10. Kapitel - Der Meister des Wetters
10. Kapitel
Der Meister des Wetters
Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken. Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben. Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."
Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.
Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.
Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria
Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
"Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."
8. Kapitel - Ein nächtliches Attentat
8. Kapitel
Ein Attentat in der Nacht
Gernatsborn, am späten Abend des 5. Praios 1043
Jadvige von Kressenbrück klappte den Zinndeckel ihres Bierkrugs auf: „Prost und den Zwölfgöttern befohlen“. Die Dienstritterin trank einen kleinen Schluck Dünnbier und wischte sich den kargen Schaum aus den Mundwinkeln. Dann musterte sie diese Renia Hagewisch, die gerade in ihrem Eintopf rührte, im Schankraum des Wirtshauses „Gerbaldsrast“.
„Oben auf der Burg geht es zu wie in einem Taubenschlag“, sagte die Dienstritterin. „Hier unten sind wir ungestört“.
Die beiden Frauen waren tatsächlich fast alleine, bis auf zwei der Handwerker, die derzeit noch Restarbeiten auf der Burg erledigten. Kupferschmiede, vermutlich, oder Fensterladenbauer. Tuvok, der Barönliche Forstwart, tunkte an einem Nebentisch Brot in seine Suppe. Der Duft von Kohl vermischte sich mit dem Geruch nach Wildleder und dem Metall von Jadviges Kettenhemd.
Die Adelige schob die Kerze ein wenig näher ans Gesicht der Söldnerin heran - scheinbar, um Platz für ihren schön geschmückten Zinnkrug zu schaffen. Der Humpen zeigte eine fein gravierte Szene aus dem Feldzug Kaiser Gerbalds. Seine Majestät rastete in einem Zelt am Ufer des Gernat und schien schon mächtig einen in der Krone zu haben. Eine heitere, volkstümliche Szene. Ein paar Elfen sahen aus dem Wald zu, mit merkwürdigen Zipfelmützen. Einer hielt sich die Hand ans Spitzohr, vermutlich in Anspielung auf die berühmte Anekdote über die Herkunft des Flussnamens: „Wer naht?“ „Gerbald naht!“ „Gernat?“ Oder so ähnlich...Der Deckel war mit Wildschweinen verziert, die aus dem Wutzenwald lugten.
Renia Hagewisch blinzelte im flackernden Kerzenlicht. Ihre Zähne sahen ziemlich schadhaft aus. Abgesehen davon waren sie beide sich nicht ganz unähnlich, fand Jadvige. Wenn auch mehr dem Typ als dem Aussehen nach. Die Armbrusterin hatte, so schien es, ebenfalls Jahre voller Kampf und Schlachten hinter sich, ihre kurzgeschorenen Haare waren grau geworden, das Gesicht faltig. Der eisige Blick verriet Misstrauen, Entbehrungen und Härte. Jadviges Blick vermutlich auch. Versonnen rieb sich Glyranas Leibritterin die Narbe, die ihre linke Wange verunzierte, und jetzt, vor dem Regen, ein wenig schmerzte. Der häßliche Wulst rief sich aber auch gerne dann in Erinnerung, wenn Jadvige irgendetwas aus tiefster Seele mißfiel.
Es war ja schön und gut, dass die Reisläuferin Seine Gnaden...wie hieß er noch gleich...Praioswin? Praiodan? Ach ja, Praiodin. Dass Renia den wandernden Geweihten vor den räuberischen Stinkern gerettet hatte.
Aber deswegen würde Jadvige nicht gleich jede wildfremde Bewaffnete in eine neu gebaute Burg führen. Renias leicht blökender tobrischer Dialekt mochte sich im ersten Moment gemütlich anhören. Aber es gab wahrlich genug schwarze Schafe jenseits der Sichel. Renias Mundart war eindeutig ysilisch gefärbt. Allein der Gedanke an Transysilien ließ Jadviges Hände zittern. Die Dienstritterin war froh, dass das ständige Geklopfe und Gehämmere oben auf der Burg zu Ende war. Es hatte wie in einem Bergwerk geklungen.
Nein, die von Kressenbrück vertraute dieser Renia keinesfalls, dieser erstbesten Heldin von der Straße. Auch wenn sie nicht recht sagen konnte, warum. An der Armbrust lag es nicht, auch wenn das Schießzeug wenig rondragefällig war. Heimtückisch und unehrenhaft, aber halt auch ziemlich durchschlagend und grausam effektiv. Nur mit Hellebarden, Schwertern oder Säbeln würde man Gernatsborn nicht verteidigen können. Womöglich ließ sich Renia Hagewisch als Ausbilderin der Pfahlgardisten verwenden. Mal sehen....
Jadvige hatte auch nichts gegen Söldlinge im Allgemeinen. Solange sie auf der richtigen Seite fochten. Auch Kor war ein legitimer Sohn der Himmlischen Leuin, sein gnadenloses Wüten auf dem Schlachtfeld gehörte seit Urzeiten zum Wesen von Kampf und Krieg dazu. Ein Kampf, der völlig anders aussah als in den lieblichen Gesängen des Barden da oben. Sich anders anhörte und anfühlte. Anders roch...Ob nun ein edler Ritter den anderen gefangen nahm, um Lösegeld zu erbeuten. Oder ein heimatloser Mietling sein Schwert für Gold verkaufen musste... Das war heutzutage allzu oft nur eine Standesfrage.
Nein, Jadvige war nicht dünkelhaft oder gar arrogant einer Gemeinen gegenüber. Zumindest glaubte sie das von sich selbst. Aber einige Sachen irritierten sie schon. Die schweren Handschuhe etwa, die Renia bislang keinen Herzschlag lang abgelegt hatte, selbst jetzt am Tisch nicht. Für eine Schützin, bei der es auf das Fingerspiel ankam, mussten die Dinger ziemlich hinderlich sein. Jadvige hatte schon von Dieben gehört, die auf die Hand gebrandmarkt worden waren, und solcherart ihre Ehrlosigkeit verbergen wollten.
Die Rittfrau hatte gerade eine Runde durch die Burgsiedlung gedreht, um die Bewohner vor herumstreunenden Rotpelzen zu warnen. Aber auch, um sich vor dem Abendessen der Herrschaften ein wenig am Fluss umzusehen. Mit einem starken Bogen ließ sich womöglich der Burgsöller unter Beschuss nehmen, von einem Boot oder Floß aus. Aber sie hatte am Gernat nichts Ungewöhnliches erspäht - so ein „Schuss vom Fluss“ wäre doch ein ziemliches Glücksspiel und Wagnis.
Hernach hatte sie Renia zu einem kleinen Umtrunk eingeladen. An der Theke war ihr Deuten auf die Fässer sofort verstanden worden. Sie erhielt den gewohnten schwachen Trunk: Kofent oder Nachbier, wie es selbst die Kinder zu Trinken bekamen. Die Tobrierin erhielt ordentlich Rommilyser Starkbier in den Krug. Ein süffiges Getränk, das hoffentlich ihre Zunge lockern würde.
„Seid bedankt, edle Dame. Ich weiß die Ehre zu schätzen, an einem Tisch mit einer Ritterin des Reiches sitzen zu dürfen“, sagte Renia. Sie schien tatsächlich beeindruckt zu sein, fast ein wenig verlegen. „Damit hätte ich niemals gerechnet...“
„Du hast heute einem Mann des Praios beigestanden, im Kampf gegen Raubgesindel. Das war wahrlich ein Guter Kampf. So sagt man doch, bei euch Anhängern des Kor? Eine fähige Schützin scheinst du zu sein. Aber sprich...Was verschlägt eine derart tüchtige Armbrusterin zu uns an die Gernatsbeuge? Du kamst aus Beorwang und wolltest weiter nach Gernatsborn? Bist du da nicht ein klein wenig übers Ziel hinausgeschossen?”
„Gernatsborn. Beuge. Au. Quell...da kann eine ortsfremde Reisende wie ich schnell mal durcheinander kommen.“ Jadvige wischte sich mit dem belederten Handrücken die Lippen sauber und hob den Krug.
„Burg Gernatsborn zu übersehen, das ist in dieser Gegend unmöglich. Zumal heute sogar das Banner Seiner Wohlgeboren des Landjunkers am Bergfried hängt.“ Jadvige setzte ein Löwinnenlächeln auf, meinte es aber ernst.
„Gewiss. Eigentlich wollte ich ja nach Gallys, nicht auf eure Burg. Und vorher noch einmal am Wundweiher knien. Um für meine Errettung zu danken, in der letzten Schlacht, wo´s wieder mal knapp war. Ein Gebet sprechen und ein würdiges Opfer darbringen – für den Ritter des Immerwährenden Kampfes und Herrn der Neun Streiche.“ Renia schlürfte geräuschvoll den dunklen Gerstensaft.
Jadvige blickte fragend, während die Abendröte den Gastraum in ein tiefes Schwarz und Rot färbte.
„Die Blutkerbe, habt Ihr noch nie davon gehört, hohe Dame? Ein Heiliges Tal, wo eine Waffenmagd Kors den blutroten Segen des Schwarzen Panthers erhält. Irgendwo in der Wildnis am Gernat soll das Heiligtum liegen. Die einen sagen, Richtung Hallingen, die anderen, in der Gegend von Königsweber. Ein wandernder Jünger des Rondrasohns hat mir mal davon erzählt. Ich dachte, Ihr wisst vielleicht mehr darüber?“
Jadvige blickte auf ihr Kettenhemd herab und merkte, dass am Unterarm ein einzelner Ring aufgebrochen war. Mit dem Finger versuchte sie ihn wieder in Form zu drücken. Seltsam, sie konnte sich an diesen Hieb gar nicht mehr erinnern. Blutkerbe? Wundweiher? Korgefällige Heiligtümer hatte es in der Wildermark genug gegeben. Auch sonst mangelte es in den Sichellanden nicht an Kultstätten alter, halber oder zwielichtiger Götter. Oft schien es sich dabei um Tümpel oder Seen zu handeln. Die Korjünger ritzten aber auch gerne Kerben in Bäume (für jeden toten Feind eine), malten sie blutrot an, hingen erbeutete Rüstungen und Waffen oder tote Tiere in die Äste.
„Eigentlich kenne ich nur die Blutkeule beim Imman. Wildnis gibt es am Gernat genug. Keine allzu gute Beschreibung, würde ich sagen. Was ist eigentlich mit deinen Händen? Warum trägst du ständig diese Handschuhe?“
„Mein Hände? Ah...ach so, ja. Ich habe den Spanner meiner Geißfußarmbrust verloren, und bislang noch keinen Ersatz gefunden. Seitdem spanne ich meinen Liebling mit bloßer Hand. Gut für die Oberarme, aber schlecht für die Hände.“
„Die Bierkrüge in diesem Wirtshaus sind nicht scharfkantig“. Jadviges auffordernde Geste war eindeutig. „Zieh sie doch mal aus...bitte.“
Renia streifte nach kurzem Zögern und mit spürbarem Widerwillen die Handschuhe ab. Jadvige stutzte. An Renias rechter Hand fehlte der kleine Finger. „Das wolltet Ihr doch sehen, oder?“
„Eine alte Schlachtwunde?“
Renia lächelte versonnen. „Nein...ich will ehrlich zu Euch sein. Ich habe ihn meinem Gott geopfert.“
Jadvige, die einen Schluck Kofent nehmen wollte, hätte sich um ein Haar verschluckt. Sie schaute nicht allzu hesindegefällig über den Krugrand, dessen war sie sich sicher. Für einen Moment vergaß sie sogar, den Trunk herunterzuschlucken, der gerade ihre Backen füllte. Dann holte sie das Versäumnis geräuschvoll nach, mit zuckendem Avesapfel.
