzeugt, die Schwerterburg zu verlassen? Ist nicht sehr gemütlich da oben...spätestens wenn der Winter naht." 

"Es war Odilon", sagte Roana, froh, einen Gegenschlag setzen zu können. Der durchaus traf. "Euer Onkel." 

Deggen war ehrlich erstaunt: "Odilon?" 

"Ja, der Waldläufer. Odilon der Schwarze Bär." 

"Ich fass es nicht. Einen Götterlauf sieht man ihn nicht mehr. Dann reitet er einfach so in Adrans Burg?" 

Die Rittfrau sah den Tropfen zu, die vom Vordach herabstürzten. "Wenn, dann ist er in den Kamin rein geklettert...soll plötzlich im Rauch gestanden haben." 

"Ihr nehmt mich auf den Arm?" 

"Vielleicht nimmt Adran uns auf den Arm, mit der Geschichte...oder...Hm ja. Ihn hat die Niederlage ganz schön mitgenommen...uns alle. Vielleicht hat er wirklich schon Halluzinationen. Die Idee mit dem Versprechen, die Alten Kulte zu schonen, stammt von Eurem Onkel. Sagt mein Baron." 

Deggen musste diese Nachricht erst einmal verdauen. Die beiden Rondragläubigen musterten sich. Waren sie zu weit gegangen, bei ihrer Verschwisterung? 

"Wie auch immer. Der Regen hat aufgehört. Ich schau besser mal nach meinem Pferd, Herr Deggen. Ich danke Euch für Eure Hilfe. Möge es Euch die Siegschenkerin vergelten." 

"Den Sieg hat sie uns ja schon geschenkt", frotzelte der Baernfarn. 

 

 

Roana ging eilig ins Freie, ohne zu antworten. Die Situation gerade eben war völlig unwirklich gewesen. Aber auch auf dem Marktplatz hatte sich die Szenerie verändert.  

Ihr Stiefel verhedderte sich in irgendetwas, was sich als ursprünglich orangefarbenes, jetzt ziemlich verschmutztes Bändchen entpuppte. Tatsächlich, von vielen Häusern waren die Gänseschleifen abgerissen worden. Mal hingen sie am Nachbarhaus, mal in einem Baum oder einem Strauch. Oft waren sie einfach in den Dreck gefallen. 

Auch die "Rohalskreuze", die wohl Szepter und Amtsstab symbolisieren sollten, waren vielerorts abgewaschen worden. Die Schandzeichen hatten sich in purpurrote Kleckse verwandelt, die nun eher nach einem Dumme-Jungen-Streich aussahen. Hie und da war die Farbe herabgetropft, von Wänden oder Türen, und bildete kleine Pfützen.  

Roana hob den davongerollten Helm und die nicht mehr ganz so weiße Fahne auf. Kopfschüttelnd wrang sie das Wasser aus. Dann sah sie den Weibel der Ismenischen, der ihr störrisches Streitross am Zügel heranführte. 

Hagen Wehrheimer schniefte eine Triefnase hoch, im wasserglänzenden Gesicht, und strich die patschnassen Haare zurück. "Da habt Ihr Euren Saboteur wieder, edle Dame. Hat nen Hellebardenständer umgerannt und zwei von den Schlotzigen..." Der Pfahlgardist übergab das Pferd. 

Einer seiner Gefährten traute sich ebenfalls aus der Deckung,griff nach seiner heruntergefallenen Sturmhaube, goss den Inhalt aus und befestigte das verrutschte schwarzgelbe Band wieder. Das erste Schwein lief auch schon wieder herum, gefolgt von einer gackernden Hühnerschar.  

Malachanias von Zaunberg hielt derweil stumme, etwas ratlose Zwiesprache mit dem Sonnengott, im hellen Nachmittagslicht. Der Custos erinnerte nun eher an einen triefnassen Efferdpriester, nach einer Runde im Ochsenwasser. Zum Glück begann der Götterfürst den Marktplatz wieder zu trocknen, es schien heißer zu werden als zuvor, aber auch schwül.   

Der Weibel und die Unterhändlerin sahen sich für einen Moment merkwürdig in die Augen, mit hartem, aber auch durchdringendem Blick, der dem Rondrianer, nicht dem Feind, hinter Rüstung und Waffenrock galt. Hagen Wehrheimer schlug die Hacken zusammen und die Faust aufs Herz. Roana erwiderte nach kurzem Zögern den Kämpfergruß. Hatte der Ismenische ihr Zwiegespräch mit Deggen mitbekommen? 

"Also, ich hol dann mal Ismena", brummte der Mersinger. "Bevor der Drachensohn uns noch mehr züchtigt."

"Drachensohn?" fragte Malachanias, der gerade seinen Umhang ausgeschleudert und notdürftig dunkle Schlieren von der Robe gewischt hatte. 

"Kor, der Donnernde Himmelsreiter", sagte der Weibel mit rauer Stimme und hustete seine feuchten Atemwege frei. "Der Sohn der Rondra, der damals die Schwarze Klinge geschwungen hat. Ich glaub, der zählt auch zu den Sokramoriern." Hagen Wehrheimer schaffte es, kein bisschen spöttisch zu klingen.  

Alrik spähte unter dem Torbogen hervor, unter den er sich beim Nahen des Gewitters geflüchtet hatte,

und zog hektisch an der Cigarillo: ein “Geschenk” Adrans, das der verjagte Baron im Schloss zurückgelassen hatte.

Die kleine Zigarre glomm im Halbdunkel des Durchgangs und war fast fertig geraucht. Mit nervösem Husten warf der Baron von Friedwang den Stummel auf den Boden und trat ihn aus. 

"Man wirft seinen Unrat nicht einfach auf Sumus Leib, junger Herr!" krächzte ein weißhaariges Mütterchen, das sich mit einem eiernden Holzschubkarren und einem Weidenkorb wieder auf den Platz wagte, nun, da das Gewitter weitergezogen war. 

Alrik lachte, mehr wegen der breiten "Oppschteiner" Mundart. "Sonst geschieht was?" fragte der scheinbar Einäugige frech. 

"Das hier ist eine Hexenbaronie!" Die Alte hob drohend den Finger, was scherzhaft gemeint sein mochte oder auch nicht. 

"Ist das so? Ich sehe gar kein Schandmal an deinem Kittel!" Der Baron war amüsiert, dass ihn seine Gegenüber nicht als Herr von Friedwang erkannte. Aber warum sollte sie das auch? 

Die Oppsteinerin murmelte etwas Unverständliches und schob den Karren weiter. Hoffentlich bekam er jetzt nicht drei Tage Flinken Difar! Zu allem Überfluss huschte auch noch ein schwarzweißes Kätzchen hinterher, schnupperte angewidert am Glimmstängel und verschwand.  Wie eine Hexenkatze sah der Stubentiger aber nicht aus.  

Alrik hob den Stummel auf und warf ihn beiläufig in einen Eimer. "Praiostag wird nicht gearbeitet", rief er der Frau  launig hinterher. 

"Unser heiliger Wochentag ist der Erdstag!" rief die Alte und machte sich daran, die vom gespaltenen Baum gefallenen Äpfel aufzulesen, im Wettstreit mit einigen Bauernjungen, die sie keifend vertrieb. Das Obst sah ziemlich unreif aus, wahrscheinlich war es nur als Schweinefutter brauchbar. Oder für irgendwelche Hexenrituale? Offenbar war der Baum am Marktplatzrand im Allmendebesitz gewesen.  

Der Regen hatte die meisten Rohalskreuze von den Häusern gewaschen, wie Alrik erstaunt feststellte. Dem Baron sollte es recht sein. Bislang hatte er Hochwürden für vernünftig gehalten, zumindest vernünftiger als diesen Zwergpriesterkaiser Ucurian. 

Seitdem Malachanias sich mit Baronin Oleana von Rosenbusch getroffen hatte, war er selbst ein kleiner Eiferer geworden. Ob er sich den Posten des Inquisitionsrats verprach, sobald die Bregelsaum Gräfin des Sichelhags werden würde? In der Wildermarkzeit hatte sich der Siegestempel jedenfalls eingebildet, den fehlenden Grafen von Wehrheim ersetzen zu dürfen, von Friedwang, insofern es um die Rechtsprechung ging. Eine Gemeinschaft ohne Richter sollte sich “in der Noth des Gesetzes” an einen Geweihten halten, hieß es in Rohals Ius Concordia, Passus LXIV. Dieses Gesetz, das ironischerweise von einem Magierhalbgott stammte, hatte die Friedwängisch-Oppsteinische  Praioscommission sogar Alrik mal um die Ohren gehauen, als vermeintliches Grafengericht - eine fast schon kriegsherrliche Amtsanmaßung, die letztlich auf einer plumpen Fälschung beruht hatte. Einer Fälschung des Hohen Commisarius Praiodan Bullenschläger...mochte er in den Niederhöllen darben. 

Irgendwie passten die Rohalskrücken in diesem Fall sogar...Aus Sicht Malachanias war das Dorfgericht kompromittiert, einen neuen Herrscher gab es noch nicht. Aber das war schon eine sehr gewagte Rechtsauffassung.  

Alrik hob einen grünlichen Apfel auf, wischte ihn ab, biss hinein und verzog angewidert den Mund. Sauer - vor dem Rondramond brauchte man dieses Obst nun wirklich nicht zu pflücken. Ob das Bäumchen so eine Art sokramorisches Peraineheiligtum gewesen sein sollte? Die Sokramorier galten ja als eifrige Baumverehrer. "Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!" Das Zitat eines Dieners des Lebens kam ihm in den Sinn. Das Gewitter hatte schon ein bisschen wie ein Weltuntergang gewirkt. Hatte der Zorn des Kor dem Praioten gegolten - oder den Bauern, die entgegen der Abmachung in den Kampf gezogen waren? Wortbrüche aller Art sollten dem Rondrasohn ein Greuel sein. Der hatte immerhin das Götterschwert Sokramor geschwungen - so dass das Unwetter vielleicht auch eine Warnung war, es mit der Verfolgung der "Alten Kulte" nicht zu übertreiben.  

Erstaunt sah Alrik, wie die Unterhändlerin aus einem Laubengang auf den Marktplatz zurückkehrte, ihren Helm aufhob und die Marbofahne auswrang, als wäre sie mit den Tränen der barmherzigen Borontochter getränkt. Hatte sie wirklich gerade mit Deggen von Baernfarn geplaudert, Ismenas Vater? 

Dann kehrte Weibel Wehrheimer auch schon mit dem Streitross zurück, das die Adransche auf den Boden der Tatsachen befördert hatte. Geschah ihr Recht. Irgendwie kam ihm die Adelige bekannt vor. "Du da, wie heißt die Frau?" fragte er einen rotwangigen Oppsteiner Landmann. 

Der Knecht senkte scheu den Blick und fremdelte. 

"Das ist die hohe Dame Roana von Hochfels" murmelte der Bursche und sah an Alrik vorbei. Womöglich schielte er auch.  

"R...Roana von Hochfels". Alrik schob mit dem Fuß eine zersplitterte Schindel beiseite. Von denen lagen einige auf dem Marktplatz, neben abgerissenen Ästen und Blättern.

Die Schwester von Lares und Corelian? Alrik hatte sich nur einmal wirklich mit ihr unterhalten, als sie ihm auf Redenhardts Hochzeitsfeier Avancen machen wollte. Ihm, der selbst frisch verheiratet gewesen war. Nachdem Rahjadan von Bregelsaum-Rosenbusch die Hochfelserin abgewiesen hatte, der vormalige Baron zu Rosenbusch. Oleanas Vorgänger und Schwertvater, ein Riese von einem Mann. Den gab es auch schon nicht mehr. Heiliger Assaf, war das wirklich schon ein Vierteljahrhundert her? Gleich danach hatte sich die junge Frau in die Arme Aldares von Baernfarn-Helligfarn geworfen...Offenbar war die Rittfrau von Hochfels ein wenig naiv - und "halbelfisch" veranlagt? War das der Grund, warum eine Rondragläubige wie sie noch immer einem Sokramorier wie Adran die Treue hielt? Tändelei mit beiden Geschlechtern, das war etwas, was außerhalb der "Hexenbaronie" ungern gesehen wurde... 

Hagen Wehrheimer salutierte knapp, Roana erwiderte den Gruß. Der Weibel drehte sich um - gerade in dem Moment, als Ismena vom Praiostempel herbei eilte, wo sie mit anderen Gottesdienstbesuchern Zuflucht vor dem Gewitter gesucht hatten.  Gut sah sie aus, Deggens Tochter, in ihrem Festtagsgewand - auch wenn der markante Halsschmuck mit der Gänsekette bereits den Spottnamen "Mersinger Halsbändchen" trug.  

Wie auch immer, offenbar sollte es Verhandlungen geben. Alrik stellte sich beiläufig zu Malachanias, dessen Tempelpatron er streng genommen war (als Finanzier der Siegesbasilika lag die Baulast bis heute größtenteils bei ihm). 

"Gibt Adran endlich auf, hab ich das vorhin richtig gehört?"  

"Ja und Nein", grollte der Prätor und richtete seine Robe. Kurz wiederholte er die Forderungen des Oppsteiners. 

"Niemals werde ich einem solchen Dämonenpakt zustimmen! Dämonenpakt, Feenpakt, wie immer man es nennen will. Was für ein Schmierentheater!" 

Der Mondschatten sah sich um. Der Platz zwischen den schmucken Fachwerkhäusern begann sich zu füllen. Eine illustre Bühne bekam die hübsche Hochfels schon mal, in ihrer schimmernden Rüstung.

 

"Nun, für mich ist offensichtlich, was Adran plant", sagte der Spitzbart. "Er möchte einen Keil zwischen uns und den Oppsteinern treiben..." 

"Den gibt es schon längst." Dankbar nickend nahm der Hexenkommissar den Hut entgegen, der ihm von einem katzbuckelnden Einheimischen gereicht wurde.  

"Ja, aber ich merke an Eurem Gesichtausdruck, dass Ihr die Falle selbst schon erkannt habt", sagte Alrik mit Basarhändlermiene. "Lehnt Ihr den Schwur ab...nun, dann könnten sich die Sokramorier auf die Seite Adrans stellen! Bis hin zum offenen Aufstand." 

"Gerade deswegen gehört Adran vor ein Glaubensgericht! Für seine ständige Aufwiegelei..." Malachanias schüttelte angewidert die nassen Ärmel aus. 

Alrik räusperte sich. "Nun, wenn ich Euch einen guten Rat geben kann...mit meiner Erfahrung in weltlichen Dingen. Ich spreche hier auch als Geheimer Kammerherr von Erlaucht Swantje. Vergesst nicht, Adran ist nicht der Abstammung, aber dem Namen nach ein Berlînghan, wie Swantjes Schwager. Die Hohe Politik, versteht Ihr, Hochwürden? Rommilys...Gareth...Methumis....Horasia?!" 

Dem Mondschatten gelang es, die Namen der Herrschersitze so zu betonen, so dass sie der Eitelkeit des Commissarius schmeicheln mussten. "Man beobachtet Euch, in der Aldeburg, habe ich mir sagen lassen. Man beobachtet Euch genau...ob Ihr in der Lage seid, nicht nur in Bauernstuben standfest zu bleiben...sondern ob Ihr Euch auf wirklich glattem Parkett bewegen könnt. Auf kaltem, glatten Marmorboden, sozusagen, der keine Gefühlsregungen duldet. Dort, wo die höheren Aufgaben warten." 

Malachanias tropfte eine Weile vor sich hin, schien aber langsam wieder etwas sonniger gestimmt zu sein. "Das ist mir schmerzlich bewusst. Dass in der Kirchenpolitik mitunter Kompromisse nötig sind." 

"Dann seht diese Geschichte hier als eine kleine Prüfung...eine Fingerübung, inwieweit Ihr verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen versteht. Für eine wirklich nachhaltige Bekehrung der Abtrünnigen. Nicht allein mit Zwang und Bestrafung, wie bei den Novadis..." 

Ismena hatte einige kurze Worte mit Roana gewechselt und eilte nun auf Malachanias zu. 

"Hochwürden? Was ratet Ihr mir?"  

"Ihr seid die künftige Hochgeboren von Oppstein", sagte Malachanias gedehnt. "Ich lege nur Wert darauf, dass die Gebote und Lehren der Zwölfgötter eingehalten werden. Entsprechend dem Silem-Horas-Edikt, das im 98sten Jahr vor dem Fall des sündigen Bosparan erlassen worden ist." Der Praiosgeweihte sah sich um. "Womit es sich bei den Herrschern Alverans um die wahren Alten Götter handelt...anders als die Sokramoranbeter behaupten." 

Aufgeregtes Gemurmel, zumindest bei denen, die das purpurne X trugen. 

Mit Ratgeberräuspern mischte sich Alrik ein. "Verzeiht, Hochwürden, die Verehrung von Aves, Ucuri, Nandus, Ifirn, Swafnir und Kor ist gemäß Edikt ebenfalls erlaubt." 

"Das weiß ich wohl, Euer Hochgeboren. Alle anderen Wesenheiten wurden von Silem eindeutig als falsche Götzen verdammt." Malachanias hatte laut in die Runde gesprochen. "Darunter zählen auch...Gilborn verzeih....dunkle Gestalten wie Sokramor, Satuaria und Levthan. Von irgendwelchen Feenwesen, Kobolden und Gespenstern ganz zu schweigen."  

Die Unruhe auf dem Platz wurde größer.  

"Solange keine grobe Unsitte oder Böses geschieht...sollte es keine Verfolgung geben." Ismena war verlegen. Am liebsten hätte sie die Entscheidung noch ein wenig hinausgezögert. Dann sah sie ihren Vater aus dem Laubengang auf sich zutreten und begütigend nicken. 

"Nun, jeder weiß, zu welchen Göttern ich bete", sagte die Adelige laut. "Firun und Ifirn, deren Wirken ist für mich zuvörderst gemeint, sobald von Alten Kulten gesprochen wird. Ebenso Tsa in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Solange deren Gebote gewahrt bleiben, werde ich mich nicht gegen das hiesige Volksbrauchtum stellen." 

"Betet Ihr nicht auch zu Travia?" fragte Malachanias spitz. 

"Gewiss, eine menschenfreundliche Göttin der Barmherzigkeit und Milde." Ismena ließ ihre Worte nachwirken. Sie spürte, dass sie im Moment nicht weitergehen konnte, weder in die eine noch in die andere Richtung. 

Roana nickte. "Dann werde ich das Adran so hinterbringen", sagte sie. Betrübt blickte sie in die Runde. 

"Allerdings müssen Worten auch Taten folgen. Was ist mit den Oppsteinern, die gezwungen worden sind, schandbare Tracht zu tragen?" 

 

Malachanias straffte sich. "Auf Untaten müssen Strafen folgen. Ihr habt Ismena von Oppstein gehört - wer den Geboten der Zwölfe zuwiderhandelt, wird bestraft. Rondra selbst hat gerade ihren Zorn kundgetan und offenbart, dass sie ganz Oppstein für schuldig hält, nicht nur Einzelne. Schon wer dem Bösen nicht widersteht, dient der Finsternis. Aber Praios ist ein Gott, der es nicht nötig hat, Wahrheit, Recht und Ordnung mit Gewalt durchzusetzen. Am Ende des Tages zählt die Einsicht der Sterblichen. Jeder Mensch ist frei, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden, darin liegt das Geheimnis von Gut und Böse. Aber auch Umkehr ist möglich. Das Tragen der Schandmale dient dazu, den Sündern Gelegenheit zu geben, über ihre Verfehlungen nachzudenken...bis zum Ende des Heiligen Monats des Götterfürsten mögen sie versuchen, sich zu bessern und der Integritas anzunähern, dem Zustand der Vollkommenheit ihrer Seele. Vollkommenheit, das ist das Gegenteil von Verkommenheit, die sich leider in dieser Baronie ausgebreitet hat." 

Soetwas wie Erleichterung war zu spüren. Bis zum Ende des Monat war es nicht mehr lange hin. Anderthalb Wochen vielleicht. 

"Allerdings scheinen auch Rondra und ihr Sohn Kor erbost zu sein. Darüber, dass Krieg gegen die Diener des Wahren Glaubens geführt worden ist und immer noch geführt wird. Dass das niedergelegte Götterschwert Sokramor höher in Ehren gehalten worden ist als der Träger der Schwarzen Sichel. So sollen diejenigen unter den Verfemten, die besonders schwer gesündigt haben, das Zeichen ihrer Schande auch noch im Rondramond tragen, um Alveran zu besänftigen."

 

Koppeln, 20. Praios 1046

 

Albrecht war gut zu Fuß. Seine Jahre auf der Wanderschaft, die ihn nach Weiden wie auch ins Bornland und nach Tobrien geführt hatten, hatten ihn ausdauernd und abgehärtet gemacht. Der heilige Jarlak wäre stolz auf ihn gewesen, dachte er manchmal, oder zumindest wünschte er sich das. Sogar weit im Süden ehrte man den Heiligen Jarlak, man rief ihn an als Schutzpatron gegen die Verweichlichung. Nun, um sogar im Horasreich bekannt zu werden musste man als Firuni sicher viel geleistet haben.

Albrecht brauchte für den Weg hinab bis Koppeln, einem der größten Dörfer der Baronie Oppstein, mehrere Stunden strammen Fußmarsch - auch wenn der Weg bergab führte und der Rückweg sicher etwas länger dauern würde, war das, auch unter den sommerlich guten Bedingungen, eine gute Marschleistung. Ebenso gelang es ihm rasch, im Heerlager Ismenas - das am Fuß des Burgberges der Schwerterburg an strategisch günstiger Stelle errichtet war, zur jungen Thronprätendentin vorgelassen zu werden. Ihre Hochgeboren hatte sich zu Beratungen mit Hochwürden Malachanias und Hochwürden Deggen und weiteren ihrer Berater zusammengefunden. Adrans Kapitulationsangebot war so nicht annehmbar gewesen, vor allem war, seit Malachanias im Praiostempel die Zügel an sich gerissen hatte, auch niemand bereit gewesen, einen Eid, wie den von Adran gefordert, den praioskirchlichen Segen zu geben. Eine Situation, in der noch keine Entscheidung gefallen war, wie Ismena weiter vorgehen wollte. Einen verlustreichen Sturmangriff auf die Schwerterburg wollte sie jedenfalls gegenwärtig nicht verantworten. Die Gedanken der geweihten und nicht geweihten Berater drehten sich im Kreis.

„Nun gut… dazu dann später mehr“, fasste Ismena zusammen, als man ihr den Besucher ankündigte. „Dann wollen wir doch mal hören, welche Kunde uns aus Goblinwehr erreicht.“

Trotz der praioswarmen Temperaturen und des langen Wegs, den der erkennbar als Geweihter des Firuns gekleidete Mann hinter sich hatte, hatte sich keinerlei Schweiß im Gesicht des Firuni angesetzt, war kein Zeichen von Erschöpfung zu bemerken. Ismena musterte den Ankömmling mit aufmerksamem Blick.

Der Firungeweihte verneigte sich kurz, aber mit angemessener Höflichkeit. „Euer Hochgeboren zu Oppstein, Hochwürden Malachanias und Hochwürden Deggen, ehrwürdige Damen und Herren, ich bin Albrecht Karrer aus Schnayttach, zu Diensten.“ grüßte er. Dass er die Thronprätendentin mit Hochgeboren ansprach, und somit ihren Anspruch die Baronie Oppstein vorauseilend anerkannte, war von Albrecht beabsichtigt und entsprach keinesfalls Unwissenheit bei höfischen Etiketten. Die Mischung aus höfischem Respekt und zugleich selbstbewusstem Auftreten war durchaus beabsichtigt. Die Kirche des Firun mochte sich an Einfluss und Bedeutung - zumindest außerhalb der Sichel - nicht mit der des Praios und der Rondra messen, aber als Geweihter war er sich dennoch seines Standes bewusst und würde seine Kirche nicht unter wert repräsentieren. „Es freut meine Collegae der Kirchen der Zwölf göttlichen Geschwister sicherlich, was ich für die Kirche des Herrn Firun berichten kann. Auch die Glaubensgemeinschaft des Wintergottes bemüht sich um die Seelen der Menschen in Oppstein in dieser Zeit des Umbruchs. Euch, Hochgeboren, darf ich für die schwere Bürde, die mit Eurem Amt nunmehr auf Euren Schultern lastet, alles Gute und Firuns Segen wünschen, im Namen des Hauses des Firun zu Goblinwehr.“

Ismena lächelte. Gut, dass schöne Worte allein manchen allzu leicht über die Lippen kamen, wusste sie. Dennoch war es ein gutes Zeichen, Treuebekundungen zu bekommen, zeigte es doch, dass ihre Herrschaft in Oppstein angekommen war. Nun, dass die Kirche des Firun nicht auf Adrans Seite stand, war zu erwarten gewesen. Nicht allein aus religiöser Motivation heraus. Auch weil der Einfluss mancher firungläubiger Familien der Region, nicht zuletzt der Familie ihres Vaters, durchaus gegeben war. Ihre Kusine Odiliane war vor einigen Jahren sogar ins Noviziat der Firunkirche gegangen. 

„Das ist erfreulich zu hören. So bestellt meinen Dank für die freundlichen Worte und Grüße an die Geweihtenschaft des Wintergottes.“ antwortete Ismena freundlich. „Doch ihr seid sicher nicht allein wegen Eurer Grüße den weiten Weg von Goblinwehr bis zu uns gelaufen. Nun… die Gesetze der Gastfreundschaft gelten Uns natürlich viel, auch in einem Feldlager. Hat man Euch nach dem Weg Wasser zu trinken gereicht?“

Die höfliche Frage war bewusst gewählt, setzte sie doch, auch ohne den Namen der Herdmutter zu erwähnen, deren Werte ins Bewusstsein. Da die Gastfreundschaft in allen Religionen, auch bei den Anhängern der Alten, ein Wert an sich war, konnte eine solche höfliche Frage niemanden provozieren oder herausfordern, setzte aber dennoch ein Zeichen. Kein Zeichen, das man gegenüber einem Firunpriester hätte setzen müssen. Aber auch keines, das schadete, und Ismena war dezent traviagefälliges Reden zur Routine übergegangen - womit sie sich jedoch nicht nur von den Anhängern der Alten absetzte, sondern zugleich auch von dem missionierenden, teils strafendem Eifer der Vertreter der Praioskirche. Es war Ismenas Strategie, sich als gütige Landesmutter und nicht nur als strenge neue Machthaberin zu präsentieren.

„Nun, seid bedankt, als Firuni bin ich natürlich immer gut ausgerüstet.“ Albrecht deutete auf den vollen Wasserschlauch, den er umgehängt hatte. „Und der Herr Firun sorgt sich um die Menschen, die auf seinem Pfad wandeln. Saubere Bäche gibt es ja zuhauf in der Sichel.“ Albrecht blickte mit firungefälligem Ernst und dennoch mit freundlicher und dankbarer Mine zur jungen Baronin. „Aber ihr habt natürlich Recht. Meine Kirche schickt mich, euch mitzuteilen, dass sie es unternimmt, die Kapelle des Herrn Firun am Bogen des Weißen Jägers, nahe Goblinwehr, instand zu setzen, zu erweitern und dort Gläubigen dauerhaft offen zu stehen. Um es kurz zu sagen. Die Kirche des Wintergottes hat sich entschlossen, aus ihrer Kapelle einen Tempel zu machen.“

Ismena hatte von diesen Plänen bereits gehört. Ihr Onkel Veneficus, der, wie meistens, gut unterrichtet war, hatte vor einigen Tagen erzählt, dass Geweihte aus Gallys und anderen Orten nach Oppstein gekommen waren. Als gebürtige Gallyserin hegte sie ohnehin eine Sympathie für die Kirche des Schutzgottes ihrer Heimatstadt.

„Nun, das sind doch gute Nachrichten, meint ihr nicht auch, Hochwürden?“ wandte sie sich dem Präter der Praioskirche zu. „Die Kirchen von Praios und Travia sind nicht allein mit der schweren Aufgabe, sich hier nach allem um das Seelenheil der Menschen zu kümmern. Die alte Allianz der Kirchen von Praios und Firun, die ja in der Sichel eine Tradition hat, zeigt ihre Wirkung.“ Ismena lächelte Malachanias entwaffnend an.

„Nun, ja, gewiss“ begann der Praiot. Mit der Kirche des Wintergottes verband Malachanias nicht viel. Zuvor, in Friedwang hatte er nicht so viel mit den Dienern Firuns zu tun gehabt. Die meisten Anhänger des Firun hielten sich weniger in Städten und größeren Siedlungen, sondern vielmehr in der Wildnis oder den abseits gelegenen Höfen auf.

„Ja, nun, in dieser Sache wünsche ich der Geweihtenschaft des Firun viel Erfolg“ beschied Ismena.

„Hochgeboren, seid bedankt“ antwortete Albrecht artig. „Seht es mir nach, wenn ich als Waidmann hierbei unerfahren bin. Aber meine Glaubensbrüder und ich, wir fürchten, wir könnten einen, wie sagt man bei den Horasiern, Fauxpas, begehen, wenn wir zur Einweihung des Tempels nicht den örtlichen Edlen einladen würden. Unser Haus soll den Reisenden, den Jägern und Pilgern, auf dem Bogen des Weißen Jägers offenstehen, wir wollen aber auch gute Nachbarschaft zu den Menschen von Goblinwehr, und natürlich auch zum Edlen, der diesem Dorf vorsteht. Doch dieser ist… verhindert.“

Ismena zog fragend eine Augenbraue hoch. Sie ahnte worauf der Geweihte hinaus wollte.

„Dardulan von Sturmfels, ja“ warf Hochwürden Deggen ein. „Das stimmt, er wurde verletzt, wird noch von unserem Feldscher behandelt. Auch er genießt unsere, naja, Aufmerksamkeit.“ Gastfreundschaft konnte er ja nicht sagen. Schließlich stand der Edle unter Arrest, wenn er auch, seinem Stand gemäß, nicht in Ketten lag. Ismena hatte gegenüber den gefangenen Edelleuten verfügt, dass diese nicht in Eisen gelegt werden sollten, soweit sie versprachen, weder zu fliehen noch ihre Hand gegen Ismenas Gefolgsleute zu erheben, sondern den Hausarrest befolgen würden. Nun, der verletzte Dardulan hätte ohnehin kaum weit kommen können.

„Vor allem aber ist er gefangen“ erinnerte Malachanias. „Er diente dem, der nicht den Zwölfen diente.“ dozierte Malachanias kühl.

„Das mag sein…“ erwiderte Albrecht. Dennoch ist er der Herr von Goblinwehr. Oder haben Ihre Hochgeboren einen anderen zum Edlen von Goblinwehr ernannt?“

„Nein“ beschied Ismena knapp. „Darf ich Euer Ansinnen, Hochwürden Albrecht, so verstehen, dass ihr um die Freilassung des Sturmfelsers ersucht?“

„Nun, wenn es Euch denn beliebt, Hochgeboren, so bitten wir um Prüfung, ob in Ifirns Namen Milde statt Strafe gewährt werden kann, so wie nach jedem harten Winter irgendwann Tauwetter einsetzt und so, wie nach jeder kalten Jahreszeit erneut Knospen sprießen, so wie viele Tiere aus ihrem Winterschlaf erwachen und dem Gefolgsmann Firuns neues Jagdwild bieten, so bitten wir um Milde statt Strafe für den Herrn von Sturmfels, denn nach jedem Ende erfolgt auch ein neuer Anfang, das lehrt uns die gütige Tochter Firuns.“

Prätor Malachanias dachte kurz nach. Dass Dardulan von Sturmfels, abgesehen von seiner Gefolgschaft dem falschen Baron gegenüber, sich irgendetwas hätte zu Schulden kommen lassen, wusste er zumindest nicht. Aber war es klug, jetzt einen möglichen Gegner frei zu lassen? Noch war das letzte Gefecht gegen Adran nicht geschlagen, und Dardulan war ein guter Kämpfer. Viel mehr wusste er allerdings nicht über den Sturmfelser. Nun, er wusste, dass das Haus Sturmfels selbst einflussreich war und einen grundsätzlich rechtschaffenen Ruf hatte, und einzelne Angehörige dieser Familie durchaus reichlich auch an die Kirche des Praios spendeten. Malachanias brummte.

„Hat dieser Sturmfels sich losgesagt von den wilden adranitischen Umtrieben des vormaligen Lehnsherren? Hat er um Verzeihung gebeten? Hat er die Beichte abgelegt?“ insistierte er, ohne sich gänzlich festzulegen.

„Und nicht minder entscheidend,“ ergänzte Deggen von Baernfarn „ist er bereit, seinen Lehnseid gegenüber Baronin Ismena zu leisten?“

„Er wurde noch nicht angehört, Hochwürden!“ lautete die Antwort Gesine Bretzelbecks. Die Befehligerin der Friedwanger Truppen war anwesend gewesen, um über den Zustand der Kampfkraft der ihrigen zu berichten. „Der Medikus hat sich um ihn gekümmert, aber es scheint im besser zu gehen. Er hat keine schweren Blessuren abbekommen. Jedenfalls nichts, was nicht heilen würde. Er humpelt noch stark.“

„Nun, ohne dass der Herr vom Sturmfels angehört wird, er den Lehnseid leistet und sich von adranischen Umtrieben lossagt, können wir Eurem Wunsch jedenfalls nicht entsprechen.“ Beschied Malachanias. Ismena räusperte sich. Inhaltlich stimmte sie den Worten des Prätors zwar zu, doch wäre es an ihr gewesen, darüber zu befinden.

„Na wenn er soweit bei Gesundheit ist… dann hört ihn an. Hochwürden Deggen, würdet Ihr Euch darum kümmern?“ Dass Ismena nicht den Prätor mit der Befragung beauftragte folgte ihrer leichten Missstimmung ob der Voreiligkeit des Praioten.

Ismenas Vater nickte. Vielleicht würde es ihm gelingen, von Krieger zu Krieger, von Edelmann zu Edelmann, das Vertrauen des Sturmfelsers zu erlangen.

 

 

Auf der Schwerterburg, 21.Praios 1046, Feuertag

"Glanzruß" sagte Baron Adran und griff nach oben in den Kamin. Mit den Fingern bröckelte er etwas von der dunkelgrauen Schicht ab, die sich im Inneren des Schornsteins gebildet hatte.

Roana erwartete ein weiteres empörtes Kopfschütteln Seiner Hochgeboren. Schließlich hatte der Oppsteiner die Burg ausfegen und blankschrubben lassen, in den letzten Tagen – ganz so, als wäre er mit seinen Getreuen nur deshalb zur Schwerterburg geeilt, um wieder einmal ordentlich aufzuräumen, nach längerer Abwesenheit.

"Die Horasier stellen daraus Bister her." Adran verrieb die krustige Asche zwischen den Fingerkuppen. "Eine Tusche, die Gemälden einen wunderbaren warmen, erdbraunen Farbton verleiht." Der Hochadelige zückte sein Taschentusch und säuberte sich die Hand. "Vielleicht sollte ich dir etwas davon kochen lassen? Jedenfalls zeigt es sich, dass man Holz gut ablagern muss, damit es sauber verbrennt. Mindestens zwei Götterläufe, habe ich mir sagen lassen."

Mit verschränkten Armen ging der Oppsteiner in der Kemenate auf und ab, im pelzbesetzten Burgherrengewand. Dann verharrte er zwischen den hölzernen, uralten Stützbalken. Lares saß derweil am Tisch, mit luftigem Hemd und knackiger Lederhose, während sein Rötelstift über ein Stückchen Papier glitt. Roana befürchetete schon, es könnte ein weiteres Porträt seines geliebten Adran werden. Aber die rötliche Figur, die auf dem Untergrund entstand, sollte wohl Khabla darstellen, der für die Liebesgöttin den gehörnten Sohn Levthan austrug. Roana schluckte. Allein die Vorstellung, ein gehörntes Etwas zur Welt bringen zu müssen, bereitete ihr Ungemach. Dann noch mit der Anatomie eines Mannes. Die Hochfelserin hoffte, dass Rahja das Kindlein auf göttliche Weise ins Licht des Praios gebracht hatte.

"Blutstein gefällt mir besser", sagte Lares und blickte Roana durchdringend an. Wollte er der Göttin allen Ernstes ihr Antlitz verleihen? Erschrocken trat die Rittfrau näher – das wäre nun wirklich Blasphemie gewesen! Erleichtert sah sie, dass es Meriban war, die neben dem Schutzheiligen der Schönheit stand, dessen Schwester, mit der wiederum Firun die milde Ifirn gezeugt haben sollte. Roana konnte das "Herumgedruckse" Ismenas auf dem Marktplatz verstehen. Der Kult der Zwölfgötter war nur schwer auf das Pantheon zu begrenzen, wie es sich Silem Horas vor fast zwölf Jahrhunderten vorgestellt hatte. Beim besten Willen nicht.

Der Burghauptmann betrachtete den Rötelstift: "Unsere Goblinfreunde sagen, dass dieser Stein aus dem Blut der Suukram entstanden ist, einer Tochter der Sumu, die vom Bösen selbst erstochen wurde. Als sie sich auf einer Blumenwiese zum Schlafen niederlegen wollte. Die Erdmutter hat dafür gesorgt, dass sie in den Bergen weiterleben darf...Oder war Suukram ihr Sohn? Wer weiß das schon." Versonnen schnupperte Lares an einer Vase mit Feuerlilien. Roana hatte die rondraheilige Blumen auf dem Weg zur Burg selbst gepflückt.

"Warte nur, bis dieser Möchtegern-Inquisitionsrat nach Koppeln kommt." Adran lächelte verschmitzt, drohte mit dem Finger und himmelte Lares dabei mit weichem Blick an. Die beiden erlebten gerade ihren zweiten Frühling, mitten im Praios, hoch oben in der abgelegenen Bergeinsamkeit. Hier gab es endgültig keine Traviakirche mehr oder altbackene Höflinge. Den ersten Schreck der Niederlage am Oppenbach hatten die beiden Turteltäubchen jedenfalls überwunden und die Gründe dafür verdrängt. Jetzt taten sie so, als würden sie nur zur Sommerfrische auf der Fluchtburg weilen.

"Du kommst spät, Schwesterherz", sagte Lares, während er mit leichtem Strich das Gesicht der Meriban skizzierte. Dann blickte er vorwurfsvoll hoch. "Wir dachten schon, du würdest auf den Spuren unseres ungetreuen Hofhexers wandeln. Oder das Rondritscherl hätte dich in den Kerker geworfen..."

"Es gab fast zwei Tage Dauerregen", sagte Roana, leicht verärgert. Noch immer spürte sie die Prellungen und Blutergüsse vom Sturz. "Mit heftigen Gewittern. Hab zwischendurch in Moosenweiler nach dem Rechten gesehen." Die Ritterin blickte ihren Bruder durchdringend an. Ganz ungefährlich war ihre Mission nicht gewesen, auch ohne die Widrigkeiten des Wetters.

"Lass gut sein, Lares. Es wurden schon Ritter vom Blitz erschlagen." Adran ließ wieder mal nicht durchblicken, ob seine Worte scherzhaft oder ernst gemeint waren. "Ich sage ja, die Bergmutter ist auf unserer Seite...mir gefällt es, wenn wir noch ein wenig Zeit gewinnen. Warum die Verzögerung nicht auf das Wetter schieben?" Der Baron blickte durch das schießschartenähnliche Fenster, hinter dem der Himmel schon wieder bewölkt war. "Zumindest Efferd scheint noch auf unserer Seite auszuharren."

"Was ist nun eigentlich in Oppstein herausgekommen?" Lares gähnte gelangweilt und schob die Kerze näher an sein Kunstwerk. Den tadelnden Blick Adrans, der zum Kerzen- und Fackelsparen aufgefordert hatte, ignorierte er einfach.

"Einen Schwur hat Ismena schon einmal nicht geleistet", sagte der Baron, nachdem er sich kopfschüttelnd vom Anblick der blakenden Lichtquelle losgerissen hatte. "Hätte ich an ihrer Stelle auch nicht, in Gegenwart eines Praioshochgeweihten. Malachanias hat eine seiner langweiligen Predigten gehalten, das war alles... Ach ja, die Schandzeichen sollen bis Ende Rondramond getragen werden, von den Märtyrern unseres Glaubens".

"Was bedeutet das jetzt für uns?" Lares korrigierte mit einem Bimssteinchen einen kleinen Malfehler. "Nach einem klaren Ja oder Nein hört sich das nicht an. Eigentlich haben wir einen Schwur verlangt, im Gegenzug für unseren Abzug." Der verträumte Blick des Hochfelsers deutete an, dass es ihn hier draußen auf dem Land so langsam gefiel.

Adran blickte in den Kamin. "Odilon hat das verlangt..."

"Odilon, das Nachtgespenst auf der Schwerterburg!" Lares lachte, legte sein Papier auf ein Malbrett und porträtierte seine Schwester Roana unverdrossen weiter, in Gestalt der Meriban. "Also ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was du gesagt hast..."

"Ich nur ein Viertel." Der Baron schritt nun wieder auf und ab. "Wir haben getan, was der Waldläufer von uns verlangt hat, und dabei ein wenig Zeit gewonnen. Ist es meine Schuld, wenn Ismena nicht auf das Angebot eingeht?"

"Zeit, hm. Hat dein Kaminfeger...pardon, Mühlteichreiniger....nicht etwas davon gefaselt, dass es an dem Ort, wo er sich befindet, keine Zeit mehr gibt?"

"Vielleicht war es ja wirklich ein Gespenst", sagte Roana schaudernd und vollführte das Schwertzeichen. Eigentlich mochte sie wehrhafte Burgen und stolze Adelssitze, aber die Schwerterburg war nun wahrlich ein düsteres, freudloses Gemäuer, umwabert von Nebelfetzen im Bergwald. Immerhin, die Luft war hier oben besser als im Oppsteiner Tal, wo man bei manchen Wetterlagen den Qualm der zahlreichen Schmelzöfen bemerkte.

Lares lächelte abschätzig und griff nach dem Trinkhorn mit der Ziegenmilch, die angeblich die Levthanskräfte stärken sollte. Das Horn verkantete sich kurz im handgeschmiedeten Halter, sodass der Edle von Hochfels daran rucken musste. Wie so viele Aristokraten verachtete er die groben, nach Mist und Hüttenrauch riechenden Bauern – und beneidete sie zugleich um die fehlenden Adelspflichten. Es war ein fast schon entrückter Anblick, wenn man sie unbekümmert auf den Almweiden zu Gange sah, die regelmäßig neu eingezäunt werden mussten. Das Scheppern der Kuhglocken gehörte ebenfalls zum Lebensgefühl auf der Schwerterburg, mit gelegentlichem Wolfsheulen bei Nacht.

Der Hochfelser trank einen Schluck und wischte sich den Bart sauber. "Gespenster mischen sich gemeinhin nicht in die Politik ein", verkündete er. "Also, wenn ihr mich fragt...das wirre Gerede...irgendwie erinnert es mich an Baduron. Dieser elende Verräter hat seinen Abgang doch schon lange geplant. Nun will er uns ebenfalls zur Aufgabe zwingen, mit magischen Trugbildern ?!" Der Edle blickte ins Trinkhorn und trank erneut. "Er scheint uns für abergläubische Trottel zu halten."

Adran hatte sich unterdessen seiner Pfeife zugewandt und überlegt, ob er rauchen sollte. Seine Cigarillos hatte er leider im "Palazzo" zurücklassen müssen. "Danke für den abergläubischen Trottel."

"So meine ich es nicht", sagte Lares schnell. "Aber irgendetwas muss es doch mit diesen Erscheinungen auf sich haben. Hesinderei ist die einzige logische Erklärung, die mir einfällt. Barduron ging es doch nie um das Amt des Hofmagiers. Die gekreuzten Schwerter, die haben ihn interessiert..."

"Gekreuzte Schwerter?" Roana merkte gerade, dass sie herumstand wie eine Ritterrüstung. Nun gut, das Strammstehen war sie nun wirklich gewohnt.

"Hab mich nicht allzu oft mit ihm unterhalten". Lares stellte die "Levthansmilch" wieder in den Trinkhornständer und schob ihn mitsamt der beiden Füße ein wenig zurück. "Der Tobrier hat behauptet, die Schwerterburg hätte ihren Namen in Wahrheit davon, dass man von hier aus drei...magische Linien sehen kann, die sich kreuzen wie Klingen. Drüben am Gehörnten Kaiser, über Burg Gryffenstein. Wie sagt man: Kraftlinien? Natürlich sieht man sie nur mit so einem Zauberblick. Viel hab ich nicht verstanden. Irgendwas mit einem schwarzen Strick. Die Mittelreichslinie hat er auch erwähnt. Und Satinavs Ketten? Keine Ahnung, ob die gemeint sind. Aber Satinavs Ketten, das erinnert mich ein wenig an Odilons Gerede von der fehlenden Zeit." Beim Namen Odilon malte Lares zwei Gänsefüßchen in die Luft.

Adran blickte fragend, ebenso wie Roana. "Um den Gehörnten Kaiser zu sehen...dazu müsste man sich schon auf den Bergfried begeben. Und was sollte der mit der Schwerterburg zu tun haben? Die hat ihren Namen eindeutig von der Form". Der Baron legte die Pfeife wieder beiseite. Er wollte nicht als Kettenraucher enden, wie dieser einäugige Streuner Alrik. Hoffentlich holte den Langfinger bald die Blaue Keuche. "Ihrer langgestreckten Form und der Lage auf einem Höhenrücken."

"Immerhin heißt sie Schwerterburg...und nicht Schwertburg." Lares malte unverdrossen weiter. Dann tippte er mit dem Stift an die Lippen. "Vielleicht sind ja die drei Schwertgöttinnen Sokramor, Hazaphar und Mithrida gemeint. Sie stehen für Stärke, Kampf, Gemeinschaft...und ja, die Macht von Nacht und Dunkelheit, die uns umgibt."

"Du scheinst viel Zeit zum Grübeln zu haben, Burghauptmann. Aber die schönen Zeiten im Palazzo Oppstein sind jetzt zu Ende. Früher oder später werden die Ismenischen hier auftauchen. Ein paar Schwachpunkte in der Verteidigung sollten wir ausmerzen...das Buschwerk am Südhang wächst immer noch viel zu dicht. Es fehlt an Wurfsteinen, falls doch ein paar Narren versuchen sollten, den Fels hinaufzuklettern. Was ist mit heißem Pech? Der Halsgraben gehört auch noch einmal gründlich gereinigt..."

Lares blickte zu seiner Schwester, mit "Kümmerst du dich darum"-Miene. An jedem Tag, in dem nicht mehr gekämpft wurde, schien er sich wieder in den alten, leicht verweichlichten Höfling von einst zurückverwandeln zu wollen.

"Ich dachte, unser Abzug wäre beschlossene Sache?" fragte Roana verwundert. "Höhenburg hin oder her...aber mit den paar Alriks werden wir unsere Stellung nicht lange halten können. Alles hängt am Tor. Mit ihrer verdammten Balliste können sie die Zugbrücke mühelos in Brand schießen, gerade wenn sie hochgezogen ist."

"Dann wartet das Fallgatter auf sie, hinter dem Halsgraben." Adran wirkte schon wieder kampflustig. "Wir haben unseren Abzug vorgeschlagen, sicher. Aber wann wir die Schwerterburg verlassen werden, und wohin genau, davon war nie die Rede...selbst wenn wir die Sache mit dem unterlassenen Schwur mal großzügig sehen."

"Aber..."

"Ich werde nur dann abziehen, wenn keiner meiner geliebten Oppsteiner mehr eine Ehrenstrafe erleiden muss. Mir scheint, du hast die Prinzipien einer Belagerung nicht verstanden. Derjenige gewinnt, der länger durchhält – und glaub mir, so ein Zeltlager am Schwerterberg ist im Herbst unangenehmer als das Burgleben. Ismena rinnt das Gold nur so durch die Finger. Irgendwann muss sie Zugeständnisse machen...wenn ihr unmögliches Bündnis nicht schon vorher auseinanderbricht. Ein reines Zweckbündnis aus schlecht getarnten Sokramoriern und völlig verheuchelten Zwölflern.... "

Roana glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Adran war fast schon wieder der Alte: der "hesindiale" Feldherr vor der Schlacht. Welche Zugeständnisse sollte Ismena denn noch gewähren?

"Womöglich hat uns Odilon...oder Baduron...sogar einen Gefallen getan." Adran sprach unverdrossen weiter. "Nun werden die ungetreuesten Diener der Alten Götter merken, dass sie von der traviafrommen Isi nichts als die Knute zu erwarten haben..."

Die Hochfelserin salutierte knapp und wurde mit einer gnädigen Handbewegung hinausgeschickt.

 

Draußen atmete die Rittfrau erst einmal tief durch. Ein Verteidigung der Burg war heller Wahnsinn, in ihrer Lage. Es würde genügen, wenn Ismena regelmäßig Brandspeere in die Burg schoss, was vom Halsgraben aus mühelos möglich war. Der Steinbau würde deswegen nicht in Flammen aufgehen, aber sehr viel Wasser zum Löschen gebraucht werden.

Wasser, das hier oben knapp war. Als echte Offizierin hätte sie widersprechen müssen, aber die beiden schienen ihr jetzt schon zu misstrauen, nach ihrem zweitägigen Ausflug. Roana hatte den ersten Tag genutzt, um sich ein realistisches Bild von der Lage zu verschaffen, in Markt Oppstein. Niemand hatte sie an ihrer "Spionage" gehindert, warum auch? Die Bevölkerung war eindeutig kriegsmüde, sehnte sich nach Frieden, Ordnung und Wohlstand, egal unter welcher Herrschaft, so sie nur erträglich sein würde. Der Gegner verfügte über mindestens drei gut bewaffnete Banner, die teilweise aus den Reihen der gefangenen Söldner Adrans aufgefrischt worden waren. 150 Angreifer standen jetzt gegen 20, vielleicht 25 Verteidiger, ein Verhältnis von bestenfalls eins zu sechs. Dazu kamen die Rosenbuscher und Praiosbüßer, die sich bald schon offen der Seite Ismenas anschließen würden. Daran hegte Roana wenig Zweifel.

In den rondrianischen Geschichten, die sie als Knappin geliebt hatte, da war es immer um Heldenkampf und Opfermut gegangen. Wie bei der Heiligen Ardare, die sich bis zuletzt gegen die herandrängenden Sonnenlegionäre gewehrt hatte, auf den Stufen des Garether Tempels, am Tag des Erntefestmassakers. Nur dass in Adrans Fall kein göttlicher Zweihänder Armalion herabschweben würde. Der einzige Rondrageweihte in der Gegend kämpfte ebenfalls auf der Gegenseite.

Früher, da hatte sie sich eingeredet, dass die Alten Kulte und die Rondrakirche Seelenverwandte wären: auf beiden Seiten hatten unzählige Gläubige das Martyrium erlitten, durch die Praioseiferer - und ja, irgendwie hatte sie sich die Verehrung der Korklinge Sokramor immer als einen Schwertkult vorgestellt. Wie oft hatte sie ihre Waffe in die Erde gesenkt, um daraus neue Kraft zu ziehen, im spirituellen Sinn. Mittlerweile war sie sich nicht mehr ganz so sicher, wie rondragefällig ihre Treue zum Levthansbaron noch war.

Sie merkte, dass sie die schwere Tür in die Kemenate nicht vollständig geschlossen hatte. Einzelne Wortfetzen drangen heraus. Roana wollte anfangs gar nicht lauschen, in anderen Zeiten hätte sie so ein Verhalten als vollkommen ehrlos empfunden. Im nächsten Moment hoffte sie, irgendeinen geheimen Grund zu erfahren, warum Seine Hochgeboren weiterhin ausharrte. Etwas, das ihr einen Funken Hoffnung geben würde.

"... an Swantjes Kurier ein Beispiel nehmen", hörte sie Lares murren. "Der reitet bei Sturm und Dauerregen von Rommilys hierher. Statt sich auf der Gegenseite zu verlustieren. Weiß der Namenlose, was in Roana gefahren ist. Die war doch früher nicht so...so undiszipliniert ?!"

"Das trübe Wetter hat allerdings zur Botschaft gepasst", brummte Adran. "Die vorgeschlagene Apanage ist ein Witz. Soll ich mein Dasein...in Bergthann verbringen, bei den Lüttenhorster Oppsteins?" Der Baron lachte freudlos auf.

"Ich verstehe nicht, dass die Berlînghans...warum stehen die uns nicht zur Seite?"

"Hohe Politik, Lares. Rondane ist glatt wie ein Aal, und nur noch auf dem Pergament Gesandte...dennoch eine vollendete Diplomatin...Calas...wer weiß, was aus Calas geworden ist."

"Ein Landsitz bei Methumis müsste doch mindestens drin sein." Der Edle von Hochfels klang fast schon angetan. "Eine überaus tolerante Stadt, habe ich mir sagen lassen."

"Das Horasreich ist ein überaus teures Pflaster, soweit ich weiß." Der Baron ging aufgeregt im Raum umher. "Ismena wird Augen machen, wenn der Bote bei ihr eintrifft. Ein Teil der Apanage soll vom Haus Oppstein gezahlt werden, das sein schwarzes Schaf in die Wüste schickt....nicht in die Wüste, aber ziemlich nah dran. Ich für meinen Teil hätte auch mit einer Insel im Vizekönigreich Südmeer leben können."

"Das heißt, wir müssen noch eine Weile ausharren, um den Preis hochzutreiben ?!" Lares klang vollkommen kühl. 

 

Ein Geräusch, mehr eine Bewegung, ließ die Rittfrau zusammenzucken. Erschrocken, aber auch schuldbewusst drehte sich Roana um. Vor ihr stand Nele, die Knappin des Barons von Oppstein, im wattierten gelb-roten Waffenrock und sah sie empört an.

"Man lauscht nicht an fremden Türen", flüsterte die junge Frau, eine brünette Halbwüchsige mit schlichter Topfhelmfrisur.

"Wir sind uns nicht fremd, Lares, Adran und ich. Bislang jedenfalls nicht." Roana entfernte sich rasch von der Tür und eilte in Richtung Burghof. Nella von Moosenwaldt, genannt Nele, folgte ihr auf dem Fuße, wie ein beharrliches Schoßhündchen, das seinen Herren beschützen wollte. Im Grunde war es auch so.

Die Hochfelserin beachtete ihre Verfolgerin kaum. Sie musste erst einmal verarbeiten, was sie gehört hatte. Es war nicht allein die Sache mit den schnöden Dukaten - oder Horasdor? -, die sie zutiefst aufwühlte. Es genügte, dass ihr die beiden nichts vom Boten aus Rommilys gesagt hatten. Am Ende weilte er noch auf der Burg?

Auf dem Hof waren ein paar zerschlissene Strohscheiben aufgestellt, mit denen die Neuankömmlinge das Armbrustschießen übten: Vier Halbwüchsige aus dem Dorf, die mehrdeutig Adranskinder genannt wurden, und drei erwachsene Bauernlümmel, die nicht gerade von Hesinde gesegnet zu sein schienen. Nun gut, der narbige Kerl dort war weiland mit Pharraz nach Zweimühlen gezogen, das wusste Roana zufällig. Damit hatte er allen Grund, sich vor der strafenden Hand des Praios zu fürchten. Die anderen Koppeler, ein Bursche und ein Mädchen, sahen aus, als hätten sie eher Angst vor der nahenden Erntearbeit und den anstehenden Frondiensten. Oder waren sie auf der Suche nach einem ungestörten Liebesnest, wie ihr hochgeborener Herr Baron?

Vielleicht war den Koppelern auch das Wasser im Mund zusammengelaufen, beim Anblick der Vorräte, die scheinbar überreichlich auf die Burg gefahren worden waren. Sollte diese "Verstärkung" der Grund für Adrans wieder gewonnenen Frohsinn sein? Roana hätte das armselige Häuflein eher als unnütze Fresser verjagt. Nun gut, ein paar helfende Hände konnten sie in diesem Gemäuer schon gebrauchen.

"Nun bleib doch mal stehen, Mutter." Nele holte sie ein.

Die Rittfrau von Hochfels drehte sich um. Ihre Tochter war groß und kräftig, geworden, mit ihren 19 Götterläufen, eine richtige Amazone. Einfach hatte Roana es mit dem Mädchen nicht gehabt, seitdem deren Vater Wyndor in der Märkischen Schlacht geblieben war. Sie schluckte, als sie erneut den Kummer spürte, nach all den Jahren. Roana von Hochfels-Moosenwaldt, den "vermoosten" Namen hatte sie schon in besseren Zeiten nicht gemocht. Auch wenn sie Ritter Wyndor von Moosenwaldt von ganzem Herzen geliebt hatte, dessen Gesicht sich in Neles Antlitz widerspiegelte.

Hätte sie Adran sagen sollen, dass sie die letzten zwei Nächte auf dem Gutshof verbracht hatte - nicht in Ismenas Armen, wie er es sich vermutlich in seinem Argwohn ausmalte? Kein Strohhalm war im abgelegenen Gut Moosenweiler abhanden gekommen. Selbst die Knechte und Mägde waren alle noch da.

"Wie sieht es zuhause aus?" fragte Nele, ebenso aufgeregt wie erbittert. "Haben die Ismenischen schon alles niedergebrannt?"

"Moosenwaldt liegt abseits des Karrenwegs" sagte Roana lächelnd. "Ist alles noch da...Ich wollte einfach nur ein paar persönliche Sachen mitnehmen...das Bild von deinem Vater etwa."

"Hat Ismena den Schwur geleistet?"

"Nicht wirklich...ein bisschen ist sie schon auf unsere Linie eingeschwenkt...denke ich."

"Man hätte alles niederbrennen sollen, den ganzen Gutshof, statt ihn den Zwölflern zu überlassen." Neles Augen leuchteten. "Wir müssen uns wehren bis zuletzt, für den Glauben an Sokramor." Roana spürte den Vorwurf in der Stimme ihrer Tochter. "Sie ist überall um uns herum, merkst du das denn nicht? In den Bergen, den Quellen, den Bäumen...im Flüstern des Windes! Wir sind Sokramor! Ich bin Sokramor – und du solltest es auch sein!"

"Die Ismenischen werden in wenigen Tagen da sein, Nele, verstehst du das?" Roana versuchte ebenso nachsichtig wie vorsichtig zu klingen. "Die Fehde wird nicht mehr allzu lange dauern!"

"Ja, und wir werden siegen! Wir müssen siegen - sonst werden die Bannstrahler uns alle auf den Scheiterhaufen stellen! Irgendwann muss Ismena wieder verschwinden, aus dieser Baronie!" Die Knappin ballte wütend ihre Faust. Es fehlte nicht viel, und sie hätte losgeheult vor Zorn. "Sie und ihre sumuverdammten Abtrünnigen!"

Die Rittfrau wusste nicht recht, was sie antworten sollte. "Es sind sehr viele, Nele...und die Markgräfin in Rommilys ist jetzt auf ihrer Seite, denke ich!"

"Gurd und Melvis sagen, wenn jeder von uns einen ismenischen Anführer mit der Armbrust abschießt...dann werden wir gewinnen."

Die Adelige schüttelte betrübt den Kopf: "Glaubst du, die feindlichen Adeligen werden sich für euch am Halsgraben aufreihen? Unterhalb des Felssporns werdet ihr sie nicht treffen. Überhaupt, die Armbrust ist eine rondralästerliche Waffe. Es ist nicht Recht, wenn ein gemeiner Soldat einen Ritter aus dem Hinterhalt durchbohrt!"

"Ich bin adelig", trotzte Nele.

"Um so schlimmer, wenn ein Edelfräulein wie du nach feiger Zwergenart kämpft. Üb dich besser im Schwertkampf oder im Lanzenreiten."

"Die gemeinen Ismenischen haben sogar mit einer Riesenarmbrust auf uns geschossen!" schimpfte Nele empört, als wäre sie selbst dabei gewesen. "Wir müssen einfach nur bis zum Herbst durchhalten, sagt Herr Adran...dann wird das schlechte Wetter alle Praioskriecher und Dummgänse vertreiben!"

"Wer weiß, vielleicht schmelzen sie demnächst schon in der Rondrasonne dahin, wie Schnee und Eis?"

"Jetzt beleidigst du die Himmlische Leuin!" fauchte Nele. "Und die Bergmutter noch dazu. In Natternwiesen haben sie Jauche ins Tor zu Sokramor geschüttet! Jauche und Mist!"

"In das Erdloch, in dem der Oppenbach verschwindet?" Die Ritterin lächelte milde. "Du solltest nicht jedes Gerücht glauben, das erzählt wird." Roana blickte zum Haupthaus. Odilon von Baernfarn, der Mann im Feuer, hatte Recht gehabt, dachte sie – wenn er denn mehr als nur ein Hirngespinst gewesen war. Die Sokramorier taten gut daran, sich ein Beispiel am  Oppenbach zu nehmen. Sich windungsreich dem Lauf der Welt anzupassen, ebenso wie weiches Wasser hartem Stein auswich – und ihn am Ende bezwang, auf seine Weise. Ebenso war es möglich, eine Weile im Untergrund zu verschwinden, in die Höhlenwelt, und dann wieder an die Oberfläche zu kommen, wie der Oppenbach als Rausche im Friedwängischen. Das wahre Reich der Bergmutter lag im Verborgenen, in Nacht und Dunkelheit.

Sie hätte gute Lust gehabt, eine Zeitlang selbst abzutauchen, Rondrianertreue hin oder her. Aber sie durfte Nele nicht die Zukunft verbauen – Adran musste ihr kurz vor dem Ende noch den Ritterschlag erteilen. Ebenso, wie Roana dafür Sorge tragen würde, dass ihre Tochter diese unselige Fehde überlebte.

 

Edlengut Senwitz, Mittag des 21. Praios 1046

 

"Brot und Fisch, ich kann es nicht mehr sehen". Praiodane klatschte den kleinen, gebratenen Barsch

auf ein Weißbrot und legte einen weitere Scheibe darüber. Dann schnupperte sie angewidert daran. 

Dardulan lachte auf, soweit es sein schmerzender Leib gestattete. 

Sie saßen an einem rustikalen Eichenholztisch, im Vorraum der Verliese, der eigentlich den Wachen vorbehalten war, mit Blick auf ihre geöffneten Kerkerzellen. 

Immerhin, man hatte ihnen grob gezimmerte Betten in ihre getrennten Schlafgemächer gestellt  - die traviagläubige Mark... Nun, zur Praiosstunde, gab es sogar ein weißes Tischtuch und einige blakende Kerzenstummel auf den Tisch. Serviert wurde Obst, ein wenig billiger Wein, ebenso Salatblätter. Auch der Herr von Natternwiesen speiste mit. Der Ritter von Immeln war derweil von Alrik Tsalind nach Friedwang verschleppt worden. Der Baron schien noch immer erbost zu sein, ob der Geschehnisse im Hütewald. Er wollte Gold sehen. Von phexischem "Lösegeld" war nicht die Rede, sondern von Entschädigung für das lieb gewonnene, pervalisch vom Immelner durchbohrte Streitross.  

Der Edle von Sturmfels reichte seiner Gegenüber die Schale mit dem schon etwas welken Salat. Praiodane fischte mit spitzen Fingern ein Blatt heraus und legte es zwischen Fisch und dem oberen Weißbrot. 

"Mir scheint, Ihr seid unter die Köchinnen gegangen, werte Baroness", lächelte der Sturmfelser und kratzte sich den wild sprießenden Bart. "Welch überaus delikate Erfindung..." 

"Ich werde es Senwitzbrot nennen", nahm Praiodane den Scherz auf. Sie hatte sich noch kein einziges Mal zurückgelehnt, in ihrem Stuhl, was an der Rückenverletzung lag - eine gezwungene Haltung, die sie wie eine artige Akademieschülerin aussehen ließ. Tapfer unterdrückte die junge Frau jedweden Schmerz, sei es nun des Leibes oder der Seele. Dardulan mochte einfach nicht die Hexe in ihr sehen, auch wenn ihr das Gesinde - ihr eigenes Gesinde - beim Auftischen ebenso ängstliche wie böse Blicke zuwarf. Gar so, als wollten sie der Hexe zuvorkommen. Von wegen böser Blick. Ismenas Getreue hatten die Reputation Adrans und seiner Familie gründlicher aufgerieben als dessen Streiter auf dem Schlachtfeld.  

Die Edle von Senwitz schien vor allem am Umstand zu leiden, dass sie im erstaunlich großen Kerker ihres eigenen Gutshofes eingesperrt war. Wo es penetrant nach Goblin roch.  

Dardulan betrachtete das Schattenspiel auf den grob gemauerten Wänden. Eine Spinne huschte vorbei.  

Auf den flüchtigen Blick hin hätte der Edle zur Goblinwehr sich auch in einem muffigen Ratskeller wähnen können. Sie trugen keine rostigen Eisenketten und keine zerschlissenen Sackgewänder, immerhin.  Dennoch, der Unterschied zum vornehmen Mahl am Abend vor der Schlacht hätte kaum größer sein können. Zwei Wochen war die rondraverfluchte Schlacht nun her.  

Der Edle zu Goblinwehr konnte sich nur noch an wenig von dem erinnern, was am Brücklein geschehen war. Die Ritter vom Stein waren zum Angriff auf die Brücke geritten, zum Scheinangriff, wie es hieß. Das wusste er noch.  

Gleich zu Beginn hatte ihn ein Bleigeschoss der Friedwangen getroffen und aus dem Sattel gefegt. Ähnlich wie damals Fürstin Hildelind durch die Steinschleuder eines Bauern zu Fall gebracht worden war, auf den Silkwiesen. Ein schwacher Trost, zumal die edle Frau von Grünau beim Versuch seiner Rettung ihr Leben ausgehaucht hatte. Aufgespießt durch ein Ballistengeschoss. Diese Schuld würde ihm ewig anlasten. Rondras Segen war eindeutig nicht auf seiner Seite gewesen, im Scharmützel am Oppenbach. Das allein hatte ihm zu denken gegeben, auf seiner Pritsche, im ewigen Halbdunkel.  

Der Edle zur Goblinwehr brockte ein wenig Brot klein und warf es den possierlichen Ratten zu, die im Keller herum wuselten. Eine tanzte sogar, sobald die krummnasige Wächterin, deren Namen Dardulan nicht kannte, auf ihrer Flöte spielte. Aber nach Ismenas Pfeife tanzten sie auf diesem Gutshof ja jetzt alle.  

"Nun lockt doch das Ungeziefer nicht auch noch an!" sagte der Natternwieser gereizt, der seinen Weinbecher in Händen drehte. "Ach, ich wünschte, ich wäre jetzt bei Herrn Adran auf der Schwerterburg. Statt die Gastfreundschaft Ismenas genießen zu müssen. Ebenso wie ihren sauren Wein. Bei Adran wurden wir besser bewirtet."  

Zu gut vielleicht, dachte Dardulan, mit Blick auf den wohlgefüllten Bauch der "Natter". Um nicht zu sagen, den feisten Wanst. Nach einigen Jahren des Friedens und der liebfeldischen Sitten waren sie alle ein wenig verweichlicht, zumindest aus der Übung gewesen. Manch Ritter war in der Schlacht von "Praios Ungnade" getroffen worden, sprich dem Hitzeschlag.  

"Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, dass Ihr dem Rondritscherl das Ehrenwort verweigert habt." Auch Dardulan griff zum Wein, während Praiodane ihr "Senwitzbrot" mit beiden Händen packte. Ihr Versuch, die Kreation damenhaft zu verspeisen, war nicht wirklich vom Erfolg gekrönt. Also versuchte sie ihr Mittagsmahl mit Messer und Gabel zu zerlegen. 

"Stumpf, die Klinge ist stumpf", schimpfte die Baroness. "Haben die da oben Angst, dass wir uns mit unserem Essbesteck den Weg freikämpfen?" 

"Ihr könntet jetzt auch da oben sitzen", hakte der Sturmfelser nach, mehr, um überhaupt ein Gesprächsthema zu haben. Das Plaudern durch die Gittertüren war, so oder so,  ermüdend geworden. "Ihr hättet einfach nur schwören müssen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Bis zur Urfehde." 

"Ich lasse meine Standesgenossen nicht im Stich und verlange keinerlei Privilegien." Die junge Frau versuchte, die künftige Baronin von Oppstein herauszukehren, eine Rolle an die sie selbst nicht mehr recht glaubte. Sie, das Kind der Schande, die das Levthansmal trug und den Zorn der Zwölfgötter über Oppstein heraufbeschworen hatte. Wenn man in die Augen der Mägde und Knechte blickte, konnte man diese Gedanken darin erblicken. Die Bewohner der Berge galten als wetterwendisch - wie das Land, so die Leute...  

