5. Kapitel - Nengarions Steig

5. Kapitel

Nengarions Steig



Im Wutzenwald, 4. Praios 1043
Auf direktem Weg, wie ein Vogel fliegen würde, war es von Schnayttach nach Gernatsborn eine überschaubare Entfernung, aber auf dem Karrenweg nördlich um den Wutzenwald herum über Hallingen, war es ein deutlicher Umweg. Ein anstrengender Ritt also in der Hitze der Sommertage im Praios. Mindestens, wenn man in der prallen Sonne ritt, wie es der Umweg über Hallingen erforderte.
„Wenn es nur nicht so weit wäre, bis nach Gernatsborn. Da hat man das Gut eigentlich fast vor Augen, und dann muss man außen um den ganzen Wald herum reiten. Gestern, vom Turm aus, sah das ganze so nah aus.“ stellte Ismena nüchtern fest. Die Gießenbornerin wäre vermutlich gerne wieder in der Kutsche gereist, wie auf dem Weg nach Schlotz. Aber auch der Pfad um den Wutzenwald herum war nicht im besten Zustand.
“Fast vor Augen ist gut, Ismena” antwortete Alrik. Es dürften dennoch mindestens zwanzig Meilen sein, selbst so wie der Vogel fliegt.”
“Ja, schon. Aber nördlich am Wald vorbei, das muss doch mindestens das Doppelte sein. Oder noch mehr. Da sind wir ja zwei Tage unterwegs.”
“Stimmt, mit zwei Tagesreisen muss man rechnen. Wobei… selbst wenn man durch den Wutzenwald reitet, ist das nicht sicher, den Weg an einem Tag zu schaffen. Ich denke, man müsste schon froh sein, bis Schwaz zu kommen an einem Tag. Und damit meine ich jetzt nur die Entfernung und die unwegsame Strecke, nicht alles andere, was der Wald bereithalten mag.”  
„Du solltest den Weg durch den Wutzenwald vorschlagen.“ sprach Nasdja. „Du bist die Herrin des Landes, das weiß auch der Wald.“
Haldana nickte ein kaum merkliches ´schön dass du wieder da bist´ zu Nasdja. „Ich meine aber auch, wir sollten den Nengarionsteig nutzen.“ warf Haldana ein. „Gen Efferd, bis Firnsjön und dann über die Hügel zum Gernat weiter. Es ist nur ein kurzes Stück durch den Wald bis Schwaz. Über Hallingen kann es auch gut und gerne zwei, wenn nicht drei Tage dauern. Durch den Wald kann es ja vielleicht auch an einem Tag gehen. Je nachdem, wie gut der Weg erhalten ist.“ Haldana erinnerte sich daran, dass ihr Großvater mitunter von seinen Streifzügen durch den Wutzenwald erzählt hatte, und diese Route so erwähnt hatte, um in den Westen vorzustoßen. Nengarions Steig, so hatte sie die geplante Wegführung spontan genannt. Sie wusste, dass es dort auch eine Lagerstelle geben sollte, würde man die Strecke nicht schaffen. Das hatte zumindest Nengarion einmal erwähnt. Auch wenn das Jahre her war.
„Nengarions Steig… das hört sich interessant an.“ warf Alrik ein. „Also warum nicht?“ Den Mondschatten lockte das Geheimnisvolle des Wutzenwaldes mehr, als ihn die mögliche Gefahr abschreckte.
„Aber wenn die Wutzen etwas dagegen haben…“ protestierte die Vögtin. „Du weißt, Tochter, das dein Vater den Wald immer gemieden hat. Und vor einigen Jahren, als die beiden Mersingerschwestern allein im Wald waren – da hatten wir Glück gehabt, dass nur die Entführer den Wutzen zum Opfer gefallen sind und ihr Blutdurst dann schon gestillt war. Das hätte übel ausgehen können. “
„Mutter… weißt du was ich glaube? Es ging den Wutzen damals nicht um Blutdurst. Es ging darum, dass die Räuber die Regeln des Waldes missachtet haben. Die Mersingerschwestern hingegen nicht. Sie wurden ja verschleppt, sind also gar nicht eingedrungen.“
„Da hast du ein wahres Wort gesprochen“ bestätigte Nasdja.
„Nun, bei den Feeischen gelten fürwahr eigene Regeln“ warf Ismena ein. Mit der Anderswelt hatte sie schon genug Erfahrungen gesammelt. Und die Aussicht auf einen mehrtägigen anstrengenden Ritt durch das Hallinger Land erschien ihr ebenfalls nicht verlockend. Da war schon die Kutschfahrt auf der Herfahrt beschwerlich genug gewesen. Noch mehr schlaglochübersääte Piste war sicher nicht verlockend. Ein Ritt, und sei es durch den Wutzenwald, schien da wenigstens eine Abwechslung zu sein. So viel gefährlicher als der Schratenwald war er sicher auch nicht, und den kannte sie inzwischen gut.
„Haldana… du weißt, dass dein Vater den Wald gemieden hat. Mit gutem Grund.“ mahnte die Vögtin.
„Ja. Und ich weiß, dass Großvater dennoch oft im Wald war. Und er kam immer unversehrt zurück.“
„Das stimmt allerdings, Hochgeboren.“ bestätigte Tuvok, der die Schar begleiten sollte, an die Vögtin gewandt. „Ich bin den Pfad, den Haldana Nengarionsteig nennt, mit Eurem Schwiegervater bereits geritten. Der Wald… nun, er kann gefährlich sein, aber er ist es nicht immer. Er… hat seinen eigenen Willen. So hat es der Herr Nengarion ausgedrückt. Es ist nicht so, dass der Wald… keine Menschen mag, dass er jeden Wanderer als Eindringling sieht. Nun, der Wutzenwald, er hat eine eigene Seele. Die muss man kennen und respektieren.“
Adginna dachte kurz nach. Was Tuvok sagte, stimmte. Tatsächlich war der Wutzenwald nicht immer ein Hindernis gewesen. Auch in früheren Zeiten, unter den Baronen von Schlotz, die lange vor ihrem Gemahl Tsafried über das Land geherrscht hatten, war von Wegen und Stegen durch den Wald berichtet worden. Das ging aus vielen Aufzeichnungen und Unterlagen hervor, die auf Burg Schlotz archiviert waren. Anders hätte sich eine so seltsam geformte Baronie auch nicht halten können. Eine Baronie, deren Hauptort in einem vom Rest des Landes abgeschnittenen Winkel des Landes lag. Eine solcherart geformte Baronie hätte sich niemals Jahrhunderte überdauert, wenn die Landesherren ständig weiteste Umwege hätten reiten müssen, um ihr eigenes Land zu verwalten. Nein, nüchtern betrachtet hatte Tuvok recht. Und als Herrin über Schlotz würde Haldana ihre Methode finden müssen, sich durchzusetzen. Auch gegenüber dem Wutzenwald. Vielleicht war es gut, in manchen Dingen andere Vorgehensweisen zu suchen, als sie Tsafried zuvor unternommen hatte. Und Haldana musste lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Also würde es sie ihrer Tochter hier überlassen, die Route festzulegen.
„Meinst du, Tuvok, du könntest uns durch den Wutzenwald führen?“ fragte daher die Vögtin.
Der Jäger nickte. „Der Weg von Firnsjön nach Schwaz wurde länger nicht mehr begangen. Nicht von uns jedenfalls. Die Bauern in Schwaz dürften ihn aber dennoch mitunter nutzen. Also ist er nicht gänzlich zugewachsen. Und dann können wir auch diesen Steig nehmen.“
„Kann uns dabei nichts passieren?“ fragte Alboran besorgt. „Die furchterregenden Geschichten, die man über den Wald hört, reichen mir schon.“
„Und es ist gut, dass es die Geschichten so gibt.“ sagte Haldana. „So wie man sich Gefahrvolles von den Bergen der Sichel oder den Trollzacken erzählt, oder vom Schratenwald oder vom Reichsforst. Schließlich sollte man nur solche Wege nehmen, wenn man weiß, was einen erwartet und wie man mit der Gefahr umzugehen hat. Leichtsinnige sollen durchaus gewarnt sein.“
„Und du, Liebes, weißt, auf was wir uns einlassen?“ Alboran war zögerlich, wollte aber auch nicht nachstehen oder gar Angst zeigen.“
Haldana hatte ein gutes Gefühl, nicht zuletzt, weil Nasdja ihr zu dem Weg geraten hatte. „Ich denke schon.“ sagte sie. „Nun… ich weiß nicht genau, aber der Wald ist dem Herrn Firun heilig. Wir müssen streng die firungefällige Waidgerechtigkeit beachten.“ Haldana war sich sicher, dass der Wald nicht nur dem Herrn der Jagd heilig war, sondern vielleicht auch älteren Mächten, denen manche im Land anhingen. Aber das wollte sie ihrem Alboran, der sich ja doch als relativ praiosgläubig zu erkennen gegeben hatte, das so direkt nicht sagen. Aber nicht zuletzt von Tante Valyria wusste sie, dass sich viele Elemente der Alten im Firunglauben wieder spiegelten. „Wir sollten auf dem Weg bleiben und dem Pfad so folgen, wie er ist. Keinesfalls sollten wir uns mit der Axt in der Hand eine Schneise durch den Wald bahnen. So wie das die Räuber damals gemacht hatten. Das würde die Wutzen auf den Plan rufen. Vertrau mir, Alboran. Es ist mein Land, und wenn es auch Deines werden soll, dann musst du lernen, den Herzschlag des Waldes zu spüren.“
So ganz viel konnte Alboran nicht mit den pathetischen Worten seiner Verlobten anfangen. Den Herzschlag des Waldes spüren, was immer Haldana damit meinte. Er hatte nicht so viel Sinn für das Geheimnissvolle, ursprüngliche, dass sie manchmal ausstrahlte. So wie er auch dem Schreiben seiner „Urgroßmutter“ weniger Bedeutung beimaß als Haldana. Aber er nickte.
„Gut“ nickte Adginna. “Wenn ihr alle das wollt. Mit der Hochzeit meiner Tochter geht die Baronie neue Wege, und da können wir ebenso gerne heute schon damit anfangen.“ Ohnehin war auch Adginna weniger von Furcht vor dem Wutzenwald ergriffen als zuvor ihr verstorbener Gemahl. Also war die Entscheidung gefallen, und die Gruppe machte sich auf den Weg.

Tuvok führte die Schar an, die in einem flotten Ritt nach Westen ritt. Bis Firnsjön war der Weg nicht weit gewesen. Kaum waren die letzten Häuser des Weilers hinter ihnen geblieben, führte der schmaler werdende Weg hangaufwärts über die nördlichsten Anhöhen der Schlotzkuppen. Das offene Feld, das Firnsjön umgab, lag bald hinter ihnen und der Wald, der mit lichten Laubbäumen begonnen hatte, wurde nach und nach dichter. Erlen, Hainbuchen und Espen säumten den Weg, den Tuvok ihnen wies. Tatsächlich war immer noch ein Pfad erkennbar, breit genug, um einem Reiter genug Platz zu bieten, aber dennoch so schmal, dass sie alle hintereinander reiten mussten. In sieben Serpentinen schlängelte sich der Weg durch den Hangwald aufwärts bis zur Schneekuppe, der nördlichsten der Schlotzkuppen. Jetzt, im Praios, lag auf dieser, entgegen des Namens, natürlich kein Schnee. Ihren Namen hatte sie, so hatte Tuvok es den Gästen erklärt, daher, dass im schattigen, steil abfallenden Nordhang der Schnee im Frühling am längsten liegen blieb. Der Nengarionsteig verlief hier entlang des Kamms, der die Schneekuppe mit der im Südwesten liegenden Belchenkuppe verband – woher der Name kam, vermochte Tuvok nicht zu erklären – und dann weiter zur Sechserkogel. Der Name wiederum war leicht erklärt. Dieser Hügel lag exakt westlich von Burg Schlotz, und Herr Praios stand exakt zur sechsten Abendstunde über dem Gipfel. Jüngst auf dem Bergfried hatte Adginna den Gästen die Hügel, die sich, zwar bewaldet, aber dennoch klar erkennbar, aus dem tiefer gelegenen und dichter bewaldeten Wutzenwald erhoben.
Bei der Nennung des Wortes „Gipfel“ für den höchsten Punkt der bewaldeten Kuppen hätte Alrik beinahe Lachen müssen. Mit dem Wort „Gipfel“ verband er eher die höchste Spitze eines Berges der Schwarzen Sichel, vielleicht gar der Trollzacken. Aber die Schlotzkuppen, gerade hier in den nördlichsten Ausläufern, waren eher rundliche Hügel, und, verglichen mit den Bergen der Schwarzen Sichel, auch ganz sicher nicht hoch zu nennen. Dennoch ragten die Anhöhen ein wenig über den Wutzenwald hinaus. Der Weg war gut einsichtig und erkennbar. Obwohl nicht so dicht bewaldet wie das undurchdringliche Dickicht am Fuß der Hügel war es dennoch schwer, Stand und Höhe der Sonne zu erkennen. Immerhin, solange man auf den Hügeln blieb, war der Weg nicht allzu sehr beschwerlich. Doch hinter dem Sechserkogel, dem westlichen der Waldhügel, führte der Pfad hangabwärts. Sicher, es jetzt waren nur wenige Meilen bis Schwaz. Aber der Wald bis dorthin ragte düster und undurchdringlich auf. Und das Zeitgefühl schien allen abhanden gekommen zu sein. Wie lange waren sie schon geritten?
Tuvok hielt an der Hangkante an. Unter ihm, nur wenige Schritt hangabwärts, begann der dichtere und finstere Teil des Wutzenwaldes. Eichen prägten dem ersten Eindruck nach dieses Waldstück.
„Bis hier war ich auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder unterwegs“ erläuterte Tuvok. „Jetzt beginnt der Teil des Weges, den ich zuletzt vor Jahren, damals mit Nengarion, geritten bin. Ein schmaler Steig. Wir können nur hintereinander reiten, und mit entsprechender Vorsicht. Mitunter ist es recht unwegsam.“
„Was erwartet uns dort?“ wollte Ismena wissen. Ob ihre Stimme eher neugierig oder besorgt klang, war schwer zu schätzen.
„Das vermag man nicht genau vorher zu sagen, Wohlgeboren!“ Tuvoks Antwort war nicht dazu angetan, Zuversicht zu verbreiten. Das merkte jetzt auch Tuvok, der kein geborener Redner war. „Aber ich kann so viel sagen, dass ich auf dieser Wegstrecke niemals Angst verspürt hatte, und auch nie in Gefahr war. Ich habe Nengarion mehrfach begleitet auf seinen Ausritten. Manchmal sind uns Wutzen begegnet. Aber niemals waren sie feindselig. Nun… ich hatte das Gefühl, die Wutzen haben uns immer wieder beobachtet. Aber sie haben uns niemals den Weg versperrt oder irgend etwas getan, was zu Sorge Anlass gegeben hätte… Einzig eines war seltsam. Mir kam es so vor, als wäre der Weg, nun, nicht immer gleich weit oder gleich lang. Aber das war vielleicht nur so ein Gefühl. Man sieht den Sonnenstand nicht immer, da unten im Dickicht.“
„Du musst dem Wald vertrauen, dann vertraut der Wald Dir“ vernahm Haldana Nasdjas Stimme.
„Soll ich vorne reiten?“ fragte Haldana, halb in die Runde, halb zu ihrer Urahnin.
„Ich denke, Tochter, das ist die Aufgabe unseres Hofjägers. Wenn er sich schon hier auskennt.“ stellte Adginna nüchtern fest.
„Das wäre eine gute Idee, wenn du vorne reitest, Haldana.“ sagte Nasdja.
„Stimmt natürlich, Mutter.“ Haldana wollte ihrer Mutter nicht offen widersprechen. „Aber wenn der Wald mich als Baronin kennen lernen soll, dann muss ich auch zu erkennen sein. Die Wutzen, oder wer sonst im Wald wohnt, sollen nicht den Eindruck gewinnen, dass ich mich verstecke.“
„Verzeiht, Frau Vögtin, aber soweit meine bescheidene Meinung gefragt ist“ begann der Hofjäger. „Ich hatte bei Haldana immer den Eindruck, dass sie ein gutes Gefühl entwickelt hat für richtig und falsch. Ich denke, das ist eine gute Idee. Sie wird sich nicht verlaufen. Der Pfad scheint gut ausgetreten zu sein. Meine waldläuferischen Fähigkeiten kann ich auch an zweiter oder dritter Stelle ausreichend einbringen. Ich meine zudem, Alboran sollte hinter Haldana reiten. Immerhin ist er der kommende Landesherr an Haldanas Seite. Auch ihn soll der Wutzenwald kennen lernen.“
„Gut, Tuvok. Dann vertraue ich deinem Urteil.“ stimmte Adginna zu. „Du hattest schon immer ein gutes Gespür, warum also nicht?“ Adginna hatte schon seit jeher ihrem Hofjäger großes Vertrauen entgegen gebracht, was dieser mit absoluter Loyalität erwiderte.
Mit der Formulierung, der Wald solle ihn kennen lernen, konnte Alboran wenig anfangen. Was genau meinte der Nivesische Waldläufer in Schlotzer Diensten damit? Nun, vor wenigen Monden noch hätte er das als Geschwätz eines Waldläufers abgetan, als Jägerbosparano. Hätte gelacht angesichts der Vorstellung, dass Bäume ihn kennen lernen sollten. Bäume sollten Bauholz und Brennholz liefern. Dafür hatte man doch einen Wald. Musste man sich den Bäumen etwa vorstellen? Absurder Gedanke. Aber auch er hatte erfahren, dass Tuvok ein verlässlicher Gefährte gewesen war, in der Tiefe des Kurgasberges, und festgestellt, dass manche Erfahrungen eines echten Jägers ihre Berechtigung hatten. Und, so viel hatte er ja schon mitbekommen, der Wutzenwald war… anders. Also nickte er und warf Haldana ein Lächeln zu, das diese mit einem Augenaufschlag erwiderte.
Also setzten sich Haldana und Alboran an die Spitze der kleinen Gesellschaft und lenkten die Pferde den schmalen Pfad hangabwärts, auf den Waldrand zu.

Hatte die vormittägliche Praiossonne noch vor kurzem für eine wohlige Wärme, fast Hitze gesorgt, war es im Wald schattig und kühl. Haldana lenkte ihre Stute vorwärts, über natürliche Stufen bildende Wurzeln und Gestein. Schon bald hatte der dichte Wald sie und ihre Begleiter vollends umfangen. Und obwohl keinerlei Spuren auf dem Pfad zu sehen waren – offenbar war der Nengarionsteig tatsächlich länger nicht mehr betreten worden – war der Pfad gut zu erkennen und nicht überwachsen oder überwuchert. Haldana führte die Gruppe efferdwärts.
Efferdwärts? Nun, Haldana hoffte, dass der Pfad tatsächlich efferdwärts führte. Aber sicher sagen konnte sie das nicht. Aus welcher Richtung das diffuse Licht der Praiosscheibe in den Wald fiel, vermochte sie nicht zu sagen. Auch waren die Bäume auf allen Seiten dicht mit Moos bewachsen. Eine Wetterseite zu erkennen war daher nicht möglich. Nun, vom Gefühl her konnte das mit der Richtung schon stimmen. Aber ein Gefühl konnte trügerisch sein.
Nun, sie fühlte sich dennoch sicher.
`Sind wir auf dem richtigen Weg, Nasdja` dachte Haldana. Sie hatte die Ahnin vorhin zum ersten mal seit einigen Tagen wieder gehört. Vielleicht verlieh ihr das die Zuversicht, die sie spürte.
`Es ist dein Weg, Haldana. Wo immer er hinführt, es ist für dich der richtige Weg.´ Wie immer antwortete ihre Urahnin auf rätselhafte Weise, ohne wirklich alles zu sagen, was Haldana wissen wollte. Die Schlotzerin seufzte leicht.
„Was ist, Liebes?“ fragte Alboran von hinten.
„Alles in Ordnung, Albo.“ rief Haldana zurück. „Ein herrlicher Wald, nicht wahr?“
„Nun… ja, aber zugleich dunkel und so dicht, dass ich mich schwer täte, die Richtung zu halten. Aber du weißt ja, wohin wir müssen, oder?“ Der junge Friedwang hatte vollends die Orientierung verloren.
„Ja, alles bestens“ antwortete Haldana, obwohl auch ihr der Richtungssinn versagte. „Du siehst ja, der Weg ist ausgetreten, immer noch, nach all den Jahren. Gar nicht zu verfehlen.“
Alboran war beruhigt. Gegen die Finsternis des Kurgasberges war der Wald hier auch geradezu heimelig zu nennen. Nein, etwas Bedrohliches ging, bei all dem Dickicht, nicht von ihrer Umgebung aus. Immerhin, etwas nahm Alboran war, fiel ihm jetzt auf, da er darüber nachdachte. Das Zwitschern der Vögel war intensiver, lauter, umfassender, als er es erwartet hätte. Die Wälder daheim in der Sichel, klar, auch da war es selten völlig still. Aber die klangliche Vielfalt der Vögel im Wutzenwald war um ein Vielfaches intensiver.
Vielleicht hatte er aber nur früher nie so sehr darauf geachtet.
Haldana immerhin fiel der leichte Luftzug auf, der, wie sie annahm, aus Efferd blies. Wenn sie immer grob gegen den Wind ritten, würde die Richtung mindestens ungefähr stimmen. Die junge Baronin fühlte sich etwas sicherer. Immerhin, ihre Gefährten vertrauten sich ihrer Führung an, als Baronin von Schlotz war es wichtig, dass sie das Vertrauen, das man in sie setzte, nicht enttäuschte. Es waren große Schuhe, die sie da anzog, die sie von ihrer Mutter nach und nach übernahm.
„Spürst du den Luftzug, Albo? Solange wir ihn gegen uns stehen haben sind wir in der richtigen Richtung unterwegs.“
Alboran fühlte sich ein gutes Stück besser. Sich am Wind orientieren, das klang schon mal gut. Besser jedenfalls, als aufs Geratewohl dahin zu reiten.
Dennoch, hier im Wald schien ihm nicht erst jetzt nahezu jedes Zeitgefühl abhanden gekommen zu sein. Sicher lag das daran, Praios nicht zu sehen. Oder gab es eine andere Ursache?
Warum, beim Herrn des Lichts, fühlte Alboran sich aber so beobachtet? Es war doch niemand außer ihnen hier? Spielten ihm seine Sinne einen Streich? Das sich im Wind die Äste der Bäume bewegten, die Farnkräuter und Schachtelhalme, die Gräser, die Blätter?
Es war doch völlig normal, Bewegungen im Wald wahrzunehmen. Das hatte doch nicht zu bedeuten, dass man beobachtet wurde. Nein, sicher machte ihm nur die ungewohnte Umgebung und der düstere Ruf des Wutzenwaldes zu schaffen.
Haldana schien ihm fröhlich und unbeschwert zu sein. Immerhin, das war schon beruhigend.
Was war das für eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. War irgendetwas an ihnen vorbei gehuscht? Oder hatte sich nur ein Ast im Wind bewegt.
Immerhin, eines hatte sich verändert, eines konnte er feststellen. Zu dem vielfach hallenden Zwitschern der Vögel war ein neues Geräusch hinzugekommen. Ein… Plätschern. Ein… konnte er das Sprudeln einer Quelle oder eines Baches vernehmen? Nun, warum nicht. Auch wenn man sich hier, wie er annahm, etwas nördlich vom Quellgebiet des Gernat befand.
„Hörst du das auch, Haldana? Ein Bach?“
„Ja. Schon eine Weile. Es wird langsam lauter, ich schätze, wir werden ihn bald sehen. Das Plätschern kommt von vorne.“
Natürlich. Das gute Gehör einer Musikantin hatte seiner Gefährtin sicher längst den Bach offenbart, dem sie sich näherten.
Wieder sah er eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Er verspürte die Neigung, Haldana oder Alrik zu fragen, ob sie auch etwas bemerkt hatten. Aber dann hätte er seine Unsicherheit verraten. Also sagte er nichts.
Der Pfad wurde ein wenig breiter. Alboran schloss zu Haldana auf. Auf deren Gesicht war jedenfalls keine Unsicherheit zu erkennen. Nur dass sich lautlos ihre Lippen mitunter leicht bewegten, als sänge sie still ein Lied, oder vielmehr, als würde sie mit jemandem reden, der nicht da war oder den nur sie sehen konnte.
Vielleicht denkt sie über ein neues Lied nach, das sie in Gedanken formt, dachte Alboran. Das zumindest schien ihm die plausibelste Erklärung. Wie hätte er auch ahnen können, dass Haldana sich schon eine gute halbe Stunde angeregt mit dem Geist einer längst verstorbenen Schamanin namens Nasdja unterhielt, die ihr so manches Geheimnis des Wutzenwaldes und noch mehr Geschichten über ihn anvertraute. Und die seiner Gefährtin längst erzählt hatte, dass man in Kürze eine Nebenquelle des Gernat erreichen würde.
Das Plätschern wurde lauter. Hinter der nächsten Wegbiegung sah Alboran, dass auf einer Breite von gut zwei Schritt ein flacher Wasserlauf zu durchqueren war. Gerade fußtief war das Bächlein. Es flimmerte und glitzerte im diffusen Sonnenlicht. Zu Tausenden aufstiebende Tröpfchen, aufgewirbelt vom dahin plätschernden und und Steine wie Wurzeln umspielenden Wasser, tauchten die Luft in eine feuchte Kühle und ließen einen Regenbogen, immer wieder unterbrochen vom Schattenwurf der Bäume, über dem kleinen Bachlauf erscheinen.
Haldana hielt ihre Stute an, und stieg ab. Alboran kam neben ihr zum Stehen, die weiteren Gefährten dahinter.
„Du hattest recht, es ist herrlich“ murmelte Haldana.
„Ähm, ja.“ antworte Alboran etwas verwirrt. Haldana erinnerte sich wieder daran, dass sie mit Nasdja denken und nicht reden musste. Statt zu erklären, wen sie gerade angeredet hatte, wenn nicht Alboran, gab sie ihm einfach einen Kuss und umarmte ihn. Adginna räusperte sich leise. Damit hatte Haldana gerechnet.
Sollte sie, dachte Haldana. Immerhin muss ich jetzt nichts erklären über eine Schamanin, die außer mir niemand sieht.
„So, Zeit für eine kurze Pause und einen belebenden Schluck aus der Quelle. Komm, Alboran.“
„Tochter, das mit dem Küssen in der Öffentlich...“ begann Adginna