„Kors heilige Zahl ist die Neun“, sagte Renia, scheinbar beglückt. „Die Opferung des zehnten Fingers ist ihm überaus gefällig.“
„Du...du bist eine Korgeweihte?“
„Nein, nein. Zuviel der Ehre. Eine alte Geschichte. Das war schon bei der Befreiung von Rommilys, damals, im grausamen Winter `28. Wir wurden auf Vorposten umzingelt, von Asmodeus Schergen. Pardon durften wir nicht erwarten. In dieser Nacht habe ich wirklich inbrünstig zu Kor gebetet. Mein Opfer war nicht so groß, wie Ihr vielleicht denkt. Der Finger war ohnehin schon erfroren. Was soll ich sagen. Der Entsatz kam keinen Herzschlag zu spät. Ein unbedeutendes Scharmützel am Rand der großen Schlacht. Aber nicht für die, die dabei waren. Ich werde diese Zeit niemals vergessen. Vor allem den Hunger nicht...den Hunger, den Frostbiss und den eisigen Wind. Firuns sei´s geklagt. Habt Dank für Eure traviagefällige Gastung, hohe Herrin, in dieser wunderbaren Sommernacht.“
„Krieg im Winter, ja, der ist besonders grausam“, sagte die Dienstritterin bedächtig. „Deswegen trägst du diese Handschuhe auch nach dem Dienst? Damit es nicht zu irgendwelchen Missverständnissen kommt?“
„Eigentlich, weil ich mir in dieser niederhöllischen Kälte nichts sehnlicher als Handschuhe gewünscht habe.“ Renia nahm noch einen Schluck, ihre Zunge wurde schwer. „Das Schicksal des Fußvolkes...Nichts für ungut. Erinnere mich gerade wieder an alles. Wir haben unsere Hände mit irgendwelchen Stofffetzen umwickelt, wie die Landstreicher. Das Metall eines Armbrustdrückers kann kalt sein wie Gloranas Arsch...Verzeihung...es war halt ein langer und harter Krieg, hohe Herrin.“
„Schon gut, ich habe mein Lebtag auch nicht nur am prasselnden Kaminfeuer einer Burg zugebracht. Lass mich raten, du stammst aus der Gegend von Ysilia? Deine Art zu sprechen, irgendwie kommt sie mir bekannt vor.“
„Ja. Aber wir, meine Eltern und ich, wir sind schon vor den tausend Ogern ins Darpatische geflohen. Vor den verfluchten Menschenfressern. Meine Familie hatte von einem Tag auf den anderen nichts mehr, und daran hat sich wenig geändert. Am Ende blieb mir gar nichts anderes übrig, als Söldnerin zu werden. Eine gute Wahl. Seitdem Kaiser Hal verschwunden war, gab es im Mittelreich eigentlich nur noch Krieg und Hader. Hab mich durchgeschlagen, seither.“ Mit verkniffenem Mund zog Renia ihre Handschuhe wieder an. „Wenn das mit dem fehlenden Finger vielleicht unter uns bleiben könnte? Ersteinmal, meine ich. Korgesellen gegenüber gibt es ständig Missverständnisse. Nicht nur wenn es um unsere heiligen Farben Schwarz und Rot geht...“
„Natürlich. Ich werde mit Herrn Storko reden, ob wir überhaupt eine Armbrusterin brauchen. Du kannst heute Nacht hier bleiben...Kost und Logis übernehme ich. Sieh es als Dank, für deinen guten Kampf. Damit meine ich nicht allein die Rettung des Praiosgeweihten.“
„Hier? Im Wirtshaus?“ Renia blickte betrübt, als fühlte sie sich in ihrer Söldnerehre gekränkt.
Jadvige musterte die Söldnerin erneut. Nun, da die Sonne unterging, lag deren Gesicht zur Hälfte im Schatten. Schwarz und Rot...
„Wenn überhaupt, wären nur noch schlechte Betten frei, auf der Burg. Wir haben adelige Gäste, wie du weißt. Ich muss jetzt auch wieder zurück.“
Jadvige stand klirrend auf. Diese Renia schien auf den ersten Blick „sauber“ zu sein. Aber wie hieß es so schön: Vertrauen ist gut, Vorsicht ist besser.
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Lasst mich zumindest die Heilige Praiociosa hinauf tragen. Sie ist ganz schön schwer.“ Die Söldnerin wies auf den Rucksack des Praioten. „Ich glaube, Bruder Praiodîn vermisst sie schon. Bevor sie heute noch ein zweites Mal abhandenkommt.“
„Ist sie denn so wertvoll? Die Statue selbst, meine ich?“
„Nun, an ihr ist sicherlich nicht alles Gold, was glänzt. Aber Seine Gnaden scheint sie sehr viel zu bedeuten. Und den friedwanger Gläubigen natürlich. Er hat mich gebeten, sie nicht aus den Augen zu lassen, während er dem Burgherren seine Aufwartung macht.“
Jadvige überlegte, ob sie den Rucksack mitnehmen sollte. Aber das würde nicht sehr ritterlich aussehen am Tor. Vielleicht war sie in diesem Fall wirklich zu misstrauisch.
„Er bezahlt dich dafür, dass du Schnitzwerk bewachst?! Eine Söldnerin? Soviel Vorsicht braucht es bei uns nicht. Gernatsborn ist ein götterfürchtiger Ort.“
„Nicht doch. Wie könnte ich Sold von einem Geweihten verlangen? Aber ich weiß, dass man uns Diener des Kor öfters mal schief anschaut...da versuche ich halt, unseren schlechten Ruf aufzupolieren, wo es nur geht.“
Renia blickte ein wenig vorwurfsvoll, und griff verstohlen an ihren Handschuh, dort, wo eigentlich der kleine Finger der rechten Hand stecken sollte.
Jadvige überlegte. Sie versuchte auf ihr Bauchgefühl zu hören. Aber irgendwie gluckerte dort gerade nur das Dünnbier. Eigentlich hätten sie beide sich sympathisch sein müssen, von Kriegsfrau zu Kriegsfrau. Aber irgendetwas gefiel ihr an dieser Ysilierin immer noch nicht. Kleiner Finger, ganze Hand. Das Sprichwort irrlichterte durch ihren Kopf. Jemanden um den kleinen Finger wickeln. Den Spruch gab es auch. Aber womöglich war es gerade deswegen besser, wenn sie die Söldnerin bei sich in der Nähe und damit im Auge behielt. Die Ritterin bedeutete Renia mit einem Wink, ihr zu folgen. „Ich schau mal, was sich machen lässt. Wegen der Übernachtung oben auf der Burg. Vielleicht gibt es bei den Gardisten noch einen Platz für dich.“
"Renia" wunderte sich, wie leicht es ihr gelungen war, bis zum Gästetrakt vorzudringen. Obwohl sie mit Armbrust, Rucksack, Umhängebeutel, Köcher, Helm, Feldflasche und Schwert an der Seite nicht gerade unauffällig daher stapfte.
Offenbar hielt das Gesinde sie für eine vollbeladene Begleiterin der Gäste aus Schlotz. Eine Art Packtier der hohen Herren und Damen, das ihnen schnell noch ein paar Sachen auf die Kammer brachte. Alle schienen schwer beschäftigt zu sein, auch Jadvige, die in Richtung Stallungen entschwunden war. Niemand beachtete sie wirklich, in diesem aufgescheuchten Bienenkorb, von ein paar verwunderten Blicken abgesehen.
Es sollte ihr Recht sein. Was sie beunruhigte, war der Umstand, dass sich das Mannloch im Tor hinter ihr geschlossen hatte und fest verriegelt worden war. Sie war nun in der Höhle des Wehrheimer Waldlöwen gefangen. Vor morgen früh würde sie Burg Gernatsborn nicht mehr verlassen können.
Am Eingang des Herrenhauses hatte sie behauptet, die Statue zum Zimmer des Geweihten bringen zu wollen. So weit, so gut. Irgendwo in der Nähe sang ein Barde, wahrscheinlich auf der Burgterrasse. Da war noch etwas anderes, das in der Luft lag, ohne dass sie es in Worte zu fassen vermochte. Nur, dass es sich vertraut und stark anfühlte. Sein Beistand.
Die Frau, die sich Renia nannte, kannte sich in alten, muffigen Gemäuern aus. Aber eine funkelnagelneue Burg hatte sie bislang noch nicht gesehen, geschweige denn von innen. Der Geruch nach Putz und frischem Mörtel lag überall in der Luft. Selbst das Holz roch noch leicht harzig, als wäre es erst vor kurzem geschlagen worden. Die kupfernen Beschläge der Türen und Möbel waren makellos, ohne den leisesten Hauch Grünspan. Es war, als herrschte in dieser Festung der Geist der Tsa und nicht der Rondra, geschweige denn der des Kor.
Dennoch gab es Mächte, die hier und jetzt stärker waren.
Jadvige von Kressenbrück war eine harte Prüfung ihrer Tarnung gewesen. Warum hatten sie ihre Auftraggeber nicht gewarnt? Die wichtigste Information war ihr wieder einmal vorenthalten worden: Dass die Ritterin ebenfalls auf Burg Gernatsborn anwesend sein würde. Nun, die Kressenbrück war misstrauisch gewesen, aber hatte sie offenkundig nicht erkannt. Dabei war der Abstand kaum größer gewesen, wie damals, auf der Insel Fischermanns Freund. Als die stolze Adelige eine schmutzige Gefangene im Käfig gewesen war. Ihre Gefangene. Zum Glück hatte „Renia“ damals ihr Gesicht hinter einer Maske verborgen. Die Ritterin konnte sie einfach nicht wiedererkannt haben, nach all den Jahren. Oder etwa doch? Ahnte Jadvige etwas?
Es half nichts. Sie musste sich nun auf ihren Auftrag konzentrieren. Die Informationen waren auch sonst spärlich gewesen. Wie vor ein paar Wochen in Rommilys. Jeder Gesandte wusste nur das Nötigste und agierte völlig unabhängig von den Anderen. Flog er auf, konnte er (fast) keine Namen nennen.
Keine Alleingänge gegen den Wehrvogt und seine Familie, Yasinthe. Das Haus Gernatsborn-Mersingen befindet sich zu nahe am innersten Kreis unseres Netzwerks. Blinde Rache mag dem dämonischen Erzfeind Unseres Herrn gefällig sein. Aber nicht dem Größten Aller Götter. Wer ist dagegen schon der Anti-Praios? Ein klägliches Zerrbild des Götterfürsten, der selbst nur durch Betrug am Erstgeborenen zum Herren Alverans aufgestiegen ist. Ein wütender Hund, der nach der Peitsche schnappt. Wir müssen kühles Blut bewahren und geduldig sein. Denn ER allein ist unser aller Herr, seit Anbeginn der Zeit. Der Älteste der Äonen wird die ehernen Peitschen schwingen, die jetzt noch seine Ketten sind, und unsere Feinde zermalmen. Götter wie Menschen.
Der Feenring befand sich im Besitz Ismenas von Oppstein, soviel stand fest. Sie sollte ihn – diskret - beschaffen und am vereinbarten Treffpunkt übergeben.
Woher hatten Sie eigentlich gewusst, dass die „Rahjajungfer“ genau heute auf Gernatsborn eintreffen würde? Offenbar gab es einen Spion in deren Nähe. Ein „Unsichtbarer“, der sehr schnell Nachrichten übermitteln, aber aus irgendeinem Grund nicht selbst eingreifen konnte. Faszinierend, aber auch rätselhaft und damit beunruhigend. Anders als früher teilten Sie ihr nur noch das Nötigste mit. Schienen ihr zu misstrauen, die sich seit der Rückkehr des Bethaniers oft mit den Kräften der Siebten Sphäre verbündet hatte. Zu oft?
ER war in diesem Moment bei ihr, das spürte sie. Zog unsichtbar die Fäden im Hintergrund, im Kleinen wie im Großen, wie ein Puppenspieler. Wie konnten die Menschen seine Allgegenwart nur missachten?
„Ach ja. Bring nachher noch ein paar Blumen ins Zimmer der Frau von Oppstein. Sie hat es sich ausdrücklich gewünscht.“ Eine der Mägde hatte das gerade eben zu einem pummeligen Bauernkind gesagt, und dabei beiläufig auf eine Tür gewiesen. „Ein bisschen aufgeräumt werden müsste da drin auch.“ Dann hatte sich die Dienerin eiligst an der Söldnerin vorbei gedrückt. Die Ysilierin hatte noch höflich nach der Kammer des Praiosgeweihten gefragt. Es lief wirklich alles wie am Schnürchen. Praiodîns Zimmer war nicht abgeschlossen, natürlich nicht. Renia ging hinein, stellte den Rucksack des Geweihten ab und die Heilige Praiociosa auf das Tischchen, gleich neben das Sonnenszepter.
Sie überzeugte sich, dass draußen die Luft rein war. Dann nahm sie eine der Wandkerzen an sich und huschte in Ismenas abgedunkeltes Zimmer. Es duftete nach Rosenwasser, gar nicht mal so dezent. Überhaupt sah es in der Kammer ein bisschen schlampig aus, für eine „Von und zu“. Hier lag ein fein bestickter Umhang überm Schemel, dort ein vornehmer Hut auf dem Bett. Zwei Paar teure Schuhe standen kreuz und quer herum.
Offenbar hatten die Unsitten der „lässig eleganten“ Horasier auf die Oppstein abgefärbt, während ihrer Hurerei im Lieblichen Feld. Sie musste sich beeilen, jeden Augenblick konnte das Dienstmädchen auftauchen. Was, wenn Ismena den Ring gerade bei sich trug? Etwa, um ihn Alboran zur Verlobung zu schenken? Nein, da drüben saß ein Praiosgeweihter mit am Tisch. Die Gießenbornerin konnte in dessen Gegenwart nicht einfach einen Zauberring hervorziehen.
Würde die Oppstein den Silberring unbewacht in ihrer Kammer herumliegen lassen? Unter dem Bett? Nein. Unterm Kopfkissen? Auch nicht. Ebensowenig Erfolg hatte sie im Schrank. Der Tisch wackelte ein bisschen, aber entgegen ihrer ersten, freudigen Vermutung befand sich der Ring nicht unter dem Tischbein.
Ihr Blick fiel auf den Kamin, der unbenutzt war, jetzt im Hochsommer. In einem eisernen Korb lagen dennoch, fein säuberlich aufgeschichtet, Holzscheite. Die Söldnerin eilte zur Feuerstelle, und tastete ins Innere hinein. Nichts. Einen Moment lang glaubte sie das Objekt ihrer Begierde gefunden zu haben, auf dem Kaminsims. Aber es war nur ein Zunderkästchen. Die Holzscheite...wirklich ordentlich gestapelt waren sie nicht, merkte sie nun. Draußen war ein Schäkern zu hören. Die Dienstmägde? Zum Glück entfernten sich die Stimmen wieder.
Eilig sah die Armbrusterin unter den Scheiten nach. Tatsächlich, am Grund des Korbs befand sich eine kleine Schatulle. Sie klappte das Schatzkästlein auf. Dort lag er, auf dunklem Samt, und glitzerte verführerisch, in lauterem Silber. Bastans Feenring.