"Nach allem, was geschehen ist. Ich müsste mich ja geradezu als....eure Kerkermeisterin fühlen, wenn ich da oben im weichen Himmelbett schlafen würde. Seid unbesorgt, soviel Unrecht kann einfach keinen Bestand haben. Früher oder später wird uns die Rommilyser Reiterei befreien, da bin ich sicher. Oder die Kaiserin." 

"Ihr rechnet noch mit der rettenden Reiterei?" Der wohlbeleibte Natternwiesen war ehrlich erstaunt. Dezent spuckte er einige Gräten in eine schlichte Serviette. "Ah, dieses Kroppzeug aus dem Blauweiher..." Dann merkte er, dass er eigentlich der Gutsherrin gegenüber saß. "Verzeiht, die Fische, die ihr eingesetzt habt, munden sicher vortrefflicher." 

"Es wird Wochen dauern, bis Gernbrecht eintrifft. Wenn überhaupt." Dardulan blickte zum Deckengewölbe. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Markgräfin horasischen Söldnern das Durchmarschrecht erteilt. Redenhardts Vetter schon gar nicht...Sie hat aus den Fehlern ihres Vaters gelernt." Das solltet Ihr auch, fügte der Edle in Gedanken hinzu, trank einige Schluck und verzog den schönen Mund.  

"Das ist doch alles nur eine heimtückische Intrige. Eine riesige Verschwörung unserer Feinde. Die Bregelsaum hat in Rommilys gehetzt, voller Hass...damit, ja, damit mein Vater nicht Graf wird." Praiodane schmierte noch ein wenig Senf auf ihr Senwitzbrot. "Papa hätte das früher bemerken müssen...Wir wissen einfach zu wenig, was da oben los ist." 

Der Herr von Natternwiesen klopfte ein gekochtes Ei auf und begann es zu löffeln. "Mit Verlaub, Wohlgeboren...wenn ihr da oben wärt...also hier auf dem Gut. Ihr könntet sicherlich die eine oder andere Neuigkeit in Erfahrung bringen. Hart, ich wollte es eigentlich hart haben und mit Salz." Gemeint war das Ei. Pikiert zupfte Ismenas unfreiwilliger Gast einen Federflaum von der Schale ab.  

"Nehmt den Senf", sagte  die Baroness begütigend und schob dem Edelmann das Töpfchen zu. Praiodanes Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie nicht "zum Greifen kriechen” würde. 

Auf der Treppe, die zur schweren Kerkertür führte, eilte ein Pfahlgardist nach unten, gefolgt von einem kettenklirrenden Rondrianer, im weißen Waffenrock mit der blutroten Leuin. Erst auf den zweiten Blick erkannte Dardulan den Löwenritter Deggen von Baernfarn. 

"Hochwürden wollen Euch sprechen, Herr Dardulan." 

Praiodane drehte sich halb um, ächzte ob der Schmerzen,  und rümpfte ihr derzeit besonders blasses Näschen. "Von Baernfarn, was verschafft uns die unverhoffte Ehre? Wollt Ihr mit uns speisen, an dieser illustren Tafel?"  

"Verzeiht, ich wollte nicht stören", sagte der Rondrianer, durchaus respektvoll. "Der Weg von Koppeln her ist aufgeweicht, sonst wäre ich schneller geritten." Tatsächlich waren Stiefel und Mantel des Rondrianers schlammbespritzt. 

"Wie geht es Euren Armbrustschützen, Hochwürden, und der Balliste", brummte Natternwiesen, mit scheinbar vergnügt glänzenden Schlangenäuglein. "Ich habe gehört, Eure Kriegsmaschine wäre für längere Zeit ausgefallen?" 

Deggen antwortete nicht sofort. "Die Armbruster Ismenas haben den Kampf gegen eure Armbruster gut überstanden. Besser, als umgekehrt, denke ich. Ich weiß, wie Ihr es meint...Nun, seelsorgerisch bin ich derzeit von meinem Amt entbunden, und möchte mich nicht in derartige...Feinheiten einmischen: Darf man frevlerische Waffen gegen Ketzer und Frevler einsetzen, oder andere Haarspaltereien. Persönlich halte ich es für rondrianischer, wenn die Unsrigen keinen Bolzen in den Rücken oder Hinterkopf geschossen bekommen. Sondern den feindlichen Schützen zuvor treffen, von vorne, in offener Feldschlacht, ohne sich hinter riesigen Setzschilden zu verkriechen. Paaviesen, oder wie man diese Jagdverstecke nennt. Zum Glück haben sich eure Schützen beizeiten zurück gezogen...zum Glück für sie, meine ich." 

Das saß, insbesondere die Anspielung auf den ungeklärten Tod des Landvogts von Zwerch, in der ersten Schlacht von Drachweiler. 

Dardulan lehnte sich zurück, sichtlich ungehalten ob des sinnlosen Wortgeplänkels. "Ich habe fertig gespeist und bin ganz Ohr."

"Wir sollten uns besser unter vier Augen unterhalten. Vom Geweihten zum Rechtgläubigen..." 

Auch das saß. Praiodane zuckte wie unter einer erneuten Schmerzattacke zusammen.  

Der Sturmfelser blickte fragend in die Runde. Die Baroness nickte, kaum merklich. Natternwiesen, der als eifriger Sokramorier galt, starrte Deggen nur feindselig an.   

Eskortiert von der Wache humpelte der Edle zur Goblinwehr nach oben. Einen Moment lang war er mehr als geblendet.

Als er wieder klar sehen konnte, stand er bereits auf dem Hof, dessen Tor von weiteren "Schwarzgelben" bewacht wurde. Das Gesinde ging dem Tagwerk nach und beachtete den Gefangenen kaum, als wäre er das unsichtbare Gespenst eines längst vergangenen Zeitalters. Der eine oder andere Blick war sogar vorwurfsvoll: Warum habt ihr schon wieder Krieg nach Oppstein geschleppt? 

"Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang am See?" fragte Deggen einladend. Dardulan nickte schicksalsergeben. Zumindest die frische Luft tat ihm gut.  

Der Himmel war bewölkt, das prachtvolle Gewässer, das kokett "Weiher" genannt wurde, glänzte nicht gar so blau wie sonst. Dardulan sah zum Gardisten, der mit etwas Abstand folgte. "Habt Ihr keine Angst, dass ich in den Blauweiher springen und davonschwimmen könnte?" 

Der Ritter der Himmlischen Leuin schmunzelte. "Ihr solltet Euch lieber ins Wäldchen dort absetzen. Aber da müsstet Ihr mich vorher niederschlagen und sehr schnell rennen...trotz Eures Beins. Wie ist Euer Befinden?" 

"Sagen wir, hätten wir euch besiegt, ginge es mir besser. Also...selbst wenn Ihr ein geweihter Diener der Siegschenkerin seid...Wir bleiben dennoch Gegner. Fasst Euch kurz." Dardulana hob stolz das bärtige Kinn.

"Eigentlich schickt mich Albrecht Karrer, der Firungeweihte zu Goblinwehr. Eine Bitte vom Geweihten zum Geweihten. Morgen ist Sankt Jarlaks-Tag...dann wird auf Eurem Lehensland eine Firunkapelle eingeweiht." 

"Ach ja, der Schrein." Der Sturmfelser blickte erstaunt. "Leider bin ich momentan....gebunden...gewissermaßen unabkömmlich." 

"Das muss nicht so bleiben. Albrecht hat um Milde für Euch gebeten, damit Ihr am Tag der Einweihung anwesend sein könnt. Falls Ihr Euch bereit erklärt, Ismena die Treue zu schwören, könntet Ihr in einer Stunde frei sein und nach Norden reiten..." 

"Warum erst in einer Stunde und nicht sofort?" fragte Dardulan, ebenso ungläubig wie ironisch. 

Sie gingen ein wenig am sanft murmelnden See entlang. Der hinkende Edle merkte mit schmerzverzerrtem Gesicht, dass er wirklich nicht sehr weit kommen würde, bei einem Fluchtversuch. Wahrscheinlich nicht einmal bis zum Nachen dort drüben. Rondrageweihte waren für gewöhnlich gute Schwimmer, angeblich gingen sie selbst im Kettenhemd nicht unter. Das würde ein seltsamer Kampf werden, da draußen auf dem Bergsee, vor beeindruckendem Sichelpanorama. Wahrscheinlich würden sie sich beide ertränken, er, der Verrückte mit den zahlreichen Wunden, und sein schwer gerüsteter Verfolger.   

 "Nun, Eure Gewänder solltet Ihr schon wechseln. Ebenso rate ich Euch zu einem Bad." Deggen wies einladend auf die tintenfarbenen Wellen. Trotz der Wolken war es tatsächlich sommerlich warm. "Und, ja...zu einer Rasur, auch wenn die Firunskirche tolerant gegenüber Fellträgern ist."

 Der Edle glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. "Glaubt Ihr, man wechselt seinen Herren wie ein Gewand? Steigt aus dem Badezuber, rasiert sich und ist der Gefolgsmann eines anderen? Ich habe Baron Adran die Treue geschworen, vor vielen Jahren schon. Das gilt, solange er noch am Leben ist...." Der letzte Satz klang wie eine Frage und etwas besorgt. 

"Er ist noch am Leben", nickte der Baernfarner. "Aber Adrans Lage ist vollkommen aussichtslos, oben auf der Schwerterburg. Vor ein paar Tagen wurde sein Brief an die Rommilyser Reiterei abgefangen. Vorgestern ist Roana von Hochfels nach Oppstein geritten, und hat um freien Abzug für ihn und seine Dienstleute gebeten...im Grunde hat Euer Baron seine Niederlage bereits eingestanden." 

Dardulan sah den Ritter ausdruckslos an. "Das heißt, ich darf zusammen mit Seiner Hochgeboren die Baronie verlassen? Ebenso die anderen Gefangenen?" 

"Gefangen ist gefangen", sagte Deggen. "Da helfen leider keine Spitzfindigkeiten." 

"Wenn nicht Gernbrecht, dann wird uns eben Wulfhelm zu Hilfe kommen. In irgendeiner Weise...er hat sogar das Ohr der Kaiserin, habe ich mir sagen lassen."

"Der Hauptmann der Reichsarmee? Sein Banner gehört nicht mal ihm...ich habe gehört, die Gänsebald-Affäre ist in Gareth noch nicht vergessen." 

Der Edle blickte fragend. 

"Habt Ihr noch nichts davon gehört?Was Gänsebald von Oppstein damals passiert ist? Ich sage nur ein paar Schlagworte...Bordell Levthans Horn, Hexenträume, junger Freier...Eine peinliche Affäre...nur das Gänsebald ein Jungspund ist und jemand wie Adran ein wenig altersweiser sein sollte. In Rommilys gibt man keinen Heller mehr auf seine Baronsherrschaft, selbst im Stadthaus der Oppsteins nicht. Gerade dort nicht." 

"Wir müssen nicht die immergleichen alten Geschichten aufwärmen, Hochwürden." 

"Das sehe ich sogar ähnlich. Reden wir lieber über den morgigen Tag. Den Tag des Heiligen Jarlak. Ich diene zwar der Rondra, aber der Schutzgott meines Hauses ist der Weiße Jäger. Diese Fehde wird bald schon beendet sein, aber so ein Heiligtum hat viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte Bestand. Wir sollten gemeinsam in diese Zukunft blicken. Wenn Ihr mir Euer Ehrenwort gebt, dass Ihr nach der Einweihung des Firunsschreins wieder zurückkehrt, in Gefangenschaft, ohne Euch Adrans verlorener Sache anzuschließen...dann könnte ich Euch leicht einen Tag Urlaub verschaffen. Und auch sonst ein gutes Wort für Euch einlegen, Wohlgeboren." 

"Verstehe, Hochwürden. Ein Freigang auf Parole." Dardulan dachte an das Gespräch im Kerker. Die Gelegenheit war günstig, sich "oben" ein wenig umzusehen und die eigene Flucht zu planen, in naher Zukunft.

"Ich werde mit Euch nach Koppeln reiten, wo Albrecht Karrer bereits wartet. Auf dem Weg dorthin sollten wir uns ausführlich unterhalten, über das künftige Geschick der Baronie Oppstein. Ebenso über die Zukunft Eures Lehens und des Edlenguts." Deggen sah Dardulan auffordernd an. "Niemand wird Eure Ehre anzweifeln, das verspreche ich Euch."

 

 

 

  1. Praios, nachmittags, am Firuntempel unweit Goblinwehr

 

Eine stattliche Schar Gläubiger bestaunte die Kapelle des Firun, die nunmehr ein Tempel des Firun war. Allein, dass Albrecht das Laub rings um das Haus des Wintergottes zusammen gerecht und das Moos von den hölzernen Dachschindeln entfernt hatte. Ein wenig Reinemachen, und das in die Jahre gekommene Gebäude sah schon viel ansprechender aus. Albrecht hatte wirklich gute Arbeit geleistet.  

Tiinana war selbst überrascht, dass trotz der Kurzfristigkeit doch so viele Gläubige kamen, aber offenbar hatte auch die Fehde im Oppsteinischen die Firunpilger nicht abschrecken können, die allsommerlich auf dem Bogen des weißen Jägers gen Gallys zogen. Über zwei Dutzend Pilger waren seit gestern über den Pfad gekommen, und hatten, auf die Neueröffnung des Tempels hingewiesen, ihren Weg unterbrochen, um dem Ereignis beizukommen. Und aus dem nahe gelegenen Goblinwehr waren kaum weniger Bauern angekommen. Nun, das war jedenfalls ganz in Tiinanas Sinn. So würde sich die Kunde vom neuen Tempel rasch herumsprechen unter den Gläubigen in der Region. Abgesehen von allem anderen, die Fehde zog sich schon einige Wochen hin, es wurde Zeit, den Menschen eine Rückbesinnung darauf nahezulegen, was wichtig war. Auch wenn Waffen immer öfter für rondra- und korgefälliges Handwerk verwendet wurden, erfunden hatten die Menschen sie ursprünglich für die Jagd. 

Das Holztor des Tempels stand weit geöffnet, denn im Inneren war nicht genug Platz, um die Zahl der Gläubigen und Zuseher zu fassen. 

Krusa schwenkte die Weihrauchschale an einer Kette durch den Altarraum, und der wohlige Duft nach Kräuterrauch durchzog den Tempel. Tiinana begann, mit ihrer dunklen, kehligen Stimme den aarmarischen Ifirn-Choral anzustimmen, in den nach und nach die Gläubigen, die Besucher des Firundienstes, einfielen. 

 

“Kinder Firuns, freuet euch

jauchze laut, Aarmaria!

Sieh, des Eises Hauch

Weht herab, vom Gletscher da

Kinder Firuns freuet euch,

jauchze laut, Aarmaria!

 

Seid gesegnet, Firuns Kinder!

Sei gesegnet, Firuns Land!

Fest im Glauben, Herr der Winter,

Halten wir allezeit Stand!

Seid gesegnet, Firuns Kinder!

Sei gesegnet, Sichelland!

 

Kinder Firuns freuet Euch!

Ladet den Winter zu Euch ein.

Sieh! er kommt strahlend fein,

Gleitet auf dem Eis herein,

Kinder Firuns, freuet Euch!

Ladet den Winter zu euch ein.

 

Seid gesegnet, Firuns Kinder!

Sei gesegnet, Firuns Land

Ewig steht, dein eisig Thron,

Hoch oben auf dem Gletscher schon.

Seid gesegnet, Firuns Kinder!

Sei gesegnet, Sichelland    (adaptiert vom Weihnachtslied “Tochter Zion”)

 

Dieser Choral mit seiner eingängigen Melodie, der allwinterlich zum Mittwinterfest nicht nur von Anhängern des Firunglaubens gesungen wurde, war das richtige Lied, trotz der sommerlichen Temperaturen alle Gäste festlich auf den Wintergott einzustimmen. Der schwere Wachholderduft des Weihrauchs lag noch immer über der Gemeinschaft der Besucher des Firundienstes. 

Als die letzten Klänge verhallt waren - die einhundert Schritt hinter dem Firuntempel gelegene Felswand warf das Echo noch zurück - begann Tiinana zu predigen, und verlor viele Worte über die eisige Gnade des Herrn Firun, der mit seinem hängenden Gletscher seit Anbeginn der Zeiten das Übel gefangen hielt, auf dass es nie mehr erforderlich sei, dass Rondras Sohn Kor die schwarze Sichelklinge gegen finstere Feinde der Menschen schwingen müsse. 

Tiinanas Predigt erzielte die beabsichtigte Wirkung. Sie wusste, dass unter den Bauern aus Goblinwehr sicherlich einige waren, die sich zu den Sokramoriern zählten. Und sie wusste, dass Malachanias Auftritt und Wirken in Oppstein auch hier, in diesem abseits gelegenen Bergdorf, die Gespräche und Gedanken der Menschen beschäftigte, und sich eine besorgte Stimmung ausgebreitet hatte. Welche Umwälzungen, welches Leid, würde die Fehde noch verursachen? 

Tiinana bettete Glaubenselemente der Sokramurier in ihre Predigt ein, ohne diese beim Namen zu nennen. Sie erzählte von der Wilden Jagd, von den vielen Wesenheiten, die sich Firun zur Ehre zusammen gefunden hatten. Eines fernen Tages, wenn das Ende der Welt nahte, würden sie dem Herrn der Jagd folgen, wenn irgendwann die Vielleibige sich wieder erheben würde. Und daher hielt Firun seine schützende Hand über alle, die ihm in der Wilden Jagd folge leisteten. 

Tiinana vierlor kein Wort über die aktuelle Lage, denn als Geweihte wollte sie nicht offen Partei ergreifen - nach ihrer Meinung stand es Geweihten auch nicht zu, sich in irdische Machtkämpfe einzumischen. Aber auch wenn sich Tiinanas Worte auf die Fabeln und Legenden der Sichel bezogen war jedem der anwesenden Sokramorier klar, dass dieser Tempel ihnen offen stand, auch wenn sie im Herzen nicht allein Firun trugen. 

Tiinana hob die Hände in die Höhe, hielt den steinernen Dolch Farazzar in die Höhe. 

“Diese Klinge Farazzar ist aus dem gleichen Stein, wie auch die Gigantenklinge, die der Rondrasohn einst führte.” Die Geweihte hielt den Dolch in die Höhe und zeigte ihn den Tempelbesuchern. 

So wie die Gigantenklinge selbst hier dem Gebirge gleich in Firuns Schoß, unter Firuns hängendem Gletscher ruht, so soll auch diese Druidenklinge hier in diesem Tempel ruhen, als Zeichen des Friedens unter den Menschen, als Symbol der ebenso friedlichen  wie wehrhaften Menschen der Sichel. Möge sie uns  erinnern, dass der wahre Feind verborgen und von Firun bewacht unter uns gefangen ist, dass wir uns aber keine Schwäche leisten dürfen.” 

Die Geweihte legte den Steindolch Farazzar sorgfältig auf den Altar.  

Albrecht und Krusa hoben die Körbe mit Gebäck vor sich hoch. Eigentlich kein typisches Element eines Firungottesdienstes. Aber Tiinana hatte entschieden, dass es zur Festlichkeit einer Tempeleinweihung durchaus angemessen war, den Gläubigen etwas anzubieten. Hefeteiggebäck in Form von Jagdwild, darunter vor allem die Tiere und Wesenheiten der Wilden Jagd, fand die Geweihte passend. Und es war auch eine gute Überleitung zur freien Festlichkeit, die der Messe folgte. 

 

Kaum jemand beachtete den grün gewandeten Jäger, unter dessen Kapuze ein notdürftig gestutzter Bart hervor spitzte. Noch weniger Pilger wären auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei dem blassen, scheuen Fremden um den adeligen Schutzherren des Heiligtums handelte: Dardulan von Sturmfels zu Goblinwehr schlang ein wenig unaristokratisch die "Armen Bregelsaums" in sich hinein, in Milch getauchte und geröstete Weißbrotscheiben, bestrichen mit Honig.

Es war nicht so, dass er in Ismenas Verlies Hunger gelitten hatte, aber wohlschmeckend oder reichhaltig waren die dort gereichten Speisen auch nicht gerade. Der Marsch von Koppeln hinauf zum Hochplateau war ebenfalls kräftezehrend gewesen und hatte einen ganzen Tag in Anspruch genommen. Hätte der friedwanger Hofmagier, Hesindian, seine Blessuren nicht magisch geheilt, wäre an den Aufstieg zur Kapellenhöhe nicht zu denken gewesen. Frühmorgens beim ersten Hahnenschrei war der Edle aufgebrochen, nach kargem Frühstück.

Schon der Ritt zum Dorf hatte sich alles andere als vergnüglich gestaltet. Sie waren gestern erst spät, nach Einbruch der Dunkelheit, in Koppeln eingetroffen.

Die Süßspeise und der Anblick über das Oppsteiner Tal und die Mistelhausener Nachbarbaronie entschädigten ihn nun für einiges. Der Sonnenuntergang war malerisch. Irgendwie bereitete es ihm auch abgründige Zufriedenheit, einen – oder eine – Bregelsaum zu vertilgen, und sei es nur symbolisch. Oleana von Rosenbusch, dieses intrigante Biest, hatte ihm das alles erst eingebrockt.

Der Firunsdienst hatte ein wenig Ruhe in seine aufgewühlte Seele gebracht, vielleicht auch nur der qualmende, leicht berauschende Wacholder. Dardulans Gedanken gingen zurück zu seinem gemeinsamen Ritt mit Deggen von Baernfarn.

Der Edle zur Goblinwehr hatte Einzelheiten über die schlüpfrige Geschichte mit Gänsebald von Oppstein erfahren. Seither waren die Rommilyser Oppstein davon überzeugt, dass der gutaussehende, jäh gealterte junge Mann sich von Adrans skandalösem Lebenswandel hatte inspirieren lassen. Von wegen "Levthans Horn" und Hexenwerk. Bei der Rast hatten sie ein wenig über Deggens Verbannung als ehemaliger Baron von Gallys geplaudert. Der Grund sollte eine Intrige des Truchsessen Ludeger von Rabenmund, aber auch des meineidigen Redenhardt gewesen sein.

Dardulan war nicht gerade "bekehrt" worden. So waren sie seit Menschengedenken, die schwer durchschaubaren, allzu oft ruhmlosen Adelszwiste. Aber der Sturmfelser musste zugeben, dass die ehrgeizigen Oppsteins dem Hause Baernfarn hart zugesetzt hatten, in der Vergangenheit. Nun, es waren gar nicht einmal so sehr Deggens Worte, die Dardulan zu denken gegeben hatten. Je weiter sie in die Berge vorgedrungen waren, hatte ihn das Gefühl beschlichen, dass seine alten Ideale und Tugenden in den letzten Götterläufen zum Selbstzweck geworden, vielleicht sogar ins Gegenteil umgeschlagen waren. Zuletzt hatte ihn sein rondrianisches Ehrgefühl dazu gebracht, gegen einen Ritter der Himmlischen Leuin zu kämpfen. Allein diese Erkenntnis war verwirrend.

Spätabends hatten sie auch das Ismenische Feldlager passiert. Viel "spionieren" können hatte der Sturmfelser nicht, aber es waren viele Zelte, die sich am Dorfrand reihten, soviel stand fest. Entgegen dem Gerücht, dass der "Balihoer Stier" einen größeren Schaden erlitten hatte, war er auf einer Wiese gestanden und hatte festlich beleuchtete Zielscheiben umgeschossen, nach Einbruch der Dunkelheit. Dardulans Gesichte zuckte, beim Gedanken an den Schlachtentod der Grünauerin. Wie konnte Deggen es zulassen, dass eine derart seelenlose Belagerungsmaschine gegen andere Mittelreicher eingesetzt wurde? Er wollte den Sieg für seine Tochter, soviel stand fest.

In Koppeln hatten sich ihre Wege getrennt. Der Baernfarn hatte sich offenkundig nicht als sein Bewacher, sondern eher als sein Beschützer und Fürsprecher gesehen. Schließlich konnte jeder Flüchtling behaupten, "auf Parole" freigelassen worden zu sein. Zumindest hatte Degen die richtige Parole gekannt, bei den zahlreichen Feldwachen.

Die Besucher gingen nach draußen, plauderten über die Einweihung des Schreins, zeigten sich ihre Waffen oder tauschten die neuesten Jagdgeschichten aus. Viele genossen einfach nur die hochsommerliche Abendstimmung, im Schein der Fackeln. Nach kurzer Zeit prasselte ein mächtiges Lagerfeuer und sandte seine Funken zum bläulichen Himmel, der hier oben näher war als im Oppsteiner Tal. Das hier war Heimat, ureigenstes Sturmfelser Land, auch wenn sich der Edle verkleidet hatte wie  manchmal der Kalif von Unau, wenn er sich unter das einfache Volk mischte. Der Mond stand im Helm und leuchtete sanft. Sterne funkelten. Irgendwo rief eine Eule. 

Manch Gast  trug den spitz zulaufenden, an einen Hahnenschnabel erinnernden Jägerhut.

Dardulan befürchtete, dass ihn einer seiner Bauern erkennen würde, was er als peinlich empfunden hätte. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ging er ins Innere des aus Holz gefügten Heiligtums. Dort, im Schein der Kerzen, spielte sich gerade eine merkwürdige Szene ab. Der Hüter des Schreins war damit beschäftigt, das Schwert an den Altar zu ketten, mit einem klobigen Schlüssel. Nun ja, hier oben streunten reichlich Rotpelze herum, in deren Augen war so eine stählerne Klinge sicherlich ein ungeheurer Schatz.

Albrecht Karrer erkannte Dardulan und hieß ihn willkommen. "Ah, schön, dass Ihr es zur Einweihung  geschafft habt", sagte der Firunsdiener, den der Sturmfelser von mancher Jagdpartie her kannte. "Das Wetter hat hervorragend gepasst, für den Aufstieg. Der Herr der Wege ist uns gewogen, heute am Jarlakstag."

"Man hat mich auf Ehrenwort freigelassen", sagte der Edle, mit firunsgefälliger Kälte, aber auch Selbstbeherrschung in der Stimme. "Ich diene weiterhin Seiner Hochgeboren Adran von Berlînghan-Oppstein-Mersingen."

Dardulan hatte sich die ganze Zeit über zurückgehalten und war demütig neben der Eingangstür gestanden, während des gesamten Firunsdienstes. Mit der erwähnten "Klinge Farrazar" hatte er wenig anfangen können, aber nun, da er vor dem Altar stand, erkannte er das Schwert wieder: es war die Waffe Adrans, die Dardulan das Schwarze Schwert nannte. In seiner Gegenwart war es nur einige wenige Male gezogen worden.

Das musste das Schwert sein, mit dem Adran Edorians rechte Hand abgehackt hatte, fein säuberlich. Mit chirurgischer Präzision, wie ein Feldscher...Edorian, dem Kanzler, der wiederum Lares als Geißel genommen hatte, nach verlorener Schlacht, mit dem Messer am Hals. Was hatte Tiinana noch gesagt? Diese Klinge ist aus dem gleichen Stein, wie die Gigantenklinge, die der Rondrasohn einst führte? Tatsächlich, das Schwert war gar nicht aus dunklem Stahl geschmiedet, wie Dardulan geglaubt hatte. Auch wenn es für diese Feststellung eines zweiten oder dritten Blickes bedurfte, im flackernden Kerzenschein.

Die Schneiden waren scharf wie ein Rasiermesser, das konnte man selbst im Halbdunkel sehen. Außer den Ketten schützte sich das Schwert selbst am besten vor dem Zugriff eines jeden Diebes. Man musste genauer hinschauen, um die feinen Wellenlinien zu erkennen, die an Gesteinsschichten erinnerten. Allerdings, aus Schiefer, dem prägenden Gestein der Sichelberge, bestand die Klinge nicht. Dardulan tippte auf Obsidian, im Wortsinn. Um ein Haar hätte er sich bei dieser Berührung geschnitten. Hastig zog er die Hand zurück und zupfte am abgetrennten Hautfetzen. Der Stein fühlte sich kalt an, kalt und grausam. Kälter und grausamer als Eisen.

Was bei den Zwölfen und Alveran hatte Adran da für eine Waffe geschwungen – und vor allem, wie war das Baronsschwert in dieses Firunsheiligtum gekommen, noch dazu "in Ketten"?

"Wie hat Tiinana das Schwert genannt, Euer Gnaden? Fasarer?"

Albrecht nahm den schweren Schlüssel an sich und verstaute ihn am Gürtel. "Gegen die erbärmlichen Goblinwaffen dürfte dieser Stahl standhalten. Auch wenn sie geschickte Diebe sind...Alles andere vertraue ich dem Schutz des Firun an, dem Lehrer der Gelassenheit. Und dann gibt es noch den dort..." Der Firuni wies auf seinen Bogen, der neben dem Köcher an der harzig duften Holzwand lehnte.

"Farrazar, so heißt das Steinerne Schwert, auch wenn es noch seltsamere Beinamen führt. Sar, das ist im Schwarzsichlerischen ein uraltes Wort für Seele oder Geist. Wirklich ein uraltes Wort, das wohl aus dem Echsischen stammt und durch die Trollzacker nach Norden gelangt sein mag. Die Sokramorier glauben, dass in dieser Klinge der Geist des Druiden Pharraz weiterlebt."
 

Erschrocken wich Dardulan zurück und schlug das Zeichen des Sonnenrads. "Pharraz....der Schwarzdruide?"

"Pharraz, der Feind der landfressenden Götter, der vor einigen Jahren in Wutzenwald erschlagen worden ist."

"Beim Versuch, den Pfleger des Landes zu ermorden." Entsetzt sah der Edle der Goblinwehr auf die Klinge. "Wie ist Adran in seinen Besitz gekommen?"

"Pharraz hat es ihm überreicht, auf einer Hexennnacht vor vielen Götterläufen", sagte Albrecht ruhig. "Ihm, den vermeintlich Auserwählten der Alten Kulte."

Der Edle schnaubte. "Das sind doch alles...Ammenmärchen...um Seine Hochgeboren verächtlich zu machen. Lügen und Verleumdungen seiner Feinde, um die gewaltsame Absetzung eines Barons irgendwie zu rechtfertigen. Die durch nichts zu rechtfertigen ist."

"Wohlgeboren, in einem Tempel des Firun mag gelegentlich Jägerbosparano erzählt werden. Aber diese Geschichte ist wahr, wenn ich nicht von einem Dutzend Gläubigen auf einmal belogen worden bin."

Dardulan rang um Fassung. Nervös rieb er sich die Hand am Umhang ab, als hätte Pharraz gerade versucht, von ihm Besitz zu ergreifen. 

"Der Sarstern war die Spitze des Sternbilds der Rondra, der während des Sternenfalls verschwunden ist", verkündete eine kindliche, klare Mädchenstimme.

"Du bist klug, Krusa", sagte Albrecht und strich der Novizin durch die Haare. "Wie es Ifirn von uns verlangt. Die Natur ist klüger, als es sich diese Möchtegernbarbaren und angeblichen Kraftmenschen vorgestellt haben. Die mit Trak und Pharraz in die letzte Schlacht gezogen sind. Ein Geschöpf lebt vom anderen, Tier, Mensch und Pflanze gleichermaßen, alles ist Teil eines größeren Ganzen. Jedes Lebewesen muss sich an seine Umgebung anpassen, um im steten Wechsel der Zeiten zu überleben. Dafür bedarf es Weisheit, nicht allein vieler Muskeln, Zähne, Klauen, Hörner, Schwerter...."

"Wollt Ihr...etwa glauben machen, dass Adran...ein Anhänger des Götzenanbeters Pharraz war? Das hätte ich mitbekommen, bei Rondra!"

"Sicher habt Ihr von nichts gewusst", sagte Albrecht, mit dem vollen Ernst seiner Kirche. "Aber Ihr hättet davon wissen können, wenn Ihr es nur gewollt hättet. Am Ende gab es ein Zerwürfnis zwischen Sokramors Faust und dem Baron von Oppstein, der vor dem offenen Aufstand zurückgeschreckt hat. Manche sagen, Pharraz hätte das Schwert verflucht, aus Strafe für Adrans Untreue."

Dardulan runzelte die Augenbrauen. Dann trat so etwas wie Erkennen in seine Augen. Als hätte er erkannt, dass er gefoppt worden war, bewegte er den Zeigefinger hin und her. "Karrer....gibt es da nicht eine einflussreiche Familie in Friedwang, die dem Baron nahesteht? Hochwürden Tiinana ist die Tempelvorsteherin von Gallys… und dann noch die junge Novizin, die Kusine von Adrans Rivalin, so langsam wird mir einiges klar. Ihr spielt das Spiel weltlicher Herren?"

Der Schnayttacher sah den Edlen vollkommen humorlos an. "Ich bin über ein paar Ecken mit den Senkenthaler Karrers verwandt, ja. Krusa hier ist die Nichte von Krusa Missila, der Vorsteherin des Tempels zu Nordenheim. Tiinana ist Tiinana, was sie denkt und fühlt, müsst Ihr sie schon selbst fragen. Aber glaubt Ihr, die Wildnis in den Bergen interessiert sich auch nur einen Funken für die Hausmachtpolitik der Menschen? Gewiss nicht. Warum sollten wir das dann tun? Ihr seid der Edle zur Goblinwehr, insofern ist es mir Euer Schicksal nicht gleichgültig. Wer weiß, wer Euer Nachfolger wird - wenn Ihr nicht lernt, mit den Wölfen zu heulen."

"Ich habe mich bereits meinem Leitwolf unterworfen", murmelte Dardulan, ohne die verfluchte Klinge aus den Augen zu lassen.

"Wölfe unterwerfen sich keinem Leittier", antwortete der Geweihte ungnädig. "Sie jagen gemeinsam. Wer zu krank, zu alt oder zu schwach ist, bleibt zurück. So einfach ist das. Was nicht heißt, dass ein einsamer Wolf nicht in ein fremdes Rudel aufgenommen werden kann."

"Ist das so?" Dardulan deutete auf das Schwarze Schwert. "Wenn es so ist, wie Ihr sagt...dann sollte es nicht hier sein, sondern....am besten in einem Haus des Praios. Auf Burg Auraleth vielleicht. Auf meinem Land...sollte keine Druidenklinge verehrt werden. Wie seid Ihr überhaupt in seinen Besitz gekommen?"

"Adran durfte kein Schwert verwahren, in dem dunkle Mächte wirken."

"Warum tut Ihr es dann, neben meinem Gutshof? Man könnte meinen, Ihr wolltet in diesem Haus des Firun zugleich den Druiden verehren?"

"Der wahre Diener Firuns eilt auch dem fehlgeleiteten Pfeil hinterher", sagte Albrecht geheimnisvoll.

"Pharraz war ein Aufrührer und Mörder, ebenso wie sein Spießgeselle Trak von Keckrach. Ein sokramorischer Wirrkopf..."

"Ich rede von Euch, Euer Wohlgeboren. Dieses Schwert steht sowohl für die verborgenen Mächte dieses Landes, als  auch für die Fehler, die im Umgang damit begangen worden sind. Sokramor gilt in Gallys als die Mutter Firuns..."

Der Sturmfelser blickte scheu zum Götterbild. "Ich habe davon gehört. Aber ich mag nicht glauben, dass der Weiße Jäger aus einer Höhle in der Schwarzen Sichel hervorgetreten ist. Als Bruder von vier Riesen."

"Sokramor war nicht immer eine Götterklinge, Euer Wohlgeboren, sondern, laut der Sage, zuvor das Leben selbst. Das Leben, wie es ursprünglich einmal war, in Nacht und Dunkelheit. Bevor die Menschen angefangen haben, steinerne Waffen und Werkzeuge zu fertigen, vor allem, aus Stein Feuer zu schlagen...um sich vielgestaltiger Feinde und Gefahren zu erwehren. Ja, ganz Recht, ich sehe in den alten Legenden eher bildhafte Gleichnisse. Die nicht wahr sind, weil sie sich wortwörtlich zugetragen haben, gemäß unserem kümmerlichen Menschenverstand. Sondern weil sie seit Urzeiten Teil unserer Natur sind. Oder glaubt Ihr wirklich, dass wir gerade auf dem Leib einer schlafenden Gigantin stehen?" Albrecht deutete auf den knarrenden Holzboden. 

"Eine steinerne Sichel steht zugleich für die Ernte von Wildgetreide, womit einst der Ackerbau begonnen haben mag. Wildgetreide und Jagd, das mag der Ursprung der menschlichen Zivilisation gewesen sein, die Viehzucht kam sicher erst später. Ihr müsst es heute Abend noch nicht verstehen. Aber Firun verkörpert nicht die Wildnis, sondern die Selbstbehauptung des Menschen darin. Wildheit mag uns aus größter Gefahr retten, die Wildnis selbst wird es niemals tun. "

Der Geweihte wies zum Tor. "Lasst uns ein wenig am Sommerabend erfreuen, den uns die milde Ifirn schenkt, Tochter einer schönen Südländerin. Morgen dürft Ihr darüber nachdenken, ob Ihr  Jäger oder Gejagter sein wollt."



Auf der Schwerterburg, 7.Rondra 1046 BF, Windstag

 

Wie ein Rad wirbelten die rundlichen Steine durch Fulchers Hände.

Es waren nur drei "Jonglierbälle", die ihm von Handfläche zu Handfläche glitten. Aber sie waren allesamt schwer, eher kantig als glatt und entsprechend mühsam in Bewegung zu halten. Nach ein paar Durchläufen fiel der erste Schieferkiesel zu Boden, wo er zerbrach. Fulcher ließ auch die übrigen Bröckchen fallen und strich die nach vorne gerutschte linke Sendelbinde seines Chaperons zurück über die Schulter.

Baron Adran applaudierte leichthändig, nach einigen Herzschlägen stimmten die übrigen Höflinge mit ein. Nur Lares blickte ein wenig sauertöpfisch, im kleinen, aber lauschigen Garten der Schwerterburg.

Fulcher von Dergelsmund, in den letzten Götterläufen besser bekannt unter seinem Amtsnamen Aarmarsland, verneigte sich. Der Herold des Sichlerbundes blickte zu Ulfing, seinem Persevanten, der neben einem frisch bepflanzten Kohlbeet zwei weitere Steinchen aufgehoben hatte. "Neinnein, fünf Steine, das wäre zuviel. Es sind ja keine Lederbälle."

"Ihr solltet ihn mal mit Fackeln jonglieren sehen", verkündete der bärtige Unterherold stolz. "Mit brennenden Fackeln." Ulfing ließ die Steine in seinem Federbarett verschwinden, strich mit der Hand darüber, drehte den Hut um - siehe da, kein einziges Steinchen fiel heraus. Auch dieser "Zaubertrick" erntete Beifall. 

"Kein Feuerzauber, in meiner letzten verbliebenen Burg", sagte Adran leichthin. "Aarmarsland, Ihr seht mich erstaunt. Ich wusste gar nicht, dass Ihr früher einmal Gaukler ward."

"Nicht die schlechteste Voraussetzung, um das Amt eines Herolds zu ergreifen, findet Ihr nicht?" Der blonde Bote lächelte fein. "Die Kunst der Jonglage scheint mir durchaus mit der Kunst der Diplomatie verwandt zu sein. In der es darum geht, unterschiedliche Interessen miteinander zu vereinen, im ewigen Spiel der Macht."

Der Oppsteiner nickte gedankenschwer. "Gewiss. Ab und an besteht die Kunst darin, einen Stein fallen zu lassen, dünkt mir. Wenn der zu lange oben war, nicht wahr?"

"Ward Ihr nicht früher auch Marktschreier, Spielmann, Kinderbelustiger und Bühnenansager?", fragte Lares mit giftiger Zunge. Der Hochfelser wollte durchblicken lassen, dass er über den Herold, dem er nicht traute, bestens Bescheid wusste.  "Ich habe gehört, dass Herolde früher dem Fahrenden Volk angehört haben. Oder ist es am Ende immer noch so?"

"Gewiss, wir sind viel auf Reisen", sagte der Herold diplomatisch und strich über seinen Tappert, der das Wappen des Sichlerbundes zeigte. "Ulfing war früher einmal Assistent einer Scharlatanin. Einer Jahrmarktszauberin. Dabei lässt sich viel über Staatskunst lernen." 

Adran, der Aarmarslands Sticheleien und Provokationen während des Turniers zu Gernatsborn nicht vergessen hatte, gestattete sich demonstratives Schweigen. Dann deutete er zur zum Haupthaus, das an der Schildmauer aufragte. "Kommen wir zu der Angelegenheit, in der Ihr hier seid, werter Herold. Auf Wunsch und Anraten der Markgräfin" – ein nervöses Hüsteln – "habe ich mich auf Verhandlungen eingelassen."

"Die, Travia sei Dank, kurz vor dem Abschluss stehen, Euer Hochgeboren."

"Das wird sich weisen. Lasst uns erst einmal in den Rittersaal hinaufgehen, um das Vertragswerk ausgiebig zu studieren."

"Wir sollten mit den Kerzen sparsam sein", giftelte Lares unverdrossen weiter. "Im Rittersaal ist es ziemlich dunkel...zu dunkel, um das Kleingeschriebene vorzutragen. Herr Aarmarsland, den wir Jahre lang mitgefüttert haben, als Herold unserer kleinen....Turniergesellschaft, mag den Entwurf gerne hier im Garten vortragen. Und uns dann vielleicht noch eine weitere Kostprobe seiner Gaukelkunst geben?"

Adran schmunzelte, wurde aber sofort wieder ernst. Günstling und Lebensmensch hin oder her, er würde sich von Lares nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, als Herr dieser Feste.

"Mein Burghauptmann beliebt zu scherzen. Verzeiht seinen mitunter etwas rauen Humor, werter Herold."

"Besser ein paar raue Scherze als eine endlose Abfolge blutiger Schlachten, Euer Hochgeboren". Fulcher ließ sich von Ulfing die Schriftrolle reichen, die bislang am Sattel des Maulesels verwahrt worden war.

Der Herold zog das Schriftstück aus einer Lederrolle. Das Grautier hustete lautstark, mit feuchtem Nebel.

Adran, der einen Vorwurf aus den Worten herauszuhören glaubte, räusperte sich und gab den Wachen ein Zeichen, die Maultiere wegzuführen.

"Nun gut. Sprechen wir also über das Ende dieser Fehde. Gerne im Angesicht des Praios. Ihr dürft mich keinesfalls für einen Streithansel halten, Aarmarsland. Auch mir ist am Frieden gelegen. Allerdings werde ich das Schwert nicht eher niederlegen, bevor meine Ehre – die Ehre des Hauses Oppstein – vollumfänglich wieder hergestellt ist."

"Nun, ich denke, es ist möglich, bis zum Baduarstag eine Einigung zu erzielen", sagte Aarmarsland und klang aalglatt. "Ismena hat bewusst den Tag der Rittertugenden als Fristende für eine gütliche Einigung festgelegt. Eine Urfehde, wie man früher gesagt hat. Ich gebe zu, ich habe mich bei der Ausformulierung der zwölf Passi an den Rittertugenden orientiert: Gerechtigkeit, Mut, Geduld, Barmherzigkeit, Frömmigkeit, Weisheit, Demut. Hoffnung, Selbstbeherrschung. Mäßigkeit, Beständigkeit, Minniglichkeit..."

Bei den letzten Worten linste der Dergelmunder zu Lares, über das ausgerollte Papier hinweg. Der Persevant zückte bereits sein Schreibbrett, für Notizen. "Im Namen der Unsterblichen Zwölfe...hm-hm-hm...vereinbaren Ismena Rondria von Oppstein...Adran Aurentian Randolph von Berlînghan-Oppstein-Mersingen...ich denke, die Präambel können wir uns sparen. Ad Primo: Im Namen von Praios Gerechtigkeit. Ismena von Oppstein wird, sollte sie der Willen des Götterfürsten zur Herrin der Baronie Oppstein erheben, deren althergebrachten Traditionen, Sitten und Gebräuche achten, wahren und beschützen, wo immer diese als gut und redlich, recht und billig befunden werden. Keinesfalls darf solch Brauchtum den Lehren und Geboten des Zwölfgöttlichen Alveran - heilig, heilig, heilig! - widersprechen. Fortan mögen Vorbild, Unterweisung, Mahnung und, wo es Not tut, auch Strafe, alle Irrenden auf den rechten Weg zurückgeleiten."

"Ein bisschen umständlich formuliert", kommentierte Adran. "Um nicht zu sagen wachsweich. Aber ich weiß ja, dass sich meine Herren und Damen Gegner....Dass sie sich plötzlich auf einem heiligen Gänsezug wähnen, im Kampf gegen Ketzerei und Unglauben. Nun, mir ist klar, dass es für ihre alten Gebräuche ein paar Hintertürchen braucht. Was meinst du dazu, Lares? Ist der Passus akzeptabel?"

"Heißt es nicht: Billig ist, was außerhalb des geschriebenen Gesetzes als gerecht empfunden wird?" Lares versuchte klug und gebildet zu klingen. "Das erscheint mir passend."

"Ja, Ismenas Argumente kamen mir von Anfang an billig vor" spöttelte Adran. "Doch weiter." Seine Hochgeboren wedelten mit der Hand.

"Gut." Aarmarsland gab dem Perservanten ein Zeichen, der ein Häkchen auf seinem Schreibholz machte. "Ad Secundo. Im Namen Rondras, die uns Mut gegen die vielfältigen Mächte der Niederhöllen verleiht, als unsere wahren und vordringlichsten Feinde. Ismena erkennt die Verehrung der Reliquien des Korgesegneten Götterschwerts an, der Gigantin Sokramor, genannt die Schwarze Sichel. Alle Gebete und Opfergaben mögen allein ihrer erneuten Erweckung durch die unsterblichen Zwölfe dienen, am Tage der letzten Schlacht."

Adran lauschte auf jedes Wort, wie ein Komponist, der gerade ein neues Werk vorgespielt bekam. "Korgesegnet? Hatten wir uns nicht auf korgefällig geeinigt?"

"Ihr wisst, wie Hochwürden Malachanias...an diese Sache herangegangen ist. Götterkundlich, meine ich. Demnach könnte man die Überreste der Gigantenklinge als Reliquie betrachten, und solcherart deren Verehrung dulden. Rein kirchenrechtlich gesehen. Insofern damit nicht dem ersten Passus widersprochen wird."

"Jaja...aber wir waren uns eigentlich einig, Sokramor in diesem Fall als Reliquie erster Ordnung zu betrachten. Als heiligen Überrest eines der ersten Kinder Sumus, somit eines durchaus gottähnlichen Wesens..."

Aarmarsland räusperte sich und warf die nach vorne hängende rechte Sendelbinde wieder zurück. "Hochwürden Malachanias insistiert darauf, dass es sich bei Sokramor nur um eine Reliquie zweiter Ordnung handelt. Eine gigantische Berührungsreliquie, sozusagen. Die dadurch entstanden ist, dass der halbgöttliche Rondrasohn Kor sie im Kampf gegen die Vielgestaltige Bestie – unheilig – geschwungen hat."

Adran lächelte gequält: "Ja, wenn Hochwürden darauf insistiert...die meisten Menschen des Sichelhag dürften ohnehin nicht verstehen, was gemeint ist."

"Ad Tertio: Im Namen von Efferds Geduld. Zum Unterhalt des vormaligen Barons, Adran von Oppstein, fernab der märkischen Heimat, an den Küsten des Siebenwindigen Meeres, soll ihm eine jährliche Apanage von...wollen wir die Summe nennen?"

Adran schüttelte kaum merklich den Kopf. "Um Geld geht es hier gar nicht. Jedenfalls nicht nur. Die Höhe hat sich nicht geändert? Auszahlung durch die Berlînghansche Hausbank ya Strozza? In Horasdor, nicht Dukaten?"

"Alles wie besprochen. Oh, hier steht Dukaten. Das müssen wir noch ändern...soll ihm die jährliche Apanage von soundsoviel Horasdor sowie der Titel Altbaron von Oppstein zuerkannt werden. Ad Quarto: Im Namen von Travias Barmherzigkeit. Baron Adran verzichtet mit dem Tage der Unterfertigung auf den Oppsteiner Thron, zum Wohle der leidgeprüften Baronie, ebenso zur Wiederherstellung des Friedens zwischen den Angehörigen seiner Familie. Er entbindet von diesem Tage an sämtliche Vasallen und Dienstleute von ihrem Treueid. Seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin schlägt der Familienrat des älteren Hauses Oppstein vor, der bis zum Ende des 1046sten Jahres nach Bosparans Fall in dieser Sache zusammentreten wird".

"So ist es", nickte Adran. "Ich sehe meinen Thronverzicht als einen Akt der Barmherzigkeit. Irgendjemand muss diesen Wahnsinn beenden. Wenn ich allein an meine unglücklichen Bauern denke, die durch Ismenas Kriegsmaschine niedergemetzelt worden sind. Sonst hätten wir diesen Kampf gewonnen..."

"Nun, der Krieg ist nun einmal ein gestrenger Lehrmeister. Der seine Schüler allesamt gleich behandelt." Für einen Moment kamen dem Herold wieder die bleichen Leiber der Erschlagenen und von Fliegen umschwirrten Blutpfützen in den Sinn, auf dem Schlachtfeld. Das alles im Hochsommer. Mit einem Naserümpfen verdrängte er die Erinnerungen. 

"Ich fahre fort. Ad Quinto: Im Namen von Borons Frömmigkeit sollen Messen zu Ehren aller Kämpfer von Stand gelesen werden, die während dieser Fehde auf dem Feld der Ehre geblieben sind".

"Ja, auch unter meinen Adeligen gab es genug Opfer der unritterlichen Kampfweise dieser...ach, ich decke da besser Borons Mantel darüber. Nicht des Vergessens, aber des Schweigens."

"Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen, so ist es. Ad Sexto: Im Namen von Hesindes Weisheit. Adrans Tochter Praiodane von Oppstein ist unverzüglich auf freien Fuß zu setzen. Ihr soll der Titel der Edlen zu Senwitz und ein Platz in der Erbfolge belassen werden, in Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. Über die künftige Sukzession auf dem Drachenthron und deren Reihenfolge entscheidet der Familienrat. Ebenso wenig sollen die Rechte und Pflichten der übrigen Oppsteiner Adelsfamilien angetastet oder geschmälert werden, insofern sie sich der künftigen Ordnung nicht widersetzen."

Adran sagte lieber nichts. Der Passus war reine Augenwischerei, von wegen "Achtung der alten Oppsteiner Traditionen". Diese besagten, dass dem designierten Baronieerben das Edlengut Senwitz übereignet wurde, auf dass er - oder sie - sich beizeiten in der Lehensverwaltung üben möge. Im Grunde war das alles nur ein wenig Süßmoos für den traditionsbewussten Niederadel, dem vorgegaukelt wurde, dass die Redenhardtsche Linie wieder auf den Thron zurückkehren konnte, nur eben zu einem späteren Zeitpunkt. Immerhin, Praiodane würde versorgt sein und nicht im Kerker der Inquisition enden.

"Ad Septo: Im Namen der Demut, die uns Firun lehrt, legt das Haus Oppstein die letzte Entscheidung über die Erbfolge in die Hände Ihrer Erlaucht, Markgräfin Swantje von Rabenmund. Ad Octo: Im Namen der tsagefälligen Hoffnung und Versöhnung soll  der Edlen Praiodane ein  Nichtoppsteiner Verwandter oder Verbündeter Ismenas zum Manne gegeben werden."

Adran hob die Augenbrauen. Dafür, dass seine "Tochter" immer noch auf ihrem eigenen Edlengut gefangen gehalten wurde, war das ein recht nobles Angebot. Vermutlich wollte Ismena ihrem dreisten Überfall damit im Nachhinein noch einen Hauch Rechtmäßigkeit verleihen.

"Ad Nono: Im Namen des Phex, der Selbstbeherrschung fordert. Alle Teilnehmer der Fehde schwören Verzicht auf Rache, für womöglich zugefügtes Leid und verzeihen sich etwaig begangenes Unrecht."

Der Baron schwieg erneut. Forderte der Unfassbare Schleicher wirklich Selbstbeherrschung? Gewiss, bei einem Opfer eines Diebstahls oder Einbruchs, das sich nicht mehr wehren konnte. Aber ja, so lauteten sie, die Rittertugenden, zumindest in Garetien und damit wohl auch im benachbarten Darpatien.

Adran vermisste die gute alte Treue, die Würde und Hochstimmung, die einen früheren Ritter im "Herzland des Reiches" ausgezeichnet hatte. Der selbst noch in Anbetracht einer verheerenden Niederlage in die Schlacht geritten war, um Leben und Ehre seines Lehnsherren zu wahren. Treue bis in den Untergang, die gab es einfach nicht mehr. O tempora, o mores.

"Ad Decimo: Im Namen von Peraines Mäßigung. Um das auseinander Strebende wieder zusammen zu fügen, das rechte Maß zu wahren und die Wunden des blutigen Zwists zu heilen, werden sowohl Ismena als auch Adran jeweils XXXX Dukaten an einen Tempel der Gütigen spenden."

"Meint XXXX bosparanische Ziffern?", sagte Adran leichthin, was als Scherz gemeint war. Die Summe war tatsächlich noch ausgespart worden, weil sich Ismena an der gleichen Höhe gestört hatte – gar so, als wäre die Fehde unentschieden ausgegangen, oder als hätten beide Seiten die gleiche Schuld an deren Ausbruch auf sich geladen. Zumindest in diesem Punkt war sich Adran mit seiner Feindin einig, auch wenn es natürlich Ismena gewesen war, die diesen verhängnisvollen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Egal, mittlerweile ging es ihm nur noch darum, sein Andenken als "Hexenbaron" und "Levthanslüstling" aufzuhübschen. Niemand sollte denken, er wäre wirklich ein Anhänger des Pharraz gewesen, des Schwarzudruiden, der einen hohen Perainegeweihten hatte meucheln wollen. Zu dieser Zeit hatte er sich jedenfalls schon von diesem verrückten Zausel losgesagt.

"Ein guter Vorschlag", antwortete der Herold. "Ich werde 40 Dukaten einfügen." Der Persevant schrieb es dienstbeflissen auf. Achtzig Dukaten waren keine allzu berauschende Summe. Letztlich war es damit der Tempel, der zur Maßhaltung aufgefordert war. 

"Ad Undecimo: Im Namen von Ingerimms Beständigkeit soll diese Urfehde im Tempel des Erzenen zu Markt Oppstein unterfertigt, gesiegelt und bezeugt werden".

Der Baron nickte schicksalsergeben. Er hätte einen Ort in der Nähe bevorzugt, um sich bei Gefahr rasch wieder in die Schwerterburg zurückziehen zu können. Aber nun gut, der Rote Gott war nicht Praios. Mit einer Verhaftung durch Malachanias musste er - hoffentlich - nicht rechnen. Der Ingerimmstempel galt gemeinhin als Heiligtum der Landzünfte, und war sicher deren wichtigster Verbündeter. Vermutlich wollte Ismena sich damit bei seinen schärfsten Gegnern im Markflecken einschmeicheln. Schon Redenhardt hatte sich als Stadtvogt im Kampf gegen diesen verdammten Bürger, Patrizier und Handwerker aufgerieben, die nach einem Freien Rommilys gelechzt hatten. Wer hatte denn diese kleinen Möchtegern-Festumer vor den Dienern der Niederhöllen beschützt, in Jahren des Kampfes? Allein der Adel. Wie man es den Edelgeborenen dankte, erlebte er gerade selbst. 

"Ad Duodecimo: Im Namen der Minniglichkeit Rahjas. Fürderhin sei es Altbaron Adran gestattet, eine künftige Ehe, so er es wünscht, auch vor dem Altar der Liebesgöttin zu schließen. Mit Rücksicht auf die traviagefälligen Sitten wird eine solche Hochzeit außerhalb der Grenzen der Rommilyser Mark stattfinden."

Lares strahlte über das ganze Gesicht, als wolle er noch dem dümmsten Waffenknecht - oder den Mauleseln - verdeutlichen, was mit diesen verklausulierten Worten gemeint war. Adran beschlich die Sorge, dass sein Favorit im nächsten Moment vor ihm niederknien und ihm einen Heiratsantrag machen würde. Nun, zu einer derart peinlichen Szene kam es zum Glück nicht. Auch wenn zumindest Roana von Hochfels sofort durchschaute, was gemeint war. Oh, diese traviagefällige Engstirnigkeit und Scheinheiligkeit, die er ein Leben lang gehasst hatte!

Dabei hatte er Thahira sogar im friedwängischen Praiostempel geheiratet, um zu unterstreichen, dass er eine rein politische Ehe eingegangen war, kein einfältiges Gänsegekuschel. Eigentlich hatte Adran den Passus nur für den Fall zugestimmt, dass die Rufe nach einer Wiederverheiratung auch im Exil nicht verstummen würden. In Methumis, dem Zufluchtsort, saß immerhin noch Elissa von Berlînghan, seine Adoptivmutter. Wenn, dann würde diese Hochzeit wenigstens eine Liebesheirat werden! Ob er dabei wirklich mit Lares Händchen halten würde, stand auf einem ganz anderen Pergament.

Rahja hatte auch noch andere Spielzeuge zu bieten - und das nicht nur im Wortsinn. 

"Ad Omnio. Die Unterzeichnenden geloben im Namen aller zwölf Götter, obige Vereinbarungen baldmöglichst und wortgetreu umzusetzen, erfüllt vom Willen zu Frieden, Eintracht und Versöhnung. Dieser Vertrag tritt zu Baduari, den 15. Tag der Rondra im 1046. Götterlauf nach Bosparans Fall in Kraft."

"Wunderbar, dann sind wir ja fast fertig", sagte der Oppsteiner. "Die Zeugen?"

"Alle Hochgeweihten, die anwesend sein werden."

"Etwas hätte ich noch vorzubringen. Nachdem Ismena leider das alte Baronssiegel gestohlen hat, werde ich zur Siegelung auf ein Geschenk des Hauses Rabenmund zurückgreifen müssen. Ein Präsent des Fürstenhauses für meinen Vater...Stiefvater Redenhardt, bei seiner Hochzeit."

Adran nestelte eine Doppelpetschaft hervor, das er bislangen verborgen getragen hatte, an einem Kettchen unter seinem Rüschenkragen. Der silberne Stempel zeigte den darpatischen Stier und das Wappen des Hauses Rabenmund. An der Unterseite war der Drachenkopf seiner Familie, auf der Oberseite die Fischtriskele der Berlînghans zu sehen. Adran zeigte stolz das "Irmegundesiegel" herum. Er durfte gar nicht daran denken, dass es der "Dreischwänzige Fisch des Heiligen Gullaran" - der in Wahrheit aus drei Leibern rund um einziges Auge bestand - gewesen war, der sein Interesse an den Alten Kulten geweckt hatte. Die ebenfalls ein magisches Triskele als Geheimzeichen verwendeten. Nun, als seine andere Inspirationsquelle hatte eindeutig Serwa von Friedwang gedient. Auch wenn die alte Schabracke heute so tat, als hätte er sie wie eine unschuldige Dienstmagd verführt oder gar geschändet. So waren sie, die Frauen. Im Grunde waren es die Hexenweiber gewesen, die ihn in Lares starke Arme getrieben hatten. Und sie demnächst beide in die levthansgefällige Coverna vertreiben würden.

"Ich denke, dagegen ist nichts einzuwenden. Da ihr nach der Unterzeichnung ja schon nicht mehr als Baron von Oppstein siegeln werdet." Aarmarsland klang ebenso spitzfindig wie gehässig.

Der Oppsteiner beschloss, nonchalant darüber hinweg zu gehen. "Auf kurz oder lang hätte ich mich ohnehin auf einen Altersruhesitz ins Liebliche Feld zurückgezogen. Auch wenn ich den Oppsteiner Hof lieber meiner Tochter als meiner Kusine überlassen würde. Kommt Zeit, kommt Rat. Wer weiß, wie die werte Familie entscheidet. Bis dahin möchte dieser Baronie eine Entscheidungsschlacht ersparen."

"Eine weise Entscheidung, in Anbetracht der höheren Umstände. So bleibt es bei der Siegelung am Baduarstag? Dem 15. Tag der Rondra, im Tempel des Roten Gottes zu Oppstein?"

"Natürlich. Darf ich Euch zu einem Umtrunk einladen, zur Feier des Tages? Mitsamt Eurem Persevanten? Dafür braucht es kein Kerzenlicht."

"Seid bedankt, aber es ist ein gutes Stück Weg zurück nach Koppeln, und ich soll möglichst bald Bericht erstatten."

Adran war es Recht. Mit einem Mal fühlte er sich müde, bloßgestellt und abgestraft - wie der missratene Sohn eines einstmals mächtigen Handelshauses, der gerade Bankrott hatte anmelden müssen.

Die Umstehenden applaudierten dezent, mehr oder weniger erleichtert.

Lares war einigermaßen zufrieden, über die Aussicht auf ein Domizil im Horasreich. Edorian, seinen alten Peiniger, hatte er in dieser Fehde über das Nirgendmeer geschickt, immerhin, im ehrlichen Zweikampf. Zumindest diese Genugtuung war ihm  zuteil geworden war. Wenn der Söldnerführer nicht irgendein Wilderer oder Räuberhauptmann gewesen war, mit abgehackter Hand. Verrückte gab es in der ehemaligen Wildermark nun wahrlich genug. Vor allem im hinterwäldlerischen Sichelhag.

Roana von Hochfels schüttelte innerlich den Kopf: Hatte Adran gerade wirklich von einer “Entscheidungsschlacht” gesprochen? Auf die er gnädig verzichtet hatte? Immerhin, Adran wusste, wie man an seinem eigenen Mythos strickte.

Nur Nele von Moosenwaldt, die Knappin, war ehrlich enttäuscht, ja erbost. Sie hatte in dieser Fehde kein einziges Mal ihr Kurzschwert gezogen und die Feinde Sokramors nur aus weiter Ferne gesehen. Würde sie vor dem schmählichen Abzug noch den Ritterschlag erhalten, durch ihren Schwertvater? Oder sollte sie ihn am Ende ins verweichlichte und dekadente "Horaaaasraisch" folgen. "Liebliches Feld", das klang wie das genaue Gegenteil eines rondragefälligen Schlachtfelds. Fast schon wie Hohn.

 

Mit verstohlenem Haß sah sie den  Herold an, der wie ein eitler, selbstgefälliger Gockel zu seinem hustenden Maultier schritt. Wurde seine Zunft nicht auch die "Hähne des Praios" genannt? Sicherlich steckte er mit den Sonnenanbetern unter einer Decke. Was die verdammten Ismenischen nicht mit Feuer und Schwert geschafft hatten, das war diesem glattzüngigen Intriganten gelungen: Adran hatte seine Baronie für schnödes Liebfelder Gold verramscht, nein, schlimmer noch, die "Alten Kulte" für ein paar schöne, nichtssagende Worte preisgegeben.

Am liebsten wäre Nele nach oben gelaufen, in ihr schlichtes Knappengemach, hätte sich aufs Strohbett geworfen und drei Tage lang geweint, voll ohnmächtiger Wut. So also fühlte es sich an, besiegt zu sein.

 

 

Ein paar Bogenschüsse entfernt stand Timoin von Binsböckel auf einer felsigen Bergwiese, neben dem Zuweg, der dem Höhenrücken entlang zur Burg folgte. Valyrias Zögling befand sich zwar nicht in Siegerstimmung, aber in eindeutig besserer Laune. Da vorne, auf dem Felssporn, musste der Blick über das Umland famos sein.

Die beiden Schlotzer Waldschützen, die ihn begleiteten, hielten alle drei Pferde und warteten mit fast schon golemhafter Geduld auf die Rückkehr der Herolde. Timoin selbst hatte Bavhano´Bvaith griffbereit, die Hand an der Sehne, unweit des Außenwerks der Schwerterburg. Die Leibgarde der Unterhändler sollte vor allem dazu dienen, Rotpelze abzuschrecken. Vielleicht auch wilde Tiere. Erst vor einer Stunde hatten sie einen Bären gesehen, der auf einer Wiese...gegrast hatte, ja, in Peraines Namen, gegrast hatte wie eine Kuh. Odilon hatte ihm davon erzählt, dass das Wappentier seines Hauses gelegentlich ein solches Verhalten zeigte. Selbst die Bären waren mittlerweile friedlich gestimmt, trotz des Rondramonds.

Ein wenig schade war das nahe Ende der Fehde schon. Allzuviel Ruhm hatte er, der Bastard, seinem Haus nicht eingebracht. Ganz im Gegenteil, sein Freikauf war nicht billig gewesen, aus der Gefangenschaft der Glorianer. Der Schuss in den Rücken der edlen Praiodane hatte wohl nicht ausgereicht, um diese Scharte auszuwetzen. Irgendwie galt Alboran von Schlotz als Held, der die levthansgehörnte Baroness dingfest gemacht hatte, obwohl sein Halbkousin kaum am Kampf beteiligt gewesen war. Überschwänglich bei ihm bedankt hatte der Herr von Schlotz sich auch nicht, obwohl er um ein Haar von der Oppsteinerin aufgespießt worden wäre. Aber Albo war Baron, Timoin, sein Lebensretter, ein Niemand. Momentan hatte er nicht einmal mehr einen Schwertvater und Valyria saß auf ihrem Gutshof in Schlotz.

Also hatte der Halbwüchsige sich freiwillig zum Ritt in die Berge gemeldet, auch wenn er sich damit bei der Reichsarmee keinen Greifenstern verdient hätte.

 

Da ragte sie nun auf, die langgestreckte Schwerterburg, wie ein inmitten der Berge gestrandetes Schiff. Nach und nach hatte Timoin verstanden, warum es Schwerterburg hieß: Die Hauptburg ähnelte einem Langschwert. Davor erstreckte sich ein breiter Halsgraben, hinter dem das Torhaus mit einer durchaus beeindruckenden Schildmauer aufragte. Das Außenwerk davor konnte man mit etwas Fantasie als Kurzschwert deuten: Das äußere, kleinere Torhaus mit überdachtem Wehrgang und die sich seitlich anschließenden, zinnenbewehrten Mauern erinnerten ein wenig an eine Parierstange. Der Zuweg Richtung Außenwerk war demnach der Griff, die sich anschließende kurze Stein- und die aufliegende Zugbrücke die "gebrochene" Klinge.

Odilon hatte ihm ein paar Mal die Bestandteile einer Burg erklärt. Soweit er wusste, war "Barbakane" der Name für ein solches Vorwerk, dass die eigentliche Feste vor Handstreichen schützen sollte. Ob die Bezeichnung mit Brabak zusammenhing, dem Außenposten im äußersten Süden Aventuriens, von dem ihm der Schwarze Bär ebenfalls erzählt hatte? Der Herkunftsort seines Onkels?

Egal, Timoin hatte sich eigens auf eine kleine Anhöhe gestellt, um die Fluchtburg eingehender studieren zu können. Auf dem Felsvorsprung war sie von Ringmauern umgeben. Aber vor deren Erstürmung hätte ein Angreifer erst einmal die steilen Felsen bezwingen müssen. Allein für die Kletterpartie hätte es schon eines echten Bergphex wie Odilon Wildgrimm gebraucht. Timoin hatte das Gefühl, dass die Burg nicht an diesem Ort gebaut worden war, um etwas zu beschützen – er bot sich naturgemäß dafür an, eine unstürmbare Feste zu errichten. Wie auch immer, auf die Barbakane folgte die Zugbrücke mit ihren Schwingbalken, die über den Graben zum Torhaus führte, als vorgelagerter Teil der mächtigen Schildmauer.

Den Geräuschen nach zu urteilen kehrten auf der anderen Seite gerade die beiden Herolde zurück, mit ihren zockelnden Maultieren. Zumindest hustete gerade eines der Reittiere. Na endlich.

Auf dem Wehrgang der ebenfalls überdachten Schildmauer selbst hielten einige Rotgoldene Wache, die den Schlotzern nicht über den Weg zu trauen schienen. Mehr als die Farben ihrer Waffenröcke, ihre hellen Gesichter, die Eisenhüte und die Armbrüste waren nicht zu sehen. Der Wehrgang kragte ein wenig über, sodass man einen Feind, der durch den Graben vorwärts drängen wollte, auch mit Wurfgeschossen in Empfang nehmen konnte.

Timoin hatte ihnen die umgekehrten Levthanshörner entgegen gereckt, gemäß seines Verständnisses von "Diplomatie". Der "Tote Widdergott" war so ziemlich die allerübelste Beleidigung, die man einem Sokramorier zeigen konnte. Dennoch, die Ketzer waren gut verschanzt. Mit dem Bogen ließen sich die Schießscharten gerade so erreichen, aber schon der Schusswinkel war ungünstig, während die feindlichen Schützen die ganze Umgebung unter Beschuss nehmen konnten, fast nach Belieben.