Der junge Friedwang folgte Haldana. Einen Schluck Wasser konnte er tatsächlich vertragen.
Wieder meinte Alboran, etwas in der Ferne huschen zu sehen. Aber er dachte nicht weiter darüber nach. Der Kuss Haldanas hatte ihn zu sehr in Beschlag genommen, um jetzt düstere Gedanken zu haben. Er folgte Haldana in den Bach. Erinnerte ihn das an den Loderbach, in dem er mit Haldana herum gealbert hatte? Nein, der Loderbach war viel größer und tiefer gewesen, und das Wasser hatte auch einen bleiernen, schalen Geschmack gehabt. Der Friedwang formte seine Hände zu einer Schale und schöpfte sich etwas Wasser. Dieses Wasser hier schmeckte eindeutig besser, belebender, erfrischender. Erneut schöpfte er Wasser und spritzte seiner Verlobten ins Gesicht. Wie damals im Loderbach. Haldana wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht.
Tuvok, Adginna und Ismena nahm er durch den Schleier des aufstiebenden Wassers kaum mehr wahr, aber er achtete auch nicht darauf. Auch nicht darauf, dass seine Stiefel sich im Bach voll Wasser sogen. Es war warm, und bis Schwaz wären diese längst wieder getrocknet.
„Jaja, die jungen Verliebten, das ist schön anzuschauen.“ Ein leises Kichern folgte.
Alboran und Haldana sahen auf. Ein kleines, erdfarbenes Männchen saß auf einem Stein, gleich über der Quelle des Bachlaufes, von der aus das Wasser auf den Weg plätscherte.
Alboran schrak kurz zurück, entschied sich dann aber dazu, dass von dem Männchen wohl keine Gefahr ausging.
„Bist du ein Gnom? Ein Kobold?“ fragte er
„Bist du ein Mensch?“ fragte der Wicht forsch zurück? Mit einer energischen Bewegung strich er seinen braunen Umhang zurück und grinste spitzbübisch mit faltigem Gesicht Haldana und Alboran an.
„Natürlich bin ich ein Mensch… antwortete Alboran verdutzt. „Als ob du das nicht wüsstest.“
„Siehst du? Natürlich bin ich ein Kobold.“ antwortete dieser. „Als ob du das nicht wüsstest.“
„He…. Du kleiner...“ begann Alboran, aber die Freundin unterbrach ihn.
„Ich grüße dich, wie immer du heißt. Ich bin Haldana…“ Die Baronin antwortete schneller als Alboran seinen Satz fortsetzen konnte.
„Ich weiß“ antwortete der forsche Wicht.
„...von Schnayttach-Binsböckel, die Baronin...“
„Bla Bla Bla. Als ob mich das interessiert, von was oder warum du bist.“ antwortete der Wicht schnippisch.
„Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass dieser Wicht dich ernst nimmt als Baronin. So ein impertinentes Reden, das…“ warf Alboran ein.
„Stimmt. Es hört sich respektlos an.“ antwortete Haldana. „Aber er ist ein Kobold. Nicht wert, sich über eine solche Ausdrucksweise aufzuregen.“ Einem Menschen würde sie eine solche Rede nicht durchgehen lassen können, wollte sie als Herrin des Landes ernst genommen werden. Aber sie hatte jetzt schlicht auch nicht die Mittel, einen Kobold zu strafen. Sie würde sich erst recht lächerlich machen, nun genau das zu versuchen. Da war es besser, sich nicht vor zu etwas verleiten zu lassen, bei dem sie nur verlieren konnte.
„Kobolde können nicht anders als provozieren und stänkern. Das ist ihre Art von Kräftemessen. So wie bei Menschen das Armdrücken ein harmloses Kräftemessen ist, um den stärkeren zu ermitteln. Kobolde provozieren. Wer sich zuerst provozieren lässt, hat verloren. Ich habe nicht vor, zu verlieren.“ erläuterte Haldana ihre Motivation, dem kleinen Wicht sein Verhalten ungestraft durchgehen zu lassen, und ließ zugleich die Beleidigung des Kobolds wirkungslos verpuffen.
Woher nahm Haldana ihr Wissen über Kobolde, fragte sich Alboran. Aus Liedern und Erzählungen? Traf es überhaupt zu?
„Was weißt du schon von Kobolden!“ schrie der kleine Wicht. Gerade der kleine Gemütsausbruch des Koboldes verriet, dass Haldana vermutlich Recht hatte mit ihrer Einschätzung.
„Also gut, Kobold. Du hast uns schon eine Weile beobachtet, nehme ich an. Nicht erst hier an der Quelle.“ Alboran versuchte, sich auf die Strategie Haldanas einzulassen. Zugleich riet er einfach, dass die Bewegungen, die er zuvor mehrfach wahrgenommen hatte, der Kobold gewesen war. Oder dass er einfach so recht hatte damit. „Schön. Wenn du dich nun hier zeigst, hat das sicher einen Grund. Also sprich, Kobold. Was hast du uns zu sagen?“
„Was weißt du denn schon, Stadtgeck?“ stänkerte der Wicht weiter. „Überhaupt hast du hier gar nichts zu melden, du bist nicht der Herr dieses Landes hier!“ Spürte der Kobold, dass es Alboran wurmte, selbst nicht als Erbe einer Baronie geboren worden zu sein? Dass er, anders als Haldana, nur aufgrund seiner unehelichen Geburt einfach schlechter gestellt war? War er neidisch auf Haldana, oder wollte der Kobold ihn nur neidisch machen? Eine leichte Zornesfalte bildete sich auf der Stirn des jungen Friedwangen.
„Das spielt keine Rolle, Kobold, der du uns deinen Namen natürlich nicht sagt.“ antwortete Haldana, die zugleich beruhigend ihre Hand auf Alborans Arm legte. „Da wir bald heiraten ist er genauso Herr dieses Landes wie ich es bin. Außerdem ist er aus der Sichel, nicht aus Rommilys. Aber vermutlich hat so ein kleiner Wicht wie du noch nie eine tatsächliche Stadt gesehen, wenn du schon Gießenborn für eine Stadt hältst.“ Die Bardin provozierte den Kobold zurück.
Der Kobold lachte. „Gut geantwortet, Kleines. Schlau scheinst du mir ja zu sein, Menschlein. Da frage ich mich nur, hättest du nicht einen besseren Gemahl finden können? Einen Krieger, einen Magier, einen stattlichen Mann. Warum nimmst du so ein schmächtiges Bürschchen, Herrin des Landes?“
Vielleicht war es jetzt die Strategie des Kobolds, Alboran herauszufordern und zu einer unbeherrschten Reaktion zu veranlassen, da es ihm bei Haldana nicht gelang. Konnte ihm das gelingen? Haldana war sich nicht sicher, aber besser antwortete rascher, als dass Alboran sich zu irgendetwas verleiten ließ.
„Das lass nur meine Sorge sein. Außerdem, du unterschätzt… seine Steherqualitäten.“ Ganz bewusst wurde Haldana hier zweideutig und lächelte den Wicht vielsagend an. „Aber von so etwas hat so ein Hutzelmännchen wie du natürlich keine Ahnung.“
Alboran lachte über die Schmähung, mit der Haldana den Kobold bedacht hatte. Der Punkt im Rededuell ging an Haldana, die zugegeben den Vorteil eines Zuhörers hatte, der mit seinem Lachen die Pointe verstärkte.
Der Kobold knirschte mit den Zähnen. Aber noch war er nicht bereit, seine Beleidigungen zu beenden. Wenn er nichts erreichte, indem er Alboran schmähte, dann wollte er doch mal sehen, wie der junge Friedwang auf eine Beleidigung seiner Geliebten reagierte.
„Soso… Steherqualitäten. Bist du also doch nur eine schlichte Frau, die sich von Steherqualitäten beeindrucken lässt. Da hätte ich mehr erwartet.“
So wie der Kobold verliebte Männer kannte würde Alboran reagieren müssen, beleidigte man seine Gefährtin solcherart.
„Wo denkst du hin, Gnom?“ antwortete Haldana schnell, bevor Alboran etwas sagen konnte. „Als Baronin muss ich diesem Land einen Erben schenken. Glaub mir, er ist der beste, den ich für diese Aufgabe aussuchen konnte.“ parierte Haldana mit nüchterner Sachlichkeit in der Stimme den erneuten rhetorischen Angriff des Kobolds. „Aber was rede ich. Von der Bedeutung solcher Dinge für eine menschliche Dynastie verstehst du natürlich auch nichts. Ebenso wenig wie von Städten und von… Steherqualitäten. Also lass gut sein, Kobold. Von Menschendingen weißt du nicht viel. Vielleicht weißt du mehr über den Wutzenwald und über den Weg, den wir nehmen. Also… was willst du uns sagen?“
„Gutgut“ beruhigte der Kobold. „Ist lange her, dass ihr Menschlein Euch in den Wutzenwald gewagt habt. Dieser Tsafried, was immer ihn geritten hat, er war nie hier. Da frage ich mich doch, wie will ein Menschlein ein Land beherrschen, das er nicht kennt.“
„Siehst du. Du hast die Antwort dir selbst gegeben. Ich will das Land beherrschen, denn das ist meine Pflicht. Also… du siehst, genau deswegen bin ich hier, deswegen besuche ich den Wutzenwald.“
„Aha aha aha. Na denn. Herrin des Landes.“ Haldana war sich nicht sicher, ob der Kobold sie nun respektierte, oder ob sie einen leicht spöttischer Unterton heraus hörte, mit dem er erneut versuchte, sie aus der Reserve zu locken. „Immerhin, Mut hast du. Deinem Vater hätten die Wutzen das nicht durchgehen lassen. Warum, glaubst du, sollte es Dir besser ergehen?“
„Ganz einfach, Gnom. Weil ich nicht nur das Land beherrschen will, sondern zugleich es auch respektiere. Ich bin in diesem Land geboren, anders als mein Vater. Ich verstehe es ungleich besser, und ich weiß, in welcher Tradition der Wutzenwald steht. Und ich werde den Fehler meines Vater nicht wiederholen.“
Alboran zog überrascht die Augenbraue hoch. Gut, dass er die Geschichte der Baronie Schlotz nicht so gut kannte, war klar. Er wusste nicht, von welchem Fehler ihres Vaters sie sprach. Aber er würde es sicher noch erfahren.
„Vergiss nicht, Kobold, schon mein Großvater wandelte hier. Nengarion. Wie alt bist du, Kobold? Vielleicht kennst du ihn noch?“
„Jaja. Gutgut. Kenne ihn, kenne ihn.“ haspelte der Kobold.
„Siehst du. Der Wutzenwald hat Nengarion akzeptiert. Er hat auch meine Ahnen zuvor angenommen, bis hin zu meiner Urahnin Nasdja. Warum sollte ich mich also vor dem Wutzenwald fürchten.
„Aha aha. Soso soso. Gutgut gutgut. Aber vielleicht machst du doch den gleichen Fehler. Mit deiner Heirat. Wir werden sehen. So wie Tsafried...“
„Wieso…“ unterbrach Alboran. Hör mal, Kobold, wenn du etwas gegen unsere Heirat einzuwenden hast, dann orakel hier nicht so herum, sondern sprich Klartext.“ Alboran verstand nicht, was seine Heirat mit dem Wutzenwald zu tun hatte. Und woher der Kobold überhaupt davon wusste.
„Nanana… Bürschlein. Sei froh, dass deine Gespielin sich nicht provozieren lässt. Da ist noch nicht alles verloren… Du hingegen, Jungspund, musst dir meinen Respekt erst noch verdienen.“
Alboran wollte etwas erwidern, aber ein mahnender Blick Haldanas hinderte ihn daran, aufbrausend zu antworten. Der Kobold setzte seine Rede schließlich fort und lächelte zufrieden.
„Gutgut. Um deiner Heirat willen mit der Herrin des Landes wird der Wutzenwald auch dich passieren lassen. Dieses Mal. Sogar die Schutzhütte darfst du nutzen, wenn ihr es nicht mehr schafft bis zum Waldrand. Immerhin passt deine dir bald Angetraute auf dich auf. Aber ich warne dich… nein. Ich muss dich nicht warnen. Das wird, wenn es sein muss, der Wutzenwald selbst übernehmen. Ich gebe dir einfach nur einen guten Rat. Der Herr Praios, dessen Zeichen du um den Hals trägst, hat auch diesen Wald gesegnet. Er nährt ihn mit seinem Licht, selbst wenn nicht viel davon auf dem Boden unter den Zweigen und Blättern ankommt. Vergiss das nicht, Bürschlein, der du Herr dieses Landes werden willst. Und vergiss auch nicht… im Licht des Praios liegt Wahrheit, aber nicht jeder, der den Namen Ersten der Zwölf im Munde führt, spricht ebenso lauter die Wahrheit wie sie sich im Licht der Sonne selbst offenbart.“
„Du sprichst in Rätseln“ konterte Alboran trocken.
„Nein, du hörst in Rätseln. Sonst würdest es du verstehen. Aber gut, um deiner Gespielin willen sollst du die Zeit bekommen, die du brauchst, um allen zu begreifen. Praios Strahlen nähren den Wald, und daher gibt der Wald auch Praios Wort wieder. Aber wird ein steinernes Haus von Praios genährt? Denke darüber nach, mein junger Freund. Bis dahin, junger Friedwang oder bald junger Binsböckel, meide den Wutzenwald.“
Das erdfarbene Männchen verschwand mit einer Schnelligkeit, der Alboran mit seinen Augen nicht folgen konnte. Oder war es schlicht unsichtbar geworden? Wunderte ihn der Abschied des Kobolds mehr, als ihn zuvor dessen Rede gewundert hatte? Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte.
Alboran sah Haldana fragend an. „Was war das für ein seltsamer Waldgeist?“ entfuhr es ihm.
„Ich würde mal annehmen, das war ein Gesandter der Wutzen. Nun… so irgendwie vielleicht. Aber wenn er die Wahrheit gesprochen hat, dann dürfen wir den Wutzenwald passieren. Dann ist es nicht mehr weit bis nach Schwaz.