Die Gesandte erlaubte sich ein karges Lächeln, während sie die ersehnte Beute an sich nahm. Ihr Herz, das allzu oft nur ein Eisklumpen war, schlug ein wenig schneller. Ein erneuter Blick zur angelehnten Tür. Niemand, der störte. Es wurde Zeit für den zweiten Teil des Plans. Sie zog einen Kriegsbolzen heraus, mit einer mehrkantigen Spitze, zog den Ring darüber und drehte ihn hinter der Tülle am Zain, dem Holzschaft fest. Wie sie erhofft hatte, war ihr der Eine auch jetzt gewogen. Alles fügte sich wunderbar zusammen. Schnell stapelte sie das Holz wieder über der leeren Schatulle auf, ungefähr so, wie sie es vorgefunden hatte.
Die Grauhaarige öffnete das Fenster und sah nur konturlose Dunkelheit. So ganz einleuchtend kam ihr die Idee nicht mehr vor, das Artefakt ein paar Dutzend Schritt nach draußen zu schießen, aus der Burg heraus. Um es später an sich zunehmen, ohne eine Durchsuchung am Tor fürchten zu müssen. Wer weiß, wo der „Ringpfeil“ landen und ob sie ihn überhaupt wiederfinden würde.
Die Wortfetzen draußen wurden stärker. Helle Stimmen hallten von den Wänden wider, gefolgt von mädchenhaftem Gekicher. Yasinthe Dengstein ließ den Bolzen mitsamt Ring im Köcher verschwinden, schloss die Fensterläden und eilte nach draußen. Sie würde ein besseren „Abschussplatz“ brauchen, merkte aber gerade, wie wenig sie über Burg Gernatsborn wusste. Was Wunder bei einer neu gebauten Feste. Sie wollte die Kerze gerade wieder an ihren Platz stellen, da kamen ihr auch schon zwei Mädchen des Gesindes entgegen. Die Dunkelhaarige war picklig und pummelig, die andere recht hübsch für ihr Alter, mit brünetten Zöpfen.
„Verzeihung...Ronia...Ronia Hagebusch?“ fragte die Hübschere der Beiden, die einen Blumenstrauß in Händen hielt, mitsamt Vase. Das Mädchen schlug scheu die Augen nieder.
„Ja, ja, die bin ich.“ Die Soldfrau versuchte gleichmütig zu klingen, während sie ihre Lichtquelle wieder befestigte. „Renia Hagewisch“, fügte sie hinzu, ein wenig zu hastig. Aber die halben Kinder sahen nicht so aus, als kannten sie den alten Verhörtrick, einen möglichen Spion zwecks Verwirrung mit falschen Namen anzureden.
„Verzeiht. Frau Jadvige sucht Euch. Jadvige von Kressenbrück. Die Hohe Dame klang, als wäre es sehr dringend.“
Besonders geschickt stellst Du dich ja nicht an, Yasinthe. Sei vorsichtig, das hier läuft nicht so glatt, wie es am Anfang ausgesehen haben mag.
Die Söldnerin trat hinaus auf den Burghof, die Armbrust lässig geschultert. Im Licht der Fackeln erwartete sie bereits Jadvige, die sich vor den Stallungen mit Roderick von Oppstein unterhalten hatte. Der Ritter würdigte die falsche Renia kaum eines Blickes, sondern eilte rasch weiter zur Unterkunft der Burgwache.
Stirnrunzelnd wandte sich die Kressenbrück in ihre Richtung. "Wo war sie die ganze Zeit?" Das klang barsch. Sie? Gerade eben hatte die Edelfrau sie noch gedutzt. "Sie sollte besser in meiner Nähe bleiben. Man kann sich in dieser Burg schnell verlaufen."
"Ich habe die Praiociosa in die Gemächer Seiner Gnaden gebracht", sagte Yasinthe, die fast schon körperlich spürte, wie sie sich wieder in "Renia Hagewisch" verwandelte: eine alternde Soldfrau auf der Suche nach einer behaglichen Unterkunft und einem bescheidenen Auskommen. "Verzeiht, aber ich habe Euch vorhin irgendwie aus den Augen verloren, Hohe Dame. Danach habe ich mich halt durchgefragt."
"Ich musste nach meinem Streitross sehen, das angeblich gelahmt hat", sagte Jadvige und schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum rechtfertigte sie sich hier gegenüber einer Niedergeborenen?
"Soll ich mal nachsehen? Ein bisschen kenne ich mich mit Pferden und Tierheilkunde aus", sagte Renia, mit vollkommener Unschuldsmiene.
"Mit Streitrössern kenne ich mich auch aus, glaub mir." Jadvige schien sich wieder zu beruhigen. "Bestens sogar. Es war eine Verwechslung des Stallburschen. Rodericks Pferd hat sich ein Steinchen eingetreten, heute beim Empfangskomitee." Dem Gesicht der Rittfrau war anzumerken, was sie über den jungen Oppsteiner dachte: Unser ewiger Pechvogel.
"Dann ist ja alles gut. Sagt an, wo kann ich nun mein Zicklein unterstellen, heute Nacht?"
Jadvige blickte fragend (aber das tat sie eigentlich schon den ganzen Abend).
"Meine treue Gefährtin." Renia klopfte auf die beiden seitlichen vorstehend "Hörner" am Schaft ihrer Armbrust, wo eigentlich der Geißfuß-Hebel angelegt wurde, zum Spannen. "Ich nenne sie auch meine Klackklack."
"Hm ja...Eine Sache ist mir dann doch noch nicht ganz klar...Du bist also heute früh von Beorwang hergekommen und weiter gen Gernatsau gewandert?"
"Ja, aber das hatten wir doch alles schon."
Renia nestelte mit der freien Hand an ihrem Schwertgehänge, das mittlerweile schon halb an ihrem Rücken hing, und ruckte es am Gürtel nach vorne. Dann zupfte die Tobrierin ein Stückchen Bausch ab, das von einer geflickten Stelle ihres Gambesons weg stand. Vom Söller her wehte süßlicher, leicht biederer Bardengesang heran. Vermischt mit munterem Stimmengewirr und den zarten, silbrigen Klängen eines Musikinstruments, dass die Söldnerin nicht recht einzuordnen vermochte: ein Hackbrett?
"Hm. Ich habe gerade eben mit einem der Fährleute gesprochen, der bei uns im Stall aushilft. An dich konnte er sich überhaupt nicht erinnern...nun, und ich glaube schon, dass du jemand bist, den man so schnell nicht vergisst."
Renia schluckte. Wie war das nun wieder gemeint? Verstohlen linste sie zum Tor. Dort standen zwei Wachen und blickten mit Wehrheimer Gelassenheit ins Halbdunkel des "Zwingers", die Hellebarden in Habachtstellung. Auch auf den Zinnen war Bewegung wahrzunehmen. So ohne weiteres würde sie nicht die Flucht ergreifen können.
"Ach ja. Eine unserer Gardistinnen hat sogar von dieser Blutkerbe gehört. Eine Wutzenwalderin. Sie meinte, die Kultstätte wäre schon vor längerer Zeit vernichtet worden. Von einigen echten Helden im Auftrag des Pflegers der Lande." Jadvige schlug langsam das Zeichen des Schwertes. "Es soll sich dabei in Wahrheit um ein Unheiligtum des Jenseitigen Mordbrenners gehandelt haben. Rondra steh uns bei gegen das Erzböse!"
Die Stoppelhaarige hob die Augenbrauen. "Korseibeiuns...Ist das wahr? Mir wurde versichert, in der Blutkerbe würden jede Menge herrliche Waffen zu finden sein. Mit denen man ein ganzes Banner ausrüsten könnte, für einen wahrhaft guten Kampf. Beim Schwarzen Prinz der Chimären! Mir hätte schon ein einziges unzerbrechliches Schwert genügt, bei meinem Verschleiß in den letzten Götterläufen." Renia versuchte ein entwaffnendes Lächeln.
"Wolltest du dir dort nicht den Segen deines Herren holen?" Leicht angewidert blickte Jadviga auf die krummen, fauligen oder fehlenden Zähne der Soldfrau: ein Makel, der im Fackellicht nicht länger verborgen war. Im Pferdestall schnaubte und stampfte es leise.
"Korgefällige Klingen sind ein Segen, in Zeiten wie diesen." Renia verbarg ihr schadhaftes Gebiss wieder.
"Nun, im Wutzenwaldischen erzählt man sich, dass die Waffen aus der Blutkerbe vergiftet waren. Das verfluchte Metall hat unheilbare, scheußliche Wunden geschlagen. Nennst du soetwas korgefällig?"
"Oh. Das wusste ich nicht", sagte Renia leichthin.
Jadvige blickte zu den Torwachen. Sollte sie die Tobrierin vorsichtshalber im Kerker übernachten lassen? Das Verlies war noch neu und blitzsauber – eine angenehmere Unterkunft als manche Herberge in der Warunkei. Storko mit dieser Angelegenheit zu behelligen, der Gedanke gefiel ihr ebensowenig wie diese Renia weiterhin unbeaufsichtigt in der Burg herumrennen zu lassen.
Du musst versuchen, irgendwie auf die Burgterrasse zu kommen. Dort kannst du den Ring über den Gernat schießen, und später heimlich an dich nehmen.
Renia stutzte. "Purpurzunge" begleitete sie schon seit den Goldenen Festtagen, die sie im Tempel des Götterkaisers verbracht hatte. Es war wie ein leises, sanftes Flüstern aus der Sternenbresche, das sie seither hörte. Ohne dass sie genau zu sagen vermochte, wer oder was da mit ihr sprach. Nur dass es sich anfühlte wie eine Zunge in ihrem Ohr. Ein durchaus sinnliches, wenn nicht sogar wollüstiges Gefühl...
Eine Zeitlang hatte sie befürchtet, wahnsinnig zu werden. Dass sie nun langsam anfing, mit sich selber zu sprechen oder Stimmen zu hören. Wie ein bleicher Tiefzwerg, der zu lange in den tiefsten Abgründen gekauert hatte, mit gespaltener Seele. Dann war sie ein klein wenig von Hochmut und Größenwahn ergriffen worden: Was, wenn ER selbst...nein, diese Ehre wäre zu groß gewesen, für eine kleine Dienerin des Allerhöchsten wie sie.
Aber was ihr "Purpurzunge" sagte, hatte bislang Sinn ergeben. Er wusste Dinge, die nur Sie wissen konnten. Seine Einflüsterungen waren überaus hilfreich. Sowohl die Beschattung des Praioten als auch der inszenierte Überfall der Goblins hatten sich bislang ausgezahlt.
Natürlich, Renia hätte von Anfang an zugeben können, von Hallingen her nach Schlotz gekommen zu sein. Allerdings hatte es bei Bausenberg Ärger mit ein paar streitsüchtigen Söldnern gegeben, am ersten der verfluchten, unheilbringenden Tage des Praios.
Die Geweihte hatte rasch für "Abkühlung" gesorgt, und das Pack in die Flucht geschlagen, mit Ausnahme dieser schweißtriefenden Armbrusterin. Mitten im Hochsommer war der echten Soldfrau das gehässige Grinsen in der Narbenfresse eingefroren. Wie aus dem Nichts war der erbarmungslose Eishauch des Güldenen Gottes heran geweht, der Gluthitze zum Trotz: Ein Frost, wie er sonst nur noch in einem gloranischen Unwinter zu spüren sein mochte. In Windeseile hatte sich die Söldnerin in gefrorenes Fleisch verwandelt, mit blauen Lippen, firnglänzender Haut und Eiszapfen unter dem Helm. Renia hatte einige Mühe gehabt, ihrer Gegnerin die Armbrust aus den starren, weißen Händen zu winden. Dabei waren einige Hautfetzen am Abzug kleben geblieben.
Renia war klug genug gewesen, mit der Plünderung der Toten zu warten, bis deren dampfender Körper wieder ein wenig aufgetaut war (der Helm hatte sich anfangs kein Haarbreit bewegen lassen). Der Spannhebel war durch die namenlose Kälte leider wertlos geworden, mit gebrochenen Nieten. Für die gerissene Sehne hatte sie schnell Ersatz gefunden. Wäre es klüger gewesen, Jadvige die Wahrheit zu sagen, was ihre Reiseroute anbelangte? Aber die Überlebenden würden plaudern, wenn nicht in Schlotz, dann doch in einer der Nachbarbaronien – und die Nachricht früher oder später ihren Weg an den Gernat finden.
"Hörst du mir überhaupt zu?" Tatsächlich, Jadvige hatte etwas gesagt, was nicht an ihren Geist gedrungen war.
"Gewiss, und ich danke Euch von Herzen, dass Ihr mir die Augen geöffnet habt. Gut, dass ich nun weiß, was es mit dieser Blutkerbe auf sich hatte. Um ein Haar wäre meine unsterbliche Seele da in eine niederhöllische Falle getappt..." Auch Renia schlug das Schwertzeichen, um zu beweisen, dass sie keine Dämonenbündlerin war.
"Und Beorwang?"
"Hieß das Dorf Beorwang, wo ich heute Morgen war? Oder war es doch Gernatsau? Verzeiht einer alten Kriegsreisenden wie mir. Aber ich kenne mich in eurer Gegend nicht aus. Die Namen sind wirklich verwirrend. Einer der Bauern, den ich in Hallingen getroffen habe, meinte, er wolle nach Beorwang...da dachte ich, das nächste Dorf hieße Beorwang. Und nicht Gernatsau."