Um die Hauptburg zu beschießen, musste ihre Balliste wohl zumindest die Steinbrücke erreichen, die in den breiten Graben hinein ragte und als Widerlager für die Zugbrücke diente. Vielleicht war es ganz gut, dass die Fehde jetzt zu Ende war, ein Spaziergang wäre die Eroberung der Schwerterburg nicht geworden.

Timoin vermutete, ein wenig altklug, dass es eine längere Belagerung gebraucht hätte, um dieses Sokramoriernest auszuheben. Das angeblich Probleme mit der Wasserversorgung hatte. Aber auch ein Belagerer würde hier oben, inmitten der Bergeinsamkeit, nicht gerade im Güldenland leben.

 

 

Baron Adran hatte derweil die Schildmauer betreten, um den Ismenischen beim Abrücken zuzusehen. Wer wusste schon, ob die Erbschleicherin nicht vielleicht doch noch irgendeine Hinterlist plante? Die Handvoll Armbruster spähten jedenfalls misstrauisch in Richtung Zuweg, während die Zugbrücke mit schwerem Poltern hochgezogen wurde. Die Nervosität war groß, auch wenn es nicht wirklich einen Handstreich geben konnte. Das äußerste Tor war ja noch immer geschlossen.

Die beiden Herolde wurden dort von seiner Knappin und zwei Wachen in Empfang genommen, und begannen aufgeregt zu palavern. Um was auch immer genau es da ging. Was tat Nele jetzt? Sie ging nach oben auf den Wehrgang, um sich den Abstand zu den übrigen Ismenischen anzuschauen. Kluges Mädchen.

Vermutlich war die Fehde wirklich zu Ende. Es war ein kurzer, aber heftiger Waffengang gewesen. Adran blickte ins Umland, nicht ganz frei von Höhenangst. Er wollte gefühlsmäßig Abschied nehmen, von seiner Baronie, zumindest damit beginnen, Adieu zu sagen.  Aber diese firunische Einöde, mit ein paar Almen dazwischen, sagte ihm nichts. Keine Wehmut, keine Tragödie. Vom Felssporn hinab betrachtet, war die Landschaft grandioser. Aber daran lag seine "Teilnahmslosigkeit" nicht. Er sehnte sich nach dem Oppsteiner Palazzo, dem Labyrinth und dem Park – sein Lebenswerk, das, den Berichten zufolge, bereits zertrampelt worden sein sollte.

Hätte er bis zum letzten Atemzug kämpfen sollen, um das Land seiner Ahnen? Aber Adran war kein Freund sinnloser Gesten. Diese Baronie hatte ihre Verteidigung gar nicht verdient. Er würde ungehemmt weiterleben dürfen, sogar mit Lares, in einer der schönsten, vor allem klügsten Städte Aventuriens, am Methumischen Busen. Bei dem Gedanken an einen "Busen" musste der Oppsteiner grinsen. Verstohlen zog er das gläserne Giftfläschchen hervor, dass er für den äußersten Notfall bereit gehalten hatte. Nur kurz blickte er auf den schwefelgelben, leicht grünlichen Inhalt. Erst jetzt sah er, wie groß das “Fläschchen” war. Hatte dieser tobrische Schafsbeschwörer an mehrfache Verwendung gedacht, durch den Nochbaron von Oppstein?

Die Wachen waren gerade abgelenkt, also ließ er das Zeug diskret in eines der steinernen Wurflöcher fallen, ein Maschikuli, mit dem sich selbst die toten Winkel unterhalb der Mauer erreichen ließen.

Das Giftfläschchen zersprang klirrend in felsiger Tiefe. Adran atmete tief durch, dann zog er den Mantel enger, seufzte, ein wenig melancholisch, aber irgendwie auch wohlig, und ging zurück zum Haupthaus. Für den Moment hatte er seine ewige Angst besiegt.

 

Timoin hielt seinen Elfenbogen weiterhin griffbereit. Nur kurz lenkte eine Kuhherde seine Aufmerksamkeit ab, die auf einem benachbarten Bergrücken durchging und eine regelrechte kleine Stampede verursachte. Womöglich hatte ihr irgendein Greifvogel Furcht eingejagt. Aber der Binsböckel sah nur einen flüchtigen Schatten über die massigen Leiber hinwegziehen. Kuhschellen schepperten. Die vorbeijagenden Wolken selbst warfen schwarze Silhouetten auf die Hänge, trotz des schönen Rondratags. 

Die Pferde schnaubten nervös und mussten fester gepackt werden. Der geheimnisvolle "Drache des Hauses Oppstein" kam Timoin in den Sinn - ein Phantom, das neulich eine ihrer Streifscharen attackiert haben sollte. Der letzte Verbündete Adrans wurde auch Geisterdrache genannt. Mit eigenen Augen gesehen hatte ihn niemand. Die Mersinger Reiter waren tüchtig verspottet worden – aber nun, da Timoin selbst auf dem dicht bewaldeten Schwerterberg stand, kam ihm die Drachengeschichte nicht mehr gar so unglaubwürdig vor. 

Der Blick von Bishdarielons Bastard wanderte umher. Dort, in der Hecke, hing ein schwarzverbrannter Fetzen – der Mantel, den einer der Reiter verloren haben wollte?

Timoin schluckte. Vielleicht war ja doch was dran, an der Sache mit dem Drachen. Seine Gefährten hatten an einen Riesenlindwurm gedacht, einen Kaiserdrachen oder Höhlendrachen vielleicht, mindestens aber an einen faulig stinkenden Tatzelwurm. All diese Ungeheuer waren in Valyrias Bestiarium verzeichnet gewesen, in das ihr Adoptivsohn einmal einen scheuen Blick hatte werfen dürfen. Später hatte Odilon ihm erzählt, dass es winzig kleine Drachen gab, sprechende Drachenzwerge, die gelegentlich auch im Sichelhag vorkommen sollten.

Verdammt, warum brauchten die Herolde so lange, auf der anderen Seite des Außenwerks? Nervös spähte Timoin um sich. Was, wenn der hinterlistige Hexenbaron einen Hinterhalt plante? Adran bewunderte das Liebliche Feld, wo Gift und Dolchstösse an der Tagesordnung sein sollten, nach allem, was man so hörte. Kurz vor Mengbilla. So jemandem durfte man nicht trauen.

Eine schemenhafte Gestalt fiel ihm ins Auge, hoch oben auf dem Wehrgang der Schildmauer. Als hätte Timoin ihn heraufbeschworen, war Adran in eine Schießscharte getreten, und spähte herab. An einen sauberen Blattschuss, der diese Fehde ehrlich beendet hätte, war leider nicht zu denken. War das wirklich der falsche Baron von Oppstein? Zumindest trug die Gestalt da oben nicht den Waffenrock der Soldaten. Irgendetwas fiel durch eines der Wurflöcher, etwas, was eine Art Lichtblitz verursachte. Was immer es war, es blieb auf dem felsigen Fundament der Schildmauer liegen, glitzerte und funkelte.

 

Ein Steinwurf neben sich nahm Adran ein Rascheln wahr, gefolgt von einer Bewegung. Etwas Halbgroßes erhob sich in die Luft, etwas, was den blauen Himmel und angedeutete Umrisse oder Wölbungen zeigte. Das Ding, dass wie ein Chamäleon die Farbe seiner Umgebung annahm, hatte eindeutig die Form eines rebhuhngroßen Drachen - Fledermausflügel, Pfeilschwanz, einen Echsenkopf.

 "Draaache!" schrie Timoin. 

Das flatternde Etwas schwirrte zum Halsgraben. Die Ismenischen ließen erschrocken die Pferde los, was nicht klug war – alle drei, einschließlich Atzel, sprengten in jäher Panik davon. Das Tor des Außenwerks öffnete sich. Die beiden Herolde ritten heraus, mit dankbarem Nicken in Richtung der Vorposten.

 Die flirrende Erscheinung kehrte zurück, nur als Bewegung wahrnehmbar. Ebenso wie seine Gefährten, legte Alrik einen Pfeil auf die Bogensehne. Instinktiv ließ er die Sehne los. Drei Pfeile schwirrten in Richtung Schildmauer und prallten schwach vom schwarzgrauen Mauerwerk ab. Armbrustbolzen fegten von oben heran, gut, aber zu kurz gezielt.

Erschrocken ob des jähen Schusswechsel warfen die Wachen das Tor der "Brabakane" zu.

"Haltet ein, haltet ein!" rief Aarmarsland, der sich mitsamt Maulesel umgedreht hatte - vielleicht eine Spur zu theatralisch. "Wir haben bereits Frieden!"

Im nächsten Moment traf den Herold ein Armbrustbolzen in die Schulter. Wiehernd galoppierte das Grautier davon. Der Schuss war eindeutig aus einer Schießscharte der Barbakane gekommen. Ulfing, der Persevant, ergriff ebenfalls das Goblinpanier. Der aus Luft geformte Drachenleib war verschwunden.

Der Maulesel des Herolds hielt geradewegs auf den Abgrund am Burgweg zu. Im letzten Moment stoppte es ab, schleuderte seinen Reiter neben die Felswand und eilte in die entgegengesetzte Richtung.

Timoin zögerte nicht lange. Schnellschütze, der er war, jagte er ein paar Geschosse in Richtung des Außenwerks, um dessen Besatzung einzuschüchtern. Dann lief er, geduckt und hakenschlagend, auf den Herold zu, der, stöhnend vor Schmerz, am Felsen hing. Der Binsböckel wollte gar nicht erst in die Tiefe starren. Mit beherztem Griff packte er Aarmarsland und zog ihn ruckend nach oben. Es grenzte an ein Wunder, dass es der Bote es trotz seiner schweren Wunde geschafft hatte, sich an einem Busch festzuklammern.

Keuchend starrte Timoin ihn an. "Bleibt besser bei uns."

"D...Danke..."

"Scheiß Oppsteiner. Denen kann man einfach nicht trauen. Wir müssen weg hier, schnell!"

Timoin sah sich um. Dann sah er Atzel, seine treue Barnfarni-Stute, die entgegen jedweder Meschenmeinung über Elstern, geradewegs auf ihn zuhielt. Vermutlich, um ihn zu retten. Der junge Binsböckel beförderte den stark blutenden Herold in den Sattel. Geduckt führte er das Pferd aus dem Schussfeld heraus.

Nach einer Weile blieb Timoin schwer atmend stehen, in der Deckung eines Wäldchens. 

"Warum habt Ihr solange an der Barbakane gebraucht, Herold?"

Aarmarsland tastete nach dem rotverschmierten Armbrustbolzen in seiner Schulter. Vorsichtig glitt er aus dem Sattel - und schrie beim Bodenkontakt vor Schmerz auf. "Der Wachtposten...er wusste um ein geheimes Mittelchen...gegen Mauleselhusten."

Timoin lachte auf, ein klein wenig verzweifelt. "Ah so. Wahrscheinlich war er der Gleiche, der Euch den Bolzen hinterher gejagt hat."

Der Herold schüttelte matt den Kopf und starrte blass auf den blutgetränkten Tappert. "Ich...ich denke, es war dieses junge Ding. Adrans Knappin...ssss...aaaah...sie war oben auf dem Wehrgang."

Sein Retter atmete erst einmal durch. Zum Glück hatte er ein wenig Verbandszeug dabei. Mit seinem Messerchen schnitt er den Tappert auf und legte ihn beiseite. Dann versorgte er die Wunde notdürftig. "Schafft Ihr es bis zum Feldlager?"

"Mir...mir wird...gar nichts anderes übrig bleiben!"

Timoin stopfte noch etwas Mull unter den Verband, ebenso Moos, das als erdnahes Gewächs besonders viel Sumukraft in sich aufnahm. Und laut Odilon die Gefahr von Wundfieber zu mildern half.

Was war gerade eben geschehen? Adran hatte etwas Funkelndes in den Burggraben fallen lassen, wovon der "Luftdrache" angelockt worden war. Laut seinem Lehrmeister sollten diese Winzdrachen so diebisch sein wie die Elstern. Bezahlte ihn der Oppsteiner so für seine Dienste? Dafür, dass er die Ismenischen ausspionierte und gelegentlich mit seinem Feuerodem erschreckte? Sah fast so aus. 

Diebisch wie die Elstern. Schaudernd musste der junge Waidmann an den Traum denken, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete.

 

 

"Seid Ihr eigentlich von allen guten Göttern verlassen???" Baron Adran hatte jedwede Contenance verloren, als er den Torwachen einen kräftigen "Feenwind" verpasste. Den sprichwörtlichen Wehrheimer Bürstenhaarschnitt besaßen beide schon. "Wenn ich den Idioten erwische, der uns das eingebrockt hat...den lasse ich von den höchsten Zinnen der Burg baumeln!"

Mit hochrotem Kopf starrte der Oppsteiner in die Runde. "Ihr solltet  Vorposten sein. Stattdessen seid ihr Vollpfosten! Wohl völlig verrückt geworden, oder was? Habt Ihr Rauschkraut genommen? Oder Halluzinationen?! Unglaublich, einfach unglaublich!"

"Herr, wir..." druckste einer der beiden Burgmannen herum und starrte auf seine Stiefel.

 "Wer von euch beiden wars? Schießt einen Herold nieder, vor meinem Burgtor...beim Hinausreiten...mit dem ich gerade...mit dem ich gerade....so kurz vor einem Friedensschluss war." Der Freiherr deutete mit den Fingern an, wie kurz, und ließ sich in einen thronähnlichen Stuhl fallen. Nella, seine Knappin, betrachtete er gar nicht, obwohl die Moosenwaldt am zerknirschtesten von allen wirkte. Adran spürte, wie erneut der kalte Hauch der Angst nach ihm griff. Der Vertrag, den sie in zwei Wochen ausgehandelt hatten, war annehmbar gewesen. Nun stand wieder alles auf der Kippe. Womöglich würden sie ihn jetzt wegen tätlichen Angriffs auf einen Herold anklagen.

"Ich...ich war es", hörte er Nele in die entstandene Stille hinein sagen, mit leiser, aber durchaus fester Stimme.

Eher erstaunt als erzürnt sah der Baron hoch. "Du hast doch gar keine Armbrust, Nella von Moosenwaldt."

"Wilbur und Bernfried, also, die waren unten am Tor beschäftigt...also hab...hab ich derweil mit der Armbrust Wache gehalten." Die Knappin war mehr als verlegen. Wenn ihr Herr sie mit dem offiziellen Vornamen ansprach, dann war ein Orkan im Anmarsch, nicht nur ein laues Lüftchen.

Adran beugte sich vor, und wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. "Verstehe...und dabei hat sich versehentlich....ein Pfeil gelöst?!"

Gerne hätte Nele das behauptet, nur stimmte es leider nicht. Alles war so verwirrend gewesen. Mehr als einen Moment lang hatte sie nur das Wappen auf dem Heroldsrock gesehen, den Sonnenaufgang über der Sichel, flankiert von Greif und Bär. Die Greifen, das waren in ihren Augen die Häscher des erbarmungslosen Sonnengottes, der ganz Dere in Brand stecken würde, hätte Sokramor den Menschen nicht Nacht und Dunkelheit geschenkt. Zumindest hatte das eine Weise Frau einmal behauptet. Der Bär wiederum, das war das Wappentier der machtgierigen Baernfarns. Nele hatte einfach zwischen Bär und Greif gezielt, aber trotz der geringen Entfernung nur die Schulter getroffen – was ihr  fast mehr leid tat als ihre Hitzköpfigkeit.

"Ich habe schlecht gezielt", antwortete sie und starrte ins Leere.

"Du hättest noch ein wenig schlechter zielen sollen", sagte Lares gedehnt. "Gut möglich, dass die Ismenischen auf die Auslieferung des Schützen bestehen werden."

Seine Schwester warf ihm einen kühlen Blick zu.

"Ich habe mit den Wachen auf der Schildmauer gesprochen", sagte Roana. "Sie hatten den besten Überblick. Mit dem Pfeilbeschuss angefangen haben eindeutig unsere Feinde. Ohne erkennbaren Grund. Der verrückte Kerl mit dem Elfenbogen, das muss dieser… dieser Binsböckel gewesen sein, der Baroness Praiodane einen Pfeil in den Rücken geschossen hat, in der Schlacht. Womöglich hatte er den Auftrag, die einzig wahre Baronieerbin zu beseitigen. Jedenfalls...nun, die Zeugen waren sich einig, dass der Binsböckel lauthals Rache gebrüllt hat. Darauf hin haben die Schlotzer angefangen, wie verrückt auf die Mauer zu schießen, und ihre Pferde davon gejagt."

Adran sah die Hochfelserin durchdringend an. "Ihre Pferde haben sie davon gejagt? Soll das eine famose List gewesen sein, wie damals beim Joborner Pferd?"

"Joborner Pferd?" fragte Lares, der gerade aus einem der Fenster blickte.

"Die Rahjastute, auf der die Heilige Dorlen zwischen die verfeindeten Heere geritten sein soll, im Krieg zwischen Nostria und Andergast. Um sie mit dem Duft des Liebeslichts zu besänftigen. Die berühmte Joborner Verbrüderung."

"Ah...die Geschichte mit dem Pferd kannte ich noch gar nicht. Sicherlich war die gute Dorlen dabei splitterfasernackt. Das wird die Wirkung der Duftlampe ungemein verstärkt haben." Lares wedelte mit der Hand vor dem Mund, eine abergläubische Geste, die verhindern sollte, dass die Lästerei bis hinauf nach Alveran steigen konnte. Bis an die Ohren der Götter.

"War das Mannloch offen?" fragte Roana unvermittelt, in Richtung der beiden Wachen.

"War das Mannloch offen? Was für eine entzückende Frage..." Der Burghauptmann lachte lautlos auf.

"Lares, könntest du für einen Moment ernst bleiben." Adran hatte seine Finger ineinander verschränkt, ganz Baronielenker. Immerhin, seine Stimmung schien sich ein wenig zu bessern.

"Ja, die kleine Tür war nicht verriegelt", sagte Wilbur.

Roana nickte. "Da haben wir es ja schon. Die wollten das Außenwerk stürmen, im Handstreich. Durch die Mannlochtür. Mit den Herolden als...als lebende Schutzschilde. Meine Tochter hat auf die Angreifer gezielt, und versehentlich Aarmarsland getroffen. So war es doch, Nele? So hat es sich doch sicher zugetragen?" Eindringlich sprach Roana auf die Knappin ein.

Nele war völlig verwirrt – ein paar Sätze mehr, und sie hätte selbst geglaubt, dass es so gewesen war.

Sie nickte geistesabwesend. Natürlich, so musste es gewesen sein. Anders konnte sie sich ihr unbesonnenes Verhalten selbst nicht mehr erklären.

"Wir sind hier nicht bei einem Bauerngericht, Roana. " Adran wirkte jetzt völlig ruhig, ein Zustand, der bei ihm keinesfalls ungefährlicher war als Gebrüll. "Dort kommt es vielleicht auf die schönste Ausrede an. Aber nicht in unserer Situation. Oleana wird das trefflich ausschlachten...das spüre ich...sie werden versuchen, auch noch Praiodane unschädlich zu machen. Sie vollends aus der Erbfolge rauszuwerfen. Sie am Ende auch noch als Edle von Senwitz zu stürzen." Der Baron blickte zum uralten Deckengebälk.

"Dann sollten wir Stärke zeigen." Lares drehte sich wieder in den Raum. "Dieser Armesland, Armleuchter oder wie immer der sich nennt. Das war doch nie ein echter Herold. Spioniert hat er, und alle unsere Geheimnisse an den Feind verraten, da bin ich mir  sicher...Meine werte Nichte hätte den Gaukler aus dem Sattel schießen sollen, als Warnung für alle anderen doppelzüngien Herolde. Schon Praiodane zuliebe sollten wir uns das nicht bieten lassen."

"Sollten wir uns bitteschön was nicht bieten lassen?" Adran wurde erneut laut. "Der Vertrag ist gut, in unserer besch....vermaledeiten Lage. Oder war gut. Was hätte Ismena davon, die Barbakane zu besetzen?" Zum hundertsten Mal an diesem Tag schüttelte der Baron den Kopf. Tatsächlich waren sowohl die Mauern als auch das Torhäuschen nach hinten offen, so dass ein eingedrungener Feind von der Schildmauer aus unter Beschuss genommen werden konnte. Drei Schlotzer Schützen hätten die Eroberung unmöglich halten können.

"Was weiß ich, was Ismena mit ihrem Schurkenstück beabsichtigt hat. Vielleicht möchte sie ein Faustpfand haben, falls wir es uns anders überlegen. Von dort kann die ganze Burg mit ihrem dämonischen Geschütz unter Beschuss genommen werden." Lares klopfte an einen der Stützbalken. "Auf dieser Burg ist zuviel mit Holz gebaut worden. Und dennoch, eine schöne Burg. Ein Symbol für den Oppsteiner Stolz, den sie vermutlich endgültig brechen möchte. Dann kann Oppstein ein zweites Gallys werden! Wenn es ihre Mersinger Puppenspieler erlauben."

Adran schüttelte zum hundertundersten Mal den Kopf. Was war denn in Lares gefahren? Die ganze Zeit konnte es ihm nicht schnell genug gehen, mit dem Umzug nach Methumis. Bei der Baroness hatte er jahrelang geeifersüchtelt und nun war er besorgt um deren Zukunft in Senwitz?

"Besiegt zu werden ist keine Schande." Der Hochfelser schien Adrans Gedanken zu ahnen."Das kann einem auf jedem Turnierplatz geschehen. Stolz und Ehre, die verliert man nur einmal. Ismena will uns demütigen. Wenn der Besuch des Herolds nicht von vorneherein eine Falle war." Lares sah aufmunternd zu seiner Nichte.

"Wie es aussieht, haben wir zumindest eine Sprachregelung", sagte Adran kühl. "Ein vereitelter Handstreich, und der Herold ist irgendwie ins Schussfeld geraten. Soll Ismena uns erst einmal das Gegenteil beweisen. Haltet einstweilen auch die Mannlochtür geschlossen. Womöglich waren die Angebote unseres Rondritscherls ein wenig zu verlockend...und wir zu vertrauensselig?"  

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufmerken. "Herein!" 

Knarrend öffnete sich die Tür. 

Eine Wächterin der Schildmauer trat ein, mit einer Packtasche sowie einem rotsilberschwarzen Stück Stoff in Händen, offenbar der blutgetränkte Tappert des Herolds. 

"Euer Hochgeboren, das haben wir beim hustenden Maulesel gefunden."

Adran blickte fragend. 

"Das Reittier des Herolds...stand neben dem Burgweg und hat gekulcht wie ein Perricumer Bettler. In der Nähe lag der Heroldsrock." 

Lares ließ sich die Tasche reichen. Zum Vorschein kam ein rot-weiß bebänderter Heroldsstab, geschmückt mit der Figur eines pflügenden Riesen, sowie ein kräutergefüllter Beutel. Der Hochfelser schüttete den Inhalt auf den Tisch. Würzig riechende Kräuter kamen zum Vorschein, die ziemlich frisch zu sein schienen. Anscheinend waren die Pflanzen auf einer der Bergwiesen gepflückt worden.  

"Könnte das ein Gift sein?" fragte Adran. "Vielleicht, um das Zisternenwasser zu vergiften?" 

"Ich hab den Herold nicht aus den Augen gelassen", knurrte Lares, die Hand am Schwert. "Seinen Persevanten auch nicht. Ulfing Sichelglühn, oder wie der heißt..."  

"Sichelglühen?" 

"Heroldslehrlinge sind meist nach dem Wappen ihres Herrn benannt...in diesem Fall unserer werten Turniergesellschaft." 

"Zu der wir auch gehören" sagte Roana. "Eigentlich hat Nele auf unseren eigenen Herold geschossen...versehentlich natürlich. Liebling, du hast nichts zu befürchten." Das galt ihrer noch immer verstockt dastehenden Tochter. 

"So würde ich es auch nicht gerade sehen." Der Baron lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. "Welche Strafe...steht...ähm...eigentlich auf das Attackieren eines Herolds?"

Roana zuckte mit der Schulter. "Ich weiß nur, dass es heißt: Wer einen Herold angreift, greift seinen Herrn an. In dem Fall also den ganzen Sichelhager Bund ?!"  

Lares schnupperte an den Bergkräutern: "Methumian...wie passend...Aves und Gylda...die anderen Pflänzlein kenne ich nicht. Scheinen Mittel gegen Husten und Erkältungen zu sein. Fürs Maultier?" 

Bernfried, der sich bei der Herrschaft einschmeicheln wollte, grapschte in das Kräuterbündel. "Das...das hier kenne ich. Is Duglumskraut."  

"Ganz so kräutererfahren scheint unser guter Herold nicht zu sein" Lares schnupperte an den sattgrünen Blättern, die ein wenig streng rochen. "Sicher, dass das Duglumskraut ist? " 

"Duglumskraut ist ein anderer Name für Sokramsschwertel", berichtete Bernfried stolz. "Die verdammten Praidioten nennen es so, ums alte Kräuterwissen madig zu machen. Wenn man es einen Winter lang trocknet und verbrennt, reinigt es die Luft...und bringt eine lustige Stimmung. Wenn schon, dann müsste mans Duglumsbannkraut nennen. Als Absud ist es allerdings giftig...ein gutes Abführmittel, nach Völlerei...und frisch essen sollte man es besser auch nicht." 

Adran blickte seinen Waffenknecht an. Natürlich, mit Heilpflanzen, aber auch Rauschkraut und Gift kannten sich "seine" Sokramorier bestens aus. 

"Soll ziemlich selten sein", setzte Bernfried noch eins drauf. "Hier oben an der Burg habe ich es schon ein paar Mal gesehen. Auf den Bergwiesen wächst es in manchen Sommern. Die frommen Bauern hassen es." 

"Könnte man damit Brunnen vergiften?" Adran wurde hellhörig. "Ich glaub, ich hab schon mal irgendwo davon gehört...Das andere Krautzeug könnte nur Tarnung sein. Falls die Tasche am Tor durchsucht wird? Die falschen Herolde könnten es...einem Spion gegeben haben...hier in der Burg." Die Augen des Oppsteiners irrlichterten umher. Wilbur und Bernfried, die bereits bequem stehen wollten, strafften sich wieder.  

Lares schüttelte den Kopf: "Unsere Wachen, die sind treu...Aber wer weiß, ob wir den Koppelern trauen dürfen...den wankelmütigen Dörflern. Aber... irgendwelche Giftkräuter hätten die auch selber pflücken können. Mal abgesehen davon, dass ich kein Dämonenkraut kenne, das auf Anhieb eine ganze Zisterne vergiftet. Wenn, dann müsste der...der Saboteur es in rauen Mengen hineingeworfen haben." 

"Der Herold war ein paar Mal auf der Burg", grübelte der Oppsteiner. "In der letzten Woche ist der Darmfraisch umgegangen, schon vergessen?"

"Das regnerische Wetter...die Zugluft überall" sagte Lares. "Ist ja kein Wunder, dass die Leute den Flinken Difar kriegen." 

Der Baron von Oppstein rieb sich über den graumelierten Bart. "Wahrscheinlich hast du Recht", sagte er schließlich. "Aber...irgendwo hab ich schon mal von einem Brunnen gehört, der mit Duglumskraut verseucht worden sein soll. Das muss im Bethanierkrieg gewesen sein. Die Symptome waren ähnlich, glaube ich. Duglumskraut bringt den Flinken Difar ?! Man kann es drehen und wenden wie man will, die Wasserversorgung ist unsere Schwachstelle. Wir sollten vorsichtig sein und eine vertrauenswürdige Wache aufstellen. Und besser einmal nachschauen...unten in der Zisterne. Nele, ich werde dir Gelegenheit geben, deinen Fehler wieder gut zu machen." 

 

Eigentlich ist es schon die Strafe, nicht die Bewährung, dachte die Knappin. Der Eimerstrick, der mehrfach um ihren Leib geschlungen war, schmerzte niederhöllisch, von der Furcht ganz zu schweigen. Schritt für Schritt wurde sie nach unten gelassen, in den Abgrund. Über ihrem Kopf quietschte und ächzte die Seilrolle. Der verdrillte Hanf knarrte. Es fühlte sich an, wie in ein Angstloch hinabgelassen zu werden - ein Verlies, das angeblich so eng war, dass sich der Delinquent nicht einmal hinlegen konnte und nur schwer Luft bekam. Eher eine Hinrichtungsmethode als ein Kerker.  

Nele konnte ebenfalls kaum atmen. Mit der Laterne, die sie sich um die Hand gebunden hatte, leuchtete sie die grob gefügten Wände aus. Unter ihr glitzerte dunkles Wasser. Langsam überwog die Faszination die Angst. Es war womöglich Jahrhunderte her, dass ein anderer Mensch auf Augenhöhe hier unten gewesen war. Auch wenn ihr Schwertvater unter einer Art Verfolgungswahn zu leiden schien - wer mochte es ihm verdenken? - war sie fast schon dankbar für diese mildere Form einer "Bäckertaufe". Die Quetschungen und Striemen, die sie am Leib davontragen würde, waren eben der Preis für ihren Übereifer. 

Im Laternenlicht glitt ein merkwürdiges schwarzrotes Schattenspiel an ihr vorbei. In ihrer Phantasie erwachte die Geschichte von Sokramor zum Leben. Ein drachenköpfiger Riese schwang eine gewaltige, mehrfach gezackte Sichel, gegen das vielgestaltige Chaos. Dann legte er die Götterklinge nieder, woraus die heutige Berge empor wuchsen. Bevor sich die schlafende Gigantin in eine gehörnte Göttin verwandelte, die nach oben flirrte...zum unerreichbaren Licht und kreisrunden Brunnenrand, der Nele in diesem Moment an die Götterburg Alveran erinnerte.  

Ihre Füße baumelten im Nichts. Der Strick schnitt überall ein wie bei einer oronischen Folter. 

"Bergmutter, steh mir bei!" flüsterte sie. Sokramor war ihr näher als sonst, das spürte sie. Langsam beruhigte sie sich. Die Gigantin war auch die Hüterin der Quellen, überfluteten Höhlen und Wasseradern, tief unter den Bergen. Dort, wo sich letztere kreuzten, war die Macht der Nachtdunklen besonders groß, lockte Katzen, Bienen und Heilkräuter an, Kobolde und Geister sowieso. Eichen wuchsen angeblich gerne an solchen Orten und zogen Blitze aus Rondras Reich herab. 

Für Menschen sollten die Erdkräfte, die an solchen heiligen Orten wirkten, gefährlich sein. Merkwürdige Gedanken, seltsame Trugbilder, fehlender Schlaf und wirre Träume waren das Wenigste, mit dem ein Zweibeiner rechnen musste. Niemand wusste, ob es die Macht der Vielleibigen Bestie oder der korgefällige Zorn der Sokramor war, der in der schwarzen Tiefe lauerte. Vermutlich beides. 

Schließlich war Nele ganz unten angekommen, dort wo das Wasser glänzte. 

"Wie sieht es aus...bei dir...dir...dir?" 

Sie linste nach oben, zum Fackelschein und den fernen Gesichtern. Sie schaukelte ein wenig umher, leuchtete mit der flackernden Laterne. Tatsächlich trieben unter ihren Füßen große grünliche Klumpen, die wie Neckerhaar aussahen, das mitunter in Seen und Bächen wehte. An Gift erinnerte das Grünzeug nicht gerade. Vor allem schien es an den Wänden festgewachsen zu sein.  

"Scheint...alles in Ordnung zu sein...sein...sein...sein"  

"Du musst...von dem Wasser....trinken...trinken...trinken!" Das kam von Adran.  

Nele wollte protestieren, aber sie wurde einfach weiter nach unten gelassen, mit den Füßen voran. Erschrocken hielt sie die Laterne über den Kopf, während sie in das kühle, frische Nass eingelassen wurde. Also doch eine "Bäckertaufe". Mit der linken Hand schöpfte sie etwas Wasser. Trank es. Spuckte ein wenig glitschiges Grünzeug aus. Das Wasser schmeckte, wie Zisternenwasser eben schmeckte, leicht abgestanden und fade - wie eine hervorragende Werbung für Bier, Most und Wein. Aber nicht gerade giftig. Kalt war es und nass.  

Die Knappin schrie auf, als sie noch ein ganzes Stück nach unten ruckte. Auch mit dem Kopf eintauchte. Die Lampe verlosch. Einen Moment glaubte sie, das Seil wäre gerissen und sie würde nun ertrinken, ohne die Möglichkeit, sich am glitzschigen Zisternenrand festzuhalten, auf viel zu engem Raum, um wirklich zu schwimmen. Im nächsten Moment ging es wieder nach oben, ins Halbdunkel... 

"Haltet das Seil fest....est...est, ihr Narren...arren...arren!" kommandierte Lares über ihrem triefend nassen Kopf. Sie hustete, strampelte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, sie selbst würde gerade das Zisternenwasser verseuchen. 

Erneut sackte sie ab, verschwand in tintenschwarzem Wasser. 

Kälte. Dunkelheit. Nacht. 

Sie versuchte zu schwimmen, aber außer ein bisschen Wassertreten war in der Tiefe wenig möglich. 

Nele kam nicht mehr nach oben. Seltsamerweise empfand sie keine Furcht. Wahrscheinlich war es die gerechte Strafe für ihren Angriff auf einen unantastbaren Herold. Oder für das unbefugte Eindringen in das Reich der Sokramor, eines der ältesten Kinder der Sumu.  

Ein sanftes, rotes Licht breitete sich um sie herum aus. Die Knappin blinzelte erstaunt - um so mehr, als sie sah, dass die Laterne wieder brannte, obwohl sie sich unter Wasser befand. Die Lampe erinnerte an die mehrstrahlige Sonne im Wappen der Schwarzen Sichel.

 

Ein kleines Kind schwamm neben ihr, vielleicht anderthalb Götterläufe alt, in einer Tunika mit heruntergezogener Gugel. Sein blondes Haar trieb nach oben und enthüllte zwei Beulen, die wie angedeutete Hörner aus dem Köpfchen ragten. Der Junge lächelte friedlich, wie ein Kind eben lächelte, das neben einer Erwachsenen unter Wasser getaucht wurde. Seine Lippen formten lautlos ein Wort, das Nele nicht verstand. Ein paar Wasserbläschen stiegen vom Mund aus nach oben. Was wollte er ihr sagen?

Die Knappin runzelte die Stirn. F...i...r...o...d...i...l 

Sie griff nach dem Kind, um es irgendwie nach oben zu bringen, und tastete ins Leere. Nein, nicht ins Leere. Nele spürte die Zisternenwand.

Dann wurde sie selbst mit Urgewalt nach oben gerissen. War sie gerade ohnmächtig gewesen? Als sie wieder klar denken konnte, lag sie neben dem gemauerten Zisternenrand, hustete, würgte, erbrach Wasser.

"Hoffentlich hat sie sicg nicht eingenässt, in unserem Trinkwasser", knurrte eine der Burgwachen gehässig. "Oder schlimmeres." 

"Lares, den Namen feststellen. Jetzt wissen wir ja, wer die nächste Woche die Hundswache übernimmt." Adran beugte sich über eine Knappin. "Das Seil...ist irgendwie aus der Rolle gesprungen...Wie sahs da unten aus?"

Nele setzte sich auf. "Kein...kein Duglumskraut. Aber...da war jemand anderes....ein Kind...öchöch...ein kleiner Junge...glaube ich." 

Der Baron sah sie verständnisvoll an. "Vielleicht habe ich dir ein bisschen zuviel zugemutet...tut mir leid, Nele. Aber...eine vergiftete Zisterne ist keine Kleinigkeit. Gute Arbeit. Gute Arbeit, ich muss schon sagen. " 

"Die...Kerze hat einfach wieder das Brennen angefangen...unter Wasser...die Lampe hat geleuchtet." 

"Unter Wasser? Ja...ja...Ruh dich einfach ein bisschen aus. Wahrscheinlich hast du dir den Kopf angestoßen, beim Absturz." 

Die Knappin rieb sich die Augen und sah auf die erloschene Lampe, die ziemlich zerbeult wirkte. "Da...war wirklich...ein Junge...in der Tiefe...ein Geist? Ich glaube, sein Name ist Firodil." 

"Fir...odil?" Adran biss sich auf die Unterlippe. Verstohlen sah er sich um und vollführte das Zeichen der Sokramorssichel, das wie ein Fragezeichen aussah. "Woher weißt du von Firodil, im Namen der Nachtschwarzen?" 

 





Feldlager bei Koppeln, 8. Rondra 1046, Erdstag

 

Ismena überflog ein weiteres Mal den Zettel, den ihr gerade der Wachtposten gebracht hatte, geradewegs ins Feldherrenzelt. Es war ein wunderbarer Sommerabend, wie geschaffen für eine Übernachtung im Freien.

 

Die Botschaft war gerade eben mit einem Bolzen ins Lager geschossen worden, in ein halbleeres Bierfaß. Allein das hätte schon nicht passieren dürfen - das Geschoss hätte genausogut ein Brandpfeil sein und die mühsam reparierte Balliste treffen können. Sie waren ein wenig nachlässig geworden, nach dem Sieg bei Oppstein und den begonnenen Verhandlungen.

 

Fast mehr zu Denken gab ihr der Inhalt des Briefs, den ihr Adran hatte zukommen lassen.

Sie reichte das Schreiben Glyrana, ihrer designierten Schwiegermutter, die es sich im hellen Kerzenschein eines Kandelabers genauer anschaute. Nachtfalterchen flatterten umher.

 

"Was sagst du dazu?"

 

"Die üblichen faulen Ausreden, wenns einer verbockt hat? Versuch eines Handstreichs...Herold als Deckung missbraucht...also von uns… versehentlich von einem übereifrigen Burgwächter getroffen...Verdacht, das Aarmarsland versucht hat, den Brunnen zu vergiften...also, das ist besonders lächerlich. Kein Wort von dem Drachen, der unsere Leute bedroht hat." Glyrana widerstand der Versuchung, den Schrieb einfach in die nächste Flamme zu halten. Draußen schimpfte eine späte Amsel. 

 

"Wie geht es Fulcher?" fragte Ismena, die gerade einen Blick auf die Rechnungsliste geworfen hatte. Der nicht ganz so erfreulich war wie der Blick auf die Feldherrnkarte daneben. Krieg war teuer, und das schien dieser durchtriebene Mistkerl Adran genau zu wissen. Offenbar nutzte er jede Gelegenheit, die Verhandlungen hinauszuzögern. Auch wenn er den Friedensbedingungen zum Schein zugestimmt hatte?

 

"Er wirds überleben. Die Adranschen schießen schlecht, Rondra seis gedankt."

 

"Die Felsen sind dennoch steil, rund um die Burg... Wenn Timoin nicht gewesen wäre.... Schon diese Barbakane hat es in sich. Wir werden zumindest einen Rammbock brauchen, am besten auch Sturmleitern. Sonst kommen wir gar nicht an die Schildmauer heran. Sagt Fulcher."

 

"Du willst die Schwerterburg belagern? So kurz vor der Siegelung der Urfehde?" Die Mersingen blickte über den Brief. "Adran scheint doch geradezu in Sack und Asche zu gehen. Womöglich wars wirklich ein Missverständnis..."

 

"Hast du den letzten Satz nicht gelesen?" Ismena lehnte sich zurück.

 

"Eine Frage hätte ich noch", las die Junkerin von Gernatsborn erstaunt vor. "Was habt ihr verfluchten Hexenweiber mit meinem kleinen Firodil gemacht? Habt Ihr ihn in irgendeinem See ertränkt, als Opfer für Sumu und Satuaria? Ich werde die Schwerterburg nicht eher verlassen, bevor ich eine Antwort auf diese Frage erhalten habe !!!!! Fünf Ausrufezeichen, dreimal unterstrichen..." Ratlos ließ die Adelige den Zettel sinken und hob die Schultern.

 

"Vielleicht der Sichelkoller." Ismena bewegte die Hand langsam vor ihren verdrehten Augen hin und her, als Selemer Fächer. "Manche sind offenbar schon nach einem Monat reif für die Noioniten, da oben in der Bergeinsamkeit."

 

"Womöglich meint er ja den Zwergdrachen, mit dem er im Bunde steht", schlug die Gernatsbornerin vor und leckte mit ihrer Zunge nervös über die Eckzähne. "Verfluchte Hexenweiber? Offenbar versucht er krampfhaft den Spieß umzudrehen.Hochwürden Malachanias sollte das besser nicht zu Gesicht bekommen."



Feldlager zu Koppeln, 9. Rondra 1046 BF, Markttag

 

"Das muss geregelt werden, Vater", sagte Alboran. Scheinbar beiläufig überreichte er dem Baron von Friedwang den Brief. "Leise."

Erstaunt sah Alrik Tsalind seinen Sohn an, dem bislang  e r  Ratschläge gegeben hatte. Es war freudiges Erstaunen, gemischt mit leichter Wehmut. Alboran war erst selbst Baron, dann Vater geworden, zuletzt in den Krieg gezogen...Ein wenig Neid verspürte der Friedwanger auch. Im gleichen Alter waren seine "Verdienste" noch auf Steckbriefen verzeichnet gewesen.  

Sie gingen am Rande des Koppelner Feldlagers entlang, wo die Banner der Verbündeten schlaff in der Rondrahitze hingen. Die Ernte war im vollen Gange, aus einer Tenne war das dumpfe Klatschen der Dreschflegel zu hören. Ein paar Soldaten fuhren mit einem ruckelnden Leiterwagen Richtung Wald, bewaffnet mit Trolläxten, um nach einem Baum für den Rammbockbau Ausschau zu halten. Auf dem Lagerplatz wurden derweil Sturmleitern zusammengebaut. Der Friedwanger überflog das zerknitterte, aus irgendeinem Grund fleckige und sich immer wieder selbst einrollende Schreiben, dem man anmerkte, dass es vor kurzem an einen Pfeil gebunden worden war. Las es wieder und wieder, fasste sich an den Kopf. Lachte.

 

"Wer weiß noch davon?" fragte er Alboran ruhig.

"Bislang nur Ismena und Glyrana. Sie sind ein wenig nervös, wegen der Sache mit den Hexenweibern...zum Glück war es ein Schlotzer Waldschütze, neben dem der Pfeil eingeschlagen ist. Ebenso war es eine glückliche Fügung, dass er seinem Baron Bericht erstattet hat."

Alrik zwirbelte sich den Spitzbart. Sein Sohn mauserte sich wirklich, Respekt. Musste es allerdings gleich eine derart delikate Angelegenheit sein?

"Der Schuss auf den Herold...das sollte man nicht überbewerten...Bolzen schwirren mal hierhin, mal dorthin...vor allem wenn Adran von Oppstein in die Schlacht reitet. Aarmarsland steht in Diensten des Schwarzsichler Bundes, also im Grunde auch in den seinigen. Irgendwie haben wir es versäumt, ihn rechtzeitig rauszuwerfen. Gewiss, man könnte es als besonderen Affront gegen den Bundeshauptmann auffassen...in dessen Namen der Herold zu Turnier und  Jagd einlädt....wer ist eigentlich gerade Hauptmann?"

Alboran kratzte sich am Rand seines stählernen Harnischs, unter dem Kragen des verschwitzten Unterhemds. Hummeln und Bienen summten umher, ebenso Fliegen und Bremsen, die von den zahlreichen Pferden angelockt wurden. Diese standen auf einer der namensgebenden Koppeln des Dorfes. Der Herr von Schlotz hatte eine Karotte dabei, um sich bei Hildelind einzuschmeicheln, die ihn in der Schlacht so schmählich im Stich gelassen hatte.  

"Syrenia von Mersingen hat letztes Jahr zur Lappjagd eingeladen, im Namen des Bundes...in den Schratenwald. Damit vertritt sie derzeit wohl unsere kleine Jagd- und Turniergesellschaft. Wenn, dann müsste sie Klage erheben. Ja, der Bund, zu dem zählen wir alle, Freund wie Feind. Aber gerade deswegen gehört Aarmarsland zu den Unparteiischen."

Hildelind beäugte ihn misstrauisch. Dann begann sie mit kräftigen Kaugeräuschen an der Rübe zu knubbern. Scheu streichelte Albo sein Reittier - und zuckte sofort zurück, als die Stute schnaubend ihren Kopf nach oben warf. Es waren wohl die Stechmücken, die sie vertreiben wollte.  "Auf Fulcher zu schießen, kann schlicht als Mordversuch gewertet werden. Das Mindeste ist, dass wir Adran aus der Gesellschaft ausschließen und die Auslieferung des Schützen verlangen.

"Oder der Schützin", sagte Alrik und spähte über die Schulter. "Ich habe gehört, unser Herold verdächtigt Nella von Moosenwaldt, Adrans Knappin. Die zugleich Lares Nichte ist...hab mich ein bisschen umgehört. Sie gilt als besonders eifrige Sokramoranbeterin...die felsenfest an das Erwachen der Schwarzen glaubt...auch ohne Gebete der Zwölfgöttergläubigen."

"Erzählt man sich das in Koppeln?" 

"Ich hab mir erlaubt, ein paar Mal in Malachanias Greifenkasten zu gucken...jemand muss dort ja  die schlimmsten Verleumdungen abfischen." Akrik blickte zum azurblauen, mit Schäfchenwolken bedeckten Himmel und den Berghängen. "Scheußlich, dieses Denunziantentum. Wie kann man nur seine Nachbarn und Standesgenossen verpetzen? Meine Friedwangen würden wenigstens Talerchen dafür verlangen."

Albo lachte freudlos auf und schlug auf einen herrenlosen Sattel, der über einer Querlatte hing.  "Adran kann seine Knappin unmöglich ausliefern", sagte der Jungbaron. "Ihre Mutter Roana ist bei ihm auf der Burg, als eine seiner letzten Getreuen...Lares wird er sowieso nicht vor den Kopf stoßen. Ich hab mit Timoin gesprochen, der hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie keinen Handstreich vorhatten. Die haben sich nur gegen diesen verdammten Drachen gewehrt."

Alrik lehnte sich wie ein Viehtreiber gegen das Gatter und genoss die satte Sommerhitze, die jetzt, gegen Abend. langsam abklang und einer wohligen Wärme wich. Momentan hatte niemand Lust auf eine Fortsetzung der Fehde, was auch dem herrlichen Wetter geschuldet war. Sterben, das war eher was für Herbst und Winter.

"Natürlich haben die nicht auf eigene Faust gehandelt", nickte Adran. "Aber vielleicht sollten wir trotzdem so tun, als glaubten wir Adrans Ausreden....Nella ist eine kleine Verrückte, wie es sie überall im Sichelhag gibt. Aufgewachsen in der Wildermark. Eine dumme kleine Knappin, die regelmäßig Sokramor opfert..."

Der junge Binsböckel hatte eine weitere Delle auf dem Harnisch entdeckt, die ihm nach der Schlacht gar nicht aufgefallen war. Momentan strotzte er wirklich vor Selbstvertrauen - er hatte mit ein paar Kratzern überlebt, was in seinen Augen Heldentat genug war. Gut, sein Zeigefinger war noch immer bandagiert und steif, aber schon fast ausgeheilt. Außerdem hatte er Praiodane von Oppstein gefangen genommen. Wenigstens ein bisschen. "Was den Pfeilbrief angeht. Ich fürchte, unser eigentliches Problem, das findet sich ganz am Schluss." 

Alrik seufzte. 

"Was habt Ihr mit meinem kleinen Firodil gemacht, ihr verfluchten Hexenweiber", zitierte Albo. "Gemeint ist Firunian Wildgrimm Odil, nicht wahr? Mein Halbbruder...??!!"

Der Baron von Friedwang antwortete immer noch nicht, sondern tätschelte eines der Rösser, das schnaubend hinter dem Gatter stand und ebenfalls auf Futter hoffte.

"Vielleicht mein Halbbruder", fügte Alboran hinzu.

"Woher weißt du davon?" Sein Vater blinzelte mit dem unverdeckten Auge in die Sonne und wischte sich den Schweiß aus der gelockten Stirn.

 

"Liebe Güte, Vater. Ich war ein paar Mal beim Totenfest dabei. Auf dem Boronanger bei Senkenthal, in unserer herrlich marbiden, wunderschönen Familiengruft. Dafür hat Onkel Bisch gesorgt. Dort gibt es ein Gedenktäfelchen für Firunian, geboren und gestorben im Phexensmond 1025. Neun Monde, nachdem Serwa ihrem werten Nachbarn Adran zu Hilfe geeilt ist, mit der friedwanger Landwehr. Glaub mir, bei solchen Geschichten werde ich hellhörig. Warum nicht auch bei einem toten Säugling namens Firunian Wildgrimm Odil von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck...den die Amme Firodil genannt hat."

 

Alrik schauderte, trotz der Sommerhitze. "Er gibt es auch noch zu", murmelte er. "Ganz unverhohlen...natürlich. Adran stürzt und will uns mit in den Untergang reißen. Warum sonst sollte er so einen infamen Brief mitten ins Lager schießen? In ein Freibierfaß, weit unterhalb der Bierlinie..." Der Einäugige schnupperte am Papier, das am Rand mit Gerstensaft getränkt war. Dann drehte er sich zu seinem Sohn um. "Kann dein Wachposten lesen?"

 

Alboran sah seinen Vater lange an: "Wenn es so wäre...soll ich ihm im nächsten Scharmützel einen Schuss in den Hinterkopf verpassen lassen? Die Geschichte mit Serwa und Adran war eh im ganzen Fürstentum bekannt. "

 

"Leider, ja." Alrik ballte die Faust. Er wusste, was Alboran Gesichtsausdruck bedeutete: Tsalinde soll auch von ihm sein.

 

"Da standen einige ums Ogerbräu. Ich glaub, Hochwürden Deggen hat das gespendet. War ja gerade Schwurfest. Aber zum Glück waren die Gläubigen mehr mit der Bierrettung beschäftigt als mit unseren Familienaffären..."

 

Alrik legte die Hand auf seinen Rapier. "Ich sollte diesen verrückten Zuchtbullen da oben zu einem Zweikampf fordern. Einem Götterurteil. Das letzte Duell...Um meine Ehre und den guten Ruf meiner Gemahlin wiederherzustellen. Deiner Stiefmutter." Letzteres klang ein wenig vorwurfsvoll. 

 

"Das würde Ismena einige schöne Goldstücke sparen." Alboran imitierte bewusst die sonst so lockere Zunge seines "Adoptivvaters". Dann tätschelte auch er die Flanke des Warunkers. "Natürlich nur, falls du das Duell gewinnst...aber warum erneut Staub aufwirbeln? Ich finde die Frage schon interessant, von unserem gestrauchelten Baron. Was haben die verfluchten Hexenweiber mit dem kleinen Firodil gemacht? Damals, vor zwanzig  Jahren."

 

"Keine Ahnung...vielleicht zu Flugsalbe verarbeitet." Der Friedwanger tastete nach seinem Fuchsamulett. "Ich hätte gute Lust, Adran aufzuspießen..."

 

"Das Dumme an Götterurteilen ist, das man nie so genau weiß, wie sie ausgehen." Einen Moment lang genoss Albo, der Bastard, das Gefühl, der moralisch Stärkere zu sein, neben seinem sonst so übermächtigen Vater. "Möchtest du vor aller Welt den gehörnten Ehemann herauskehren? Einen Hahnrei, der auf Rache aus ist, nach all den Götterläufen? Du würdest Adran nur einen Sieg anderer Art bescheren...wie ich schon sagte, wir sollten das leise regeln."

 

Alrik sah seinen Sprößling lange an und wunderte sich über die vertauschten Rollen. Vermutlich kam so etwas von alleine, mit fortschreitendem Alter. Vor kurzem war er, "Großvater Alrik", 53 Jahre alt geworden. Da musste man schon ein Drache sein, um sich noch jung zu fühlen. 

 

"Ich könnte in die Burg klettern und ihm den Hals umdrehen, bei Nacht, in seinem eigenen Bett", schlug er sarkastisch vor. "Als spiegelnde Strafe, am Ort seiner größten Sünden..."

 

Alboran dachte derweil laut nach. "Warum lassen wir uns nicht auf seine...Pfeildiplomatie ein? Und schicken ihm ebenfalls einen Brief, geradewegs über die Mauer...In dem wir...die Auslieferung seiner Knappin fordern...aber...großmütig darauf verzichten werden, wenn er zugibt, dass er Serwa in Wahrheit geschändet hat...meine unglückliche Stiefmutter..."

 

Alrik antwortete nicht sofort, sondern fächelte sich mit seinem Federhut ein wenig frische Luft zu. Zugleich vertrieb er die Mücken. Irgendein Medicus hatte einmal behauptet, dass Frauen Wollust empfinden müssten, für eine Empfängnis. Ein Kind war geboren worden. Demnach konnte es keine Vergewaltigung gewesen sein. Abgesehen davon, dass die Unzucht auf einem Hexenfest geschehen war. Da konnte ebensogut  ein Bauerntölpel behaupten, im Rahjatempel genotzüchtigt worden zu sein.

 

Sein Blick fiel auf die abgescheuerten Pferdehaare am Gatterpfosten neben ihm.  Eine einsame Biene schwirrte vorbei. "Wenn sie Adran stürzen, müssen sie danach auch Serwa stürzen", sagte er. "Wenn der Greif erst einmal über einem kreist...dann findet er immer neue Sünder..."

 

Albo verfolgte gerade eine besonders prachtvolle Wolke mit seinem Blick. "Sieht aus wie ne fliegende Hexe."

 

"Wie? Ach so. Nun, das kann schnell gefährlich werden. Ehebruch, Hexenkult, Verschwörung gegen die praiosgefällige Ordnung im Sichelhag. Wir müssen Adran dazu bringen, dass er ....dass er behauptet, er und Serwa wären beide Opfer eines Liebeszaubers geworden. Einer druidischen Beherrschung, oder etwas in der Art. Dazu braucht es nur ein bisschen Blut oder Haare von den Opfern, habe ich mir sagen lassen. Vielleicht auch Fingernägel und Wachsfiguren. Sagen wir...Pharraz war an allem schuld. Er hat Adran und meine Gemahlin gefügig gemacht, für seine finsteren Zwecke. Hat sie zum Hexenfest gelockt, um den Sicheladel zu verderben, zu erpressen und in den Aufstand zu treiben. Aber die Götter haben seine Pläne vereitelt...und den kleinen Firodil vorzeitig über das Nirgendmeer geschickt...das Kind der Schande. Möge Alveran seiner Seele gnädig sein, so er denn eine hatte." Alrik hustete sich die Kehle frei.

 

"Doch, das ist gut, beim Heiligen Schuckschum. Ich werde Adran großmütig verzeihen. Hauptsache, es bekommen genügend Leute mit. Den ersten Teil seiner Aussage haben wir ja schon." Alrik hob den Brief. "Seines Geständnisses. Wenn er Entgegenkommen zeigt, lassen sich noch ein paar anonyme Hinweise bewerkstelligen, in diesem Greifenkasten, die in die gleiche Richtung weisen."

 



Markt Oppstein, 15. Rondra 1046, Erdstag

 

Ein paar Tage lang flogen die Briefe hin und her, mitsamt Pfeilen. Alrik griff Adrans Behauptungen wohlwollend auf, sprach von einem "Durcheinander" vor der Burg, das "womöglich" zu Missverständnissen geführt habe. Aber wenn der Herr der Schwerterburg nun schon einmal zugegeben habe, dass der früh verstorbene Firunian Wildgrimm Odil sein in Unehren gezeugtes Kind gewesen sei. Nun, dann sollte er vielleicht die ganze Geschichte erzählen. Es gäbe glaubwürdige Hinweise, wonach ein ungetreuer Diener gewisse Körperbestandteile und – flüssigkeiten der Baronin von Friedwang und des Baronets von Oppstein gestohlen habe. Bei einer außergewöhnlich günstigen Gelegenheit, nach allem, was man so höre. Offenbar wurde diese Dinge für einen mächtigen Beherrschungszauber verwendet, Druidenwerk womöglich – für unheilige Magie, aus der "Firodil" entstanden sei.

 Adran, der gemerkt hatte, dass sein "Versuchspfeil" mit dem Kultkind höchst unbesonnen gewesen war und keine greifbaren Ergebnisse gezeitigt hatte, ruderte prompt zurück. Nur um ein weiteres Mal anzugreifen. Er wolle keine schmutzige Wäsche waschen, nach zwanzig Jahren oder mehr, und habe sich wohl ein klein wenig missverständlich ausgedrückt. Auch Alrik wäre in Drachweiler dabei gewesen und käme sicherlich weit eher als Kindsvater in Frage. Aus Dankbarkeit, dass Serwa ihm, dem rechtmäßigen Baronieerben, zu Hilfe gekommen sei, habe er sich bereit erklärt, die Patenschaft "seines" kleinen Firodil zu übernehmen. Alles andere ergäbe ja keinen Sinn. Allerdings habe er jüngst erfahren, dass das Grab des Phexgeborenen zu Senkenthal leer sei, was ihm doch überaus merkwürdig vorgekommen wäre.

Das war der zweite, schon etwas besser gezielte Versuchspfeil. Nele hatte ihm ja berichtet, dass das Kind aus ihrer Halluzination – "Vision", "Geistererscheinung", wie immer man es nennen wollte – bereits anderthalb Götterläufe alt gewesen war. Jedenfalls kein Neugeborenes mehr.

Erneut schwirrte ein Pfeil zurück, als Schützenduell eigener Art. Im Mausoleum der Friedwangs gäbe es nur eine kleine Gedächtnistafel für den unglücklichen Firodil, meinte der Friedwanger. Leider habe Serwas schwächliches Kind den Geburtssegen Tsas nicht mehr erhalten können. Es wäre bekanntlich eine finstere Zeit gewesen, in der unheilige Mächte nach den Toten gegriffen hätten, zumal den Ungesegneten. Also sei der kleine Leib verbrannt und die Urne ins Ossarium des großen Central-Boronangers zu Senkenthal verbracht worden. Wie in derart bedauerlichen Fällen während des Bethanierkriegs üblich. Warum Adran von "Hexenwerk" spreche, sei ihm, Alrik, unverständlich, außerdem wäre er noch gar nicht Firodils "Pate" gewesen. Falls gewünscht, könne der Oppsteiner einen gesiegelten Brief mit seiner Darstellung im Ingerimmtempel hinterlegen, der verlesen werden würde, sobald der Herr Altbaron die Grenze zum Horasreich bereits überschritten hätte.

Nun war es eindeutig gewesen: Alrik wollte die ungetreue Serwa weißwaschen, und der Rommilyser Friedensstadt eine traviagefällige, heile Welt vorspielen. Mit Adran als Sündenbock, der auch noch ein kompromittierendes Geständnis ablegen sollte. Süffisant hatte der Nochbaron "zurückgeschossen": Serwa wäre ja ebenfalls in Drachweiler dabei gewesen. Sie habe doch sicherlich nicht weniger, eher mehr zum Casus mitzuteilen als er selbst. Insofern brauche es gewiss keiner Selbstbezichtigung, zumal er sich in diesem Fall nichts, aber auch rein gar nichts vorzuwerfen gehabt habe (an dieser Stelle hatte seine Feder kurz gekleckst).

Immerhin, ein wenig hatte sich das Bild bereits verdichtet: Ein gestorbenes Adelskind, wenn schon nicht auf dem Arme-Sünder-Anger zu verscharren, dann doch zu verbrennen und zu gemeinem Volk ins Knochenhaus zu stellen, war ein reichlich unübliches Verfahren gewesen, selbst in den Jahren, als vermodernde Untote durch Darpatien gewankt waren. Serwa war bei der Geburt nicht mehr die Allerjüngste gewesen, insofern war Adran die Geschichte seinerzeit glaubwürdig erschienen. Mittlerweile  hörte es sich so an, als stünde auf dem Senkenthaler Boronsacker ein Topf mit Holzkohle.

Der Baduarstag nahte, somit der Sonnenlauf, der die Urfehde bringen sollte. Adran erklärte sich bereit, "um des lieben Friedens willen", einen Brief im Ingerimmstempel zu hinterlegen. Wenn auch versiegelt und in treuen Händen der Priesterschaft, unter der Auflage, dass er erst nach Monatsfrist geöffnet und verlesen werden sollte. Sobald der Altbaron mit seinen Getreuen die horasisch-mittelreichische Grenze erreicht haben würde. Der Rammbock und die Sturmleitern, die im Lager entstanden, taten ihr Übriges, um Adran milde zu stimmen. Der Widderkopf, der ihn unten im Lager angelächelt hatte, trug sogar ein wenig seine Züge – da hatte sich ein wahrer Holzschnitzkünstler austoben dürfen, von denen es im Sichelhag einige gab. Beinahe fühlte sich "Adran von BOM" geschmeichelt.

Nun ritt Adran gen Oppstein, mit aufgewühlten Gefühlen, sowie einem Brief mit fein verschnörkelten Buchstaben  in der Tasche. Den er im Tempel vorzeigen und dann in einem Kuvert verschließen würde. Natürlich war er nicht so dreist, ein leeres Blatt abgeben zu wollen. Ganz so töricht war Alrik Tsalind nicht. Der "Fuchs von Friedwang" würde zumindest einen kurzen Blick auf das Schriftstück werfen wollen. Zum Glück hatte auch Adran noch den einen oder anderen Künstler in seinem klein gewordenen Gefolge.

Mit Bernfried zum Beispiel konnte er auf einen echten Kräuterkundler zurückgreifen, der ihm eine verschwindende Tinte gemischt hatte. Eine "Zaubertinte", wie der Sokramorier sie etwas prahlerisch genannt hatte. Das würde Adrans letzte Rache an Alrik sein. In diesem Fall waren die Zeilen schon nach wenigen Stunden verblasst. Nun, der treue Bernfried hatte ihm glaubwürdig versichert, dass man die Rezeptur nur ein klein wenig ändern brauche, damit die Schrift ein paar Tage lang sichtbar bleiben würde.

Nun ritten sie, inmitten der Erntezeit, durch die Felder und Fluren des Oppsteiner Tals. Hie und da waren die Äcker bereits abgeerntet und Kinder beim Ährenlesen zu Gange. Ein halbes Dutzend Begleiter waren Adran zugestanden worden, sogar ehrenhaft mit Schwertern, die nun unter der weißen Marbofahne und dem Drachenbanner des Hauses Oppstein den Karrenweg entlang ritten. Jubel brandete nicht gerade auf, aber der eine oder andere Bauer lüpfte doch den Filzhut, und verneigte sich vor dem hohen Herren, der zwanzig Jahre lang ihre Geschicke gelenkt hatte. Adrans Friedenswille und "Opferbereitschaft" kamen gut an, beim leidgeprüften Volk, das erst in den letzten Götterläufen wieder ein wenig Ruhe gefunden hatte.

Der Baron lächelte feinsinnig unter dem heruntergelassenen Visier der Schaller, während sein "Doppelgänger" vor ihm die bescheidenen Huldigungen des Volkes entgegennahm. Burgwächter Grome würde sich nicht dem Verdacht aussetzen, ein Quitslinga zu sein, ein dämonischer Gestaltwandler, aber die Ähnlichkeit war schon verblüffend. Womöglich hatte sich einer oder eine von Adrans Vorfahren mit irgendeinem hübschen Bauernkind vergnügt...Gromes Alter passte nicht ganz, also waren die Haare des Waffenknechts künstlich ergraut und auch der Bart ebenso passend gefärbt worden. In der Ritterrüstung, im gleißenden Rondralicht, war die Täuschung beinahe perfekt, auch wenn der Bursche ein wenig ungelenk und verunsichert wirkte. Bäurisch eben. Nun, die kleine List mochte ihren Zweck erfüllen, zumindest, bis die Abordnung den Ingerimmtempel erreicht hatte.

Wenn Adrans Feinde ihn packen und einkerkern wollten – sei es, um die teure Apanage zu sparen, sei es, um das Niederschießen des Herolds zu rächen oder ihn als Frevler der Praioskirche auszuliefern – dann mussten sie das vor der Siegelung der Urfehde versuchen. Im Heiligtum würde sich Adran, der gerade den Waffenrock eines einfachen Soldaten trug, dann offenbaren, als Triumph über seine ach so schlauen Gegner. Zumindest sparte er sich sehr viel Schweiß, in leichter Rüstung, an diesem erneuten Hitzetag.

Lares war auf der Schwerterburg zurück geblieben. Der gemeinsame Abmarsch Richtung Coverna würde erst dann stattfinden, wenn der Altbaron die Pretiosen ausgewählt hatte, die er aus dem Oppsteiner Hof mitzunehmen gedachte. Zu diesem Behufe rumpelte ein kleiner Karren hinterher. Immerhin, zu den Restitutionen sollte auch die hochwertige Kopie des Überfallenen Levthan zählen – der falsche della Rahjada war eine Zeitlang verschwunden und wundersamerweise wieder aufgetaucht. Mitnehmen würde er auch die besten Jahrgänge aus dem Weinkeller, das Fell des guten alten Tjar, den Ankleidespiegel, seine Garderobe sowie den Prunkschild, der Stiefvater Redenhardt von den Rabenmunds geschenkt worden war, an dessen schicksalshaften Hochzeitstag. Ein paar liebgewonnene Erinnerungsstücke mehr standen auf der Liste. Das "Irmegundesiegel", das versteckt unter seinem Wappenrock hing, trug er zum Glück schon seit Beginn der Fehde um den Hals.

Sie erreichten den Marktflecken, wo sie bereits erwartet wurden, von einigen Ismenischen, aber auch Büßern, angeführt von Hochwürden Malachanias. Adran spürte, dass sein Herz höher schlug. Sein Atem schlug heiß gegen das Visier, sein Mund war trocken. Durch den Sehschlitz spähte er in die Getreidefelder. Die Gegend war nicht schlecht für einen Hinterhalt, wenn man Kämpfe im Ort vermeiden wollte. Andererseits gab es hier draußen auch noch die Möglichkeit zur Flucht.

Der blonde Custos Lumini, der im vollen Festtagsornat vor ihnen stand, flankiert von Hellebardieren, schlug das Sonnenzeichen über dem (in diesem Fall nun wirklich) falschen Baron. Es sah ein wenig aus wie ein Exorzismus. "Praios zum Gruße, Euer Hochgeboren!" Es folgte eine überaus sparsame Verbeugung.

Grome deutete linkisch eine Verneigung an. "Die Zwölfe zum Große, Eure Heiligkeit...Gnaden...Hochwürden ?!" Adran verdrehte die Augen. Nun wurde sein Zwilling auch noch vom schauspielerischen Ehrgeiz gepackt: "Schöner Tag heute, nich´?"

"Der Tag, an dem Praios Ordnung und Gerechtigkeit wieder in dieser Baronie Einzug halten, ist wahrhaft ein Freudentag" antwortete Malachanias steif. Sein Blick verharrte auf dem Antlitz seines Gegenübers. Durchschaute er die Täuschung? Allerdings, allzu oft waren er und Adran sich noch nicht begegnet.

Zum Glück machte sich das Pferd einer Fahnenträgerin bemerkbar, mit schwerem Stampfen. Die blasse Adransche hielt die Marbofahne aufrecht und versuchte gleichzeitig ihren Warunker unter Kontrolle zu halten. Das Gesicht der jungen Oppsteinerin war todtraurig, sie kämpfte sogar mit den Tränen.

"Die weiße Fahne ist keine Schande!" sagte Malachanias salbungsvoll. "In ihr spiegelt sich das reinweiße Licht eines neuen Morgens, den uns der Götterfürst schenkt. Es gehört Mut dazu, einzugestehen, wenn man besiegt ist. Wenn es besser ist, zu verhandeln oder zu kapitulieren. Zu überaus ehrenvollen und großzügigen Bedingungen, wie mit scheint, die in diesem Fall keinesfalls selbstverständlich sind." Letzteres klang wieder streng.

"Seid unbesorgt, hochwürdigster Herr. Wir werden nichts katapultieren. So was haben wir nämlich gar nicht. Ein Katapult, mein ich..." Grome versuchte hochherrschaftlich zu klingen, was ihm gründlich misslang. Der wahre Baron seufzte innerlich. Gab es in Friedwang nicht einen "berühmten" Dorfdeppen gleichen Namens? Auch wenn das Gesicht seines "Doppelgängers" genug unter Helmstahl und Haube verborgen war, um einem flüchtigen Blick standzuhalten – die grobe, bäuerliche Stimme unterschied sich deutlich von Adrans feiner, ans Horathi gemahnende Ausdrucksweise.