„...keit hätte nicht sein müssen.“ vollendete Haldanas Mutter vorwurfsvoll ihren Satz, während sie, Tuvok, Alrik und Ismena ihnen beiden in den Bachlauf gefolgt waren.
Alboran zwinkerte verdutzt. Hatte er gerade wirklich mit einem Waldgeist geplaudert? Aber da war nur noch das Plätschern des Bächleins und das muntere Vogelzwitschern, sonst nichts mehr. Der Stein über der Quelle war leer und selbst der Regenbogen verschwunden. Die Nässe in seinen Stiefeln und die Kälte des Wassers, die von unten herauf drang, wurde langsam unangenehm.
Seine übrigen Reisegefährten schienen von dem Zwiegespräch gerade eben nichts mitbekommen zu haben. Auch wenn das eigentlich nicht sein konnte. Irgendwie kam Alboran sich vor, als hätte er starken Wein getrunken und wäre ein wenig beschwipst.
Verwirrt blickte er in das Wasser, in dem er stand. Nun nahm er kleine, schwirrende Schatten wahr, junge Fische vielleicht oder Kaulquappen. In grünen Fahnen wehte irgendein Bachkraut in den murmelnden Wellen und den Wasserwirbeln. Eine buntschillernde Libelle schwebte vor ihm auf und ab, ebenso ein Schwarm Mücken. Kopfschüttelnd stieg er aus dem Bach, wobei er sich an einem Ast festhielt.
Auch Haldana schien aus einer Art Benommenheit zu erwachen und folgte ihm nach. Galant bot er ihr den Arm. Haldana nickte dankbar und sah stirnrunzelnd zu ihrer Mutter. Tuvok und Alrik führten die Pferde an eine ruhigere Stelle, tränkten sie und füllten bachaufwärts die Wasserflaschen. Ismena setzte sich auf einen umgestürzten Baum, ganz Edeldame in der Wildnis. Die Oppstein wusste nicht recht, ob sie verbiestert oder fasziniert blicken sollte, ob des satten Waldgrüns um sie herum. Es duftete, nach Moos und Kräutern.
“Dein Benehmen ist unschicklich, Haldana, und der künftigen Herrin dieses Landes unangemessen, beim Heiligen Travian”. Die Stimme der Vögtin klang, als wolle sie den halb zugewucherten Pfad freischneiden, der auf der anderen Seite des Wasserlaufs weiter in den Urwald führte. “In deinem Alter haben wir noch Ihr zu uns gesagt, bevor wir verlobt waren. Jedenfalls haben wir uns nicht abgeküsst, in aller Öffentlichkeit.”
“Öffentlichkeit?” Haldana schien sich zu besinnen. “Ach so, ja...Ich bitte dich, Mutter. Wir sind doch mitten im tiefsten Wutzenwald.” Die Baronstochter runzelte die Stirn.
Nur Kobolde schauen uns zu, wollte Alboran einwerfen, besann sich dann eines Besseren. Womöglich würde seine Schwiegermutter wirklich glauben, er sei berauscht oder verrückt geworden, wenn er ihr von der Begegnung gerade eben erzählen würde. Die irgendwie nur in seinem Kopf stattgefunden hatte. Nein, Haldana hatte den Wichtel ebenfalls gesehen, das war ihrem verwirrten Gesicht deutlich anzumerken. Irgendetwas hatte mit Satinavs Zeitfluss nicht gestimmt. Er schien sich verwirbelt zu haben wie das Wasser zu ihren Füßen.
“Nur weil wir uns gerade in der Wildnis befinden, heißt das nicht, dass wir sämtliche Gebote unserer guten Frau Travia auf der Burg zurückgelassen haben.” Adginnas Stimme klang schon wieder milder.
Alrik nutzte die kleine Rast, und steckte sich seine Pfeife an. “Ich dachte, unsere Kinder wären schon verlobt, werte Adginna?” nuschelte er am Mundstück vorbei.
“Verlobt ist man erst, wenn der künftige Traviabund öffentlich bekannt gegeben worden ist.”
“Ist  man das nicht schon mit dem Anstecken des Verlobungsrings?”
“Ich sehe noch keinen Ring an Haldanas Finger. In jedem Fall sollte sich die Nachricht vom Verlöbnis eher herumsprechen als Tratsch und Klatsch...”
Ismena lachte auf, schüttelte den Kopf und schlug die Beine übereinander.
“Wie meinen, werte Junkerin von Gießenborn?” Die Vögtin blickte indigniert.
Alrik hustete hinter seinem Pfeifenqualm.
Die Oppstein zupfte sich amüsiert eine einzelne Klebgrasranke von ihrem fein bestickten Gewand. Dann schlug sie mit ihrem Fächer nach einer aufdringlichen Fliege oder Bremse.
“Das Baumgesicht dort drüben, irgendwie sieht es drollig aus.” Ismena deutete unbestimmt in den Wald und ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Worte nur eine Ausflucht waren. “Fast könnte man man meinen, es hätte uns zugezwinkert.”
Adginna wahrte mit einiger Mühe die Contenance.
Tuvok rettete die Situation. “Wir sollten uns sputen, dass wir bis Einbruch der Dunkelheit bei Nengarions Hütte sind. Der Weg hinter dem Bach ist ziemlich schlecht. Mit Firuns Beistand sind wir morgen Vormittag in Schwaz und irgendwann um die Mittagszeit dann in Gernatsborn.”
Sie ritten durch den Bachlauf, die Köpfe unter den herabhängenden Ästen gesenkt. Der Hofjäger hatte Recht. Der Pfad war bald kaum noch zu erahnen – ein besserer Wildwechsel. Tatsächlich kreuzten Rehe ihren Weg. In der Ferne fauchte eine Raubkatze, vielleicht ein Waldlöwe. Immer wieder strich Schratmoos durch ihr Gesicht, das die Bäume schmückte. Zwischendurch mussten sie absteigen, ihre Reittiere führen und sich einen Weg durch das Dickicht bahnen. Mit vereinten Kräften wurde ein Baumstamm bei Seite geschoben. Der Pfad verschwand schließlich ganz, vielleicht hatten sie ihn auch verloren. Tuvok übernahm jetzt die Führung. Er schien sich an Wegzeichen zu orientieren, die er im Nirgendwo hinterlassen hatte: Äste, die zu Pfeilen übereinander gelegt waren, aber auch aufgehäufte Steine, die wohl aus den Schlotzkuppen stammten. “Wir haben Glück”, sagte der Jäger zu Haldana, die hinter ihm ritt. “die Anderen bringen diese Wegmarken gerne durcheinander. Aber jetzt, im Praiosmond, treiben sie nicht gar so viel Schabernack. Nur Zeichen in die Rinde schneiden, das sollte man besser nicht. Dann werden sie richtig grantig. Schau mal, ein Baumbär.”
Es dauerte eine Weile, bis die Binsböckel das Tier entdeckt hatte. Es saß oben auf einer großen Astgabel und mampfte Blätter, nicht ohne mißtrauisch in Richtung der Eindringlinge zu spähen. Der possierliche kleine Bär hatte ein weißbraunes Fell und einen buschigen Schwanz – allerdings fauchte er zornig in ihre Richtung. “Ein Weibchen, glaube ich”, sagte Tuvok, “nördlich des Gernat findet man Baumbären selten. Bei Siebeneichen und Beorwang sind sie häufiger. Da drüben müsste jetzt wieder der Weg sein, aber die Mulde ist in den letzten Götterläufen völlig versumpft. Besser, wir umgehen den Sumpf Richtung Hirschkäfereiche”
Haldana musste schmunzeln. Tuvok war ganz in seinem Element, wie ein Stadtmensch beim Bummel durch Rommilys. “Hirschkäfereiche?” fragte sie.
“Ja, eine Blitzeiche. Dort hab ich vor zwei Jahren mal eine Riesenhirschkäfer-Larve gefunden, so groß wie eine Katze. Ich würde gerne mal nachsehen, ob dort wieder Brut drin ist, aber so viel Zeit haben wir nicht. Manchmal ist der Große Schröter auch in der Nähe, ich habe das Gefühl, er mag es nicht, wenn sich Zweibeiner dort herumtreiben. Die Bestände haben sich zum Glück etwas erholt, aber wenn du endgültig Baronin bist, musst du unbedingt mit den Bauern reden. Ja, es stimmt schon, die Ungetüme treiben sich oft in den Kornfeldern herum und können dort viel Schaden anrichten. Auch Hühner holt der Käfer sich manchmal mit seinen Zangen. Aber er ist ein edles, firunsgefälliges Tier, das Schutz verdient. Du weißt ja, dein Vater hat die Schröterhörner als Wappenzeichen geführt”.
Haldana nickte und blickte betrübt. Ihr Vater. Sein Wappen sah man kaum noch neben der Schlotzer Axt, nur das Einhorn der Binsböckels. Sie musste mit sich kämpfen, um nicht den alten Groll auf ihre Mutter in sich hochsteigen zu lassen. Einen Kuss im Wald fand sie unschicklich, aber was mit ihrem Gemahl geschehen war...ihrem Vater. Sie ballte die Faust.
Alboran schaute derweil fasziniert zum Baumbären, den Zügel in der Linken. “Ja, der große Schröter. Bei uns in Oberfriedwang nennen sie ihn den Kornmann. Weil er nachts gerne durch den Roggen stapft und mit seinen Zangen alles kurz und klein schneidet. Manche sagen, die Sage vom Karnmann kommt daher, und natürlich der Name. Ein Wilder Mann mit Hirschgeweih...ein Kinderschreck...”
Haldana wunderte sich. Gerade eben hatte ihr “Verlobter” mit einem Wichtel gesprochen, nun tat er so, als gäbe es die Feeischen gar nicht?!
“Vorhin, am Bach, das war aber echt” sagte sie mehrdeutig, während sie auf ihre Begleiter warteten, die im Dickicht stecken geblieben waren.
Alboran blickte zu Tuvok, der ein paar Schritte vorausgeeilt und wieder mit der Wegsuche beschäftigt war.
“Natürlich war es das. Aber ich käme niemals auf die Idee, zu diesem gehässigen kleinen Gnom zu beten. Geschweige denn ihm Opfergaben zu bringen, auf dem Stein, wo er gehockt war. Nichts als Zauberei und Blendwerk, dieses Reich der Feen. Irgendwie läuft das alles der göttergefälligen Ordnung zuwider. Du hörst in Rätseln? Ich höre sehr gut, vor allem Praiostags im Tempel.”
“Jetzt klingst du schon wie meine Mutter.” Haldana versuchte, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
Tuvok kehrte zurück, mit Zunderschwamm in Händen, den er Alrik reichte. “Hier, ist ziemlich trocken. Ihr braucht mehr davon als ich, Euer Hochgeboren.”
Haldana seufzte erneut innerlich. In den Trollzacken hatte Tuvok den Baron noch geduzt, in Gegenwart ihrer Mutter benahm er sich so steif, als wäre er der Hofmarschall der Markgräfin. Die Vögtin musterte die Wildnis um sie herum skeptisch, als müsste hier wieder mal ordentlich ausgekehrt und saubergemacht werden. Alrik bedankte sich, bröckelte den Zunder klein und verstaute ihn im Kästchen mit den Rauchutensilien.
“Da hinten ist ein guter Weg. Außerdem eine windgeschützte kleine Schlucht, wo wir rasten können.” Tuvok deutete in den Wald, wo Haldana nichts weiter sah als Stämme, Zweige, Blätter.
Wenig später kamen sie tatsächlich an einen Tobel, begrenzt von schiefergrauen Felswänden. Sitzgelegenheiten gab es dort reichlich. Tuvok verteilte etwas Proviant, der aus Fladenbrot, Käse und Räucherwurst bestand. Sogar eine Weinflasche und einige Zinnbecher hatte er dabei. Ismena schaute schnippisch, aber irgendwo schien ihr das Abenteuer auch zu gefallen.
“Hier ist wieder ein Zeichen.” Alboran hatte einen Pfeil entdeckt, der in den Fels eingeritzt war.
“Ja, ich glaube, den hat sogar Nengarion hinterlassen”, meinte Tuvok. “Zeigt in Richtung Unterstand. Wir sind auf dem richtigen Weg.”
Haldana tastete über die Kerben im Gestein, die tatsächlich schon ziemlich verwittert waren. Ihr Großvater hatte das Zeichen hinterlassen? Einen Moment lang empfand sie so etwas wie Ehrfurcht und Rührung.
Tuvok lachte, während er kaute und sich ein Stück Brot abschnitt. “Nengarion konnte sich das  erlauben. Manchmal fassen die Wutzen sowas schon als Feindseligkeit auf. ”
“Die Wutzen?” Ismena lächelte spöttisch und schnupperte an der Wurst. “Doch nicht die, die ich hier heraus schmecke?”
Der Hofjäger nahm einen kräftigen Schluck aus der Feldflasche. “Nein, Euer Wohlgeboren. Das waren brave Schlotzer Schweine. Die sind zwar auch öfters im Wald unterwegs, wenn sie zur Eichelmast hinein getrieben werden...aber die Wutzen sind anders. Älter, mächtiger...Wildschweine auf zwei Beinen, mit Verstand.” Der Firunsgeselle tippte sich an die Stirn. “Und glühenden Augen, die alles sehen, was in ihrem Wald vor sich geht. Selbst die Wölfe und die Bären haben vor ihnen Respekt. Die Wutzen sind die wahren Herren des Waldes. Wahrscheinlich sogar unsterblich.”
Die Oppstein wollte zu einer spitzen Bemerkung ansetzen, aber etwas in Tuvoks Stimme ließ sie zögern.
“So wie die Schweine des Ewigen Schinkens von Rommilys?” Was als scharfer Spott gedacht war, klang plötzlich zahm und verständnisvoll.
Tuvok nickte. “Ja, auch den Wutzen kann kein Pfeil und kein Schwert etwas anhaben.”
“Schweine des Ewigen Schinkens?” fragte Alboran.
“Eine Goblinkönigin im Norden soll mal Schweine verzaubert haben, so dass man Fleisch aus ihnen herausschneiden kann und sie doch nicht sterben. Fleisch, das die Rotpelze ernährt hat.” Tuvok verzog das Gesicht. “Angeblich soll die Traviakirche damit Flüchtlinge ernährt haben.”
“Nicht nur angeblich, das war auch so”, sagte Adginna und klang schon wieder tadelnd, während sie sich mit einem Tüchlein die Finger säuberte. “Ein Wunder unserer Herrin, will mir scheinen.”
Ihrem Forstwart war anzumerken, dass er ob der unwaidmännischen Tierquälerei gerne widersprochen hätte, sich aber nicht traute. “Die Wutzen scheinen die Eichelmast zu dulden”, sagte er ausweichend. “Solange unsere Hausschweine nicht zu tief in den Wald getrieben werden und der Bauer ein paar Eicheln in den Wald wirft, als Opfer. Im Gegenteil, solange zahme Schweine in der Nähe sind, scheinen die Menschen sogar einigermaßen vor dem Zorn der Wutzen geschützt zu sein. Manchmal soll ein demütiges Grunzen helfen. Ein Eberzahn als Amulett schützt auch, sagen die Waldbauern. Oder ein Schweineschwänzchen.”
Nun musste die “Rahjajungfer” doch herzhaft lachen. “Nicht dein Ernst?” Ismena deutete ein Quieken an. Bis auf Tuvok konnten sich auch die Übrigen ein Schmunzeln nicht verkneifen.
“Hörst du Alboran, du bist also bestens geschützt”, entschlüpfte es Haldana. Zum Glück hatte es ihre Mutter nicht mitbekommen.
“Ja, ich habe wahrlich scharfe Zähne” Alboran schien vom Wein beschwingt zu sein. “Richtige Hauern”. Er biss neckisch in Haldanas Richtung. “Oink, oink!”
Nur Tuvok wirkte streng. “Wir haben den Morast auch deswegen umgangen, weil sich die Wutzen gerne darin suhlen, in den grauen Stunden der Dämmerung. Allein unser Geruch und unsere Fährte könnte sie verärgern. Oder zumindest ihre Aufmerksamkeit wecken. Sie sind unberechenbar. Manchmal findet man nachts im tiefsten Tannicht keine Spur von ihnen. Manchmal sieht man ihre Augen schon in den Abendstunden am Waldrand leuchten. Wir sollten uns wirklich beeilen, dass wir es rechtzeitig bis zur Schutzhütte schaffen.” Der Jäger schien ernsthaft besorgt zu sein.

Sie packten zusammen und schwangen sich wieder in den Sattel. Tatsächlich schienen sie wieder auf den “Nengarionsteig” gestoßen zu sein, denn es war so etwas wie ein Pfad erkennbar. Die nächste Stunde verlief fast schon eintönig. Es war, als würden sich die Reisenden wie in einem unwirklichen Traum vorwärts zu bewegen.Gab es noch eine Welt außerhalb dieses Ewigen Grün? Mal schnarrte ein Specht, mal rief ein Kuckuck. Ein überrumpelter Dachs blieb die einzige echte Begegnung, und verschwand rasch wieder im Unterholz.
Zur Rechten ragten wieder Felswände auf, mit leichtem Überhang. An einer waren schlichte Felsmalereien zu sehen, die rote Zweibeiner zeigten, mit Speeren und Schleudern: der Gestalt nach Goblins auf der Jagd. Etwas entfernt davon standen Wesen, die mit schwarzer Holzkohle gezeichnet waren, und im Vergleich zu den Rotpelzen wie Riesen wirkten. Eine Art Wildschweine auf zwei Beinen. Die Ebermänner waren prachtvoll bestückt, auch die “Bachenfrauen” gut als solche zu erkennen. Schon allein die Ähnlichkeit mit dem Höhlengemälde von Kurgasberg war verstörend.
Haldana erschauerte. Bis vor kurzem hatte sie sich noch als Herrin dieses Landes gefühlt, aber nun kam sie sich verloren vor, in diesem gewaltigen Labyrinth aus Bäumen, einzelnen Felsblöcken und Hügeln. Irgendwo im Wald grunzte und quiekte es. Die Pferde schnaubten und wurden unruhig. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Einen Moment lang glaubte sie ein böses funkelndes Schweinsäuglein zwischen den Farnen und Sträuchern zu sehen. Aber womöglich spielten ihr einfach die überreizten Sinne einen Streich.
Haldana spürte Druck auf ihrer Blase und wäre gerne abgestiegen, traute sich aber nicht, an dieser Stelle tiefers ins Nirgendwo zu gehen. Die Sonne wanderte langsam nach Westen, und die kleine Gruppe mit ihr. Hätte Haldana jemand auf die Schulter getippt und gefragt, welches Jahr gerade war, vor oder nach Bosparans Fall, sie hätte mit der Antwort gezögert. Viele der Baumriesen hier schienen tatsächlich schon Jahrhunderte alt zu sein. Dieser Wald war bereits alt gewesen, als die Hunderttürmige Stadt der Hela-Horas in Flammen aufgegangen war. Es hatte ihn schon seit Ewigkeiten gegeben, als die ersten Siedler aus dem Güldenland in Aventurien gelandet waren. Er würde seine Wipfel noch gen Himmel recken und seine Wurzeln tief in die Erde graben, wenn sich niemand mehr an eine Haldana von Binsböckel oder einen Alboran von Friedwang würde erinnern können. Satinavs Element hatte an einem Ort wie diesen nicht die Bedeutung wie anderswo.
Haldana nickte irgendwann im Sattel ein, glitt in einen unruhigen Halbschlaf, sanft gewiegt vom Tritt des Braunen. Wirre Bilder schwirrten durch ihren Kopf, Nasdja, der Baumbär, zweibeinige Wildschweine, spottende Kobolde. Das grüne Leuchten von Kurgasberg. Ein Stolperer des Warunkers und lautes Vogelgezwitscher brachte sie schließlich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Ebenso der Druck auf ihre Blase. Der wundgescheuerte Hintern tat ihr ebenfalls weh.
“So langsam haben wir den halben Weg hinter uns”, verkündete vor ihr Tuvok. Haldana zwinkerte.
Halber Weg? Gefühlt waren sie drei Tage unterwegs gewesen. An einer Hangwiese stand sie schließlich, die Schutzhütte, die im Grunde nur eine Blockhütte mit Vordach war. In einiger Entfernung war ein kleiner Wegschrein zu erkennen.

Der Jäger schwang sich aus dem Sattel.
“Jetzt schon anhalten?” fragte Alrik und blickte zur Sonne. “Es ist doch noch heller Nachmittag. Rondrastunde, würde ich sagen. Höchstens Efferdstunde.”
“Bis nach Schwaz kommen wir heute nicht mehr”, sagte Tuvok und band sein Pferd an einem Holm fest. “Jedenfalls nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Ich denke, es ist schon später als Traviastunde. Hinter der Hütte wird der Weg nochmal etwas abenteuerlich.”
“Schade, dass wir demnächst die Reichsstraße wieder verlassen müssen.” Ismena war schon wieder zum Spötteln aufgelegt. “Haben wir eigentlich einen Plan für den Rückweg?”
“Die Frage ist, haben wir einen Rückweg?” Auch Alboran glitt ächzend aus dem Sattel. “Etwas abenteuerlich – das bedeutet in deiner Sprache so etwas Ähnliches wie eine Dschungelexpedition durch Uthuria, nicht wahr, Tuvok?”
Der Jäger blickte verständnislos, offenkundig hatte er noch nie etwas vom geheimnisvollen Südkontinent gehört. “Dort drüben ist eine Feuerstelle. Vermutlich der einzige Ort im Tiefen Wald, wo man ungestraft ein offenes Feuer entfachen darf. Das Holz müssen wir noch sammeln. Aber um Firuns Willen wirklich nur auflesen, und es nicht irgendwo abhacken. Kein Zweiglein darf abgebrochen werden, versteht ihr? Außerdem müssen wir den Wutzen ein Opfer bringen, dafür, dass wir diese Freistätte hier benutzen dürfen.”
“Was müssen wir denn opfern - Haldana?” fragte Alboran neckisch, der ebenfalls abgesessen war. Er stemmte die Fäuste in die Seite und schaute sich um. Die Hütte stand gleich neben einer Eiche, die ihr bedrohlich nahe gerückt war, sie schon halb mit den Wurzeln umschloss. Ihr seid an diesem Platz nur geduldet, schien das Bild sagen zu wollen. Tatsächlich, zwischen Häuschen und Schrein war eine rußgeschwärzte, zugewucherte Feuerstelle zu sehen, die von Steinen abgegrenzt war. Mitten in der Einöde wirkte der Anblick so städtisch und zivilisiert, als wären sie gerade auf dem Marktplatz von Rommilys herausgekommen.
Die Luft hier draußen war frisch und herrlich. Am blauen Himmel zogen majestätische Wolken vorbei.
Tuvok kramte etwas aus seiner Jägertasche, das wie bräunliche Klumpen aussah. “Ich habe Hirschtrüffel und Morcheln dabei. Eine echte Leckerei, nicht nur für Wildsauen. Das Wichtigste ist, dass die Wutzen merken, dass wir ihr Revier respektieren.”
“Ich hätte doch eine Saufeder mitnehmen sollen” murmelte Alboran. “Schön, meine neue Nebenresidenz.”
Haldana kehrte aus dem Gebüsch zurück und ging auf die Hütte zu. Ein elfischer Traumfänger hing am Vordach: ein federgeschmückter Reif aus Weidenrutenholz, in den eine Art Spinnennetz gespannt war. Angeblich sollten diese Talismane böse Träume fernhalten. Vermutlich war das ein gutes Omen. Hatte Nengarion den Traumfänger aufgehängt, als Halbelf? Mit einem Mal fühlte sich Haldana doch wieder dem Wald verbunden. Wenn ihr Großvater ein Halbelf gewesen war, dann war sie eine Achtelelfe. Im Grunde auch ein bisschen, wie sagten die Elfen – fey? Das klang schon fast wie “Fee”. Sah sie deswegen Gespenster?
Haldana öffnete die knarrende Tür, die nicht abgeschlossen war. Erst als sie das Fenster entriegelt hatte, sah sie eine kleine Schlafkammer mit vier Betten, deren Unterlager mit Moos und Laub bedeckt war. Ein grob gezimmerter Tisch und ein paar Hocker waren die einzige Einrichtung, ebenso eine Truhe, in der schon etwas Feuerholz lag (das eindeutig “von außerhalb” mitgebracht worden war). Ein kleiner Kessel, ein Dreibein und ein Feuerrost standen in der Ecke. Es roch leicht modrig, aber nicht unangenehm. An der Wand hingen ein Paar Schneeschuhe und ein Rehfell, das war es schon.
Mit eingezogenem Kopf ging sie wieder nach draußen.
Dort half gerade Alrik der Vögtin aus dem Sattel. “Gerade mal Traviastunde? Da haben wir ja noch ewig Zeit bis zur Dämmerung.”
“Das hat auch sein Gutes.” Der Hofjäger spannte den Bogen. “Ich werde derweil mal schauen, ob ich noch etwas Ordentliches fürs Abendessen auftreiben kann.”
“Was machen wir mit den Pferden?”
“In meinen Satteltaschen sind Hobbeln, damit können wir ihnen die Hinterbeine zusammen binden und sie auf der Wiese grasen lassen. Wir brauchen aber auf jeden Fall Wachen. In der Gegend streunen öfters Suulak umher. Es sind gute Jagdgründe.”
“Moment, ich soll in einer Hütte übernachten, in der womöglich schon die kleinen Stinker ihre Flöhe hinterlassen haben?” Das kam von Ismena.
“Sie meiden die Hütte”, sagte Tuvok gleichmütig. “Ich vermute, sie halten den Ort für verflucht, wegen dem Schrein. Was nicht heißt, dass sie keine unbeaufsichtigten Pferde klauen würden. Ich werde die Wache übernehmen.”
“Die ganze Nacht? Kommt nicht in Frage!” Haldana trat aus der Hütte und bewunderte ebenfalls das Treiben der Wolken über ihren Köpfen. “Ich werde mich ein bisschen ausruhen und die erste Wache übernehmen.”
“Und ich die zweite”, sagte Alboran schnell (und klang schon wieder anzüglich).
“Die übernehme ich”, beeilte sich sein Vater zu sagen, der Adginnas missbilligenden Blick bemerkt hatte. “Du kannst gerne die Morgenwache übernehmen. Ich denke, wir werden einen ausgeschlafenen Waldläufer brauchen, morgen früh...”
“Aber, Euer Hochgeboren...” protestierte der Hofjäger.
“Alrik, ich heiße Alrik. In Wehrheim galt mal die Regel, dass ein Befehliger nichts von seinen Leuten verlangt, was er nicht selber zu leisten bereit wäre. Wenn du uns einen guten Braten bringst, ist mir das ein paar schlaflose Stunden wert.”
“Also gut. In diese Richtung ist ein kleiner Teich. Das Wasser muss man kochen, um es trinken zu können, aber zum Waschen und Tränken der Pferde reicht es allemal.”