"Schon gut. Für dein Wanderleben musst du dich vor Frau Travia rechtfertigen, nicht vor mir. Aber du hast dir ein weiches Bett verdient. Leider sind in der Zwischenzeit weitere Gäste eingetroffen. Sag den Wachen, sie sollen dich durchlassen...mein Angebot mit dem Quartier im Gasthaus steht noch. Die Heilige ist ja jetzt in Sicherheit.
Renia jubilierte innerlich. Wieder stand ER ihr zur Seite. Sie würde einfach mirnichtsdirnichts mit dem Feenring aus der Burg spazieren können? Ihre Mission schien wirklich nur eine bessere Fingerübung zu sein. Ein Kinderspiel.
Die Söldnerin wandte sich schon zum Burgtor, als sie ein scharfes Räuspern innehalten ließ.
"Deine Waffen bleiben allerdings hier. Die Armbrust, der Köcher und das Schwert."
"Hohe Herrin...?!"
"Nun. Du hast sicherlich schon vom Burgfrieden gehört. Der nicht nur auf einer Burg, sondern auch um ihre Mauern herum gilt." Jadvige verschränkte die Arme, und merkte, wie sie die Ungeduld befiel. Sie gab sich schon viel zu lange mit dieser Herumtreiberin ab. Einen Goblin in Goblinart, sprich hinterrücks, zu erschießen, war nun wahrlich keine besondere Heldentat.
"Niemals werde ich mich von meinem Zicklein und dem Schwert trennen."
"Du möchtest doch Mitglied der Burgwache werden?"
"Gewiss."
"Bis du den Eid auf den Burgfrieden geschworen hast, zählst du nicht zur Wache. Gernatsborn ist ein tsagefälliger Ort. Als Vertreterin Seiner Wohlgeboren ordne ich an, dass deine Waffen erst einmal verwahrt werden."
"Ich hoffe, eure Burgmannen und -Frauen sind weniger tsagefälig", sagte Renia, durchaus ein wenig frech. "Was, wenn die Goblins heute Nacht angreifen? Also lasst mich schnell den Eid schwören, in Kors Namen, auf dass mir rondrianische Gastung zuteilwerde."
"Das kann nur Herr Storko entscheiden, und der hat gerade..." Ohne Vorwarnung setzte ein warmer Sommerregen ein. Jadvige blinzelte in die Nässe. War das ein Zeichen der Travia, oder gar der Kormutter selbst?
Sie eilten in die Kapelle, die noch ungeweiht und eine Baustelle war. Renia versuchte fluchend die Armbrustsehne zu trocknen.
Drinnen war es kühler als auf dem Hof, der noch immer von der Praiosglut des Tages aufgeheizt war. Jadvige fröstelte. Ihr schien es, als griffe plötzlich eine schwarze, kalte Hand nach ihrer Seele. Die Ritterin konnte dieses Gefühl nicht recht deuten. Dunkler schien der Burghof auch geworden zu sein. Zürnten die Göttinnen ihr etwa, weil sie eine tapfere Veteranin derart ungastlich und ehrenrührig behandelte?
"Storko hat gerade Gäste". Jadvige strich ihr nasses Haar aus der Stirn zurück. "Gäste von Stand. Deine Vorstellung muss auf jeden Fall bis morgen warten. Die Waffen bekommst du zurück, wenn du vereidigt bist oder weiterziehst. Einen Platz im Stroh hätten wir noch, drüben im Stall. Wenn dir das lieber ist..."
"Wer sind denn all die hohen Herrschaften?" fragte Renia, scheinbar beiläufig.
"Besuch aus Schlotz. Die Vögtin und ihre Tochter sind auch da. Gerade eben ist noch ein berühmter Waldläufer eingetroffen, mit seinem Gehilfen..."
Renia lachte leise. "Ein berühmter Waldläufer? Verstehe, Firunsadel."
"Odilon Wildgrimm, der Schwarze Bär. War früher Baron in Gallys. Ein Meister mit dem Langbogen. Hat sogar mal das Kaiserliche Turnier zu Gareth gewonnen."
"Ehemaliger Baron von Gallys? Vielleicht kann ich ihn ja in die Stadt am Artemaberg begleiten. Dort scheint man um den Wert guter Schützen zu wissen."
"Du schätzt dich hoch ein, Korgesellin. Leider etwas zu hoch. Der Mann hat schon eigenhändig Oger erschlagen, an der Trollpforte. Nicht nur einen fliehenden Rotpelz niedergeschossen. Ich habe gehört, dass er kaum noch in Gallys weilt. Man sagt, er streift lieber durch die Wildnis und die Berge, mit einer hübschen Elfin. Ein paar ordentliche Langbögen auf unseren Zinnen, das wärs natürlich..."
"Für die Burgverteidigung, hohe Herrin? Da würde ich Euch schon Armbrüste empfehlen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Herr Odilon besser mit dem Kreuzbogen schießt als ich mit dem Langbogen..."
Jadvige ging achselzuckend nach draußen. Der Regen hatte längst aufgehört. Oben auf dem Söller, wo nun ein Baldachin aufgespannt war, schien der Praiosgeweihte eine regelrechte Predigt zu halten, im Licht der Kerzen.
"Du kannst ihn ja gerne herausfordern", sagte die Adelige amüsiert. "Er schießt mit deinem klackernden Zicklein, du mit Bavhano Braith, dem König der Bögen...Ich wette, du könntest nicht mal die Sehne auf das Eibenholz spannen. Also, wenn ich nun um deine Waffen bitten darf, Söldnerin? Und um eine Entscheidung, wo du heute übernachten möchtest..."
"Bei einem Wettbewerb in Altzoll habe ich mal blind ins Schwarze getroffen, mit Augenbinde."
"Natürlich hast du das. Mit Augenbinde ist jedes Ziel schwarz. Oder hast du einfach Richtung Schwarze Lande geschossen?"
"Hm, wenn ich bei einem Wettschießen gegen den Gallyser gewinnen würde. Ich mit meiner Armbrust, er mit seinem Bogen? Was wäre dann der Lohn?"
Jadvige schüttelte den Kopf, irritiert und erheitert zugleich: "Im Herbst soll es bei uns ein Turnier geben, zur Burgeinweihung. Da darfst du gerne antreten, bei den Schützen..."
Die Bardenmusik setzte wieder ein, wenn auch leiser als zuvor. Die Adelige blickte nach oben, wo die Stimmung eingetrübt zu sein schien, trotz (oder gerade wegen?) der mahnenden Worte Seiner Gnaden. Die Gespräche plätscherten lustlos dahin, so schien es. Herrschte auf dem Söller etwa Langeweile, unter den illustren Gästen?
Renia trat hinter Jadvige.
"Auf der anderen Seite des Gernat steht ein alter, krummer Weidenstumpf, der Burg genau gegenüber. Er ist tagsüber gar nicht zu übersehen. Die grünen Zweige sehen aus wie die Haare und der Bart eines Waldschrats. Wir haben heute Tote Mada, er dürfte jetzt also so gut wie unsichtbar sein. Ich wette, dass ich es dennoch schaffe, ihn mit mindestens drei von fünf Bolzen zu treffen. Das soll mir dieser berühmte Odilon erst einmal nachmachen. Ein Ziel treffen, dass er kaum sieht. Ich schieße natürlich zuerst. Bei Tageslicht zählen wir nach. Habe ich die Prüfung bestanden, nehmt ihr mich in die Garde auf. Übertreffe ich sogar Odilon, dann nimmt er mich mit nach Gallys. Meine Bedingungen..."
Die Ysilierin wunderte sich über sich selbst. Der tote Goblin heute war ein Glückstreffer gewesen, und im Grunde war sie eine ebenso lausige Schwertkämpferin. Als "Alchimistin" griff sie lieber auf zuverlässige Waffen zurück. Aber darum ging es in diesem Fall gar nicht. Die Armbrust war stark genug, um über den Gernat zu schießen. Niemand würde Fragen stellen, wenn die verrückte Söldnerin morgen ihre scheinbar sinnlos verschossenen Bolzen suchen musste.
"Die alte Weide? Stimmt, die müssen wir auch noch fällen, und das Gebüsch daneben roden...Viel zu gute Deckung für Heckenschützen". Jadvige war ehrlich erstaunt. "Du möchtest die Edelleute zu einem kleinen Spiel herausfordern? Lass dich warnen: Auch Gelächter kann schmerzhaft sein. Aber gut, wir können ja mal fragen, ob Herr Odilon sich darauf einlässt. Vorher gibst du mir aber dein Schwert. Das ist meine Bedingung. Und lass da oben mich sprechen..."
Später Abend des 5. Praios, am Ufer des Gernat
Tuvok wischte seinen Teller mit dem letzten Bissen Brot sauber, schob ihn sich in den Mund und spülte mit einem Becher frischem Apfelmost nach. Das Essen auf dem Land war weitaus besser als in Rommilys, fand er. Selbst das herzhaft duftende Bauernbrot schien geradewegs aus dem Dorfbackofen zu stammen.
Der Waidmann streckte seine Füße unter dem Tisch aus und ließ für den Moment Firun einen guten Mann sein. Gewiss, er vermisste schon jetzt den rauschenden, sattgrünen Wutzenwald. Das sanfte Flüstern und Knarren der Bäume, den Duft nach Moos und Waldmeister, den Anblick der "Kuppen" im Morgennebel.
Dennoch, der Barönliche Forstwart war lange genug in den dichten Wäldern und morastigen Auen am Gernat unterwegs gewesen, um die Annehmlichkeiten eines vollen Tellers, von trockenen Schuhen und eines behaglichen Strohbetts zu schätzen. Die Gästekammer im "Gerbaldsrast" war nicht voll belegt, so dass es ein recht angenehme Sommernacht werden würde, ohne viel Geschnarche und Gestank. Die Schwüle des Tages hatte ein wenig nachgelassen, vermutlich würde es bald regnen. Nein, er beneidete die hohen Herrschaften keineswegs, die da oben, eingesperrt in zugigen, engen Steinburgen, ihr Dasein fristen mussten: nur eine andere Art von Unfreiheit als die ihrer Hörigen und Grundholden.
Tuvoks Blick ging zur Dienstritterin Glyranas hinüber, deren Namen er für einen Moment vergessen hatte. Aus irgendeinem Grund unterhielt sich die stramme Rondrianerin mit einer schon etwas gealterten Söldnerin. Deren Armbrust lehnte neben einem großen Rucksack an der Wand.
Der Jäger lauschte dem Gespräch nicht wirklich – wie so viele Hofbedienstete war er es gewohnt, mit einem Ohr hin und mit dem anderen wegzuhören. Es wären ohnehin nur Wortfetzen zu verstehen gewesen. Die Korgesellin schien an einer Stelle oben auf der Burg interessiert zu sein. Merkwürdigerweise zog sie ihre Handschuhe nicht aus, auch bei dem Abendmahl und dem Bier nicht, das ihr die Rittfrau großherzig spendierte. Ah, jetzt: Sie zeigte der Befehligerin ihre Hand, an der ein kleiner Finger fehlte. Wollte sie die Adelige ernsthaft damit beeindrucken? Womöglich war die etwas abgerissen wirkende Frau nicht mal eine echte Veteranin. Wilddieben hackte man auch oft einen oder mehrere Finger ab, damit sie den Bogen nicht mehr spannen konnten. Vielleicht hatte die Frau zwangsläufig auf eine leichte Armbrust umsatteln müssen?
Tuvok hatte jedenfalls schon grausamer verstümmelte Invaliden gesehen. Gegen die blutgetränkte, vom Schlachtenlärm erfüllte Welt da draußen war der wilde Wutzenwald das reinste Tsaparadies gewesen, in all den Jahren seit dem Orkensturm. Er durfte sich über sein Amt wahrlich nicht beschweren.
Der Jäger merkte, wie sich der Kohl aus der Suppe in seinen Eingeweiden bemerkbar machte. Es war ein wunderbarer Praiosabend, eigentlich zu früh, um ins Bett zu sinken. Tuvok ließ seine Zeche ins Kerbholz schnitzen, und ging nach draußen, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Gernatsborn hatte sich in den letzten Jahren stark verändert - nicht nur, weil anstelle eines wehrhaften Gutshofs nun eine stattliche Burg an der Gernatsbeuge aufragte. Vor allem die Kupfergrube war tiefer und breiter geworden. Zum Glück rauchte der Hochofen an diesem Abend nicht, ebenso wenig wie die Kohlenmeiler am Waldrand. Das Sägewerk schien auch ganze Arbeit zu leisten. Der Wald war deutlich geschwunden, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Natürlich, die neue Burg brauchte Holz, sehr viel Holz. Die Dächer waren sogar mit Kupferschindeln gedeckt, die in der späten Abendsonne funkelten und glitzerten. Offenbar sollte das die Gefahr durch Brandgeschosse vermindern. Was hätte Nengarion zu alldem gesagt?
Leichter Wind kam auf und vertrieb die letzte Hitze des Tages. Am Bergfried begannen die aufgehängten Banner sacht zu wehen, in der blutroten Abendsonne. Ein Vogelschwarm schwirrte zu den Schlafplätzen im Wald, die letzte Taube kehrte auf die Burg zurück. Ein leises Quietschen lenkte seinen Blick nach oben, hinauf zum Wirtshausschild, das eine Kaiserkrone auf einem gemütlichen Stuhl zeigte.