Malachanias stutzte erneut, schien aber zu dem Schluss zu kommen, dass Adran in den letzten Wochen ein wenig verwildert war und ihn mit einem platten Wortspiel zu reizen versuchte.

"Möge Praios Euch Erleuchtung schenken, in Eurer neuen Heimat im Horasreich", sagte er und wies mit dem Sonnenszepter in Richtung Markflecken. "Man wartet bereits auf Euch, Euer Hochgeboren,"

Das Grüppchen wollte schon antraben, als sich ihnen Weibel Wehrheimer in den Weg stellte. "Einen Moment...heute ist Sankt-Baduars-Tag...aber ein Siegesfest wird das für Euereins trotzdem nicht. Eure Leute werden absteigen, und die Pferde führen, mit demütig gesenktem Kopf, wie sich das gehört. Schön langsam und die Hände weg vom Schwert, damit es nicht zu Missverständnissen kommt."

Adran hoffte, dass Baron Grome widersprechen würde, aber der Bauernsohn ließ sich einschüchtern. Natürlich. Umständlich, mit klirrendem Stahl, schwang er sich aus dem Sattel. Um ein Haar wäre er umgefallen. Die übrigen Adranschen taten es ihm gleich.

Mit eher missmutigen als demütigen Blicken marschierten die Berlînghanschen ein. Auf der Straße zum Marktplatz wartete zur Abwechslung eine angenehme Überraschung. Ein Teil der Oppsteiner stand am Wegesrand. Blumen wurden geworfen, Becher, Feldflaschen und Krüge gereicht. "Lang lebe das Haus Oppstein!" "Vivat Adran!" "Ihr seid im Felde unbesiegt!" "Kommt bald wieder, Euer Hochgeboren!" "Für Oppstein...den Sieg!" "Ho...Ho...Hoch Oppstein!"Trotzig wurden Fäuste hochgehalten. Der eine oder andere trug noch immer das purpurne Rohalskreuz. Ein alter Steinmetz riss sich das Schandzeichen herunter und trampelte darauf herum. "Hoch...Hoch...Hochverrat!" gab ein Scherzbold zum Besten. Nur ab und an griffen die Ismenischen ein und drängten die Adrananhänger mit Hellebardenschäften oder Schilden zurück.

Adran hatte nicht den Eindruck, dass es eine Mehrheit war, die hier seine Begleiter herzte und sie mit Liebesgaben versorgte. Aber eine starke Minderheit hielt trotzdem zu ihm, erfüllt von rondrianischem Mut und dem Treueideal des Heiligen Baduar von Eberstamm. Der Baron öffnete sein Visier, um sich das Feuchte aus den Augen zu wischen. Grome winkte täppisch in die Menge, aber es dauerte nicht lange, und die Menge hatte erkannt, dass einer der Waffenknechte dem gestürzten Baron weitaus ähnlicher sah als der Vordermann. Nach einem Moment der Verwirrung wurde Adran begeistert auf die Schulter geklopft. Eine junge, rassig wirkende Frau mit dunkelbraunen Zahorihaaren und rahjagefällig geschnürten Mieder, starrte ihn besonders lange an, mit glutvollen Augen und einer Feldflasche in der Hand – die von den Friedwangen "Bocksbeutel" genannt wurde, ob der levthansgefälligen Form. Lautlos formten ihre sinnlichen, rosenroten Lippen ein einziges Wort.

 

F...i...r...o...d...i...l

 

Es war, als wäre Adran in einen Bottich Eiswasser geworfen worden, gefüllt mit zuckenden, Blitze schleudernden Zitteraalen. Ihm schauderte, trotz der Hitze. Die Frau, die seines Wissens nicht aus Markt Oppstein stammte – zumindest hatte er sie dort noch nie bewusst gesehen - , hob verführerisch den Bocksbeutel. Aber das war nicht der Grund, warum der Baron sein Pferd stehen ließ und geradewegs auf sie zu eilte.

Begeistert drückte ihm die Frau einen warmen Kuss auf die Wange. Dann reichte sie die Trinkflasche. "Trinkt erstmal einen Schluck." Adran erwiderte die Umarmung, schniefte die unrondrianischen Tränen weg und schlürfte am Rotwein. Er hatte irgendeinen besseren Essig erwartet, aber es war roter Sikramstaler, der ihm in die ausgedörrte Kehle rann. Vermutlich stammte das feine Tröpfchen sogar aus seinem Weinkeller, der sicher geplündert worden war. Auch wenn er gute Lust gehabt hätte, das Bauernvolk zu tadeln, nahm er lieber einen weiteren Schluck. Einen solchen erlesenen Trunk hatte er lange vermisst.

"Was weißt du über Firodil?" flüsterte er seiner wambusigen Gönnerin ins Ohr. Die Schöne umarmte ihn überschwänglich. Überschüttete ihn mit Küssen. Eher zufällig fühlte Adran ihren Schritt. Einige freudige Herzschläge lang war alles wieder wie früher. "Er lebt und befindet sich an einem sicheren Ort", raunte sie. "Firodil wurde bereits in das Blaue Wasser der Läuterung geführt, in der Heiligen Grotte. Sein Schicksal ist es, Novize im Dienste der Bergmutter zu werden. Einer ihrer ersten Geweihten nach dem Erwachen. Vielleicht sogar der erste. Manche nennen ihn schon den Boten der Dunkelheit."

Adran schwindelte, was nicht nur am kräftigen Liebfelder Wein lag. Einen Moment lang war er völlig durcheinander. Hatte er die Worte richtig verstanden? Gerne hätte er den Helm abgenommen. Aber damit wäre auch dem Einfältigsten klar geworden, dass hier nicht einfach nur ein gefühlsduseliger Soldat sein zurückgelassenes Liebchen herzte.

"Wir brauchen mehr Zeit", sagte die Sokramierin halblaut, während sie mit der Linken nach Adrans Hand griff. "Noch ist seine Fährte nicht ausreichend verwischt." Das Volk zog weiter, das vermeintliche Liebespaar wurde getrennt. Das schöne Gesicht verschwand in der Menge.

"Mir bricht es ja das Herz, euch Turteltäubchen zu stören!" raunzte der Weibel hinter ihm. "Aber es wäre schön, wenn du deinen Gaul von der Straße räumen könntest." Tatsächlich stauten sich bereits die feindlichen Soldaten hinter dem Warunker.

Adran senkte, scheinbar betrübt, den Kopf und verbarg ihn hinter der Mähne seines Reittieres. Dann beeilte er sich, seinen "Gefährten" zu folgen.

Auch am Marktplatz wimmelte es von Schaulustigen, die nicht mehr ganz so leutselig auf die Barönlichen starrten. Immer wieder trafen Grome sogar feindselige Blicke – der, ungelenk in seiner Ritterrüstung umherstapfend, ja wirklich wie ein blutrünstiger, eisenstarrender Trottel aussah, der sich im Frühling mit den Falschen angelegt hatte. Und seine eindeutige Niederlage nun partout nicht eingestehen wollte.

Eine faule Birne, ein matschiger Kohlkopf und ein Ei flogen heran. "Vogtmörder" brüllte irgendjemand, gefolgt von einem "Druidenknecht" und "Hexenstößer". Ein geworfener Holzknüppel prallte von Gromes Rüstung ab, ebenso der eine oder andere Stein. Die Ismenischen Wachen, aber auch einige Umstehende sorgten rasch für Ruhe. Wie es aussah, war die Meinung in seinem einstigen Residenzort gespalten. Adran fühlte sich angenehm betrunken, was Wunder ob des Sonnenbads. Einen Moment lang spürte er Vorfreude auf Methumis, wo es selbst im Efferdmond ein ähnliches Wetter geben sollte.

Dort drüben stand das Ziel der heutigen Reise: Der prachtvolle, aus großen Steinblöcken geformte Ingerimmtempel, der den Vergleich mit der Sankt-Alborans-Siegesbasilika zu Marktfriedwang nicht zu scheuen brauchte. 

Das Haus des Feuergottes war ebenfalls ein Bollwerk des wahren Glaubens, dem selbst das Feuer des Höhlendrachen Arlopir nichts hatte anhaben können. Tatsächlich hatten sich viele Oppsteiner in diese "Tempelburg" geflüchtet, als Varenas Mordgesindel über die Baronie hergefallen war, und hinter dem meisterlich gezimmerten, eisenbebänderten Tor überlebt. 

Adran suchte die Nähe des falschen Barons. Grome wurde vor dem Tor von der Hochgeweihten des Schmiedegottes empfangen, die ihm mit Laterne rituell den Weg ins Heiligtum leuchtete. Der Meisterin der Esse zur Seite standen zwei "Gesellen", ebenso einige Lehrlinge des Ingerimm. Die meisten Adranschen blieben mit den Pferden zurück, Adran folgte der "Fälschung" ins Innere und reichte ihr beiläufig den Brief.

Drinnen dauerte es eine Weile, bis sich seine geblendeten Augen ans Halbdunkle gewöhnt hatten. Den Mittelpunkt des Tempels bildete die Heilige Esse, die an diesem Tag besonders kräftig geschürt worden war. Seine Feinde waren schon da und unterhielten sich mit den Pächtern der Bergwerke, die zu den eifrigsten Spendern zählten. Entsprechend glänzte überall das Silber, vor allem rund um die Statue des Himmlischen Schmieds. Überhaupt waren die Bergleute gut vertreten, mit ihren weißen Kitteln und an Zwergentracht erinnernden spitzen Kapuzen. Auf dem Altar lagen allerhand wundersam geformte, glitzernde und glänzende Steine, die von den Hauern als bescheidene Opfergaben mitgebracht worden waren. Auch wenn man sich dem Geruch nach in einer Werkstatt wähnen konnte – es roch nach Feuer, Eisen, Öl und edlem Holz – war der Reichtum des Hauses nicht zu übersehen.

Ein überaus kunstvoll und farbenfroh gewebter Teppich zeigte die Szene, in der die drei Gigantinnen Sokramor, Hazaphar und Mithrida vor ihren Bruder Ingerimm traten, mit der Bitte, sie zu gewaltigen Schwertern zu schmieden, im Kampf gegen die Tausend Ungeheuer. Ingerimm erfüllte diesen Wunsch, wenn auch unter Tränen aus flüssigem Stein. Sokramor die Schwarze, die größte der Schwestern, bildete dabei kaum merklich den Mittelpunkt...auch vor dem Gobelin lagen kleine Steine, mit Einsprengseln aus Silber, wohl als Votivgabe. Ja, irgendwo in den heiligen Schriften hieß es, das die Gigantinnen Ingerimms Schwestern sein sollten. Sie als gottähnliche Wesen zu sehen, lag durchaus nahe, mochte Malachanias, der gerade hochgemut herein schritt, da auch anderer Meinung sein.

Im Angesicht des diskreten "Sokramorschreins" legte sich Adrans Verwirrung und Benommenheit wieder, zusammen mit der Wirkung des Sikramtalers (ob der Flussname Sikram und "Sokramor” verwandte Worte waren? Womöglich war die Macht der Bergmutter in altbosparanischer Zeit nicht nur auf die Schwarze Sichel beschränkt gewesen).

Adran kam in den Sinn, was die Sokramorierin über Firodil gesagt hatte, seinen gemeinsamen Sohn mit Serwa. Er wäre dazu berufen, Novize der Schwarzen Göttin zu werden? Ein bisschen spät, mit über zwanzig Götterläufen. Vor allem ein eindeutiger Verstoß gegen das Silem-Horas-Edikt. Erneut wirbelten seine Gedanken durcheinander. Der Junge...nein, der erwachsene Mann lebte, und war offenbar zu Größerem ausersehen? Das war vielleicht die schönste Genugtuung, an seinem letzten Tag als Baron von Oppstein.

Die Begrüßung war kühl, vor dem Altar, wo auf einem reichverzierten Eichentisch die Urkunde bereit lag, neben einer Abschrift. Mit leisem Grollen hallten die Worte von der Tempeldecke wieder. Die Geweihten stellten ihre Laternen in Nischen, schürten noch einmal das Feuer, bevor die Meisterin mit Hammerschlägen für Ruhe sorgte. "Ans Werk!" rief sie feierlich. Es folgte eine kurze Begrüßungsrede. Wunsch nach Frieden, Wohlstand und Gedeihen...Dank an den bisherigen Baron und dessen großzügige Spende...jaja.

Das rotglänzende Siegellack wurde ins Heilige Feuer gehalten, mit feinherbsüßlichen Duft, Federkiele in wunderschön gearbeitete Tintenfässchen gesteckt. Grome reichte Baron Alrik das Kuvert, verstohlen, als wolle er dem Friedwanger irgendeine Bestechung zustecken. Ulfing Sichelglühn übernahm es als Persevant, den Text der Urfehde nochmals vorzulesen, scheinbar ungerührt ob des Vorfalls an der Schwerterburg. So langsam wurde es an der Zeit, dass Adran die Maske fallen ließ. Er wollte schon das Wort ergreifen, als ihm Hochwürden Malachanias zuvorkam.

"In einem Haus der Zwölfgötter ist es üblich, die Kopfbedeckung abzulegen, aus Respekt und Demut", mahnte er in Gromes Richtung, mit Seitenblick auf Adran. "Um so mehr den Helm, an einem Tag des Friedensschlusses." Grome nickte schuldbewusst und nahm seinen "Rondrahut" ab. Die Umstehenden blickten verdutzt, was nicht zuletzt an den grauen Streifen lag, die durch "Adrans" rotgefärbtes Gesicht geflossen waren, als wären es die steinernen Tränen des Ingerimm.

Allerdings hatte die Hitze und der Schweiß die Farbe aus Gromes Haaren gewaschen. Malachanias, der Wahrheitssucher, war der Erste, der begriff. "Ihr seid nicht Baron Adran von Oppstein", rief er empört. Die ersten Hände wanderten zum Schwertgriff. Die Meister der Esse rief zur Mäßigung auf. Einer ihrer Gesellen, der bereits zum Hammer gegriffen hatte, ließ ihn auf ihren Wink hin wieder sinken.

Adran nahm hastig den Schallerhelm ab und trat in den hellen Schein des Tempelfeuers. "Verzeiht, das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich bin Adran von Oppstein." Ein verlegenes Räuspern. "Ihr habt ja selbst gesehen, welche Feindseligkeit mir...also meinem Leibwächter, auf dem Marktplatz entgegen geschlagen ist. Es hätten leicht auch Pfeile und Bolzen, nicht nur faules Obst, Steine und Stöcke fliegen können."

Betretenes Schweigen.

"Sagt...wer?" fragte Hochwürden indigniert.

"Adran...von Oppstein ?!"

"Will er uns foppen?"

Adran beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Seine Augen fielen auf die Nasenspitze, die, nun merkte er es deutlich, ein wenig zu sehr aus seinem Gesicht heraus ragte. Erschrocken tastete er danach. Seine Nase war größer, als gewohnt, außerdem knollig rund, der bislang fein gestutzte Bart ein wildes, rotes Gestrüpp. Das ganze Gesicht passte nicht mehr. Das...das war nicht er, bei allen guten Göttern? Den Wölbungen und der Bartfarbe nach zu urteilen, sah er aus wie ein rothaariger Kobold mit Riesenzinken! Seine neuen Ohren schienen ebenfalls viel zu groß und noch dazu abstehend zu sein. Gütige Rahja, steh mir bei, dachte er.

"Ich...ich bin Adran, ich kann es beweisen." Krampfhaft lächelnd tastete er nach der Doppelpetschaft, die er an einem Kettchen um den Hals trug. Der Umhänger war verschwunden. Gestohlen?!

Er brauchte einige Herzschläge, bis er begriff, was geschehen war. Diese verdammte Diebin. Sokramorierin? Oder Schelmin? Hexe? Giftmischerin? Womöglich war ihm gerade irgendein Hexenelixier verabreicht worden.

Wir brauchen mehr Zeit. Noch ist seine Fährte nicht ausreichend verwischt.

So langsam ahnte der Nochbaron, was gemeint sein könnte. Er, Adran von Oppstein, war zur Ablenkung bestimmt, für was genau auch immer. Nach zwanzig Jahren sollte Firodils Spur eigentlich "kalt" sein. Aber womöglich befand sich diese ominöse "Heilige Grotte" ganz in der Nähe. Vielleicht war sogar Keranvor gemeint, die Höhle der Sphinx, wo im Jahr des Feuers eine sinistre Greifenopferung stattgefunden haben sollte.

Zu allem Überfluss lachte auch noch Alrik von Friedwang ungläubig auf. "Und was soll das hier sein?" Der Baron hob den Brief hoch, dessen Inhalt ein wenig an die Schlieren in Gromes Gesicht erinnerte. Die Schrift, die sich dort vor kurzem noch befunden haben mochte, war bis auf wenige Kringel und Schnörksel wieder ausgebleicht.

Als Malachanias´ Blick auf den Zettel fiel, ließ ihn Alrik sinken, wie ein ertappter Akademieschüler.

Soweit zu Bernfrieds verschwindender Tinte, dachte Adran sarkastisch.

Der Hochgeweihte hob sein Sonnenszepter. "Genug mit diesem würdelosen Durcheinander. Will Adran uns zum Narren halten? Ein weiteres Mal! Erst lässt er auf einen Herold schießen, nun lästert er die Zwölfe daselbst! Richtet ihm aus, dass dieses Koboldstheater nicht folgenlos bleiben wird!"

Grome schaute bekümmert, aber auch heillos verwirrt zu Adran, den er ebenfalls nicht wiedererkannte.

"Hinaus, hinaus aus diesen heiligen Hallen " befahl der Hexenkommissar, was bei der Tempelvorsteherin, die er damit überging, ein Stirnrunzeln hervorrief. "In meiner Gegenwart wurde freies Geleit zugesagt, so soll den Anstifter die Strafe erst später treffen."

Der Hochgeweihte dachte kurz nach. "Erst wenn er Abbitte in einem Haus des Praios geleistet hat, kniend, mit Büßergewand und Strick um den Hals, eine Tempelkerze in Händen. Dann soll ihm gestattet sein, ein angemessenes Sühnegeld an den Herold zu leisten. Ebenso mag ihm die Gnade gewährt werden, durch eine Spende an den örtlichen Praiostempel Milde und Verzeihung zu erheischen."

Malachanias war anzumerken, dass er gerade Neid auf den wohlhabenden Ingerimmtempel empfand. "Das Haus des Götterfürsten ist während seiner Herrschaft herunterkommen – ein Grund mehr, sie ein für allemal zu beenden. Richtet das eurem schelmischen Baron aus, ihr schlechten Schauspieler und Schalksnarren!"

 

"Einen Augenblick". Die Meisterin der Esse hämmerte auf ihren Amboss, um sich Gehör zu verschaffen. "Ich bitte doch sehr um handwerklich sauberes Vorgehen, Hochwürden Malachanias. Wenn, dann wurde das Haus des Ingerimm entwürdigt. In diesem Fall würde es uns obliegen, eine Kirchenstrafe zu verhängen." Die Hochgeweihte packte den Nackenriemen ihrer Lederschürze, mit schwieligen, kräftigen Fäusten. "Allerdings ist es im Neuen Reich üblich, vor einer Bestrafung zunächst den Beschuldigten anzuhören. Oder, wie in diesem Fall, seine Vertreter."

Irritiert blickte die Tempelvorsteherin auf den Waffenknecht, der, mit rotem Ziegenbart, Knollennase und abstehenden, spitzen Ohren, wirklich an einen Kobold erinnerte - so ähnlich, wie sie sich einen Wehrheimer Hämmerling vorstellte.

"Was hat dieses Possenspiel zu bedeuten?" fragte sie streng. "Die Täuschung mit der Ritterrüstung verstehe ich vielleicht noch. Aber wieso hast du behauptet, dein eigener Baron zu sein, Rotbart?"

Adran war immer noch damit beschäftigt, über sein Gesicht zu tasten, in verzweifelter Hoffnung, dass dieser Zauber nicht allzu lange anhalten würde.

 Er musste zugeben, dass ihm gerade keine schlüssige Antwort einfiel.

 "Weil...wir alle Baron Adran von Oppstein sind", ließ sich Grome vernehmen, der seine Hand zur Faust ballte. "Ich bin auch Baron Adran. Wir alle stehen treu zu ihm! Niemals werden wir Oppstein aufgeben!" Aufgeregtes Getuschel und Stimmengewirr brandete auf, wie in einer Markthalle. Selbst mit wuchtigen Hammerschlägen gelang es der Priesterin nicht, die Unruhe zu besänftigen.

 Der rotbärtige Adran wusste nicht, ob er seinem eigenmächtigen Gefolgsmann um den Hals fallen oder ihm den Hals umdrehen sollte. Sein Blick ging hilfesuchend zum Sokramor-Wandteppich. War sein leiblicher Sohn wirklich dazu ausersehen, Priester einer neuen alveranischen Gottheit zu werden? Dann war sein eigener Opfergang in Oppstein nicht umsonst. Aber das bedeutete auch, dass er Firodil Zeit verschaffen musste. 

Sein Blick fiel auf die Schrift, die unter dem Gobelin angebracht war - vor dem eine steinerne Konsole aufragte, die verdächtig nach einem Seitenaltar aussah. Es waren wohl Bergleute gewesen, die hier seltene Steine, aber auch Werkzeug abgelegt hatten. 

Er ging näher heran, um die eingemeißelten Buchstaben zu entziffern, wozu er sein Haupt beugen musste: "Schließlich traten drei Schwestern der Giganten zu ihrem Bruder INGerimm und baten den Gott, sie selbst zur Waffe zu schmieden. Er tat es, obgleich er Tränen aus flüssigem Stein dabei vergoss, und schmiedete aus Hazaphar eine gelbe Klinge, einhundert Meilen groß, aus Mithrida eine rote Klinge, zweihundert Meilen groß, und aus der größten der Schwestern, Sokramor, eine schwarze Klinge, dreihundert Meilen groß. Und er selbst griff nach der gelben Sichel, Rondra nach der roten – und nur ihr Sohn Kor war stark genug, um die schwarze Sichel zu ergreifen. Myrgion Pyrrios zu Mylamas, Aus alter Zeit.

Pyrrios? Bedeutete das auf Cyclopäisch nicht der Feuerfarbige? Wie überaus passend, dachte Adran, dessen Gemahlin eine geborene di Mindros gewesen war, mit Vorfahren von den Zyklopeninseln. Versonnen strich er sich über seinen Rotbart. 

 

So langsam kehrte wieder Ruhe ein, im Angesicht des Roten Gottes. Die Hammerschläge verhallten. 

 "Erlaubt mir eine Gegenfrage, Meisterin" sagte Adran, mit Advokatenmiene. "In welchem Zeitalter wurde die Vielgestaltige Bestie besiegt?"

 Die Ingerimmsdienerin blickte irritiert. "Nach den ehrwürdigen Schriften....im fünften Zeitalter?"

 "Gut." Der vermeintliche Waffenknecht drehte sich zum Lichthüter. "Und wann war es, da sich der Unbarmherzige Kor von seiner Mutter Rondra abgespalten hat, Hochwürden Malachanias?"

 "Ich verstehe nicht, was diese Frage mit dem Mummenschanz hier zu tun hat, Gemeiner! Beantworte er die Frage der Meisterin, statt seltsame Gegenfragen zu stellen!"

 Ein Moment lang herrschte Schweigen.

"Das soll im neunten Zeitalter geschehen sein", ließ sich der Rondrageweihte Deggen von Baernfarn vernehmen, mit klarer Stimme.

"Seht Ihr?" Adran blickte in die Runde. "Seine Hochgeboren Adran hatte auf der Schwerterburg ein wenig Zeit, um über die vielen Sagen und Legenden der Schwarzen Sichel nachzusinnen. Ebenso über das gute, alte Volksbrauchtum, das er bis zuletzt zu schützen gedenkt. Nun, beantwortet ihm bitte eine einfache Frage: Wie kann Kor bereits im fünften Zeitalter die schwarze Klinge Sokramor geschwungen haben, wenn er erst im neunten Zeitalter entstanden ist, als Sohn des Famerlor und der Himmlischen Leuin?"

 Erneut breitete sich Schweigen aus, das allerdings mehr der unheilvollen Stille vor einem Sturm glich.

"Das ist einfache Rechenkunst, will mir scheinen", setzte Adran noch eins drauf. "Im Mindesten ist das Wort Korgesegnete Götterklinge aus dem zweiten Passus der Urfehde zu streichen. Ismena erkennt die Verehrung der Reliquien der Gigantin Sokramor an, genannt die Schwarze Sichel.  Alles andere wäre ja...grob widersinnig! Wie jedes Kind zugeben müsste, das auch nur die Praiostagsschule besucht hat."

Dieser Treffer saß. "Das ist ungeheuerlich! Blasphemiiieee!" donnerte Malachanias. Lange hallten seine Worte von den Wänden wider. "Wachen, herbei! Wo sind meine Büßer? Verhaftet diese Ketzer!"

 Die Meisterin schlug wild auf den Amboss, als wolle sie ihn zertrümmern. Dann wies sie auf den Wandteppich.

 "Man sollte die Boten nicht für die Botschaft bestrafen, Hochwürden Malachanias. Ich nehme an, deine Worte, Feuerbart, beziehen sich auf die Worte des frommen Einsiedlers Myrgion Pyrrios,  dort an der Wand? Nun, Überlieferungen sind Menschenwerk, nie frei von Fehlern, Irrtümern und Missverstehen. Ein bloßes Zahlenspiel sollte nicht diesem Friedensschluss entgegenstehen...der endlich wieder Ruhe und Prosperität in Oppstein Einzug halten lässt. Ich denke, der Passus lässt sich, wenn nötig, leicht abändern und die Siegelung baldmöglichst nachholen!"

"Das...das ist...schädlich Hämmern an den Grundfesten von Dere und Alveran", keuchte Malachanias.

 

Die Hohepriesterin sah irritiert auf ihren Hammer. Der Praiosdiener deutete mit dem Sonnenszepter auf die Gesandten: "Was die Diener des Ketzers Adran da verkünden. Niemals werde ich von den Aussagen der Annalen des Götteralters auch nur einen Fingerbreit zurückweichen. Wer, wenn nicht Kor, soll denn dann Sokramor geschwungen haben?"

"Womöglich ist Sokramor ja größer und umfassender, als es die Legende vom Götterschwert behauptet?" schlug Adran unschuldig vor. "Mir erscheint es ohnehin fragwürdig, dass der halbgöttliche Sohn stärker gewesen sein soll als seine Mutter, die Kriegsgöttin. Baron Adran erscheint es fragwürdig, meine ich..."

"Ich werde mich....nicht...auf....theologische...Disputationen...mit...einem...kleinen Büttel einlassen!" Malachanias brüllte fast.

"Nun muss ich Euch bitten, die Würde von Ingerimms Hallen zu achten, Custos Lumini", sagte die Tempelvorsteherin, sichtlich verärgert. "Kein Licht ohne Feuer, vergesst das nicht. Bändigt die Flamme Eures Zorns!"

Malachanias atmete erst einmal durch. "Verzeiht", sagte er, mühsam um Selbstbeherrschung ringend. "Auch wenn das Licht älter ist als das Feuer. Ansonsten habt Ihr Recht. Ich hätte warten müssen, bevor die Ketzerei von selbst aus den schmutzigen Schandmäulern dieser Sokramorier da heraussudelt. Wie es früher oder später immer der Fall ist. Die Buße wurde bereits verkündet. Allerdings möge sich Adran nun nicht mehr nur niederknien, im Hause des Höchsten Herrn. Sondern sich niederwerfen und seine frevlerischen Ansichten zu Kor und Sokramor widerrufen! Dann sei es ihm gestattet, den Vertrag zu siegeln, der natürlich um kein einziges Wort mehr geändert werden wird. Und nun hinaus mit den beiden, bevor ich mich wirklich noch vergesse..."

 

Oppsteiner Hof, 21. Rondra 1046 BF, Windstag, frühmorgens

Der Fackelschein tauchte den gepflasterten Schlosshof in ein unwirkliches Licht, erfüllt von Schattenspiel. Gespenstisches Kettenklirren war zu hören. Zufrieden sah Hochwürden Malachanias, wie der Gefangene aus dem Haupthaus geführt wurde – ein merkwürdig verkleideter Kinderschreck, dessen eiserner Schweinekopf nicht recht zur vornehmen Gewandung eines Magus passte.

Baduron von Eslamsbrück trug eine runde, sorgfältig vernietete Praioskrause, die seinen Hals umschloss, und mit den Zeichen von Greif, Sonne und Scheiterhaufen verziert war. Seine Hände und Füße waren von schweren Stahlketten umschlossen. Da Bannstaub teuer war, griff der Hexenkommissar lieber auf das "Pfeifende Schwein" zurück, eine Schandmaske, die ursprünglich für den Marktfriedwanger Pranger gedacht war. Den Madafluch aber ebenfalls minderte. So dass ein Delinquent, zumal in Kombination mit dem Eisernen Kragen, außerstande war, die göttergefällige Ordnung um sich herum mittels chaotischer Magie durcheinander zu bringen. Irgendein Scherzbold hatte den Tobrier dessen spitzen Magierhut aufs Haupt gesetzt, der nun zu Boden fiel. Achtlos trat ihn einer der Häscher beiseite.

"Ich werde mich bei der Gilde über diese Behandlung beschweren", schimpfte Adrans vormaliger Hofmagier. Das hieß, er wollte schimpfen, aber die hauergeschmückte Schnauze des "Wutzenkopfs" war so geformt, dass vor allem unverständliches Grunzen, dumpfes Schnauben und jämmerliches Pfeifen aus dem Mund des Sünders drang. Seine Worte waren kaum zu erahnen, geschweige denn, dass er Zauberformeln sprechen konnte. Die Büßer schoben den Gefangenen mit ihren Hellebarden in Richtung Käfigwagen, der ihn in den bleigeschützten "Turm der Freude" zu Marktfriedwang bringen würde.

Nach dem Schwertfest, auch Baduarstag genannt, war Hochwürden nach und nach dem Magier auf die Schliche gekommen, als eigentlichem Verschwörer. Malachanias vermochte Magie fast schon zu schmecken und riechen. Davon war er koschbasaltfest überzeugt. Leider hatte er erst mit Verzögerung bemerkt, dass im Ingerimmsheiligtum übelste Hesinderei gewirkt worden war.

Alles andere war eine Frage des sonnenklaren Scharfsinns gewesen, den der Höchste Herr seinen Günstlingen schenkte. Das gefährliche Wissen um die Abfolge der Äonen war, Praios sei Dank, rar gesät. Vor allem die Tsajünger ergötzten sich an der beunruhigenden Vorstellung, das in gewissen Abständen die bestehende Ordnung umgestürzt und ein neues Zeitalter beginnen würde. So verkündet es ihr heiliges Buch, der "Blick in den Regenbogen".

Eine ähnliche Lehre wurde auch in den Annalen des Götteralters vertreten, die vom Erzheiligen Cereborn verfasst worden waren. Auf die Urfassung war Verlass, auch wenn die Hesindekirche - der Cereborn angehört hatte - mitunter ebenfalls ein wenig echsisch daherkam. Schlangen und Eidechsen häuteten sich regelmäßig, um etwas Neues hervorzubringen – vor allem um beständig zu wachsen. Nur war die Vergangenheit keine tote, abgestreifte Hülle, sondern die Grundlage des heutigen Weltgefüges. Alles hing zusammen, war der einen großen Sphärenharmonie unterworfen, in der es leider immer  wieder Misstöne gab. Entsprechend machte es schon Sinn, den Legenden und Sagen aus der Vergangenheit eine strenge Ordnung aufzuerlegen. Vor allem die ursprüngliche, reine und lautere Verkündigung zu wahren, angesichts ständiger Neuinterpretationen, Hinzudichtungen, Irrtümer. Die bei schwachen Geistern freilich für Verwirrung sorgen mussten.

Ein reumütiger Lakaie hatte sich erinnert, dass Baduron einmal mit seinem Herrn über dieses heikle Thema gesprochen hatte: Das Kor schon im fünften Zeitalter die Schwarze Sichel geschwungen hatte, lange, bevor er überhaupt entstanden sein sollte, im neunten Zeitalter.  Die Menschen könnten gar nichts von diesen vergangenen Jahrtausenden wissen, da sie damals noch nicht existiert hätten.  Adran, der "Freigeist", hatte später fabuliert, dass wohl jedes der zwölf Äonen einem der Götter geweiht gewesen sein und sich die Menschheit jetzt, im zwölften Zeitalter, entsprechend im Zeitalter der Rahja befinden musste. Was natürlich ganz im Sinne des Lüstlings war, der im nandusgläubigen Methumis weit besser aufgehoben sein würde als in der frommen Mark. Offenbar war der Baron den Ränken des Pharraz nur entkommen, um wenig später im Spinnennetz "hesindialen" Scheinwissens zu zappeln.

Dass der "Hühnerbart", wie ihn der Oppsteiner Volksmund hämisch nannte, einen hennagefärbten Bart trug - der sich offenbar im Feuerbart des lästernden Büttels widergespiegelt hatte - war da nur ein Detail am Rande gewesen. Selbst mit der abgefeimtesten Magie ließen sich die Sinne eines Rechtgläubigen nicht dauerhaft täuschen. Es war, als hätte noch der heimtückischste Frevler das Bedürfnis, und sei es  unbewusst, die Wahrheit ans Licht treten zu lassen.

"Ist der grimme Kor jetzt im neunten Zeitalter entstanden oder nicht ?" Alrik von Friedwang war im pelzbesetzten Mantel hinter Malachanias getreten. Der Baron hob den davon gerollten Spitzhut auf, klopfte etwas Schmutz ab und beulte ihn aus. Beide sahen zu, wie der atemlos pfeifende Magier in den Gitterwagen gezerrt wurde. Die Tür wurde sorgfältig verriegelt. "Und wie würde sich der Widerspruch zu seinem Auftritt im fünften Zeitalter erklären?"

Der Commissarius gab ein Zeichen. Der Käfigwagen ratterte los, eskortiert von der Hälfte der Büßer. Pferdehufe klapperten über die Pflasterung.

Malachanias antwortete nicht sofort, also fuhr der Friedwanger unverdrossen fort. "Ich habe in Götterkunde gelernt, dass Rondra und Famerlor neunmal neun Götterläufe gegeneinander gekämpft haben sollen...bevor sich die Kriegsgöttin dem Hohen Drachen hingegegeben hat. Wobei sich ihr rotes Blut mit schwarzem Drachenblut gemischt hat. Das mit den Zeitaltern könnte rein symbolisch zu verstehen sein. Neun ist nun einmal die heilige Zahl des Gnadenlosen Gottes. Naja...Halbgottes..."

Malachanias musterte den phexischen Freiherren von der Seite: "Fangt Ihr nun auch noch an, wild drauf los zu philosophieren, Hochgeboren?"

"Ich fange an zu rechnen, Hochwürden."

"Irre ich mich, oder ist 9 nicht auch die heilige Zahl des Phex? Ständig neue Legenden, Geschichten und Interpretationen sind eine Landplage, Baron. Das gilt leider auch für die Abschriften heiliger Bücher. Sie sind wie Ratten, die ständig über Papier und Tinte laufen, kaum dass sie getrocknet ist, alles verwischen und durcheinander bringen. Ich persönlich halte mich an die Urschrift der Annalen des Götteralters, wie sie vom Erzheiligen Cereborn verfasst worden ist. Demnach soll Kor das Karfunkelherz Umbracors tragen, des Hohen Drachens, der das Gleichgewicht der Macht bewahrt. Diese Stelle wurde in späteren Ausgaben gestrichen, gerade, um Glaubensverwirrung zu vermeiden. Nun, von manchen Koranbetern wird Umbracor der Zerstörer mit dem Sohn der Rondra gleichgesetzt. Darin könnte zumindest ein Funken Wahrheit stecken. Laut den Cereborn-Annalen soll der Drache seinen Bruder Famerlor gebeten haben, Kor das eigene Karfunkelherz einzupflanzen, um in ihm weiterzuleben. "

Alrik hakte seine Hände in den Mantel, die Daumen nach oben. "Ah, verstehe...dann hat womöglich Umbracor die schwarze Sichel geschwungen? Oben im Weidenschen gibt es einen Berg, was sag ich, einen ganzen Gebirgszug, der Sokramors Klaue genannt wird. Ich dachte immer, es wäre eine Art Parierstange gemeint, aber irgendwie klingt es drachisch. Womöglich war Sokramor ja einmal die Waffe in den Klauen eines Alten Drachen?"

"Werter Baron, fangt Ihr auch noch an, mit Irgendwie und Möglicherweise? Gerade erst wurde ein gewissenloser Freidenker zum Tor hinausgefahren. Der wilde Schmähungen ausgestoßen hat, am höchsten Feiertag des Kor, in einem Ingerimmtempel. Umgeben vom Blendwerk magischer Täuschung. Kor ist ein anerkannter Halbgott, der unbedingten Gehorsam fordert. Auch wenn die Gemeinschaft des Lichts gewiss nicht viel mit der Schwarzroten Horde gemein hat...In diesem Punkt stehen sich unsere Kirchen nahe. Die Götter fordern von uns gerade dann Gehorsam, wo ihre Lehren unserem beschränkten Geist als sinnlos oder widersprüchlich erscheinen mögen. Manchmal glaube ich sogar, dass, wie soll ich sagen, solche Widersprüche gewollt sind, um unsere Glaubensfestigkeit zu prüfen. An das, was derischer Vernunft unzugänglich ist, kann man nur glauben, nicht davon wissen. Das ist geradezu ein Fundament der Zwölfgötterverehrung. Mitunter geißeln die Unsterblichen einfach unseren hochmütigen Menschenverstand, auf dass er Demut lerne. Ganz abgesehen davon, dass es einer bildhaften Sprache bedarf, um einem Sterblichen das unfassbar Göttliche näher zu bringen."

"Gilt das Schwertfest nicht sogar als höchster Feiertag des Herrn der neun Streiche". Alrik zwirbelte seinen Bart. "Die Nacht vom 15. auf den 16. Rondra, um genau zu sein. Sankt Baduar hin oder her...an so einem Tag Frieden schließen zu wollen, war keine gute Idee."

Einen Moment lang sinnierte der Mondschatten vor sich hin. Gernot, sein schurkischer Vetter und Thronräuber, hatte am 16. Rondra Wiegenfest gefeiert. Der gleiche Tag, an dem auch Burg Friedstein in Flammen aufgegangen war, kurz nach der Bluthochzeit...der friedwängische Schicksalstag? Im Grunde war es der lange Schatten des borbaradianischen Verräters, der bis heute nachwirkte.

"Vielleicht sollten wir unseren Geist wirklich mehr auf die derischen Dinge lenken", sagte der Baron. "Was ist mit dem Brief, den uns Baduron übereignet hat? Mit dem Adran die Rommilyser Reiterei in den Sichelhag locken wollte?" Alrik schauderte allein bei dem Gedanken an 150 horasische Elitesöldner, die plötzlich vom Süden her anrücken würden, als Entsatz für die Schwerterburg.

Der Hilfsinquisitor zückte nach einem kurzen Zögern das völlig zerknitterte Kuvert, mit gebrochenem Siegel. "Oleana meinte, dass dieser Brief in ihrem Archiv besser aufgehoben wäre. Leicht könnte die Markgräfin kompromittiert werden, wie damals ihr Vater Ucurian...nach der Schlacht von Berler."

"Nun, der Falkenbund und Adrans Umtriebe, das sind zwei Paar Stiefel...." Alrik stockte kurz und hustete, beim Gedanken an zwei Paar Stiefel. "Die Schwägerin ist nicht die Markgräfin. Wie ich schon sagte, Ihr habt bereits die Aufmerksamkeit von Erlaucht Swantje. Als Geheimer Kammerherr der Markgräfin werde ich nicht vergessen zu erwähnen – dass der Brief aus Euren Händen stammt."

Der Commissarius zögerte noch immer. Der Friedwanger schnappte ihm den Brief regelrecht aus den Fingern und steckte ihn ins Schnallenband des Magierhuts.

"Bei der Gelegenheit...was genau hatte es mit dem Schreiben auf sich, das Euch der falsche Adran im Tempel übergeben hat?" Nun klang Malachanias lauernd. "Die Schrift schien...unleserlich zu sein?"

"Ein persönlicher Brief des Herrn Adran", sagte Alrik und blickte zum Sternenhimmel, wo das Madamal im Helm stand. "Der Inhalt war leider auf alchemistische Weise unkenntlich gemacht, durch eine Art Zaubertinte. Warum, das müsst ihr Adran schon selbst fragen. Womöglich spielt er immer noch auf Zeit, will uns verwirren und spalten. Wir haben bald Herbst, dann wird es für Belagerer ungemütlich werden, in den Bergen. Womöglich möchte er seine Verhandlungsposition stärken? "

"Deswegen das Durcheinander in diesem protzigen Ingerimmheiligtum? Nun, ich habe schon gewusst, warum ich den magiesicheren Praiostempel als Ort der Unterzeichnung vorgeschlagen habe. Was drin stand, im Brief, das wisst Ihr nicht zufällig? Ihr werdet doch zumindest eine Vermutung haben?"

"Es könnte um Details seiner...früheren Beziehung...zu meiner Gemahlin gehen. Mein, äh, alchemistischer Ratgeber Hesindian könnte versuchen, die Schrift wieder sichtbar zu machen, in seinem Rübenscholler Laboratorium ?!"

"Nun, das obliegt Eurem Aufgabenbereich. Schließlich seid Ihr für...staatspolitische Angelegenheiten zuständig. Ebenso wie die Angelegenheiten Eurer Familie. Übertreibt es aber nicht. Mit der hesindegefälligen Alchimie, meine ich. Derweil werde ich Baduron befragen, im Bleiturm von Marktfriedwang. Es ist denkbar, dass der Brief nach Pertakis nur eine Finte war. Ich meine, ein Magier hat doch ganz andere Möglichkeiten, Botschaften zu übermitteln. Indem Baduron uns das Schreiben aushändigt, als vermeintlicher Verräter und Überläufer. Nun, damit gewinnt er unser Vertrauen, wiegt uns in Sicherheit, spioniert und sabotiert ein wenig...versucht das Volk gegen unsere Herrschaft aufzuwiegeln?"

"Unsere Herrschaft, Hochwürden?"

"Die Herrschaft von Recht und Ordnung, gewiss..."

Der Hexenkommissar nickte, zunehmend überzeugt von seinen eigenen Worten. "Wir sollten auch nicht vergessen, dass Adran einen Drachen in Diensten hält. Einen kleinen Drachen, gewiss, den er aber schon mehrfach zu Gernbrecht geschickt haben könnte, seit dem Frühjahr. Ismena sollte sich beeilen, die Schwerterburg auszuräuchern, bevor ihr eine feindliche Heerschar in den Rücken fällt. Vielleicht überzeugen Adran ja ein paar Brandspeere eines Besseren?"



Schwerterburg, 27. Rondra 1046 BF, Wassertag

 

Alriks Schrei klang wie schrilles Gelächter. Es war, als wäre ihm zum wiederholten Mal der gleiche schlechte Witz erzählt worden. Aber es war kein Scherz, der ihm gerade niederhöllische Schmerzen bereitete. Der gar nicht mal so kleine Dorn war geradewegs durch seine Schuhsohle gedrungen, hatte den Fuß durchbohrt und lächelte ihn nun spitz an, rotlackiert mit seinem Blut. Anders als seine Geschwister am Oppenbach besaß dieser Krähenfuß Widerhaken. Immer mehr Sumusaft sprudelte hervor und durchnässte seinen Stiefel. Nun würden sich die Schusterleisten wenigstens rentieren, von denen Serwa ihm berichtet hatte.

Einige Herzschläge lang kämpfte der Baron von Friedwang einfach nur gegen den Schmerz, der wie eine Lavafontäne von unten heraufsprühte, als wäre sein linker Fuß ein kleiner Feuerberg. Die Spreiznägel waren eigentlich schwer zu übersehen gewesen, sie waren größer als das Dämonenzeugs vom Praiosmond. Wollte Phex ihn bestrafen, weil er nun selbst mit den Mächtigen kungelte, mit einem Inquisitionsgehilfen zumal? Den Wächtern des Tages, die ihn vor wenigen Jahrzehnten noch selbst gejagt und in die tiefsten Kerker geworfen hatten?

Alrik Tsalinds "Korgelächter" wurde zu einem schrillen Brüllen. Blut tropfte auf das Blumenmeer, indem überall eiserne Blüten wuchsen . Das Stiefelleder fühlte sich warm und glitschig an, der Blutgeruch lockte rasch Fliegen herbei. Wie hatte er die Fallen übersehen können, die vor dem Außenwerk lagen? Die Angreifer hatten das Gras mit den Gabeln durchstochert, die eigentlich die Sturmleitern aufrichten sollten, wie bei einem Tsabaum. Hastig hatten sie die Attacke abgebrochen, nur der "Fuchs von Friedwang" war einen Schritt zu weit gegangen – auch weil er den dichten Geschosshagel entgehen wollte, der von gleich zwei Mauern heranschwirrte.

Alriks Ziel war der toten Winkel gewesen, im Schatten der Barbakane. Nun diente eine Gabelstange als improvisierter Sitz, mit dem der hohe Herr aus dem Gefahrenbereich getragen wurde. Wie Mohasklaven, die einen Granden unter Sonnenschirmen vor Praios Ungnade schützen wollten, hielten seine Leibwachen Schilde hoch. Wuchtig schlugen die Pfeile ein, die Spitzen ragten aus dem Holz wie der Spreiznagel aus Alriks Fuß. Ismenas Schützen erwiderten den Beschuss. Erneut zahlte sich ihre zahlenmäßige Überlegenheit, aber auch die größere Erfahrung aus, im Umgang mit Schusswaffen. Die Salven von der Schwerterburg verebbten.

Jadvige von Kressenbrück verzog selbst als abgebrühte Kämpferin das Gesicht, als sie den Friedwanger sah und mehr noch hörte, der in einiger Entfernung gegen eine Tanne gelehnt wurde. Hesindian, der Hofmagier, eilte herbei, der zum Glück noch nicht nach Rübenscholl abgereist war. Warum musste sich der alternde Friedwanger auch ins dichteste Kampfgetümmel stürzen, ohne Schild und Deckung, wie ein törichter Grünschnabel. Ein halbes Dutzend Ismenische war bereits von Armbrustbolzen, aber auch Pfeilen niedergestreckt worden. Die meisten waren zum Glück nur verwundet. Eines der Geschosse hätte durchaus auch den Baron treffen können, der offenbar immer noch Groll auf Adran empfand, dem einstigen Liebhaber seiner Frau.

"Ich schaus mir mal an!" brummte Gesine Bretzelbeck, die sich am ersten Sturmangriff beteiligt hatte, der bereits weit vor der Barbakane liegen geblieben war. Ein Streifpfeil hatte ihr die Wange aufgerissen, ein zweites Geschoss steckte tief in ihrer Gürteltasche. Offenbar besaß sie heute genau das Soldatenglück, das ihrem Baron fehlte.

"Was für ein Ogerscheißzeug!" knurrte Jadvige. "Ein Pfeil mit Widerhaken wäre schlimm genug. Aber so ein Xarfaigeschenk kann man ja nicht mal abbrechen und durch die Wunde treiben." Ein Nerv zuckte durch das narbengeschmückte Gesicht der Dienstritterin. Der Feldscher würde die Wunde vergrößern müssen, um den Stachel hindurch zu ziehen. Alrik hatte gute Chancen, für immer ein Krüppel zu bleiben, selbst wenn er einen Heilmagier an seiner Seite hatte. Vom möglichen Fieber ganz zu schweigen.

"Einer muss den Fuß festhalten, wie beim Schmied", überlegte die friedwängische Konnetabelin laut, zog den Pfeil aus dem Täschchen und warf ihn ins zertrampelte Gras. "Mit ner Huffeile kriegt man die Widerhaken weg.  An der Seite, meine ich. Dann kann man den Nagel durchziehen, von oben nach unten...? Ist ziemlich weiches Eisen, trotz allem."

"Mit ner Huffeile...?" Jadvige schluckte. "Stillhalten muss der Herr Baron aber auch noch. Drüben am Karren gibt es reichlich Branntwein. Und deckt die Wunde gut ab, damit kein Rost rein fällt."

Die Befehligerin versuchte sich auf den Verlauf der zweiten Angriffswelle zu konzentrieren, die durch die niederhöllische Saat auf der Bergwiese ziemlich eingeschränkt wurde. Diesmal waren die Krähenfüße kaum zu sehen gewesen, verdeckt durch Akelei, Enzian, Feuerlilien oder Glockenblumen. Jadvige musste zugeben, dass sie sich durch den tsagefälligen Anblick hatte einlullen lassen, ebenso wie durch die vorangegangene Unterbrechung der Fehde. Die Gernatsborner Hauptmännin musste außerdem zugestehen, dass sich die Adranschen geschickt verteidigten. Außer Bolzen schwirrten immer wieder Pfeile herbei, auf die Schildträger, die den Rammbock und dessen Mannschaft zu decken versuchten. Der Widder war auf einen Leiterwagen gebunden worden, der sich allerdings als zu schwach gegen das massive Außentor erwies. Von oben donnerten schwere, klobige Steine herab. Nach kurzer Zeit sank das Fuhrwerk mitsamt Belagerungsgerät in sich zusammen. Rondra schien heute wirklich nicht auf ihrer Seite zu sein.

"Für Sokramooor! Für die Sichel!"

Die lukengroße Mannlochtür wurde aufgerissen und die Oppsteiner sprangen geduckt heraus. Nele stieß mit dem kettenbewehrten Kopf gegen den Türrahmen, blieb zugleich an der übergroßen Schwelle hängen und fiel einer übergroßen Ismenischen geradewegs vor die Füße – was eine Phexensgabe gewesen war, denn so fegte deren Ochsenherde ins Leere, statt ihren Schädel zu zertrümmern.

"Sokramooor!" brüllte Nele erneut und hob ihr Kurzschwert. Für einen Moment huschte ein Kindergesicht durch ihren Kopf, mit blonden, hochwehenden Haaren und zwei kleinen Beulen. Sie rollte sich in die Blumenwiese, an einer Stelle, wo sie, wie sie wusste, keine Krähenfüße lagen. Wie sie hoffte. Sie hatte Glück, der Stachel eines der Dinger prallte an ihrem Kettenzeug ab.

Sie sprang auf, sah den Respekt in den Augen der Ismenischen, wenn auch mehr vor den Fußfallen. Schreiend drang Nele auf ihre Gegnerin ein, die mit ihrem Dreifach-Morgenstern um sich schlug, wie mit einem eisernen Fliegenwedel. Der Knappin versuchte, die Deckung ihrer Kontrahentin zu unterlaufen, aber ein schmerzhafter Schultertreffer machte ihr klar, dass dieses Spiel gefährlich war. Es war der Anblick schieren Opfermuts, der die Trägerin des Gänsebands zurückweichen ließ. Ihr Gesicht war unter der Beckenhaube kaum zu erkennen. 

Ohne auf die Schmerzen zu achten, rückte die Oppsteinerin weiter vor. Hielt nicht einfach nur ein Schwert, sondern wurde selbst zur Waffe, wie es die sokramorischen Mysterien verlangten. Sie ging in die Knie, hieb nach den Beinen der Feindin. Funkensprühend prallte der Stahl von einer Beinschiene ab.

Weitere Sokramorier sprangen aus dem Torbogen, wie wütende Ameisen aus ihrem attackierten Bau. In wildem Handgemenge versuchten sie die Deichsel zu erreichen, an der wiederum feindliche Waffenknechte versuchten, den Rammbock vom Tor wegzuziehen. Die ersten Brandpfeile zischten rauchend in die liegengebliebene Kriegsmaschine, ohne größere Brandherde zu verursachen.

"Sokramooor!"

Die Schar der Gegner war in Neles Augen längst nur noch eine einzige Vielleibige Bestie. Heuchler, die behaupteten, für die Zwölfgötter zu kämpfen, aber in Wahrheit das Werk der Dämonen vollführten, die auf der anderen Seite der Berge lauerten. Leichtgläubige, die keinen Opfermut kannten, sondern sich allein in Überzahl stark fühlten.

Die Kämpferin mit der Ochsenherde schlug ihr nun das Kurzschwert aus der Hand, das klirrend unter dem Rammbock verschwand. Zum Glück wurde das Miststück von Gurd, Neles kräftigstem Mitstreiter, abgelenkt. Der Blick der jungen Moosenwaldt fiel auf einem feindlichen Schildträger, der bluthustend an einem pfeilgespickten Scheibenrad lehnte und selbst von zwei Armbrustbolzen durchbohrt worden war. Er hatte es nicht mehr geschafft, sein Schwert zu ziehen. Nele versuchte ihm die Waffe zu entreißen. Totenbleich, mit blutverschmiertem Mund, packte er ihren Arm. In Neles Augen sah der Bursche nicht mehr aus wie ein Mensch, eher wie ein Vampir. Sie pflockte ihren Dolch in seinen Hals, ließ den zuckenden Körper zur Seite sinken. Mühsam zerrte sie das Schwert aus dem Gürtel, gerade rechtzeitig, um den wütenden Hieb eines Ismenischen abzuwehren und den übelriechenden Burschen wegzustoßen.

Das Durcheinander hatte auch seine Vorteile, etwa, dass sie nicht mehr von den verdammten Schützen der Eroberer beschossen wurden, die zudem durch den Rammbock eingeschränkt waren. Auch die Pechnase vor dem Außentor schien die Belagerer abzuschrecken, die wohl an die Schauergeschichten von kochendem Pech und Öl glaubten: die allerdings viel zu teuer und selten waren, um als Waffen Gebrauch zu finden. Davon hatte auch Meister Adran erst überzeugt werden müssen. Ein paar Steine waren dem Widder auf den Kopf gefallen und hatten ein Horn zersplittert, das war alles.

Der Ausfall war überraschend erfolgreich. Stück für Stück drängten sie die Rammbock-Schwinger zurück. Von hinten wurden die bereit gehaltenen Strohbündel und Reißigwellen herangereicht. Hastig half Nele mit, das Brennmaterial auf den seitlich umgesunkenen Karren zu werfen. Es folgten noch ein paar Fackeln. Nach wenigen Augenblicken brannte der Widder lichterloh.

Allerdings setzte nun wieder Pfeilbeschuss ein. Rückzug wurde geblasen. Gurd, der sich auf dem Zuweg ein wenig zu weit nach vorne gewagt hatte, drehte sich um – und brach mit einem Geschoss im Rücken zusammen. Nele schrie entsetzt auf, stürmte nach vorne und musste in der flirrend heißen, funkenglühenden und rauchgeschwängerten Luft zurückweichen. Irgendjemand zerrte sie in Richtung Tor. Gurd rührte sich nicht mehr. Weinend und schluchzend zwängte sie sich durchs Mannloch. Erst jetzt merkte die Knappin, dass in ihrer freien Hand ein Pfeil steckte. Neles Blut schien aus irgendeinem Rauschtrank zu bestehen, sie spürte die Schmerzen kaum. Mevis kerbte den Pfeilschaft an, brach ihn dann sauber durch. Nele verbiss sich den Schmerz, zu einem wütenden Gurgeln. Dann wurden die beiden Hälften herausgerissen.

 

Die Dämmerung brach herein, grell erleuchtet vom Scheiterhaufen vor dem Burgtor, der schwarzen Rauch in den Abendhimmel aufsteigen ließ. Hie und da lagen Gefallene oder wimmernde Verwundete. Jadvige stand auf ihrem Feldherrnhügelchen und schüttelte den Kopf. Sie hatte von Anfang an Zweifel an diesem tollkühnen Angriff gehegt. Genau dafür waren die Schildmauer und das Vorwerk gebaut worden: um Feinde auf Abstand zu halten. Irgendwie war in den letzten Tagen eine überreizte Stimmung aufgekommen, im Feldlager. Ein Gefühl, dass die Zeit drängte und womöglich doch die "Rommilyser Reiterei" im Anmarsch war, von Pertakis her.

Immerhin, Jadvige hatte studieren können, wie die Schusswinkel und Toträume vor den Mauern beschaffen waren. Letztere waren geschickt mit Krähenfüßen gesichert worden, der eigentlichen Seuche in dieser unseligen Fehde. 

Die nach hinten offene Außenmauer stürmen zu wollen, war ein sinnloses Unterfangen. Auf der anderen Seite wären die Eroberer ungedeckt, ebenso wie die Balliste, wenn sie Richtung Brücke geschoben worden wäre. Auch wenn die Riesenarmbrust von dort aus die Burg weitaus besser hätte bestreichen können. In der grauen Theorie am Feldherrentisch, die allzu oft nicht mit der Wirklichkeit in der vordersten Schlachtreihe übereinstimmte. 

Jadvige trat mit ihrem Stiefel auf den kleinen, erhöhten Felsenhügel, auf dem sie stand und der aus irgendeinem Grund nicht abgetragen worden war. Wenn man ihn mit etwas Erde bedeckte, war das ein guter Standort für die Balliste. Die würde zwar nicht das Haupthaus erreichen können, das sich hinter der Schildmauer duckte. Aber sicherlich das eine oder andere Nebengebäude. Ebenso waren Zufallstreffer gegen die Burgwachen denkbar, zumindest deren ständige Beunruhigung.

Wildes Gebrüll aus einem der Zelte zeigte, dass der Kampf des Herrn von Friedwang gerade erst begonnen hatte.

 

Die Oppsteiner Ablösung ging derweil über die Zugbrücke nach vorne, zum feurig illuminierten Außenwerk, während sich die Helden des Ausfalls zurück zum unteren Burghof schleppten, im Schein der Fackeln. Dort wartete bereits der Baron auf sie. Es hatte einige Verwundete gegeben, Wilbur, Harika und Gurd waren in Borons Hallen eingegangen. Vielleicht auch in die Feenwelt oder in die gigantische Dunkelheit der Sokramor.

Adran blickte in die Runde und sah ein wildes Gemisch aus Schmerz, Erschöpfung, Stolz und Erbitterung. Ebenso die stumme Frage, für was genau sie hier eigentlich noch ihren Kopf hinhielten. Oder für wen? Seit dem Durcheinander im Ingerimmstempel galt Adran auch bei den eigenen Leuten als Hexenmeister, der nach Belieben seine Gestalt wechseln konnte. Ein klein wenig Furcht flackerte ebenfalls, in den Augen seiner letzten Getreuen. Vermutlich war das gut so.

Der Baron von Oppstein straffte sich, die Hand am Schwertknauf. "Ich danke Euch für Eure Tapferkeit", sagte er mit grimmiger Miene. "Den Rammbock habt ihr zerstört. Sehr gut. Die Bergmutter ist auf unserer Seite. Das hier ist ihr Reich, ihr Land, unsere Heimat."

Mattes Ächzen und Stöhnen antwortete ihm – unter anderem von seiner Knappin, die gerade ihre linke Hand verbunden bekam, durch ihre eigene Mutter, Roana von Hochfels. Ein rührendes Bild sokramorischen Zusammenhalts, das wiederum Adran erfreute. Von wegen "Bergmutter". Der Baron spürte, dass seine Leute ehrliche Antworten von ihm erwarteten, jedenfalls mehr als nur Propagandasprüche und Durchhalteparolen.

Allein der Umstand, dass er plötzlich als knollennasiger Rotbart aus dem Tempel getreten war, hatte für einige Verwirrung gesorgt. Als "Ingerimmswunder" hatte er das ganze Wirrwarr schon mal nicht verkaufen können, schon gar nicht seine Rückverwandlung auf halbem Weg zur Schwerterburg. Dem Flüstern seiner Leibwächter nach zu urteilen, hatten sie an irgendein feeisches Artefakt geglaubt.

"Irgendjemand hat versucht, den Friedensschluss zu sabotieren", sagte Adran, was ja auch die Wahrheit war. Seine Leute brauchten nicht zu wissen, dass die eigene Seite dahinter steckte, insofern er die Sokramorier noch als solche bezeichnen durfte. "Offenkundig wurde mir ein magischer Trank verabreicht, der mein Aussehen entstellt hat. Der Grund ist leicht ersichtlich: Sie wollen uns lächerlich machen, unseren Friedenswillen in Zweifel ziehen. Die Urfehde war in den Augen mancher unserer Feinde zu großzügig, zu ehrenvoll - und für Ismena zu teuer. Das Baernfarnmädchen duldet keine echte Toleranz gegenüber den Alten Kulten, wie sie seit Jahrhunderten, was sage ich, seit Jahrtausenden in der Sichel gepflegt werden. Für deren Fortbestand wir hier stehen, kämpfen und ausharren. Nehmt Euch ein Beispiel an meiner Knappin, Nella von Moosenwaldt, und deren herausragenden Mut. Was ist mit deiner Hand, schmerzt sie sehr?"

Verlegen sah die Knappin auf, die das Ganze für Tadel hielt, ob ihres gelegentlichen Seufzens. "Es geht...schon...ein kleines...Tsatagsgeschenk, mehr nicht. Ist zum Glück nicht die Schwerthand."

"Du hast heute Geburtstag?" 

"Gewiss, Herr...heute ist der 27. Rondra."

"Oh, stimmt, ich bin mit dem Datum ganz durcheinander. Lass mich dir gratulieren." Der Baron überlegte. Somit war seine Knappin zwanzig Götterläufe alt geworden, das Alter, indem für gewöhnlich der Ritterschlag erteilt wurde.

"Tritt vor, Nella. Du sollst ein würdiges Geschenk erhalten."

Freudig erstaunt sah Roana zu ihrem Lehnsherren. Sie nahm Nele das Schwert aus der Hand. Dann schob sie ihre Tochter, die noch nicht recht verstand, nach vorne.

"Dein eigenes Schwert hast du bereits erobert", sagte Adran, mit gütigem, fast schon väterlichem Lächeln. "Außerdem hattest du maßgeblichen Anteil daran, dass dieser levthanslästerliche Rammbock gerade verbrennt. Knie nieder, Nella von Moosenwaldt."

So langsam begriff die junge Frau, was gerade geschah. Sie ballte ihre bandagierte Hand zusammen, ohne auf das rot herab tropfende Blut zu achten, und tat, wie ihr geheißen worden war.

"Ich könnte dich auch im Namen Sokramors zur Ritterin schlagen. Aber wenn unsere Feinde behaupten, dass wir im Widerspruch zu den Göttern Alverans stehen, dann ist das eine schamlose Lüge und Verleumdung. Sokramor hegt keine Feindschaft zu den Zwölfgöttern, allein, sie harrt noch immer des gerechten Lohnes, für ihren Opfergang, den sie gemeinsam mit ihren Gigantenschwestern auf sich genommen hat. Nun, dir soll dein Lohn schon heute zuteil werden, für Treue, Tapferkeit und Standhaftigkeit, durch mich, deinen Baron, dem Ersten Ritter vom Steine."

Mit scharrendem Geräusch zog Adran von Oppstein seine eigene, mittlerweile weltliche Klinge. Laut hallten die althergebrachten Worte über den Hof: "Im Namen des Herrn Praios, seiner Schwester Rondra und der anderen unsterblichen Zehn. Im Namen der Ehre, des Mutes und der göttlichen Kraft. Im Namen der Treue, des Reiches und der kaiserlichen Majestät. Im Namen der Liebe und der Achtung vor jeglicher gutherziger Kreatur, senke ich diese Klinge auf deine Schultern, die fortan eine ehrenvolle, aber schwere Bürde tragen sollen. Erhebe dich nun, Rittfrau Nella von Moosenwaldt."

 

 

Vor der Schwerterburg, 3. Efferd 1046 BF, Feuertag

"Sagt einer nun Aranischer oder Almadaner Reiter?" fragte die Gardistin beiläufig und spähte vorsichtig zu den Mauern. Der Feind verhielt sich gerade ruhig. Offenbar hatten die Bärenhähne begonnen, Geschosse zu sparen. Aber mit einem heimtückischen Armbrustschuss war auf vielleicht hundert, 150 Schritt Entfernung immer zu rechnen.

Keuchend hoben Franka und Parik einen übermannsgroßen Schanzschild zwischen die angespitzten Pfähle, die sie und ihre Gefährten vor einem erneuten Ausfall der Ketzer schützen sollten.

"Haben diese Roßschinder überhaupt nen Namen?" Der Friedwanger zuckte mit den Schultern. Ihre Gegenbefestigung vor der Brabakane war beinahe vollständig. Im Wesentlichen bestand sie aus Querbalken, die wiederum an kreuzförmig zusammengebundene Pfähle befestigt waren – eine spitzige Holzkonstruktion, die ein wenig an riesige "Krähenfüße" erinnerte. Wie sie ein paar Schritt weiter vorne auf der Blumenwiese lauerten, hinterhältig, wie die Oppstis und ihre Waffen nun einmal waren.

Zwischen den hochragenden, spitzen Stämmen waren Stricke gespannt, die die Setzschilde halten, aber auch das Übersteigen durch Fußvolk erschweren sollten.

Aranischer Reiter, davon hatte Parik schon gehört. Die verräterische Provinz Aranien wurde angeblich auch "das Dornenreich" genannt. Mit etwas Fantasie mochte sich einer die bewegliche Befestigung als einen rollenden Dornbusch vorstellen. Überhaupt, was brauchte einer ein Fürstentum, das damit prahlte, dornenreich zu sein? Wo angeblich die Frauen das Sagen hatten, wie bei den Amazonen?

Viele seiner Gefährten maulten, mehr oder weniger offen, dass sie in dieser Fehde gegen eigene Landsleute kämpfen mussten. Aber irgendwie fand es Parik besser, vor der eigenen Haustür für Ruhe, Ordnung und das Seelenheil der Gläubigen zu sorgen. Statt irgendwelche wildfremden Länder für den Mittelreich zu erobern, wo ein darpatisches Bauernkind es ohnehin nicht lange aushalten würde. Orte, die Maskaran hießen (wo lauter vermummte Meuchler lauern sollten), Bärenland (von den Vielfraßen hatten sie wahrlich selber genug) oder eben "Dornenreich".

Warum so ein Spießverhau anderswo "Almadaner Reiterei" heißen sollte, erschloss sich Parik schon weit weniger. Vielleicht, weil die Almadaner ständig mit diesen heidnischen Rashulanbetern kämpfen mussten, die über mehr Pferde verfügen sollten als die Streiter des wahren Glaubens – die das Missverhältnis mit solchen Hindernissen ausgleichen mussten?

Echte Palisaden in den Boden zu rammen, das war auf dem felsigen Untergrund kaum möglich. Zumindest wäre das eine üble Zwergenarbeit geworden. Einen Bogenschuss hinter ihnen stand die Balliste, auf einem Felsblock, der mit Erde erweitert worden war, die wiederum durch Weidengeflecht gestützt wurde. Ein Plankenweg hatte dafür gesorgt, dass das Geschütz hinaufgefahren werden konnte. Das eigentliche Zeltlager befand sich ein Stück hangabwärts, nahe am Bergwald.

Der Boden war weiter unten schon so erdig, dass sich eine Palisade einrammen ließ, die allerdings mit aufgeschichteten Felsblöcken gestützt werden musste. Die Arbeit würde sicherlich noch einige Tage dauern. Das dumpfe Klock Klock Klock des Holzeinschlags hallte im Wald wieder, mit Hippen und Beilen wurden die herausgezogenen Baumstämme angespitzt.

Einstweilen schützten Karren und Fuhrwerke die Lücken. Parik kam der Aufwand ein wenig übertrieben vor – offenbar sollte das ganze Lager umhegt werden. Irgendwie hatte sich die Vorstellung in den Köpfen ihrer Befehliger festgesetzt, dass weiterhin mit Entsatz für die Eingeschlossenen zu rechnen war. In der Nähe sollte es zudem ein größeres Goblinlager geben, ebenso wollte irgendjemand Oger gesichtet haben, als Fußspur ebenso wie als Schemen in weiter Ferne. Womöglich wurden die Menschenfresser, die sonst mehr im Hochgebirge hausten, durch den Blutgeruch der Fehde angelockt. Die Bestände der Scheusale sollten sich seit der Tausend-Ogerschlacht wieder etwas erholt haben.

Pariks Hand glitt zum Ogerfänger, der an seinem Gürtel baumelte, als breite Dolchklinge, an deren Seiten aufklappbare Widerhaken angebracht waren. Ein Leben lang war die Mutter des jetzigen Barons, die "Irre Tsalinde", von der Furcht geplagt worden, die brüllenden, spitzzahnigen Schreckgestalten, die ihr den Gemahl geraubt hatten, könnten eines Tages wiederkehren, mitsamt ihrem ranzigen Gestank. Nun, im Zweifelsfall verließ Parik sich lieber auf das ehrliche, rondragefällige Schwert zur Linken, zumal wenn es gegen menschliche Gegner ging.