Haldana ruckte in ihrem Bett hoch. Sie hatte tief und fest geschlafen. Draußen war es schon dunkel. Das rostrote Flackern des Lagerfeuers und das Stimmengewirr ihrer Begleiter drang durch das geöffnete Fenster.
Sie wälzte sich aus dem Moos und schlug die Decke endgültig beiseite. Draußen empfing sie der nächtliche Wald, durch den einzelne Nebelschwaden wehten. Darüber erstreckte sich der tintenfarbene Nachthimmel, an dem die sommerlichen Sternbilder leuchteten. Es war frisch geworden, fast schon kühl. Sie schlang den Mantel fest um ihre bibbernden Schultern.
“Ah, Haldana, wir wollten dich schon wecken”, sagte ihr künftiger Schwiegervater, der in der Runde am prasselnden Lagerfeuer saß. Einzelne Funken schwirrten nach oben und verschwanden in der Nachtschwärze. Über dem Feuer drehte sich ein Kaninchen, zumindest sah der Braten so aus.
“Setz dich doch. Wir haben noch ein paar Fische im Teich gefangen.” Alboran bot ihr einen freien Hocker an und reichte ihr einen Teller, mit etwas Brot und kleinen gegrillten Fischlein. “Das Rotpüschel dauert noch ein bisschen.”
Haldana aß die Vorspeise und trank ein paar Schlucke Tee. Wieder ging ihr Blick zu den Sternen.
“Kennst du dich mit Sternbildern aus?” wollte Ismena wissen.
“Ein bisschen. Im Moment vermisse ich das Madamal.”
“Ja, wir haben gerade Neumond. Ich hab mich auch ein wenig mit Sternenkunde beschäftigt, im Horasreich. Das da oben ist die Stute, über dem Hammer. Ogerkreuz und Drache sieht man darunter. Der helle Stern da, neben der kleinen Wolke. Das müsste Ucuri sein, links neben dem Schwert.”
“Du kennst dich ja wirklich gut aus. Was wollen uns die Sterne damit sagen?”
“Sie stehen bestimmt günstig”, sagte Alboran leichthin, der gerade seiner künftigen Schwiegermutter Tee nachschenkte.
“Das mag schon sein. Ucuri gilt als der Planet der Herrschenden, das Schutzzeichen des Adels. Ganz oben steht Simia, die einen glücklichen Neuanfang verheißt. Nicht das schlechteste Vorzeichen für einen künftigen Ehebund.”
“Horasische Nächte sind offenbar lang”, brummte Alrik und würzte seinen Tee mit etwas Gebranntem.
Tuvok bestrich das Kaninchen gerade mit irgendeiner Kräutersoße (die nach Bärlauch roch) und schnitt sich ein Stück herunter. “Fast durch. Noch mal kurz drehen, dann müsste es genießbar sein. In dem Säckchen dort ist Salz, falls jemand nachwürzen möchte.”
“Haben sich die Wutzen schon sehen lassen?” fragte Haldana und spuckte einige Gräten ins Gras. In einiger Entfernung schnaubten die Pferde auf ihrer Weide. Sie selbst schnupperte am dampfenden Tee und glaubte den Geschmack von wildem Fenchel und Brennnessel zu erkennen.
“Vorhin stand mal ein Schatten am Waldrand, mit leuchtenden Augen. Tuvok meinte, es wäre ein einsamer Wolf gewesen. Hatte mehr Angst vor uns als umgekehrt. Ne Eule fliegt hier auch noch herum.” In Alborans Gesicht spiegelte sich der Feuerschein.
Wie zur Bestätigung war ein leises “Schuhu” aus dem Waldesdunkel zu hören.
“Der Fisch ist gar nicht mal so schlecht.” Haldana leckte sich die Finger. “Klein, aber fein. Sehr zart. ”
“Die Schuppen waren grün”, verkündete der Junker. “Ich würde sagen Gnitze.”
“Hast du sie gefangen?”
“Ich hab sie abgeschuppt. Tuvok hat noch schnell eine kleine Reuse gebaut, nachdem er den Hasen ausgeweidet hat. Ein echter Tausendsassa, euer Hofjäger.”
Der Waidmann blickt mit verschattetem Gesicht durch das Lagerfeuer und lächelte in sich hinein. Haldana kannte Tuvok. Insgeheim schien es ihn zu amüsieren, wie aufgekratzt die Edelleute am Lagerfeuer palaverten.
“Ich hatte Glück”, sagte er bescheiden. “Der Rotpüschel ist mir fast schon in den Pfeil gelaufen. Normalerweise dauert so eine Pirsch länger.”
Er zerlegte das Wildbret, das auf einem Teller reihum ging. Auch der Hase schmeckte nicht schlecht, im Anbetracht der Umstände. Frau Travia schien ihrer kleinen Runde gewogen zu sein, trotz Haldanas “Ausrutscher” im Wald.
“Irgendwie romantisch hier”, sagte Alrik und stopfte wieder seine Pfeife. “Nur der Zunder muss noch ein bisschen trocknen.” Mit einem brennenden Zweig zündete er den Tabak an. Tatsächlich lag ein beachtlicher Vorrat an Bruchholz neben der Feuerstelle.
“Ein kleines Problem haben wir allerdings. Da drinnen sind nur vier Betten” stellte Alboran fest. “Wir sind zu sechst.”
“Unter der Dachschräge ist noch Platz”, stellte Tuvok fest. “Dort befindet sich Heu für die Pferde. Es ist aber schon ziemlich alt und eher zum Schlafen geeignet. Ich denke, da oben werde ich mich zur Ruhe begeben. Aber am liebsten würde ich die gesamte Nachtwache übernehmen. Die Wutzen kennen mich und ich kenne den Wald. Zumindest besser als ihr. Schlafen kann ich, wenn wir in Gernatsborn sind.”
“Also ich bin jetzt ausgeschlafen”, sagte Haldana, die sich an die Zusage des Kobolds erinnerte, wonach sie der Wald in dieser Nacht in Ruhe lassen würde. “Du hast dir ein bisschen Ruhe verdient, Tuvok, als unsere treue Seele.”
“Nicht, dass du uns wieder verloren gehst, Haldana”, meinte der Friedwanger.
“Wir können ja auch zusammen die erste Wache übernehmen” schlug Albo vor. “Mit einer guten Flasche Rotwein.”
“Ich weiß nicht, ob ich mich da bewacht fühlen würde”, sagte Ismena.
“Wir hatten ja schon eine Einteilung”, sagte Alrik. “Aber ich finde es ganz gut, wenn du ein bisschen Wildniserfahrung sammelst, Alboran, in der Mittelwache. Ich übernehme dann gerne die Morgenstunden. So einen Sonnenaufgang im Wald, den habe ich schon lange nicht mehr gesehen.”
Adginna hüstelte. “Könntest du nicht die mittlere Wache übernehmen, Alrik, wie vereinbart? Ich meine, wegen der Geisterstunde...bevor es da im Wutzenwald zu nächtlichem Treiben...der Wald ist manchmal schon ein wenig unsicher, mitten in der Nacht.”
“In so einem Wutzenwald kommt es sicherlich öfters zu Schweinereien.” Ismena lächelte ihren Weinbecher an.
Alboran biss sich auf die Unterlippe. “Das schaffe ich schon, in den Trollzacken hab ich weitaus Schlimmeres erlebt.” Der Junker merkte, dass er ein wenig prahlerisch klang und wechselte das Thema. “Wann genau wollt ihr jetzt unsere Verlobung bekannt geben? Meine Mutter hat ja gerade gesagt, dass uns die Sterne gewogen sind.”
“Soll das ein Heiratsantrag sein?” Haldana fühlte sich satt und erfrischt. Am liebsten hätte sie ihre Laute ausgepackt und ein paar Liebeslieder gesungen. Aber das war nachts in einem Wald wie diesen sicherlich nicht ratsam. Wer wusste schon, wen (oder was) sie damit anlocken würde?
“Das hier ist doch schon fast eine kleine Verlobungsfeier. Da drüben steht sogar ein kleiner Schrein. Leider kann ich dir nur einen Ring aus Gras schenken.”
Ismena öffnete ihren Almosenbeutel und zog ein kleines Kästchen heraus. “Also wenns nur am standesgemäßen Ring liegt. Wie es der Zufall will, habe ich einen dabei.” Sie öffnete das Kästchen und zog einen silbernen Ring hervor, geschmückt mit einem Onyx. “Ein Geschenk für Alboran und Haldana. Eigentlich wollte ich ihn in Gernatsborn überreichen, aber dieser Ort hier ist wirklich sehr romantisch für einen Kniefall. Meinen Segen haben die beiden.”
“Das glaube ich gerne” sagte die Binsböckel doppeldeutig. “Sicherlich ein überaus bedeutendes Geschenk. Allerdings erscheint mir der Wutzenwald nicht unbedingt als der passende Ort für eine Verlobungszeremonie. Wir sollten damit noch bis Gernatsborn warten.”
“Nun, man sagt, der Ring hätte feeische Kräfte. Ich habe es selbst schon erlebt. Eigentlich ist er mehr ein Geschenk als ein Verlobungsring.”
“Ein Zauberring?” Adginnas Augen weiteten sich.
“Ein Feenring. Er warnt seinen Träger gewissermaßen vor underischen Kreaturen. Im Wutzenwald ist er sicher gut zu gebrauchen.”
“Vielleicht...aber sicher nicht für ein traviagefälliges Verlöbnis. Versteh mich recht. Der Ring ist ein wertvolles Geschenk, gewiss, dem ein Ehrenplatz in der Schatzkammer gebühren wird. Wie ist er in deinen Besitz geraten, wenn ich fragen darf?”
“Eine längere Geschichte.”
Alboran hatte ebenfalls große Augen bekommen.
“Moment...ein Feenring?”
“So könnte man ihn nennen, ja” Ismena nickte. “Bastans Feenring. Nachdem er einst dem ersten Baron des Hauses Friedwang-Glimmerdieck gehört hat, bist du ja wohl sein rechtmäßiger Erbe.”
Alrik hustete, verwedelte den Pfeifenqualm, sagte aber nichts.
Zögernd griff der Junker nach dem kleinen silbernen Reif, den die bekannte Blütenfee mit dem schwarzen Onyx schmückte. Alboran kniff die Augen zusammen, hob das Schmuckstück hoch und hielt es ins unstete Licht der Flammen.
“Ysildas Feenring, so hat ihn Ludwina genannt” murmelte er. “So war es doch, Haldana, oder?”
Ismena blickte fragend. “Wie bitte?”
“Ludwina hat mir einen Brief geschrieben, und mich vor dem Ring gewarnt. Er wäre gefährlich...und, nun ja, eine Dienerin des Namenlosen soll hinter ihm her sein. Was für ein merkwürdiger Zufall.”
“Ludwina? Ludwina die Hexe?” wollte Alrik wissen.
“Ja, Gernots Mutter.”
Auch wenn die Vögtin neben dem Lagerfeuer saß, schien sie gerade unter einer Eisschicht zu erstarren. “Eine Hexe? Was denn für eine Hexe? Könnte mir jemand erklären, was das zu bedeuten hat? Haldana?”
Die junge Adelige seufzte. “Gestern Nacht im Rondraschrein hat uns ein Meckerdrache besucht, und einen Brief von diese Ludwina überbracht, ja.”
“Ihr ward gestern Nacht in der Kapelle?”
“Wir haben gebetet”, sagte Haldana wahrheitsgemäß.
“Was denn für ein Drache?” Hilflos sah Adginna zu Alboran.
“Ein kleiner Hausdrache” sagte der Junker. Na und, ein paar Stunden später ist mir ein motzender Kobold erschienen, fügte er in Gedanken hinzu. Das schien in seiner künftigen Heimat völlig normal zu sein.
Alrik klopfte die Asche seiner Pfeife in Feuer. “Moment, Ludwina schreibt dir einen Brief und ich erfahre davon nichts?”
“Hexenränke, nichts weiter.” Alboran zuckte mit den Schultern. “Haldana hat ihn sofort verbrannt...”
“Meine liebe Tochter, in Praios Namen, wer ist diese Frau...diese sogenannte Hexe? Und woher kennst du derartige Personen?”
“Ludwina ist in Ordnung”, sagte Alrik. “Auf ihre Art. Sie ist keine sogenannte Hexe. Sie ist wirklich eine. Sogar eine Oberhexe. Nicht alle Töchter Satuarias sind dem Bösen verfallen.”
“Gernot der Verräter war also ihr Sohn.” Die Herrin von Schlotz atmete tief durch.
“Ich glaube, der kam eher nach seinem Vater. Den haben wir in Kurgasberg erledigt. Hat Haldana nichts davon erzählt?”
“Genug mit Kurgasberg.” Alborans Faust schloss sich um den Ring. Er fühlte sich kühl an, und irgendwie alt und machtvoll. “Ludwina hat uns vor einer Dienerin des Dreizehnten gewarnt, die hinter diesem Ring her sein soll. Eine gewisse Yasinthe Dengstein...”
Alrik erbleichte. “Schön, dass du deinem Vater mal davon erzählst. Nachts am Lagerfeuer, mitten im Nirgendwo.”
“Woher soll ich wissen, dass Mutter diesen verfluchten Ring mit sich herumträgt.”
“Hexen? Drachen? Dienerinnen des Namenlosen?” Haldanas Stimme klang dumpf. “Kann mich mal jemand aufklären?”
“Yasinthe Dengstein”. Alriks Blick verfinsterte sich zusehends. “Sie ist hinter dem Ring her?! Das sind keine guten Neuigkeiten. Was hat Ludwina noch geschrieben?”
In knappen Worten fasste Alboran den Inhalt des Briefs zusammen. “Was weißt du von dieser Yasinthe?”
“Die Geweihte des Dreizehnten ist wirklich gefährlich. Zuletzt war sie wohl die Zofe von Gernots Tochter Oleana. Nach dem Sturz der Khoramsbestie ist sie verschwunden, genauso wie der kleine Eberhard, der Sohn der falschen Baronin von Friedwang. Ein Kind der Namenlosen Tage...Verzeih, Adginna, das ich so offen darüber spreche, an einem Ort wie diesen. Aber du solltest die ganze Geschichte kennen.”
“Auch wir Schlotzer haben in der Wildermark einiges durchgemacht, glaub mir.” Adginna hatte sich wieder gefasst. “Allerdings hätte ich derartige Neuigkeiten am liebsten von meiner Tochter gehört. Vor allem den Teil, wo eine wildfremde...Hexe...einen Drachen in meine Burg schickt. Mit einer Botschaft für meinen künftigen Schwiegersohn?”
“Glaub mir, werte Schwiegermutter, auch mir war dieser Vorfall unangenehm. Mehr als das. Deswegen wollte ich dem hexischen Geschreibsel keine allzu große Bedeutung beimessen. Ludwina ist wahrlich das schwarze Schaf in unserer Familie. Die zum Glück groß ist. Und meistens götterfürchtig.”
“Ein Schaf würde ich Ludwina nicht gerade nennen” Alrik verstaute seine Rauchutensilien wieder. “Sie hat ihre Fehler von damals bereut und steht uns nach Kräften bei, gegen die Ränke des Namenlosen. Dieser Eberhard soll der Sohn des Kriegsherren Ronald von Kosch-Eberstamm gewesen sein. Der kurz vor seiner Geburt gefallen ist, im Kampf gegen die Gallyser. Ludwina hat die Spur des Säuglings aufgenommen. Er wurde wohl in die Obhut eines Sägemüllers gegeben, das haben die Anhänger der Alten Kulte herausgefunden. Ein einäugiger, roher Kerl. Corvad und seine schöne Gemahlin waren beide Diener des Rattengötzen. Nun, die Mühle wurde im letzten Krieg niedergebrannt, das unheilige Paar erschlagen und das Kind den Erzdämonen geopfert. Was sicher kein Zufall war. Einige nannten ihn bereits den Isyaharinacheel, den verheißenen obersten Diener des Namenlosen in der Schwarzen Sichel. Der dazu berufen sein soll, auf beiden Seiten der Berge zu herrschen. Ein Kind, das am Ersten der Unheiligen Tage geboren worden ist.” Alrik schlug das Fuchszeichen. “Ludwinas Urenkel sollte die östliche Sichel zum Kult des Namenlosen bekehren, nach deren Befreiung durch die Streiter Alverans. Das war die große Hoffnung, die auf ihn gesetzt worden ist. Allerdings haben wohl auch andere von dieser Prophezeiung erfahren.”
“Ludwinas Urenkel?” Alboran schluckte. Dieses Wort hatte er erst vor kurzem gehört. Alara, alias Baronin Oleana III., war Golos Schwester gewesen, nach offizieller Lesart somit seine Tante. Der kleine Eberhard war demnach etwas Ähnliches wie sein Vetter. Betreten starrte er in seinen halb geleerten Weinbecher. Lag es am Alkohol oder dem heiligen Monat des Praios, dass er derart freimütig über Ludwinas Brief gesprochen hatte? Auch Alriks Zunge schien vom Wein und Schnaps gelockert worden zu sein. Nun war die Familie Friedwang bei seiner Schwiegermutter sicher unten durch. Die schien gerade nicht zu wissen, was sie sagen sollte.
Wieder einmal war es Tuvok, der die Situation rettete. “Hexen, Zauberringe, der Gott, dessen Namen man nicht mehr nennt? Sicher, ein nächtliches Lagerfeuer mag der passende Ort für solche Geschichten sein. Aber, mit Verlaub, wir müssen morgen wieder früh aufbrechen.”
Adginna nickte, um Fassung bemüht. “Ich habe ohnehin nur die Hälfte verstanden”, sagte sie kühl. “Vielleicht sollten wir morgen noch einmal ausführlicher darüber sprechen, Haldana. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht, in der Obhut der guten Götter Alverans.” Die Vögtin zog sich in Richtung Hütte zurück.
“Ich werde mich anschließen”, zwitscherte Ismena. “Das Essen war wirklich sehr gut”.
“Seid bedankt.” Auch Tuvok erhob sich. “Also, wenn meine Dienste als Koch nicht mehr benötigt werden, oder als Wache. Dann würde ich mich auch gerne schlafen legen.”
Alboran musterte den Ring. “Was machen wir nun damit?”
Alrik erhob sich ebenfalls. “Ich denke, die Nachtwache kann ihn wirklich gut gebrauchen, im Wutzenwald. Albo, du hast deine Schwiegermutter gehört...” Das galt dem Junker, der Haldana einen aufmunternden Kuss auf die Stirn drückte.
“Die Mittelwache, Papa?”
“Nichts da. Ich fühle mich auch sicherer, wenn unsere Wachen nicht nur Augen füreinander haben.”
  “Wir haben wenigstens nur Augen füreinander”, entschlüpfte es Alboran.
 Sein Vater stutzte und zwirbelte sich den Spitzbart. Kurz entschlossen nickte er.
 “Aber mach mir keine Schande…”

Nach einer Weile saß Haldana allein am glosenden Feuer, das knackte, knisterte und langsam herunter brannte. Das gute Holz war verschwunden, nur vermodertes Zeug übrig geblieben, das vom Waldboden aufgelesen worden war. Die Flamme rauchte und qualmte. Zum Glück stand wenigstens der Wind günstig und blies ihr den Qualm nicht ins Gesicht.
Der Nebel im Wutzenwald wurde dichter, die Sterne verschwanden. Haldana kam sich einsam vor, als wäre sie aufs Madamal entrückt worden. Alles war unwirklich, der Wald, die Nacht, die Geräusche. Versonnen blickte sie auf den Feenring, der tatsächlich in mattem Grün leuchtete. Sie wurde offenbar gerade beobachtet? Bedrohlich fühlte sich diese Erkenntnis nicht an, nur ungewohnt. Das grünliche Schimmern war faszinierend. Als würde sich Etwas im silbernen Metall spiegeln, was in dieser Welt unsichtbar war. Nein, die Anderen bedrohten sie nicht. Eher hatte sie das Gefühl, dass die Feeischen sie beschützen wollten. Oder waren Sie einfach nur neugierig? So sehr Haldana auch ins Dunkle spähte, sie vermochte nur die Umrisse der Bäume zu erkennen.
Auch die Pferde verhielten sich ruhig, was sicher ein gutes Zeichen war. Nur die Finsternis und die Kühle war unangenehm, ebenso die “Tote Mada”. Ohne den Stand des Madamals würde sie nur schwer mitbekommen, wann ihre Wache zu Ende ging. Immerhin hatte sie noch ein Feuer, ihr Nachfolger würde in der Kälte ausharren müssen.
Das grüne Leuchten verschwand. Vermutlich war eine am Feuer sitzende, in ihren Mantel gehüllte Sterbliche kein allzu spannender Anblick für Unsterbliche. Um den Ring nicht zu verlieren (anstecken wollte sie das Artefakt nicht), band sie ihn an eine Schnur und hängte ihn sich um den Hals. Haldana ging ein wenig umher. Fledermäuse schwirrten durchs Halbdunkel. Irgendwo in der Ferne heulte der einsame Wolf. Das Feuer wurde rasch kleiner. Der Gedanke, dass es verlöschen und sie allein in der Schwärze zurückbleiben könnte, flößte ihr Angst ein.
Bibbernd legte sie noch etwas vom “schlechten Holz” ins Feuer. Bläulichrote Flammen prasselten hoch. Übelriechender Rauch breitete sich aus. Es zischte, als säße vor ihr eine Schlange in der Feuerstelle.