Er beschloss, noch einmal zum Fluss hinüberzugehen, und die untergehende Sonne zu genießen, mit Blick auf die grüne Wand "seines" geliebten Wutzenwaldes. Der Uferbereich war schon ziemlich abgeholzt worden. Nur hie und da ragte noch eine einsame Weide oder Pappel auf. Rötlich glänzte die untergehende Sonne auf den Gernatwellen. In einiger Entfernung grasten die ersten Rehe auf den Wiesen.
Im Wasser pflatschte ein großer Fisch. Nicht weit davon entfernt saß eine späte Anglerin auf einem Baumstumpf: eine pausbäckige junge Frau mit brünetten Zöpfen in Bauerngewandung, die auf den ersten Blick ein bisschen thorwalisch aussah (zumindest so, wie sich Tuvok die Nordländer vorstellte).
Wie auch immer. Die Stille war atemberaubend. Im Vergleich zum lauten, lärmenden Rommilys war Gernatsborn ein firunsgefälliger Ort, zumindest, wenn er die Kupfergrube in seinem Rücken für einen Moment vergaß. Von Bergwerken hatte er bis auf weiteres genug. Und nun? Zurück ins Wirtshaus und sich langstrecken?
Mit halblauter, etwas brüchiger, aber doch wohlklingender Stimme begann die Frau zu singen:
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Kamerad, heb Dich empor,
Bleibst Du hier bist Du ein Tor
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Ich habe dieses Leben satt
Will raus aus dieser großen Stadt
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz.
Tuvok runzelte die Stirn. Galt das etwa ihm? Zumindest entsprachen die Reime seiner Stimmung. Nein, er war wahrlich kein Schwerenöter, kein Lebemann wie dieser berüchtigte Adran von Oppstein oder – Travia bewahre – dieser neureiche Jodokus in seiner Brauerei in Rommilys. Andererseits, die Anglerin war durchaus hübsch und wohlgestalt zu nennen. Sie schien bei ihrem Gesang sogar verstohlen in seine Richtung zu schauen. Der Waidmann fühlte sich beschwingt, was nicht nur am Most lag.
Im "Schlotzer Lied" ging es ja wirklich um die Liebe und die Suche nach einem Gefährten. Aus einer heiteren, mostseligen Laune heraus begann Tuvok zu singen, mit kehliger, rauer Stimme. Mit übertriebener Inbrunst stimmte er die einzige Strophe der Baroniehymne an, die ihm auf die Schnelle einfiel. Dabei reckte er beide Hände aus wie ein horasischer Opernsänger, um zu unterstreichen, dass die musikalische Einlage nicht allzu ernst gemeint war.
Dies stinkende Nest
Gibt mir den Rest
Ich bin hier nicht frei
Geld ist mir einerlei
ich brauch den Wutzenwald
und auch den Gernatstrand
Drum reite ich sehr bald
ins Schlotzerland.
Tatsächlich, die Brünette lachte herzhaft auf, wobei sie ihre schönen weißen Zähne zeigte: keine rahjagefällige Schönheit. Aber doch ein natürliches Bauernmädchen, das ihr Herz sicher am rechten Fleck hatte. Erfreut packte sie ihre Angel zusammen und schlenderte ihm entgegen, eine Madarite im Mundwinkel. Tuvok war ein bisschen überrumpelt. Sein Herz schlug schneller. Was bahnte sich da gerade an?
Die "Thorwalerin" zwinkerte ihm verschwörerisch zu und legte die Angel über ihre Schulter. Irgendwie schien sie an diesem Abend keinen einzigen Fisch gefangen zu haben. "Das war zwar ganz nicht die richtige Strophe...aber sie passt trotzdem".
"Haben wohl schlecht gebissen?" sagte Tuvok und deutete auf die Angel.
"Ich würde sowieso keinen Fisch essen, den ich in der Nähe der Grube gefangen habe. Das Wasser ist doch längst vergiftet." Ein Schatten hatte sich auf die Stirn der jungen Frau gelegt. "Du bist also der schöne Ingalf. Ich muss sagen, du siehst nicht ganz so aus, wie ich dich mir vorgestellt habe."
Einen Moment verspürte Tuvok Enttäuschung. Natürlich, eine Verwechslung. Wie hatte er sich einbilden können, das Herz dieses Bauernkinds im Sturm erobern zu können? Der Jäger linste zur Burg. Es kam ihm vor, als stünde Ihre Hochgeboren Haldana schon oben auf den Zinnen und musterte die Szene kopfschüttelnd.
Er beschloss, die Situation noch einige Herzschläge lang auszukosten: "Wie meinst du das? Sehe ich nicht aus wie Ingalf? Oder bin ich einfach nicht hübsch genug?"
Seine Gegenüber lächelte verschmitzt. "So mein ichs nicht. Ich hab dich mir ein bisschen kräftiger vorgestellt... na egal." Sie nahm die Madarite aus dem Mund und warf sie ins Gras. "Jedenfalls bist du spät dran. Wir dachten schon, du hättest kalte Füße bekommen."
"Kalte Füße?"
"Muffensausen, ja."
Tuvok hob die Augenbrauen. Von einem Moment zum nächsten erwachte in ihm wieder der Schlotzer Forstwart. Streng genommen hätte er die Anglerin bereits nach ihrem Fischereirecht fragen müssen. Aber nachdem sie offenkundig keinen Fisch aus dem Gernat gezogen hatte, und das Gewässer hier gemeinfrei aussah, wollte er nicht kleinlich sein. Zumal er sich gerade auf dem Grund und Boden des Junkers von Gernatsborn-Mersingen befand.
"Vier Leute müssen wir auf jeden Fall sein, hat Burchert gesagt. Ich bin Gritta!" Sie reichte ihm neckisch die Hand hin, nur um sie im letzten Moment auszuschlagen und ein Handzeichen mit zwei Fingern zu zeigen, das wie umgedrehte Levthanshörner aussah: mit hochgereckten, gekrümmten kleinem Finger und Zeigefinger.
Aus einem Gefühl heraus wiederholte Tuvok die Geste. Gritta hatte wunderschöne Sommersprossen, gefällige Rundungen und duftete wie eine Blumenwiese. Offenbar steckten keinerlei amouröse Absichten hinter ihrer "Annäherung". Schade eigentlich. Dennoch, Tuvoks Jägerinstinkt (und Neugierde) war geweckt. Vor was sollte er Muffensausen haben? Zu welchem Zweck hatten sich vier Leute zu einem Treffen verabredet, bei dem man "kalte Füße" bekommen konnte? Zu einem erfrischenden Fußbad im Gernat wohl nicht...
Tuvok hegte bereits einen vagen Verdacht. Wilderei galt überall in der Vorsichel als lässliche Sünde.
"Hast du deine Holzkohle dabei?" fragte Gritta.
Er schüttelte den Kopf. Aha, die leidige Erfahrung und sein Instinkt hatten ihn wieder einmal nicht getäuscht. Vermutlich wollte Gritta mit ihren Komplizen Kaninchenschlingen auslegen oder dergleichen. Jedenfalls schien sich die Wilddiebin nicht daran zu stören, dass er nur ein Jagdmesser am Gürtel trug.
Gritta sah ihn noch vorwurfsvoller an. Was bist denn du für einer, schien ihr Blick sagen zu wollen.
"Wir sollten uns beeilen, die anderen warten schon" sagte sie und ging in Richtung Wald. Der Barönliche Forstwart folgte ihr. Würde seine Dienstherrin wirklich dort oben auf der Burg stehen, mit alles sehenden Augen, wie zuhause auf Burg Schlotz, dann bekäme sie nun sicherlich Schnappatmung. Dabei war Tuvok gerade in ihrem Sinne unterwegs. Ein kleiner Trampelpfad führte durchs dichte Unterholz. Einen Moment lang hatte Tuvok das Gefühl, wieder in den Wutzenwald zurückgekehrt zu sein. Da vorne waren auch schon "die Anderen".
Sie waren zu zweit, und trugen derbe Bauernkittel. Die Burschen schienen noch ziemlich jung zu sein. Wirkten eher wie Halbstarke, die sich zu irgendeinem Streich am Glückstag verabredet hatten. Sicherlich zählten sie und ihre Gefährtin noch keine zwanzig Lenze.
"Ich habe unseren Ingalf dabei" verkündete Gritta, scheinbar gut gelaunt. "Ingo, das ist Perchdan. Wir nennen dich Ingo, oder? Harger kennst du ja sicher schon, aus Sokramshain?"
Tuvok zuckte zusammen. Allerdings, es war ziemlich dunkel. Selbst die Gesichter von Perchdan und Harger waren im Schatten der Bäume kaum zu unterscheiden.
"Naja, kennen" sagte Harger, ein hoch aufgeschossener Kerl mit freundlicher, aber auch selbstbewusster Jünglingsstimme. "Ich glaube, wir haben uns mal zu Sonnwend getroffen. Deine Base ist die fesche Mirnhilda, nicht wahr? Deren Verlobter in der Märkischen Schlacht geblieben ist?! Richte ihr schöne Grüße aus...Mit der habe ich mal beim Erntefest in Wutzenbach getanzt. Ist aber ein paar Götterläufe her."
Tuvok nickte schicksalsergeben. Wenn Harger das sagte.
"Hör mir bloß auf mit Sonnwend" schimpfte Gritta los, die sich bereits Kohle ins Gesicht schmierte. "Am Sokramurshügel treffen sie sich gerade wieder. Zum Levthansfest, wie sie´s nennen. Ihr wisst ja wie das läuft. Einer der Blassen und Blaublütigen spielt den Gehörnten und besteigt irgendein dummes Bauernmädchen. Hinterher nennen sie's dann Vermählung mit dem Land, und alle freuen sich. Der Druide soll aus Gallys kommen, habe ich gehört. Irgendso ein alter Haindruide. Nicht mal der Tag stimmt. Ist ja schon mitten im Praiosmond. Über-Übermorgen sitzen sie dann alle wieder im Traviatempel und singen fromme Lieder, diese Heuchler..."
"Als Aves grub und Gylda spann, wo war denn da der Edelmann", sagte Perchdan vergnügt, der wohlbeleibt und untersetzt wirkte. Er hielt eine Fellmaske in Händen, stülpte sie sich über den Kopf und band sie fest. Was war denn das? Eine Wildschweinmaske, mit furchterregendem Gewaff. "Wilkommen bei den Wilden Keilern vom Wutzenwald" klang es dumpf zwischen den Hauern hervor. "Ist dein erster Ausflug mit uns Wutzen, habe ich gehört?" Der Bursche zog sich die Kapuze über die lockigen, verschwitzten Haare und einen Fellumhang über die Schultern. Der ganze Kerl roch oder besser gesagt stank jetzt nach Wildschwein.
Tuvok nickte erneut, auch wenn er diesen Mummenschanz nicht recht verstand. Damit würde Perchdan das Niederwild doch eher verscheuchen statt anlocken. Sah aus wie eine Verkleidung zum Firunsfest, von wegen Austreiben des Winterunholds...
Nun reichte ihm Gritta ein Stück Kohle. "Ingo ist kein Freund vieler Worte" erklärte seine Begleiterin, als wären sie beide schon seit Ewigkeiten beste Freunde. "Das ist auch gut so. Die Widderhörner schwatzen und schwatzen. Schwatzen, schnackseln und tanzen nackt ums Feuer. Wenn von den Pfaffen niemand hinguckt. Aber es geschieht nichts. Während diese verfluchten Mersingens den Heiligen Wald abholzen und den Leib der Sumu schänden. Jeden Tag reißen sie die Wunde der Erdmutter mehr auf. Dazu kommt der stinkende Rauch aus der Kupferschmiede, der alles vergiftet. Wie können sie es wagen! Sumu leidet, Sokramur leidet, der Wald stirbt, und alle feiern ein Fest?!"
"Den Tod vor Augen, frei von Furcht" sagte Harger. "So lautet der Mersinger Wahlspruch. Nur dass sie dem Wald den Tod bringen. Aber Furcht, die werden wir denen da oben schon beizeiten lehren."
Tuvok merkte, dass er der einzige in der Runde war, der wirklich eine Waffe trug, was ihn doch ein wenig beruhigte. Aber was hatte dieses Treffen wirklich zu bedeuten? Für gewöhnliche Wilderer schwangen die Drei ganz schön aufrührerische Reden. Nun, wenn er die ganze Wahrheit herausfinden wollte, dann musste er schon eine Weile mit den Wölfen heulen. Oder besser gesagt mit den Wutzen grunzen. Er rieb sich die Kohle ins Gesicht.
Lächelnd half Gritta mit ihrem Zeigefinger nach, an den Stellen, wo er schwer hinkam. Ihre Berührungen waren...schön. Spielte er auch deswegen dieses nächtliche Spiel mit? Sie reichte ihm einen Lappen, um sich die Hände zu reinigen. "Musst aufpassen, manche Büttel haben ein Auge für schwarzen Ruß an den Klamotten...Und jetzt Kapuze drüber."
Das Trio ging in Richtung Fluss. Ah, dort waren wohl die Jagdwaffen versteckt.
Hinter einem Gebüsch sah Tuvok zu seinem Erstaunen eine große, schwere Holzleiter, die mit einer Schnur an einem dicken Ast befestigt war. Der größere Teil der Kletterhilfe, die ziemlich lang und an der Landseite mit Eisenhaken versehen war, lag gut versteckt im Wasser. Offenbar sollte die Leiter nicht wegtreiben. Perchdan und Harger zogen, zerrten mit einiger Mühe am triefenden, haushohen Ungetüm. Es bewegte sich kaum von der Stelle. "Mach dich mal nützlich, Ingalf...Wenn du schon fast ´ne Stunde zu spät kommst."