Es war gut, durch Schanzarbeiten abgelenkt zu sein. Vielleicht wollte die Herrschaft ja einfach nur die Bewaffneten beschäftigen, mit Kriegshandwerk im Wortsinn. Bevor am Ende tödliche Langeweile aufkam.

Vor den Holzrittern gab es noch ein paar Vorposten, hinter vier Sturmwänden mit Schießscharten – der eigentliche Grund, warum sich die Oppstis so ruhig verhielten: Die Armbruster dahinter warteten nur darauf, dass sich zwischen den Zinnen etwas regte. Gestern hatten die Burgbewohner den arg verbrannten Rammbock ins Innere gezogen, vielleicht als Feuerholz, womöglich als Trophäe.

Sah man von den gelegentlichen Schusswechseln ab, war es seit dem letzten großen, feurigen Ausfall ruhig geblieben. Auch ohne ständige Kämpfe gab es einiges zu tun. Wasser musste vom nächsten Bach heran geschleppt werden, der gar nicht so nahe plätscherte. In der Hoffnung auf den Schutzherren des Efferdmonds waren große Fässer und Eimer aufgestellt worden – aber bislang herrschte freundlicher, nur leider auch ziemlich trockener Elfensommer. Bienen und Käfer summten emsig umher. Im Wind wehendes Sokramorshaar – eigentlich waren es silbrig glänzende Spinnenfäden – erinnerte jetzt, im Dreiweibersommer, daran, dass das warme, betörende, goldene Licht nicht mehr lange über den Berghängen und Wäldern schimmern würde. Hie und da färbten sich die ersten Laubbäume rot oder gelb.

 

Alrik hatte sich vors Zelt gesetzt und genoss den Spätsommer. Versonnen betrachtete der Baron seinen Fuß, der vollkommen heil war.  Dank Hesindians Magie und dem Umstand, dass der verdammte Stachel glücklich zwischen den Mittelfußknochen hindurchgeflutscht war. Eine schmerzhafte Fleischwunde – nicht mehr und nicht weniger. Ganz im Stich gelassen hatte ihn der Heimliche wohl nicht. Der Phexgeweihte drehte das Ding in Händen, das agrimothisch aussah, mit dem sorgfältig abgefeilten Dorn. War das Braunrot Rost oder ein Rest seines eigenen Blutes? Netter Pergamentbeschwerer, trotz allem.

Die Belagerung würde sich, insofern kein großes Korwunder geschah, bis in den Herbst oder Winteranfang hinziehen. Soviel stand fest. Hauptmännin Walburga, die nun die Silberwölfe anführte, nach Edorians Ableben, hatte ihm versichert, dass schon ein halbes Dutzend Bewaffneter und ein Burgherr völlig ausreichten, um eine Burg wie diese zu verteidigen. Vor dem Felssporn waren einige weitere Ismenische unterwegs, meistens Reiter, um die Gegner zu beschäftigen. Ebenso, um zu verhindern, dass sich einzelne Verteidiger vom Felsen abseilten.

Der Phexdiener hatte sich die hohen, schwarzgrauen Steilwände genauer angesehen. Einen Wurfanker in die Hurden zu werfen, vorkragende hölzerne Wehrgänge, die selbst noch die Mauern und Türme auf der Felsseite krönten. Nun, das wäre selbst dann ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, wenn man zuvor eine anspruchsvolle Kletterpartie gemeistert hätte. Rotpelze, die sollten geschickte Kraxler sein, wahre Meister des Anschleichens, sich Davonschleichens und Versteckens. Offenbar hatte der Baumeister genau mit dieser Art von Gegnern gerechnet. Aber für einen derart tollkühnen Sturmangriff waren "Suulak" wohl zu feige. Oder zu klug, was sich in den Augen des Streunerbarons keinesfalls ausschloss. Die Erbauer hatten die Lage der Fluchtburg geschickt gewählt. Leicht zu versorgen war die Feste allerdings schon in Friedenszeiten nicht.

 

Hufgetrappel lenkte ihn ab. Ein Trupp geharnischter Reiter hatte die Öffnung erreicht, in der sich in ein paar Tagen das Tor befinden würde. Ein kleines Fuhrwerk rumpelte hinterher. Das Banner der Spitzenreiterin zeigte das goldene, geflügelte Sonnenauge des Praios auf rotem Grund. Der Baron wollte sich schon wieder gelangweilt zurücklehnen – Büßer, was sonst. Die graublonde Dame und der schlaksige Junge, die den sechs Aushilfsbannstrahlern vorneweg ritten, fesselten dann doch seine Aufmerksamkeit. Die schon etwas verblasste Schönheit an der Spitze war seine Gemahlin, Serwa von Friedwang, der junge Herr an der Seite sein legitimer Sohn, Solalin Firunian Veneficus.

 Verblüfft stand Alrik auf und verzog das Gesicht unter Geisterschmerzen, die ihm sein linker Fuß bereitete. Ächzend humpelte er auf die Neuankömmlinge zu, die den großen Platz in der Lagermitte erreichten. Erst jetzt sah er, dass der Wagen von einer Badilakanerin gesteuert wurde – die Traviagänse hatten sich in letzter Zeit ein wenig rar gemacht. Verständlicherweise. Hätten sie ihre heilige Mission ernst genommen, dann müssten sie jetzt eigentlich im Niemandsland zwischen Burg und Belagerern sitzen. Und vor allem die Adranschen trösten.

Alrik half Serwa galant aus dem Reisesattel. Sie küssten sich schicklich, wohl wissend, dass gerade einige neugierige Augenpaare auf sie gerichtet waren. Dann lenkte der Inhalt des Wagens das herbei laufende Kriegsvolk ab, das mit allerhand Liebesgaben verwöhnt wurde: Der Traviatempel schickte gespendete Kuchen, Wein, Würste, Räucherschinken, Obst...und ja, keinen einzigen Tropfen Bier oder Wein. Geschweige denn Schnaps. Auch der traviagefällige Krieg konnte mitunter grausam sein.

 "Was ist mit deinem Fuß?", fragte Serwa, ehrlich besorgt. Ihr zusammengebundenes Haar hatte sich ein wenig gelöst, sorgfältig band sie es wieder zusammen. "Ich hab gehört, du wurdest verletzt?"

"Nicht der Rede wert", sagte der Baron, "ich hätte meine Schritte eben vorsichtiger setzen sollen. Hesindian, der hat mich gerettet, wie so oft." Alrik wandte sich seinem Sohnemann zu, Solalin, der sogar in einen wattierten Waffenrock gehüllt war und ihn unergründlich anlächelte, mit seinen klugen, leicht gesenkten Tieraugen. Sogar eine Kettenhaube hatte er sich über seine nussbraunen Haare gezogen. Die Ohren waren immer noch ein wenig spitz, aber auf den ersten Blick wirkte der Jüngling durchaus fesch und gutaussehend.

"Das da ist der Krähenfuß, in den ich getreten bin", sagte der Baron. Er überreichte Solalin den Spreiznagel, der ihn erschrocken ansah. Im ersten Moment fürchtete er, der Baronet könnte den Eisenigel täppisch fallen lassen oder sich daran verletzen. Aber der junge Mann drehte den Fund zunehmend fasziniert in den Händen.

Alrik nahm Serwa ein wenig beiseite. "Was gibt es für Neuigkeiten aus der Heimat? Die Ernte war soweit ganz gut, habe ich gehört?"

"Zumindest keine Missernte, ja. Trotz der vielen Unwetter. Wir haben gut daran getan, unsere Bauern nicht in die Landwehr zu zwingen. Wie schaut es in Oppstein aus?"

"Adran, nun, der hat seine Wühlmäuse fleißig zum Kriegsdienst verpflichtet. Aber nach der Schlacht haben alle nur noch an ihren eigenen Acker gedacht. Ich denke, hier wird es auch keine Hungersnot geben. Außer in der Burg natürlich, haha. Was...was ist mit Tsali, hat sie ihre Queste gut überstanden?"

"Sie ist mit Malachanias in Richtung Albenhus aufgebrochen. Schließlich ist sie immer noch Eckberts Knappin. Besser, wir warten noch eine Weile, bis ein wenig Gras über die Sache am Verräterpaß gewachsen ist."

"Was will unser Vergissdasfinger denn in Albenhus?" Mit streng erhobenem Zeigefinger deutete Alrik an, was mit dem Spitznamen des Lichthüters gemeint war.

"Falkwart Malachanias, der will weiter nach Elenvina, zum Wahrer der Ordnung." Serwa lächelte zufrieden. "Die nächsten Wochen haben wir erst einmal Ruhe vor ihm. "

"Was machen unsere eigenen Sokramorier?"

"Schwatzen viel vom baldigen Erwachen der schwarzen Bergmutter… oder von Adrans Opfergang, der wie Sokramor zur Waffe für ihre gerechte Sache werden wird. Aber die Schlacht am Oppenbach hat ihren Glaubenseifer doch ein wenig abgekühlt. Bei uns Marktfriedwang ist es ruhig, in Senkenthal soll es noch Geschrei, Raufereien und Steinwürfe geben. Anscheinend haben sie gemerkt, dass die Mersingens die treibende Kraft hinter dieser Fehde sind."

"Gewiss, wir sind nur die mittreibende Kraft." Alrik verzog den Mund. Für einen Moment hatte er wieder an Feuerflocke denken müssen.

Serwa umarmte ihren Gemahl und musterte ihn dann von oben bis unten. "Ich bin froh, dass du die Kämpfe heil überstanden hast. Die Sache mit der Armbrust damals..."

"Ist zwanzig Götterläufe her", sagte Alrik schnell. "Man lernt eben dazu. Was ist mit Berchweiler? Den aufmüpfigen Bauernfünfern?"

"Behaupten plötzlich, die Flucht der Berchvögtin in Heldarns Turm...das wäre alles nur ein Missverständnis gewesen. Sumudane hätte sich in den Turmhof zurückgezogen, weil alle glaubten, Adran würde als Sieger anrücken." Die Baronin lächelte skeptisch. "Ich denke, diese Geschichte bekommen wir in den Griff. Allerdings, die Sache mit der Rohalskappe ist immer noch ein Problem. Sie sind felsenfest überzeugt, die böse Baronin hätte sie ihnen gestohlen, und damit die gute alte Schwarzsichler Freiheit."

"Diese lächerliche zerbeulte Kuhglocke?" Alrik lachte amüsiert auf. "Bäurische Narrheit, wie so oft."

"Traditionen haben ihr Eigenleben, auf dem Land. Treichel, sagen die Berchweiler dazu. Zweimal im Jahr, zu den Sonnwenden, muss der Berchvogt den Umzug rund um das Dorf und hinauf zu den Almen anführen, um das Böse zu vertreiben. Wenn das Ding bis zur Wintersonnenwende nicht wieder da ist, könnte es Ärger geben. Vielleicht müssen wir auch noch ins Hohe Tal ziehen...und dort Fehde führen." Die Heilerin blickte ehrlich betrübt.

"Wegen einer Kuhglocke?" Alrik schüttelte den Kopf.

"Einer Treichel. Die wird geschmiedet. Glocken werden gegossen."

"Hauptsache nur das Beste für die Kuh. Hier bimmelt und scheppert es auch den ganzen Tag. Und, haben wir den heiligen Bimbam sabotiert?"

"Natürlich nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Diebe genau darauf aus waren...Unruhe und Streit in der Sichel zu stiften." Serwa senkte ihre Stimme etwas und drehte dem Lager ihren Rücken zu. "Tsalinde meinte...da gäbe es einen zwergischen Schmied in Albenhaus. Der könnte so eine Treichel zur Not...nachmachen..."

"Fälschen also?" Alrik lachte erneut.

"Sowas kostet natürlich ein paar Goldstücke. Aber man könnte bei der Gelegenheit Forderungen stellen, an die Berchweiler."

"Tsali ist wahrlich meine Tochter. Nun schau nicht so betrübt, die Kleine mausert sich. Wenn das klappt, dann hat sie sich ihren Ritterschlag wahrlich verdient."

"Ja", nickte Serwa. "Ob wir durchsetzen können, dass sie Berchvögtin wird, das steht auf einem anderen Pergament. Da wird schon Sumudane Hornhusen nicht mitmachen. Aber Rittfrau vom Weldornhof und Heldarnsturm, das ist drin. Tsalinde braucht ein bisschen Erfahrung in Lehnsverwaltung… und wir benötigen die Abgaben aus dem Berchweiler Land."

"Gut, gut." Alrik zog sein Seidentüchlein hervor und schnäuzte sich hörbar. "Mit dem Sieg am Oppenbach haben wir uns gehörig Respekt verschafft, denke ich. Die Sichler müssen merken, dass die Zeit der Wildermark ein für allemal vorbei ist."

"Da fällt mir ein..." Serwa ging zu ihrem Pferd, das von einer einfältig blickenden Büßerin gehalten wurde, und zog ein Fernrohr aus der Satteltasche. "Das wollte ich dir noch mitbringen. Du hast es im Oppsteiner Hof liegen lassen. Kann man sicher gut gebrauchen, bei einer Belagerung."

Alrik nahm das Meulenarsauge mit angedeuteter Verbeugung an sich. "Wenn man es ans richtige Auge hält..." Dann fiel der Blick aus seinem unverdeckten Auge auf den Pfosten in der Mitte des Greifenplatzes, wie er ironisch genannt wurde. Der Schatten der Sonnenuhr näherte sich der vollen Stunde.

"Solalin ist auch dabei? Du siehst mich erstaunt. Er ist...von Friedwang bis hierher geritten?"

"Damit dürfte er bewiesen haben, dass er zum Baron geeignet ist", antwortete Serwa stolz. "Wenn er es nicht nur bis Nordenheim schafft, sondern bis zur umkämpften Schwerterburg."

Erschrocken sah Alrik zum Mersinger Zelt, wo das schwarz-goldene Pfahlwappen der Familie wehte. "Du hast den Gedanken immer noch nicht aufgegeben? Das wird unseren werten Verbündeten nicht gefallen."

"Ich sage ja nur geeignet." Serwa spähte vorsichtig um sich. "Schließlich hat sich auch Alboran als baronstauglich herausgestellt. Ohne dass er deswegen gleich Herr von Friedwang geworden ist."

"Vielleicht findet sich für Solalin ja auch irgendeine herrenlose Baronie", sagte Alrik leichthin. "Ich sehe, es wird Zeit für den nächsten Brandspeer. Solalin, willst du mal ein echtes Katapult abschießen?"

Das galt dem Baronet, der noch immer den Krähenfuß in den Händen hin und her drehte, als würde er stumme Zwiesprache mit ihm halten. Alrik seufzte. Auch wenn man seinen Sohn schwerlich als geistesschwach bezeichnen konnte – "normal" war er beim besten Willen nicht. Solalin hatte keinerlei Knappschaft absolviert und kaum einen Fuß vor die elterliche Burg gesetzt. Abmachungen mit anderen Adelshäusern hin oder her, besonders respektiert wurde er jetzt schon nicht, als erleuchteter Narr.

"Ich nehme an, dass 74 Krähenfüße vor der Burg liegen", sagte Solalin bedächtig.

"A-ha. Und was bringt dich zu dieser Erkenntnis?" Alrik war ehrlich erstaunt.

 

"Ich habe die kleinen Körbe gesehen, mit den Krähenfüßen. Die...die vom Schlachtfeld aufgelesen worden sind. In jedem Korb lagen genau 25 Stück. Die Körbe waren rechtwinklig im Zeughaus aufgestellt, in dem noch genau drei Körbe zum perfekten Quadrat gefehlt haben. 3 mal 25 ergibt 75. Einen Nagel hast du aufgelesen, macht 74."

"Aufgelesen ist nicht ganz das richtige Wort." Irritiert sah Alrik Solalin an. Ob dessen Ordnungsfimmel mit seinem Geburtstag am 1. Praios zusammenhing? "Das kann leicht Zufall sein, findest du nicht? Womöglich wurden die 75 Eisennägel die ganze Zeit auf der Schwerterburg aufbewahrt. Überhaupt, was machst du im Oppsteiner Zeughaus?"

"Riodiger hat sich eine große Scharte ins Schwert geschlagen, bei einem Übungskampf. Also wollte er sich Ersatz beschaffen." Steif deutete Solalin auf einen seiner Begleiter, der gerade sein Pferd festband.

"Verstehe, also hat...Riodiger sich mal eben Ersatz beschafft, mit Erlaubnis seines Herrn Praios? Dabei haben diese Sonnenlegionäre für Arme nicht mal mitgekämpft, auf der Seite des Guten, Wahren und Schönen." Der Baron schüttelte den Kopf. "Weiß er nicht, dass sich nur Adelige nehmen dürfen, was ihnen beliebt?"

"Oleana von Rosenbusch hat den Büßern gestattet, dass sie sich in Oppstein mit allem versorgen können, was sie brauchen."

"Ol...leana? Na dann. Die scheint ja jetzt schon heimliche Gräfin zu sein." Alrik ging bereits aus dem Lager und hielt auf die belagerte Burg zu. "Komm mit, wir legen bei Onkel Adran ein bisschen Feuer."

"Seid vorsichtig!" mahnte Serwa leise, die ihnen gefolgt war.

"Jaja, ist doch nur ein bisschen Fehde." Alrik gürtete seinen Rapier um, den er am Stuhl aufgelesen hatte. Das war das, was er unter Vorsicht verstand.

 

 

Wenig später standen Vater und Sohn auf dem kleinen Geschützhügel, neben der Balliste, die tatsächlich bereits gespannt, geladen und ausgerichtet war. Hagen Wehrheimer überreichte Solalin die Fackel, der selig lächelnd das Brandgeschoss in ein eben solches verwandelte. Dann nahm der Baronet die Reißleine und zog kräftig daran. Krachend entlud sich die Riesenarmbrust. Mit einem Feuerschweif schwirrte der Feuerspeer gerade so über die Schildmauer. Nach einer Weile stieg Rauch auf, ungefähr vom Burghof her.

"Herr Solalin, mir scheint, Ihr bringt uns Glück", sagte der Weibel. "Da brennt ein Strohhaufen oder sowas in der Art."

Alrik schob das Fernrohr auseinander. Tatsächlich, im Inneren der Schwerterburg war ein Brand ausgebrochen, wobei nur die Rauchsäule zu sehen war. Zufrieden grinsend glitt sein Blick die Schildmauer entlang. Wachen waren hinter den Schießscharten keine zu sehen, bestenfalls zu erahnen.

Auf der Außenmauer war schon mehr los, Eisenhüte und Sturmhauben blinkten. Dann wurden Armbrüste und Bögen angelegt. Erzürnt ob ihrer Ohnmacht, was das Geschütz anging, schossen die Adranschen auf die Sturmwände, was wiederum mit ismenischen Pfeilen beantwortet wurde. Der Friedwanger lächelte fasziniert ob der Kampfszenen, die sich gerade in einem dunkel umrandeten Zauberkreis abspielten, fern und nah zugleich – als würde er in ein Schwarzes Auge blicken. Das Geplänkel war schnell wieder zu Ende. Alriks "Zauberblick" glitt an der Bretesche vorbei, der Pechnase, die über dem äußeren Tor aufragte, streifte die schwarzverkohlten Überreste des Rammbock-Wagens und kehrte dann zum Mauerwerk zurück. Was war denn das? Einige Oppstis standen unverdrossen zwischen den Zinnen, obwohl sie gut sichtbar von Geschossen getroffen worden waren.

Erst jetzt bemerkte Alrik, dass es Strohpuppen waren, die dort aufragten, die Gesichter unter Visieren, Helmen, Kettenhauben oder einfach nur Schatten verborgen. Im nächsten Moment verschwanden sie hinter der Mauer. Frischten die Oppsteiner etwa solcherart ihre Pfeilvorräte auf? Oder waren die Puppen dafür gedacht, Gegner zu verwirren und deren Beschuss abzulenken?

"Die Wachen da oben sind nicht echt", brummte Alrik. "Manche jedenfalls."

"Sind ein paar Vogelscheuchen dabei, ja, Euer Hochgeboren", nickte Hagen Wehrheimer. "Die spielen regelrecht Theater...manchmal tauchen die Puppen an der einen Stelle auf, dann wieder woanders. Netter Pfeilfang, mehr nicht. Nachts macht uns das Blendwerk mehr Verdruss. Man weiß nie, ob gerade einer anlegt. Oder ob die echten Oppstis hinter dem Tor stehen, für nen Ausfall."

"Adran muss wirklich aus dem letzten Loch pfeifen, wenn er schon mit Strohsoldaten kämpft."

Alrik reichte Solalin das Fernrohr, der aufgeregt zitternd, aber freudig lächelnd einen Blick auf die Feinde wagte.

"Es gibt keine Pferde auf der Burg", sagte der Baronet, der offenbar wieder einmal "erleuchtet" wurde. Nerdanfänger, so wurden in Friedwang weltentrückte Sonderlinge und Eigenbrötler genannt, die den ganzen lieben Tag nach dem Greif haschten, der dem Heiligen Alboran vorangeflogen sein sollte. Im Traum, kurz vor dem Auszug der Praiosgläubigen aus Gallys. Nerdanfänger, das Wort passte vollkommen auf den bleichen Grübler vor ihm, dachte Alrik.

"Es gibt keine Reittiere oder fast keine", bekräftige Solalin. "Die fressen zuviel Heu und saufen zuviel Wasser. Also haben sie das Stroh aus dem Stall und der Scheune gebracht, und lieber Vorräte eingelagert. Damit es nicht nutzlos herumliegt, bauen sie Strohpuppen daraus. Oder verbrennen unseren Rammbock."

Hagen Wehrheimer sah den Baronssohn erstaunt an.

"Wahrscheinlich haben sie mit den Puppen das Schießen und Schwertfechten geübt", fuhr Solalin unverdrossen fort. "Besonders raffiniert ist die List nicht. Jeder kann sie sofort durchschauen. Naja, nicht sofort. Aber auf den zweiten Blick schon." Der junge Mann zuckte schreckhaft zurück, als er die Verteidiger ganz nah vor seinem Auge sah. Die duckten sich ihrerseits hinter rot-goldenen Schildern und versuchten zu ergründen, was gerade an der Balliste vor sich ging. Die wurde eifrig neu gespannt, auf ihrem Karren.

Im nächsten Moment verschwanden die Schildträger und enthüllten eine junge Frau, die in voller Rüstung hinter einer klobigen Standarmbrust kauerte. Mit verkniffenem Gesicht schwenkte die brünette Oppsteinerin, deren Gesicht unter dem engen Helm pausbackig, fast schon drollig aussah, die Waffe umher, die auf einer dreibeinigen Holzstütze montiert war.

Ihre linke Hand war dick bandagiert, weswegen sie die Waffe einhändig bedienen musste. Sie schien Schmerzen zu haben. Ein paar Herzschläge lang standen sich Solalin und die geheimnisvolle Unbekannte auf merkwürdige Weise nahe. Die Schützin war hübsch, auch wenn die hervorlugenden Haarspitzen auf eine einfallslose Frisur schließen ließen. Eine Kriegerin eben.

Solalin ließ das Fernrohr sinken. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass auch die Feindin sein Gesicht zu sehen bekam, aber das war ein närrisches Unterfangen: Aus dieser Entfernung, deutlich über 200 Schritt, war er sicher nur ein gesichtsloser Feind unter vielen. Er nahm das Fernrohr wieder hoch – gerade rechtzeitig, um zu realisieren, dass ihn so eine überschwere Armbrust womöglich sogar erreichen konnte.

Dann ging alles ganz schnell. Der abgeschossene Pfeil schwirrte auf die Ballista zu, nein, geradewegs auf ihn selbst. Solalin erschrak und begann wieder zu zittern. Das Geschoss bohrte sich tatsächlich ein paar Schritt vor dem "Feldherrnhügel" in den Boden, wenn auch mit letzter Kraft. Alrik hatte sich katzenhaft geduckt und richtete sich nun wieder auf. "Was war das denn?"

"Ne Wallarmbrust. Die Sehne scheint ausgeleiert zu sein. Ist viel zu schlaff, wie der ganze Sauhaufen da drüben." Hagen Wehrheimer grinste, mit verspäteter Beunruhigung. "Wahrscheinlich schlecht gelagert. Geschieht dem hinterlistigen Pack recht." Zufrieden sah der Weibel, wie die Vorposten endlich nachgeladen hatten und die Oppsteiner mit heftigem Beschuss hinter die Zinnen trieben.

 "Verpasst dem Schießgerät ein Madeisen", befahl Wehrheimer rau. Die Balliste wurde sorgfältig ausgerichtet und ein Sichelspeer eingelegt, der seinen anderen Namen vielleicht der madagefälligen Form verdankte. Die Klinge war mit schwarzem Ruß eingefärbt worden. "Schöne Grüße von Sokramor, ihr Spinner".

Auch ohne Fernrohr war zu sehen, wie die letzten Oppsteiner ihre Köpfe einzogen, mit Ausnahme der Strohköpfe. Der Bolzen schwirrte durch die Lücke zwischen den Zinnen hindurch, hinter der die Schwenkarmbrust stand, fuhr krachend in die Standfüße und verwandelte sie in zersplittertes Kleinholz. Die Schußwaffe kippte arg lädiert zur Seite, unter dem Jubel der Schützen.

Alrik sah seinen Sohn ungnädig an, der immer noch wie eine Zielscheibe neben dem Geschütz stand: "Das nächste Mal solltest du besser in Deckung gehen. Das sind nicht Rahjas Pfeile, die da heranschwirren."

 

Schwerterburg, 12. Travia 1046 BF, Markttag, kurz nach Mitternacht

Das türkisblaue Meer funkelte und glitzerte in der glühenden Sonne Meridianas. Welle auf Welle rauschte an Land. Das Boot rumpelte über die halb im Wasser verborgene Sanddüne. Wurde von einem mächtigen Brecher noch ein Stückweit in Richtung des weißglänzenden Strands getragen, näher heran an den grünen Dschungel, die Felsen und Palmen. Schäumend brach sich die Gischt am Ufer der Insel. Papageien und bunte Vögel keckerten zur Begrüßung. In der Ferne ragte der spitze, dunkle Kegel eines erloschenen Vulkans auf. 

Adran stand am Bugsteven der Pinasse und ließ seinen kühnen Entdeckerblick schweifen. Die prachtvolle Schivone hatte einige Rotzenschüsse weit hinter ihm die Segel gerefft und Anker geworfen. Der Oppstein ließ das rot-goldene Drachenbanner entfalten, griff es mit beiden Händen und sprang beherzt in die Flut. Mühsam und doch glückselig stapfte er durch das aufgewühlte Meer, das ihm erst bis zur Hüfte, dann bis zu den Oberschenkeln, schließlich nur noch bis zu den Stulpen seiner Stiefel reichte. Schließlich hatte er die Brandung durchquert.

Nun stand der neue Gouverneur auf festem Grund, sank in die Knie. Stieß das Banner in den nassen Sand. "Im Namen Seiner Drachenkaiserlichen Majestät, Khadan Varsinian Firdayon, nehme ich diese Insel für das das Wiedererstandene Horaskaiserreich in Besitz...und taufe...taufe sie auf den Namen Nuovo Oppstein."

Selig lächelnd sah sich "Don Adrano" um, während hinter und neben ihm die Matrosen und Questadores ausschwärmten. Federn wippten auf den eigentümlich geformten horasischen Helmen, wie hießen sie noch gleich? Morione? Ein samtiger, südländischer Wind umspielte seine Locken, gemischt mit einigen Körnchen Sand und Salz. Rasch trocknete die Meeresbrise seine Gewandung. Die Luft atmete sich herrlich, war gleichermaßen frisch wie erfüllt von den exotischen Dürften einer Gewürzinsel, inmitten des ewigen Sommers der Charyptik. Di-Mindros-Archipel, so wurde dieser wenig erforschte Teil des Vizekönigreichs Südmeer genannt, nach dem Entdecker, seinem früh verstorbenen Schwiegervater Ludovico-Mercuro di Mindros, einem liebfeldischen Seefahrer.

Adran erhob sich und blickte über die Lagune, bis hinaus zum Korallenriff, an dem sich einzelne Wellen brachen. Die blaue Bucht davor war wie geschaffen für einen sicheren Hafen. Er würde ihn Port Thahira nennen, nach seiner verschollenen Gemahlin. Da vorne ragten bereits Hütten auf, teilweise auf Pfählen im Wasser erbaut. Erfreut schritt er auf die Siedlung zu: Es gab Einheimische, somit zukünftige Untertanen? 

Tatsächlich, eine leicht bekleidete Frau, deren Baströckchen, Brustbinde und Halsschmuck die rahjagefälligen Rundungen eher betonte als verbarg, schritt aus dem Grünen auf sie zu, einen Blumenkranz im feuerroten Haar, einen kleinen blonden Jungen an der Hand. 

Häßlich war die Insulanerin schon mal nicht, auch wenn deren Haut auffallend hell gefärbt war. Nur kurz sah sich Adran nach Lares um – die Überfahrt von Sant Ascanio war lang und entbehrungsreich gewesen, in jeder Hinsicht. Es würde sich lohnen, den Kontakt zu den Eingeborenen rasch zu vertiefen. Eine einzelne Wolke schob sich vor die Sonne. Adran war nicht mehr geblendet und erkannte seine Gegenüber, die überhaupt nicht mehr wie eine braunhäutige Miniwatu aussah.

"Alissia?" Der Möchtegern-Gouverneur war ob dieser jähen Erkenntnis regelrecht verärgert.

Seine "Hexenfreundin" lächelte und wuschelte dem blonden Knaben über die Haare. "Das alles  ist nur ein Traum. Oder glaubst du wirklich, die Horasier würden dir so ein Paradies überlassen? Dennoch – ich danke dir, dass ich Teil einer derart herrlichen Landschaft sein darf." Die Tochter Satuarias sah sich um, im milden Schatten des Blätterbaldachins. "Woher weißt du überhaupt, wie es im Südmeer aussieht?"

"So stellte ich es mir halt vor. Am Meer war ich schon mal", brummte Adran, der verunsichert feststellte, dass die übrigen Seefahrer eingefroren zu sein schienen, mitten in ihrer Bewegung. Irgendwo im Urwald plumpste eine Kokosnuss zu Boden. Ein Traum, das hier war nur ein Traum? Wenn es ein Wunschtraum war: Hätte er dann nicht vom Sieg über das Rondritscherl träumen müssen? Von einem Entsatzheer wütender Sokramorier oder stahlklirrenden Landsknechten aus der Coverna, die ihn endlich aus seiner Zwangslage heraus hauen würden?

Firodil, sein Sohn, war vollkommen gesichtslos. Er hatte sein einziges leibliches Kind ja nie wirklich gesehen und "kannte" ihn nur aus der Beschreibung seiner Knappin. Dessen Geburt war vor zwanzig Götterlaufen gewesen. Wie konnte es sein, dass da ein Knabe von anderthalb Jahren stand?

Alissia schien seine Gedanken zu erraten. Sie deutete hinaus in die Ferne, zum Horizont des Südmeeres, wo schemenhaft ein dunstiges Etwas aus den Wellen aufragte, das leicht eine tiefhängende Wolke hätte sein können.

"Hast du noch nie von der Insel der Hoffnung gehört, die irgendwo zwischen Nikkali und Token liegen soll? Eine Insel, die man nur zur Zeit der Sonnenwenden erreichen kann – ein verfluchtes Eiland, auf dem Satinavs Element schneller verrinnt als auf den übrigen Waldinseln? Ein halbes Jahr in unserer Welt soll dort soviel zählen wie ein halbes Menschenleben. Nun, Firodil war an einem Ort verborgen, an dem der Zeitfluss nach der umgekehrten Logik erfolgt: Anderthalb Jahre waren dort soviel wie zwanzig Jahre auf Dere und Feste. Dies alles ist zu seinem eigenen Schutz. Niemand ahnt, dass du sein Vater bist und Serwa seine Mutter ist. Die Rechtgläubigen halten solche Dinge nicht einmal für möglich. Niemand wird es glauben, dem beschränkten Verstand und der engstirnigen Weltsicht der Zwölfler sei Dank."

Alissia, die nun aus irgendeinem Grund wieder ihr buntscheckiges Hexengewand trug, lächelte maliziös. "Mittlerweile ist es gelungen, den Auserwählten zu finden und an einen sicheren Ort zu bringen. Dank deines Ausharrens auf der Schwerterburg. Nicht allein deswegen, aber auch."

"Der...Auserwählte?"

"Der künftige Bote der Dunkelheit, gewiss. Alle Gesichte stimmen darin überein, dass Firunian Wildgrimm Odil einer der ersten Geweihten der Sokramor werden wird. Vielleicht sogar der erste ihrer Priester überhaupt. In jeder Hinsicht. Der Begründer der Sokramorischen Kirche, auch wenn ich solchen Bezeichnungen eigentlich abhold bin. Nun, die Töchter Satuarias können jeden Verbündeten gegen die Gemeinschaft des Lichts gebrauchen, das steht fest. Verbündete, die den Kräften der Erde, den Mächten der Nacht und der Dunklen Wonne ebenso dienen wie wir."

Adran musterte sein Söhnchen, dem schon das "erste Gesicht" fehlte. Unwilkürlich kamen ihm die Berichte seines Onkels Parinors in den Sinn, des einstigen Inquisitors. Das, was der Praiosdiener ihm über den Gott ohne Namen erzählt hatte, der sein Antlitz hinter einer Maske verbarg. Nein, der es sich in seinem göttlichen Wahnsinn selbst herausgerissen haben sollte, als Selbstverstümmelung, während der äonenlangen Gefangenschaft in der Sternenbresche.

"Alle...Gesichte deuten darauf hin, dass Firodil auserwählt ist? Dass Sokramor erwachen wird, um eine echte Göttin zu werden? Ist das nicht...Größenwahn? Wer schickt euch denn all diese Visionen und Traumbilder, wenn ich fragen darf?" Irritiert sah Adran zu einer schemenhaften Gestalt, die in einiger Entfernung durchs Unterholz schlich, eine Gestalt, die nicht "eingefroren" zu sein schien. Nach wenigen Herzschlägen war die geisterhafte Erscheinung verschwunden.

"So ganz verstehe ich nicht, warum ich auf der Schwerterburg weiterkämpfen soll, ohne jede Hoffnung auf einen Sieg. Ihr habt Zeit gebraucht, Firodil in Sicherheit zu bringen?"

"Nicht nur das. Auch in den Dörfern mussten Spuren verwischt werden, Fährten, die zu unseren Geheimnissen und Heiligtümern führen. Mit einigem Erfolg, möchte ich sagen."

Alissia schwieg mit wissendem Lächeln, also hakte Adran nach. "Odilon hat behauptet, ich müsse aufgeben, damit die Alten Kulte im Verborgenen weiterbestehen können. Du hast gesagt, ich soll weiterkämpfen – damit sie im Verborgenen weiterbestehen können?"

"Odilon der Schwarze Bär?" Die Eigeborene, die in seinem Traum zugleich eine Eingeborene war, wurde  hellhörig. "Hat der alte Baernfarn das wirklich gesagt? Davon weiß ich gar nichts. Er war bei dir, auf der Burg?"

"Sozusagen...er scheint jetzt eine Art Geist zu sein. Vor ein paar Wochen ist Odilon mir erschienen. Einmal nach unserer feurigen Begegnung, und dann im Feuer des Kamins."

"Im Kamin, soso. Zumindest scheinen wir das gleiche Ziel zu haben, Odilon und ich". Alissia drehte eine unbekannte Frucht von einem Strauch, brach sie entzwei und lutschte sie genießerisch aus, was ein überaus sinnlicher Anblick war.

"Das Steinerne Schwert hat mir der Schwarze Bär auch gestohlen", schimpfte Adran. "Es könnte sein...ich habe das Gefühl, dass er sich gerade in der Anderwelt aufhält. Womöglich hat er Farrazar dorthin gebracht."

"Farrazar? Der Sphärenspalter hat dir nie gehört. Nun denn, Odilon ist der Vetter eines Druiden. Ich denke, in irgendeiner Weise hat Caius ihn geschickt. Weißt du, Adran. Das ist der Unterschied zwischen den Druiden und uns. Man könnte auch sagen: Das ist der Unterschied zwischen Mann und Frau. Druiden geht es um Macht und Herrschaft, über den Geist der Menschen ebenso wie die belebte Natur. Wir Töchter Satuarias unterwerfen uns dem größeren Ganzen. Dienen in allem dem Fortbestand unserer Gemeinschaft und damit dem Leben selbst. Dem Leben, in dem jede Handlung vom rechten Zeitpunkt abhängt, im ewigen, unerbittlichen Wechsel des Jahreslaufs. Die Baernfarns wollten einen raschen, sicheren Sieg, nun gut. Aber sie haben nicht verstanden, dass jeder Sieg bereits den Keim der Niederlage in sich trägt. Und umgekehrt, mein armer Verlierer Adran, und umgekehrt. Der Winter naht, der den Siegern des Sommers zeigen wird, wie schwach sie gegenüber den Mächten der Natur sind. Im Frühjahr werden die Alten Kulte mit neuer Kraft zurückkehren."

"So soll ich also abwarten, bis sich meine Feinde...unsere Feinde.. ins Tal zurückziehen werden?" Adran merkte, dass er wieder in einem sattgrünen, schattigen Eichenwald stand, wie er sich auch im Sichelhag allenthalben erhob.

"Nein, ganz so einfach ist es nicht. Aber wenn es dich tröstet: Deine Niederlage wird ebenfalls dem größeren Ganzen dienen. Bevor du gehst, hast du noch einen letzten Dienst zu erfüllen. Sag ihnen, dass Serwa unschuldig war. Dass sie allein durch finstere Zauberei auf das Hexenfest gelockt worden ist. Dass sie Opfer einer Beherrschung war. Wie du weißt, bedarf es dazu nur ein wenig Blut oder Haaren eines Menschen. Nicht nur für einen Druiden." Kalt lächelnd zeigte Alissia eine graue Haarsträhne, die sie bislang in der Hand verborgen hatte.

"Ich soll alles zugeben? Die Schuld auf mich nehmen, als alleiniger Sündenbock? " Adran langte sich erschrocken in die eigenen Haare. Natürlich, seine Gespielin hatte ihn damals nicht nur den Rücken zerkratzt, sondern auch noch ganze Strähnen ausgerissen, in höchster Wollust. Wie hatte er nur derart töricht sein können? "Wenn ich soetwas in aller Offenheit verkünde...danach kann ich nie wieder nach Oppstein zurückkehren."

"Das kannst du ohnehin nicht mehr. Hast du vergessen, dass du dazu verurteilt worden bist, dich im Oppsteiner Praiostempel niederzuknien. Mit Büßergewand, Strick um den Hals und einer geweihten Kerze? Ich würde dir raten, die Kerze wegzustellen - bevor du dich endgültig auf geweihten Boden wirfst, um die Gnade des Götterfürsten zu erflehen. Was übrigens ganz in meinem Sinne ist. Denn damit wird es für dich keine Rückkehr mehr geben. Nun hab dich nicht so, gesamtaventurisch gesehen ist so eine Selbsterniedrigung nur eine Kleinigkeit. Im Horasreich wird kein Hahn danach krähen."

"Was, wenn ich mich weigere?" Nervös sah sich Adran um. Irgendjemand schlich noch immer durchs Gebüsch und schien sie zu beobachten. Was seine Unruhe noch steigerte, war der Umstand, dass Alissia den Verfolger – oder war es eine Verfolgerin? - überhaupt nicht wahrzunehmen schien. Firodil war auch verschwunden. 

"Niemals werde ich meine Ehre verleugnen!" sagte Adran stolz. "Meine Ehre oder den Stolz des Hauses Oppstein! Soviel haben meine Feinde mir bereits genommen, aber das nicht!"

Die Hüterin blickte auf den Vertrag, den sie aus irgendeinem Grund in Händen hielt. "Alles haben sie dir genommen? Wenn ich mir diesen einen Passus der Urfehde so anschaue – über die wahrhaft stattliche Apanage - dann kommt mir deine Wortwahl überaus gewagt vor. Um nicht zu sagen: Unpassend."

"Genauso gut könnte man sagen, Serwa hat mich aus Drachweiler zu diesem verruchten Levthansreigen gelockt. Zu diesem verrückten Narrentanz auf dem Hörnerberg. Sie und Ludwina!"

"Schön, dann gib der Friedwanger Hexenfürstin die Schuld! Mir ist es gleich, wer den Bann gesprochen haben soll. Hauptsache, alle Welt erfährt, dass Serwa nicht Herrin ihrer Sinne war. Dass sie willenlos auf einem fliegenden Besen entführt worden ist, den sie keinesfalls selbst gelenkt haben kann. Als Nichthexe...Was übrigens vollauf den Tatsachen entspricht."

"Natürlich...und am Ende lande ich doch noch im Kerker der Heiligen Inquisition?!"

"Was soll das Lamentieren? Malachanias ist schon auf dem Weg nach Elenvina, um das Ende der Sokramorketzerei in der Sichel zu verkünden. Voreilig wie immer. Meinen Segen hat er! Eine günstigere Gelegenheit, sich aus der Sache herauszuwinden, wird der hiesige Adel nicht mehr erhalten...Nutze sie gut...Oder..."

Adran reckte das Kinn vor. "Oder?"

"Ich danke Euch, Hochgeboren, dafür, dass Ihr Euch derart stur stellt." Die Eigeborene kicherte und warf den Friedensvertrag in den Wind, wo er sich in eine Taube verwandelte. "Dafür, dass Euch endlich mein Fluch treffen darf. Denn Strafe hast du verdient, Adran, für deine Respektlosigkeit Frauen gegenüber. Ebenso für die Geschmacklosigkeit, Thahira ausgerechnet in einem Tempel des Praios zum Traualtar zu führen, nach allem was geschehen ist. Die Zwercherin, die mit ihrem Schmusekätzchen leicht eine der Unseren hätte sein können...Warst du so schwach im Unglauben an die Sumufeinde, dass du den Alten Kulten derart schnell den Rücken zugekehrt hast?" Alissias Augen funkelten, von jähem Hass erfüllt. Sie wickelte sich Adrans Haar langsam um ihren Finger. 

"Nachdem du so gerne die Gefühle deiner Untertaninnen geteilt hast...vor allem solche, die in der Bauchgegend angesiedelt sind. Nun, dann sollst du dort ein neues Gefühl kennenlernen, das üblicherweise dem gemeinen Volk vorbehalten ist. Solange, bis du die Schändung Serwas gestehst...stellvertretend für all die anderen Opfer deiner zügellosen Levthanslust!"

"Die Schändung??? Aber ich..."

"Du hast seinerzeit Levthan verkörpert, den bocksgehörnten Vergewaltiger, und Serwa die unschuldige kleine Satuaria. Das war dir doch hoffentlich klar? Auch der Rahjasohn wurde für seine Tat bestraft, mit einem tiefen Sturz in die Niederhöllen. Das ist selbstverständlich Teil des großen Rituals. Haben wir das nicht gesagt?"

Alissia deutete nach oben. "Vorsicht, Kokosnuss!"

Der Blick des Barons folgte dem Zeigefinger. Aus irgendeinem Grund fiel die Nuss gerade von einer wunderschönen Oppsteiner Eiche auf ihn herab. Oder war die Frucht in Wahrheit eine riesige, pralle, glänzende Eichel?

 

Schreiend ruckte Adran hoch und verfing sich im zugezogenen, grünfarbenen Vorhang seines Himmelbetts, mit Armen und Beinen gleichermaßen. Seines Himmelbetts? Ja, es war Nacht und draußen prasselte der Herbstregen herab. Was für ein irrwitziger Traum. Wie hatte er sich nur im Südmeer wähnen können, bei all der nasskalten Zugluft um sich herum? Nur vom zart glimmenden Feuerrest im Kamin her wehte Wärme heran, als würde  dort die Sonne des Tiefen Südens leuchten.

Nach und nach beruhigte sich der Baron wieder. Ihm fröstelte, der heiße Stein an seinen Füßen war längst erkaltet. Versonnen zog er die Decke bis zum Hals. Der Morgen war noch fern. Was hatte Alissia, dieser falsche Dukaten, geschwatzt, in seinem verrückten Traumgespinst: Er würde ein Gefühl kennen lernen, das er bislang noch nicht erlebt hatte? Na, da war er mal neugierig. Im Augenblick spürte er nur ein leichtes Grummeln seines Magens. 

Schwerterburg, Nacht vom 12. auf den 13. Travia 

Nele zitterte und hielt die Hände über den rotglosenden Holzstückchen des Feuerkorbs. Immerhin, die Wunde war wieder verheilt, in anderthalb Monden Belagerung. Nur eine runde Narbe in der linken Handfläche erinnerte noch an die nagenden Schmerzen der vergangenen Wochen.

Regentropfen plätscherten schwer und reichlich auf der offenen Seite des Wehrgangs herab, der die Schildmauer krönte. Die Nachtwache zog sich wieder einmal hin.

Nun, im fortgeschrittenen Traviamond, hatte der Regen eingesetzt, ein zweischneidiges Schwert. Das Wasser aus der Zisterne schmeckte wieder frisch und floss reichlich in die Trinkflaschen. Dafür fühlte sich alles kalt und feucht an, in diesem schauerlichen Gemäuer. Den Proviant hatten sie schon lange rationiert. Es war nicht so, dass Nele Hungerqualen litt, im Sinne eines stechenden Schmerzes oder einer leichten Übelkeit, wie sie es als Mädchen manchmal empfunden hatte. Sie fühlte sich einfach matt, ausgelaugt. Blutleer, schlaff und erschöpft. Sicher war ihr Gesicht ähnlich eingefallen wie Bernfrieds Antlitz, das im Praiosmond noch kein struppiger Bart geziert hatte, unter dem zerbeulten Eisenhut.

Nele hätte alles ertragen, selbst eine blutige Schicksalschlacht mit stündlichen Sturmangriffen, einen Endkampf bis auf den Dolch. Tollkühne Ausfälle, um endlich das rondralästerliche Armbrustgeschütz zu zerstören, wären ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Alles, nur nicht dieses Dahinvegetieren bei einer Belagerung, bei der ein Gegner abwartete, bis die Eingeschlossenen schwächer und schwächer werden würden, wie das hilflos eingewickelte, giftgelähmte Opfer im Netz einer Spinne. Diese Kampfweise war einfach nur ruhmlos und schmählich, gerade weil nicht gekämpft wurde. Nur ab und an flogen noch ein paar Pfeile hin und her, mehr als Neckerei zwischen Nachbarn, die sich beiderseits daran erinnern wollten, dass sie noch da waren und keine Hirngespinste auf der anderen Seite der Mauer.

"Ich sage, wir hätten nochmal einen Ausfall wagen sollen!" Nele von Moosenwald hustete sich den rauen Hals frei. Müde Blicke trafen sie. "Als wir  noch stark waren..." In den fahlen Gesichtern der Umstehenden mischte sich ein Anflug echter Kameradschaft mit der standesgemäßen Scheu vor der jungen Rittersfrau und Adeligen.

Bernfried blickte hoch. "Wir können uns keine Verluste mehr leisten...sagt Herr Adran."

"Die verdammte Balliste", ächzte Nele. "Deren Beschuss können wir uns auch nicht leisten."

"Kann bei dem Regen eh nicht schießen," brummte der Burgwächter. "Auch wenn sie einen hübschen Unterstand gebaut haben. Die Nässe, die ist nicht gut für die Sehne."

"Ich versteh nicht, warum sie den verdammten Felsen nicht weggemeißelt haben" schimpfte ein anderer, der Traviahold genannt wurde. "Den Halsgraben haben sie ja auch rausgehackt und damit diese orksche Burg ins Nirgendwo gebaut. Verzeihung, Euer Wohlgeboren..."

"Hab gehört, irgendsoein verrückter Sokramorier hätte damals behauptet, es wäre ein Geisterfelsen, oder sowas." Bernfried grinste schief. "Wo ein Kobold drauf hockt, oder Feen drumrum schwirren." Ein aufgeregtes Husten. "Jetzt schießt der Stier uns die Burg kaputt, auf dem heiligen Stein." Ein weiterer Huster, gefolgt von hochgezogenem Rotz. "Nee, die schießen sie nicht völlig kaputt, die wollen sie selber übernehmen. So schlau sind die schon."

Nun wurde die Ritterin doch ein wenig ungehalten. "Wir sind alle Sokramorier...die Schwarze Bergmutter hat uns Regen geschickt und die Flammen gelöscht."

"Also ich hab keinen Bock, mit Ketzerhut und Schandgewand durch die Gegend zu latschen", sagte Traviahold. "Bin eine kleine Baronswache, mehr nicht. Momentan schieb ich einfach nur nen mächtigen Kohldampf."

"Sie werden uns zur Hilfe kommen, Leute." Nele klang beschwörend. "Der große Aufstand ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Oppsteiner müssen doch merken, was gespielt wird. Es geht jetzt um Freiheit oder Tod!"

Auch Melvis, der gerade in der Schützenkammer stand und durch die Schießscharte gepisst hatte, hustete in die Faust. "Also ich wähl lieber Brot. Da wird keiner kommen, Rittfrau. Soll ein bisschen Geschrei und Unfrieden in den Dörfern gegeben haben, mehr nicht..."

"Woher willst du das wissen?" fragte Nele ungläubig.

"Quatsch manchmal mit einem hinter der Sturmwand." Melvis klang einsilbig.

"Du machst was? Das ist der Feind!"

"Alrik ist in Ordnung, für nen Ismenischen. Zumindest hält er seine Armbrust unten. Während wir plaudern..."

"Alrik heißt der Zwölfler? Sag bloß, du quatscht mit dem Herrn Baron von Friedwang persönlich?" Bernfried deutete spöttisch einen Kratzfuß an.

"Dein guter Kamerad soll lieber mal ein paar Fressalien raufschmeißen", meinte Traviahold, der heiter klingen wollte, aber eher erschöpft und gereizt wirkte. "Statt so Latrinenparolen zu verbreiten."

"Wieso? Glaubst du an das große Entsatzherr?" Melvis schloss seinen Hosenlatz und trat ans Feuer. "Aus Mistelhausen, Friedwang? Dem Liebfeld oder dem Güldenland? Bullenscheiß. Die Welt hat uns vergessen, da draußen, so einfach ist das...die schlagen sich zum Erntefest die Bäuche voll, während wir Deppen hier oben wie die Einsiedler darben."

Von der Außenmauer wehten die Huster der Vorposten heran. Da draußen war es bei so einem Schmuddelwetter noch ungemütlicher, ganz ohne Dach über den Eisenhüten und Beckenhauben.

Nele legte noch ein Holzscheit in den Feuerkorb, auch wenn Adran soetwas nicht gerne sah. Die rußgeschwärzten Balken über ihren Köpfen zeigten, dass dies schon früher so gehandhabt worden war. Bei der Dauernässe war es unwahrscheinlich, dass gleich der ganze Wehrgang Feuer fangen würde. Die Burg war ohnehin überall angekokelt, auch wenn der große Strohbrand Anfang Efferd keine größeren Schäden angerichtet hatte. Es war besser gewesen, das Brennmaterial aus den Ställen und der Scheune zu holen, deren Dächer schon ein paar Mal von Geschossen durchschlagen worden waren. Larissa, die Burgziege, hatte es ebenfalls erwischt, seitdem musste Lares auf seine Geißenmilch verzichten. Und natürlich war es eine Belastung, bei jedem Gang über den Hof zum Himmel schauen zu müssen, ob da nicht wieder ein dunkler Blitz heran schwirrte. Einmal wäre Nele beinahe getroffen worden, ihr Mantel hätte um ein Haar Feuer gefangen. Seitdem nahm sie immer einen eisenbeschlagenen Schild mit.

"Glaubst du, der Mersinger Brut da unten geht es besser als uns? Weit schlechter, würde ich sagen."

Die Ritterin legte tüchtig Holz auf die rot pulsierende, knackende Glut. "Die frieren und schlottern sicher mehr als wir, in ihren Zelten. Vorräte raufzuschaffen ist gar nicht so einfach, für soviele Leute." Die Moosenwaldt hustete den Gedanken an "soviele Leute" weg. "In zwei, drei Wochen gibt es vielleicht schon den ersten Schnee", fuhr die Ritterin fort, während das Feuer hochbrannte. "Dann wird dem Rondritscherl gar nichts anderes übrig bleiben, als sich zurückzuziehen, runter ins Tal. Die Dörfler werden sich bedanken, wenn sie das gefräßige Pack bei sich durchfüttern müssen. Im Frühling kämpfen wir dann zusammen weiter."

Melvis antwortete nicht, aber es war klar, was er dachte. In der Zwischenzeit, wenn die Burg eingeschneit ist, wird u n s niemand durchfüttern.

Melvis, ausgerechnet Melvis wurde jetzt schwach. Der mal behauptet hatte, man müsse nur die feindlichen Anführer mit der Armbrust erschießen, einen nach dem anderen, dann wäre die Fehde gewonnen! Erzwungenes Nichtstun, schleichender Hunger, fehlende Hoffnung und mieses Wetter – das konnte eine Gemeinschaft ebenso in die Knie zwingen wie eine verlorene Schlacht.

Nele hätte den Wachen gerne die Kleinmut ausgetrieben, aber momentan hatte sie das Gefühl, dass Worte allein wenig ausrichteten. Grelle Flammen wurden hinaus in den Hof geweht und verwandelten sich in hellgrauen Rauch. Hoffentlich bekam Adran den Feuerzauber nicht mit. Ein klein wenig übertrieben hatten sie es mit dem Wachtfeuer schon.

Einen Moment lang lag der Haupthof im gelbroten Licht da. Man sah die Schäden an den Dachschindeln, die rußgeschwärzten kleinen Einschlaglöcher im Pflaster. Dennoch, die Burg war wehrhaft und stark, Efferd füllte ihnen gerade die Zisterne auf. Proviant würde sich nach dem unvermeidlichen Abzug der Feinde finden lassen, und wenn sie ihn von den Goblins eintauschen mussten, oder in Mistelhausen und Echsmoos kaufen, für reichlich Gold.

Die Ritterin stutzte für einen Moment, als sie einen Schatten über den Hof huschen sah, nein, am Rande des Hofes entlang. Fürchtete der unbekannte Nachtschwärmer die Geschosse der Ismenischen? Aber es war nun wirklich nicht die Zeit – und das Wetter – um Ballistenspeere in Richtung Schwerterburg zu schicken. Irgendein Waffengefährte auf dem Weg zur Latrine vermutlich.

Das Feuer brannte rasch wieder herunter und der Burghof verschwand erneut in Regen und Dunkelheit. Irgendetwas hatte Nele an der Szene gestört, ohne dass sie im Moment hätte sagen können, was genau. Die Armbruster verteilten sich wieder in die einzelnen Schießkammern, wie die großen Nischen hinter den Scharten genannt wurden. Nur Bernfried betätigte sich weiterhin als Feuerwächter.

Nun fiel der Ritterin ein, was sie beunruhigte. Der Schatten auf dem Hof hatte etwas verwirrend Unförmiges in Händen gehalten, von dem sie nicht genau zu wusste, was es war. Vielleicht war es die Eintönigkeit der Wache, womöglich der langsam abebbende Regen - sie beschloss, einmal nach dem Rechten zu sehen. Mit Saboteuren musste bei Belagerungen immer gerechnet werden, und natürlich mit Verrätern.

"Ich geh mal kurz die Runde", ließ sie Bernfried wissen, ohne weiter auf dessen erstaunten Blick einzugehen. Stattdessen entzündete sie eine Fackel im Eisenkorb. Die meisten Gardisten hielten es schon für eine - mehr oder weniger liebenswerte - Schrulle, dass sich eine frischgebackene Ritterin wie sie zur Nachtwache einteilen ließ. Viele hätten wohl lieber unbeaufsichtigt vor sich hin gedöst und von irgendwelchen Festmählern geträumt. Aber die junge Adelige wollte keine Standesprivilegien für sich in Anspruch nehmen. 

Nele huschte die Treppe nach unten und eilte über den Hof. Vom Phantom war weit und breit nichts zu sehen.

Der Regen war nur noch ein leichtes Nieseln, aber der nächtliche Herbstwind wehte schon unangenehm. Ihr Blick fiel auf die steinerne Scheune, in der ein Großteil der Vorräte lagerte, während man – aus Gründen des Brandschutzes – fast sämtliches Stroh und Heu heraus geschafft hatte. Das Haupttor war eigentlich mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Aber das stand angelehnt offen, während das klobige Schloss locker am Riegel hing. Die Scheune in Brand zu setzen, das wäre nun wahrlich ein Schurkenstück gewesen, das die Fehde prompt beendet hätte. Oder wollte sich irgendeine hungrige Seele an den eingelagerten Lebensmitteln bedienen, was kaum weniger niederträchtig gewesen wäre? Tatsächlich flackerte ein mattes Funzellicht aus der "Schatzkammer".

Nele stieß die Fackel in eine Pfütze, wo sie zischend verlosch, behielt das rauchende, nach verbranntem Pech riechende Holz aber als Knüppel bei sich. Zur Not hatte sie auch noch ihr Schwert. Sollte sie bereits Alarm schlagen? Aber damit wäre auch der Übeltäter gewarnt.

Sie ging einige Stufen nach unten. Dann stand sie bereits in der Vorratskammer, die weder besonders groß geraten noch wirklich gut gefüllt war. Neles Blick fiel auf Körbe, Säcke, Krüge, Brennholz und herabhängende, geräucherte Würste, Schweinehälften, Schinken. Käse- und Brotlaibe hingen ebenfalls an Seilen von der Decke oder Wänden, zum Schutz vor den Mäusen. Für einen Augenblick waren ihre Sinne regelrecht betäubt, ob des Ansturms an Gerüchen, nach Obst, Gemüse, Kräutern, Fleisch. Als hätte sie sich aus einer belagerten Burg zu einem orgiastischen Festbankett verlaufen.

Einen Moment musste sie selbst der Versuchung widerstehen, in den Korb mit Lauch zu greifen, dessen bittersüßer Geruch geradewegs aus der Küche Alverans heranzuwehen schien – oder in das strohgefüllte Körbchen mit Eiern, von dem eines, ein einziges nur, unbemerkt in der Gürteltasche verschwinden zu lassen, ein Kinderspiel gewesen wäre? Oder zwei, drei und vier, um sie hernach schwesterlich mit den anderen Wachen zu teilen. Aus einem Fass roch es nach Sauerkraut, vielleicht die mittelreichischste aller Speisen. Nele hatte dieses nach Essig stinkende, triefende, pissegelbe Schweinfutter nie gemocht. Aber nun hätte sie am liebsten den Deckel aus der Tonne gehebelt, mit dem Messer, und die verachtete Bauernkost mit beiden Händen in sich hinein geschaufelt. Gütige Götter, jedem Verbrecher wurde eine Henkersmahlzeit zugebilligt, während sie, die Streiter des Rechts, die jeden Tag ihre Haut auf den Mauern zu Markte trugen, mit kaum mehr abgespeist wurden als armseligen Bettlerrationen.

Nele wurde schwindelig, selbst das Denken fiel ihr schwer. Auf was für Ideen kam sie da – der Hunger musste sie wohl langsam in den Wahnsinn treiben? Gütige Herrin Peraine, wie sollten zwei Dutzend Kämpfer über den Winter kommen, mit dem Wenigen, was da herumstand? Oder gab es noch andere Vorratsräume, die Adran geheim hielt, aus guten Gründen, eben, um keine Begehrlichkeiten zu wecken? Kleinvieh, ja, das wurde noch gehalten, für den Praiostagsbraten.

Ein Schmatzen und Schlingen lenkte sie ab. Rief ihr in Erinnerung, weswegen sie sich gerade im "Allerheiligsten" der Burg befand. Die Kapuzengestalt kauerte etwas versteckt in der Ecke, wandte ihr den Rücken zu. Einen Moment kamen ihr die Vampirgeschichten aus der Kindheit in den Sinn, die sie gleichermaßen, nun ja, verschlungen wie gefürchtet hatte. Aber es war kein ausgesaugter Mensch, über den sich der Unhold gerade beugte, neben einem prallvollgestopften Sack und einer flackernden, spitzkegeligen kleinen Kupferlaterne. Dem Geruch nach hatte sich der Dieb einem Topf Honig zugewandt, nachdem er von einer fettigen Räucherwurst nur ein unansehnliches Ende zurückgelassen hatte. Auch ein Brot hatte er angenagt, in fast schon namenloser Gier. Was für ein ungezügeltes, erbärmliches, würdeloses Kameradenschwein! Die traviagefälligen Tischsitten hatte der elende Wicht ebenfalls vergessen. Nele hätte gute Lust gehabt, ihm das Schwert in den Rücken zu stoßen. Aber nun gut, sollte der Herr Baron über diese Ratte entscheiden! Hoffentlich würde das Urteil  hart und abschreckend sein.

"Du da!" rief Nele herrisch. "Schluss mit dem Mundraub! Die Hände weg vom Honig, langsam aufstehen und umdrehen!" Irritiert sah die Ritterin den Schlüssel, der neben dem Eindringling lag. Bisher hatte sie geglaubt, der Dieb hätte das Schloss aufgebrochen.

Der Verhüllte zuckte ebenso erschrocken wie, so schien es zumindest, schuldbewusst zusammen. Mit dem Aufstehen hatte er es nicht eilig, also warf ihm Nele die erloschene Fackel derb in den Rücken. Stöhnend duckte sich der Einbrecher unter dem Wurf – und nutzte zugleich die Bewegung, um nach dem Sack zu greifen. Nele zog ihr Schwert und ging auf den Mann zu. Mit einiger Kraft packte der den Beutel, hieb damit nach der Ritterin, als wäre es ein Strohsack beim Knappenbuhurt. Die Schlagwaffe war verblüffend schwer, offenbar wollte sich der Schurke einen Privatvorrat anlegen. Nele wich zurück und rutschte ohne jede Vorwarnung aus. Wuchtig legte es sie auf den Rücken, nur ihre eigene Kapuze dämmte den Schlag auf den Hinterkopf. Benommen sah sie, wie der "Fresser" seine Beute packte und ohne Laterne oder Schlüssel nach draußen eilte. Einen Moment lang glaubte die Ritterin ein Nachthemd unter dem regennassen Mantel zu erspähen.

Nach einigem Rumpeln und Gestolper war ihr Gegner verschwunden. Mühsam rappelte sich die junge Frau auf. Wenn Nele nicht derart hungermatt gewesen wäre, hätte der Dreckskerl sie sicher nicht so leicht ausmanövriert. Sie packte die Laterne – eine unscheinbare Blechlaterne, von der es auf der Schwerterburg einige gab – und leuchtete die Umgebung aus. Sie hatte wirklich dummes Pech gehabt: Ein Fäßchen mit gesalzener Butter leckte und hatte seinen Inhalt über den Boden verteilt. Nein, das Nachtgespenst hatte das Behältnis geöffnet, auf der Suche nach Essbaren. Nun trat die Ritterin zu allem Überfluss auch noch in eine Rabenmundbirne, die, nebst einer Scheibe Röstbrot oder Zwieback, aus dem Sack gefallen sein musste. Sie hätte das zermatschte, süß riechende Obst guten Gewissens selbst essen können, aber die anerzogene Wehrheimer Selbstbeherrschung in ihr war stärker. Der Zerfall jedweder Ordnung fing immer mit solchen kleinen Disziplinlosigkeiten an. Wenn die aufmerksame Wächterin Glück hatte, würde sie von ihrem Herrn eine Sonderration erhalten, mehr stand ihr nicht zu. Nele nahm den Schlüssel, ging nach draußen und sperrte die Eingangstür sorgfältig ab.

 

Markt Oppstein, 29. Travia 1046 nach Bosparans Fall, Feuertag.

Sankt-Gilborns-Fest.

Das Ziegenhaar kratzte niederhöllisch, was vermutlich beabsichtigt war. Herbstnebel lag über dem kleinen, schlammigen Vorplatz, an dessen Rand der Praiostempel zu Mark Oppstein aufragte. Adran zitterte, seine Zähne klapperten zum Traviaerbarmen. Wirklich warm war das härene Gewand nicht, das tatsächlich aus Tierhaaren gewebt war, womöglich sogar aus Bocksfell, in Anspielung auf seine Untaten als "Gehörnter Levthan". Nasser Schlamm drang zwischen seinen klammen Fußzehen hervor, die längst gefühllos waren. Barfüßig warten zu müssen, bei einem Wetter wie heute, war eine Strafe für sich. 

Immerhin musste Adran beim heutigen Unterwerfungsritual keinen Strick um den Hals tragen, ebenso wenig wie ein Schwert - was ein Zeichen dafür gewesen wäre, dass Seine Hochgeboren sich eines todeswürdigen Verbrechens schuldig gemacht hatte. Wenigstens diese Schmach hatte er noch abgewendet. Stattdessen baumelte um seinen Hals nur ein schweres Widderhorn. Das Mienenspiel des umstehenden Volkes war schwer zu deuten: Waren sie froh, dass die kurze, aber heftige Fehde vorbei war? Empfanden sie wenigstens ein klein wenig Mitleid, mit dem gestürzten Baron – oder schlechtes Gewissen, dafür, dass sie ihn so schnell hatten fallen lassen? Adran blickte stur geradeaus.

Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende.

Trotz allem durfte der Oppsteiner für sich in Anspruch nehmen, ein kluger und vernünftiger Mann zu sein. Fast schon altersweise. Dazu zählte, dass einer wusste, wann er besiegt war. Der Heißhunger war in der Nacht nach dem Hexentraum über ihn gekommen, ein rasender Appetit, eine rauschhafte Gier auf Süßes und Fettiges. Was war ihm anderes übrig geblieben, als in die Vorratskammer einzubrechen - wo ihn um ein Haar seine ehemalige Knappin gestellt hätte? Nele, ausgerechnet Nele, die Treueste der Treuen.

Oben, in seinem Gemach, hatte Adran die Beute in sich hinein geschlungen, ein Vorrat, der eigentlich für mehrere Tage hätte reichen sollen. Stattdessen hatte er auf Anhieb den halben Sack verzehrt, wie bei einer Al´Anfaner Völlerei - und sich hernach würgend aus dem Burgfenster übergeben. Es war tatsächlich die tiefste Erniedrigung in dieser Fehde gewesen. Eine Demütigung vor sich selbst, nicht seinen Feinden. Die hatte man nicht umsonst zum Feind. Seine Selbstachtung verlor man nur einmal. Im Vergleich zur Hungernacht war dieses kleine Theaterspiel vor dem Praiostempel unangenehm, aber einigermaßen erträglich, gleich dem Travianebel um ihn herum.

Kaum hatte Adran die letzte Spucke ausgegeifert, auf der Burg, überzeugt, dass er erst einmal keinen Bissen mehr herunterbringen können, überfressen, wie er gewesen war - da hatte sich der hexische Hunger zurückgemeldet. Du bist einfach nicht du selbst, wenn du hungrig bist. Das hatte Lares immer gespottet, sobald der Vorrat an Koschammernzungen (die Süßigkeit, keine Körperteile von Singvögeln) oder der Wutzenwalder Trüffel ausgegangen war.

Adran war nicht dumm. Selbst wenn er seinen schlingerhaften Appetit noch ein paar Tage lang hätte stillen können – dessen Folgen ließen sich schwerlich verbergen. Nach und nach hätte er sich in eine wahre Fettammer verwandelt und wäre zwangsläufig enttarnt worden. Der wohlbeleibte Baron, der seine Getreuen in eine Belagerung geführt und ihnen zum Dank die letzte Grütze weggefressen hatte. Dieser Ruf würde ihm länger anhaften als jeder Besuch eines Hexenfests...Adran, der dicke Oppsteiner. Adran, der gewissenlose Schlemmer.

Wenig später hatte es an seiner Tür geklopft und Nele ihm scheu Bericht erstattet, wie er es ihr selbst bei wichtigen Zwischenfällen befohlen hatte. Ahnte sie, dass er der Eindringling gewesen war? Adran, ihr einstiger Schwertvater und Baron? Wenn, dann ließ sich die tapfere, kleine Ritterin nichts anmerken.

Als die nächtliche Besucherin hinausgeklirrt war, hatte Adrans Entschluss fest gestanden. Alissia wollte ihn demütigen, dieses verrückte Hexenweib - gerade weil sie miteinander der Rahja gehuldigt hatten? Wie eine Praiosanbeterin oder Spinne, die nach dem Liebesakt das Männchen auffraß? Oder, wenn sie das nicht konnte, ihrem Opfer wenigstens selbst abgründigen Hunger anhexte?