“Is...ya...har...inacheel” wisperte es.
Die Kälte wurde stärker. Erschrocken prallte Haldana zurück, als sich das Feuer purpurn färbte, und schlagartig hoch brannte. Ein schiefes Gesicht starrte sie aus der unreinen Flamme an, so schien es zumindest.
“Der Isyaharinacheel” kicherte es in ihrem Kopf. “Alara war ganz besessen von dem Gedanken, dass ihr Kind der Auserwählte sein könnte.”
“Golo, lass mich in Ruhe!” keuchte Haldana.
“Isyahadin ist der Tagesherrscher des Ersten Tages. Seines Ersten Tages. Der Verwirrer der Sinne und Schenker des Irrsinns, umhüllt von den blutigen Nebeln der Niederhöllen. Der Name allein hätte meinem Schwesterherz eine Warnung sein sollen. Stattdessen war sie wild entschlossen, ihr Kind am Tag Isyahadin zur Welt zu bringen, dem ersten der Namenlosen Tage. Mein armer unglücklicher Neffe. Du hast es gehört. Jeder hat es gewusst, also haben die Schergen der Niederhöllen ihn ermordet. Unsere gemeinsamen Feinde. Trotzdem bekämpfen wir uns. Ist das nicht traurig?” Die Flamme wurde größer. Dennoch ging keinerlei Hitze von ihr aus, vielmehr schien sie der Umgebung sogar Wärme zu entziehen.
“Ich habe es anders angestellt als Alara, geschickter. Der Auserwählte wird auf verborgenen Pfaden zu uns kommen. Auf Wegen, die dem Schenker des Irrsinns gefällig sind. Du bist dazu berufen, den Verheißenen auf die Welt zu bringen, als meine Gemahlin!”
“Genug, du hast in diesem Wald keine Macht! Du verwirrst die Sinne, und niemand sonst!” Entsetzt merkte Haldana, wie ihr Mund bereits Kältewölkchen aushauchte.
“Ich habe in diesem Wald keine Macht? Ich bin nur ein Werkzeug, ein Bote größerer Ereignisse! Spürst du nicht Seine Gegenwart? Dieser Wald gehört und gehorcht nur ihm! Kein Ort könnte Alveran ferner sein. Wo sind deine Götter, die alten wie die neuen? ER ist der Älteste der Äonen, nicht irgendein kleiner Götterfürst, sondern Kaiser aller Unsterblichen! ER, der liegt, wird sich erheben und uns sein Antlitz zeigen!” Irrlichtern gleich flackerten rund um die Feuerstelle purpurne Flämmchen auf. Die Pferde wurden nervös, schnaubten, stampften mit den Vorderhufen.
Schlagartig erlosch das Lagerfeuer, als wäre es ausgeblasen worden. Die kleinen Irrlichter verschwanden mit ihm.
Finsternis herrschte.
Golos Stimme war wieder in ihrem Geist zu hören. Kalt, metallisch, hallend.
“An folgenden Zeichen sollt Ihr den Isyahadinacheel erkennen. Das Geschöpf des Verwirrers der Sinne wird der Sohn des Vaters seines eigenen Vaters sein. Gezeugt von einem Lebenden und einem Toten zugleich, in einem Haus der Macht, wo es kein Oben und kein Unten mehr gibt. An einem Ort uralten Unheils, wo verbogene Wände dem Weg des verfluchten Wassers folgen, eine verbotene Tür über den Eintritt der Verlorenen wacht, das verstümmelte Haupt des Gehörnten schweigt und ein verhüllter Spiegel mit blutigen Lippen spricht. An einem Tag des unendlichen Schreckens, der schon seit vielen Tagen wiederkehrt, verborgen im Nebel der Niederhöllen. So will es die Prophezeiung. Denk einmal über dieses Rätsel nach, Haldana. Ich habe auch lange gebraucht, bis ich alles begriffen habe. Neulich, als wir drei uns vereinigt haben. Du, Alboran und ich. Wir sind jetzt eine richtige kleine Familie. Du wirst sehen, es wird wunderbar!”
“Du bist verrückt Golo, nichts weiter als ein verrückter Nachtmahr! Ein Gespenst, nein, ein Hirngespinst. Lass mich endlich in Ruhe!”
Haldana merkte, dass sie bereits ins Leere gesprochen hatte.
Da war nur noch Schwärze und Dunkelheit um sie herum.

Haldana hörte ein leichtes Rascheln aus der Hütte. Durch die offene Tür blickte sie hinein. Alborans Kopf erhob sich aus seinem Schlaflager. Ein leichtes Glitzern verriet Haldana, dass Alboran die Augen geöffnet hatte. Mit einem Kopfnicken rief Haldana ihn zu sich zur Feuerstelle heran. Schlaftrunken erhob sich der Friedwang, schlüpfte in seine Schuhe.
“Ist schon die zweite Wache? Warum ist das Feuer aus.”
“Man kann mehr im Wald sehen, wenn man nicht vom Licht des eigenen Lagerfeuers geblendet wird. Außerdem ist das Feuerholz zu Ende.” Haldana zögerte, ihrem Albo zu sagen, wie das Feuer wirklich ausgegangen war.
“Aber es ist kalt.”
“Naja, kalt… es ist eine Praiosnacht. So kalt ist es nicht.” sagte Haldana, wiewohl sie selbst leicht fröstelte. Aber… ich werde dich wärmen. Ich werde hier draußen schlafen, wenn du Wache hältst. Ich werde mich nur zudecken.”
Haldana stand auf und holte die Decke vom Schlaflager, die zuvor Alboran verwendet hatte. Dann kuschelte sie sich mit dem Kopf auf Alborans Schoß und wickelte sich ein.
“Ich bin sicher gleich eingeschlafen” sagte sie. Innerlich war sie zwar noch aufgewühlt von dem, was Golo ihr gesagt hatte. Haldana blickte in die schwarze Finsternis des Waldes. Alboran strich ihr sanft durch das Haar - und ebenso über die kahle Kopfhaut auf der anderen Kopfhälfte. Das tat gut, und Haldana bemühte sich, zu vergessen, dass Golo sie erneut heimgesucht hatte. So ganz begriff sie nicht, was ihr “Exmann” angedeutet hatte. Sie hatte nie darüber nachgedacht, auch nicht, als sie mit Alboran damals in der Fasshütte der Rahja geopfert hatte. Eigentlich war, mindestens zum Teil, auch eine Art Aufbegehren gegen die übermächtigen Wünsche ihrer Mutter gewesen, denen sie zeitlebens versucht hatte, zu entsprechen. Der Wunsch nach einem eigenen Leben und nicht allein, das zu tun, was die Familie, die Dynastie, die Mutter oder die Hauspolitik von ihr verlangten. Aber was hatte das mit Golo zu tun. Den hatte sie dort nicht gesehen… auch nicht gespürt. Sonst hätte sie auch niemals dem Verlangen nach Alboran nachgegeben.
“Kann ich eigentlich… eigentlich ein Kind von Dir bekommen?” fragte sie verunsichert.
Alboran lachte leise. “Ja, sicherlich. Aber lass uns doch erst mal heiraten.” antwortete er.
“Nein… das meine ich nicht” flüsterte Haldana. Wir haben Travias Segen noch gar nicht erhalten, da kann es doch eigentlich gar nicht sein, dass Tsa mich schon segnet, oder? Ich meine, so oft haben wir ja auch nicht… Rahja geopfert.”
Alboran brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen. Vielmehr war er zu überrascht, dass Haldana ihn jetzt so fragte. “Ähm... Tsa fragt vor ihrem Segen nicht nach, ob Travia schon ihren Segen gespendet hat. Aber...” Alboran vollendete seinen Satz nicht. Irgendwie war er selbst noch zu jung, um wirklich darüber nachzudenken, was es bedeutet, selbst vielleicht einmal Vater zu werden. Oder es vielleicht schon bald zu sein. Ach was… seine Haldana machte sich wahrscheinlich völlig unnütz Gedanken. Wie das Mädchen halt so machen.
Haldana schwieg. Vielleicht hatte sie es schon ein wenig gespürt. Hatte deswegen jeden Tag frisches Moos gesucht, ohne es wirklich gebraucht zu haben. Ein kalter Stich Angst schmerze sie in ihrer Brust. Wovor hatte sie Angst? Müsste sie sich nicht freuen? Hatte sie Angst davor, ihrer Mutter diese neue, unschickliche Neuigkeit überbringen zu müssen? Wie würde sie reagieren, wenn Haldana tatsächlich ein Kind erwartete? Oder ängstige sie das, was Golo gesagt hatte? Woher wusste Golo eigentlich davon… wenn er es denn wusste und nicht einfach nur geraten hatte?
„Albo… was ist, wenn….“ begann Haldana.
„Naja, wir heiraten doch ohnehin bald. Dann ist es halt ein Siebenmonatskind. Immerhin müssen wir dann in der Hochzeitsnacht nicht aufpassen. Die wäre ja im Travia, und da sollte man ja traviaschicklich enthaltsam sein. Wegen der Unheiligen Tage ein Dreivierteljahr später. Aber die Sorge hätten wir dann ja nicht.“ Alboran hoffte, mit diesem leichten Scherz die Gefährtin aufheitern zu können. Aber das misslang.
“Tsaverflixt nochmal.” fluchte Haldana leise.
“He… Liebes… nicht fluchen”
Haldana antworte nicht darauf. Eine Weile noch blickte sie finster ins Leere. Dann umfing sie ein traumloser, unruhiger Schlaf.

Alboran blickte in die unergründliche Schwärze des Waldes, der auch in der Nacht niemals wirklich still war. Im Gegenteil. Dass viele Waldtiere nachtaktiv waren wusste er natürlich. Aber so intensiv hatte er das auch noch nie erlebt. In den letzten Jahren in Rommilys hatte ja auch nie die Notwendigkeit zu einem nächtlichen Aufenthalt im Wald bestanden. Und auch bei den Geländeübungen, die im Rahmen der Knappenschule veranstaltet wurden, hatte man auf andere Sachen das Augenmerk gelegt. Jedenfalls konnte er den Geräuschen, die er hörte, die Ursache nicht zuordnen. Woher sollte er wissen, ob ein knackender Zweig von einem durch den Wald laufenden Tier gebrochen wurde, oder ob sich ein Rotpelz oder Räuber durch die Finsternis schlich? Er hatte sich das Wache halten einfacher vorgestellt. Aber er konnte nicht bei jedem Knacken, bei jedem Wispern oder bei jedem raschelnden Zweig Tuvok wecken. Und sehen konnte er ja auch nichts. Selbst dann hätte er nichts sehen können, wenn er Feuer gemacht hätte. Immerhin damit hatte Haldana recht gehabt. So lange das eigene Lagerfeuer brannte, konnte man nichts sehen, was sich jenseits des Feuerscheines ereignete. So immerhin gewöhnten sich seine Augen langsam an die Dunkelheit, und mit der Zeit konnte er zumindest ein wenig mit dem diffusen, kaum zum Waldboden durchdringenden Licht der Sterne sehen.
Haldana, die mit ihrem Kopf auf seinen Oberschenkeln lag, atmete immerhin ruhiger und schien zu schlafen. Alboran saß still und bemühte sich, sich nicht zu bewegen. Er wollte die Liebste nicht aufwecken.
“Jaja, Menschlein. Es ist nicht leicht, nachts im Wald Wache zu halten. Eine Lektion, die man bei euch Großlingen oft vergisst.”
Alboran erschrank. Er hatte niemanden gehört, der sich ihm genähert hätte. Neben ihm saß, wie aus dem Nichts erschienen, der Kobold mit seinem erdfarbenen Mäntelchen. Keinen Spann weit von ihm entfernt. Er hätte mit der Hand einfach nach ihm greifen können und für sein impertinentes Reden vom Nachmittag mal gehörig die Leviten zu lesen.
“Nana… Großling… brauchst keine Angst vor mir zu haben. Wenn ich Dir etwas tun wollen würde, dann würde ich das tun, ohne dass du etwas davon merken würdest. Also lass stecken, deine Hand.”
Woher wusste der Kobold, was Alboran gerade gedacht hatte? Hatte er es einfach erraten, oder konnten Kobolde Gedanken lesen? Alboran erinnerte sich, wie Haldana am Tag mit dem Kleinen Wesen umgegangen war.
„Na, Kleinling“ gab Alboran daher zurück. „Ist dir langweilig im Wald oder warum willst du wieder streiten?“
„Gutgut. Jaja. Nein. Ich will nicht streiten. Aber es ist schon mal gut, das du dazugelernt hast. Bist vielleicht doch ein ganz patentes Kerlchen. Für eine Großling jedenfalls. Vielleicht ist doch nicht alles verloren mit Dir.“
Alboran hatte gute Lust, dem kleinen Kerl eine Watsche zu geben. Aber er verkniff es sich.
„Ich weiß… Kleinling, ich höre in Rätseln. Aber vielleicht kannst du auch einfach mal sagen, was du willst. Oder dich vom Acker machen.“
„Hmmm. Nein.“ antwortete der Kobold und schwieg einige Augenblicke.
„Du musst das schon selber lernen, nicht in Rätseln zu hören, Großfuß.“ fügte er dann an.
Alboran seufzte.
„Ist gut, Kleinfuß.“
„Nanana. Das kann deine Braut aber besser. Einfach nur meine Worte umdrehen… also da habe ich schon bessere Erwiderungen gehört. Aber gut, jeder fängt mal an. Und du fängst halt ganz klein an.“
„Na dann. Aber anders als du kann ich auch reden, ohne provozieren zu müssen.“
„Netter Versuch, Kindchen.“
Alboran erwiderte nichts. Der Kobold würde schon sagen, was er wollte. Darüber hinaus wollte er sich nicht von der Wache ablenken lassen. Für Streitereien mit dem Klabautermann hatte er nichts übrig.
Nach einem kurzen Schweigen begann der Kobold wieder zu reden. „Gutgut. Musst nichts reden, Kurzlebiger. Aber du wirst mit mir leben müssen, Halböhrchen. Leider muss ich auch mit Dir leben, da du ja die Herrin des Landes heiraten willst.“
Eine höfliche Anrede war das sicher nicht, aber Alboran war zu erschöpft vom langen Ritt am Tag, um sich darüber aufzuregen. Also seufzte er nur.
„Ich werde mit Haldana leben. Von dir weiß ich nichts. Und auch sonst von niemandem, der unser Leben teilen wird.“
„Sicher nicht? Wie ist das mit deinem Kind? Wird das euer Leben teilen? Die dir Zugemutete hat das dir doch vorhin mitgeteilt... mitteilen wollen. Oder hast du da auch nicht zugehört?“ meckerte der kleine Kerl weiter.
Alboran seufzte. „Sag mal, du Vorwinziger...“ Der junge Friedwang versuchte es mal mit einem Wortspiel.
„Schon besser, nur weiter so“ unterbrach dieser und brachte damit wieder Alboran aus dem Konzept.
„du vorwinziger… Naseweis…“ fuhr Alboran nach einer kurzen Pause fort. „Willst du mir dabei helfen, auf der Wache auch wach zu bleiben, oder kannst du selbst nicht schlafen und dir ist einfach langweilig? Hast du vorhin Haldana und mich belauscht? Werde ich jetzt wirklich Vater? Oder willst du mich einfach nur auf den Arm nehmen?“
„Für das in den Arm nehmen musst du deine Braut fragen. Das geht mich nichts an“ frotzelte der Kobold wieder.
„Und deine Witze waren auch schon mal besser. Gnom“ gab Alboran unbeeindruckt zurück.
„Gutgut. Langsam lernst du es. Das ist gut. Nicht für mich, aber für dich. Vielleicht lernst du den Rest ja auch noch.“
„Und… Haldana hat sich vorhin darüber Gedanken gemacht, dass wir schon ein Kind bekommen würden. Sie hat mir nicht gesagt, dass wir eines bekämen. Das ist ein Unterschied, Klabauter. Vielleicht hat Haldana recht, dass so ein Hutzelmann nichts darüber weiß.“
Der Kobold kicherte leise. „Aha aha. Und du meinst, dass eine Frau über so etwas ohne Grund redet? Dann hast du in der Tat noch weniger Ahnung von Frauen als so ein altes Hutzelmännchen wie ich.“
Alboran schwieg. Der bissige Kommentar des Kleinen war nicht von der Hand zu weisen.
„Hmm“ brummte er nach einer Weile. „Aber wenn es so ist… da wir ja heiraten, vor was hat sie Angst? Vor ihrer Mutter?“
„Sieh an sieh an. So langsam fängst du an, nicht mehr in Rätseln zu hören. Immerhin stellst du jetzt die richtigen Fragen.“
„Und, Kobold… hast du Antworten?“
„Die Antworten hast du selber. Und deine Gespielin. Und dein Vater. Ich meine beide Väter.“
„Ich habe nur einen Vater“ grollte Alboran.
„Sichersicher. Nur einen Vater. Und einen, der sich dafür hält.“
„Ja… mag sein. Aber der ist tot.“
„Sichersicher. Jaja. Aber nicht gut, nicht gut.“ orakelte der Kleine.
„Ich höre immer noch in Rätseln, wie mir scheint.“ spottete Alboran zurück.
„Sicher sicher. In Rätseln. Jaja. Aber immerhin weißt du das jetzt. Ich habe dieses Gespräch schon einmal geführt. Ist mehr als zwanzig Winter her. Nicht mit Dir natürlich, Großling. Mit jemandem, der in einer ähnlichen Situation war wie du. Jemand, der sich auch anschickte, das Land beherrschen zu wollen. Der hat es nicht verstanden. Deshalb ist er jetzt tot. Bei dir… hmm… vielleicht geht das bei Dir besser aus. Vielleicht lernst du ja, tatsächlich zu verstehen, was man Dir sagt. Nicht nur, was ich Dir sage. Ich bin nicht wichtig, um mich geht es nicht. Aber höre auf das Land, auf den Wald. Höre auf das Rauschen des Gernat.“
Alboran wusste nicht, was er von dem halten soll. Wie schon die ganze Zeit verging sich der Kobold in Andeutungen und Zweideutigkeiten. Dennoch schien es ihm, als würde der Kobold ihn nicht nur necken wollen, sondern auch etwas mitteilen wollen. Nur verstand er nicht, warum er dann nicht einfach sagte, was er meinte. Wenn es ihm den wichtig war, Oder… trieb der Kobold doch nur einen Schabernack mit ihm? Einen Augenblick lang erwog er, Haldana zu wecken. Aber die hatte schon eine Wache hinter sich. Und Alboran wollte auch nicht der sein, der beim ersten Problemchen gleich Hilfe suchte.
„Na schön, Hutzelmann. Nehmen wir mal an, dass du mich nicht nur necken und einen Schabernack willst, dass du mir also tatsächlich etwas sagen willst...“
„Wie kommst du darauf, dass ich nicht beides gleichzeitig tue?“ orakelte der Kobold zurück.
„…dann sag mir doch einfach mal, von wem du redest. Mit wem hast du gesprochen? Wer ist jetzt tot?“
„Nagut. Nagut. Ein einziges Mal will ich dir eine Frage auch ganz direkt beantworten. Ich rede von Tsafried von Schnayttach, deinem Schwiegervater. Er hatte viele Ähnlichkeiten mit Dir. Auf seine Weise. Ganz am Anfang, als dieser Tsafried hier auf der Burg einzog und meinte, den Herren des Landes spielen zu müssen. Ich habe mit ihm gesprochen, am Feuer gesessen, ihn geneckt und ihm zugleich gesagt, was wichtig ist für ihn. Aber er hat auch nur in Rätseln gehört, hat nichts verstanden. Hat nicht begriffen, dass nicht er das Land beherrscht, sondern umgekehrt das Land ihn. Er hat nicht zugehört, hat den Wald gemieden und ist letztlich ihm zum Opfer gefallen.“
Alboran dachte nach. Tsafried. Haldanas Vater. Immerhin, mit dem Namen konnte er etwas anfangen. „Aber Tsafried ist erschlagen worden. Von seinem Bastardsohn, diesem Traviahold. Er wurde nicht von Wald geholt. Also scheinst du mir doch nicht die praiosgefällige Wahrheit zu sagen.“ widersprach Alboran.
„Nanana… ich dachte, du bist auf einem guten Weg. Vielleicht täusche ich mich.“ zischte der Klabauter. „Ist die Wahrheit dem Herrn Praios gefällig oder ist wahr, was Herrn Praios gefällt. Und was gefällt dem Herrn Praios überhaupt? Weißt du es? Also urteile nicht vorschnell, kurzlebiger Großling. Der Wald findet viele Wege, sein Ziel zu erreichen!“
„He… du unnützer Klabautermann. Jetzt ist es aber genug. Mich magst du necken, aber den Herrn Praios lästerst du nicht!“ Alboran wollte nach dem Kobold greifen, ihn schütteln. Diese lästerlichen Reden wollte er auch einem Kobold nicht durchgehen lassen.
Aber Alboran griff ins Leere. Der Kobold in seiner erdfarbenen Kutte war verschwunden.

Alboran wusste nicht genau, wie lange er schon da gesessen hatte, mit der schlafenden Haldana auf seinem Schoß. Ohne den neckischen Kobold konnte eine nächtliche Wache wirklich lang werden. Der Kobold war sicher ein ziemliches Lästermaul, aber unterhaltsam war er allemal gewesen. Er hätte sich nur nicht provozieren lassen sollen von den geschwätzigen Worten des Kleinen. Aber… wenn er den Stand von Ucuri am Himmel halbwegs richtig einschätzte, wäre es an der Zeit, seinen Vater für die Hundswache zu wecken. Vorsichtig, um nicht Haldana zu wecken, griff er nach einem langen Stock, der noch neben der erkalteten Feuerstelle lag, und kitzelte damit seinen Vater, der sein Schlaflager gleich neben der Tür der Schutzhütte bezogen hatte. Es dauerte nicht lange, bis Alrik erwacht war. Der Friedwang streckte sich, trank einen Schluck Wasser und schlurfte dann leise nach draußen. Still setzte er sich neben seinen Sohn und lächelte, als er die schlafende Haldana, eingehüllt in eine Decke, liegen sah. „Könnt wohl nicht genug voneinander kriegen, Albo?“ fragte er, ohne eine Antwort abzuwarten. „War etwas los während deiner Wache?“
„Na wie man´s nimmt.“ antwortete Alboran und versuchte, seiner Stimme einen abgeklärten Klang zu geben. „Ist das erwähnenswert, wenn ein Kobold einem Gesellschaft geleistet hat?“
Alrik gähnte. „Hast du einen Gaukler zum Abendessen verspeist, oder sitzt dir einfach nur der Schalk im Nacken? Entweder das ist ein absolut schlechter Witz, oder du hast versäumt, uns zu wecken. Oder du bist am Feuer eingeschlafen und hast schlecht geträumt. Das Feuer hast du ja auch ausgehen lassen.“ brummte Alborans Vater.
„Nein. Wirklich, Vater. Ich scherze nicht. Ein Kobold hat mich am Feuer aufgesucht. Er war harmlos, daher hatte ich keine Veranlassung, jemanden zu wecken. Ich weiß bloß nicht recht, was der Hutzelmann wollte. So ein kleiner mit faltiger Haut und erdfarbenem Mantel.“
Alrik zog nachdenklich eine Augenbraue hoch. „War er so groß?“ fragte er und deutete mit der Hand das geschätzte Maß an.
Alboran nickte. „So hoch sind vermutlich alle Kobolde, in etwa.“
„Mag sein. Erdfarbener Mantel, sagtest du?“
„Ja. Kennst du den Kerl etwa?“
„Nein… ich weiß nicht… Was hat er gewollt.“
„Eigentlich… ja, was wollte der Kerl eigentlich. Vermutlich sich lustig über mich machen. Ach, was soll´s. Dir kann ich es ja erzählen. Aber behalte es bitte für Dich.“
Alrik nickte, und Alboran berichtete seinem Vater von der merkwürdigen Begegnung.
„Kannst du dir einen Reim darauf machen? Hast du Erfahrung mit Kobolden und ähnlichem Gelichter?“ fragte Alboran.
„Nun, nein, nicht vollständig. Aber… eins weiß ich. Wenn ein Kobold sich die Mühe macht, mit einem Mensch zu reden, dann ist es ihm wichtig. Ob er dich damit warnen wollte oder auch nicht, ich weiß es nicht. Aber… du solltest vorsichtig sein. Vermutlich ist er immer noch in der Nähe. Kobolde können auch unsichtbar sein. Du weißt nie, was sie hören und was nicht.“ Alrik wusste nicht recht, ob er besorgt sein sollte. „Aber wenn sich jemand mit den Geschöpfen der Anderswelt auskennt, dann solltest du vielleicht einmal deine Mutter fragen. Oder auch diese Ludwina, wenn sie dir schon in Briefen schreibt. Beide dürften mit solchen Themen etwas mehr Erfahrung haben als ich. Aber du solltest jetzt schlafen. Morgen liegt noch ein langer Ritt vor uns. “
Alboran folgte dem Rat seines Vaters. Sanft befreite er sich unter Haldanas Kopf hervor und wickelte seine Gugel zu einem provisorischen Kissen. Dann ging er in das Bett, das sein Vater frei gemacht hatte, und legte sich hin.
Alrik zündete sich vorsichtig seine Pfeife an. Was sein Sohn ihm über den Kobold erzählt hatte, gab ihm zu denken. Immerhin, er teilte die Einschätzung, dass keine Gefahr gedroht hatte. Insofern war es auch vertretbar gewesen von seinem Sohn, die Gefährten schlafen zu lassen. Was ihn ebenso beschäftigte war die Frage, ob der Kobold, von dem Alboran erzählt hatte, das gleiche Wesen war, das er auf seiner Anreise nach Schlotz kurz erspäht hatte. Eigentlich war es nicht wirklich begründbar, nur aufgrund eines erdfarbenen Mäntelchens darauf zu schließen. Andererseits war er am Rand des Wutzenwaldes entlang gereist. Nun, ausschließen konnte er es also auch nicht. Aber dann stellte sich die Frage, was dieses Feenwesen von ihm und seinem Sohn wollte. Und hatte der Tod Tsafrieds tatsächlich etwas mit dem Wutzenwald zu tun? Das letztere erschien ihm ebenfalls absolut rätselhaft. Von seinem Bastardsohn erschlagen zu werden war eine tragische Wendung des Schicksals. Aber einen Zusammenhang mit dem Wutzenwald und seinen Besonderheiten zu ziehen, das war eine Frage, auf die er jetzt keine Antwort hatte.
Ein Käuzchenruf riss den Baron aus seinen Gedanken. Vielleicht war es das Beste, einfach nur Wache zu halten und sich nicht zum Grübeln verleiten zu lassen. Er würde ohnehin keine Lösung finden.
Iyaharinacheel. Auch diesen Namen, an den er jetzt im Zusammenhang mit Yyasinthe Dengstein erinnert worden war, hatte er schon einmal gehört. Von seinem Hofmagier Hesindian. Der hatte ihm mal erzählt, dass die Unheiligen Mächte damals auch versucht hatten, den ehrgeizigen Gallyser Magus, Veneficus, in Versuchung zu führen. Hatten ihm einreden wollen, er wäre nicht am letzten Tag des Rahjamondes zur Welt gekommen, sondern eben etwas später. Und man hatte ihm offenbar große Macht in Aussicht gestellt, wenn er als neuer Isyaharinacheel dem Dreizehnten dienen würde. Nun, Veneficus habe der Versuchung widerstanden, habe sich stattdessen den Alten Kulten zugewendet und die Ränke des Namenlosen durchkreuzt. Eine wirre Geschichte, die Hesindian ihm um die Ereignisse mit dem Schatz der Mallachai erzählt hatte.
Alrik schüttelte den Kopf. Die Geschichten hatten kaum etwas gemeinsam als den Namen Isyaharinacheel, der sich vielleicht auf eine alte Prophezeiung berief, die außer den Ketzern des Nicht zu Nennenden ohnehin niemand kannte.