Tuvok packte mit an. Das Ding war wirklich schwer wie ein Baumstamm. Mit Müh und Not wuchteten sie es ans Ufer. Nun sah der Jäger, dass die Standfüße mit eisernen, leicht angerosteten Dornen verziert waren. Tuvok brauchte eine Weile, bis er seine Atmung wieder beruhigt hatte. Was hatten seine "Gefährten" damit vor? Einen Bären erschlagen?
"Eine echte Sturmleiter", sagt Harger mit jugendlichem Stolz und pflückte irgendeine Wasserpflanze von der Sprosse.
"Jedenfalls ist sie sauschwer". Der dicke Perchdan schnaufte ordentlich und lüpfte seine Maske. "Heilige Sokramor, wie haben die das damals geschafft, das Riesentrumm von Schattenholz hierher zu schleppen?"
"Wenn die Leiter überhaupt vom Schattenholzer Turm stammt." Das kam von Gritta. "Gekämpft wurde doch überall, bei uns in Schlotz. Burchert war so klug, danach ein bisschen was beiseite zu schaffen. Auch wenn er Eisen nicht mag."
"Also bis zur Burg bekommen wir die Leiter nie." Harger schmierte sich ebenfalls sorgfältig Kohle ins Gesicht und wusch sich die Hände im Gernatwasser. "Schon gar nicht unbemerkt."
Gritta öffnete ein Gürteltäschchen und zog etwas hervor. Dann öffnete sich ihre Hand. Vier große Eicheln glänzten im letzten Tageslicht.
Harger schnaufte. Es klang verblüfft. "Gesegnete Eicheln?"
"Genau. Die wecken die Kraft der Wutzen in uns..."
Tuvok musste unter seiner Schminke grinsen. Gesegnete Eicheln? Das klang levthansgefällig.
Die vermeintlichen Wilderer kauten die Eicheln – mit überaus respektvollem Gesichtsausdruck, so schien es. Auch Tuvok nahm seinen Anteil. Er zog sich etwas in den Schatten zurück und steckte sich die Eichenfrucht in den Mund. Sie schmeckte bitter, nussig und ziemlich mehlig. Wohlschmeckend war sie schon mal nicht, aber was hatte er erwartet?
"Und nun?" fragte Harger, ein wenig verunsichert. "Ich habe noch nie eine von Burcherts Eicheln gegessen."
"Du hast Sonnwend eben noch nie bei den Wahren Dienern der Sokramur gefeiert" sagte Gritta fröhlich. "So wie es sich gehört, während der Graunächte. Und nicht zur gleichen Zeit wie die Praidioten."
"Ich schon", sagte Perchdan. "Hab sogar mal gesehen, wie die Dinger wirken. Da warens glaube ich Bucheckern. Es dauert ein wenig, bis die Wirkung einsetzt. Aber dann ist sie kaum noch aufzuhalten." Irgendetwas in der Stimme des Bauernburschen gefiel Tuvok nicht. War das Ehrfurcht, oder nur Furcht? Ein wenig besorgt klang es auf jeden Fall.
Überhaupt, was würde geschehen, wenn jetzt der echte Ingalf herbei spazieren würde, der sich eben ein wenig verspätet hatte. Einer gegen Drei? Laut den Wehrheimer Zahlen sollte man da eher den Rückzug antreten. Dennoch, er wollte wissen, was da geplant war. Was hatte es mit der Sturmleiter auf sich und was war das für eine merkwürdige Wegzehrung? Offenbar sollten die Eicheln besondere Kräfte wecken. Tuvok spürte noch keinerlei Wirkung.
"Ein paar Stunden haben wir auf jeden Fall Zeit", sagte Gritta beschwichtigend. "Weiße Sokramurier, ha, allein der Name ist schon lächerlich. Der Leib der Bergmutter ist schwarz. Also sind wir es auch." Das stimmte sogar. Ihr Gesicht war kohlrabenschwarz, als wäre sie die Tochter vom “Greif”, des ehemaligen Herolds von Gareth. Oder vom Schwarzen Elfen aus Unau. Oder herrschte der finstergesichtige Scharfrichter über Thalusa? Tuzak? Egal. Firunsgefällige Gegenden waren das allesamt keine, da unten in den heißen, sonnenverbrannten Südlanden.
Etwas in Grittas Stimme gefiel Tuvok nicht, gerade weil er sie anfangs ganz sympathisch gefunden hatte. Sie klang ein wenig zu schrill. Zu eifernd und verbohrt. Offenbar hatte er es hier nicht mit Wilddieben, sondern “echten” Sokramuriern zu tun. Was es nicht unbedingt besser machte.
Die Graunächte, so nannte manche Anhänger der "Alten Kulte" die Namenlosen Tage, die angeblich den Feen und Alten Göttern heilig waren und gebührend gefeiert werden mussten...Wenn niemand so genau wusste, wann die Lücke zwischen den Jahren begann oder endete, beim letzten Sonnenlicht, beim ersten Praiosstrahl oder um Mitternacht? Dann konnte in den Augen der "Schwarzen Sokramurier" auch niemand mit Bestimmtheit sagen, ob der Jahreswechsel wirklich eine verfluchte, unheilige Zeit war, so nahe am Fest der Sonnenwende. Vor allem nicht, ob diese Zeit dem Dreizehnten schon vor seinem Sturz geweiht gewesen war - oder ob er sie in Wahrheit den "Alten Kulten" nicht einfach gestohlen hatte.
Also feierten manche Halbstarke "vom 31. bis zum 35. Rahja" einfach durch, auf ihre Weise: Nicht, um den Gott ohne Namen anzubeten, sondern um seine Macht auszutreiben. Manchmal nagelte die Meute lebende Gespensterkrähen an Scheunentore, damit deren Schreie das Böse vertreiben würden. Ein andermal vergrub sie lebende schwarze Katzen, verprügelte den Dorfdeppen oder jagte den Kindern mit wilden Verkleidungen Angst ein.
Auch den Erwachsenen spielten die Burschen und Mädel grausame Streiche. So langsam ahnte er, was Perchdans Ebermaske zu bedeuten hatte. Mit Schwarzsokramuriern legte sich kein Bauer ohne Not an. Wenn ihm nicht die Heustadel angezündet oder seine Kühe von der Weide getrieben werden sollten. “Das Böse" war nicht immer das Böse gewesen, sollte das närrische Treiben wohl bedeuten. Sondern ursprünglich ein Teil der ungebändigten Natur. Vielleicht sogar deren wahres Wesen. Bis es vom Namenlosen verdorben worden war.
Nun, Tuvok war kein Freund von Tierquälereien oder grobem Unfug. Aber in der Wildnis hatte "Gut" und "Böse" wirklich nicht dieselbe Bedeutung wie auf dem Marktplatz von Rommilys oder am behaglichen Kaminfeuer von Burg Schlotz.
"Wie kommen wir an den Wachen vorbei?" wollter Harger nun wissen.
"Heute ist Tote Mada", verkündete Gritta. "Regnen wird es wohl auch. Man kann gut am Ufer entlang waten, wo das Wasser nicht sehr tief ist. Wenn wir leise sind, werden sie uns schwerlich bemerken."
"Warum müssen wir die schwere Leiter überhaupt durch die Gegend schleppen?" maulte Perchdan.
"Hab ich ja schon gesagt. Es kann sein, dass einer der Unsrigen aus der Burg fliehen muss... Heute Nacht ist wohl irgendeine kleine Ablenkung geplant. Burchert weiß, was er tut."
"Ja, er schon" Harger grunzte verächtlich. "Nur wir wissen so gut wie nichts. Kleine Ablenkung? Einer von unseren Leuten? Na wunderbar. Ich würde schon gerne wissen, warum ich mir hier die Nacht um die Ohren schlage...und morgen früh vielleicht in Storkos Kerker aufwache? Heißt das, dass wir für jemand den Kopf hinhalten sollen, der wichtiger ist als wir? Was ist mit der Heilung von Sumus Wunde?"
"Sokramur selbst spricht mit Burchert. Manchmal spricht die Schwarze Göttin sogar aus seinem Mund. Das habe ich schon erlebt." Gritta klang nun wie ein trotziges Kind. "Was es heißt und was es nicht heißt, das weiß der Druide allein. Ebenso, wann endlich der große Regen fällt, und den ganzen Schmutz wegspült, von Sumus verschandeltem Antlitz..."
Tuvok wurde hellhörig. Großer Regen, der den Schmutz wegspült? Das hörte sich in seinen Ohren irgendwie nach "Grüner Wolke" an. Der Jäger spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten. Er war Barönlicher Forstwart, im Grunde konnte er jetzt schon die Tarnung abwischen und "Ihr seid verhaftet" rufen.
Er wollte etwas sagen, bekam aber nur ein tiefes Grunzen heraus.
"Ah, bei Ingo wirkt es schon." Perchdan griff nach einem dicken Ast und brach ihn fein säuberlich in der Mitte durch. Dem Geräusch nach war er nicht allzu morsch gewesen. Überhaupt waren Tuvoks Sinne jetzt ungemein geschärft. Dort hörte er das "Schuhu" einer Eule, dort das Knacken eines Rehtritts. Eine ganze Woge von Gerüchen brandete heran, nach feuchter Walderde, Kräutern, Pilzen, Blumen, Moos, Beeren, Rinde...und Aas. Nur mit dem Sehen klappte es nicht mehr ganz so gut. Allerdings war es jetzt endgültig Nacht geworden.
Tuvok fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Seine Gefährten offenbar auch. Sie packten die Leiter und huschten ohne besondere Anstrengung los.
Vorsichtig wateten sie am Ufer des Gernat entlang, im kalten Wasser. Das Gewicht spürten sie kaum, die Leiter schien wirklich federleicht zu sein. Ein paar Enten flatterten mit empörtem Quaken auf, das war alles. Im Dorf schienen sie bereits zu schlafen. Es war wie ein merkwürdiger Rausch, oder ein Traum. Ein Traum, in dem irgendwann Musik zu hören war, von der Burg herab, die durch flackerndes Kerzenlicht und Fackeln in magische Farben getaucht wurde. Stimmengewirr wehte herbei. Dort oben wurde hörbar gefeiert, offenbar mit Forelle und Kaninchenschlegeln, Met und Wein. Aber auch üblere Gerüche lagen in der Luft.
"Riechst du´s?" hörte er halblaut von den Zinnen. "Sind nur Wildschweine. Die schwimmen manchmal durch den Fluss, auf den Weg zu ihren Suhlplätzen."
Sie duckten sich an der steilen Böschung, waren aber vermutlich außer Sichtweite oder im Schatten verborgen. Toter Winkel und Tote Mada, was wollte man mehr.
Die Rotte schleifte ihre Last den Hang hinauf, was doch kräftezehrend war. Im nächsten Moment stand die Leiter schon an der Mauer und wurde vorsichtig eingehakt. Oben war es unangenehm hell, das Durcheinander der Stimmen, der Bardengesang und die Musik beinahe schon peinigend laut. Die Wildschweinnatur erlangte in Tuvok immer mehr die Oberhand. Der Jäger wusste kaum noch, wer er war, geschweige denn, was er hier eigentlich tat. Nur, dass es dort oben vielfältig nach Mensch roch, somit nach Gefahr. Noch irgendetwas anderes, Bedrohlicheres lag in der Luft. Plötzlich begann es zu regnen.
In jäher Panik schwamm er hinaus auf den Gernat, blieb an einer Untiefe stecken, wurde von einem vorbeitreibenden Ast gestreift. Er tastete durch sein Gesicht, überzeugt, dass es bereits von einem Wildschweinrüssel und mächtigen Hauern verunstaltet wurde. Aber dem war nicht der Fall. Tuvok paddelte und trieb durch die Nacht, bis er sich irgendwann in dichtem Schilf wiederfand. Einen Moment lang widerstand er der Versuchung, sich grunzend und quiekend im herrlichen Schlamm zu wälzen.
Es war jetzt stockdunkel. Mit letzter Anstrengung taumelte er ans Ufer, torkelte ein paar Dutzend Schritte durchs Unterholz in den Wald und blieb dann erschöpft liegen. Hexerei, das gerade eben musste Hexenwerk gewesen sein. Der Zauber schien die Wutzenkräfte, die er ihm geliehen hatte, nun wieder mit Zins und Zinseszins zurückzufordern. Tuvok fühlte sich matt und ausgelaugt. Vor allem war er völlig durchnässt. Die Blätter über ihm waren noch immer nass vom Regen, der schwer auf ihn herab tropfte. Also weiter. Feuchter Farn streifte ihm durchs Gesicht, Dornenranken und spitze Äste zerrten an seinem triefenden Jägerwams. Die Stiefel waren vollgesogen mit Wasser, die Sohlen hingen voller Schlammklumpen.
Wenn die Nacht nur nicht so dämonisch finster gewesen wäre. Tuvok hätte nicht einmal mehr sagen können, auf welcher Seite des Flusses er angetrieben worden war.
Ein flackerndes Licht zwischen den Baumstämmen wies dem zitternden Jäger den Weg. Ein Lagerfeuer, ja, das helle Glosen da vorne musste ein Lagerfeuer sein. Firun sei Dank! Rotgelbliche Funken flogen munter in Richtung der wenigen Sterne, die am Nachthimmel zu sehen waren.