Vor aller Augen den Burggarten zu durchwühlen oder seinen Soldaten das karge Mahl  aus der Hand zu reißen - einen solchen Triumph hatte Adran dieser zweibeinigen Fangschrecke jedenfalls nicht gegönnt. Am Morgen des 13. Travia war die Weiße Fahne über den Mauern aufgezogen worden. Der Baron hatte um eine Unterredung im Feldherrnzelt der Belagerer gebeten. Dort hatte er seine Untaten gestanden, im überschaubaren Kreis – immerhin, diese Vergünstigung war ihm noch zuteil geworden. Die Rommilyser Traviageweihte hatte ihn sogar mitleidig angesehen, als er zuvor über die Frühstücksbrötchen, die fettglasierten Butterhörnchen, das frische Obst und die köstliche Marmelade seiner Gegner hergefallen war - die übrig gebliebenen Leckereien vom Tag der Treue. Ganz so, als wäre gerade die berüchtigte, überaus harte und grausame "Belagerung von Drôl" zu Ende gegangen. Dabei konnte sich die Einschließung der Schwerterburg nicht einmal mit den "Hundert Tagen von Kuslik" vergleichen. Weder mit der Belagerung noch mit dem entzückenden Liebesroman gleichen Namens...

Gleich nach Adrans "Geständnis" war der entsetzliche Hunger von ihm abgefallen, ebenso wie die Last des Baronsamtes. Ein wenig fühlte Adran sich wie ein Delinquent, der schon beim ersten Grad der Folter zusammengebrochen war. Nun, dafür befand er sich wenigstens noch weitgehend im Besitz seiner geistigen wie körperlichen Gesundheit. Einige Tage lang hatte er sich mit Lares und den beiden Rittfrauen in den Bergfried zurückgezogen, um noch etwas nachzuverhandeln. Den Oppsteiner Hof durfte er nun nicht mehr betreten, ebensowenig Bewaffnete mit ins Exil nehmen. Stattdessen würden ihn Oleanas Geleitreiter bis an die Grenze des Mittelreichs eskortieren. Als einzige Gegenleistung hatte er erreicht, dass noch die Bestimmung in die Urfehde mit aufgenommen wurde, wonach die künftige Baronin oder der nächste Baron von Oppstein auch weiterhin diesen Namen führen würde. Statt Mersingen, Baernfarn, oder was auch immer. Den Strick um den Hals, den hatte man ihn ebenfalls erlassen, nachdem er versichert hatte, dass der freche Spötter im Ingerimmtempel aus der Baronswache geworfen worden war.

Nun war der Tag seiner offiziellen Abdankung gekommen. Was zu Sankt Artema begonnen hatte, endete nun am Gilbornstag, dem Fest des Schutzheiligen gegen finstere Zauberei. Ein wenig hatte Adran durchblicken lassen, dass er selbst unter einem Bann gestanden hatte, oben am Hörnerberg. Er, das Opfer der heimtückischen Intrigen Edorians, das mit höchster Not aus dessen Kerker entkommen war. Im Moment war Adran einfach nur froh, die Kälte und Nässe hinter sich zu lassen. Mit herrischem Wink rief ihn der greise Hochgeweihte des Tempel herbei, der nie zu seinen Freunden und Unterstützern gezählt hatte. Der Steinboden des Praioshauses fühlte sich kaum wärmer an als der Schmutz auf der Straße, aber immerhin stand er jetzt im Trockenen.

Das Heiligtum des Allerhöchsten war ein Lichtermeer aus Kandelabern und Kerzenbrettern, was ihm wohl zeigen sollte, dass er nurmehr ein "kleines Licht" sein würde. Die Kerzen strahlten sogar ein wenig Wärme ab. Adran blinzelte geblendet und war froh, die Gesichter seiner frohlockenden Feinde nicht in allen Einzelheiten sehen zu müssen. Wenn das haarige Büßergewand nur nicht derart fürchterlich gekratzt und nach Ziegenbock gestunken hätte.

Der alte Priester wollte ein Kienspan aus einem größeren Bündelchen ziehen. Dabei stellte sich der Prätor aber recht tatterig an und verstreute die Holzstücke klappernd auf den Boden. Na also, Adran würde nicht der einzige sein, der an diesem denkwürdigen Gilbornstag Schwäche zeigte. Ismena, diese scheinheilige Schmeichlerin, hob die Hölzchen auf und entzündete einen Span an einem der unzähligen gesegneten Lichtlein. Dann reichte sie ihn dem Prätor. Vermutlich sah das Rondritscherl diesen Zwischenfall auch noch als gutes Omen. Wer nicht dumm war, musste doch spätestens jetzt merken, welches Schmierentheater hier gespielt wurde!

Endlich brannte seine reinweiße, fast schwertlange Opferkerze. Adran schritt zum Altar und ging vor dem Gott der Könige in die Knie, der wie ein weltlicher Herrscher im Heiligtum thronte, das Haupt umkränzt von einer zwölfstrahligen Sonne. Seine Hochgeboren senkte den eigenen nebelnassen Kopf und murmelte ein Gebet. Bei den Worten "Bitte ich Dich um Gerechtigkeit, O Praios, in einer Welt voller Falschheit und Intrige..." hob er seine Stimme ein wenig.

Ein Räuspern hinter ihm in der Halle war die einzige Reaktion, die er wahrnahm. Einen Moment lang schloss Adran die Augen im Lichterglanz und versuchte, seine Demütigung zu ertragen, die sich wie ein leichter Fieberschauder anfühlte. Womöglich wurde er wirklich gerade krank, bei diesem Difarwetter. So ähnlich musste sich ein Delinquent auf dem Schafott vorkommen, oder auf dem Scheiterhaufen. Der Gedanke, dass ihn nicht in wenigen Augenblicken ein loderndes Flammenmeer einhüllen, er mit Wimmern und Brüllen lebendig gebraten werden würde, tröstete ihn allerdings schon. 

Die Kerze wurde ihm aus der Hand genommen. Adran seufzte innerlich, legte sich auf den Bauch und breitete seine Hände zu den Greifenschwingen aus, um seine schuldbeladene Seele "vor Praios zum Schweben zu bringen".

Nun zitterte er wirklich am ganzen Körper. Das Horn drückte unangenehm auf die Rippen und das Zwerchfell. "Fürst der Götter verzeih! Verzeih meine Schwäche im Glauben!" rief er theatralisch. "Ich bitte dich, höchster Richter Alverans, nimm mich wieder auf in die einzig wahre Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Rechtgläubigen!"

Adran war froh, als sich ihm nach einer gefühlten Ewigkeit das goldene Sonnenszepter auf den Nacken senkte. Umständlich, mit schmerzenden Gliedern, erhob er sich. Das Widderhorn wurde ihm abgenommen und in eine der großen Feuerschalen neben dem Altar gelegt, wo es rauchend verbrannte. Bestialischer Gestank erfüllte den Tempel, der so gar nicht zur heiligen Zeremonie passen wollte. Es dauerte eine Weile, bis der Geruch nach Weihrauch, Sandelholz und Harz das niederhöllische Miasma vertrieb.

Ein Sonnenrad wurde vor seinem Gesicht geschlagen. "Adran von Oppstein, im Namen des Erzheiligen Gilborn von Punin seien dir deine Übeltaten verziehen. Kehre zurück in die Obhut der alveranischen Kirchen, enthalte dich fortan der Glaubensverirrung und folge den unverrückbaren Bahnen Unseres Allerhöchsten Herrn, der uns an jedem Sonnenlauf aufs Neue den Lebensweg vorgibt."

Adran nickte wie betäubt. Für einen Moment kämpfte er sogar mit dem Nassen in seinen Augen. Ein Lichtsucher reichte ihm seine Reisegewandung. Offenbar wurde von ihm erwartet, sein Büßergewand hier und jetzt auszuziehen – und einen Moment lang völlig nackt vor den Siegern stehen. Natürlich, die praiosgewollte Offenheit. Zum Glück trug er in weiser Voraussicht einen Lendenschurz. Kaum hatte er den kratzigen Bettvorleger abgestreift, traf ihn auch schon ein übler Hieb mit der zwölfendigen Peitsche. Adran schrie auf – von diesem Teil der Buße wusste er nichts?! Ein weiterer Geißelhieb durchschnitt seinen Rücken, dann ein dritter. Nun schossen dem Adeligen wirklich die Tränen in die Augen.

"Dies möge Dir eine ernste und letzte Warnung sein, Adran von Oppstein, welche Strafen dich im Diesseits und mehr noch im Jenseits erwarten, solltest du jemals rückfällig werden!" Der alte Lichthüter hatte noch eine erstaunlich kräftige Handschrift, das musste Adran ihm lassen. Mit zusammengepressten Lippen streifte sich der Büßer sein Leinenhemd über. Egal, was er jetzt gesprochen hätte, es wäre nichts Gutes gewesen.

Adran kleidete sich an, schlüpfte in die Stiefel. Als er aus dem Tempel hinkte, mit schmerzenden Striemen auf der Schulter und dem Rücken, sah er, dass bereits seine vertraute Kutsche vorgefahren war, die ihn zum Ingerimmsheiligtum und hernach wohl auch ins Exil fahren würde. Immerhin, nicht alle seine Lakaien im Schloss waren treulos geworden.

Dankbar stieg er ein, wobei er es sorgfältig vermied, sich zurückzulehnen. Kalter Nebel hatte sich über ganz Oppstein ausgebreitet, der sich eher firunisch als phexisch anfühlte. Im Traviamond der Nebel viel, bringt im Winter Flockenspiel. Aus irgendeinem Grund kam Adran die Bauernregel in den Sinn.

Womöglich würde der Weiße Jäger nun wirklich zum Schutzherr der Alten Kulte werden? Während der eitle Sonnengott schwach und wolkenverdeckt seine "unverrückbaren" Bahnen ziehen würde, in den nahenden Wintermonaten.

Beiläufig sah er einen Bauern, der eine große Schubkarre mit Erde über den Weg fuhr - und derb fluchte, als er der Kutsche seines bisherigen Barons ausweichen musste. So verging eben der Ruhm der Welt. Der frühere Herr von Oppstein winkte dem Unfreien mit einem nachsichtigen, aber auch wehmütigen Lächeln zu, der ihn verwirrt anstarrte. 

Ein wenig verstand Adran nun, was die Eigeborene gemeint hatte. Der Winter war die Jahreszeit, in der die Natur, wie einst die Gigantin Sokramor, in einen tiefen Schlaf fiel – ein Schlaf, der auch die Feinde der Alten Kulte einlullen würde. Zumindest wusste der Oppsteiner, was ein Erdstall war: ein unterirdischer Irrgarten, in dem nicht nur Sokramor, Satuaria und Sumu angebetet wurde. Sondern in jedem Herbst aufs Neue ein Gutteil des Zehnts verschwand. Vor allem dann, wenn die Obrigkeit mit irgendwelchen Zwistigkeiten abgelenkt war. Verfolgte harrten in diesen behaglich warmen, verwinkelten Stollen und Schratlöchern oft monatelang aus. Aber dazu brauchte es Vorräte und am besten Schnee auf den Zugängen.

Nun hatte die Kutsche den Tempel des Ingerimm erreicht. Die Urfehde zu siegeln würde nurmehr eine Formsache sein. Adran hatte Glück gehabt, bis auf die Sache mit dem Familiennamen war der Inhalt unverändert geblieben. Eigentlich durfte er sich sogar als heimlicher Gewinner fühlen, der sich in ein paar Wochen am Meer der Sieben Winde verlustieren würde, mit einem stattlichen Einkommen. Lares, der seine Buße nicht mitverfolgt hatte, öffnete ihm nun die Kutschentür. Zupfte ihm ein Ziegenhaar aus dem Umhang. "Wie schaust du denn aus?"

Adran warf ihm eine verstohlene Kusshand zu.

Ein neckisches Lächeln antwortete ihm. "Und, wie war deine öffentliche Demütigung?"

"Reden wir nicht darüber", sagte Adran . "Ein wenig oronisch geht es bei solchen Gelegenheiten schon zu. Hoffen wir auf freundlichere Aufnahme in Methumis. Roana und Nele wollen uns nicht begleiten, habe ich gehört?"

Der Hochfelser seufzte. "Sie ist irgendwie verändert, deine ehemalige Knappin. Ich glaube, Nella hat dir nicht verziehen, dass du sie erst zur Ritterin gemacht und dann die Waffen gestreckt hast."

Der Oppsteiner antwortete nicht. Er ahnte, was in Lares Nichte vorging. Sie würde erwachsen werden müssen, endgültig.

Lares half ihm aus der Karosse. "War es das alles wert?"

Adran sagte eine Weile nichts, sondern ließ seinen Blick über die Häuser am Marktplatz gleiten, die meist nur noch dunkle Schemen im Nebel waren. Die Reiter, die ihn an die Grenze bringen würden, versammelten sich bereits. Es war ein Abschied für immer, auch wenn er diesen Gedanken noch nicht verinnerlicht hatte. 

"Baduron, dieser Verräter, hat mir einmal erzählt, dass es in der Sage von Levthan und Satuaria....nun, dass es dabei um den Sieg von Ackerbau und Viehzucht über die Natur geht. Die unschuldige Wildnis, deren Leib durch die Zivilisation selbst geschändet wird. Eine Hochkultur, die irgendwann in Dekadenz übergeht, entartet und gewissermaßen in die Niederhöllen stürzt. Wie der Rahjasohn, der allein durch die Liebe seiner Mutter gerettet worden ist."

Adran steuerte bei diesen Worten den Ingerimmtempel an. Lares folgte ihm.

"Das klingt schön. Du solltest wieder Gedichte schreiben."

"Waren wir dekadent, Lares - und haben Strafe verdient? Wurden wir in den Abgrund der Dämonen gestürzt? Oder vermag die Liebe uns noch zu retten?"

Der Edle von Hochfels hob Adrans Mantel über eine Pfütze hinweg. "Wer weiß, vielleicht ist das Leben ja eine einzige große Wiederkehr. Ein Rad, das sich immerfort dreht, in einem fort um sich selbst – und die unschuldige Wildnis in Wahrheit nichts anderes als das geläuterte Reich der Niederhöllen. Über die künftig wieder irgendein Hirte und Bauer obsiegen wird."

Erschrocken sah sich der Albaron von Oppstein um, aber die Kutsche war bereits ein Stück weitergefahren. Ein Empfangskomitee gab es diesmal nicht. Um sie herum wallte nur der Nebel, selbst die Eskorte war kaum zu erahnen. "Bitte Lares, keine Grübeleien über das Wesen der Welt und der Götter. Nicht heute."

Noch einmal hielt Adran inne. Eine gute Frage, trotz allem. War es das alles wert gewesen?

"Was wir in Ingerimms Namen erschaffen, das hat Bestand, mein werter Lares. Du wirst es merken, wenn wir nachher die Kutsche besteigen werden, nach Siegelung der Urfehde. Mir dünkt, sie ist ein kleines Meisterwerk der Stellmacherkunst."

 

Markt Friedwang, 30. Travia 1046 BF, Wassertag

"Eins muss ich dir lassen." Serwa tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und sah sich in der vornehmen Greifaxstube um, dem Herrengemach des "Güldenen Greifen". Wo einst - wer in Marktfriedwang würde es je vergessen? - Seine Eminenz, der Wahrer der Ordnung selbst zu Mittag gespeist hatte. Im besten und teuersten Gasthaus am Ort. "Du warst wieder einmal schneller als Alrik, mein werter Gemahl."

 "Damit meinst du aber nicht mich, mit dem werten Gemahl?" Der Altbaron von Oppstein lachte lautlos auf.  "Der Rehbraten war köstlich. Die Herbstjagd hat mir in diesem Jahr gefehlt".

 Auch Serwa war einen Moment lang amüsiert. "Ich meine meinen werten Gemahl Alrik von Friedwang, der noch immer in Oppstein weilt. Nicht meinen Kultgemahl."

 

Adran, der bereits wie ein horasischer Stutzer gekleidet war, mit Brokatweste und Rüschenkragen, schmunzelte und stieß mit seiner ehemaligen Geliebten an. "Das Schöne an meinem Weg ins Exil ist, dass die Kutsche dabei auch in Marktfriedwang Station einlegt. Gut siehst du aus, Serwa."

 Die Baronin lächelte, übertrieben geschmeichelt. "Du scheinst dich von deinem Sturz erholt zu haben, lieber Adran. Die Rechnung geht natürlich auf mich."

 "Nicht doch, nicht doch...meine Feinde haben mir zwar keine eigene Eskorte, aber dafür eine respektable Reisekasse zugestanden."

 Serwa trank den feinen Rotwein und blickte über das Kristallglas hinweg. "Schön, dass du mich nicht zu deinen Feinden zählst. Nicht mehr?"

 "Ich bitte dich. Die Staatsräson fängt oft genug schon bei uns Baronen an. Bei euch Baronen, pardon. Aber im Grunde sind wir doch alle Verbannte. Alrik wurde hinaufbefördert, ich hinausbefördert. Was dich betrifft, Serwa. Ich habe dafür gesorgt, dass jeder weiß...dass du damals Opfer eines heimtückischen Druidenzaubers geworden ist. Pharraz, dieser leibhaftige Erzdämon. Schade, dass er in den Niederhöllen schmort und ihn niemand mehr befragen kann..."

Auch Adran nippte, eine Spur zu schnell. Er hüstelte. "Vielleicht ist ja Tsalinde...in Wahrheit unser gemeinsames Kultkind. Ich meine, wenn Kor die Sichel geschwungen hat, bevor er überhaupt geboren worden ist. Warum kann sie nicht ein paar Monde vor unserer schönsten Liebesnacht zur Welt gekommen sein? "

 Serwa sah sich um, blickte zur halboffenen Tür in den Schankraum, wo das Lärmen der Gäste der beste Schutz vor heimtückischen Lauschangriffen war. Lares war so taktvoll gewesen, ihnen eine Stunde zu zweit zu gönnen. 

 "Werd zum Schluß nicht albern. Die Feenwelten haben seltsame Gesetze...aber nicht solche." Serwa legte ihren Kopf in den Nacken und blies eine graublonde Locke hoch. "Wenn, dann war es unsere heißeste Liebesnacht. Wir alle haben uns gehörig daran verbrannt, fürchte ich."

 Die gealterte Schönheit steht ihr sogar gut, dachte der Altbaron von Oppstein, nicht ohne Bedauern.

 "Firodil..." Nur mühsam kam Adran der Name über die Lippen. "Hat das wahre Kultkind sich auch...verbrannt?"

 Serwa blickte wieder nervös zur Tür.

 "Du hast ihnen doch hoffentlich nichts von Firodil erzählt?", flüsterte die Baronin.

 "Praios bewahre. Ich habe bis vor kurzem selbst nichts davon gewusst."

 "Er ist jetzt in Sicherheit. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Glaub mir. Es ist besser für dich...und unseren gemeinsamen Sohn. Für uns alle." Serwas Blick fiel auf die Triskele, das marschierende Dreibein auf dem bunten Butzenglasfenster. Die Scheibe zeigte das alte Lehnswappen von Rübenscholl "an den drei Wegen". Ihre Wege würden sich nun ebenfalls trennen, soviel stand fest.

 

"Ich bin ja schon froh, dass du mir nicht mit Alimentezahlungen kommst." Einen Moment lang war Adran wieder der alte Spötter. "Erklär mir nur eins. Was genau hat Alissia mit dieser Verzögerung bewirkt? Die Verlängerung der Fehde bis in den Winter hinein? Gekrönt von meinem persönlichen Gang nach Loskarnossa? Es ging nicht nur um Firodil, nicht wahr? Nein, lass mich raten. Die Sokramorier sollen sich in ihren Erdställen verkriechen können, mitsamt unterschlagenen Vorräten. Man nennt sie doch auch Bauernburgen, diese Verliese. Die Festungen der kleinen Leute..." 

"Dafür sind diese Schlupflöcher viel zu klein und eng. Sie sind eher dafür da, sich ein paar Stunden zu verbergen, bei einem Raubüberfall. Wie es im Krieg - im echten Krieg - allzu oft geschehen ist. Wenn oben eine feindliche Horde über Haus und Hof hinweg tobt...Die Enge ist der beste Schutz vor Eindringlingen. Aber wer möchte schon ein paar Tage oder Wochen bei Talglicht, Nässe und Kälte verbringen - und seine Notdurft verscharren müssen..."

"Serwa, es war gerade so romantisch." Adran tupfte sich mit seiner Serviette ein Weinfleckchen vom Rüschenkragen. 

 "Warum noch einige Menschen mehr sterben mussten, willst du wissen, in dieser Fehde?" Die Stimme der Baronin von Friedwang wurde deutlich kühler. "Das musst du schon deine große, wunderschöne Hexenfürstin selbst fragen. Ich nehme an, es hängt mit dem Oppsteiner Familienrat zusammen, der noch in diesem Jahr einberufen werden soll, gemäß Vertrag. Wenn Ismena schlau ist, lässt sie im Winter über die Erbfolge entscheiden, im kleinen Kreis zu Oppstein. Natürlich nur, um die Thronvakanz so kurz wie möglich zu halten, in gefährlichen Zeiten wie diesen. Leider sind winters die Wege schlecht und weit, nach Rommilys oder Perricum, wo es ebenfalls noch Familienmitglieder gibt. Traditionsbewusste Oppsteins, nach allem, was man so hört."

 "Du siehst mich enttäuscht. Redenhardts...pardon, meine Tochter Praiodane ist also gar nicht ernsthaft für die Thronfolge vorgesehen?" Nun klang Adran ernüchtert, trotz des guten Weins, des Festessens und der Ironie in seinen Worten.

 "Ich bin nicht wirklich in Ismenas Pläne eingeweiht, falls du das denkst."

 "Sei´s drum, meine Bewacher drücken schon ihre Nasen am Fenster platt - und ich möchte heute noch nach Nordenheim kommen." Adran warf die Serviette auf den Tisch. Tatsächlich war auf der anderen Seite der Butzenglasscheiben ein verschwommenes Gesicht mit Sturmhaube zu erahnen. "Besuch mich mal, in Methumis." Der Exilant stand auf, ebenso Serwa. "Wir können ja Freunde bleiben."

Beide sahen sich für einen Moment merkwürdig an. Adrans Kopf ruckte vor. Mit geschlossenen Augen spitzte er seine Lippen. 

Dann spürte er, wie ihm Serwa mit dem Tüchlein über den Bart wischte. "Du hast...da Krümel...und Soßenreste… eine Untugend alternder Männer. Schade."

"Schade was?"

 "Dass damals alles nur Druidenwerk war."

 Adran ging auflachend nach draußen. "Grüß Tsalinde von mir. Und den Kleinen."

 

"Das werde ich. Wir geben gleich eine Audienz für die Berchweiler Bauern. Alriks Tochter und ich."

 Adran drehte sich nicht um, sondern hob die Hand, als wolle er ihr über die Schulter hinweg zuwinken.

Dann fuhr er herum, nahm sie leidenschaftlich in die Arme, drückte ihr einen rahjagefälligen Kuss auf den Mund. Nach einer Weile rissen sich beide los.

Serwa lehnte sich gegen den Türrahmen und sah lange nach oben, zum uralten Deckengebälk. "Die Berchweiler, die du mit aufgestachelt hast, du Mistkerl." Einen Moment lang kämpfte sie mit den Tränen.

 

Noch im Tedescosaal der Burg spürte die Baronin von Friedwang Adrans  sinnliche Lippen - ebenso die schmerzhafte Härte des Steinbockthrons. Ein gepolsterter Sessel wie im Horasreich, das wäre ein angemessener Stuhl gewesen. Tradition hatte eben ihren Preis. Ebenso wie die noble andergastische Steineiche, auf der sie gerade saß.

 Baron Prosper Ucurian von Friedwang, genannt der Holzhacker, sollte den Rondrabaum eigenhändig zurechtgeschnitzt haben, vor mehr als 300 Jahren. Fünf Diener waren nötig gewesen, das edle Stück aus dem Thronsaal zu schleppen, beim großen Burgbrand. An diese Szene musste sie denken, angesichts des Grüppchens, das gerade in den ehrwürdig müffelnden "Alriksbau" getreten war. Auf den schmiedeeisernen Kandelabern flackerten die Kerzen.

Vornehm zu ihrer Rechten saß Baroness Tsalinde auf einem Klappstuhl, in einfacher Burgtracht, das neu erworbene Ritterschwert an ihrer Seite.

Vor ihr stand der Dorfrat von Berchweiler, gemeinhin Bauernfünfer genannt. Ganz so, wie sich ein Marktfriedwanger die als einfältig, hinterwäldlerisch und grob, eben bäurisch verschrieenen "Freyunger" vorstellte. Die "seit Rohals Zeiten" über besondere Freiheiten verfügen wollten. Serwa sprach das Schwärz ganz gut, wie die Mundart der Bergler genannt wurde. Sie würde keinen Dolmetscher brauchen.

Die Fünfer, das waren drei Männer mit Leibrock, Hose sowie feschen Rundkappen. Die Frauen trugen traviagefällige Schnürröcke nebst züchtigen Hauben.

Travinia Moreschai, die weißhaarige Haushofmeisterin, schlug dreimal mit ihrem Amtsstab auf den Boden und verkündete lauthals die Namen der Gäste – als wäre gerade eine Abordnung der Markgräfin selbst auf den inneren Burghof geritten.

Die Herren der zwölfgöttlichen Schöpfung hießen also Sumbert Senner, Alwin Rudeiner und Perainhold Misbrun, soso. Die drallen Damen Leftane Freyschütz und Saturina Rotpelz. Schlecht getarnte Namen alter Götter waren eine Spezialität, im Hohen Tal, wie das Berchweiler Land bisweilen genannt wurde. Die üblichen roten, groben, aber auch schlauen Bauerngesichter sahen sie erwartungsvoll an. Nur Perainhold Misbrun, der aus Tobrien stammte, leistete sich die Hoffart eines weit ausladenden Schnurrbarts, der aussah, als habe er sich ein Strohbüschel unter die Nase gebunden. 

Sumbert Senner, der weißhaarige Vorsteher des Dorfrats, verneigte sich würdevoll und begann eine längere Rede, in den kehligen, schwer verständlichen Lauten des Sichlerischen. "Wiii....grüeziiaaaa....öeech.... innam....funda....zwölefff...Gödlichäh...". So ähnlich klangen die Worte in den Ohren eines Uneingeweihten.

Travinia, die, mit silbergrauem Dutt, blau-rot-silbernem Amtsstab und ordentlich drapiertem Festtagsgewand irgendwie in der Zeit Kaiser Hals hängen geblieben war, räusperte sich. "Die Baronin ersucht ihre Gäste, Hochgarethi zu sprechen."

"Schon gut." Serwa hob die Hand und antwortete ebenfalls auf Schwärz, wenn auch etwas holprig. "Auch ich heiße Euch im Namen der Zwölfe willkommen. Ich spreche Sichlerisch ganz gut, denke ich, aber meine Tochter, Wohlgeboren Tsalinde, versteht davon kaum mehr als ein paar Worte." Sie deutete auf die Baroness, die schicklich und etwas kokett lächelte.

"Verzeiht, Euer Hochgeboren!" Perainhold Misbrun, der aus Tobrien stammte und als, wenn auch ziemlich wohlhabender, Flüchtling nach Berchweiler gekommen war, ergriff das Wort. "Meine Ratsfreunde sprechen allesamt kein Hochgarethi." Serwa fiel wieder einmal die Ähnlichkeit des Schwärz mit der tobrischen Mundart auf. Früher hatte es mehr Kontakt über die Berge hinweg gegeben – bevor die Dämonen gekommen waren. "Ich kann gerne übersetzen," bot der Tobrier an.

"Nicht nötig", verkündete Serwa auf Tiefländisch, die den Schwachpunkt in den Reihen der "Rebellen" entdeckt hatte. Misbrun war ein Reingeschmeckter und als solcher leicht zu verunsichern. "Soviel haben wir gar nicht zu verhandeln. Es ist keine Schande, Schwärz zu sprechen. Meine Tochter würde diese liebenswerte Sprache gerne lernen. Vielleicht könnten die Berchweiler sie ja unterrichten, im Hohen Tal?"

"Sehr gerne", sagte Perainhold und tappte damit bereits in die erste Falle.

"Gut". Ihre Hochgeboren nickte. "Sie wird dort den Weldornhof weiterführen und ebenso den Heldarnsturm, als Ritterlehen. Im Gegenzug werde ich über gewisse Verfehlungen des Bauernrats hinwegsehen. Sumudane Hornhusen, die Berchvögtin, ist nicht mitgereist?"

"Sie weilt noch immer in ihrer Burg, zusammen mit dem Kastellan."

"Burg?"

"Ein paar Anbauten gab es in den letzten Götterläufen schon...was mit ein Grund für den Unmut der Berchweiler ist. Es gibt die Sorge, Hochgeboren, dass eine entsprechende Besatzung Einzug halten könnte...und die alte Schwarzsychler Fryheyt mißachtet wird."

Serwa legte eine Hand über die andere. "Einige Nebengebäude machen noch keine Burg, mein werter Misbrun. Dafür bräuchte es feste Mauern außen herum. Die gibt es in diesem Fall nicht. Turmhof nennt man dergleichen im Sichelhag."

"Oder Ansitz eines Herrn." Perainhold wagte nun doch ein wenig aufzumucken.

"Die blutigen Überfälle der letzten Jahre haben gezeigt, dass es eine Zuflucht für die Menschen und besseren Schutz der Vorräte braucht. Ich handle damit ganz im Sinne von Berchweiler." Serwa sprach mit fester Stimme. 

"So soll Baroness Tsalinde also...mit dem Titel einer Rittfrau über das Hohe Tal herrschen?" Perainholds Empörung war kaum zu überhören. Unter seinen Reisegefährten wurde Getuschel laut. Der Tobrier "übersetzte" für seine Begleiter, die vom bislang Gesagten kaum die Hälfte verstanden haben mochten.

"Selbstverständlich taste ich die alten Vorrechte des Berchweiler Lands nicht an", verkündete die Baronin huldvoll. "Nachdem Sumudane Hornhusen als Berchvögtin abgesetzt worden ist, wird wohl wieder eine Vogtwahl anstehen? Gibt es da schon Bewerber...? Oder Bewerberinnen?"

Aufgeregtes Murmeln im Saal. Diesmal schien sich Perainhold mit den übrigen Großbauern abzustimmen.

"Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor, Hochgeboren. Sumudane wurde gar nicht abgesetzt. Das ist allein der Bauernversammlung erlaubt, die an Sonnwend tagt, sommers wie winters. Ebensowenig haben wir die Vögtin bedroht. Es gab überhaupt keinen Aufstand! Sumudane hat sich allein aus Furcht vor den Namenlosen Tagen in den Turm zurückgezogen. Ein paar falsche Gerüchte haben sich ebenfalls verbreitet, das mag sein. Das war wohl mit ein Grund für Sumudanes Sorge. Wir mussten ja damit rechnen, dass der Oppsteiner bald auch noch unser Tal überfällt.""

Serwa lachte innerlich auf. Das waren nun wirklich grottenschlechte, windelweiche Ausreden. Allerdings, das mit den Vorrechten der Bauernversammlung hatte wiederum sie übersehen.

Perainhold räusperte sich. "Natürlich ist die Unruhe im Dorf groß, ob des Fehlens der Amtsglocke unserer Vögtin. Wenn die Glocke nicht zu Sonnwend schallt, der Vogt im Amte wird nicht alt. So heißt es seit alters her. Die Bauernversammlung hätte jedes Recht gehabt, die schlechte Glockenhüterin abzusetzen. Aber nachdem uns Sumudane glaubhaft versichert hat, dass Ihr die Schelle bald schon zurückgeben werdet...woraus dann doch einige Monde geworden sind..."

"Spätestens bis zur Wintersonnenwende solltet Ihr die Treichel zurückerhalten, ganz Recht", sagte Serwa. "Bis zum Firun sind es noch ein paar Tage. Ganz abgesehen davon, dass ich die Treichel nicht gestohlen habe." Die Baronin schärfte ihre Stimme. "Jemand hat versucht, die Berchweiler aufzuwiegeln, das ist doch eindeutig. Meine Wachen haben das Amtszeichen der Vögtin...in einem Versteck gefunden. Vergraben. Danach war erst einmal eine aufwändige Restauration nötig. Eine rostige und zerbeulte Treichel halte wiederum ich mit der Würde des Vogtamtes nicht für vereinbar!"

"Das Wichtigste ist, dass die Amtsglocke zur Wintersonnenwende, im Firun, wieder in Berchweiler ist. Wie es das Dorfweistum verlangt."

"Treichel, man sagt Treichel dazu, nicht Glocke oder Schelle." Serwa klang bewusst besserwisserisch. "Treicheln werden geschmiedet, aus Eisen, und Eisen rostet. Ein paar hässliche Schrammen hatte die Rohalskappe ebenfalls. Nun...Wie Ihr wisst, hat Baroness Tsalinde vor kurzem ihre Knappschaft in Albenhus beendet. Dort gibt es einen überaus fähigen Zwergenschmied, Ramox, Sohn des Rambax. Ein geweihter Diener des Ingerimm noch dazu. Meister Ramox hat das Eisen aufpoliert und den völlig vergammelten Tragriemen ausgetauscht. Jetzt kann sich die Treichel wieder sehen lassen."

Serwa musste zugeben, dass Ramox fast schon zu viel handwerklichen Ehrgeiz entwickelt hatte. Die neue Rohalskappe sah sicher besser aus als die alte, leider auch ziemlich neu. Der Angroschpriester hatte sie formvollendet aus zwei Halbschalen geschmiedet, und diese innen mittels Kupferbändern aneinander geheftet. Der Name Rohalskappe kam nicht von ungefähr. Sie war das Zeichen der Berchvogtenwürde ebenso wie der Schwarzsichler Freiheit. Bei den Umzügen zur Winter- und Sommersonnenwende wurde die Treichel vorneweg getragen, um mit ihrem Klang die bösen Geister zu vertreiben.

"Ach ja, neu gestimmt musste sie auch werden", fügte Serwa lächelnd hinzu.

Die Bauern sahen verstört drein, als hätte die Baronin gerade verkündet, ihre Leitkühe und Stiere geschlachtet und durch Maultiere ersetzt zu haben. Es folgten aufgeregte Zwiegespräche auf Schwärz, die schließlich von Serwas klarer Stimme übertönt wurden. 

"Ich weiß, dass seit langer Zeit Misstrauen zwischen Burg Friedstein und dem Hohen Tal herrscht. Ein Misstrauen, dass wir nach all den Jahren, in denen uns der grimme Kor heimgesucht hat, endlich beiseite legen sollten. Man trage die Treichel herbei!"

Zwei Diener traten ein, mit einer Stange, an der wiederum die Rohalskappe hing. Die matt glänzende, anderthalb Schritt hohe Treichel sah tatsächlich einer Magierkappe ähnlich, was auch an den bunten Verzierungen lag, mit denen das Eisen bemalt war. Der Schwengel bimmelte vollmundig, tief und leicht blechern - die Baronin hatte keine Ahnung, ob das wahre Amtszeichen auch nur annähernd ähnlich geklungen hatte.

Eine derart große Fahrtreichel wurde dem Vieh nur beim Almauf- wie Abtrieb umgelegt. Der Halteriemen war mit eher einfachen Motiven verziert: Sokramor und ihre Sichel, ein traviagefälliges Bauernpaar, Hütehunde, Peraine mit Getreidegarbe und Pflug sowie Rahja als Hüterin der Viehzucht, nebst prachtvollem Stier und glücklicher Kuh. Dazu gesellte sich eine prächtige Schnalle, ein kleines Kunstwerk für sich. Zum Glück hatte es Zeichnungen und sogar ein Gemälde vom Insignium gegeben, dank des Marktfriedwanger Künstlers Menzel Pulverberger, der mehr als nur Wandgemälde oder Lüftlmalerei beherrschte.  

Beim durchdringenden Klang allein hielten die Bergbauern ergriffen inne. "Das ische....unner Trichl isch zrügg", verkündete Sumbert Senner ergriffen und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Serwa hatte gefürchtet, ob der funkelnagelneu aussehenden "Glocke" verlacht zu werden, aber die Berchweiler Ehrwürdigen schienen auf den Betrug herein zu fallen. Fast schon schämte sich die Baronin für eine derart plumpe Täuschung und "Bauernfängerei".

Serwa stand leutselig lächelnd auf und ging auf den Ratsvorsteher zu, mit ausgestreckter Hand. Die Berchweiler Bauern waren störrisch und stur, aber ein Geschäft mit Handschlag zählte bei ihnen kaum geringer als die Ochsenbluter Urkunde in der Welt des Hochadels.

"So sind wir uns also einig?" sagte sie, mehr in Richtung des Tobriers. "Baroness Tsalinde wird Rittfrau vom Hohen Tal, erhält den Weldornhof und den Heldarnsturm als barönliche Lehen? Im Gegenzug sehe ich, nebst meinem Gemahl, großzügig...über gewisse Missverständnisse hinweg. Sumudane Hornhusen bleibt Berchvögtin, da sie sich ja nun wieder im Besitz der Amtstreichel befindet."

Sumbert Senner nickte ernst und verkniff sich ein paar Tränen, wie die Baronin vor kurzem selbst. Dann schloss sich seine schwielige Bauernpranke um Serwas zarte, schlanke, helle Aristokratenhand. 



Es dauerte eine Weile, bis Serwa sich traute, ihre Finger auf den efeuumrankten Elfenbalkon zu legen. Immerhin war an gleicher Stelle einmal eine Blütenfee herausgeflogen.

Ihre Tochter Tsalinde, die davon nichts wusste, war weniger befangen. Sie blickte den Berchweiler Bauernfünfern hinterher, die ihre Maultiere bestiegen hatten und, ergriffen von der eigenen Würde, vom Hof zockelten.

Dabei stützte sich die Baroness auf die kleine Balustrade. Zum ersten Mal seit langem standen sie beide sich wieder nahe, im Wortsinn. Serwa drehte sich wieder Richtung Rohalssaal. "Du fragst dich sicherlich, warum wir die Abmachung mit dem Dorfrat geschlossen haben? Und nicht mit der Berchvögtin? Die Fünf sind weit einflussreicher, glaub es mir...alles wird so geschehen, wie vereinbart."

 

Tsalinde, die wie eine nordmärkische Ritterin gewandet war, inklusive Gambeson und Topfhelmfrisur, ging ebenfalls  in den barönlichen  Festsaal, der im Licht eines schönen Herbsttages glänzte. "Du hast dich noch einmal mit...Adran getroffen?" fragte sie unvermittelt.

 

Serwa schwieg, fast ein wenig erschrocken. Nun ja, sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, das gemeinsame Mittagessen geheimhalten zu können. "Es war ein Abschluss, Tsalinde....Ich...ich soll dich von ihm grüßen." Die Baronin biss sich auf die Unterlippen. Was redete sie da? Es klang, als würde sie Adran wirklich noch für den leiblichen Vater Tsalindes halten.

 

Die künftige Ritterin vom Hohen Tal sah sie durchdringend an. "Du scheinst also nicht mehr davon auszugehen, dass er mich ermorden lassen wollte...oben auf dem Pass...der Freundschaft?" Tsalindes Hand ruhte auf ihrem Schwert, mit sichtbarem Stolz. Die goldenen Sporen anzulegen, darauf hatte die Baroness mit Rücksicht auf das feine Parkett verzichtet. "Hätte ich ihm...selbst Gift in den Wein mischen sollen?" antwortete Serwa, schnippischer als beabsichtigt.

 "Da fällt mir ein." Tsalinde kramte in ihrer Umhängetasche und zog einen kleinen Flakon hervor. "Ein kleines Mitbringsel aus der Kaiserstadt. Das hab ich bei einem Garether Parfümeur gefunden. Es wird aus Gebirgsblumen der Schwarzen Sichel hergestellt..."

 Ihre Mutter entstöpselte das Fläschchen und roch daran. Ein kampferartiger, feinwürziger Geruch bereitete sich im Saal aus.

 "Möchtest du damit andeuten, dass meinem Treffen mit Adran...meinem letzten Treffen...ein übler Geruch anhaftet?" Serwa versuchte flapsig zu klingen. "Betörend riecht es...ich danke dir für dein Geschenk." Sie schnupperte noch einmal am Parfüm. "Glaubst du wirklich, dass Adran der Auftraggeber war?"

 "Ich hatte Zeit, mich mit Hochwürden Malachanias zu unterhalten, auf dem Weg zum Großen Fluss. Er meinte, der Anstifter der Bande wäre ein gewisser Vigo gewesen. Ein Bornländer. Ein Schmuggler, der den Schattenländern ebenso nahestehen soll wie...mögen die Zwölfe uns beistehen...den, dessen Namen man nicht mehr nennt. Nun, Hochwürden ist der Meinung, dass das Attentat mit früheren Schreckenstaten zusammenhängt, die gegen das Haus Gernatsborn-Mersingen verübt worden sind. Zuletzt wurde ja mit einem Armbrustbolzen auf Glyrana geschossen. Onkel Odilon hat die Dienerin des Namenlosen zur Strecke gebracht, die zweimal Anschläge auf Storkos Familie verübt hat...das war wohl die Vergeltung. Die vor allem Odilon treffen sollte." Tsalinde fröstelte, trotz des freundlichen Traviatags. "Vergeltung, ein fürchterliches Wort.  Schlimmer als Rache. Die begeht man aus einem Überschwang aus Gefühlen heraus...nicht so...so...kalt...und..."

 "Erbarmungslos?" half die Baronin ihrer Tochter. Diese nickte. 

 Serwa dachte an die Inrahkarten, die sie in Beisein Ludwinas gelegt hatte. An den Magier der Luft, der erschienen war, als warnender Hinweis vor Täuschung und Intrige. Wenn sie ehrlich war, wusste die Hexenschülerin bis heute nicht, was es damit auf sich haben sollte. Nur, dass es womöglich um den Herrensitz eines Adeligen ging. 

War sie Adran schon wieder auf den Leim gegangen? Oder stand hinter allem der grausame Gott ohne Namen, der die Adeligen des Sichelhags gegeneinander hetzen wollte? 

 "Wir müssen schnellstmöglich Frieden schließen", sagte sie. "Echten, dauerhaften Frieden. Womöglich sind wir selbst es, die uns in einem fort täuschen und blenden, im Wahn, Recht zu haben. Im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Ja, vielleicht wollen die Karten genau das sagen. Intrigen sind ein verlockendes Rauschkraut...ein betörendes Gift...womöglich war sogar Burg Friedstein gemeint, mit dem Schloss voller fliegender Fische und Falschgold."

 Tsalinde blickte verständnislos. "Rauschkraut, Mutter?" Sie schnupperte  am Flakon. "So betörend riecht es jetzt auch wieder nicht."

Serwa schüttelte den Kopf. "Ach nichts, mein Kind. Wir sollten wieder einmal gemeinsam musizieren, findest du nicht?"

 

Natternwiesen, 1. Firun 1046, Rohalstag

 

Was für eine firunsverfluchte Kälte. Die Finger der Ritterin strichen über den Pelzbesatz des schneebestäubten Wintermantels. Schaffell, vermutlich. Die Wölfin im Schafpelz war in diesem Fall sie selbst. Schwer baumelte das Schwert an ihrer Seite, das Neles erstem Opfer gewaltsam entrissen worden war. Ein heißer Trank wurde ihr gereicht. Sie nickte dem Bauern dankbar zu, dessen bärtiges Gesicht eine dicke Haube zierte.

Neles zitternde Hände schlossen sich um den bunten, mit Jagdmotiven bemalten Tonbecher, in dem der Würzwein dampfte. Ein Lagerfeuer prasselte tapfer gegen den Schneefall an. Obwohl es heller Tag sein sollte, waren die Kornmühle, das Dorf und der Ritterturm derer zu Natternwiesen, der auf der Insel zwischen den beiden Bachläufen aufragte, nur mehr Schemen im endlosen Flockenspiel.

Um sie herum erstreckten sich die verschneite Allmende, die Weiden und Äcker der Natternwiesner. Dazwischen schlängelte sich der Oppenbach, der an einigen Stellen zugefroren war. Hier, im äußersten Südwesten der Baronie, floss der dunkle Bachlauf breit und langsam. Die gefrorenen Natternwiesen - die nassen Wiesen - die man sonst kaum trockenen Fußes betreten konnte, waren gefroren und weiß verhüllt.

Die Augen der Ritterin suchten das berühmte Tor zum Reich der Sokramor, dass von den Zwölflern schlicht "Schluckloch" genannt wurde – mit gehässigem Unterton, ganz so, als wäre die schlafende Gigantin eine trunkene Säuferin. Irgendwo in ihrem Blickfeld musste der Bach in den Tiefen der Sumu verschwinden, gleich dem Reich des Lichtes und der Sonne, das im Winterhalbjahr der Dunkelheit wich, um im Frühjahr mit neuer Macht zurückzukehren. 

Neles Blick ging zu den Kindern, die auf der erstarrten Feuchtwiese Schlittschuh liefen. Auf einem weiteren Feuer wurde dampfende Suppe gekocht und in Holznäpfe geschöpft, für das einfache Volk, das verlarvt war oder dick eingemummt war wie die Moosenwaldterin selbst. Die fein säuberlich geschnitzten Masken, die beim nächtlichen Umzug getragen werden würden, stellten Kreaturen aus der Wilden Jagd dar: die Köpfe von Hirschen, Wölfen, Bären, Füchsen, Löwen, Hunden, Ziegen, Kobolden, ebenso die eine oder andere Artema oder Sokramor.

Irgendein Halbstarker mit Wolfskopf warf seiner hübschen, zierlichen Angebeteten ein Rahjaherz zu, indem er seine Hände zu eben dieser Geste formte. Die Ritterin musste an die Schwerterburg denken. An das herzförmige, schwere Vorhängeschloss, das die Tür zum Proviantlager hatte schützen sollen.

An ihre nächtliche Begegnung in der Vorratskammer. Wieder und wieder sah sie seitdem den verhüllten Schatten vor sich, der ihr den Sack mit Diebesgut um die Ohren geschlagen hatte. Welcher Büttel wäre so dreist, seine Kameraden zu verraten – und sich derart die Tasche vollzustopfen? Das verzweifelte, peinigende Gefühl, dieses Phantom bereits zu kennen und doch nicht zu erkennen, hatte sie seitdem nicht mehr losgelassen. Ein langes weißes Hemd, das hatte sie einen Moment lang aufblitzen sehen: ein Nachthemd?

Kein einfacher Diener hatte auf der Schwerterburg ein Nachthemd getragen, und auch der Kapuzenmantel hatte recht vornehm gewirkt. Der Unbekannte war ein Mann gewesen, da war sie sich ebenfalls sicher. Den Schlüssel, der auf dem Boden gelegen hatte, den würde ein kleiner Spießknecht nicht so schnell in seinen Besitz bringen.

Es konnte eigentlich nur Lares gewesen sein, oder, ein noch schrecklicherer Gedanke, Seine Hochgeboren Adran selbst. Der gestürzte Baron, für den sie ihr Leben riskiert – schlimmer noch, für den sie selbst getötet hatte...Nele schluckte. Fast kam es ihr so vor, als habe sie den Dieb deutlich gesehen. Als weigere sich ihr Innerstes, zu gestehen, wen sie erkannt hatte. War ihr einstiger Schwertvater wirklich ein derart schwacher, ja, erbärmlicher Mensch? Dem es nur um sein eigenes Wohlleben ging? 

Ah, da vorne war der Oppenbach zu Ende und schien einfach unter der Schneedecke zu verschwinden.

Immer wieder schlichen sich Erwachsene verstohlen zum Bachlauf und warfen oder schütteten etwas hinein: Kräuterbüschel, wohlgeformte Steine, Salz, Met und Wein – einfache Opfergaben an die Bergmutter. Die Ritterin war schon früher ein paar Mal zur Wintersonnenwende am Sokramorstor gewesen. Wenn ihre Erinnerung nicht täuschte, war der "Tag der Jagd" damals fröhlicher und vor allem offener gefeiert worden.

Der Glaube an die Alten haftete in diesem Götterlauf, so kurz nach der verlorenen Fehde, das Odium des Verbotenen, ja, des Aufruhrs und der Ketzerei an. Nur die Dorfjugend machte sich weiterhin und völlig unbekümmert einen Spaß daraus, Strohwische oder Zunderbällchen zu entflammen, um sie in den Bach zu werfen. Lichtwichteln wurde dieser harmlose Brauch genannt. Ob es stimmte, dass die Feinde der Göttin diesen heiligen Ort mit Jauche und Unrat geschändet hatten? Dass es in diesem Jahr streng verboten sein sollte, der Dunklen Herrin zu opfern? 

Ihre Mutter Roana schien ganz froh zu sein, durch den Feiertag einen Vorwand zu haben, ihr Gesicht vor aller Welt zu verbergen. Nur kurz lüpfte sie ihre schneeweiße Löwenmaske, um mit ihrem Nebenmann zu sprechen, den wohlbeleibten Ritter Ardemar von Natternwiesen. "Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist..." Ihre Augen irrten umher, als suchten sie bereits nach Ismenas Spähern. Dampf stieg aus ihrem Mund, wie phexischer Nebel.

"Du bist meine Base, Roana", dröhnte der vollbärtige, rotbackige Grundherr, scheinbar vergnügt. "Eine entfernte Base, gewiss...aber doch verwandtes Fleisch und Blut. Wer möchte dich daran hindern, zusammen mit der Familie Jagdtag zu feiern? Das hier ist noch immer ein Reich freier Adeliger, nicht Thalusa oder Mengbilla. Geschweige denn Yol-Ghurmak."

"Die anderen...?"

"Warten schon", sagte Ardemar feierlich und reichte seinen Becher einem einfältig blickenden Diener. "Kommt mit." Der stämmige Rittersmann entzündete mehrere Fackeln und übergab sie den beiden Begleiterinnen.

Sie stapften durch den Schnee, auf ein kleines Wäldchen zu, das sich an die Ausläufer der Felsen schmiegte. Der Weg verlief zwischen großen Felsblöcken hindurch. Die Schatten waren tief und die Fackeln selbst jetzt, bei Tage nötig. "Manche glauben, dass der Kornmühlenteich bereits das Ende des Oppenbachs ist. Noch mehr sind überzeugt, dass er einfach auf der Natternwiese verschwindet, wie eine kleine Schlange, die sich in der Erde verkriecht. Ein Blick auf das eigentliche Tor zu erhaschen, das ist nur wenigen vergönnt."

Im teils gelbbräunlichen, teils schwarzgrauen, teils schneebedeckten Kalkschiefergestein war eine enge, lichtlose Spalte zu sehen – nicht wirklich versteckt, aber doch unscheinbar.

Es war gar nicht so einfach, sich durch die Engstelle zu zwängen, zumal der Spalt nach unten führte, über klackerndes Geröll hinweg. Schließlich enthüllte das Fackellicht den Beginn einer Grotte. In der Nähe rauschte Wasser. Tatsächlich, der Fels weitete sich– der Oppenbach strömte scheinbar aus dem Nichts herein, gurgelte durch eine kleine Tropfsteinhöhle und verschwand auf der anderen Seite wieder im Dunklen. Ob er wirklich viele Meilen weiter südlich wieder ans Tageslicht treten würde, in der Baronie Friedwang, als Rauschenbach?


Oder war das hier das Tor zur Unterwelt, das tatsächlich in Sokramors Reich führte? Dass schon allein deswegen niemand gesehen hatte, weil es in vollkommener Dunkelheit liegen sollte, in unvorstellbaren Tiefen? Würde Nele, falls sie so verrückt sein würde, ins eiskalte Wasser zu springen, vielleicht sogar im Unterland herauskommen, wie die Anderwelt mitunter genannt wurde?


Neles Angst und Beklemmung wich zunehmend kindlicher Ehrfurcht. Wie warm und trocken es war, sah man von gelegentlichen Wasserspritzern ab. Eine wahre Zuflucht in diesem grausamen Winter.

Ardemar folgte einem Pfad, der seitlich des Bachs verlief. Die Grotte war gar nicht so klein, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Auf der anderen Seite flackerte ebenfalls Licht, aus einer Seitenhöhle. Ein kleine Holzbrücke führte über den Bach. Es war unmöglich, dass die Stämme durch die schmale Spalte geschoben worden waren, durch die sie hereingekommen waren. Es musste also mindestens noch einen anderen Zugang geben.

Nach einigen Schritten über altes Holz hinweg standen sie auf einer Steininsel, die durch einen schmaleren, ruhigeren Bachlauf von der übrigen Höhle abgetrennt war. Der ließ sich leicht durchschreiten. Neles Blick fiel auf welke Kräuterbüschelchen, verbranntes Stroh und schwärzliche Zunderbröckchen, die angespült worden waren. Wenn es noch eines letzten Beweises bedurft hätte, dass es wirklich der Oppenbach war, der aus dem Fels hereinströmte, hier lag er herum. 


Sie betraten die Nebenhöhle, in der sanft glitzernde Stalagmiten und Stalaktiten wuchsen. Es fühlte sich seltsam an, über das glatte, runde Gestein hinweg zu laufen. Ab und zu war das zarte Patsch, Patsch, Patsch herabfallender Tropfen zu hören. Rotes Flackerlicht spiegelte sich an den Wänden und der Decke. Der Ort wirkte unwirklich, so nahe an der Menschenwelt und doch so fern vom munteren Treiben auf den Natternwiesen.

In der Mitte des steinernen Saals brannten mehrere festgeklemmte Fackeln und Talglichter. Die Ritterin spürte einen leichten Luftzug im Gesicht.

Rund um einen rundlichen Steintisch standen vier Gestalten, die, mit einer Ausnahme, ihre Masken abgelegt hatten und sich leise unterhielten. Die Stimmen hallten als murmelndes Echo von den Wänden wieder. Auf dem größten Stein lag ein brauner Pferdekopf mit markanter weißer Blesse, der offenkundig ausgestopft war. Der stoppelhaarige Herr von Immeln sah auf und humpelte ihnen entgegen. Er hinkte tatsächlich stark, mit dem linken Bein. Nach einer knappen Begrüßung leuchtete der Ritter zusätzlich den Weg, was nötig war, den der richtige "Pfad" durch die Stalagmiten, über den gewellten Boden hinweg, war nur schwer zu finden. Was für eine Zwergenwelt.

Schließlich standen die Neuankömmlinge am Felsblock. War das etwa der berühmte Stein, dem die Hausritter der Oppsteiner ihren Namen verdankten? Oder handelte es sich bei dem groben Klotz nur um eine Anspielung auf die Ritter vom Stein? Er schien vor Urzeiten mal von der Deckenhöhle gefallen zu sein und erinnerte Nele eher daran, dass selbst Blaublütige von oben herab stürzen konnten.

Die junge Frau linkerhand des Immelners war Ferocia von Grünau, die Tochter der Ritterin Faline von Grünau, die in der Schlacht am Oppenbach gefallen war. In ihren Händen hielt sie eine niedliche Hundemaske. Ein Magier stand ebenfalls am Tisch, in prachtvoller Robe, dessen roter Zopfbart ihn als Magister Baduron auswies, Spottname Meister Hühnerbart. Das teure Hennarot, das aus den Tulamidenland stammte, war schon ziemlich ausgebleicht und eher ein helles Purpur. Den dritten Mann erkannte Nele nicht, sein Gesicht blieb unter einer "gesichtslosen" Maske verborgen. Die Runde begutachtete gerade eine vergilbte Karte, die, beschwert durch vier Hufeisen, neben dem Pferdekopf lag.

In der Höhle gab es noch mehr Leben. Spinnen huschten umher. Das kleine Kriechtier dort drüben, das hinter einem "Drachenzahn" verschwand, sah aus wie ein Lurch. An der Höhlendecke hingen Fledermäuse, kopfüber. Ein anderes Flügeltier schwirrte lautlos vorbei - eine Eule?

"Ich begrüße Euch zu unserer Runde, ihr Ritter vom Stein...und Freunde des Hauses Oppstein", verkündete Sigerich von Immeln laut, der hinkende Herr des gleichnamigen Dörfchens. "Des wahren Hauses Oppstein."

"Des Warenhauses Oppstein, Sigerich?" Der dicke Natternwieser tat so, als habe er sich verhört, was ob des ständigen leichten Echos sogar möglich gewesen wäre.

Sigerich überhörte die Sottise. Stattdessen strich er lieber über die Mähne des ausgestopften Pferdekopfs. Nele war der fragende Blick wohl anzumerken.

"Feuerflocke" grinste der Immelner, mit eigenartig verkniffenem Gesicht. "Der Gaul des Streunerbarons. Den hab ich ihm abgestochen, diesem Hochstapler, geradewegs unterm Hintern weg. Ich hatte Glück, der Schinder von Oppstein war so schlau, das Haupt aufzuheben und zu präparieren. Ein würdiges Andenken, an die Schlacht im Hütewald. Es ziert nun meine Trophäensammlung."

Ein metallisches Klirren war zu hören, als er nach einem von vier Hufeisen griff. "Die Glücksbringer hat der Abdecker auch noch mitgenommen. In dem einen steckt sogar noch ein Nagel, haha." Sigerichs Finger tippte gegen eine rostigen, krummen Dorn, der aus dem Eisen ragte. Unter seinem Umhang glänzte matt eine nachtschwarze Rüstung.

Nele sah, wie ihre Mutter leicht angewidert, aber mehr noch irritiert ihr schönes Gesicht verzog. Groll und Erbitterung gegenüber einem siegreichen Feind waren keinesfalls ungewöhnlich, aber in Sigerichs Stimme bebte nackter, kalter Hass. Gemischt mit einem Hauch von Wahnsinn...?! Alrik hatte ihm die Kniekehle durchtrennt, im Zweikampf, und dann mehrere Wochen lang auf Burg Friedstein eingekerkert. Solange, bis ihm des Immelners Familie die Kosten des Streitrosses überreichlich erstattet hatte. Wenn man das Herauspressen von Lösegeld derart feinsinnig umschreiben wollte.

"Dardulan von Sturmfels gibt sich nicht die Ehre?" Die Stimme Ferocias von Grünau klang überbeherrscht. Aber ihrem verhärmten Gesicht war anzumerken, dass sie noch immer um ihre Mutter trauerte, die in der Schlacht von einem gewaltigen Ballistenspeer durchbohrt worden war.


Ardemar schnaubte. "Ich dachte, der edle Ritter würde uns getreulich Bericht erstatten, nach seiner Rückkehr aus der Goblinwehr. Nachdem sie ihn auf Ehrenwort freigelassen haben, unsere ach so rondrianischen Gegner. Er musste ja unbedingt diesen Firunstempel einweihen..."

"So hat er sich nicht an sein Ehrenwort gehalten und ist geflohen?" Ferocia wischte sich mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. "Vom Sturmfelser hätte ich wahrlich mehr erwartet. Dem Treuesten der Treuesten, wie ihn Adran genannt hat."

"Gewiss, ehrenpusselig war Redenhardts Günstling schon immer". Ardemar winkte ab. "Nein, getürmt ist Dardulan nicht, wohin auch. Offenbar hat es ihm zuhause auf seinem Gut besser gefallen. So dass er sich Ismena vollends unterworfen hat."

In den Augen des Ritters von Natternwiesen lag ein merkwürdiger Glanz. Seine Stimme verkündete weniger Verachtung als gramvolle Bewunderung ob des geschickten Verhaltens des Sturmfelsers. Dem er früher hätte nacheifern sollen, um sich einige Wochen auf halber Ration zu ersparen?

Sigerich hingegen war deutlich mißgelaunter. "Dieser Verräter..." keuchte er voller Abscheu und verzog, kaum weniger theatralisch, sein Gesicht, das körperlich wie seelischen Schmerz zeigte.


"Der Firungeweihte… dieser Albrecht soll ihn darum gebeten haben, sich dem Willen des Weißen Jägers zu beugen." Roana hüstelte. "Dem Recht des Stärkeren und besser Angepassten. Immerhin ist Dardulan für seinen Herrn in den Kampf gezogen, anders als manch anderer Vasall in dieser Fehde. Der Sturmfelser hat ein gutes Wort für uns eingelegt, sonst wären wir nicht so schnell frei gekommen. Nicht einmal unsere Güter will Ismena antasten. "

Sigerich sah sie ausdruckslos an. "Ja, und dein Bruder Corelian soll Gut Blauweiher zurückerhalten. Oder das, was davon noch übrig ist...Welch überaus erfreuliche Entwicklung, gewiss...mit dem Hause Friedwang als weiterem Nutznießer, dem Corelians werte Gemahlin entstammt."

"Was ist dagegen einzuwenden, wenn eine überwucherte Ruine mit neuem Leben erfüllt wird?" Roanas Augen blitzten wie Rondraspeere.

"Ich halte das ebenfalls für eine erfreuliche Entwicklung", sagte der Natternwieser schnell, bevor sich ein echtes Streitgespräch entwickeln konnte.  "Mein lieber Sigerich. Bei einem Rennen auf das eigene Pferd zu setzen ist das eine. Auf ein totes Pferd zu setzen etwas völlig anderes." Ardemar ließ sich anmerken, dass er die "Pferdetrophäe" ebenfalls als geschmacklose, wenn nicht unehrenhafte und firunslästerliche Idee sah. Die mit einem zartsüßlichen Geruch daran erinnerte, dass sich der Abdecker mit dem Präparieren Zeit gelassen hatte. Bei den Maskenträgern oben war jedenfalls ab und an der Kopf von Eisegrein zu sehen gewesen, wie das schwarze Himmelsross des Weißen Jägers genannt wurde.

"Niemand kann rechtens von uns verlangen, uns zu opfern wie Sokramor. Unsere Lehen und Titel einfach wegzuwerfen. Nach all den Generationen, die unsere Familien jetzt schon in Oppstein ansässig sind." Der Ritter rümpfte die Nase und sah sich um. "Praiodane hat sich ebenfalls nicht eingefunden?!"

"Die Edle von Senwitz steht gewiss unter strengerer Beobachtung als wir", antwortete Sigerich, und klang nun seinerseits entschuldigend. "Außerdem bereitet sie gerade ihre Hochzeit mit diesem Rommilyser Patrizier vor. Vielleicht will sie sich wirklich mit dem Spatz in der Hand begnügen.  Statt nach der Taube auf dem Dach zu greifen. "

"Wer weiß das schon? Sich mit einem Baernfarn zu verheiraten könnte ein kluger Garadanzug sein. Die Rommilyser oder Perricumer Oppsteins sind unberechenbar....wenn sie denn ihren Weg zum Stammsitz finden. "

"Ich bitte dich, Ardemar. Der Oppsteiner Familienrat im Tsa, der wird gewiss nicht ablaufen wie die Wahl zum bornischen Adelsmarschall...Selbstverständlich werden die Sieger das Rondritscherl auf den Drachenthron heben, und niemanden sonst. Als Mirhamionette der Mersingens noch dazu."

"Schön, und was ist dann der Sinn des Treffens hier?" wollte Roana mit zunehmender Ungeduld wissen. Sie nahm die Löwenmaske endgültig ab und schüttelte ihre Haare frei. "Kommen wir als Veteranen zusammen...um Kriegserlebnisse auszutauschen? Wie ich sehe, ist Herr Magister Baduron auch schon wieder auf freiem Fuß? Wenn sogar ein Falkwart Malachanias von Zaunberg gnädig ist...dann sehe ich mit einer gewissen Zuversicht in die Zukunft."

Der Magier griff nach seinem Zauberstab, den er gegen einen Felsen gelehnt hatte, und verneigte sich huldvoll. "Der Hexenkommissar musste einsehen, dass seine Vorwürfe vollkommen haltlos waren. Es war nicht einfach, Zeugen dafür zu finden, dass ich während der Zeremonie im Ingerimmtempel eine astrale Meditation durchgeführt habe, am Oppenbach. Ich habe sie selbst nicht gesehen, die fleißigen Bauern, die  mit ihrem Tagwerk beschäftigt waren...Hätte ich Adran reizen sollen, durch meine Anwesenheit im Tempel? Es ist jedenfalls glimpflich ausgegangen. Am Ende musste ich mich nicht einmal an die Gilde wenden..."


"Das freut mich", sagte Roana ehrlich. "Was hat man Euch eigentlich genau vorgeworfen?"

"Unsinn. Nichts als Unsinn. Ich soll die Unterzeichnung des Friedensvertrags sabotiert und Adran auf ketzerische Gedanken gebracht haben. Angeblich würde sich die Lehre der 13 Weltzeitalter nur in verbotenen Büchern finden". Der Tobrier senkte seine Stimme ein wenig, konnte einen wispernden Nachhall aber nicht verhindern. Unruhige Schatten wanderten über die Felswände. "Mumpitz, das Ganze, wie ihn sich nur verbohrte Praioten ausdenken können. Am Ende wurde mir lediglich ein Tadel erteilt...eine scharfe Rüge. Ich solle in Zukunft aufhören, Verdacht zu erregen." Baduron lachte hohl auf. "Die Logik der Praioskirche ist wirklich bestechend."

"Wenn ihr keinen Verdacht erregen wollt...dann wäre es besser, Euch nicht in dunklen Höhlen herumzutreiben, Herr Magister." Roana schmunzelte. "Und wer ist der vierte Mann in dieser Runde?" Die Hochfelserin musterte den Fremden misstrauisch. "Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt..."

"Oh, verzeiht, Wohlgeboren." Der Mann im Schatten trat einen Schritt vor und nahm die vollkommen ausdruckslose Theatermaske ab. Hellblonde, kurz geschnittene Haare kamen zum Vorschein, ebenso ein Bart in gleicher Farbe. "Mein Name ist Vigo...Vigo von Notmark." Tatsächlich war die sewerische Mundart nicht zu überhören.

Roana griff beinahe sofort zum Schwert. "Der Meuchelmörder vom Freundschaftspass? Ich habe den Steckbrief gesehen."

Der Bornländer lächelte kalt.

"Du wolltest Baroness Tsalinde ermorden!"

"Ja, das sagen die Feinde des Hauses Oppstein." Vigo strich Feuerflocke über die Nüstern, als wäre das Streitross noch lebendig.

"Gespensterkrähen, so hat sich eure Bande genannt, nicht wahr? Was hat dieser...verhinderte Meuchler und dahergelaufene Schmuggler in unserer Runde zu suchen, Sigerich? Das kann doch nicht dein Ernst sein."

Roana zog ihr Schwert scharrend aus der Scheide. Das heißt, sie wollte blank ziehen, aber Ademar legte seine fleischige Pranke schwer auf ihren Unterarm. "Nicht so hastig. Nun hör ihn doch erst einmal an..."

"Audiatur et altera pars". Baduron, der Magier, nickte eifrig. "Man sollte vor einem Urteil immer beide Seiten anhören. Alter bosparanischer Rechtsgrundsatz."

"Wirklich hervorragende Arbeit, von diesem Oppsteiner Präparator. Lasst stecken, Wohlgeboren". Vigo kitzelte nun auch noch das schon etwas angegammelte Pferdeohr. "Ich soll ein verhinderter Meuchelmörder sein? Nennt man es so, wenn eine ganze Lanze friedwängischer Reiterei abgewehrt werden musste? Die, verstärkt durch den Bogenschützen Odilon von Baernfarn und zwei Helfer, eine Gebirgshütte besetzt hatte. Auf Oppsteiner Gebiet." Vigo deutete auf die Karte, die den Grenzverlauf zwischen den Sichelhager Baronien zeigte. "Zumindest laut unseren Karten. Ein Dutzend Schwerbewaffneter im Gebirge...das hat nichts mehr mit Verteidigung zu tun. Es war eindeutig, dass sie einen Überfall auf die Drachweiler Suste geplant haben. Adran wollte den Frieden. Aber natürlich konnte er diesem Aufmarsch nicht tatenlos zusehen. Also hat er verdeckte Grenzwachen losgeschickt."

Roana löste sich aus Ardemars Griff, mit harschem Blick. Dann stieß sie das Schwert zurück. "Verdeckte Grenzwachen? Nennt man Schmuggler neuerdings so? Das ist doch lächerlich. Ich unterhalte mich nicht mit gekauften Schlagetots...""

"Ich gebe zu, dass ich und meine Gefährten früher zu den Nebelgänsen gezählt haben. Wir haben dafür gesorgt, dass das Leben in der Traviamark nicht gar so verdrießlich war, wie es unter der Gänseherrschaft für gewöhnlich der Fall ist. Wie auch immer...das ist viele Götterläufe her. Stadtvogt Redenhardt hat uns seinerzeit begnadigt, wenn wir im Gegenzug...gewisse Dienste für das Fürstentum leisten. Den Widerstand in Transysilien stärken, zum Beispiel, Spione einschleusen und Berichte aus Yol-Ghurmak an die Reichstreuen weiterleiten. Nun, Redenhardt lebt nicht mehr, das Fürstentum ist Geschichte, ebenso wie die FDEA, oder deren Präfektin, Baronin Thahira von Oppstein...aber deren Witwer Adran, dem haben wir uns schon noch verbunden gefühlt. Wir konnten ja nicht ahnen, dass der Aufmarsch der Friedwangen bereits derart fortgeschritten war. Meine Waffengefährten haben diese Erkenntnis leider mit dem Leben bezahlt....wir sind geradezu ins offene Messer gerannt. Nie werde ich vergessen, wie Odilon uns abgeschlachtet hat, mit seinem Bogen...hohnlachend, ohne jede Gnade..."