Das Lagerfeuer brannte jetzt hell und orangefarben, fast so gemütlich wie der Kamin zuhause auf Burg Friedstein. Alrik hielt zufrieden die Handflächen in die glosende Wärme, schob mit dem Schürhaken ein glühendes Stück Eichenholz zurück in die Flammen, räkelte sich in seinem Sessel und griff nach einem Becher Zaberger Ewigleben, der neben ihm auf dem Tischchen stand.
Moment, hier stimmte gerade einiges nicht: Da war gar kein Lagerfeuer gewesen. Ganz bestimmt keines mit Schürhaken, Sessel und einem guten friedwängischen Schoppen.
“Der Isyaharinacheel, was soll ich dazu sagen?” Der weißhaarige, alterslose Magier lächelte ihn durch das Lagerfeuer hindurch an, die Hand auf den Zauberstab gestützt. “Der Name scheint aus dem Zhayad zu stammen und sich auf den Tagesherrscher des Dies primus innominatus zu beziehen. Er soll so viel wie Auserwählter oder Verheißener des besagten Dämons bedeuten. Allerdings müsste er dann recte Isyahadinacheel lauten.”
“Hesindian, was machst du denn hier?” Alrik legte die Pfeife auf ihren angestammten Halter, zusammen mit den anderen Sammlerstücken. “Bist du ein Gespenst, oder ein Trugbild?”
Sein Hofmagier lächelte milde. “Nein, ich bin die Erinnerung an ein Gespräch, das wir einmal über dieses Thema geführt haben, im Schlangenturm, meinem Labor. Du bist wieder einmal eingeschlafen, alter Freund, und schnarchst, dass sich die Wutzen fürchten. Die Hundswache, ausgerechnet. Könnte es sein, dass du dich ein klein wenig überschätzt, mit deinen mittlerweile mehr als 50 Lenzen?”
“Ich bin wieder eingeschlafen?” Erschrocken ruckte Alrik hoch, in seinem gut gepolsterten Sessel, der dem Steinbockthron ähnelte. Nur dass er plötzlich von dichtem Gestrüpp überwuchert war, aus Efeu, Gras, Brennesseln, Dornicht und Kletterranken. Sein Kreuz schmerzte niederhöllisch. Der Friedwanger versuchte aufzuwachen, aber es gelang ihm nicht. Ein Reh schaute ihn liebevoll an, auf dessen Rücken ein kleiner Kobold saß, und hämisch grinste.
Hesindian schnitzte derweil Figuren in seinen Zauberstab. “Du solltest der Vögtin sagen, dass du nicht mit den Sokramoriern unter einer Decke steckst. Jedenfalls nicht nur. Sondern auch mit Inquisitionsrat Parinor Rukus zusammengearbeitet hast. Alborans Onkel. Der halt einige Akten gesammelt hat, über die namenlosen wie erzdämonischen Umtriebe in Friedwang.”
Alrik nickte. “Ich weiß. Ich habe ja selber drin gespickt, ab und zu. Isyaharin, unter diesem Namen soll der Sechsgehörnte auf Burg Laescadir angebetet worden sein. Mit r statt d. Irgendwo drüben in der tobrischen Sichel. Vor sicherlich dreißig Jahren oder mehr. Damals haben die Kultisten versucht, Shihayazad, den noch weitaus mächtigeren Dämon des Fünften Tages, zu beschwören. Ein Ritual der Weltvernichtung, das offenbar gründlich gescheitert ist. Einer der Anführer war ein weißhaariges Kind, kannst du dir das vorstellen? Vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Der Sproß des Hohepriesters Sephirim soll von ihm stellvertretend für den Namenlosen gezeugt worden sein, mit einer Hexe. Offenbar kann der Verfluchte Gott keine Nachkommen mit Sterblichen erschaffen, anders als die göttlichen Zwölfe. Aber er vermag Neugeborenen durchaus seinen bösen Geist einzuflößen, als Auserwählte. Wie gesagt, das Ritual ging gründlich schief, was auch am Eingreifen einiger Helden lag. Deren Namen in der Akte leider nicht erwähnt worden sind. Unter den überlebenden Frevlern, die damals in alle Winde zerstreut wurden, soll sich auch Yasinthe Dengstein befunden haben, die aus Ysilien stammt. Der Name Isyaharinacheel scheint ihrem kranken Geist entsprungen zu sein. Offenbar ist sie von der Idee besessen, einen würdigen Nachfolger Sephirims zu erschaffen, der ein Graf oder Baron und mit dem Mal des Finsteren Gottes gezeichnet gewesen sein soll. Allerdings gilt er seit den Ereignissen im Tal von Laescadir als verschollen, ebenso wie sein Sohn. Womöglich hat der Sphärenspalter die beiden ebenfalls grausam umgebracht, wie so viele andere des purpurnen Rattenschwarms.”
“Ein weißhaariger Knabe, so so.” Hesindan betrachtete seinen fein gedrechselten Stab, den eine Schlange und ein Bergkristall zierten. “Ich habe gehört, dass der Albino mittlerweile ins ferne Güldenland aufgebrochen ist.”
“Ins Güldenland? Moment, das stand aber nicht in den Inquisitionsakten. Wir haben uns damals auch nicht darüber unterhalten...Woher weißt du....”
“Das hier ist ein Wahrtraum, in einem uralten Zauberwald” Sein Magierfreund blickte irgendwie merkwürdig. “Du solltest ein Auge auf deine künftige Schwiegertochter haben. Die Feen flüstern mir zu, dass sie von Golos Geist verfolgt wird. Der Schiefhals hat ebenfalls zu Yasinthes Zirkel gezählt.”
Alrik wollte noch etwas erwidern, aber eine Geste Hesindians ließ ihn verstummen: Der Schweigefuchs, ein Handzeichen in der Geheimsprache Atak, das darauf hindeutete, das Gefahr im Verzug war, und man nun besser leise sein sollte.
Irgendetwas war hinter ihm, griff nach ihm...packte ihn mit spitzen Klauen an der Schulter und...
Mit einem Aufschrei erwachte der Mondschatten und merkte, dass er auf dem Boden lag, neben dem
umgestürzten Hocker und der Feuerstelle. Das graue Licht des frühen Morgens lag über allem. Gen Rahja, über den dicht bewaldeten Schlotzkuppen, färbte sich der Himmel zart rötlich. Das Gras war taunass und die ersten Vögel zwitscherten. Er tastete nach seiner Pfeife, die ihm aus der Hand gefallen, aber zum Glück nicht zerbrochen war. Waldameisen krabbelten über seine Finger. Das Summen gerade eben, war das eine frühe Biene gewesen?

Unweit Sokramshain, am des 5. Praios
Nicht nur Alrik kam langsam aus dem Schlaf wieder zu sich. Zwar etliche Meilen entfernt, doch ebenfalls in einem Lager im Wald, streckte eine Hexe verschlafen die Arme. Dann kuschelte Rimhilde sich im Halbschlaf an Gerbold. Sanft fuhr sie ihm mit der Hand durch seine kurzen, schwarzen Haare. Die Satuarientochter brauchte eine Weile, bis sie sich aus dem nebligen, traumhaften Zustand befreit hatte. Die Sommernacht war warm, und dass es auf der Wiese ein wenig piekste, hatte sie ebenso wie Gerbold noch nie gestört. Rimhilde bedauerte es, dass sie nur selten den Junker von Zwölfengrund traf. Aber es war zu wichtig, dass sie ihre Augen und Ohren auf der Burg Schlotz hatte.
Die Eigeborene räkelte sich und schob sacht die schwere Hand des Junkers von ihrer Brust. So angenehm ihr das war, so sehr hatte sie das Bedürfnis, wieder ihre Lungen zu füllen und die laue Sommerluft einzuatmen.
Gerbold brummte ein wenig. Der alte Krieger fühlte sich jedes Mal wie neu geboren, wenn ihn die Magd der Baronin besuchte. Natürlich durfte niemand von ihrem Verhältnis erfahren. Seine Informationsquelle auf Burg Schlotz würde versiegen, wüsste man dort um seine Liebschaft mit Rimhilde. Er wusste auch nicht, inwieweit die Altbaronin es ihm übel nehmen würde, wüsste sie darum, dass er dank der Magd über alle Vorgänge auf der Burg gut Bescheid wusste. Aber das Risiko ging er ein. Zu sehr genoss er die Liebkosungen der ewig jung scheinenden Hexe, als dass er darauf verzichten wollte.
„Dieser neue, der seine Hand nach dem Schlotz ausstreckt…“ begann Rimhilde. „Dieser junge Friedwang. Ich… bin mir nicht sicher, aber das könnte Schwierigkeiten mit sich bringen. Er scheint doch arg dem Praiosglauben zugetan und hat wohl zu wenig Verständnis für das, was im Land gewachsen ist. Ein… Stadtmensch, möchte ich meinen.“
Gerbold nickte. „Ich hörte von ihm. Ja. Ein Schwarzsichler zwar, aber aufgewachsen zuletzt in Rommilys. Auch viele Menschen machen sich Sorgen, vor allem auf den Höfen rund um den Wutzenwald, und auch hier in Sokramshain. Man fühlt sich… erinnert… an die Zeit, wie es mit Tsafried begann. Dabei waren wir gerade dabei, die junge Baronin vorzubereiten. Gewissermaßen den Boden zu bereiten, dass sie die Fehler ihres Vaters nicht wiederholt. Vorsichtig haben wir Informationen gestreut, über den Wutzenwald, und ihr Interesse an den richtigen Geschichten geweckt. Wir haben dafür gesorgt, dass dieser Jäger sie begleitet und ihr auch den Wutzenwald zeigt.“
„Tuvok? Der Nivese ist doch keiner von uns.“ Unterbrach Rimhilde.
„Nein, aber als Waldläufer und Jäger aus dem Norden teilt er manche unserer Ansichten schon von sich aus. Ansichten, die somit ganz unauffällig auch Haldana nahe gebracht werden können. Außerdem kann er von Nengarion erzählen. Das kann nicht schaden.“
„Wollte nicht auch Badill sich der Sache annehmen?“ fragte die Hexe nach.
„Das tut er. Verlass dich auf ihn.“ Der Junker schwieg, sah der Hexe ins Gesicht und fuhr spielend mit den Fingern über ihren Bauch.
„Lass das, nicht jetzt.“ Unterbrach Rimhilde. „Es gibt Anlass zur Sorge. Es rumort im Land. Die Stimmung ist schwer greifbar, schwer in Worte zu fassen, und es gibt auch keine klare Ursache. Aber eine Unzufriedenheit hatte ich bemerkt.“
Der alte Zwölfengrund nickte und blickte nachdenklich die junge Hexe an. „Ja, das ist mir auch aufgefallen. Das ist schwer zu erklären. Es… rumort im Land, wie du sagst. Keiner unter den Sokramoriern sagt etwas direkt. Aber sie scheinen zunehmend skeptisch zu sein, zunehmend kritisch gegenüber Burg Schlotz. Und sie drängen mich, die Bande zur Vögtin zu lösen, selbst nach der Burg zu greifen. Nicht offen. Aber immer wieder deuten manche an, dass sie einer anderen Herrschaft folgen würden.“
„Du als Baron von Schlotz?“ unterbrach die Hexe. „Na, warum nicht. Hättest du nicht diese eitle Binsböckel geheiratet, könnte ich dann ja sogar Baronin werden“ lachte sie. „Nein, beruhige dich. Ich will nicht Baronin werden. Und ich bin auch nicht eifersüchtig auf diese gestelzte Gernatsquell.“ Aus den Worten der Hexe war heraus zu hören, dass sie sehr wohl eifersüchtig war.
„Ach, Rimhilde, das ist halt Politik. Valyria hat mich gebraucht, weil sie ein Kind erwartete. Sie ist die Herrin der Baernfarns, mit einem unehelichen Balg hätte sie sich für jede weitere politische Aufgabe disqualifiziert. Du weiß, wie das ist.“
„Der kleine Brin ist gar nicht von Dir?“ forschte Rimhilde nach.
„Nein, und du hast das doch geahnt. Du hast doch selber Augen im Kopf. Brin sieht mir wirklich nicht ähnlich.“
„Und wer ist dann der Vater?“ bohrte sie nach.
„Finde es selbst heraus, Rimhilde. Ich bin meiner Ehefrau in loyalem Schweigen verbunden. Ich hätte das ohnehin nicht sagen dürfen. Nein. Nur dir. Bitte behalte es für dich.“
„Jaja… aber hätte dann nicht auch ein anderer diese Gernatsquell heiraten…“
„Nein. Den Einfluss auf die Baernfarns und auf die Schwester der Vögtin kann ich niemandem sonst überlassen. Du musst mir da schon vertrauen, Rimhilde.“
Die Hexe fauchte einen verständnislosen Laut.
„Aber ich habe nichts mit ihr“ versuchte Gerbold zu beschwichtigen. „Es dient den Interessen der Alten, das ist alles“
Rimhilde schwieg, blickte aber finster.
„Und ich will auch nicht Baron von Schlotz werden“ lenkte Gerbold auf das ursprüngliche Thema zurück. „Es ist besser, hinter dem Thron zu stehen als darauf zu sitzen.“
„Das kommt immer darauf an, wer auf dem Thron sitzt“ fauchte die Hexe. Und da könnte bald ein konservativer Anhänger des Praios sitzen. Ein Nachfahre des Heiligen Alboran. Jemand, der sich um die Traditionen der Alten nicht schert.“
„Liebling, du siehst das zu schwarz. Alboran wird nicht auf dem Thron sitzen, sondern Haldana. Und die wird schon alles lernen, was sie wissen muss. Ich weiß das.“ Gerbold beugte sich zu seiner Gefährtin und gab ihr einen zarten Kuss. Rimhilde ließ sich darauf ein, aber nur kurz.
„Soso… du weißt das. Aber viele von uns scheinen das anders zu sehen.“ Rimhilde war skeptisch. „Diese Trollprinzessin lebt zu sehr in ihrer Welt der Musik, und sie ist vernarrt in ihn. Letztlich wird der Friedwang hinter dem Thron stehen, und nicht du. So sehen es jedenfalls nicht wenige von uns, auch wenn es keiner offen sagt. Es rumort, wie schon gesagt. .“
„Ja, und das macht mir Sorgen. Wenn unsere Leute offen gegen den Thron aufbegehren, dann ist das gefährlich. Es ist besser, wir leben im Verborgenen, wie wir es seit Jahrhunderten gehalten haben. Aber wenn wir gegen die Binsböckel auf Schlotz rebellieren, haben wir das ganze Haus Binsböckel gegen uns. Und die Baernfarns. Vielleicht auch die Mersingen. Am Ende rufen wir die Rabenmund in Rommilys auf den Plan. Dann ist das nicht mehr kontrollierbar. Das ist gefährlich. Wer zu viel will, kann tief stürzen. Die meisten Adelsgeschlechter hier sind nicht unsere Gegner. Sie tolerieren uns seit jeher, solange wir ihren Herrschaftsanspruch mittragen. Sie wollen ihre Steuern und ansonsten Ruhe im Land. Missionarischen Eifer, wie damals die Priesterkaiser, das ist vorbei. Daher sollten wir das auch nicht in Gefahr bringen, uns nicht unnötig neue Gegner machen. Du weißt doch, wie das läuft. In Gallys hat man von jeher ein offenes Ohr für die Alten, fast immer war auch ein Druide am Hof angestellt, der seinen Einfluss geltend machen konnte. In Friedwang schaut der Baron weg, die Baronin ist gar selbst eine von uns. In Rammholz hat der neue Vogt das sagen, und der steht auch auf unserer Seite. Und auch hier in Schlotz… Wir haben sogar die Priesterkaiser überstanden. Weil wir geduldig und bescheiden waren, weil wir nicht offen aufbegehrt haben sondern weil wir im Stillen gewachsen sind. Das sollten wir nie vergessen.“
„Ach, du und deine Politik. Das alles ist doch weit weg. Ich sage dir, was die Sokramorier denken. Wenn ein Praiosanhänger auf dem Schlotz sitzt, dann gibt das Ärger. Dann kannst du das nicht mehr einfangen. Entweder, du bist dann an der Spitze der Sache, oder jemand anderes führt das an. Es sind viele, die unzufrieden sind.“
„Aber warum? Die Lage hat sich in den letzten Jahren doch gebessert. Die Vögtin schaut weg oder nimmt uns gar nicht wahr, und die Baernfarns in Gernatsquell haben sich auch noch nie gegen die Sokramorier gestellt. Vergiss nicht, dieser grauhaarige Magierzausel aus Gallys ist selbst zu den Alten konvertiert. Und Haldana ist auf einem guten Weg. Und… hat irgendjemand Grund zur Klage? Gibt es sonst etwas, was den Unsrigen zu schaffen macht? Droht eine schlechte Ernte? Macht der Rotpelz Ärger? Sind Räuber im Wald? Was bringt diesen Unmut hervor, nur weil die Baronin heiraten will?“ Gerbold von Zwölfengrund, der Junker von Sokramshain, war ratlos. „Es gibt keinen Anlass zur Unzufriedenheit. Wir haben Tsafrieds Bekehrungsversuche überstanden. Wir haben den Krieg überstanden, und immer haben wir zusammengehalten. Was ist jetzt los, dass so viel Missbehagen herrscht? Woher kommt diese Stimmung? Es kommt einfach nur eine neue Baronin nach, das ist alles. Kann es sein, dass irgendjemand die Leute aufhetzt? Jedenfalls kommt es mir fast so vor. Dass dieser junge, unerfahrene Friedwang ein Nachkomme eines Praiosheiligen ist, das kann es doch nicht sein, was den Leuten zu schaffen macht.“
Rimhilde dachte nach.
„Ich weiß es nicht. Aber ich sage dir, die Stimmung unter den Unsrigen ist gereizt. Man ist besorgt. Du tust gut daran, das ernst zu nehmen. Sonst kostet Dich deine Nähe zur Baronin und die Ehe mit dieser Gernatsquell deine Autorität bei den Alten. Wenn erst die Druiden…“ Rimhilde beendete ihren Satz nicht.
„Da ist noch was anderes, was ich Dir berichten muss. Meine Schwester im Glauben in Friedwang, Ludwina… sie hat Alboran einen Brief geschrieben. Ich habe… nicht alles verstanden, was darin stand. Da fehlen mir ein wenig die Hintergründe. Aber… offenbar soll eine Dengstein… Jasine Dengstein oder so… nach Schlotz gekommen sein. Sie sucht irgendeinen Ring und hat einen Spiegel. Entschuldige, das hört sich etwas wirr an. Aber es schien Ludwina wichtig zu sein.“
Gerbolds Blick verfinsterte sich. Mit der alten Ludwina war er bekannt, hatte sie einige Male getroffen. „Ludwina? Wenn sie etwas sagt, dann ist es wichtig. Einen Brief, sagst du? Berichte mehr darüber.“