Tuvok war erfahren genug, um sich mit klappernden Zähnen anzuschleichen. Drei Gestalten saßen um das wärmende Feuer. Ihre Haut wurde durch die Flammen rot gefärbt. Einer blickte ungefähr in seine Richtung. Einen Moment lang glaubte der Forstwart seine "Gefährten" wiedergefunden zu haben, denn das Gesicht zierten zwei klobige Wildschweinhauer. Perchdan? Nein, es waren keine Menschen, die dort kauerten. Ihr Pelz war schon von Natur aus rot gefärbt.
Tuvok roch den Goblin, der sich gerade von hinten anschlich, mehr, als dass er ihn hörte. Er griff nach seinem Messer, drehte sich in der gleichen Bewegung um. Da traf ihn auch schon ein harter Knüppelhieb an der Schläfe. Die lichtlose Nacht wurde zur vollkommenen Schwärze.
Nacht des 5. Praios, in Burg Gernatsborn
Glyrana stellte ihr Weinglas ab. Das Abendmahl hatte einen unerwarteten Verlauf genommen. Interessant fand sie, was sie über die Häuser Baernfarn und Oppstein erfahren hatte. Sie würde in ihrer nächsten Brieftaube Syrenia berichten müssen. Gerade was man ihr über Oppstein mitgeteilt hatte, passte vielleicht ganz gut zu ihren Plänen bezüglich dieser Baronie. Nun, sie würde eine Weile darüber nachdenken müssen.
Was anschließend für eine Unruhe aufgekommen war, als der Regen eingesetzt hatte… so ganz verstand sie es noch immer nicht. Aber, so dachte sie, sie würde darüber noch einmal mit Haldana reden müssen. Nun, vielleicht nicht mehr am gleichen Abend. Das Mahl war beendet, Die Gäste saßen noch bei einem Glas Wein oder Meth zusammen. Es war vermutlich schon nach der zehnten Stunde, ging auf die elfte Stunde zu. Vielleicht hätten sie an einem anderen Abend länger zusammen gesessen, aber die unruhige und unheimliche Stimmung hatte das Abendmahl kürzer ausfallen lassen. Nach dem Regen hingen noch Wolken am Himmel und schluckten auch das wenige Sternenlicht, das zuvor noch am Nachthimmel zu sehen gewesen war.
Glyrana blickte auf. Jadvige, ihre Ritterin, kam, mit einer Söldnerin im Schlepptau. War das nicht die Armbrustschützin, die dem Praiosgeweihten das Leben gerettet hatte? Was wollte Jadvige? Wenn sie zu so später Stunde noch störte, musste es etwas wichtiges sein.
“Hochgeboren!” grüßte die Ritterin militärisch vor Storko und seiner Gemahlin. Dann berichtete sie, was sie mit der Söldnerin Renia zum Burgherren führte.
Storko nickte. “Ich fasse also zusammen: Diese Armbrustschützin sucht eine Anstellung und kann sich entweder die Pfahlgarde oder die Gallyser Büttel vorstellen. Ist das so richtig? Und, ach ja, sie möchte ihr Können mit einem Wettschießen unter Beweis stellen?”
“Ja” nickte Jadvige. Mit einem Wettschießen gegen Odilon von Baernfarn, dem sein Ruf als guter Schütze vorauseilt. Ich schätze… sie verspricht sich eine besondere Ehre davon, trägt sie den Sieg davon… auch wenn das vorgeschlagene Ziel seltsam anmutet.”
“Nun, interessant” antwortete Storko. “Gute und zuverlässige Bewaffnete kann ich natürlich schon gebrauchen. Ich nehme an, Jadvige, du hast sie auf Herz und Nieren geprüft, wie man so sagt. Aber ich will nicht überstürzen. Und vor allem liegt es auch nicht an mir, zu entscheiden, ob mein geschätzter Gast aus den Gallyser Landen sich auf ein Wettschießen einlässt.”
“Sie hat, wie man hört, den Diener des Praios gerettet.” Odilon nutzte die Gelegenheit, da das Gespräch auf ihn kam, sich einzumischen. “Erzähle sie, wie war das genau?” erkundigte sich der alte Waldläufer weiter.
Alrik ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Er kannte Odilon, hatte mit ihm sogar Seite an Seite auf einer Mission nach Maraskan gefochten. Odilon war nicht für seine Standesdünkel bekannt. Odilons Worte hörten sich ungewöhnlich für ihn an. Er hätte erwartet, dass der alte Gallyser die Söldnerin duzte, aber nicht, dass er in der dritten Person Singular mit ihr sprach. Das war ungewöhnlich. Jemandem anderen, der Odilon nicht so gut kannte, wäre das jedoch nicht aufgefallen, da war Alrik, sich sicher.
“Ach, naja” Yasinthe versuchte, bescheiden zu wirken, in der Annahme, dass sie Odilon damit für sich einnehmen konnte. Ich war auf dem Weg hierher, oder vielmehr war ich ein wenig vom Weg hierher abgekommen. Habe mich irgendwie zwischen Gernatsau und Beorwang ein wenig verlaufen. Von einer Anhöhe aus bemerkte ich eine Bande Rotpelze, die seiner Hochwürden ans Leder wollten. Ihn überfallen. Seine Statuette hatten sie ja geraubt. Firun bi, was soll ich sagen, ich bin den Rotpelzen gefolgt und kam gerade noch rechtzeitig. Na, zum Glück waren die Rotpelze sprichwörtlich feige. Ein paar Schläge von einem unerwarteten Gegner, und sie sind getürmt. Einen habe ich noch erlegen können, mit meinem Zicklein.” Sie hob die Armbrust.
“Gut. Da scheint Seine Gnaden aber Glück gehabt zu haben. Sage sie, wie viele Rotpelze waren es?”
Ein wenig mit ihrer Heldentat glänzen, ohne dabei prahlend zu wirken, das war sicher ein gutes Rezept, um diesen alten Narren von Waldläufer zu umgarnen, dachte Yasinthe.
Auch Alrik war nachdenklich. Wenn Odilon auf so ungewohnte Weise mit der Söldnerin redete, so konnte das bedeuten, dass diese ihm nicht sympathisch war. Vielleicht sogar, dass er ihr misstraute? Das war möglich. Es war denkbar, das Odilon ihm so einen Hinweis geben wollte, den nur er und - vielleicht auch Timoin - verstehen konnten, da nur sie beide den alten Jäger näher kannten.
Mit ein wenig schauspielerischer Leistung fuhr Yasinthe scheinbar zählend über die Finger ihrer behandschuhten Hand. “Fünf. Fünf waren es.”
“Fünf. Gut. Zu zweit gegen fünf ist schon einmal eine Leistung. Hat Sie noch weitere Rotpelze gesehen? Kamen noch Goblins hinzu, zu dem Kampfplatz?” Immerhin stimmte die Anzahl der Rotpelze mit der Anzahl der von ihm und Timoin aufgefundenen Spuren überein.
“Nein.” Yasinthe zuckte, bescheiden wirkend, mit den Schultern.
Odilon hatte genug erfahren. Kein Goblin war der Söldnerin also gefolgt. Das hieß, Renia war gemeinsam mit dem Rotpelz unterwegs gewesen. Odilon war sich jetzt sicher, dass die Armbrusterin log, dass die ganze Geschichte, die sie zum Besten gab, nicht stimmte. Er konnte nicht abschätzen, was tatsächlich vorgefallen war oder vor allem, welche Pläne diese Renia verfolgte. Wenn sie den Kampf genutzt hatte, um die Seiten zu wechseln, vor dem Praioten zu glänzen und sich so einen Zugang in die Burg zu verschaffen? Um mit einem geweihten Fürsprecher eine gut besoldete Anstellung zu erhalten? Nun, das war immerhin möglich.
Aber die Söldnerin hatte gelogen.
“Ich… wäre auf der Suche nach einer Anstellung in einer gut besoldeten Truppe.” bestätigte die Söldnerin Odilons Vermutung. “Die Pfahlgarde hat einen guten Ruf, die Artemareiter ebenso. Daher wollte ich meine Fähigkeiten mit der Armbrust unter Beweis stellen. Herr Odilon, erweist mir die Ehre, gegen Euch schießen zu dürfen.” schmeichelte Yasinthe.
Odilon war unbeeindruckt. Auch das Lächeln, das die Söldnerin aufgesetzt hatte, überzeugte ihn nicht. “Sie muss wissen, ich bin ein alter Mann, Söldnerin. Meine Sehkraft lässt nach, meine Finger sind nicht mehr so ruhig wie früher. Ich weiß nicht, ob es ihr Ehre brächte, mich im Schießen zu besiegen. Auch wenn dem Herrn Firun ein Kräftemessen sicher mitunter gefällig wäre.”
“Eurem Bogen, Herr Odilon, sagt man nach, seine Pfeile träfen von selbst ins Ziel.”
“Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe Bavhano Braith nicht bei mir. Ich war auf einer Firungefälligen Pilgerfahrt, und nach dem firungefälligen Waidwerk darf man hierbei nichts als Axt und Messer mit sich führen. Den Bogen, den ich jetzt dabei habe, habe ich unterwegs selbst geschnitzt. Er ist ganz gut geraten, aber kein Vergleich mit Bavhano Bvaith.”
Yasinthe war ein wenig enttäuscht. Dem alten Jäger seinen Wunderbogen abzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, hätte sie zusätzlich gereizt.
“Wenn mir die Unterbrechung gestattet ist… was unterscheidet Euren Bavhano Braith von einem gewöhnlichen Bogen?” warf Storko interessiert ein.
“Bavhano Braith ist elfischer Machart. Der Unterschied ist, ein menschlicher Bogenbauer sucht nach einem Baum, der gut gewachsen für einen Bogen ist. Ein Elf lässt den Baum so wachsen, dass er perfekt ist. Keine Verästelung, keine ungewünschte Krümmung, keine Verhärtung, kein Schaden durch Käferbefall. Einfach ein Bogen, der aus dem perfekten Holz geschnitzt wurde, der absolut ruhig in der Hand liegt und absolut präzise schwingt.”
Storko nickte.
Yasinthe wurde ungeduldig. Geschichten über dieses Elfenpack interessierten sie nicht. “Ich würde folgenden Wetteinsatz vorschlagen. Treffe ich genauso viele Schüsse wie, Ihr, dann nimmt die Pfahlgarde mich auf. Treffe ich öfters als Ihr, dann werden es die Artemareiter.”
Odilon legte, scheinbar nachdenklich, die Hand an die Wange.
“Hmm, ein Wetteinsatz, den ich leider nicht leisten kann. Die Gardeobfrau der Artemareiter, Rauline Finkenschlag, entscheidet über die Aufnahme neuer Rekruten. Nicht ich. Nein, ich kann ihr keinen Wetteinsatz anbieten, den ich nicht halten kann.
“Nun, sicher, aber Ihr könnt mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen…”
“Ich soll eine zu Fuß kämpfende, korgläubige Armbrusterin für eine berittene, firungläubige Truppe mit Reiterbögen empfehlen? Nein.” Odilons Tonfall hatte etwas Endgültiges.
Wäre Yasinthe tatsächlich interessiert daran, den Armemareitern anzugehören, sie wäre jetzt enttäuscht. Aber sie wollte nur eine plausible Möglichkeit bekommen, ein paar Bolzen über die Mauer zu schießen. Sie musste den alten Waldläufer dazu bringen, auf das Wettschießen einzugehen, auch wenn der Alte wohl etwas verstockt schien. Von den Artemareitern und ihrem guten Ruf hatte sie nur gesprochen, um damit dem alten Gallyser zu schmeicheln.
“Gut, die Pfahlgarde ist mir auch recht. Die hat einen sehr guten Ruf, auch wenn sie noch nicht so lange besteht wie die Artemareiter.”
“Den hat sie tatsächlich. Und ich bin bestrebt, dass das auch immer so bleibt.” bestätigte Storko.
“Und dann soll ich, alter Mann, mit meinen schwächer werdenden Augen auf eine Weide schießen, die ich in der Finsternis noch nicht einmal sehen kann? Das wäre reiner Zufall, wenn ich etwas treffe.” Odilon blieb zögerlich. Natürlich hatte er sich schlechter dargestellt, als er war. Anders als beim Schwertkampf, bei dem ihm inzwischen die Reaktionsschnelligkeit und Kraft von einst ein Stück weit fehlte, hatte er in Sachen Treffsicherheit das gleiche scharfe Auge und die gleiche ruhige Hand wie früher. Aber das musste die Söldnerin ja nicht wissen. Was wollte diese Renia wirklich? Ihm kam das alles so absonderlich vor, dass er schon alleine deswegen nicht wirklich Lust hatte, sich auf ein Wettschießen einzulassen. Außerdem kannte er doch genug Tricks, mit denen bei den Korjüngern geschummelt wurde. Wenn es diese Renia von Anfang an vorgehabt hatte, irgendjemanden auf der Burg zu einem Schützenwettstreit zu fordern und dabei ein so ungewöhnliches Ziel vorschlug… wer sagte dann, dass die Söldnerin nicht zuvor einige Bolzen in die Weide geschossen hatte und jetzt einfach nur ihr Schüsse im Gernat versenken musste, um dennoch zu gewinnen? Irgendwie schien es ihm, als könnte Renia so etwas im Sinn haben.