Vigo senkte seinen Blick und atmete tief durch. Beinahe klang es wie Schluchzen. "Verzeiht, aber es war zu grausam. Gunn, meinen alten Gefährten...den hat der Baernfarn mit einem Kukrispfeil übers Nirgendmeer geschickt. Natürlich, der Schwarze Bär ist viel herumgekommen in Aventurien, der kennt sich aus, mit exotischen, besonders grausamen und heimtückischen Giften. Hinterher hieß es dann, wir wollten Tsalinde meucheln, auf einem Jagdausflug. Die Baroness hat schon gewusst, warum sie sich ein halbes Jahr lang hat nicht sehen lassen. Bevor sie dann auf wundersame Weise wieder aufgetaucht ist, als `Gefangene des Hauses Oppstein´, mitten im Windsbuchter Wald."

Die Worte waren geradezu aus Vigo herausgesprudelt.

"Ich denke, dass Opfer der Gespensterkrähen war nicht gänzlich umsonst", fügte er nach einer Kunstpause hinzu. "Adran konnte die Besatzung der Suste gerade noch rechtzeitig verstärken. Dazu kam die Lawine, die den Pass einige Zeit lang gesperrt hat. Ja, man kann sagen, die Götter waren trotz allem auf unserer Seite. Bevor ein Sturm an Verleumdungen über Oppstein und dessen rechtmäßigen Baron hereingebrochen ist. Es war alles ein abgekartetes Spiel, ihr edlen Herren und Damen."

"Unglaublich", sagte Roana vieldeutig, mit gerunzelter Stirn.

Sigerich bemerkte die Zweifel in der Stimme der Hochfelserin: "Wem glauben wir mehr....unseren Feinden oder treuen Verbündeten? Gewiss, Vigos Leute haben es mit dem Gesetz nicht immer so genau genommen, in der Vergangenheit. Aber was ist mit Deggen von Baernfarn? Ein Hochverräter war der, auf zwölf Jahre wurde er aus dem Fürstentum verbannt. Nun brennt seine Familie vor Rachsucht. "

Der Immelner atmete tief durch. "Alrik, dieser einäugige Verbrecher, ist vor aller Welt ein Dieb und Hochstapler. Ich habe ihn angebettelt, mit dem Lösegeld herunter zu gehen. Es war keine kleine Summe, die wir uns leihen mussten. Versucht ihr einmal, Kredit zu erhalten, wenn die Rommilyser Pfeffersäcke mit der baldigen Absetzung eurer Familie rechnen. Dieser Brabaker Streuner hat gelacht und gemeint, meine Gemahlin solle sich im Katzloch umtun...dort gebe es schnelle Münze. Im Katzloch von Rommilys." Sigerich ballte die Faust. "Dort wo sich die Dirnen tummeln! Allein für diese Beleidigung wird er mir büßen....Melisande hat das Geld mitsamt Wucherzinsen zusammengebracht. Es war...so beschämend und entwürdigend, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe."

"Schon recht." Der Herr von Natternwiesen wedelte ungeduldig mit der Hand. "Du hattest gewiss mehr Pech als wir, Sigerich, in dieser...Angelegenheit. Aber unsereins verkehrt nun wirklich nicht mit solchen Leuten. Adran, der hatte manchmal eigenwillige Verbündete und Methoden. Nun, er hat den Preis dafür bezahlt. Einen hohen Preis. Aber wir, die wir seine Gefolgsleute waren, wir sind von Stand, und kämpfen rondrianisch. Dazu zählt, dass man weiß, wann man besiegt ist, und sein Knie b....sich einem neuen Herrn unterwerfen muss."

"Die Frage ist, wem?" Sigerich war die Sache mit dem Knie nicht entgangen. Seine Augen funkelten zornig. "Ismena der Erbschleicherin? Oder vielleicht doch einem Mitglied des echten Hauses Oppstein? Wie es Redenhardts Wille gewesen wäre?"

"Wir sind nicht in der Lage, Praiodane zur Baronieerbin zu bestimmen, nicht im Familienrat und auch nicht auf dem Schlachtfeld. Das mag bedauerlich sein, aber wir können es nicht ändern."

Sigerich blickte hinüber zu Vigo. "Es ist mitunter von Vorteil, auf die Dienste solcher Leute zurückgreifen zu können, wie du sie nennst. Ich nenne es den Namenlosen mit dem Dämonensultan austreiben. "

Ardemar blickte zur Höhlendecke, wo die ersten Fledermäuse unruhig wurden. "Was schlägst du vor? Ein Attentat auf Ismena vielleicht?" Der Natternwieser grinste übertrieben, um zu zeigen, dass seine Worte nur ein sinistrer Scherz gewesen waren.

Sigerich verschränkte die Arme. "Nun, was das Mitglied des echten Hauses Oppstein angeht. Damit meine ich nicht Praiodane..."

"Sondern?"

"Ich rede von Adrans Bruder - Cordovan von Berlînghan-Oppstein -Mersingen. Er hatte immerhin die Gunst Ucurians von Rabenmund. Der Vater unserer Markgräfin hat ihn zum Vogt der Feenburg ernannt, als er selbst noch Verwalter der Mark Rommilys war. Eine schöne Burg, nicht weit weg vom Ochsenwasser..."

Roana blickte erstaunt. "Cordovan...er hat die Feenburg im Jahr des Feuers verteidigt, gegen die Horden des Yelnan von Dunkelstein. Seitdem verliert sich seine Spur. Adran hat höchst selten darüber gesprochen."

"Und das genügt Euch: Der Edle von Feeingen und Burgvogt der Feenburg verschwindet aus der Geschichte, einfach so?"

"Es war der Hungerwinter 1028, der Pesthauch des Todes ist durch das Land gezogen. Nicht weit davon entfernt, auf dem Hohenstein, haben sie die Pferde geschlachtet und verspeist. Auf der Feenburg wird es nicht besser gewesen sein. Manch Ausgezehrter und Sterbenskranker ist einfach zu Staub zerfallen, heißt es." Roanas Geist weilte für einen Moment in der Vergangenheit.

Nele sah erstaunt zu ihrer Mutter. War das der Grund, warum Adran – womöglich – in die Vorratskammer eingebrochen war? Weil er seinen Bruder bei einer Belagerung verloren hatte, durch Hunger? 

"Verzeiht, wenn ich etwas dazu sagen dürfte." Vigo meldete sich zu Wort, mit scheuer Miene. "Wie gesagt, ich bin öfters zwischen den Schattenlanden und dem freien Darpatien unterwegs gewesen. Im Auftrag der Präfektin Thahira, versteht sich. Dabei ist mir zu Ohren gekommen..." Der Schmuggler sah triumphierend in die Runde.

"Ja?"

"Dass Cordovan noch unter den Lebenden weilen könnte."

"Nach all den Götterläufen? Orksinn. Nicht genug, dass sich irgendsoein verrückter einhändiger Narr...als Edorian ausgegeben hat. Jetzt soll auch noch Cordovan auf wundersame Weise überlebt haben?" Roana lachte auf. "Ardemar, ich gebe dir vollkommen Recht. Lieber ein Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach."

"Spatz, ja, wie es der Zufall will, war das sogar der Name meines Gewährsmannes", sagte Vigo schnell. "In Kummersfelden pfeifen es die Spatzen von den Dächern..."


"Kummersfelden?"


"Die Baronie des Yelnan von Dunkelstein, an der Tobrimora. Der Kummersfeldner galt lange als rechte Hand des dunklen Herzogs Arngrimm von Ehrenstein. Yelnan soll Cordovan gefangen genommen haben, als der außerhalb der Burg unterwegs war. Wohl auf der Suche nach Brennholz und Nahrung."

"Als Burgvogt? Sehr leichtsinnig von Cordovan."

"Immer noch besser, als in einer kalten, unbeheizten Kemenate zu erfrieren."

"Wie weiter?" Roana klang wie eine Stadtgardistin, die sich ungläubig stellte, um ihre wachsende Neugierde zu verbergen.

"Nun, Spatz hat mir von einem Zitat Yelnans berichtet. Wenn ein Dunkelstein einen Oppstein gefangen nimmt, in Diensten eines Ehrenstein, unweit des Hohenstein. Dann hat das gewiss etwas zu bedeuten. Yelnan hielt es für überaus witzig und geistreich, einen GRANIT UND MARMOR auf den unglücklichen Burgherrn sprechen zu lassen, durch einen seiner Magier."

Nicht nur Roana blickte fragend.

"Ein Zauber aus dem Bereich der Magica Mutanda", verkündete Meister Hühnerbart und strich über eben diesen. "Man kann damit ein Opfer in eine Statue seiner selbst verwandeln. Versteinern, um es einfach auszudrücken."

"Aha, und wie lange dauert dieser Zustand?"

"Für immer und ewig, wenn es die richtige Variante der Thesis ist."

Die Aristokraten wirkten erschrocken.

Vigo lächelte fein. "Seht ihr, worauf ich hinaus will? Allerdings, ich muss gestehen, es ist unbekannt, was aus der Statue des unglücklichen Cordovan geworden ist. Die einen sagen, er wäre ins Herzogtum Sokramor gebracht worden, als Trophäe und Faustpfand gleichermaßen. Andere behaupten, sie wäre ins Ochsenwasser oder die Große Muhre geworfen worden, nach dem schmählichen Ende des Dunkelsteiners. Als der Belagerungsring um Rommilys durchbrochen werden konnte. Womöglich wurde sie in die Natter gestoßen. Oder von kunstsinnigen Elfen mitgenommen, die in den Natternauen leben sollen. Womöglich steht die Statue auch noch genau dort, wo den Edlen von Feeingen sein Schicksal ereilt hat. Bemoost und zugewuchert im Wald, oder verborgen in irgendeinem Gewölbe. Wir sollten diesen Spuren nachgehen..."

Roana beschloss, großmütig über das anmaßende "wir" hinwegzusehen. "Du sagst, Adrans Bruder sei als mögliches Faustpfand nach Transysilien gebracht worden? Inwiefern – Faustpfand?"

"Nun", sagte Baduron, mit leiser, sanfter Stimme. "Es ist möglich, eine solche Verwandlung wieder zu beenden, mit dem entsprechenden Zauberspruch. Vor allem die Töchter Satuarias sind darin bewandert."

"Ihr seid es auch?"

"Nicht wirklich. Antimagie war nie meine Stärke, nein."

Die Hochfelserin verschränkte die Arme. "Wirklich brauchbare Spuren sind das alles nicht...Andererseits, der `witzige´ Spruch dieses Verräters und Blenders Yelnan. So er denn wirklich gefallen ist. Er deutet darauf hin, dass sich Cordovan ein ganzes Stückweit südlich der Feenburg aufgehalten hat. Von wegen Dunkelstein, Oppstein, Ehrenstein, Hohenstein."

 

"Womöglich liegt die Statue ja unter der eingestürzten Rabenbrücke", spöttelte der Natternwieser. "Meine Natternwiese wird  wohl nicht gemeint sein? Also ich halte dieses Gerücht...mehr ist es ja nicht…auch nicht für sonderlich brauchbar. Sollen wir in den Familienrat platzen und verkünden...dass es vielleicht..." Ardemar schraubte seine Hand in die Luft, "dass es womöglich noch einen versteinerten Bruder des werten Altbarons gibt?"
  

"Natürlich nicht, wenn Ihr der Meinung seid, dass Cordovan versteinert bleiben sollte, als Opfer finsterster Magie", Vigo sah lauernd in die Runde. "Für immer und ewig."

"Wenn es jemand verdient hätte, Baron von Oppstein zu werden, dann Cordovan", verkündete Sigerich. "Er hat das Fürstentum verteidigt, als die Zeiten am schrecklichsten waren."
  

"Man kann eine Steinstatue auch  in Trümmer schlagen", sagte Roana. "Aber nun gut...wieviel Gold würden uns deine Nachforschungen kosten, Vigo? Darauf läuft es doch hinaus, oder?"

"Hohe Dame, Ihr missversteht mich erneut. Es geht mir allein darum, meinen guten Ruf wiederherzustellen. Als geläuterter Schmuggler, der heute der richtigen Seite dient. Alles, was ich möchte, ist Straffreiheit. Ich könnte versuchen Spatz wiederzufinden, der ein paar Leute gekannt hat, die damals bei Cordovans Gefangennahme dabei waren. Dann erfahren wir vielleicht, wo wir den steinernen Cordovan suchen müssen."

"Ja, ich denke, das sind wir dem Hause Oppstein schuldig", verkündete der Immelner. "Sicherlich wird es Spesen geben?"

"Nicht doch. Thahira hat ein paar Dukaten beiseite gelegt, um unsere...diskreten Questen zu finanzieren. Wäre ich wirklich ein Verbrecher – oder ein gewöhnlicher Verbrecher – dann hätte ich mich mit diesem Schatz längst aus dem Staub gemacht, mitsamt den übrigen Schmugglern. Aber ich habe Redenhardt nie vergessen, was er für mich und meine Freunde getan hat. Andere wurden damals für weitaus geringere Vergehen an den Galgen gebracht." Vigo zog ein klirrendes Geldsäckchen unter seinem Umhang hervor. "Das sollte als Kriegskasse genügen, für weitere Unternehmungen."

"Was denn für weitere Unternehmungen?" fragte Roana.

"Das wird sich weisen", sagte Sigerich schnell und reichte ihr ein Hufeisen. Auch die übrigen Anwesenden wurden damit ausgestattet. "Das Wichtigste ist, dass wir zusammenhalten. Nicht als Verschwörer...sondern als Freunde der Oppsteins. Nennen wir das Ganze den Hufeisenpakt. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass in diesem Fall äußerste Diskretion vonnöten ist?"

"Bei Adran nachfragen, ob sich das wirklich alles so zugetragen hat, auf dem Verräterpass...das wird aber noch erlaubt sein?" Roana machte aus ihrem Misstrauen keinen Hehl.

"Dir ist schon klar, dass der Briefverkehr nach Methumis überwacht wird?" fragte Sigerich von Immeln spitz. "Dass sich Alrik von Friedwang Geheimer Kammerherr der Markgräfin nennt und genau mit derartig ehrlosen Dingen befasst? Ein Amt, das zu seiner verkommenen Diebesseele passt...Nein, wir sind in naher Zukunft auf uns allein gestellt. Ich bürge für Vigo und die Gespensterkrähen. Wie soll es denn bitteschön sonst gewesen sein, in den Bergen? Über ein Dutzend Bewaffneter, die sich mitten im Winter in einer Schutzhütte zusammenrotten, sprechen nun wirklich für sich."

Vigo lächelte fein. "Ich danke für Euer Vertrauen, hoher Herr, und werde es nicht enttäuschen."

"Gewiss nicht. Der erste Schritt muss sein, Verbündete im Haus Oppstein zu finden, die geneigt sein könnten, einen Baron Cordovan zu unterstützen. Natürlich mit der gebotenen...Unverbindlichkeit. Zumal wir selbst noch nicht wissen, ob unsere Suche Erfolg haben wird. Noch Fragen? Nein ?! Dann würde ich unsere kleine Runde auflösen. Für Oppstein, den Sieg!"

"Für-Oppstein-den-Sieg!" echote es in der Höhle.


Wenig später eilte Nele ihre Mutter durch das Schneetreiben hinterher, auf dem Rückweg zum Ritterturm. Ebenso wie Ardemar, der in einigen Schritt Entfernung folgte, hielt diese nun ein rotbräunliches Hufeisen in Händen.

"Das ist nicht dein Ernst, Mutter", schimpfte die Ritterin. "Dieser Kerl steckt doch mit den Schattenländern unter einer Decke. Zumindest war er ein ehrloser Verbrecher, oder ist es noch. Warum sollten wir so jemandem auch nur das geringste Vertrauen schenken?"

Roana merkte, wie das Hufeisen in ihrer Hand kalt wurde, packte es unter den Mantel, blies warmen Atem über die froststarren Finger und streifte sich Fäustlinge über. "Was verlieren wir dabei? Ganz im Gegenteil, dieser Vigo bezahlt uns gutes Gold, nicht umgekehrt. Verhält sich so ein Schmuggler? Ich habe Thahira gekannt, Nele. Als sie noch Baronin war, sind auf Burg Oppstein viele merkwürdige Gestalten ein und ausgegangen. Der Arm der Fürstlich-Darpatischen Expeditionsabteilung reicht weit, noch über deren Untergang hinaus. Im Grunde haben wir gar keine Wahl.Sollte Cordovan wirklich noch am Leben sein..."

"Dann ist er ein hartes, lebloses Stück Granit..."

"Das wieder in einen Menschen verwandelt werden kann. Mehr noch, in den künftigen Baron von Oppstein!" Roanas Augen leuchteten, erfüllt von jäher Hoffnung auf bessere Zeiten. "Einen, der diesen Namen wirklich verdient!"

 

Markt Oppstein, Anfang Firun

Das Feuer in der heiligen Esse brannte. Immerhin war es dadurch schön warm im Tempel des Ingerimm. Der Rommilyser hatte lange keinen Winter mehr in der Sichel verbracht. Daheim, in Rommilys, war es eher regnerisch als dass wirklich Firuns weiße Pracht fiel. Und wenn doch, dann hatte man ja keine weiten Wege zu gehen, und sein Personal daheim sorgte schon dafür, dass ausreichend eingeschürt war. Er wusste schon, warum er sonst nie zum Fest der Stadtgründung nach Gallys, am 24. Hesinde, angereist war. Der Weg in seine Geburtsstadt war schlammig, nass und kalt gewesen. Aber… verglichen mit der weiteren Reise durch die frostigen, eingeschneiten und schmalen Pfade über die Sichelberge war ihm das rückblickend wie eine Reise durch das südliche Aranien vorgekommen.

Aber da half alles nichts. Er war ein riskantes Wagnis eingegangen, seine Kusine bei ihrem Kampf um Oppstein zu unterstützen. Eine Menge Silber hatte er aufgewandt, Ismenas Heer über rund einen halben Götterlauf mit Sold und Waffen zu versehen. Hätte Ismena die Fehde verloren, er hätte Jahre gebraucht, um dieses Loch in den Bilanzen des Handelshauses auszugleichen. Doch seine Nase hatte ihn nicht getrogen. Nicht allein aus familiärer Solidarität hatte er sich schließlich dazu bewegen lassen, Ismena den Rücken zu stärken. Sein untrüglicher Riecher, wie sich eine Situation entwickeln könnte, wo ein Geschäft zu machen wäre, wo ein investierter Silbertaler deren drei zurück bringen würde, hatte auch hier richtig gelegen. In den Herbst hin hatte es länger gedauert als angenommen, bis letztlich der letzte Widerstand in der Schwerterburg überwunden war und Adran endlich aufgegeben hatte, aber dafür war der Sieg um so vollständiger, und, was fast noch wichtiger war, relativ unblutig abgelaufen. Nichts wäre für den Handel schlechter als ein ausgeblutetes Land, in dem sich die Menschen verfeindet gegenüber stünden.

Rhythmisch schlugen im Hintergrund die Hämmer auf den heiligen Amboss, je nach Größe des Hammers klang ein anderer Ton durch den Tempel. Eine gleichmäßige, eingängige Melodie entstand dadurch. Nicht zu laut, um die Worte der Ingerimmpriesterin zu überhören, die ihre lange Predigt hielt… Langatmig, als hätte man ein langes Zwergenleben vor sich und kein kurzes Menschenleben. Jodokus hörte nur halb zu. Es war ja auch nicht seine erste Hochzeit. Vor zwei Jahren war die alte Rodfurtner gestorben, die reiche, greise Patrizierin, die eine stattliche Mitgift ihrer reichen bürgerlichen Verwandtschaft und vor allem Einfluss in Rommilys in die Ehe gebracht hatte – und ihn zum Stadtgespräch gemacht hatte, angesichts der rund ein halbes Jahrhundert älteren Ehefrau. Dass die Ehe nur ein paar Jahre dauern würde hatte jeder gewusst. Doch nun war es für Jodokus Zeit, seiner familiären Pflicht nachzukommen. Und für ihn war es Pflicht, nach viel Geld in der ersten Ehe nun einen Titel und hoffentlich bald einen Erben zu bekommen. Edler von Senwitz, das hörte sich doch gut an. Spielte doch keine Rolle, wenn formal seine werdende Gemahlin in Senwitz tatsächlich das Sagen hatte. Er hatte endlich einen Titel – und dazu lukrative Handelsprivilegien in der Baronie seiner Kusine, was ihm reichlich Silber bringen und ihn dadurch auch zu einem der wichtigsten Steuerzahler für die Baroniekasse seiner Kusine machen würde. Auch politisch würde die Ehe seiner Familie und dem Trutzbund nutzen, war damit doch offen für jeden zu sehen, dass der alte Zwist zwischen den Häusern Oppstein und Baernfarn, den Deggen und Redenhardt vom Zaun gebrochen hatten, endgültig der Vergangenheit angehörte. Der Trutzbund würde damit endlich geeint auftreten können und allein dadurch hatte der ganze Bund an Gewicht gewonnen. Und damit war nicht zuletzt auch die Position seiner Kusine auf dem Oppsteiner Thron gestärkt.

Jodokus Blick fiel auf Praiodane, die mit feierlichen und gemessenen Schritten – und einem überaus künstlichen Lächeln – von der Baronin an seine Seite geführt worden war. Mangels Verfügbarkeit des Brautvaters war die Rolle dem neuen Familienoberhaupt der Oppsteins zugefallen. Eine Rolle, die Ismena nur zu gerne übernommen hatte, bot sich doch hier gleich die Gelegenheit, vor den Edelleuten Oppsteins und den geladenen Gästen aus Friedwang, Gallys, Schlotz und anderswo, klar zu zeigen, wer nun das Haus Oppstein führen würde.

Jodokus musterte Praiodane. Ein zuckersüßes Lächeln, eine perfekt hochfrisierte und zusammengesteckte Lockenpracht. Eine ganz andere Frau, als beispielsweise Haldana… der Rommilyser dachte an sein kurzes Tete a tete mit der Schlotzerin zurück… hätte er damals gewusst, wen er vor sich hatte, hätte er die inkognito als reisende Bardin auftretende Baronieerbin von Schlotz erkannt, er hätte die Sache anders angegangen und wäre vielleicht heute Baron von Schlotz. Nun, man konnte nicht immer gewinnen. Ein wenig schmerzte es ihn, dass die Schlotzer Baronin den tollpatschig wirkenden Friedwanger Alboran gewählt hatte. Ausgerechnet diesen! Das tat fast mehr weh, gerade von Alboran ausgestochen worden zu sein, als der Verlust Haldanas an sich, die er als weitaus attraktiver empfand als Praiodane.

Jodokus wies den Gedanken zurück. Mit Haldana als Gemahlin hätte er sich auch traviafromm verhalten müssen – er kannte ja ihre Mutter, die in Schlotz über alles bestimmen wollte. Und, fast noch schlimmer, er hätte sein geliebtes Rommilys verlassen und unter diesen Halbtrollen in Schlotz leben müssen. Dennoch, Haldana wäre definitiv die schönere Braut gewesen, und sicher auch einfacher im Umgang, treuer, zuverlässiger und sittsamer. Und auf seinen notwendigen Handelsreisen und Visiten in Rommilys hätte er sich genug ausleben können. Nun, man konnte nicht alles haben. Seine Familie hatte ihm die Ehe nahegelegt, bevor der Ruf über seine spleenigen Eskapaden der Familie schaden konnte. Und natürlich, um die Häuser Baernfarn und Oppstein zu binden. Die Verbindung war standesgemäß und politisch sinnvoll, und würde auch die Scharte seiner vorangegangenen bürgerlichen und geldorientierten Ehe auswetzen.

Nun, Praiodane mochte nicht die gleiche natürliche Schönheit austrahlen, aber wenn sie auch nur die Hälfte der Persönlichkeit ihres Vaters geerbt hatte – ihres richtigen Vaters – dann war sie genau die richtige, um mit ihm gemeinsam das Handelshaus groß zu machen, um von einem zwar erfolgreichen, aber kleinen Baernfarner Handelshaus zu einem die Sichel übergreifendem Handelshaus zu werden, das man mit der Region an sich und nicht nur mit einer einzigen Familie verband. Durch den Namen Oppstein, den Praiodane mit sich brachte, würde dieses Wachstum des Rommilys-Schwarzsichler Handelshauses sicher gelingen.

Auch das war ein Wagnis, klar, denn er wusste, dass Praiodane ein starker Charakter, eine ausgeprägte Persönlichkeit war, und dass mit dieser Ehe auch für das Handelshaus ein ganz neuer Weg begann. Aber wer nicht wagt, der gewinnt nicht. Natürlich war es möglich, dass Streit der Eheleute das Handelshaus lähmen würde. Natürlich war es möglich, dass Praiodane Einfluss im Handelshaus gewinnen würde und es zu Entscheidungen kommen könnte, die nicht von ihm sondern von seiner Gemahlin durchgesetzt wurden. Aber dafür bestand die realistische Möglichkeit, dass es von den alteingesessenen Familien als das Handelshaus der Schwarzen Sichel und nicht nur als Gallyser Eigenkreation wahrgenommen würde. Hier hatte sich Jodokus ein Stück weit von seiner Familie emanzipiert, in dem er die vormalige Bindung zwischen dem Handelshaus und seiner Familie gelockert hatte. Die, kaufmännisch und nicht familienpolitisch betrachtet, einzig richtige Entscheidung.

Jodokus musterte Praiodane. Überschminkte Wangen, stark aufgetragener Lidstrich, die Lippen kantig und energisch mit knallig rotem Farbton nachgezeichnet. Und… das Lächeln. Aufgesetzt, perfekt in der Haltung. Praiodane war offenbar eine Frau, die sich jederzeit unter Kontrolle hatte. Nun, Jodokus hatte nichts anderes erwartet, angesichts dessen, wie er aus seiner Kindheit den erfolgreichen Redenhardt von Oppstein in Erinnerung hatte. Praiodane war alles andere als ein naives Mädchen vom Land. Keine Frage, seine Gemahlin hatte das Talent, mit ihm ein Handelshaus zu führen, auf dem gesellschaftlichen Parkett neben ihm zu glänzen, die Themen des Hofklatsches in Rommilys zu füllen und, natürlich, Kontakte zu pflegen und damit wichtige Handelskontrakte an Land zu ziehen. Die Frage war nur… wollte Praiodane das?



Praiodane lächelte und folgte, den Arm der künftigen Baronin Ismena fassend, der Tochter Deggens, die sich nun anschickte, den Platz in der Baronie Oppstein einzunehmen, der eigentlich ihr zustand. Mochten die Umstehenden ruhig denken, sie habe sich mit der Situation abgefunden und freue sich nun auf ihre Hochzeit. Ihrer Mimik war ihre Unzufriedenheit mit der Entwicklung des letzten halben Jahres nicht anzusehen, die sie von der auserkorenen Baronieerbin zu einem Spielball der Familien- und Heiratspolitik gemacht hatte. Ihr freundlicher Tonfall, ihr Gesichtsausdruck, ihre Gestik und Mimik verrieten nicht, dass sie sich nicht freiwillig der neuen Ordnung in ihrer Heimat untergeordnet hatte. Aber Praiodane verfügte über genug Realitätssinn, um zu wissen, wann sie ihre Vorstellungen und Wünsche hintenan stellen musste, wann sie mit den erfolgreichen heulen und wann sie geschickt auf ihre Stunde warten musste. Ismena hatte gesiegt und würde den Thron zu Oppstein besteigen – für den Augenblick hatte sie gesiegt. Und sie, Praiodane, die geschasste Erbin, würde als Preis für ihre Niederlage dem Finanzier dieser ganzen Fehde samt Edlengut Senwitz zur Gemahlin gegeben werden. So sah es aus.

Zumindest für den Augenblick, zumindest für den schnellen Betrachter, zumindest für Ismena. Aber keine Niederlage war so tief, als dass sich daraus nicht wieder ein Weg nach oben finden würde. Es mochte die Frage sein, wo dieses „oben“ war. Denn immerhin würde sie einen der reichsten Männer der Stadt Rommilys heiraten. Wenn mit „Oben“ der Thron zu Oppstein gemeint war, nun, der schien verloren zu sein. Aber es würde viele andere Möglichkeiten geben, nach oben zu gelangen. Ihrem Vater als Baronin von Oppstein nachzufolgen war nicht ihre Zukunft. Aber wer sagte dann, dass sie nicht dereinst in Rommilys in seine Fußstapfen treten könnte? Was war schon Oppstein gegen Rommilys, hatte ihr Vater immer gesagt. Viel mehr war die Frage, ob das mit oder gegen ihren Ehemann gelingen würde.

Praiodane musterte den Rommilyser Patrizier aus dem Hause Baernfarn. Es war fast eine Ironie des Schicksals. Vom Gallyser Adelsgeschlecht hatte sie bisher keine sehr hohe Meinung gehabt, und jetzt wurde sie selbst gewissermaßen eine Baernfarn, auch wenn sie ihren Familiennamen trotz der Hochzeit beibehielt. Aber, auch da dachte sie wie ihr Vater Redenhardt, ein Streit ist kein Selbstzweck. Man führt einen Streit, wenn man etwas damit erreichen kann und nicht, weil man jemanden nicht mag. Mit dieser Einstellung hatte ihr Vater es geschafft, Kanzler des Bundes der Schwarzen Sichel und Stadtvogt in Rommilys zu werden.

Nun, immerhin sah der Jüngling ganz adrett aus und schien Manieren zu haben. Man konnte sich also mit ihm in der Öffentlichkeit sehen lassen. Es war beruhigend, dass er zumindest nicht so ein bornierter Bauerntölpel war, wie sie es angesichts des Namens Baernfarn und der oft lästerlichen Reden Adrans über die Gallyser zuerst befürchtet hatte. Und er hatte Geld und ein großes Stadthaus in Rommilys, hatte sie gehört. Dass sie irgendwann irgend jemanden heiraten musste, das war ihr als Adeliger ohnehin ein erwartbares Schicksal. Aber was galt ihr schon die Ehe. Sie würde ohnehin machen, was sie wollte, egal, wer unter ihr zum Ehemann ausgewählt worden war. Diesen Jodokus würde sie schon dazu bringen, ihr aus der Hand zu essen.

Der Rhythmus der Hämmer war ein wenig schneller geworden. Praiodane hörte den Worten der Ingerimmpriesterin nicht zu. Was die Predigerin sprach, war für das gemeine Volk bestimmt, für die Gäste. Praiodane hatte es durchgesetzt, nicht in einem Traviatempel zu heiraten sondern im großen Ingerimmtempel zu Oppstein. Immerhin diesen Triumph wollte sie Ismena und auch den Strippenziehern der Intrige in Rommilys nicht gönnen. Der Ingerimmtempel hatte sich niemals gegen die Alten Kulte ausgesprochen. Außerdem war es der größte Tempel in Oppstein, in dem sonst selten Trauungen durchgeführt wurden. Praiodane hatte durchaus beabsichtigt, dass man diese Tempelwahl auch als Nichtaufgabe des Thronanspruchs werten konnte. Nicht musste, aber dieser kleine Affront gegen die neue Herrin Oppsteins war ihr eine Genugtuung gewesen.

Eine Änderung im Tonfall der Ingerimmpriesterin riss die Aufmerksamkeit der angehenden Eheleute an sich. Der allgemeine Teil der Predigt neigte sich wohl dem Ende zu. Novizen der Ingerimmkirche schwenkten feierlich Weihrauchschalen an Ketten und ließen die heiligen geschmiedeten Glöckchen klingen.

„… und so frage ich dich, Jodokus von Baernfarn, willst du die hier anwesende Dame Praiodane von Oppstein zu deiner Gemahlin nehmen, sie ehren und lieben vor dem Angesicht der Zwölfe, bis Herr Boron Euch zu sich holt?“

„Natürlich will er“ antwortete Praiodane schneller, als Jodokus es tun konnte. „Er freut sich schon, endlich mit einer Frau seines Alters die Schlafstatt zu teilen!“ Gleich vom ersten Augenblick ihrer Ehe wollte Praiodane ihrem Gemahl zeigen, wer in der Ehe die Hosen anhaben würde.

Ein Raunen, teils unterdrücktes Lachen, verbreitete Unruhe im Tempel. Die kessen Worte der Oppsteinerin hatten Jodokus aus dem Konzept gebracht. Aber nur kurz, der Handelsherr fasste sich rasch wieder. Er lächelte, als fände er es einen gelungenen Witz. „Gewiss will ich das, Hochwürden… du wirst sicher davon profitieren, geliebte Praiodane, als traviagefälliger lediger Jungfer fehlt Dir ja jede Erfahrung.“ Einige wenige Lacher aus den hinteren Reihen war zu hören. Die Dreistigkeit Praiodanes störte ihn, aber er war nicht bereit, an seinem Hochzeitstag öffentlichkeitswirksam als Pantoffelheld seiner starken Gemahlin wahrgenommen zu werden.

Praiodane beugte sich zu Jodokus, lächelte zuckersüß, so dass die umstehenden annahmen, sie raune ihrem werdenden Ehemann eine Liebesbotschaft ins Ohr.

„Du weißt, Jodokus, dass es mein Kind sein wird, das irgendwann Senwitz erbt“ flüsterte sie in das Ohr des Gemahls. Jodokus setzte ein charmantes Lächeln auf. „Ich habe ein Fläschchen mit Blut schon bereitgestellt, um das Laken zu tränken, das wir morgen früh ans Fenster hängen. Niemand soll deine Ehre anzweifeln, Liebste“ flüsterte Jodokus zurück und legte sanft seine Hand um Praiodanes Taille.

Die Geweihte räusperte sich. „Nun denn, so frage ich dich, Praiodane von Oppstein, Edle von Senwitz, willst du den Herrrn Jodokus von Baernfarn als deinen Gemahl annehmen und vor dem Angesicht der Götter ehren und ihm treu sein, bis der Herr Boron euch zu sich holt?“

Mit einer geübten Bewegung der Finger kitzelte Jodokus Praiodane in die Hüfte, so dass diese überrascht beinahe auflachen musste, sich jedoch gerade noch fing.

„Ihr seht doch, dass sie will, sie bekommt nur vor Aufregung kein Wort heraus“ antwortete Jodokus, bevor Praiodane etwas sagen konnte.

Auf einen Wink der Geweihten fuhr ein Hammer, mit Kraft geführt, auf einen Amboss nieder.

„Somit, vor den Augen Ingerimms und seiner elf göttlichen Geschwister, erkläre ich Euch zu Ehemann und Ehefrau.” 

 

Wenig später, im Oppsteiner Hof

 

"Heiraten und Schlittenfahren muss schnell gehen", sagte Mena von Gießenborn, als sie mit einem dreiarmigen Leuchter die Treppe hinabstieg. Die Flammen auf den wachsbeperlten Kerzen flackerten. Von oben wehte die Musik und der Lärm der Hochzeitsfeier heran. Ardemar von Natternwiesen folgte  schnaufend. Bei dem Wort "Schlittenfahren" zuckte der massige Mann kurz zusammen. Sollte das eine Anspielung auf das vermeintliche Attentat gewesen sein, das dieser Notmärker auf Baroness Tsalinde verübt hatte? Nein, das konnte nicht sein.  

 "Hat meine selige Mutter Gunelde immer gesagt", fügte die Amtfrau von Gießenborn hinzu, die weitaus rassiger und rahjagefälliger wirkte als seine gute alte Giselda.

"Jaja. Ich bin keinesfalls gegen diese Blitzehe, wenn Ihr das glaubt. So ist das eben mit der Hausmachtpolitik. Wohin geht es eigentlich? Doch nicht wieder in den Kerker?" Ardemar lachte nervös auf. Er war sich keinerlei Schuld bewusst. Verschwörung konnte man seinen kleinen Ausflug in die Höhle ja wohl nicht nennen. Der alte Baron hatte sie von ihrem Treueid entbunden, eine neue Herrschaft gab es noch nicht. Auch wenn sich Ismena die Jüngere schon wie die Baronietutorin von Oppstein benahm - wie man eine Kriegsherrin im Sichelhag früher genannt hätte. 

Trotz der ergrauten Haare und einiger Fältchen war Redenhardts Schwester die einstige Schönheit noch anzumerken. Bei jedem Schritt zog sie eine Wolke aus Parfüm hinter sich her. “Speick” wurde dieser baldrianähnliche Duft genannt, der seit einigen Götterläufen der letzte Schrei in den Rommilyser Badstuben und Adelsgesellschaften sein sollte. Er wurde aus der gleichnamigen, seltenen Blume gewonnen, die hoch oben in der Sichel wuchs. Alles Natürliche und Urwüchsig-Ländliche war in letzter Zeit groß in Mode, gerade auch Blümchen - wenn sich sogar Markgräfin Swantje mit Blütenkranz auf der wallenden Haarpracht porträtieren ließ. Notfalls wird die Natur halt künstlich erschaffen, dachte der Landadelige. 

Gerüchten zufolge arbeitete dieser Windhund Jodokus bereits daran, ein Handelsmonopol für das Pflänzlein zu erhalten, das jenseits der Baumgrenze wuchs, ebenso auf weitere Sichelkräuter. Ein Privileg, dass sicherlich lukrativ sein würde - während Praiodane offenkundig darauf baute, dass ihr Edlentitel länger Bestand haben würde, wenn sie mit einem Mitglied der Siegerfamilie verheiratet war. In der Ferne hatten den ganzen Tag über die Wölfe gesungen, als wollten sie ebenfalls ein Sprichwort zum Besten geben...Manchmal musste man eben mit Meister Isegrim heulen.

Erstaunt merkte Ardemar, dass die schöne Mena die Gruft des Oppsteiner Hofs ansteuerte, wohin Adran die Überreste seiner Vorfahren hatte bringen lassen, herab von der Burgruine. Zumindest eines Teils davon. Das hatte der Natternwiesener nicht gemeint, mit einem Gespräch unter vier Augen. Was für ein schummriges Gewölbe.

Die frühere "Rahjajungfer" wollte ihn doch nicht etwa verführen? Ardemar hatte geglaubt, dass die Gießenbornerin die richtige Adressatin war, um an den verschollenen Edlen von Feeingen zu erinnern. Ismena die Ältere (um diese Titulatur zu vermeiden, bevorzugte sie das jugendfrische "Mena") hatte sich ihrer Familie entfremdet, nach allem was man so hörte - und besaß dennoch Reputation und Einfluss im älteren Haus, als Schwester des großen, ruhmreichen und machtvollen Stadtvogts Redenhardt.

Quietschend öffnete sich ein Gittertürchen, das ein Boronsrad und eine große Sanduhr ebenso wie die Seelenwaage Rethon zeigte, umflattert von fünf Raben. Sie betraten die Krypta, deren marbide Pracht, natürlich, an das Liebliche Feld angelehnt war. Es war fast schon ein kleines Nasuleum, das sich seinem Auge darbot. Prachtvolle Steinsärge standen an der Wand, mit einer Ausnahme: eine schmucklose Truhe mit Runddeckel, auf einem Podest. 

Ardemar spürte Beunruhigung. Sein Blick glitt über die Wandgemälde, die einen schier endlosen Totentanz ebenso zeigten wie Golgaris Flug über das Nirgendmeer, mit einem traurigen Reiter auf dem Rücken, oder das Wägen der guten wie schlechten Taten eines Menschen, durch Boron selbst. Etilia und Marbo baten für die verirrten Seelen, die drei Gigantenweiber erhoben sich am Ende aller Tage. Aus weiter Ferne drang, passend und unpassend zugleich, die kraftvoll stampfende, brummende, summende Festmusik der Lebenden herein. 

"Verzeiht, Ismena, Ihr seht mich ein wenig verwirrt...wollten wir uns nicht über Cordovan von Berlînghan-Oppstein-Mersingen unterhalten? Ausgiebig unterhalten, meine ich. Wie gesagt, es gibt Hinweise, dass er noch...unter den Lebenden weilen könnte."

Ismena stellte ihren Kerzenleuchter ab, vor dem Wappenbild des Hauses Oppstein. Ardemar ertappte sich dabei, dass er bei den Inschriften nach dem Namen Redenhardts suchte. Er fand ihn nicht, aber nun gut - es gab noch den Oppsteiner Borontempel und die Rommilyser Litzelstadt, wo der einstige Stadtvogt ebensogut seine letzte Ruhe gefunden haben mochte.

Die Gießenbornerin schwieg noch immer. Der Natternwieser räusperte sich. "Diese Geschichte mit Cordovan. Sie könnte...von Bedeutung sein, wenn demnächst der Erbe der Baronie Oppstein bestimmt wird. Selbst wenn Praiodane...verzichtet. Cordovan wäre ein Baron, der das Haus Oppstein eint, statt es zu spalten. Der den Oppsteiner Adel eint."

Ismena lächelte dünn, während sie ebenfalls die Wandbilder betrachtete . "Ein Kompromisskandidat, sozusagen?"

"Ja...natürlich...sonst wird Adran früher oder später zurückkehren."

"Ich bitte Euch, Natternwiesen. Warum sollte er das tun? Um sich noch ein paar praiosgefällige Peitschenhiebe mehr abzuholen? Die nächste Schlacht zu verlieren? Schaut Euch um. Was seht Ihr hier?"

"Eine Gruft...eine Krypta...Zeichen der Vergänglichkeit."

"Gewiss. Nichts ist so sinnlos, eitel und vergeblich, als sich an Vergangenem festklammern zu wollen."

Natternwiesen blickte betrübt, aber auch verwundert. Was war denn mit der einst so sinnenfrohen, lebenslustigen Dienerin der Göttlichen Stute geschehen?

"Tretet näher". Mena öffnete die Holzkiste. Ardemar tat, wie ihm geheißen worden war. Zu seinem Erstaunen sah er nur einige hellgraue Steinbrocken, die größten davon kaum faustgroß. 

Die Amtsfrau nahm den Leuchter wieder an sich und stellte sich neben dem Edelmann, der nun Einzelheiten erkennen konnte. Ein bärtiges Kinn, eine völlig verstümmelte Hand, eine angesplitterte Nase, eine Augenpartie. Allesamt aus Stein. Dazu einige weitere Trümmer mehr.

"Glaubt Ihr, Adran hat keine Nachforschungen anstellen lassen, nach seinem Bruder und dessen Verbleib? Er kannte die Geschichte, die Ihr mir erzählt habt. Das hier sind die Überreste eines Gefangenen, aus der Zeit der Belagerung von Rommilys, durch Asmodeus von Andergast. Ein Gefangener von vielen, die versteinert, zu Klumpen zerschlagen und von den Dämonenknechten in die Stadt geschleudert worden sind. Mit Katapulten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Schutt hier ist das, was Cordovan noch am ähnlichsten sieht. Was der Hammer und der Aufprall von ihm oder einem seiner Gefährten übrig gelassen hat."

"Diese Wahnsinnigen." Ardemar schlug langsam und sorgfältig das Sonnenzeichen. "Die Schattenländer, meine ich. Aber, das heißt auch...Ihr wisst nicht sicher, ob das da wirklich die letzten Überreste des Burgvogts sind?" 

"Gewiss nicht...aber es liegt nahe, dass der Edle von Feeingen ein solches Schicksal erlitten hat. Yelnan ist vor Rommilys erfroren, als die verfluchten Flammen erloschen sind, die ihn und seine Schergen gewärmt haben. Als Travias Fluch die Vorräte der Feinde hat verderben lassen...so dass der Dunkelsteiner womöglich auch verhungert ist. Ich glaube nicht, dass er in einer derart verzweifelten Lage noch irgendwelche Statuen nach Yol-Ghurmak geschickt hat."

Ardemar wusste selbst nicht, was ihn ritt, das Auge mitsamt Kopfstück in die Hand zu nehmen, das vor Entsetzen, vielleicht aber auch Schmerz, weit aufgerissen war. Nur ein Stück Stein, trotz allem. Erst eine Rückverwandlung würde die Sache eklig werden lassen. Für einen Moment spürte er einfach nur Leere. Immerhin, Vigo hat die Wahrheit gesagt, dachte er.

 

Vorsichtig legte Ardemar das Bröckchen zurück. Ob magische Statuen noch etwas davon mitbekamen, was ihnen widerfuhr? Diese kläglichen Bruchstücke hier sicher nicht mehr - aber so ein Kopf, der starr und steinern über eine Stadtmauer flog? Der Herr von Natternwiesen spürte Grauen.  

Er wollte einfach nur noch zurück, hinauf, an die frische Luft, in die Welt der Lebenden, auf die Hochzeitsfeier, wo Frohsinn und Heiterkeit herrschten. Selbst wenn sich da oben Baroness Praiodane gerade an einen Rommilyser Gecken verkaufte. 

Für seine Gemahlin, die enge, dunkle Orte hasste, wäre die Gruft ein einziger Alptraum gewesen, ebenso wie vor ein paar Tagen die Oppenbachhöhle.  

Mena schloss den Deckel wieder. "Meine Nichte und Namensvetterin wird demnächst Baronin von Oppstein, findet Euch damit ab. Das Wichtigste ist, dass der Wahnsinn der Vergangenheit niemals wiederkehrt. Diese Baronie, nein, der ganze Sichelhag muss endlich Frieden finden, nach einem Vierteljahrhundert Krieg. Ich werde meinen Teil dazu beitragen."

Ardemar säuberte seine Finger mit dem Taschentuch, an denen er feinen Steinstaub zu spüren glaubte. "Verzeiht, Wohlgeboren. Ich hielt es für meine Pflicht, Euch auf das Gerücht hinzuweisen, das mir...äh, vor kurzem zu Ohren gekommen ist." Er verneigte sich, einige Fingerbreit zu tief, wie er selbst fand. 

 Ismena wies ihm den Weg. 

 

 

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, dachte Alrik vergnügt, mit dem Blick auf das fröhliche, ausgelassene, vielleicht ein wenig zu fröhliche und ausgelassene Treiben um sich herum. Irgendwann muss man sich eben das Blut von der gebrochenen Nase wischen, die Zähne ausspucken und miteinander weiterzechen. Wie nach einer zünftigen Kneipenschlägerei in Brabak.

 Genussvoll schlürfte er an der Darpatperle, dem bekömmlichen, kräftig schäumenden Bier, das der Bräutigam aus seiner Rommilyser Brauerei mitgebracht hatte. Wie hieß der Braumeister noch gleich, dem die Welt dieses bernsteinfarbene Gedicht verdankte? Meister Krummbacher...wenn er denn noch Braumeister war.

Die Gedanken des Friedwangers wanderten für einen Moment zurück zu den Vorfällen rund um den "Hexer von Rommilys". Ein Abenteuer, dem er immerhin ein nobles Stadtpalais in Rommilys verdankte, letztlich auch das Amt des Geheimen Kammerherrn der Markgräfin. Das Marktfriedwanger Hergoldsbräu sollte sich mittlerweile ebenfalls in Jodokus Besitz befinden, die einstige Brauerei der Praiosbasilika. Nun, das dunkle, nach Kohle schmeckende Rauchbier war nun wirklich Geschmackssache, aber die Darpatperle ging runter wie Öl...die streng genommen ein Amber war. Den "Schwarzen Bären" hatte Alrik vorhin auch gekostet, ein nachtfarbener Trunk, der ihm ebenfalls zusagte. 

Einen Moment lang genoss der Baron einfach den Erfolg, den Sieg und das Wohlleben, auf dieser "Versöhnungsfeier". Ein derart üppiges Festbankett im Firun war keine Selbstverständlichkeit - und Teil des etwas protzigen Patrizierstils, den der fesche Jodokus aus der Hauptstadt mitgebracht hatte. Wie so oft nach Zeiten des Krieges und der Entbehrungen wurde schlimmer geprasst als je zuvor, zumindest von denen, die es sich erlauben konnten. 

Das Abendessen war nun wirklich opulent gewesen, allein diese nüssegefüllte, honigbestrichene Pastete. Ein wildes Gerücht behauptete, dass die beiden gebratenen Blauweiher-Reiher in Wahrheit zwei von Adrans Pfauen gewesen waren, deren klagendes Geschrei Ismena auf die Nerven gegangen sein sollten. Was fliegt, wird gebraten, hieß es im schlemmersüchtigen Altdarpatien - solange es keine heiligen Gänse waren...Konnten Pfauen fliegen? Egal.  

 Der Tanzboden hatte ebenfalls erbebt, im Lichtermeer der Kerzen, ganz so, als wäre ein Teil der Gäste nicht erst vor wenigen Wochen mit blanker Klinge aufeinander losgegangen. Besser so als umgekehrt. Derzeit herrschte Tanzpause, im Rittersaal. Kinder mit Zipfelkapuzen und angeklebten Bärten liefen umher, um die plaudernden Gäste mit kleinen Leckereien, Wein und Gerstensaft zu versorgen. Alrik grapschte nach einem fettigen Entenschlegel und biss herzhaft hinein.

 Das Motto des Abends sollte eine "Zwergenhochzeit" sein - irgendwie musste das Brautpaar verdecken, dass es zum Segen der Travia oder gar des Praios nicht gereicht hatte. Dafür konnte die Ingerimmspriesterin vor Kraft kaum laufen, die zu den Ehrengästen des Abends zählte. Das nächste Gerücht behauptete, dass der Tempel des Roten Gottes den Frieden maßgeblich vermittelt hatte, und solcherart geehrt wurde.  Vielleicht hatte Alrik sich auch verhört und das Ganze sollte eine "Zwercher Hochzeit" darstellen. Um daran zu erinnern, dass Praiodane die Tochter der früheren Landvögtin von Zwerch war. Immerhin handelte es sich bei der silberreichen Ingerimmstadt am Ochsenwasser um die zweitgrößte Siedlung der Mark. Die Birkenbruchs waren dort allerdings völlig entmachtet worden, nach dem jähen Sturz von Thahiras Vetter und Nachfolger Ingar. Praiodane gaukelte unverdrossen Einfluss und Hausmacht vor, obwohl sie beides gar nicht besaß ?! Aber nun gut, Boltan funktionierte ähnlich. 

Huldvoll nickte der Friedwanger einem der "Daheimgebliebenen" zu. Wie die Oppsteiner Niederadeligen genannt wurden, die in der Fehde zuhause geblieben waren. Nur um jetzt eifrig zur handstreichartigen Hochzeit von Jodokus und Praiodane zu strömen. Die werten Fehdegegner hatten sich ein wenig rar gemacht - obwohl oder gerade weil Adrans Adoptivtochter, ihre letzte verbliebene Anführerin, heiratete.

Giselda von Natternwiesen hatte das kleine, wackere Häufchen Adranscher um sich geschart und tat so, als wäre die Schlacht am Oppenbach nur ein ruppiges Turnier gewesen, das eben nach pervalschen Regeln ausgetragen worden war. Der Immelner war dem Fest demonstrativ ferngeblieben. Sein "bester Freund" schmollte noch immer, weil Alrik ihm den Mord an Flocke gehörig heimgezahlt hatte. Oder besser gesagt, ihn dafür hatte zahlen lassen.

Einen Augenblick lang spürte der Baron leises Bedauern. Praiodane war zuletzt ein echtes Schnäppchen gewesen, auf dem Heiratsmarkt. Alriks vage Hoffnung, Solalin, seinen Sohn, mit der Edlen von Senwitz vermählen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Haldana von Schlotz, bei der hatte es sich um einen echten Glücksfall gehandelt. Eine überaus günstige Gelegenheit, die Phex selbst einem treuen Diener wie ihm nicht allzu oft schenkte. Respektive seinem allerältesten Sohn Alboran, dem lange verlachten Bastard.

Alrik rechnete durch, was ihm die Fehde bislang eingebracht hatte - außer persönlicher Genugtuung natürlich, für die frühere Liebschaft des Oppsteiner Altbarons mit seiner Gemahlin Serwa.

Die Gießenborner Fürstenmine war gesichert, einschließlich des umstrittenen Ilpettastollens. Mena hatte sämtliche "konfiszierte" Anteile von Adran erhalten und an ihren Sohnemann Alboran weitergegeben, der sie wiederum als Mitgift für die Ehe mit Haldana brauchte. So dass sich das Silberbergwerk nun in festen Händen der Markgräfin, des Hauses Friedwang und der Schlotzer Binsböckels befand. Ironischerweise hatte Adran für den teuren Erbstollen, der den Ilpettastollen entwässerte und damit bergrechtlich zu einem Teil der Fürstenmine werden ließ, an Menas Stelle bezahlt. 

Corelian und Gunelde von Hochfels, sein Schwager und seine Schwester, durften sich nun (wieder) Edle von Blauweiher nennen. Alrik plante zudem eine Wiederaufnahme der alten Oppsteinisch-Friedwängischen Fahrensgemeinschaft, am besten unter neuem Namen: die alte Bezeichnung klang doch sehr nach Fahrendem Volk. Der Mondschatten wollte in Zukunft auch vom Handel in der Nachbarbaronie profitieren, der überwiegend mit Säumern, nicht Fuhrwerken, abgewickelt wurde. 

Irgendwie fehlte ihm aber noch das letzte Sahnehäubchen auf dem Tortenstück, das er sich aus Redenhardts Erbe herausgeschnitten hatte. Dem Baron war nicht entgangen, dass sein Sohn Solalin Adrans ehemalige Knappin anhimmelte, die es ebenfalls auf die Hochzeitsfeier geschafft hatte. Um genau zu sein: die er die ganze Zeit unschicklich anstarrte. Diese Nela von Moosenwaldt, deren Gut irgendwo an der Echsmooser Grenze lag, war eine Tochter Roanas von Hochfels, die sich gerade angeregt mit ihrem Bruder Corelian unterhielt.

Die junge Moosenwaldterin hatte wiederum nur Augen für Helman von Natternwiesen, den Erben des schmucken Ritterdorfs. Helman war Knappe Raubalds von Eichelfels, eines weiteren "Zurückgebliebenen". Offenbar träumte sie davon, demnächst eine Nele von Natternwiesen zu werden, keine Nele von Friedwang. 

 Mit bedauerndem Seufzen ruckte Alrik seine Augenklappe zurecht und strich sich über den ergrauten Spitzbart. Die Hochfels-Moosenwaldts besaßen zwar nur einen kleinen Ansitz in den Bergen, ein festes Haus, mehr nicht. Aber dafür einige schöne Rechtmeilen vom Moosforst. Die phexische Bedeutung eines Waldes wurde gemeinhin unterschätzt, zumal in einer Bergbaubaronie, die in einem fort Gruben- und Feuerholz benötigte. Die Arkuhlacher Zwergenkohle brannte mit größerer Hitze als Holzkohle, war durch den umständlichen Transport aber teuer. Er würde sich mit Storko noch einmal über dessen Karrenwegpläne unterhalten müssen, die Schaffung einer "schnellen" Verbindung von Marktfriedwang nach Wutzenwald. 

Nela von Moosenwaldt. Die frischgebackene Ritterin kam ihm bekannt vor, von der Fehde her. Irgendwie ähnelte sie sehr der Kämpferin an der Standarmbrust, die wiederum durch Storkos Balliste zertrümmert worden war...die Armbrust, nicht die Richtschützin. Wäre auch schade gewesen um das hübsche Ding, die ihre etwas herbe Schönheit von Roana geerbt hatte. 

 

Es half alles nichts. Seinem bleichen, schlaksigen, koboldhaften Sohn haftete weiterhin der Ruf des Burgdeppen, bestenfalls noch des "weisen Narren" an. Allzuviel Mitgift würde Solalin nicht in die Ehe bringen, seine rondrianischen Fähigkeiten waren noch erbärmlicher als im Falle Alborans. Der wundersame Hesindeblitz, der das "Wechselbalg" vor kurzem getroffen hatte, machte es nicht besser. Das Gerücht, dass Solalin ein Feigling war, der den Narren nur gespielt hatte, um sich nicht in Knappschaft begeben und in den Krieg gegen Dämonenmacht ziehen zu müssen, hielt sich ebenfalls hartnäckig.

Ein Sackpfeifer rief die Festgäste trötend zusammen und verkündete mit derber, heiserer Marktschreierstimme ein weiteres Gaudium, vor der Tür. Dafür gelte es sich warm anzuziehen. Allerdings nicht zu warm, denn den hohen Herrschaften würde es schon von ganz allein heiß werden. 

Die Adeligen eilten aufgeregt plaudernd nach draußen, auf den schneebedeckten, festlich erleuchteten Hof, wo Gaukler eine ingerimmgefällige Schau darboten. Ein Feuerspucker ahmte die Wappenkreatur des Hauses Oppstein nach, seine Gefährtin jonglierte mit  ölbestrichenen Flammenschwertern und doppelseitig lodernden Fackeln. Wirbelnde Feuerschlangen, sprich brennende Schnüre, malten gleißende, funkensprühende Lichträder in die Luft.  "Aah...." "Oooh..."

Es kam noch illustrer. Magister Baduron von Eslamsbrück war dem Kerker der Praioskirche entwischt und ließ eine Schar imaginärer weißer Tauben in den Nachthimmel steigen, wo sie sich in glitzernden, knallbunten Feenstaub, goldblinkende Dukaten und herabfallende rote Rosenblätter verwandelten. Dazu erklang sphärische, feenhafte Musik....was für ein Kitsch. Nichtsdestotrotz brandete begeisterter Applaus auf. 

 Wollte der tobrische Zauberer sich etwa auch noch bei den Siegern anbiedern - und auf den lukrativen Posten des Hofmagiers zurückkehren?

Baduron war ein kluger Kopf, somit gefährlich. Kein Wunder, dass ihn die Praioscommission derart brutal eingeschüchtert hatte. Sollte die Phantasmagorie andeuten, dass der Friedensschluss nur eine flüchtige Illusion sein würde? Dass ein Geldregen rasch wieder versiegen konnte? Oder die "Liebe" zwischen Jodokus und Praiodane ungefähr so echt wirkte, wie die zarten Blütenblätter von Rahjas Blume es waren, die sich in Nichts auflösten, noch bevor sie den Schnee erreichten?

Da drüben scharwenzelten wieder Helman und Nela miteinander herum, so unbefangen, wie das in der traviaseligen Mark erlaubt war. Immerhin schon mit Händchenhalten und Gekicker. Solalin war den beiden Turteltäubchen gefolgt, in einiger Entfernung, aber beharrlich, wie ein fliegender Glupschaugendämon in der Dämonenstadt Yol-Ghurmak. Besonders geschickt stellte sein Sohn sich nicht an, Hesindetrichter hin oder her. Aber der Baronet hatte den ganzen Abend auch keinen Tropfen Bier oder Wein getrunken. Kein Wunder, dass er so verklemmt war. 

Alrik überlegte, ob er seinem Sprößling irgendwie zu Hilfe eilen könnte. Zum Beispiel, in dem er sich in das Gespräch der beiden Jungadeligen einmischte - und beiläufig erwähnte, dass Helmans Vater und Nelas Mutter blutsverwandt waren. Nun ja, er selbst hatte seine Tochter mit dem Sohn seines Bruders verlobt, da wäre so ein stiller Vorwurf nicht allzu glaubwürdig. 

 

Dennoch, der Friedwanger war ein guter Beobachter. So entgingen ihm die verstohlenen Blicke nicht, die Helman dem Töchterchen seines Schwertvaters Raubald zuwarf, die wiederum irritiert zurück blickte. Wollte Helman das pausbäckige Ding - dem Friedwanger fiel gerade ihr Vorname nicht ein - eifersüchtig machen?

 Der Mondschatten lauschte dem Geturtel eine Weile. Kein Zweifel, Nela war "scharf" auf Helman, wie man bei der Jugend wohl sagte. Aber der hatte zugleich die Eichelfelserin in Blick, deren Vater sich wohlweislich aus der Fehde herausgehalten hatte und entsprechend gut gelaunt wirkte.

Der abgelegene Weiler Eichelfels beharrte bis heute auf die seltsame Bezeichnung "Großdorf", als sicherlich größte Ansiedlung der Umgebung. Aber in der Bergeinsamkeit da oben sah jeder Schafstall wie ein kleiner Palast aus. Eitel Herumposieren, mit leeren Titeln und wertlosen Verwandtschaftsbeziehungen, schimmernden Gewändern und hübsch geschminkten Gesichtern, das passte zur heutigen Jugend. Hauptsache, es klang schön hohl, wenn man auf den Putz haute...

 Der Fuchs von Friedwang hatte geglaubt, dass Praiodanes "Verrat" überall Mißfallen erregen würde, aber das Gegenteil schien der Fall zu sein. Die jungen Leute eiferten ihr bereits nach, und versuchten sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren?! Nur Nele schien dieses Spiel noch nicht recht durchschaut zu haben. Womöglich glaubte sie, dass die Familien der Adrananhänger weiterhin zusammenhalten mussten.

Nun, allein das zu verhindern war schon ein Grund, sich einzumischen. Alrik winkte diskret einen der "Zwergen" herbei, steckte dem erst schüchternen, dann überwältigten Büblein einen Silbertaler zu und beauftragte ihn, der Eichelfels einen Becher Aranischen Roten zu bringen. "Mit bester Empfehlung des jungen Herrn Helman von Natternwiesen. Mich hast du nicht gesehen, ist das klar, oder ich zieh dir die Zwergenbeine lang!" Rotwein geht bei unerfahrenen Edelfräulein immer, dachte Alrik beschwingt und gab dem Jungen einen Klaps auf den Rücken.

Dann wandte er sich Syrenia von Mersingen zu, die sich mit ihrer Schwester gerade über das Consilium unterhielt, den nahenden Familienrat des Hauses Oppstein. Die Einladungen waren verschickt, die ersten Antworten eingetroffen.

Offenbar hatten sich die Perricumer Oppsteins bereits entschuldigt, vortrefflich. Da unten in Bergthann schien die Bindung an das Stammlehen nicht mehr allzu eng zu sein, sehr gut. Jadwina von Oppstein hatte sich angekündigt, die ehemalige darpatische Gesandte in den Nordmarken, die Adran von ganzen Herzen hasste, als Schwester Edorians. Die erschüttert war vom Ableben ihres Bruders, dem sie eine Zeitlang Zuflucht in Elenvina gewährt hatte. Tragisch, aber in diesem Fall von Vorteil für die Ismenagetreuen. 

Hauptmann Wulfhelm würde dabei sein, natürlich, der schnauzbärtige Streber ohne Fehl und Tadel, Gänsebald, der reumütige Levthansjünger aus Rommilys, ebenso die edle Celissa von Oppstein zu Hirschau. Redenhardts Base besaß, soweit er wusste, ein kleines Gut in Markgräflich Wolkenried und galt als besonders rabenmundtreu. Franka Ludilla von Oppstein würde von den Efferdstränen her anreisen, zusammen mit ihrer Gemahlin, Alriks eigener Kousine Daride. Von dieser Seite aus war ebenfalls kein Widerstand zu erwarten. Die Linie Oppstein-Unterallertissen schien im Krieg erloschen zu sein, die Oppstein-Lanzenschäfter residierten im fernen Albernia. An Gorthin von Oppstein, der Akib oder Baron in Trahelien sein sollte, brauchten sie sich nun wirklich nicht zu wenden.

 Amüsiert sah Alrik, wie die Eichelfelserin dem Natternwieser zuprostete, selig lächelnd und mit einem gut gefüllten Becher Rotwein, gefolgt von einem angedeuteten Kussmund. Rittfrau Nele blickte ebenso empört wie entsetzt. Der Baron von Friedwang liebte es, wenn seine Pläne funktionierten. 

 

Schloss Opstein, 25. Tsa 1046 BF, Markttag

 

Daride Kusmina von Friedwang-Oppstein nickte dem goldrot livrierten Diener zu, der ihr gerade einen heißen Tee einschenkte, ins Porzellantässchen. Framkas Gemahlin hatte Glück und einen Sitzplatz gleich neben dem heiß lodernden Kamin ergattert, nebst ihrer Gattin. Trotz des Tsamonds herrschte im Sichelhag noch immer strenger Frost. Der Spätwinter leuchtete schneeweiß durch die eisbeschlagenen Fenster herein.  Rund um die Tafel wurde bereits aufgeregt debattiert, unterm Kerzenleuchter, am Tisch des langgestreckten Saals, dessen Teppiche nicht nur für Wärme sorgten. Sondern auch dafür, dass nachher, sobald die Türen geschlossen waren, die Stimmen gedämpft sein würden.

 

Die zierliche Endfünfzigerin kam sich ein wenig verloren vor, im inneren Zirkel der Macht des Hauses Oppstein. Framka, ehemalige Hauptfrau der Darpatgarde, hatte darauf bestanden, dass sie bei den Beratungen anwesend sein würde - auch wenn ihre "amazonische Gefährtin" nur durch Traviabund eine Oppsteinerin war. Eine Ehe, die sie auf den toleranten Efferdstränen geschlossen hatten, sogar vor dem Altar der großen Mutter. Niemand schien sich daran zu stören, dass mit Daride die Schwester des Schwarzroten Barons Gernot mit am Tisch saß. Ihre Gemahlin hatte Alriks Base zugesichert, dass sie, wenn schon kein Stimmrecht, dann wenigstens Rederecht erhalten würde, wie alle "angeheirateten" Teilnehmer des Treffens. Bei dem es immerhin um die Zukunft der Baronie Oppstein gehen würde.  

 Gerade erst hatte es ein leichtes Vorgeplänkel gegeben: Wie konnte es sein, dass während der Hochzeit Praiodanes mit Jodokus   - die großzügigerweise im Schloss hatte gefeiert werden dürfen - Meister Baduron aufgetaucht war? Der tobrische Magier, der erst Adran verraten hatte und dann von der Praioskirche verhaftet worden war? Was ihm recht geschehen hatte, gemäß Mehrheitsmeinung am Tisch? Praiodane hatte angeblich von nichts gewusst, und insgeheim Ismena Rondria verdächtigt, den zwielichtigen Kerl in den Oppsteiner Hof eingeschleust zu haben.

 Ismena die Jüngere hatte wiederum jegliches Vorabwissen abgestritten. Offenbar sollte der Auftritt von "Meister Hühnerbart" das Hochzeitsgeschenk der Natternwiesens sein. Ardemar von Natternwiesen hatte behauptet, sein Schützling wäre durch die Protektion der Baronin von Rosenbusch freigekommen. Weswegen er ja auch Rosenblätter hatte erscheinen lassen...Darides Blick ging in die schon etwas betagte Runde - selbst der junge Schönling Gänsebald aus Rommilys hatte graues Haar, nachdem er Opfer eines sinistren Hexenfluchs geworden war. Manche munkelten gar von finsterem Dämonenwerk.  Müde sah er aus und ein wenig runzlig, dabei war er gerade einmal Mitte 20. Gänsebalds Arroganz und Eitelkeit taten diese Schönheitsfehler keinen Abbruch, auch wenn er sich demonstrativ ein Gänseamulett umgehängt hatte. Daride fragte sich, ob das Levthanshorn, das Adran hatte tragen müssen, bei seiner "Austreibung", eine Anspielung auf das gleichnamige Garether Hurenhaus gewesen sein sollte, in dem Gänsebald merkwürdige Traumspielchen gespielt hatte. Rahjagefällige Rollenspiele..

 

Ismena die Ältere von Oppstein weilte ebenfalls unter den Anwesenden - "Mena von Gießenborn" war  nur ihr Rufname. Die Amtfrau von Gießenborn unterhielt sich ausgiebig mit Jadwina und Celissa, zwei weiteren "Überlebenden" des Redenhardtschen Zeitalters. Wulfhelm von Oppstein saß rondrianisch gerade in seinem Sessel, als habe er das Schwert verschluckt,  das zugleich sein Sternzeichen war. Er wirkte fast schon nackt, ohne seine Rüstung, und auch sonst ein wenig deplatziert. Der Hauptmann der Reichsarmee - ein Mann um die 40 - galt als integer, geradelinig und anständig.

Gerade deswegen schien er sich nicht ganz wohl zu fühlen, angesichts der verworrenen Verhältnisse im Stammlehen seines Hauses. Framka saß ebenfalls kerzengerade da, als weitere Schwester des großen Redenhardt, und plauderte freundlich mit ihrem Neffen, einem Sohn des verblichenen Inquisitionsrats Parinor. Es war ein offenes Geheimnis, dass Wulfhelm von manchem als neuer, idealer Baron von Oppstein gehandelt wurde - aber jedem im Raum musste klar sein, dass der Hauptmann in diesem Fall die meiste Zeit bei seinen Greifengardisten verbringen würde, vielleicht sogar an der Seite der Kaiserin, nicht auf dem Oppsteiner Schloss. 