Am Vormittag des 5. Praios, in Marktfriedwang, Baronie Friedwang
Erzpriester Ucurian stöhnte leise auf. Es fehlte nicht viel, und er hätte geschrien. Um ihn herum zischte und brodelte es wie in einer Hexenküche. Oder wie in den Niederhöllen?
Dichter, heißer Nebel hüllte ihn ein, brannte schmerzhaft auf seiner Haut. Das Greifenamulett, das um seinen Hals hing, verwandelte sich gefühlt in ein Brandeisen. Hastig streift er den Umhänger ab und legte ihn auf die Bank.
Die Hitze war atemberaubend, im Wortsinn. Der Praiosgeweihte sog vorsichtig die glühende Luft ein, hachte sie wieder aus. Hielt sich die Hände vors Gesicht, um seine Lungen so gut es ging zu schützen. Nur nach und nach legte sich der kochende Brodem wieder. Im Waschküchendunst tauchte das bullige Gesicht Hochwürden Garafanions auf, Custos Lumini der St. Alborans-Siegesbasilika. Mit hochrotem Kopf sah der Tempelvorsteher für einen Moment aus wie Ortlieb, der Wappenstier der Rommilyser Mark. Schweiß und Wasser rann sein Gesicht herab, auf den silbergrauen Gabelbart und von dort auf die Bodenbalken der Schwitzstube. Es roch nach würzigen Kräutern, wie auf einer Bergwiese. Von draußen, durch die beschlagenen Butzenscheiben, drang honigfarbenes Licht in die Badestube.
“Soll ich noch eine Kelle drauflegen?” Garafanion schnaufte wohlig, auf seiner eigenen Sitzbank, die unter dem Gewicht von Hochwürden knarzte. Der betagte Hochgeweihte hatte an Gewicht gewonnen, in den letzten Götterläufen, sowohl kirchenpolitisch wie auch dem Körperumfang nach.
Ucurian Lansborn hob matt die Hand, zum Zeichen, dass ihm ein Aufguß vollauf genügte. Auf den erhitzten Steinen im hölzernen, eisenbeschlagenen Schaff prasselte das Wasser wie Fett in der Pfanne. Der Luminifer schlug sich mit dem Badewedel auf die Schulter und den Rücken, so heftig, als wäre es die Flagellantenpeitsche eines Geißlers. Weniger, um die Lebenssäfte in seinem hageren Körper anzuregen, als um den allgegenwärtigen Drachendampf zu vertreiben. Neibhard Garafanion Eulenkuhl lehnte sich in Richtung Kachelofen zurück. Er schob seinen runden Badehut zurecht, der  wie ein übergroßer Fingerhut geformt und aus Stroh geflochten war. Dann schlug er sich selbst mit dem Quast, wenn auch weniger heftig als sein Gegenüber.
“Herrlich, nicht?”
Der Luminifer nickte schwach.
“Riechst du das Gilbornskraut?” Lichthüter Garafanion schloss die Augen, wedelte sich Dampf zu und schnupperte genießerisch. Das heilige Gewächs des Praios sollte angeblich die Stimmung heben, aber Ucurian spürte wenig davon. Der Stellvertreter des Custos Lumini hasste die Geweihtentage, wie die Sonderbadetage hießen, an denen nur der Prätor mit auserwählten Gästen Zutritt in die Badstube hatte. Das Haus unweit des Alboransplatzes war in der Regel an Markt- und Wassertagen für alle Friedwangen geöffnet, oder an Feiertagen. Dann hing ein Badewedel vor der Tür und Meister Rufus schlug auf seine Rasierschüssel: “Die Badstube ist auf!”
Heute war Windstag und geschlossene Gesellschaft angesagt, was öfters vorkam. Schließlich gehörte das Badehaus dem Marktflecken und damit letztlich dem Baron, der Nebeldunst ebenfalls zu schätzen wusste.
Ucurian zog einen ordentlichen Zuber mit Wasser und Aschelauge vor. Was Garafanion an dieser “Schwitzstube” fand, blieb ihm ein Rätsel. Nicht nur, dass Badehäuser in der traviafrommen Mark einen schlechten Ruf hatten (Lefke, die “Reibemagd”, war wirklich sündhaft hübsch). In dieser Form erinnerte das Ganze auch noch an das groteske Gegenstück eines Scheiterhaufens: Bei dem der Delinquent statt durch lodernde Flammen mittels heißem Dampf gemartert wurde.
Womöglich wollte der Tempelvorsteher einfach nur ein Gespräch unter vier Augen mit ihm führen. Was seinem Stellvertreter nicht recht einleuchtete, schließlich hatten gerade hier die feuchten Wände Ohren. Wer echte oder falsche Neuigkeiten oder einfach nur Gerüchte streuen wollte, saß im Badehaus von Rufus Munkel goldrichtig – "Gemunkel” war längst zu einem geflügelten Wort im Dorf geworden. Zum phexischen Baron oben auf seiner Räuberburg mochte so eine Vorgehensweise passen, aber für einen Custos war sie im höchsten Maße unwürdig. Auch Ucurian rückte seinen Strohhut zurecht, auf seiner blonden Wehrheimer Topffrisur. Baron Alrik besaß wohl wirklich einen schlechten Einfluss auf den mehr als achtzig Götterläufen zählenden, aber ungemein rüstig wirkenden Hochgeweihten.

Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als wäre dessen Karriere ramponiert gewesen, nach den skandalumwitterten Ereignissen in der Wildermark-Zeit. Da war Oleana, die ehemalige Novizin des Tempels, die auch mit Garafanions Hilfe Baronin geworden war und sich später als Handlangerin des Dreizehnten herausgestellt hatte. Dazu gesellte sich die Rückkehr ihres schurkischen Vaters Gernot, der eigentlich fürstlicher Acht und Aberacht verfallen gewesen war. Sein einstiger Hoflehrer Garafanion hatte diese Ungeheuerlichkeit zumindest stillschweigend geduldet. Bis heute gab es die Umtriebe der ketzerischen “Sokramorier”, denen der Prätor allzu schwach und nachlässig begegnete, wie seine rechte Hand fand. Mit den Betrügereien und Schurkenstücken dieses Alrik Tsalind hätte man ein ganzes Buch füllen können. Ein eigenes Kapitel wäre darin den Eskapaden der barönlichen Gemahlin Serwa gewidmet, bei der es sich um ein Hexenweib und eine Levthansbuhle handeln sollte.
Ucurian stockte der Atem, nicht nur wegen der Hitze. Einen Moment lang wurde ihm schummrig. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, mitten auf die schneeweiße Bruch, die Unterhose. Keuchend wischte er sich mit einem Tuch sauber. Die Liste war wahrlich lang, bis hin zum skandalösen Tod des Bannstrahler-Hauptmanns Praiodan Bullenschläger. Ein wahrer Streiter des Lichts, der vor dem Tempel von den Götzenanbetern erschlagen worden war wie ein räudiger Hund, unter nie ganz aufgeklärten Umständen. Angeblich hatte man Garafanion schon nach Jilaskan schicken wollen, aufgrund seiner unzähligen Verfehlungen und Nachlässigkeiten im Kampf gegen die Finsternis, die Darpatien von innen wie außen bedrohte.
Ob das mit dem “Gang nach Praiosdank” wortwörtlich zu verstehen gewesen wäre, das hatte Ucurian noch nicht herausgefunden. Allerdings, die Untersuchung hatte sich hingezogen. Besonders der peinliche Verrat des Bannstrahlritters Gurvanio Harnischer, der auf die Seite des Namenlosen gewechselt war, hatte den Visitatoren zu schaffen gemacht.
Am Ende hatte man Garafanion zu einer Bußwallfahrt in die “Stadt des Lichts” verurteilt, wo er einige Monde in Klausur verbracht, gefastet, gebetet, sich ausgiebig gegeißelt, eine Bosparanie gepflanzt und die Vergoldung einer Statue der Heiligen Lechmin bezahlt hatte. Eines nichtmal lebensgroßen Heiligenfigürchens, nach allem was man so hörte, sowie irgendeines Gongs. Manch Geweihter, der seinen Novizen zu oft den Kopf tätschelte, wurde härter rangenommen. Ach ja, die “Ehrbare Sankt-Alborans-Gesellschaft” war auch aufgelöst worden, jener dubioser Intrigantenzirkel friedwanger Honoratioren, der viele Jahre lang im Hintergrund die Fäden gezogen hatte, hinter Steinbockthron und Praiosaltar. Damit hatten es die Kirchenoberen bewenden lassen, in ihrer grenzenlosen Weisheit.
Zu Garafanions eigentlicher Ehrenrettung war es dann mit dem Überfall der Drachenmeisterin Varena gekommen. Seitdem galt der Custos als heldenhafter “Fels in der Brandung”, als Mann, der den Praiostempel vor den Horden der Kriegsherrin verteidigt und (angeblich) sogar deren Reitdrachen Arlopir in die Flucht geschlagen hatte, mit einem gewaltigen Lichtstrahl. Ucurian wusste es besser: Die feindliche Streitmacht hatte den Hauptort der Baronie von vorneherein umgangen und sich stattdessen westlich am Schratenwald vorbeigeschlichen. Nur eine größere Streifschar hatte Markt Friedwang und die Burg heimgesucht, war aber in heftigen Scharmützeln vertrieben worden. Garafanion hatte es danach geschafft, sich als der Held der Stunde darzustellen, der den Widerstand organisiert, den Tempel mitsamt den Reliquien und die gesamte Baronie vor dem Untergang gerettet hatte.
Was vorher so alles geschehen war - Schwamm drüber, wie gerade eben beim sanften Vorbad im Holzzuber. Oleanas Schreckensherrschaft und Garafanions Anteil daran war nur noch trübes,  übelriechendes Wasser, das man schnell in die dunkelste Ecke der Vergangenheit schüttete. Nicht mehr der Rede wert. Schlimm genug, wenn der ehemalige Wehrheimer Illuminatus Albuin das Ansehen der Praioskirche in den Schmutz zog, dieser Wahnsinnige. Die Gemeinschaft des Lichts brauchte Heroen und Heilige, nicht ständig neue Skandale, bei ihrem Wiedererstarken in der Rommilyser Mark.
Ucurian lüpfte seinen Strohhut, der den Kopf vor zuviel Hitze schützen sollte. Das Ding sah einfach nur lächerlich aus, dem Anblick Hochwürdens nach zu urteilen, gerade weil es entfernt der Kappe eines Praioten ähnelte. Der Luminifer vermisste sein rotes, golddurchwirktes Gewand, das draußen in der Truhe lag, in der Abziehstube, sowie den Gürtel mit den beiden Sphärenkugeln.
Garafanion fing wieder an, sich mit dem Birkenquast zu schlagen, und sein Gegenüber zu mustern - ein dicklicher, praiovialer Landgeweihter, konziliant, bieder und leicht behäbig. Wenn der Tempel der Illuminata Hildemara noch gestanden hätte, drüben in Wehrheim, wäre ein derart laxer Amtsstil unvorstellbar gewesen. Die Heilige Hildemara hatte ihrerzeit sogar die Phexkirche verbieten lassen. Über das Ochsenwasser hinweg betrachtet, war Markt Friedwang einfach nur ein bedrohter Außenposten, der eben unkonventionelle Maßnahmen ergreifen musste, am Rande des Abgrunds, umringt von Feinden und Ketzern. Ucurian war schmerzlich bewusst, dass er seinem Prätor Gehorsam schuldete, aber ebenso, dass sie beide Welten trennten. Er selbst war Wehrheimer und hatte die Trümmer seiner Heimatstadt gesehen, nach der Schlacht auf dem Mythraelsfeld und dem Magnum Opus des Weltuntergangs.
“Ich habe gerade über unseren Heiligen Arras nachgedacht”, sagte Garafanion unvermittelt und zupfte ein welkes Blatt aus seinem Wedel. “Wie es scheint, ist die Wertschätzung gegenüber dem Gründer des Hüterordens eine Gemeinsamkeit zwischen uns beiden.”
Ucurian nickte. “ Wohl wahr. Ich war zwar nur einmal im Kloster Arras de Mott, in einer etwas heiklen Mission. Aber ich muss sagen, das war schon eine Erfahrung, die mich zutiefst geprägt hat. ”
“Seitdem nennst du dich Ucurian Lansborn de Mott?”
“Streng genommen gebührt dieser Titel allein dem Großmeister. Es ist ein eher...scherzhafter Spitzname, den mir die Ordensbrüder in Wehrheim gegeben haben, als ich ihnen einige verbotene Schriften übereignet habe. Ein Name, gegen den ich allerdings wenig einzuwenden habe. Das war zu der Zeit, bevor die verfluchten Bekenner im Stammkloster gehaust haben, oben im Finsterkamm.”
“Nun, die Bekenner waren, obschon Häretiker, doch eine Abspaltung der Braniborier. Der Hohe Drache der Gerechtigkeit wird in unserem Tempel ebenfalls in Ehren gehalten.”
“Weniger ist mitunter mehr. Das gilt auch für Heilige oder Alveraniare, denen man sich verbunden fühlt. Von den Göttern ganz zu schweigen.”
“Ich finde, das rechte Maß entscheidet auch in diesem Fall. Wir sind schließlich keine Rastullah-Anhänger, die nur zur einem einzigen Gott beten. Von schlimmeren Beispielen zu schweigen. Das Gleichgewicht der Kräfte und Mächte, darauf kommt es an. Arras de Mott. Ich schätze seine Lehre sehr, dass es Wissen gibt, das besser geheim bleiben sollte, zum Schutze der Sterblichen.”
“Zum Schutze der einfachen Gläubigen, gewiss. Allerdings sollten Geheimnisse nicht zum Schutze derjenigen verborgen werden, die sie hegen. Das wäre zutiefst praiosungefällig.” Ucurian atmete tief den Kräutergeruch ein. Ein wenig erinnerte ihn der herbe Duft an den Weihrauch drüben in der Basilika. Dennoch, so richtig anfreunden mochte er sich damit nicht.
“Praios gebe uns die Kraft, Dinge zu ändern, die wir zurecht fügen müssen, weil sie die Ordnung der Welt stören. Die Gelassenheit, unerfreuliche Dinge hinzunehmen, die unsere Kräfte übersteigen – und die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden. Wenn wir aber gewisse Dinge nicht ändern können, was hilft es dann, lauthals darüber zu lamentieren? Das betrifft insbesondere die Vergangenheit. Die Zukunft, die können wir noch ändern...vor allem in der Gegenwart unterscheiden, was bereits vergangen ist und welche Aufgaben künftig auf uns warten.”
Ucurian lächelte dünn: “Deine Praiostagspredigt? Ich habe dich in der Sakristei sprechen hören. Die Worte klangen zumindest ähnlich...”
“Eine alte Untugend von mir, ja. Meine Predigt laut aufzusagen. Ich wusste nicht, dass ich bis in den Altarraum zu hören war.”
“Ich kenne die Weisheit, wonach eine unglückselige Vergangenheit, über die man nicht mehr spricht, irgendwann zu uns wiederkehrt. Vielleicht könntest du diesen Gedanken auch noch in deine Rede einbauen?”
“Man steigt niemals zweimal in den gleichen Fluss, hat, glaube ich, Rohal der Weise gesagt.”
“Spitzfindige Weisheiten eines Magiers..."
“Ein Magier göttlichen Geblüts. Wie sonst hätte er den letzten Priesterkaiser stürzen können, wenn es nicht der Wille des Allerhöchsten selbst gewesen wäre, einem allzu Hochmütigen und Ehrgeizigen Demut zu lehren?”
Der Luminifer seufzte. Nun wusste er, woran ihn diese närrischen Strohhüte erinnerten. An Rohalskappen. “Dieser durchtriebene Zauberer und Zwillingsbruder des Bethaniers hätte Gurvan niemals nach Jilaskan verbannen können, wenn Amelthona nicht die Blüte der Praiokratie in der Wüstenei verheizt hätte. Im Kampf gegen die heidnischen Novadis. Verheizt im Wortsinn...”
“Irgendwie kalt hier drinnen, nicht wahr?” Garafanion griff schon wieder zur Schöpfkelle, für einen weiteren Aufguss. Zischend verdampfte das Wasser Richtung Decke. Der Luminifer stöhnte auf und zog sich etwas von den heißen Steinen zurück. Der Custos brummte behaglich, und schlug sich wieder mit dem Quast, als wäre seine schweißglänzende Haut die Scheibe eines Praiosgongs.
“Was lernen wir daraus? Aus der Geschichte von Gurvan Praiobur II. und Amelthona, meine ich? Wir sollten unsere Kräfte nicht vorzeitig verzetteln, in unnötigem Zwist und Hader auf einem Nebenkriegsschauplatz. Übrigens, es gibt Neuigkeiten von der Burg. Wie es scheint, möchte Alrik seinen Sohn nach Schlotz verehelichen.”
Ucurian, der sich gerade in der Gluthitze gewunden hatte, unterdrückte für einen Moment seine Qualen. Das war nun wirklich interessant. “Solalin?” presste er hervor.
“Nein, Alboran. Offenbar möchte der Junker um die Hand dieser Haldana anhalten. Baroness Haldana von Binsböckel. Auf dem Friedstein gurren es schon die Tauben von den Dächern.  Alrik ist bereits nach Schlotz aufgebrochen, gleich nach der Sonnwendfeier.”
“Ich dachte, unser Baron hätte sich in den Kopf gesetzt, den Bastard zu seinem Nachfolger in Friedwang zu ernennen? Nun heiratet der die ranghöhere Erbin von Schlotz?”
“Den Gedanken, Alboran wie einen legitimen Erstgeborenen zu behandeln, habe ich ihm beizeiten ausgetrieben. Wir sind nicht mehr in der Wildermark, Alveran sei Dank. Dennoch, Baron Alrik versucht Ordnung und Klarheit in die Belange seines Hauses zu bringen, das ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Ein wenig betrübt mich allerdings schon, dass derart...weitreichende Entscheidungen getroffen werden, ohne uns, die Gemeinschaft des Lichts, darüber in Kenntnis zu setzen. Geschweige denn zu Rate zu ziehen. Mutter Jadwina wusste ebenfalls von nichts, drüben im Traviatempel. Die anderen Mitglieder des Inneren Rates auch nicht. Sehr bedauerlich...”
“Dann wird dieser Traviabund auch noch nicht spruchreif sein.”
“Nun, Ismena von Oppstein saß mit in der Kutsche nach Schlotz. Alborans Mutter. Das läßt tief blicken.”
“Schlotz. Ausgerechnet.” Ucurian verzog das Gesicht. “Die ketzerischen Anhänger der Hexengötzen sollen es dort besonders wüst treiben, sagt man. Bis hinauf in den verderbten Adel. Die Seelen der Baroniebewohner sollen genauso verwahrlost sein wie die Schlotzer Wege, heißt es. So sie überhaupt noch vorhanden sind.”
“Die Wege? Oder die Seelen?”
“Beides.”
“Lieber Ucurian, ich verstehe deine Bedenken. Aber wir sollten diesen sogenannten Alten Kulten nicht mehr Bedeutung zumessen, als ihnen wirklich zukommt. Vieles ist da nur uraltes Volksbrauchtum, lieblicher Bardengesang oder schlichter Aberglaube. Wenn nicht einfach eine schöne Märchenwelt, in die sich die Bauern nach ihrem schweren Tagwerk flüchten...”
Ucurian zupfte sich ein festklebendes Birkenblatt vom Hals. “Eine Märchenwelt, in der Schwerter und Abgaben in geheimen Erdställen versteckt, Wilddiebereien verherrlicht, die Wahren Götter verhöhnt, Gesetze gebrochen, zu irgendwelchen Zauberkreaturen gebetet und den Einflüsterungen des Bösen Tür und Tor geöffnet werden?! Das kann nicht dein Ernst sein. Allein dieser abscheuliche Brauch der Levthanshochzeit. In der Männlein und Weiblein sich wie die Orks und Goblins paaren, wie es ihnen der Gehörnte gerade eingibt. Und dann sogar Kinder miteinander haben, ohne hernach an den Altar der Travia zu treten. Eine Frevelei, wie sie sich die Anhänger des Rastlosen nicht schlimmer ausdenken könnten... ”
“Bei unseren Adeligen nennt mans Kind und Kegel.” Garafanion patschte sich auf die Bauchfalte. “Frau Tsa freut sich nun einmal über jedes Kind.”
“Das kann man so sagen. Wenn ich da an unseren lieben Bruder Praiodîn Xerber denke...”
“Was ist mit ihm?”
“Es ist ein offenes Geheimnis, dass er ein Kind mit dieser Zaberger Lebensdienerin hat.” Ucurian klang, als wollte er eigentlich “Liebesdienerin” sagen. “Ysilda von Schlotz. Da sind wir wieder bei dieser Ketzerbaronie. Kaum haben wir ein wenig Ruhe und Ordnung nach Friedwang zurückgebracht...schon hebt Levthan erneut sein monströses Haupt, diesmal von Nordwesten her. Ein Baron Alboran von Schlotz und Junker von Gießenborn, der ganz offen dem Götzenkult verfällt, würde all unsere bisherigen Anstrengungen zunichte machen. Womöglich sogar mehr als das.”
“Nana. Wir wollen doch einmal den Tempel im Dorf lassen. In Schnayttach nieder dem Schlotz gab es früher sogar mal ein Heiligtum, das Sankt Alboran geweiht war, wusstest du das?”
“Ein Tempel, der dann entweiht worden ist, ja. Das sagt schon alles, wie es die Herren dort mit dem rechten Glauben halten. Schlotz ist ein Sünden-Elem, wo das Silem-Horas-Edikt noch weniger zählt als da draußen, in den friedwanger Wäldern und Bergen.”

Garafanion seufzte. Praiodîn Xerber...Ucurian konnte ihn nicht leiden und hätte ihn am liebsten hochkant aus der Siegesbasilika geworfen. Ein Zwist, der ihn schmerzlich an Gisbert und Gurvanio erinnerte, zwei verfeindete Geweihte, die beide in den “Wilden Zeiten” umgekommen waren. Eine wahrlich üble Geschichte, die ihn bis heute verfolgte. Nein, er wollte jetzt nicht daran denken. Eigentlich wollte er überhaupt nicht mehr daran erinnert werden.
“Praiodîn hat Ysilda sofort die Ehe angetragen, als Ehrenmann, sobald er von seiner Vaterschaft erfahren hat. Was die Tsageweihte von Zaberg aber hochmütig abgelehnt hat. Du weißt, Ucurian, wie...chaotisch, bindungsscheu und buntschillernd die Dienerinnen des Regenbogens sind. Ysilda kommt mir besonders buntschillernd vor, das stimmt.”
“So kann man es nennen. Sogar seine kleine Tochter enthält sie ihm vor. Ein Kind der Sünde, aber doch das eigene Fleisch und Blut unseres lieben Mitbruders. ”
“Ich weiß. Sie müsste jetzt sieben oder acht Götterläufe alt sein. Meines Wissens wächst sie vaterlos im Tsatempel von Zaberg auf. Bruder Praiodîn ist vor kurzem nach Gernatsborn aufgebrochen, um sich bei Glyrana von Mersingen zu beschweren, Ysildas Grundherrin. Das ist zwar nicht direkt Burg Schlotz, aber, wie ich finde, schon eine glückliche Fügung unseres Herrn Praios. Womöglich werden wir so aus erster Hand erfahren, was sich da gerade zwischen den Schlotzer Binsböckels und den Friedwangs anbahnt.”
“So so, am Gernat treibt Praiodîn sich also herum.” Ucurian blickte geringschätzig. “Ich habe mich schon gewundert, warum er nicht bei der Sonnwendfeier dabei war, dem höchsten Feiertag unseres Götterfürsten. Nun gut, so konnte er den Praiosdienst wenigstens nicht mit seinem närrischen Lachen stören, wie beim letzten Neujahrsfest.”
“Vorletztes Jahr. Es war im vorletzten Götterlauf. Wenn ich mich richtig erinnere, empfand ich sein Verhalten als nicht wirklich störend. Der Witz von Bruder Praiodictus war ja nicht schlecht.” Garafanion sprach nun mit hoher, leicht brüchiger Fistelstimme: “Drüben in Transysilien wird ein götterfürchtiger Mann verhaftet und mit der Folter bedroht: `Gestehe, dass du einer Praiosstatue die Füße geküsst hast!´  `Gewiss, denn ich glaube an meine guten Zwölfgötter und halte sie nach wie vor in hohen Ehren.´  `Die Statue, die du verehrst, ist nichts weiter als ein kalter und toter Stein. Wirst du nun auch die Füße unseres geliebten Herzogs Arngrimm küssen?” “Natürlich, sobald er ebenfalls ein kalter und toter Ehrenstein ist.´ Der Prätor prustete und fächelte sich wieder heiße Luft zu. “Ein kalter und toter Ehrenstein, verstehst du...Arngrimm von Ehrenstein...köstlich...”

Der Luminifer lächelte nachsichtig. “Der Geist unseres hochbetagten Praiodictus Tatzinger weilt schon näher am Lichte Alverans als hier unten auf Dere. Meinem Amtsvorgänger sehe ich solche, mit Verlaub, Kindereien nach. Aber Praiodîns Nachlässigkeiten nehmen langsam überhand, finde ich.”
“Nun, er war in meinem Auftrag in Kaiserlich Hallingen, und hat dort die Jahreswende verbracht, im dortigen Haus der Sonne, wie es einem Lichtbringer gebührt. Wie du sicher gemerkt hast, steht die kleine Praiociosa derzeit ebenfalls nicht an ihrem angestammten Platz. Sie war schon sehr wurmstichig, die Farbe abgeblättert. Ein Hauberacher Holzschnitz-Meister hat die Heiligenfigur für uns restauriert. Praiodîn gebührt die Ehre, sie zurück nach Marktfriedwang zu bringen. Auf dem Rückweg möchte er auf Gut Gernatsborn vorbeischauen, mit meiner ausdrücklichen Erlaubnis. Melsine, so heißt seine Tochter. Sie soll sehr klug und verständig sein für ihr Alter. Geht es nach Praiodîn, wäre sie bereits eine Lichtsucherin in St. Alboran und Gilborn. Zumindest möchte er sie so bald wie möglich dem ungünstigen Einfluss ihrer Mutter entziehen. Was ich bei einer...flatterhaften, unsteten Tsageweihten nun wahrlich gut verstehen kann.”
“Wer sagt uns, dass dieses Kind der tsagefälligen Liebe nicht schon in irgendeinem Koboldsbau sitzt und zur Schelmin erzogen wird? Dieser Ysilda traue ich alles zu.”
“Nun, vor kurzem hat er Melsine in Zaberg gesehen. Aber da Praiodîn nur der leibliche Vater ist... und eine Kindesentführung selbstverständlich nicht in Frage kommt. Dann bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als Glyrana um Vermittlung zu bitten. Um Vermittlung - oder ein Machtwort.”
“Was soll ein Kind schon lernen, in einem Haus der Tsa? Außer den eigenen Namen zu klatschen, oder die praiosgegebene Ordnung der Welt in Frage zu stellen? Ich bezweifle, dass Praiodîns Tochter jetzt noch für ein Noviziat in unserem Tempel geeignet wäre. Eine uneheliche Vaterschaft ist doch an sich schon...in höchsten Maße unappetitlich, zumal für einen Lichtbringer. Praiodîn Xerber...Im Sonnenlauf seines Lebens gibt es einige dunkle Wolken. Er war selbst mal Novize des Tsatempels von Zaberg und hat erst spät zum Himmelskönig gefunden. Auch der damalige Tempelvorsteher Lacertinus war ein Verräter, der dem Namenlosen verfallen ist. Man kann dieser geschuppten Echsenbrut einfach nicht trauen. Ysildas Amtsvorgänger wurde zum Glück rechtzeitig von der Heiligen Inquisition verhaftet. Wir sollten weiterhin auf der Hut sein. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch...”
“Deswegen wurde Praiodîn ja Quaestor Lumini. Wer schon in jungen Jahren von Finsternis umfangen war, der bedarf des Lichtes Unseres Herrn Praios sicher in besonderen Maßen. Und doch mag es hilfreich sein, frühzeitig Einblick in die Tücke des Feindes bekommen zu haben. Inquisitionsrat Selbfried höchstselbst hat Praiodîn auf den rechten Pfad gelenkt, in der Stadt des Lichts. Damals, als die unheilige Fliegende Festung angeschwebt kam und alles drunter und drüber ging. Der Angriff des Erzfrevlers Galotta muss ebenfalls einen tiefen Eindruck bei Praiodîn hinterlassen haben. Er hat den Untergang der Kaiserstadt am eigenen Leib erlebt und sogar ein Bein verloren, im Kampf gegen die Dämonenranken. Mit der richtigen Anleitung vermag aus ihm noch etwas Großes zu werden”.
“Bruder Feenbein, so nennen sie ihn im Dorf, hinter vorgehaltener Hand. Wie es heißt, hat diese Ysilda mit einer unheiligen Zaubersalbe dafür gesorgt, dass seine Verstümmelung geheilt worden ist. Das komplette Bein ist ihm nachgewachsen, während der Namenlosen Tage, wenige Wochen bevor die Frevlerin Varena diese Baronie heimgesucht hat. Die Rede ist von einer feeischen Tinktur, die Lacertinus der Abtrünnige von Grolmen gestohlen haben soll. Auch wenn Praiodîn Stein und Bein schwört, sich an kaum etwas erinnern zu können.” Ucurian schlug das Sonnenzeichen. “Ein derartiges Chaos muss überaus...verwirrend für einen noch recht jungen Geweihten sein. Man sollte ihn vielleicht erst einmal zur Bewährung in einen abgelegenen Tempel oder Schrein schicken.”

Einen Augenblick lang sah Ucurian das Gesicht des Donator Lumini vor sich in den Schwaden auftauchen. Der schlaksige Kerl mit braun gelockten Haaren und Adlernase war ein leidlich begabter, aber hoffärtiger Bauernbursche, wie er im Landvolk keinesfalls selten war. Wenn die Laus in den Pelz kommt...Es fehlte nicht viel, und der Geweihte hätte mit seinem Wedel nach dem Trugbild geschlagen.
“Lieber Ucurian, ich bitte dich. Es ist ja nicht so, dass Praiodîn nunmehr auf Hexenfesten tanzt oder zum Sünden-Bock Levthan betet. Er hat sich bereits bewährt, in der Stunde höchster Not, als der Drache Markt Friedwang heimgesucht hat. Gut möglich, dass die zauberische Heilung ein Versuch war, unseren Bruder Praiodîn in eine Glaubenskrise zu stürzen. Oder aber die Saat des Zweifels und der Zwietracht in unsere Reihen zu tragen. Festzuhalten bleibt, dass der Lichtbringer seither keinen Fingerbreit vom Glauben abgewichen ist. Fast schon in der Nachfolge des Heiligen Gilborn, der damals in der Schwarzen Feste gefoltert und verstümmelt worden ist, durch den verfluchten Bethanier daselbst. Ich habe gehört, dass der gräuliche Tharsonius in seinem Wahnsinn sogar eine der Wunden die Erzheiligen geheilt hat. Um solcherart die Macht der Niederhöllen unter Beweis zu stellen. Nichtsdestotrotz ist der Puniner lieber in den Tod gegangen, mit dem Lobpreis Praios auf den Lippen, als sich zu unterwerfen. Praiodîn wurde von einem Pfeil und einem Schwerthieb getroffen, als er die Herde der Gläubigen in die rettende Burg geleitet hat. Ich kann dir versichern, dass er nach wie vor aus derischem Fleisch und Blut besteht, auch sein sogenanntes Feenbein.”
“Deine Bereitschaft, stets das Gute im Menschen zu sehen, selbst noch im hellsten Licht des Praios, ehrt dich. Hoffen wir, dass sie  in diesem Fall nicht enttäuscht wird.”
 Ucurian fasste sich ans leicht stoppelige Kinn und fragte sich, ob er sich nach Schwitzstube und Nachbad noch einmal von kundiger Hand rasieren lassen sollte. Lefke, der Name der Bademagd, hörte sich schon ein wenig levthansgefällig an – für seinen Geschmack zu levthansgefällig. Aber dieser Rufus Munkel war wohl kein fanatischer Sokramorier, der mit dem Rasiermesser auf den schärfsten Gegner des Hexenglaubens in der Baronie losgehen würde (zumindest sah der Luminifer seine Rolle so). Mit einer Rasur konnte er sich schon eher anfreunden. Die häßlichen Orkstoppeln zu beseitigen und dem Herrn Praios wieder ein makelloses, glattes und zivilisiertes Antlitz zu zeigen, so etwas war nun wirklich alveransgefällig.
 
Garafanion blickte ungnädig. Offenkundig hatte er die Andeutung seines Luminifers verstanden: In diesem Fall...
“Ich vertraue voll und ganz der Menschenkenntnis des seligen Inquisitionsrats Selbfried”, sagte der Hochgeweihte und wirkte ein wenig schmallippig. Dann räusperte er sich.
Ucurian merkte, dass er einen halben Schritt zu weit gegangen war, und beschloss, Garafanions Unmut auf einen gemeinsamen Gegner zu lenken. “Da fällt mir ein. Gestern ist endlich Nachricht aus Rommilys gekommen, in Sachen Hesindian Silpho ya Phaitos” Der Erzpriester spie den Namen regelrecht aus. “Diesem sogenannten Arkanen Berater Seiner Hochgeboren.”
“Alriks Hofmagier”. Garafanion nickte ernst. Seine Augen loderten. “Wenn Hesindians Robe wenigstens so weiß wäre wie seine Haare. Was ist bei der Untersuchung des Informations-Instituts herausgekommen?”
“Nicht viel. Sie haben ihn auf irgendeine Geheimmission in die Trollzacken geschickt. Dabei hat er sich vollauf rehabilitiert, heißt es in dem Brief.” Ucurian schnaubte verächtlich. “Wahrlich, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Sie sollten den verlotterten Grauen mal gründlich überprüfen, nicht weißwaschen, die Herren und Damen Informationsmagier. Nur ein Werk aus seiner Bibliothek hat wirklich Anstoß gefunden: Irgendein Kommentar zu den Chroniken von Ilaris, der den ketzerischen Inhalt scheinheilig zusammenfasst. ”
“Die Taktik, den Namenlosen mit dem Dämonensultan auszutreiben, zahlt sich eben nicht immer aus.” Garafanion verschränkte die Arme. “Das heißt, wir müssen weiterhin dulden, dass Alriks Busenfreund da oben in seinem Turm herum köchelt, Zauberformeln schreit und in verhexten Folianten blättert? Alles in Sichtweite von St. Alboran und Gilborn?”
“Praios bewahre. Erst neulich habe ich dort ein purpurnes Licht gesehen, während schwefelgelbe Rauchschwaden aufgestiegen sind, hinter dem Fenster des Schlangenturms.” Ucurian schauderte, trotz der Regenwaldhitze um ihn herum. “Ich werde sehen, was sich gegen Hesindians impertinentes Treiben in die Wege leiten lässt, trotz der Protektion durch Seine Hochgeboren. Wege, hm ja...Da fällt mir doch glatt etwas ein....Zauberkundige brauchen einen Passierschein des Tempels, sobald sie Markt Friedwang betreten wollen. Den erhalten sie erst nach einer ausgiebigen Befragung und der Feststellung des Gildensiegels. Im Zweifelsfall erfolgt noch eine Überprüfung des Gepäcks sowie eine Untersuchung auf Dämonenmale, durch einen Praiosdiener. Auch wenn das in letzter Zeit ziemlich lasch gehandhabt wird, wie ich finde. Bislang wird nur am Nord- und Südtor überprüft. Aber streng genommen bräuchte ein Magus auch eine Erlaubnis, sobald er das Dorf über die Ochsenpforte her betreten möchte.”
“Von der Burg herunter, ah, ich verstehe. Du möchtest Hesindian aussperren? Aber einen Geleitbrief würde er doch auf jeden Fall bekommen, als Hofzauberer?”
“Nun. Die Ausstellung eines Passierscheins kostet eine Gebühr von zwei Silbertalern. Falls eine weitergehende Examination nötig erscheint, fünf Silbertaler. So etwas summiert sich schnell, jedesmal, wenn unser weißhaariger Hexenmeister die Burg verlassen oder dorthin zurückkehren will...Es sei denn, er möchte in Zukunft lieber um Markt Friedwang herumlaufen. Am liebsten wäre mir, er macht künftig einen weiten Bogen um unser praiosfrommes, anständiges Dorf.”
“Verstehe. Das wäre sicher schlau eingefädelt.” Garafanion legte die Fingerspitzen aufeinander. “Auch wenn dieses Vorgehen Baron Alrik nicht gefallen wird. Sicherlich wird er das nur als Schikane gegen seinen Freund auffassen. Aber es stimmt schon, das Recht zur Überprüfung von Zauberkundigen haben wir, und es geht ja auch um Gleichbehandlung. Kurzum, um Gerechtigkeit. Ich werde darüber nachsinnen, hernach im Lichte des Allerheiligsten. Genug davon. Wir sind ja eigentlich zur Erholung hier, nach den anstrengenden Neujahrsfeierlichkeiten. Darf ich dich nach dem abschließenden Bad noch zu einer Partie Garadan einladen, im Ruheraum? Bei einem guten Schoppen?”
Ucurian lächelte selbstzufrieden. Die Idee mit dem Passierschein war ihm gerade erst gekommen, aber sie kam ihm so glänzend vor wie das Leuchten der Sonne im Heiligen Monat Praios: “Sehr gerne. Aber nur, wenn ich diesmal die weißen Steine bekomme und nicht die schwarzen...”


Ein wenig früher am 5. Praios, im Schlotzer Wutzenwald
Zwei Füße traten in Alriks Blickfeld, ebenso ein Umhang. Der Blick nach oben enthüllte Adginna von Binsböckel, die Vögtin zu Schlotz, die mit zerzausten, grausilbernen Haaren merkwürdig untraviagefällig aussah. Die offene Frisur stand ihr dennoch gut.
“Verzeih, Alrik, ich wollte dich nicht erschrecken...auf Wache.” Auch wenn Adginnas Stimme keinerlei Regung erkennen ließ, hob Alrik erstaunt die Augenbraue. Die Binsböckel konnte regelrecht sarkastisch sein?
Ächzend und mit schmerzendem Rücken rappelte er sich auf. “Muss irgendwie...kurz eingenickt sein.” Ein Blick zur kleinen Blumenwiese zeigte, dass die Pferde noch alle da waren, Phex sei Dank.
Adginna hatte bereits ihren Kamm gezückt. “Es ist kurz vor Sonnenaufgang, Praios spannt schon den Wagen an”, sagte sie und klang doch ein wenig tadelnd. Natürlich, sie wusste ja nicht, dass Alrik mit seinem Sohn die Wache getauscht hatte. Der Baron beschloss, sich für das “junge Glück” zu opfern. “Ich hätte mich nicht setzen dürfen, entschuldige, wie dumm von mir.”
“Schon gut. Tuvok hat einen leichten Schlaf, er hätte uns im Notfall sicher gewarnt.” Haldanas Mutter war anzumerken, dass sie immer noch unter dem Eindruck des gestrigen Gesprächs stand, von wegen Hexenbriefe und finstere Kulte. “Ihr Friedwangen scheint Sumu wahrlich besonders nahe zu stehen...oder vielmehr zu liegen?!”
Alrik rieb sich über das unverdeckte Auge und gähnte. “Das war nach dem Abendessen vielleicht ein klein wenig missverständlich. Durch unseren Praiostempel und den Bannstrahlorden weiß ich viel von dem, was die Sokramorier so treiben. Oder eben die Anhänger des Nicht zu Nennenden. Auch wenn deren abscheulicher Götzendienst in Friedwang ziemlich ausgerottet worden ist. Hoffe ich. Du weißt ja, Albos Onkel war Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein. Den Tempel habe ich gestiftet. Naja, zumindest teilweise. Jedenfalls habe ich diese Ludwina seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Auch in deren eigenen Interesse, dünkt mir. Keine Ahnung, was die Hexe jetzt von meinem Sohn will. Außer ihn warnen, natürlich.”
“Natürlich. Vielleicht schickt sie mir ja auch einmal einen Hausdrachen, mit einer exklusiven Botschaft. Ich werde mich etwas frisch machen, am Teich. Wir sollten möglichst rasch aufbrechen, bis nach Schwaz ist es noch ein gutes Stück.”
Aus der Hütte war ein allseitiges Rascheln zu hören. Auch die übrigen Reisegefährten kamen langsam aus den Federn - oder vielmehr aus den Strohlagern. Tuvok ließ sich an einem Holzbalken vom Strohlager unter dem Dach herab. Der Nivese ging aus der Hütte, um sich ebenfalls am nahegelegenen Weiher frisch zu machen. Dabei fiel sein Blick auf das niedergebrannte Lagerfeuer. Irgendetwas schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Jäger bückte sich und fuhr mit dem Finger eine kleine Vertiefung nach, die sich im staubigen Boden gebildet hatte. Schon ein wenig verwischt war sie, das war klar. Aber es sah ihm aus wie ein Fußabdruck. Ein Fußabdruck, nicht größer als der eines kleinen Kindes. Direkt neben dem Holzstamm, der vor dem Feuer als Sitzgelegenheit und für Haldana auch als Nachtlager gedient hatte. Kaum merklich zog Tuvok eine Augenbraue nach oben und sah prüfend zu Haldana und Alboran. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Noch einmal bückte er sich, sah nach der Feuerstelle. Prüfend besah er sich das verkohlte Brennholz. Irgendetwas war… anders, als er es erwartet hatte, ohne dass er das wirklich in Worte fassen konnte. Vorsichtig griff er nach einem angekohlten Ast, hob ihn auf und besah ihn.
Alrik beugte sich zum Waldläufer herab und raunte ihm leise zu: “Stimmt etwas nicht?” Leise, um nicht die Reisegefährten zu beunruhigen, hatte er gesprochen.
Tuvok nickte kaum merklich und wies Alrik auf den kleinen Fußabdruck hin. “Nun, ich hatte damit gerechnet, dass irgendjemand uns nachts beobachtet oder besucht. Der Wutzenwald hat sicher ein Interesse daran zu wissen, wer ihn durchquert. Der Abdruck… ein Kind war es sicher nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Ein Feeischer, ein Waldgeist, ein Gnom oder Kobold. Schwer zu sagen, wenn man nur die Spur sieht. Aber es ist nur ein Abdruck, keine weiteren. Und üblicherweise hinterlassen die Feeischen keine Spuren. Außer vielleicht, sie springen rasch weg, wenn sie sich bedroht fühlen. Dann kann es sein, dass sie nicht auf ihre Spuren achten. Hmm. Vielleicht hat also nachts uns jemand beobachtet, besucht, nach dem Rechten gesehen.”
“Du meinst, die Wache hat einen nächtlichen Besucher nicht bemerkt?” fragte Alrik mit einer Unschuldsmine im Gesicht. Jetzt, da Tuvok ihn darauf hinwies, sah er die Spur auch. Anders als dieser wusste er aber, dass ein Kobold seinen Sohn besucht hatte.
“Nicht unbedingt. Manche Waldgeister sind unsichtbar. Dieser Abdruck, nun, er könnte von einem Kobold sein. Vielleicht der alte Badill, wie er genannt wird. Schwer zu sagen.”
“Das scheint dich nicht zu beunruhigen?” bohrte Alrik nach.
“Wenn es nur Badill war, nein. Ich kenne den Burschen. Naja, kennen wäre übertrieben, aber ich habe von ihm gehört. Der Kobold ist… nun, nicht harmlos, aber wenn er den Reisenden durch den Wutzenwald vertreiben will, dann kündigt er das vorher an. Man könnte ihn… als einen Wächter des Waldes bezeichnen. Wenn er nicht will, das man durch den Wald reist, dann sollte man darauf hören, so viel steht fest.”
Alrik war neugierig geworden. “Der alte Badill… ein Kobold sagst du?”
“Ja. Eigentlich sieht man ihn nur selten, auch wenn es heißt, dass er oft die Reisenden im und am Wutzenwald besucht. Ich kenne ihn nicht wirklich, aber man hört halt so einiges, wenn man mit den Köhlern, den Zeitlern oder den Waldbauern spricht, die im Wutzenwald arbeiten. Ein kleines Männchen mit einem erdfarbenen Mantel, so wird er beschrieben. Gesehen habe ich ihn noch nie. Offenbar hat er noch nicht das Bedürfnis gehabt, mit mir zu reden. Aber auch Nengarion seinerzeit hat von ihm erzählt.”
Alrik nickte. “Und du meinst also, dieser Kobold hat uns nächtens besucht oder gar ausspioniert? Nun, kann sein.” Nach der Erzählung Alborans wusste Alrik ja, was nächstens geschehen war. Mehr war er fast davon fasziniert, was der Nivese aus einer Fußspur und seinem Wissen über den Wutzenwald herauslesen konnte.
“Gibt es noch mehr, was dir die Spuren sagen?” forschte Alrik nach.
“Ja. Das Feuer. Das sieht mir nicht einfach niedergebrannt aus. Von der Menge des Holzes her hätte es nicht ausgehen können, es hat genug Nahrung gehabt. Es ist gelöscht worden. Aber nicht, wie man das sonst machen würde, mit einem Eimer Wasser. Dann hätte man verschmierte Aschespuren auf den Steinen finden müssen. Ich glaube, das Feuer ist einfach so plötzlich ausgegangen. Und ich frage mich, warum? Ich werde der Vögtin davon berichten müssen.”
Alrik seufzte leicht. Dann würde sein Einschlafen auf der Wache in einem anderen Licht dastehen.