 

Daride strich sich durch ihr rotes, ebenfalls schon etwas ergrautes Haar, dass ihr ein albernisches Aussehen und den Spitznamen Deirdre eingebracht hatte. "Deirdre" fragte sich gerade, nach welchen Kriterien der Familienrat - etwas hochtrabend Consilium genannt - einberufen worden war. Wenn es nach friedwängischem Hausrecht ging, dann meinte so ein "Familienrat" vor allem eine Erbengemeinschaft in Bezug auf den "Fideikommiss" der Familie: Deren unveräußerliches Gemeinvermögen, Waffen, Möbel, Gemälde, Dukaten, nicht zuletzt ihre Stammburg und Schloss Suunkdal… Dom Floddar, das "Feste Haus" auf Effora, gehörte nicht mehr zu dieser Erbmasse, nachdem Framka und Daride nach Rommilys umgezogen waren (was Baron Alrik noch gar nicht so richtig mitbekommen zu haben schien). Die Efferdstränen waren mittlerweile kaiserliches Eigenlehen. Reichsvogt Leobrecht von Ochs hatte dezent darauf hingewiesen, dass das Haus an der Südküste einmal Verbannungsort des abgesetzten Barons Flodo von Friedwang gewesen war. Dessen Nachfahren das "Dom" irgendwann einfach als Eigentum angesehen und gekapert hatten - ohne Widerspruch zu ernten, auf diesem götterverlassenen Eiland, über das selbst der Meeresgott seine Tränen vergoss. Leobrecht war so großzügig gewesen, das Landhaus nebst Grund, Boden und Ziegenherde "zurückzukaufen", für eine annehmbare Summe. 

Ihre gemeinsame Tochter, Ola Körnstein, war mittlerweile Offiziersanwärterin und stand auf eigenen Füßen, an Deck der "Magistra von Perricum", dem Schulschiff der Perlenmeerflotte.

 Nun gut, der Adelsstand war Ola verweigert worden, als "Amazonentochter". Dass es sich bei ihr um die leibliche Tochter des ehemaligen darpatischen Hofnarren Ossric Kunterbunt handelte, hatten die Spießer zum Glück nicht mitbekommen. Daride durfte zufrieden sein. Nach dem Ende der Traviamark ließ es sich sogar wieder im sittenstrengen Rommilys aushalten. 

 

Wie auch immer, in Friedwang unterstand der Familienbesitz dem Senior des Hauses - das musste nicht unbedingt das älteste, aber in jedem Fall das ranghöchste Mitglied sein. Das würde Alrik sogar bleiben, wenn er sein Baronsamt in ein paar Götterlaufen an Tsalinde abgeben musste, als "Geheimer Kammerherr der Markgräfin". Die Oppsteiner hatten ihr Oberhaupt abgesägt, insofern würde es interessant sein, wer der Ratssitzung vorstehen würde. Der Stuhl an der Stirnseite der langen Tafel war jedenfalls noch frei. 

 Ismena die Jüngere schien Darides geheime Gedanken erraten zu haben. Nachdem die Baroness sicher war, dass alle Teilnehmer des Consiliums versorgt waren, schickte sie die Diener hinaus und ließ die Türen schließen. Dann fiel Ismena Blick auf ihre Namensvetterin, alias Mena von Gießenborn, die sich gerade mit dem früh gealterten, aber immer noch gut aussehenden Gänsebert unterhielt.

"Liebe Mena, dir gebührt das Amt der Curatoria. Nachdem dich mein leider viel zu früh verstorbener Onkel Redenhardt dazu bestimmt hat, in seinem Testament - sollst du heute die Hüterin des Oppsteiner Erbes sein. So wie wir es besprochen haben."

Daride lächelte fein. Auch wenn Baroness Ismena scheinbar zurücksteckte, stellte sie mit diesen Worten doch unmissverständlich klar, dass sie bereits die Herrin im Haus war - und damit war nicht nur das Schloss gemeint. Dank dieser besonderen Machtstellung würde auch Glyrana von Mersingen, als künftige Schwiegermutter, an der Sitzung teilnehmen, quasi in Vertretung ihres Verlobten, ebenso wie ihre eigene Mutter Irmena Darina von Baernfarn-Oppstein.

 Im Gegenzug hatte Praiodane durchgesetzt, dass auch ihr frischgebackener Gemahl Jodokus mit von der Partie sein durfte, unter Verweis auf Darides Anwesenheit. Daride war gespannt, ob sich die Baroness mit der Rolle der Patriziersgemahlin zufrieden geben oder doch weitergehende Ambitionen offenbaren würde. Zum Familienrat waren Vertreter des älteren Hauses in den märkischen Baronien eingeladen worden, ebenso die Vorsteher der Nebenlinien. So sie denn anwesend sein wollten und konnten. Von den Immlingern etwa, den Oppstein-Unterallertissens, hatte man gar nichts gehört, aber nun gut, deren naher Verwandter, Baron Alwan von Rabenmund-Unterallertissen, hatte sich gehörig die Rabenklauen verbrannt, als er auf Edorians Seite in die erste Oppsteiner Fehde geritten war.  

 Die Baernfarn-Oppsteins waren bislang von Irmena Darina vertreten worden, aber es konnte gut sein, dass Praiodane ihr dieses Amt streitig machen würde - womit Ismenas Rondrias Mutter ihr Stimmrecht verlieren würde. Alles Weitere hing nun an Irmena Darinas Schwester Mena, die den Ehrenplatz einnahm. Die Curatoria ließ sich in den gepolsterten Sessel sinken, griff nach einer Arange und schälte sie ausgiebig. Das sollte wohl eine zwanglose Gesprächsatmosphäre schaffen.

Sie legte die orangefarbenen Schalen auf ein Tellerchen und sah in die Runde. "Ich begrüße Euch im Namen der Zwölfe und bedanke mich, dass Ihr unserer Einladung gefolgt seid, meine lieben Oppsteins. Ich sehe einen Vertreter der Garether Linie, meinen werten Wulfhelm. Wie ich deine besondere Stellung einmal umschreiben möchte, als treuer Diener des Reiches und der Kaiserin. Ebenso sehe ich zwei Oppsteins aus Rommilys, meinen werten Gänsebald und meine liebe Framka… ebenso Familienmitglieder aus Elenvina, Schlotz und Wolkenried. Dazu kommt meine Wenigkeit, die in Friedwang das Banner des Hauses hochhält."

 

Ein leicht gequältes Lächeln. "Nun, ich brauche wohl nicht mehr zu erzählen, aus welchem bedauerlichen Anlass dieser Familienrat nötig geworden ist. Ihm obliegt es, den Frieden in unseren Reihen wiederherzustellen, durch einen weisen Ratschluss. Um hernach, Ihrer Erlaucht, der Markgräfin, Adrans Nachfolgerin vorzuschlagen." Ein prüfender Blick zu Wulfhelm. "Oder Nachfolger?"

Der Hauptmann nahm Haltung an. "Nur, falls mich jemand vorschlagen sollte."

"Wir werden sehen. Zum Ablauf.  Die Entscheidung über das Erbe der Baronie Oppstein sollte einmütig sein, zumindest nach außen. Alle anderen Beschlüsse werden mit einfachem Majorat gefasst.  Das bringt mich zu den Punkten, die im Vorhinein geklärt werden müssen. Wer steht überhaupt als Erbe zur Verfügung? Die Beantwortung dieser Frage können wir noch einen Moment aufschieben. Wer ist stimmberechtigt? Wie ich sehe, ist das Haus Baernfarn-Oppstein gleich zweimal vertreten, ebenso wie es zwei Abgesandte aus Rommilys gilt. Insofern müsste zunächst geklärt werden, wer hier und heute überhaupt ein Votum abgeben darf."

Ismena atmete tief durch. "Beginnen wir mit Rommilys. Du wurdest ursprünglich als Vertreterin der Perricumer Oppsteins eingeladen, liebe Framka Ludilla. Nun habe ich erfahren, dass du deinen Wohnsitz am Ochsenwasser genommen hast?"

Die Veteranin nickte, ein wenig verlegen, wie es Daride schien. Sie hatte sich offenbar  als Abgesandte der Landgrafschaft Perricum gesehen, in Vertretung der Oppstein-Firunslichts oder der Oppsteins zu Lüttenhorst.

"Das war der Grund, warum ich es überhaupt bis nach Oppstein geschafft habe, liebe Schwester", sagte sie im sachlichen Ton. "Die Wege sind noch immer zugeschneit... der Verkauf des Hauses auf Effora hat sich bis in den letzten Götterlauf hingezogen. Vom Umzug ganz zu schweigen."

"Gänsebald, wie siehst du das?"

Der Rommilyser strich sich selbstzufrieden durch das Haar. "Nun, ich denke, der alteingesessene Rommilyser, das bin ich". Auch wenn die Worte des vorzeitig gealterten "Hexenopfers" selbstironisch gemeint sein mochten, klangen sie unglaublich arrogant.

Daride hielt den Atem an. Ihr entging Gänsebalds kurzer Seitenblick zu Praiodane nicht. Bislang hatte sie den jungen Schnösel für einen sicheren Kantonisten gehalten, der in jedem Fall für Ismena Rondria stimmen würde. Schließlich war er auch durch Adrans levthansgefällige Lebensart "verführt" worden.  Dennoch, irgendwie spürte Framkas Gemahlin, dass der traditionsbewusste Rommilyser am liebsten Redenhardts leiblicher Tochter den Vorzug gegeben hätte. Wie es der Wille des früheren Stadtvogts gewesen war.

Im Moment schienen gerade Verstand und Gefühl in Gänsebald zu kämpfen. Wieder einmal. Dazu gesellte sich wohl die  Bigotterie des "wiedergeborenen Traviagläubigen" und "reumütigen Sünders". Womöglich verachtete er Framka für deren Amazonenehe, die der Familie nicht den geringsten Zuwachs an Titeln, Lehen und Erben eingebracht hatte. Geschweige denn an Ansehen.

"Ich denke, Du hast recht", sagte Framka freundlich. "Ich überlasse Gänsebald meine Stimme." 

 

Ein ebenso erfreutes wie überraschtes Lächeln des Rommilysers antwortete ihr.

"Unter einer Bedingung", fügte Redenhardts Schwester hinzu. 

"Die da wäre?" Die Curatoria klang ungnädig und ließ wenig Zweifel daran, dass sie keinen Kuhhandel wünschte.

 "Nun, wenn ich in diesem Fall verzichte - dann müssen die älteren Rechte für alle gelten", sagte Framka. "Auch für die Baernfarn-Oppsteins."

Daride versteckte ihr Gesicht hinter dem Tee und schlürfte daran. Das war ein geschickter Konter, denn damit würde das Stimmrecht an Irmena Darina fallen.

 "Wie siehst du das, Praiodane?" fragte Mena ihre Nichte.  Daride beugte sich vor: Die Frage mochte sehr gut eine Finte sein. Um nicht zu sagen eine Falle. Würde die Edle von Senwitz auf ihr Stimmrecht als Vertreterin einer bloßen Nebenlinie beharren, dann würde sich damit endgültig als Baronieerbin ausschließen. Zumindest nach Darides Auffassung. 

 

Praiodane räusperte sich. "Nun, das ist eine völlig andere Situation, die überhaupt nicht vergleichbar ist. Ich bin die auserkorene Erbin des vormaligen Barons und zudem Edle von Senwitz. Ich bin daher stimmberechtigt, auch ohne der Linie Baernfarn vorzustehen."

"Da hat Praiodane zweifellos recht”, bestätigte Irmena. "Ein neuer Vorsitz der Seitenlinie Baernfarn kann jetzt nicht entschieden werden. Das ist zu früh. Im Übrigen, da die Regelung offenbar an mir vorbei ging, möchte ich gerne meinen Gemahl hinzuholen. Er weilt ja noch in Oppstein. Ich hatte nicht gewusst, dass die Angeheirateten Gast- und Rederecht haben."

Irmena und Praiodane hatten sich darauf geeinigt, sich in dieser Sache um die Führung ihrer Seitenlinie keine Konkurrenz machen zu wollen. Zudem war klar, dass Irmena für ihre Tochter als Erbin Stimmen würde und Praiodane nicht. Eine einheitliche Linie der Baernfarn-Oppsteins würde es daher nicht geben, nicht in der Frage der Baronieerbin.

Insofern war es aber anzunehmen, dass beide das Stimmrecht behielten, da sie sich neutralisierten. Andernfalls müssten die Anhänger der verschiedenen Unterstützer befürchten, das gegnerische Lager zu stärken.

Praiodanes und Jodokus Blicke trafen sich, kaum merklich. Es war ein wenig so gekommen, wie Jodokus es vermutet hatte. Die Edle von Sennwitz und der Rommilyser Patrizier dachten zurück an ihre Hochzeit und was danach geschehen war, Anfang Firun, noch nicht so lange her...



… Praiodane war immer noch völlig verschwitzt… das Haar hing ihr wirr und in Strähnen vor das Gesicht. Es war noch dunkel, natürlich, die Winternächte in der Sichel waren lang. Einzig das Licht der Kerze erhellte die Kammer. Die Kerze, die auszulöschen gestern ebenso sie wie Jodokus vergessen hatten, und die schon ein gutes Stück heruntergebrannt war. Hoffentlich würde diese Krämerseele neben ihr morgen nicht dem teuren Wachs nachtrauern. Praiodane rollte sich zur Seite – und erblickte Jodokus wach, den Kopf auf den Ellbogen gestützt, sie anlächelnd.

„Schon ausgeschlafen?“ erkundigte sich ihr Gemahl.

Der Gedanke, verheiratet zu sein, war immer noch ungewohnt. Es war letztlich doch alles sehr schnell gegangen mit der Hochzeit. Nun, ihr war immer bewusst gewesen, dass eine Adelige sich nicht aussuchen konnte, mit wem sie vor den Altar tritt. Jedenfalls war die Hochzeitsnacht anders verlaufen… nun, anders als was? Eigentlich hatte sie gar keine Vorstellung gehabt, oder vielmehr sich gar keine davon gemacht. Letztlich war es doch… interessant gewesen. Und kurzweilig.

„Grins nicht so dämlich“ herrschte Praiodane den Rommilyser Patrizier an.

„Heißt das, du willst noch einmal?“ erkundigte sich Jodokus mit dem höflichsten und unverbindlichsten Tonfall, den er zu dieser frühen Morgenstunde zu bieten hatte.

Praiodane schnellte herum und riss dabei Jodokus Arm zur Seite, sodass dessen Kopf zurück ins Kissen fiel, während Praiodane den Gemahl an den Handgelenken packte und ihn mit ihren kräftigen Händen festhielt.

Jodokus wehrte sich nicht. Noch nicht. Er hatte in der Hochzeitsnacht zwei überraschende Dinge über seine Gemahlin erfahren. Das erste war, dass Praiodane als Ritterin ihm körperlich überlegen war. Das zweite war, dass sie ihre überlegene Kraft dabei so dosiert einsetzte, dass er sich letztlich dennoch durchsetzen konnte. Und Jodokus hielt es für besser, seiner Gemahlin nicht zu verraten, dass er sie hierbei durchschaut hatte.

„So… als mein Gemahl bist du mir ja zu Loyalität verpflichtet, Jocki…“

„Nenn mich nicht Jocki, Dani.“ unterbrach dieser.

„Ist gut, Baernfarn…“

„Ja, das ist besser.“

„Hör endlich zu, sonst nenne ich dich auch in der Öffentlichkeit Jocki…“

„Na gut“ gab Jodokus formal klein bei, nicht ohne hier das letzte Wort wieder gehabt zu haben.

„Du bist zu Loyalität zu deiner angetrauten Gemahlin verpflichtet. Also… dann wirst du sofort deine Unterstützung für diese Ismena einstellen und mir helfen, mein Erbe anzutreten. Nicht zuletzt ist mein Erbe auch dein Erbe.“

Mit vielem hatte Jodokus gerechnet, aber nicht mit dieser Ansage gleich nach der Hochzeitsnacht. Einen Moment lang drängte sich ihm der Gedanke auf, dass Praiodane im Hinblick auf diese Forderung ihrer beider Hochzeitsnacht zu einem unvergesslichen Erlebnis gestaltet hatte. Doch er schob den Gedanken beiseite. Seine Gemahlin müsste eine sehr gute Schauspielerin sein, um das so durchzuziehen. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen.

„Du hast recht, ich muss loyal zu dir sein, ebenso wie du zu mir. Und, weißt du was, Praiodane. Ich finde dich toll, ganz ehrlich, besser hätte es der Wille unserer Familien gar nicht treffen können. Ich sag das nicht nur so, Praiodane, ich meine es ehrlich. Und, Praiodane, ich muss nicht nur, ich will auch loyal zu dir sein.“

Praiodane wirkte für einen Moment überrascht. Dann beugte sie sich herunter und gab ihrem frischgebackenen Gemahl einen leidenschaftlichen, lang andauernden Kuss, den Jodokus nicht minder leidenschaftlich erwiderte.

„Gut reden kannst du ja, Baernfarn“ setzte Praiodane nach. „Aber Worte sind billig, wenn dem nichts folgt.“

Jodokus setzte sich auf, Praiodanes Hände um seine Handgelenke nach oben schiebend – was diese mit wohldosiertem Widerstand geschehen ließ – und führte diese hinter Praiodanes Rücken, wo er diese auch mit seiner geringeren Kraft halten konnte – was Praiodane wohl wissend um ihre dann schlechtere Position geschehen ließ.

„Loyalität heißt zuallererst auch Ehrlichkeit. Und ich bin Kaufmann. Allein schon von Berufs wegen könnte ich vielen Leuten einen Apfel verkaufen, wenn sie eine Birne wollen. Aber bei Dir will ich ehrlich sagen, was ich denke und ich möchte das auch von Dir. Meine erste ehrliche Aussage, die unsere Loyalität betrifft ist, dass wir beide es zusammen ganz weit bringen können, wenn wir zusammen halten. Du und ich. Und nur zusammen.“

„Das hört sich gut an. Aber bislang sind das ja nur Worte.“ setzte Praiodane nach. „Also“

„Ehrlichkeit… ja. Dann lass uns mal nachdenken. Würde es mir gefallen, an deiner Seite Baron Oppstein zu werden? Sicher ist das ein reizvoller Gedanke. Aber erlaube mir, das ganze durchzudenken. Mal angenommen, wir hätten damit Erfolg. Dann haben wir beide nicht nur das Haus Mersingen und vermutlich auch das Haus Friedwang zum Gegner, vielleicht sogar die Binsböckel. Die haben sich alle schon mit Ismena arrangiert. Obendrein, auch meine eigene Familie würde da nicht mitspielen. Denn mit einem solchen Streich wäre alles Vertrauenskapital, dass die Gallyser mühsam in den letzten 30 Jahren aufgebaut wären, verbraucht. Nebenher, dann könnten wir auch alle Handelsbemühungen mit den Sichelbaronien einstellen. Wenn wir so etwas wagen, wenn ich mich nun gegen Ismena positioniere, dann stehen wir ziemlich allein da, und das bei bescheidenen Erfolgsaussichten… und, auch in Oppstein selbst hättest du einen schweren Stand, wenn dein Titel vor allem von mir und meinem Geld abhinge. Du weißt selbst, dass das so ist.“ Jodokus beugte sich sachte vor und küsste die Gemahlin erneut, was diese, zwar zögerlich, erwiderte.

„Loyalität heißt auch, dich vor Fehlern zu bewahren. Wie schätzt du deinen Rückhalt im Oppsteiner Familienrat ein? Groß genug, um zur Erbin gewählt zu werden?“

Praiodane schüttelte den Kopf. „Eher nicht.“

„Ich fürchte, liebste Praiodane…“

„Du hast mir Ehrlichkeit versprochen, Jocki, also halte dich daran. Wir sind verheiratet und hatten eine Hochzeitsna… naja… war in Ordnung. Aber dass aus einer politischen Ehe Liebe wird, ist kein Selbstläufer. Wenn du das willst, streng dich an, bemühe dich um mich und rede nicht nur davon. Klar? Aber versprechen kann ich Dir nichts. Und bis dahin nenn mich nicht Liebste.“

„Klar und deutlich. Mit klaren Aussagen kann ich gut leben. Mit Herumdrucksen nicht.“ Dieses ´war in Ordnung´ konnte er vermutlich sogar ein Stück weit als Lob verbuchen. Nun, wer hätte denn auch erwartet, dass der Beginn einer politischen Ehe ganz ohne Schwierigkeiten klappt.

„Was den Rückhalt betrifft, sehe ich das ähnlich. Denken wir politisch. Können wir etwas tun, um deinen Rückhalt zu stärken?“

„An was denkst du?“

„Nun, an zweierlei. Wie ich hörte, hat deine amazonische Verwandte sich die Erlaubnis herausbedungen, dass ihre Gemahlin anwesend sein darf, ja sogar das Rederecht soll ihr zugestanden werden. Du könntest das gleiche für mich einfordern, vielleicht kann dir das bei ganzen Sache nutzen.“

„Das ist doch immerhin ein Punkt. Noch mehr Ideen?“

„Ja, eines noch. Du solltest mit Irmena reden…“

„Mit der Mutter von dieser…“ fuhr Praiodane auf.

„Ja, genau, denn in einem Punkt habt ihr gleiche Interessen. Deine Gegner werden versuchen, dir dein Stimmrecht auf der Versammlung zu entziehen. Sie werden sagen, dass pro Nebenlinie nur eine Stimme gelten soll. Wenn sie damit durchkommen, wäre Streit zwischen Dir und Irmena sicher, und das würde euch beiden schaden. Besser, du begründest dein Stimmrecht auf deiner Abstammung vom vormaligen Baron und auf deinem formal bestehenden Erbanspruch.“

„Aha. Gut, ich will darüber nachdenken. Allerdings… wenn die Baernfarner Linie nur eine Stimme haben soll… warum stellt man dann nicht die Frage, ob nun Irmena oder Ismena die Jüngere auf ihr Stimmrecht verzichten. Ismena ist schließlich auch aus der Baernfarn-Linie.“

„Verdammt scharfsinnig bemerkt. Du überzeugst mich immer mehr davon, dass es wirklich richtig war, dich zu heiraten. Dieses Argument solltest du dir für den richtigen Zeitpunkt aufsparen. Zum Beispiel dann, wenn es tatsächlich um dein Stimmrecht im Rat geht und die vorigen Argumente nicht ausreichen.“

„Gut. Jetzt haben wir schon zwei Ideen. Das verbessert meine Situation, macht mich aber nicht zur Baronin.“

„Stimmt. Und auch wenn wir deine Karten verbessern können, so kann es sein, dass es nicht reicht. Ich will dir nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Du hast nur eine Chance, wenn der Familienrat von sich aus eine Mehrheit für Dich findet. Ich kann Dir diese Mehrheit aber nicht organisieren. Warum sollte irgendjemand im Familienrat auf mich hören? Vielleicht kann ich mit den Rederecht einen wankelmütigen beeinflussen. Aber mehr fällt mir nicht ein… Gut, es sind ja auch noch ein paar Tage Zeit bis zum Familienrat. Aber… wenn sich heraus stellt, dass du dich im Familienrat nicht durchsetzen kannst, dann kannst du für deinen Verzicht einen Preis heraus schlagen. Das brächte dir dann mehr, als in einer Kampfabstimmung zu unterliegen.“

„Willst du mir meinen Anspruch ausreden? Du musst mir die versprochene Loyalität schon noch beweisen. “

„Das werde ich. Aber auf die mir am erfolgreichsten erscheinende Weise. Und diese geht nur in den seltensten Fällen mit dem Kopf durch die Wand. Und nüchtern betrachtet lässt sich das nicht anders sagen. Wenn sich keine Mehrheit im Rat für dich abzeichnet – wovon nun einmal auszugehen ist, dann meide die Niederlage. Und, ich will das ehrlich einschätzen, du bist nahezu ohne Chance auf den Baronsthron. Das kann ich Dir leider nicht anders sagen. Je eher du das selbst verstehst, um so nüchterner und klarer kannst du dann versuchen, das Beste aus der Sache zu machen. Sie es mal so… Ein guter Stratege ficht nur die Schlachten, die er gewinnen kann. Andere meidet er und versucht, aus dem Abzug Kapital zu schlagen. Du könntest dir vorab Gedanken machen, was du dir im Fall der Fälle von Ismena wünschst, wenn du deinen Anspruch zurück nimmst.“

„Vorschlag?“ So schnell, wie Praiodane auf diesen Gedanken einging, dachte Jodokus, wusste Praiodane schon selbst, dass sie nicht die nächste Baronin von Oppstein werden würde.

„Einen habe ich. Fordere, dass Sennwitz ein Erblehen wird. Und, ach ja, du solltest irgend etwas erreichen, das deinen Unterstützern zugute kommt, denn auch deren Loyalität will belohnt sein. Über weitere Sachen können wir gerne nachdenken. Was sich davon durchsetzen lassen wird, werden wir auf dem Familienrat sehen. Wichtiger ist es aber, unsere Strategie zu besprechen. Du wirst natürlich nicht offen sagen, dass du dir keine Hoffnungen mehr machst. Im Gegenteil, je glaubhafter der Anspruch, desto höher der Preis. Ich hingegen bin gefangen in meiner Rolle als Unterstützer Ismenas, und weder du noch ich hätten etwas davon, wenn ich jetzt die Seiten wechsle. Außerdem ist das größte Kapital, das ein Kaufmann hat, sein guter Ruf und sein Wort. Nein, ich werde mein Wort gegenüber Ismena nicht brechen, und du weißt genau, das damit niemandem genutzt ist.“

„Aha… also doch ein Baernfarn, wie ich es mir gedacht habe.“ antwortete Praiodane, allerdings nicht so vorwurfsvoll im Tonfall, wie diese es beabsichtigt hatte.

Jodokus überhörte die Kritik. „Ich übernehme die Rolle des ehrlichen Kaufmanns, der zu seinem Wort steht und Ismena unterstützt, der aber zugleich auch seiner neuen Gemahlin loyal sein muss. Diesen Gewissenskonflikt dürfen durchaus alle erkennen. Du bestehst auf deinem Recht als Erbin, ich versuche zu schlichten und Kompromisse zu finden. Das ist unsere Rollenverteilung. Mit diesem Theaterstück sind wir nicht unglaubwürdig, und wir können legitime Interessen einbringen. Und… du kannst mich gerne ein wenig beschimpfen, wenn ich nicht laut genug deine Stimme vertrete und ich werde mich dann kleinlaut entschuldigen, dir nicht alle Wünsche erfüllen zu können. Das geht voll in Ordnung, es dient dem Erfolg deiner Sache. Aber nur dezent, nicht zu auffällig. Nur eines. Nenn mich niemals Jocki.“

Praiodane nickte, sie wusste selbst, dass sie praktisch kaum eine Möglichkeit hatte, ihr Erbe auf dem Drachenthron anzunehmen. Das anzuerkennen fiel ihr schwer, hatte sie doch ihr Leben lang sich darauf eingestellt. Nüchtern betrachtet hatte ihr Gemahl vermutlich recht, dass sie mehr erreichen konnte, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt nachgab.

Jodokus zog Praiodane nach unten und ließ ihre noch hinter ihrem Rücken gefassten Hände los.

Diesmal wehrte Praiodane sich nicht, noch nicht einmal zum Schein.

 

Der Geist der Edlen wanderte zurück in die Gegenwart. Die Baroness lächelte versonnen, fast schon verzückt. Mit feuchten Augen schob sie sich den kleinen Finger zwischen die Lippen und lutschte daran. Jocki...entgegen der Vermutung des Patriziers war ihr Gemahl es gewesen, der sie vom Traviaküken in eine Rahjastute verwandelt hatte. Wie es sich geziemte. Gerade weil Praiodane das Temperament ihrer seligen Mutter in sich spürte - ebenso wie das Levthansgehörn auf dem Rücken - hatte sich sich immer um einen sittengefälligen Lebenswandel bemüht. Als Jungfrau von Oppstein. Nun, diesen Preis für ihren geschickt eingefädelten Traviabund hatte sie gerne gezahlt.

 Die junge Frau sah aus den Augenwinkeln, wie Irmena Darina aufstand und mit dem feinen Stiefelchen ein Elfenohr zurückschob, das sich am Teppich gebildet hatte. 

 "Ich werde mal nach Deggen sehen" sagte die Oppstein-Baernfarn. Die Edle von Sennwitz hob erstaunt die fein geschwungenen Augenbrauen. Für Irmena wäre es ein Leichtes gewesen, nach ihrem Gemahl schicken zu lassen. Offenbar wollte sie sich noch unter vier Augen mit ihm besprechen. Praiodane entging die Kälte in der Stimme der Gutsherrin nicht. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Traviabund zwischen der Herrin von Beornsried und dem Rondrianer nur auf dem Pergament bestand. Armes Rondritscherl. Dagegen waren sie und Jocki ja fast schon ein Herz und eine Seele. Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Das Spiel der Barone war blutig gewesen, sie hatte es verloren, aber danach erstaunlich gute Karten erhalten, bei der Partie namens Jodokus.  

"Gut, dann unterbrechen wir." Auch die Curatoria stand auf. "Eine Pause von einem halben Wassermaß. Genügt dir das, Irmena?" Ein leichte Spannung schien zwischen den beiden Schwestern in der Luft zu liegen. Streng genommen hätte die Baernfarn-Oppstein warten müssen, bis die Runde offiziell aufgehoben wurde, durch ihre Schwester. 

 Die Angesprochene nickte: "Er ist sicherlich bei seinen Schwertübungen."

 Die Gutsherrin eilte hinaus, wo sie bereits von einem Diener mit Mantel in Empfang genommen wurde. Draußen wurde offenbar fleißig gelauscht. Ismena ging mit einem geduldigen Lächeln über alles hinweg. Ihr Schwesterchen schien einfach nicht zu verstehen, warum überhaupt noch groß herum lamentiert werden musste, über Adrans Erbe. Sie war eine Baernfarn geworden, in Gallys, und Winkelzügen aller Art abhold.

Während sie, Mena von Gießenborn, es noch nicht einmal zur Witwe gebracht hatte, mit ihrem verschollenen Schattengemahl Golo. Womöglich war gerade das Fehlen eines fremden Familien-Einflusses der Grund gewesen, weswegen Redenhart sie zur Ratsvorsteherin ernannt hatte - sicherlich schon lange, bevor Ismena im Lieblichen Feld verschwunden war...mit der er sich zu Lebzeiten nicht allzu gut verstanden hatte.

Kuratorin wurde eine Oppstein nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es kein Familienoberhaupt mehr gab. Diese Situation war nun eingetreten, zum ersten Mal seit Baron Wisshards Absetzung. Vor allem wurde mit diesem Pöstchen sichergestellt, dass Ismena nicht selbst an die Spitze des Hauses gelangen würde, als mehr oder weniger unabhängige Schiedsrichterin.

Dennoch wunderte sich Ismena, dass ihr niemand das Amt hatte streitig machen wollen. Überhaupt schien das Haifischbecken namens Haus Oppstein in den letzten Jahren ruhiger geworden zu sein. Die Oppsteiner waren noch kein Schwarm sanfter Goldfische geworden, eher Hechte im Blauweiher. Aber auch keine Haie der Blutigen See. Vielleicht lag es daran, dass es mehrheitlich ein Frauenrat war, der hier tagte.

Die Runde zerfiel in einzelne Grüppchen, die sich eifrig über das in den vergangenen Jahren Erlebte unterhielten.

Jadwina war am Tisch zurückgeblieben und fächerte sich Luft gegen die fein gedrehten Ringellöckchen, ganz Hofdame am Herzöglichen Hof zu Elenvina, die sie zumindest einmal gewesen war. Celissa von Hirschau war hinter Jadwinas Stuhl getreten, Herrin über ein paar Bauernhöfe in Wolkenried. Allzuviel wusste Mena nichts vom Lebenswandel der Hirschauerin. Sie schien sich in Markgräflich Wolkenried zur Gänze dem Willen des Hauses Rabenmund unterworfen zu haben. 

Celissa blickte zu Praiodane und Jodokus, wobei sie die Hand um ein glitzerndes Trinkglas geschlossen hielt. "Wie ich sehe, haben wir nur die Wahl zwischen dem Haus Baernfarn oder dem Haus Baernfarn und dem Haus Mersingen?" fragte die Edle leise.

Der Flüsterton war beinahe unnötig, denn die Edle von Sennwitz – oder Senwitz, es gab beide Schreibweisen – zankte sich ebenso leise wie eindeutig mit ihrem "aufgebundenen Bären". Was Wunder, bei dem Hintergrund dieser Ehe. Auch wenn nur wenige Worte an die Ohren der übrigen Oppsteins drangen, war klar, um was sich dieser Disput drehte. 

 "Nein, wir haben überhaupt keine Wahl", sagte Ismena ungerührt. "Auch die Kaiserin wird uns nicht helfen.  Praios Finger ist weitergewandert, auf der großen Sonnenuhr der Macht."

Die Elenvinerin faltete ihren Fächer zusammen. "Ich verstehe nicht, warum Adran überhaupt abgesetzt worden ist...Wegen Ketzerei? Liebe Güte. Bei uns in Vina...nun, es war vor zwei Jahren, da kam ein Levthansdiener in die Stadt, ein Weinhändler von den Zyklopeninseln. Levadios ay Lerayos oder so ähnlich. Der hat den neugebauten Rahjatempel seinem widdergehörnten Gott geweiht, gegen den Willen der Erbauer."

Jadwina schüttelte den Kopf und stieß über die Schulter hinweg mit Celissa an. "In Elenvina leuchtet der Praiosglaube. Sicher nicht weniger hell als bei euch in Rommilys. Aber selbst der Großinquisitor – ja, Amando Laconda da Vanya höchstselbst - hat in diesem Fall Fünfe gerade sein lassen, kurz vor seinem Ableben. Was diesen Weinhändler anging, der meines Wissens auch Adran beliefert hat. Zumindest schmeckt dieser Rote hier nach Fuchsgauer. Also, was sollte die ganze Aufregung in der Sichel?"

 

Mena knabberte an einem Stückchen Arange. Deren Saft sollte ebenso gut gegen die Kerkersieche helfen wie gegen Erkältungen im Winter - aber diese Frucht schmeckte schon ziemlich trocken und kraftlos. Was Wunder, war sie doch ein Überbleibsel der Versuche Adrans, in seinem Park eine Arangerie einzurichten, in einem Rosenbuscher Gewächshaus. Ein klein wenig prahlerisch kam sich Ismena schon vor, ob der exotischen Frucht.

Die Tempelweihe von Elenvina. Sie hatte von der Geschichte gehört, schließlich war sie gerade selbst damit beschäftigt, der schönen Göttin ein Heiligtum zu errichten. Oder besser gesagt, das alte, im Krieg zerstörte Heiligtum wieder aufzubauen.  

"Amüsant", sagte Mena. "Und nebenbei bemerkt der Grund, warum unser Hoher Kommissar nach Elenvina gereist ist: Um ein wenig am Wein des Cyclopäers zu schnuppern. Ist dieser Winzer nicht sogar ein Geweihter des Widdergehörnten?"

"So wird gemunkelt, ja. Die Hexen auf dem Hörnerberg wären begeistert, gewiss. Oder auch nicht. Das letzte, was ich gehört habe ist, dass er nach Zinnen geschickt wurde, wo es am Roten Stein eine berauschende Quelle geben soll..." Jadwina lächelte mit geröteten Wangen, leicht beschwipst vom Fuchsgauer.  "Womöglich nippen wir gerade an Levthanswein."

 "Wirklich fast wie bei uns", nickte die Herrin von Gießenborn. "Was die berauschende Quelle angeht, meine ich. Der Rauschenbach trägt seinen Namen ja nicht umsonst...und soll die Verlängerung des Oppenbachs sein...aber wir Darpaten haben ja nicht nur die Gemeinschaft des Lichts, die über uns wacht. Die Traviakirche gibt es auch noch, die Adran gegen sich aufgebracht hat."

Die Gießenbornerin bot ihren Gesprächspartnerinnen huldvoll Arangenschnitze an, die mit Verweis auf ihren Wein ablehnten.

"Wenn es denn nur seine levthansgefälligen Schäferspiele gewesen wären..." seufzte Mena. "Ich habe mehr als einmal gehört, wie Adran die göttliche Sokramor erwähnt hat, in aller Öffentlichkeit. Götterschwert hin oder her, aber Freunde macht man sich damit nicht, nach der Restauration der alten Ordnung in der Wildermark. 

Mena musterte Jadwina ausführlich, während diese am vertrauten nordmärkischen Wein schlürfte.

Ausgerechnet Edorians Schwester zeigte Verständnis für den gestürzten Adran? Der ihrem Bruder die rechte Hand abgehackt hatte, um seinen Günstling Lares zu retten, das Elfchen? Lares, der Edorian in der Schlacht am Oppenbach den Rest gegeben hatte – so der Hauptmann der Silberwölfe und der ehemalige Kanzler Oppsteins überhaupt ein und dieselbe Person gewesen waren.

"Irmegunde Hildelind Thalandra, das wäre die richtige Baronin", sagte Celissa leise. "Wenn wir schon unseren guten alten Adran absetzen."

"Die Namen gleich dreier Fürstinnen waren offenkundig zu viel". Mena winkte traurig ab. "Im Landboten hat Edorian nicht einmal die glücklichen Eltern erwähnt. Das musste ja den Zorn der Götter erregen." Die Amtfrau zu Gießenborn blickte gespannt zu Jadwina: Würde sie irgendeine Reaktion zeigen, beim Namen ihres Bruders? Aber diese kam nicht. Jadwinas Gesicht war eine einzige Maske.

"Überhaupt, nicht wir haben Adran abgesetzt. Bei Erlaucht Swantje ist er schon lange in Ungnade gefallen, und mehr noch bei deren Schwägerin. Die Herrin von Rosenbusch wird bereits als künftige Gräfin des Sichelhag gehandelt, wie Ihr sicher wisst?"

 

Mena beobachtete ihre Oppsteiner Verwandtschaft, wie sie am Tisch saß oder am Kamin plauderten. Die Machtkämpfe innerhalb des Hauses Oppstein waren schon früher hart gewesen. Aber nun hatten die Mitglieder das Gefühl, dass ihnen von außen eine Thronfolgerin aufgedrückt werden sollte. Trotz der eindeutigen Verhältnisse wühlte in ihnen verletzter Stolz und angegriffene Ehre.

Die Gießenbornerin war erleichtert, dass Jadwina nicht weiter nach Hauptmann Edorian gefragt hatte. Natürlich hätte sie ihn am ehesten als ihren Bruder identifizieren – oder auch nicht identifizieren - können. Aber abgesehen davon, dass der Reisläufer bereits im letzten Praiosmond erschlagen worden war: die Silberwölfe hatten den Leichnam mitgenommen und ihm ein korgefälliges Grab bereitet, auf dem Oppsteiner Boronanger, mit den übrigen Gefallenen ihres Rudels. Die Curatoria war froh über diese Lösung. Welche Grablege wäre protokollarisch korrekt gewesen, bei einem Söldnerführer, der nicht einmal behauptet, sondern bestenfalls angedeutet hatte, der verschollene Exkanzler von Oppstein zu sein? 

Jadwina seufzte und blickte hinüber zum leise streitenden Ehepaar. 

"Wie geht es Praigunde?" fragte Mena freundlich, um das Gespräch am Laufen zu halten

"Sie ist jetzt zweite Schreiberin in der Reichskanzlei", sagte die Nordmärkerin. "Zuständig für das Bauwesen."

"Ah, erfreulich...es gibt ja einiges wieder aufzubauen, im Reiche Rauls des Großen." Kläffen und Winseln lenkte Mena ab.

Die Tür öffnete sich wieder und Irmena trat ein, mit Deggen im Schlepptau, der sich gerade von einem rondraroten, schneebedeckten Mantel befreite. Seine Stiefel hinterließen ein deutliche Nässespur auf dem Boden. Ein Rudel Onjarobracken stürmte hinterher – und geradewegs auf Ismena Rondria zu, die sie begeistert herzte und abknuddelte.

"Verzeiht, mein Streitross hat einen Ausritt gebraucht", sagte der Rondrageweihte, mit dem roten Gesicht eines Winterausflüglers. "Ich habe mir erlaubt, Adrans Hunde mitzunehmen."

Die Bracken, die aussahen wie eine Mischung aus Tuzakern und Winhaller Wolfsjägern, wollten sich gar nicht beruhigen und umschwärmten Baroness Ismena. Eigentlich sollten sie Adran ins Exil hinterher geschickt werden, aber das war vor dem Eklat im Ingerimmtempel gewesen. Mena wunderte sich ohnehin: Ihr Bruder hatte sich nie sonderlich viel aus Hunden gemacht. Aber nun gut, mit den edlen Tieren, die im Horasreich dem obersten Adel vorbehalten waren, ließ sich natürlich prunken.

"Wenn ich von vorneherein gewusst hätte, dass ich Rederecht habe..." fuhr der Ritter der Leuin fort.

"Schon gut", sagte die Kuratorin. "Ich dachte, du wärest oben auf der Schwerterburg, die Heiligen Klingen des Theaterordens suchen." Mena versuchte nicht allzu spöttisch zu klingen. Dass auf der Schwerterburg mal eines oder mehrere der Löwinnenschwerter versteckt gewesen sein sollte oder sollten. Das war buchstäblich ein frömmelndes Märchen, aus der Sammlung von Mutter Traviola Derpflinger (der Vorvorgängerin der heutigen Marktfriedwanger Traviahochgeweihten). Wer versteckte schon einen Schatz auf einer einsamen Insel und schrieb dann groß Schatzinsel auf die Karte? Allerdings, der rondrianische Ruf der klingenähnlich geformten Fluchtburg trug dazu bei, dass die Senne Langmut zeigte, gegenüber ihrem beurlaubten, reichlich eigenmächtigen Diener. Der seine Fehdebeteiligung zuletzt damit kaschiert hatte, dass es wieder eine Rondrakapelle einzurichten galt, auf der seelsorgerisch verwahrlosten Feste. Gründlich durchsucht worden war die Burg auch, und sogar ein rostiger Dolch und ein Helm zutage getreten, der aus der Zeit des Theaterordens stammen mochte.

Ermattet, aber zufrieden sank Deggen in den Stuhl und sah seiner Tochter zu, die von den Bracken abgeleckt wurde. War die rührende Szene ein abgekartetes Spiel? Mena hatte ihre Nichte ein paar Mal beobachtet, wie sie das Rudel liebkost, mit Leckereien verwöhnt, Bälle und Äste geworfen hatte, die von den Tieren zurückgebracht worden waren. Die Jagdhunde, die eine Zeitlang wirklich um ihren Herren getrauert hatten, schenkten ihre Treue nun Ismena Rondria – so ließ sich das herzige Bild zumindest deuten.

Wenn der Familienrat davon beeindruckt war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Die Diener leinten die nervös winselnden Hunde an und brachten sie nach draußen. Die Curatoria wartete, bis das letzte Getuschel verstummt war. "Gut, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Vertretung der Nebenlinien."

"Verzeih, Mena." Daride hüstelte. "Ich habe ehrlich gesagt noch nicht ganz verstanden, wer jetzt zur Haupt- und wer zur Nebenlinie zählt. Geht es um die Namen? Die Titel? Framka ist Edle zu Punin, nicht von Rommilys."

Die Gießenbornerin lächelte nachsichtig. "Deirdre" galt in Machtfragen als ein wenig naiv, sonst hätte sie es nicht so gut mit ihrem schurkischen Bruder Gernot ausgehalten.

"Mitnichten. Was vor allem zählt, ist der Wohnsitz eines Familienmitglieds. Ich muss zugeben, dass dieser Umstand nicht mehr ganz so deutlich wird, nachdem auch in der Stammbaronie Mehrfachnamen üblich geworden sind. Das gute alte von und zu hatte schon seinen Sinn. Von und zu Oppstein darf sich jedes Familienmitglied älteren Hauses nennen, das in dieser Baronie residiert. Praiodane hätte das Recht, auf diesen Namen zu verzichten und eine Baernfarn-Oppstein zu werden. "

"Wie ich schon sagte, darüber ist noch nicht entschieden", sagte Praiodane. 

"Aber meine werte Gemahlin, ich dachte, wir wären uns einig..." ließ sich Jodokus vernehmen. Ein zorniger Blick seiner Gattin hieß ihn schweigen.

"Ich finde schon, dass auch der Titel und das Lehen berücksichtigt werden sollten", sagte die Baroness herrisch.

"Wunderbar, dann ist Framka eine Puniner Oppstein, keine Rommilyserin", schlug Daride mit krampfhaften Lächeln vor.

Framka schmunzelte. "Ich danke dir, liebe Frau, aber ich besitze keinen einzigen Taubenschlag in Punin. Allerdings, mein lieber Gänsebald, soweit ich weiß, bist du außerhalb von Rommilys ansässig. Wie heißt das Ka...Dörfchen noch einmal? Oder ist es nur ein Gutshof?"

 Der "Sünder" blickte verstimmt. "Ich weile öfters in der Stadt", brummte er nach kurzem Schweigen. "Und schaue in unserem Palais nach dem Rechten, gleich neben der Aldeburg."

 

"Ja, im Stadthaus der ganzen Familie. Aber du wohnst nicht darin. Wir könnten uns also leicht darauf einigen, dass du die Mark Rommilys vertrittst...die Stadtmark...und ich die Stadt selbst? Wenn es dir zuviel wird, die Diener zu beaufsichtigen...das kann in Zukunft gerne ich übernehmen." Framkas Stimme war das Entgegenkommen selbst.

"Gut, dann wäre das geklärt. Somit sind stimmberechtigt – Wulfhelm als Vertreter Gareths ?!"

Der Hauptmann winkte ab: "Mein Wohnsitz wechselt öfters, je nachdem auf welcher Pfalzburg Rohaja weilt, unsere Reisekaiserin. Oder welche Grenzfeste gerade bedroht ist. Aber ja, um es nicht zu verkomplizieren, könnte man das mit Gareth so sehen."

Mena nickte zufrieden. Wulfhelm hatte gerade durch die Blume zu verstehen gegeben, dass er sich nicht wirklich um sein Lehen würde kümmern können, als Baron. Wenn nicht einmal der Beilunker Reiter wusste, wo er ihn erreichen konnte.

"Gut. Jadwina stimmt für Elenvina, Celissa für Wolkenried. Gänsebald vertritt die Mark Rommilys, Framka die Stadt, Praiodane Oppstein, ich Friedwang. Irmena Darina weilt für die Linie Baernfarn-Oppstein hier, ebenso für Gallys, Ismena Rondria ist gesetztes Mitglied des Rates."

"Warum eigentlich?" wollte Gänsebald wissen, der am wenigsten vom Verlauf der Fehde mitbekommen hatte. Der früh gealterte Jüngling wirkte ein wenig streitlustig.

"Nun, mit neun Abstimmenden vermeidet man schon mal ein Patt", antwortete Mena süffisant. "Ansonsten zählte Ismena Rondria bislang zum Gefolge Glyranas von Mersingen, womit sie überwiegend in Barken und Meidenstein gelebt hat."

"Unsere Weidener Linie also", sagte Gänsebald gedehnt, wobei er sich nicht recht anmerken ließ, ob diese Worte spöttisch gemeint waren.

"Wenn man so will."

"Ismena Rondria steht gewissermaßen für die gesamte Familie Oppstein", gab Jodokus zum Besten. "Gerade weil sie keiner bestimmten Linie angehört…also nicht wirklich...wäre sie geeignet, Euer Haus wieder zusammenzuführen." Der Patrizier musste zugeben, dass dies ein wenig schlicht argumentiert war, ganz so, als wären sämtliche Oppsteins wutentbrannt aufeinander losgegangen.

Praiodane schnaubte denn auch wutentbrannt auf – wenn es gespielt war, dann gut. "Ich vertrete familiär die Baronie Oppstein, hast du nicht gehört? Warum sollte ich dann nicht auch Baronin von Oppstein werden? " Demonstrativ ruckte sie mit dem Stuhl vom Tisch weg und schlug die Beine übereinander.

Amüsiertes, aber auch nervöses Lächeln breitete sich am Tisch aus. Die ganze Situation konnte leicht in einer Fortsetzung der Fehde enden. Oder auch nicht – irgendwie war die Lage schon wieder viel zu verwickelt.

Deggen meldete sich zu Wort. "Ich habe die bisherige Debatte ja nicht mitverfolgt, aber...wir sollten nicht vergessen, was die eigentliche Ursache für diese Fehde war. Der Eklat auf Burg Gernatsborn, beim Turnier, mit einer schweren Beleidigung Glyranas von Mersingen durch diesen.... den vormaligen Baron. Hat Adran sich eigentlich bei Dir entschuldigt?"

 

Die Mersingen nickte. "Oben in Koppeln, ein wenig widerwillig und nur unter vier Augen...aber immerhin..."

"Beleidigungen sind unerfreulich, aber leider häufig, ebenso wie Ehrenhändel", sagte Celissia. "Aber es war nicht Praiodane, die Glyrana geschmäht hat...Ebensowenig wurde sie auf Hexenfesten gesichtet oder dergleichen. "

 "Ihr erwartet sicher, dass ich das Wort für meine Tochter ergreife." Deggen massierte seine steif gefrorenen Hände und verzog leicht das wettergegerbte Gesicht. Er schien jetzt erst so richtig aufzutauen. "Nun denn, Ismena hat gezeigt, dass sie für sich selbst sprechen kann. Allerdings, ein Zitat meines werten Verwandten Bishdarielon, seines Zeichens Landmeister des Golgaritenordens, will ich doch zum Besten geben. Wenn Du nicht weißt, wie Du dich entscheiden sollst...folge dem Weg der Ehre." Der Geweihte blickte mit seelsorgerischer Genugtuung in die Runde und schenkte sich – die Diener waren hinausgeeilt – ebenfalls einen Glaskelch mit Wein ein.

"Was bedeutet nun Ehre? Ich würde sagen, einen einwandfreien Leumund zu haben, vor sich selbst und anderen. Dieses Wort erinnert nicht zufällig an den Beinamen unserer Herrin Rondra: der Himmlischen Leuin.

"Ich verstehe, was Deggen meint", sagte Framka. "Unsere feudalistisch-aristokratische Rechtsordnung beruht auf Ehre. Auf Ehre und Respekt gegenüber unseren Mitadeligen. Allerdings nicht nur darauf. Ein weiterer Pfeiler ist das Geblütsrecht. Auch das hat Adran mit Füßen getreten. Es tut mir leid, Praiodane. Aber du wurdest unehelich geboren, trotz Anerkennung. Auch wenn ich die Absetzung deines Vaters nicht gutheiße, so muss ich doch feststellen, dass Ismena ehelich zur Welt gekommen ist. Thahiras andere Kinder haben leider nie das Erwachsenenalter erreicht. Tsa´s sei geklagt. Ihre Mutter Aradne ist im Kindbett gestorben, an den Folgen einer Fehlgeburt...soetwas vererbt sich leicht."

Praiodane sah die "Edle zu Punin" empört an. Jeder im Raum wusste, was bei diesem offenen Angriff mitschwang: Der Wert einer Adeligen bemaß sich auch darauf, wie viele Kinder sie zur Welt brachte – bringen konnte - als künftiges Kapital auf dem Heiratsmarkt. Wenn dieser simple Umstand auch meist nicht offen ausgesprochen wurde, war er gerade den Frauen in dieser Runde schmerzlich bewusst.

"Wie schön, dass ihr beide auch schon ein Kind habt, du und Daride", giftelte die Edle von Sennwitz. "Wie geht es eigentlich dem Kindsvater?"

"Gut, denke ich. Zumindest weilt er noch unter den Lebenden. Wie geht es dem deinigen?"

Atemlose Stille. Die Anspielung auf Redenhardt war offenkundig.

Mena atmete scharf durch. "Bitte...Gemach, gemach. Wir sind nicht der Geweihtenrat von Rommilys. Entschuldige, Deggen...Über den Leumund von dieser oder von jenem mögen andere entscheiden. Wer selbst ohne Tadel ist, werfe die erste Fackel auf den Scheiterhaufen. Es geht hier und heute allein um die Klärung der Erbfolge. Bislang war Praiodane als Erbin von Oppstein vorgesehen und auch als solche anerkannt. Nun erhebt Ismena den gleichen Anspruch, als älteste noch lebende Nichte Redenhardts. Wenn ich es richtig sehe, müsste Praiodane zuerst einmal auf den Thron verzichten, bevor wir Ismena Rondria als Erbin vorschlagen können." Die Amtsfrau von Gießenborn sah die Senwitzerin unvermittelt an, ebenso wie alle anderen Augenpaare im Saal. Nur das Feuer knackte unverdrossen vor sich hin.

Praiodane blickte zu ihrem Gemahl.

Jodokus räusperte sich. "Diese Diskussion hatten wir beide...gerade erst. Natürlich würde Praiodane gerne Baronin von Oppstein werden...und ich persönlich glaube sogar, dass sie keine schlechte Herrin dieses Landes wäre. Was heißt unehelich geboren? Es ist ja nicht so, dass sie beiläufig...in einer einzigen Nacht...in einem Heuschober..." Aus dem Räuspern wurde ein Husten. "Ihr wisst, was ich meine."

Framka murmelte etwas, scheinbar in stiller Verzweiflung und blickte zur Decke, als müsse von dort eine alveranische Gottheit rettend eingreifen.

"Ich nehme es einmal als Kompliment", sagte Praiodane sarkastisch und schüttelte kaum merklich den Kopf. Nervös nippte sie an ihrem Levthansroten und kratzte sich an der Schulter. "Danke, dass du uns allen reinen Wein einschenkst..."

"Aber natürlich wäre Ismena die besser geeignete Baronin", fügte der Patrizier hastig hinzu. "Nicht nur aufgrund der Verbindung zum Hause Mersingen. Die Mersingen sind nun einmal nahe Verwandte unserer geliebten Kaiserin. Ihre Kaiserliche Majestät, die wir zuvörderst ehren und respektieren sollten." Jodokus stutzte kurz und strahlte dann über das ganze Gesicht. Hatte er das gerade eben nicht schön gesagt?

Als der Beifall erst einmal ausblieb, wurde er wieder ernst. "Sei´s drum, wie wir alle wissen, regiert die Welt allzu oft nicht Ehre und Ruhm, geschweige denn ein einwandfreier Leumund...nein, wenn wir ehrlich sind, dann herrscht auf Dere meistens der Nutzen. Insofern sollten wir… wir alle...unseren Stolz für den Moment hintanstellen. Heißt es nicht sogar: Dummheit und Stolz, die wachsen auf dem gleichen Holz?"

Jodokus hielt einen Moment inne, als würde er gerade einen schicksalsschweren Gedanken wälzen. Als würde er mit sich selbst um eine Entscheidung ringen.

"Glaubt mir, auch ich wäre gerne Baron von Oppstein. Liebend gerne, mit Baronin Praiodane an meiner Seite. Aber wer bin ich, mich mit einem derart erlauchten, vornehmen und altehrwürdigen Haus wie den Mersingens messen zu wollen? Mehr noch, meine Geschäfte lassen mir gar keine andere Wahl, als einen Großteil der Zeit in Rommilys zu verbringen. Natürlich wäre es unschicklich, geradezu traviaungefällig, wenn Praiodane derweil in Oppstein leben müsste, fernab ihres Gemahls...Schatz, doch, so ist es, wir haben ja schon darüber gesprochen." Ein halb tadelnder, halb liebevoller Seitenblick zu Praiodane. Begütigend, aber auch bestimmend legte Jodokus die Hand auf den Arm seiner Gemahlin.

"So schwer es mir...so schwer es uns beiden fällt, auf den Titel Hochgeboren und das Erbe von Oppstein zu verzichten...aber ich denke, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Also werden wir uns mit dem Landgut Sennwitz begnügen, Liebling? Wohl oder übel!"

Praiodane schnaubte. Am meisten irritierte sie der Blick der Frauen, die gerade ihr Becken und die Rahjahügel begutachteten, als ginge es um die Kalbfähigkeit oder Milchleistung einer Kuh. Im Vergleich mit Ismena, deren Körperbau dem ihren zum Glück ähnelte. Was sie ebenfalls ärgerte, war der Verweis auf Aradne Tsajada von Birkenbruch, ihre Großmutter, und deren Ableben im Kindbett, bei einer Fehlgeburt, und die fehlenden weiteren Kinder ihrer Mutter Thahira.

 

Sollten sie doch lieber Jodokus anstarren. Der war sicherlich kein schlechter Liebhaber. Aber körperlich auch nicht gerade Ortfried, der König aller Zuchtstiere. Framka, die brauchte gerade etwas zu sagen, diese elende Amazone. Was für eine gehässige Kampfwespe.

Sie sah zu Wulfhelm, der keine Ambitionen zu haben schien, seinen Hut in den Ring zu werfen. Ein Baron Wulfhelm hätte Praiodane wenigstens die Genugtuung verschafft, keine "Ismena von Baernstein-Oppsfarn" auf dem Drachenthron sehen zu müssen. Aber Wulfhelms Vater war Inquisitionsrat und somit Praiosgeweihter gewesen, womit er streng genommen aus der Erbfolge ausgeschieden war. Praiodane musste zugeben, dass sie nicht wusste, wie genau sich das auf die Stellung seines Sohnes auswirkte. Vermutlich sah Wulfhelm sich als Notlösung, sollte es in naher Zukunft an einem Erben fehlen, mehr nicht.

Die Edle rief sich in Erinnerung, dass sie ihre Ambitionen längst auf das prachtvolle Rommilys gerichtet hatte, nicht auf das ländliche, buchstäblich abgebrannte Oppstein. Was nichts daran änderte, dass ihr eine solide eigene Hausmacht fehlte.  Im Moment wollte sie vor allem ihr Gesicht wahren.

"Wir beide haben wirklich lange und ausführlich darüber ge....geredet. Ich fürchte, Jodokus hat Recht. Betrachtet man dann noch...die sonstigen Umstände...nun, dann muss ich mich wohl schweren Herzens dazu durchringen, auf das Baronieerbe zu verzichten. Zum Wohle des Hauses Oppstein. Allerdings denke ich auch an unser erstgeborenes Kind, das wir hoffentlich bald haben werden." Ein versöhnlicher Blick zu Jodokus. "Insofern bestehe ich darauf, dass Senwitz ein erbliches Lehen wird. Am besten ein Junkergut."

"Wird hier gerade nicht etwas vergessen? Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der feudalen Grundordnung... Das ist die Treue...Adran war bislang unser Familienoberhaupt." Celissa hatte sich zu Wort gemeldet. "Ich muss gestehen: Der Wechsel zur neuen Herrschaft geht mir ein bisschen zu schnell." Redenhardts Kousine blickte vorwurfsvoll zu Praiodane. "Vor allem werden hier ziemlich schnell bewährte Traditionen zur Disposition gestellt. Um nicht zu sagen geopfert. Das Senwitzer Edlenland in Junkerhand? Losgelöst vom Anspruch auf die Baronswürde? Ich weiß ja nicht..." 

"Es geht dir zu schnell?" Mena schenkte sich nun ebenfalls Wein ein. "Adran hat auf den Thron verzichtet und den Ortsadel von der Treuepflicht entbunden...die einzige Treue, die wir ihm noch schulden, ist es, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Seinem letzten Willen als Baron, sozusagen." 

 

"Warum gibt es überhaupt den Brauch, wonach der Erbe des Hauses Oppstein zunächst das Edlengut Sennwitz erhält?" Die Edle von Hirschau wischte ein Bröckelchen Wachs von der Tischdecke, das vom Radleuchter herabgefallen sein mochte. "Gewiss, auf diese Weise erwirbt der Jüngling oder die junge Frau Erfahrungen in der Lehensverwaltung. Aber ebenso wird damit seine...oder ihre... Treue gegenüber dem jeweiligen Baron sichergestellt. Dem so ein Edler...oder eine Edle...durch Treueid verpflichtet wird. Unsere Vorfahren wollten damit genau jene Situation verhindern, die nun eingetreten ist: Dass ein Erbe...oder eine Erbin...von außerhalb den Drachenthron besteigt. Dass ein Erbe...ich sag jetzt mal Erbe... sich womöglich einer anderen Familie stärker verpflichtet fühlt als dem Hause derer von und zu Oppstein. Wie du unsereins so schön nennst, Mena, die wir im alten Darpatien ansässig sind...Treue meint beileibe nicht nur Gehorsam gegenüber einem einzelnen Oberherrn, wie ihn der Götterfürst fordert. Sondern mehr noch Treue gegenüber der Familie, im Sinne der Travia. " 

"Nun, dass Ismenas Erstgeborenes den Namen Oppstein beibehalten wird, ebenso wie dessen Kinder, das ist bereits in der Urfehde festgelegt..." Mena sah in die Runde.  

Glyrana blickte säuerlich.  

"Hoffen wir, dass es nicht nur beim Namen bleibt", sagte Gänsebald, der offenbar seinem eigenen Namen - "der Gänsekühne" - Ehre bereiten und das Familienerbe bewachen wollte.  "Wie schnell mag es geschehen, dass sich die Enkel oder Urenkel nicht mehr an diesen Passus erinnern. Was wäre das Haus Oppstein - ohne Oppstein?" 

"Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben." Mena lehnte sich in ihrem Sessel zurück. "Es war leider zuerst mein Bruder, der einen fremden Familiennamen vor den seinigen gestellt hat. Redenhardt...Adran hat diesen horasischen Doppelnamen sogar noch um den Namen des Hauses Mersingen ergänzt. Dessen bedeutenden Einfluss mancher am Tisch mehr zu fürchten scheint als die Umtriebe der landfremden Berlînghans? Grundlos, denke ich doch." Ein leicht gönnerhaftes Lächeln in Richtung Glyrana. "Insofern beseitigen wir mit dem neuen, alten Namen von Oppstein nur einen Fehler, der schon vor langer Zeit begangen worden ist. Manch anderen Fehler noch dazu, scheint mir." 

"So ist es", sagte die Mersingerin. "Ich habe ehrlich gesagt nie verstanden, warum Baron Redenhardt am Tag der Hochzeit den eigenen Nachkommen das Erbrecht verweigert hat. Seinen und Elissas künftigen Nachkommen. Von wegen Treue gegenüber der eigenen Familie...Er soll für den Namen Berlînghan mehr bezahlt haben, an Mitgift, als ihm dessen Klang hernach eingebracht hat. Man könnte auch sagen: Redenhardt hat sich damals mit einem goldenen Paddel begnügt, statt das Steuerrad beizeiten auf den richtigen Kurs zu drehen. Für einen bloßen Schlag ins Wasser, scheint mir..." 

Die Augen der Junkerin von Gernatsborn blitzten maliziös. Jedermann und jederfrau am Tisch verstand die Anspielung auf die Titel- und Ehrsucht des Cronrats und Cronmarinadjutors. Die mürrischen Mienen der Oppsteins um sie herum  - sie erinnerten Glyrana an temperamentvolle Schlachtrösser, die ihre Reiter gewechselt hatten, auf der Trense kauten und mit den Hufen scharrten. Aber ansonsten bereits den festen, neuen Griff um den Zügel spürten. Mehr noch das volle Gewicht im Sattel und die scharfen Sporen an der Seite. 

"Was haben die Verdienste meines...Stiefgroßvaters um den Aufbau der darpatischen Flotte mit dieser Runde zu tun?" zischte Praiodane, ebenso scharf wie lahm. "Wofür ihn die Darpatschiffer eben mit einem vergoldeten Paddel geehrt haben." 

"Die darpatische Flotte gibt es nicht mehr", sagte Glyrana bedächtig. "Als Gemahlin des märkischen Wehrvogts ist mir das schmerzlich bewusst. Aber verzeiht, mir steht es natürlich nicht zu, ein Urteil über den verstorbenen Altbaron zu fällen. Wo waren wir stehen geblieben? Das Edlengut am Blauweiher.  Nun, ich bin ebenfalls der Meinung, dass das Verhältnis zwischen den Herren von Senwitz und den Baronen von Oppstein auch weiterhin möglichst eng und unverbrüchlich sein sollte. Kurz gesagt - freundschaftlich. Insofern würde ich vorschlagen, dass der Erbe von Senwitz in die Knappschaft der Baronin von Oppstein gegeben wird, um solcherart das Band der Treue zu festigen." 

Die Mersingen lächelte. Ähnlich war es Swantje, der jetzigen Markgräfin ergangen, die als Knappin am Hofe Herzog Jast Gorsams de facto eine Geißel des Reichsbehüters geworden war.  

"Der zukünftige Junker von Senwitz. Nicht wahr, Ismena? Ich nehme an, das ist auch in deinem Sinne?" 

Ismena Rondria nickte in Richtung ihrer Schwiegermutter in spe. "Ich kann dir nur von ganzem Herzen zustimmen, liebe Glyrana.  Und ja. Senwitz soll ein Junkergut werden, es ist ja auch ein schönes Dorf." 

Die junge Baernfarn-Oppstein reckte stolz ihr Kinn und sah um sich. "Seid versichert, dass ich Oppstein als meine künftige Heimat sehe. Nicht etwa die Lindwurmburg oder Burg Mersingen. Ganz anders als mein Vorgänger, der in das Stammland seiner Adoptivmutter geflohen ist. Das schöne, ferne Methumis...Keinesfalls habe ich vor, mich bei erstbester Gelegenheit nach Gallys oder Pulverberg abzusetzen".  

Das saß. Selbst Gänsebald schien der Gedankengang zu überzeugen. Hie und da war sogar ein leises, wenn auch nervöses Lachen zu hören. 

Praiodane wollte gereizt zu einer Replik ansetzen, aber Mena kam ihr zuvor. Mit dem Schälmesserchen schlug sie gegen das Weinglas. "Genug der Worte. Ich denke, wir sollten so langsam zur Abstimmung schreiten. Möchte noch jemand etwas sagen? Jadwina?" Die Gießenbornerin blickte zur Nordmärkerin, in der Hoffnung auf ein flammendes Schlussplädoyer von Edorians Schwester. Im Sinne Ismenas. 

Jadwina, die sich bislang zurückgehalten hatte, schmunzelte. "Eine Frage hätte ich noch." 

"Ja?!" 

"Was ist eigentlich aus Redenhardts goldenem Paddel geworden?" 

Das halblaute Lachen wurde zum Gelächter. Jodokus tätschelte beruhigend seine Gemahlin, die nun kurz vor einem offenen Wutausbruch stand. 

Erneut klirrte das Messer gegen das Kristallglas. "Bitte, bitte...Ich fürchte, das kostbare Ehrenzeichen hat die Kriegswirren nicht überstanden. Fast schon ein Zeichen der Götter. Können wir nun abstimmen? Wer nimmt Praiodanes Thronverzicht an?" 

Die Stimmung wurde wieder ernst. Mena von Gießenborn hob die Hand. Nach und nach ruckten alle weiteren Schwerthände nach oben - mit Ausnahme der Hand der Edlen von Senwitz. 

"Praiodane?" 

"Ich darf mich ja wohl enthalten, in Rondras Namen?" Die Angesprochene klang mühsam beherrscht. "Ganz freiwillig verzichte ich schließlich nicht." 

"Wir alle werden uns viel zu verzeihen haben, fürchte ich. Aber nun gut. Ich weiß deine noble Gesinnung und ehrenvolle Haltung zu schätzen, Praiodane. Wie vermutlich alle an dieser Tafel. Acht Stimmen dafür, eine Enthaltung. Wer unterstützt die Ansprüche Ismena Rondrias auf den Baronsthron von Oppstein?" 

Erneut gingen acht Hände nach oben, wenn auch hie und da etwas zögerlich. Praiodane verschränkte demonstrativ ihre Arme. 

"Gut, das gleiche Ergebnis. Überraschend eindeutig, würde ich sagen. Erfreulich eindeutig. Dann sind wir uns den Zwölfen sei Dank ja einig." Etwas ermattet sank Ismena die Ältere zurück und trank erst einmal einen Schluck Wein. 

Fäuste wurden auf den Tisch geklopft, als Zeichen des Beifalls.   

Mena schloss die Augen. Einen Moment lang dachte sie an gar nichts. Etwas war gerade zu einem Abschluss gekommen.

Das herbe Bukett des Rebensafts vermischte sich auf ihrer Zunge mit dem Geschmack der Arange, zu einer bittersüßen Symphonie.