“Wenn ihr ein Sieg bei einem Schützenwettstreit zur Ehre gereichen soll, dann sollten wir das unter Wettkampfbedingungen austragen. Meinetwegen morgen, bei Tageslicht. Wenn Junker Storko damit einverstanden ist. Es lässt sich bestimmt eine Schießbahn einrichten und eine Strohscheibe aufstellen. Aber jetzt aufs Geratewohl in die Dunkelheit zu schießen, das ist doch kein firungefälliger Schützenwettstreit. Dass ich da nicht treffe liegt auf der Hand, und somit wäre es kein Gewinn an Ehre für sie.”
Odilon dachte mehr darüber nach, was diese Renia denn tatsächlich wollte? In die Pfahlgarde aufgenommen werden? Ihre Treffsicherheit konnte sie auch so unter Beweis stellen, ohne ihn zu fordern. Und warum hatte sie so ein völlig ungeeignetes Ziel vorgeschlagen? Entweder, weil die Weide manipuliert war, oder, weil sie etwas völlig anderes plante, und jetzt eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver unternahm. Odilon konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er hatte sich nur dafür entschieden, einen Wettstreit nicht zu den Bedingungen, die Renia vorschlug, anzunehmen.
„Nun gut.“ beschied Storko mit einem Nicken. „Morgen bei Tageslicht. Das scheint auch mir tatsächlich der bessere Zeitpunkt für einen Schützenwettstreit. Dann können wir alle gemeinsam den Kontrahenten zusehen, auch die, die jetzt schon in ihre Schlaflager gegangen sind. Und die Pfahlgardisten, denen sie als Kamerad bald angehören will, können gleich ihre Fertigkeit bewundern. Es soll mir recht sein. Eines nur, Renia, muss sie wissen. Ich biete keinen Wetteinsatz an. Es mag ihr zur Ehre gereichen, wenn Sie gegen einen Schützen wie Odilon im Zweikampf besteht. Und Treffsicherheit ist tatsächlich eine der Fertigkeiten, die ich von meinen Pfahlgardisten erwarte. Allerdings nicht die einzige Fertigkeit. Insofern hat ihr Talent, das Sie uns morgen unter Beweis stellt, sicher Gewicht. Aber ich gebe ihr hier und jetzt kein Versprechen ab. Wenn ihr das genügt, dann freue ich mich, morgen zur Zehnten Stunde einen Wettkampf zu sehen.”
Yasinthe blieb nichts anderes übrig, als freundlich zu nicken und zuzustimmen, wollte sie ihre Tarnung nicht gefährden. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als auf morgen zu warten. Da sie ihre Armbrust mit den Bolzen auch erst dann wieder bekäme – sie würde ja jetzt im Gasthaus übernachten – blieb ihr keine andere Wahl. Sie konnte nur hoffen, dass niemand das Schächtelchen mit den Bolzen öffnete und den Ring fand.
Ismena von Oppstein stand auf und gähnte dezent hinter ihrem Fächer. "Aah, es ist spät geworden. Der Ritt durch den Wutzenwald war lang...Entschuldigt, werter Storko, werte Glyrana. Ich werde mich nun zurückziehen." Alborans Mutter strich ihr Festtagsgewand glatt und blickte in die Runde.
Sollte sie Adran warnen, vor der Intrige, die sich gerade in Rommilys (oder der Vorsichel) gegen ihn anzubahnen schien? Andererseits war sie auch vor solchen Ränken und Machtspielen ins Horasreich geflohen. Der Sohn Wisshards hatte die Saat der Zwietracht in die Familie getragen, in dem Moment, als er die Hochzeitsfeier seines Onkels gesprengt hatte. Ein gemeinsamer Erbe mit dem Herzogenhaus Berlinghân hätte der Baronie reiche Früchte gebracht. Statt diesen erstklassigen Traviabund zu nutzen, hatte sich der Oppsteiner Adel seit Adrans Rückkehr in tödlichem Hass bekriegt. Nur um mit ihm und Thahira zwei darpatische Landeier auf den Drachenthron zu hieven. Die Oppsteinerin merkte, dass sie noch einen großen Schluck Wein im Kelch hatte und trank aus. In diesem Moment fiel ihr ein alter Flüsterwitz ein: "Was ist unter Baron Adran nur aus Oppstein geworden? Ein Zwerch!" Mittlerweile war Thahira von Birkenbruch nicht einmal mehr Zwercher Landvögtin und ihre Familie bei Erlaucht Svantje in Ungnade gefallen. Die Gefahr war real, dass die brechende Birke auch die Oppsteiner Ähren zerdrücken würde.
"Eigentlich sind wir ja hier, um Alborans und Haldanas Verlobung bekannt zu geben, vor Zeugen", sagte Ismena freundlich. "Ich denke, der Heilige Hain der Jungen Göttin wäre dafür ein guter Ort. Morgen, wenn wir alle erfrischt und ausgeruht sind...Die Hochzeit darf dann gerne im Namen der Travia stattfinden", fügte sie hinzu, als sie Adginnas säuerliche Miene bemerkte.
Yasinthe spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg, obwohl oder gerade weil sie von der noblen Tischrunde schon wieder wie Luft behandelt wurde. Ismena war auf dem Weg ins Schlafgemach? Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar würde die Oppsteinerin vor dem Zubettgehen noch einmal nach dem Ring schauen.
"Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag!" Storko erhob sich galant, neben seinem prachtvollen Federbarett, das auf dem Tisch lag. Im arangefarbenen Kerzenlicht sah der Wehrvogt aus, als wäre er einem horasischen Prachtgemälde entsprungen. Auch mit seiner Gemahlin Glyrana schien es in den letzten Jahren stetig bergauf gegangen zu sein. Kaum zu glauben, dass der stolze Landjunker (Wehrvogt, Edler...) der gleiche Storko sein sollte, den ihre Schergen damals triefend nass aus der Grotte der Ersäuferin herbeigezerrt hatten: halb ertrunken, blutig geschlagen und besinnungslos. Bei Storko war die Gefahr gering, dass er sie hier und jetzt wieder erkennen würde.
"Frau Junkerin" wirkte derweil völlig geistesabwesend unter ihrer schwarzen Fransenfrisur. Wie damals, als die Mersingen überreichlich vom "Dunklen Trost" gekostet hatte. Auch bei Glyrana war es unwahrscheinlich, dass sie sich an Einzelheiten erinnern konnte. Die Dienerin des Dreizehnten hatte in weiser Voraussicht eine purpurne Maske getragen. Das blaublütige Opfertier von einst hatte sich gut gehalten, musste Yasinthe Dengstein zugeben, trotz des namenlosen Rauschmittels und der vielen Schwangerschaften.
Ein Gurren lenkte Yasinthe ab. Waren das Tauben? Ja, irgendwo in der Nähe waren Tauben untergebracht, die irritiert waren ob der späten Störung. Dort drüben lag sogar eine kleine weiße Flaumfeder. Opfertiere unter sich...
Die Gesichter der meisten Adeligen wandten sich Ismena zu, die gerade mit ihren rot-goldenen Fächer in die Luft schlug. Das galt einer der Stechmücken, die, angelockt vom Licht, aus der Flussaue heranschwirrten.
Was hatte sie, die ysilische Unfreientochter, erwartet? Auf dem Söller saß das übliche, arrogante, schnöselige Adelspack, wie sie es aus Tobrien und Darpatien zur Genüge kannte. Erst durch die Rückkehr des Bethaniers hatten die Blasshäutigen ein wenig von dem Ungemach erlitten, wie es sonst nur dem gemeinen Volk widerfuhr. Dessen Haut von Praios braun und bäurisch gefärbt wurde, bei der täglichen Plackerei, wie bei einem Brandmal. Nur der Herrscher der Herrscher behandelte alle Sterblichen gleich. ER unterschied die Menschen nicht nach adelig oder gemein, frei oder unfrei, arm oder reich, schön oder häßlich, wie all diese selbstgerechten Heuchler in ihren Burgen, Kontoren und Tempeln.
Yasinthe wollte gar nicht wissen, wie viele Frondienste und Abgaben allein dieser Protzbau dem Volk gekostet hatte. Geprasst und gebechert hatten die "von und zus" auch schon reichlich, wie die glasigen Blicke und roten Wangen verrieten. Storko verabschiedete die Jungfer formvollendet, mit angedeutetem Handkuss.
Die dahergelaufene Armbrusterin schien fast schon wieder vergessen zu sein. Nur ein junger Jägersbursche, der wohl der "Gehilfe" dieses Odilon war, musterte die Tobrierin ausgiebig. Aus irgendeinem Grund hatten es ihm Yasinthes Nagelschuhe besonders angetan. Der dunkelgelockte Jüngling schaute fragend (und ein wenig verständnislos) zu Odilon. "Sollten wir nicht...", begann der junge Mann, aber eine kaum merkliche Geste des Schwarzen Bären hieß ihn schweigen. Dort drüben, das mussten Alboran und Haldana sein. Golos Sohn versuchte mit seiner Verlobten zu turteln, aber die Schlotzerin schien nicht recht in Stimmung zu sein. Eine hübsche junge Frau, die im Halbschatten saß, war Yasinthe vollkommen unbekannt. Der Barde, der gerade pausierte und einen Becher Wein genoss, hatte tatsächlich ein Hackbrett dabei. Baron Alrik stand derweil an der Brüstung und stopfte sich seine Pfeife.
Praiodîn Xerber blickte als einziger wohlwollend in Yasinthes Richtung. Die Wirkung des "Trosts" schien bei ihren Wegbegleiter schon etwas nachgelassen zu haben. Damit waren sicher auch die Schmerzen zurückgekehrt. Ächzend schob der Lichtbringer sein verwundetes Bein hin und her. "Ich glaube, ich werde mich demnächst ebenfalls zurückziehen, zum Nachtgebet...die Heilige Praiociosa ist in Sicherheit?"
"Euer Gnaden, ich habe sie auf Euer Zimmer gebracht. Ganz, wie Ihr es angeordnet habt." Yasinthe verbeugte sich und achtete darauf, dass es die übrigen mitbekamen.
Ismena klappte ihren Fächer zusammen und entschwebte ins Haupthaus. Wieviel Vorsprung würde sie der Ysilierin geben? Die Dauer von ein paar "Praiosunsern" oder die ganze Nacht?
Odilon wandte sich wieder seiner Herausforderin zu. "Sie möge verzeihen, wir waren gerade etwas abgelenkt" sagte der alte Waldläufer mit bemühter Höflichkeit, die keinerlei Zweifel an der Rangfolge ließ. Oder an seinem Erstaunen, dass die Söldnerin noch immer auf der Terrasse weilte. "Sie ist also bereit für ein kleines Wettschießen. Morgen, bei Tageslicht...?"
"Es ist mir wirklich eine übergroße Ehre, Herr Odilon, gegen einen Meisterschützen wie Euch antreten zu dürfen. Auch wenn meine Dienste in Gallys nicht benötigt werden, wäre mir das Lohn genug. Aber die edlen Herren und Damen müssen mich ja nun für eine üble Prahlerin und Aufschneiderin halten, was das Nachtschießen betrifft. Eigentlich wollte ich Herrn Storko beweisen, dass ich über besondere Fähigkeiten verfüge, als seine künftige Gardistin. Dazu zählt auch die Kunst des Armbrustschießens bei vollkommener Dunkelheit."
Jadvige runzelte die Stirn. Sie hätte sich auf diesen Unsinn gar nicht erst einlassen dürfen. Was für eine peinliche Situation, auch für sie selbst. "Ist gut jetzt", sagte sie leise. "Du hast es gehört, die Herrschaften sind müde. Morgen, da kannst du dich nach Herzenslust blamieren."
"Nun. Mich würde schon interessieren, ob die Söldnerin eine würdige Gegnerin für unseren Odilon ist. Bevor wir vielleicht morgen unsere Zeit verschwenden. "
Alrik Tsalind von Friedwang hatte diese Worte gesprochen. Der Baron drehte sich halb um und musterte die Tobrierin aus seinem unverdeckten Auge. "So ein kleines Gauklerkunststückchen, warum denn eigentlich nicht, lieber Storko? Wenn mein Sohn demnächst Hochzeit feiert, vielleicht sogar auf dieser Burg.... Womöglich kann dann deine künftige Nachtwächterin... Frau äh..." Der Friedwanger deutete mit der Pfeife auf seine Gegenüber.
"Renia...Renia Hagewisch..."
Der spitzbärtige Baron ging zu einer Kerze und nutzte sie, um die Fuchskopf-Pfeife anzuzünden. Dann paffte er erst einmal ausgiebig. Kleine Nachtfalter flatterten aufgeregt im unsteten Licht und warfen merkwürdige Schatten auf den Stoff des Baldachins.
"Womöglich vermag Frau Hagewisch unsere Gäste dann mit einer kleinen Vorführung zu erheitern. In dieser benbukkulischen Finsternis stelle ich es mir schwer vor, auch nur das Burgtor zu treffen. Aber einen Baum, auf der anderen Seite des Gernat? Man lernt nie aus. Vielleicht erfährt selbst ein alter Nachtfuchs wie ich heute Abend noch etwas Neues."
Alriks Boltangesicht irritierte Yasinthe beinahe mehr als Odilons offene Zurückweisung. Alrik, der Lügenbaron. Dass es sich bei dem ergrauten Freiherren von Friedwang um einen Mondschatten handelte, war längst ein offenes Geheimnis. Als mehr oder weniger enttarnter Phexgeweihter würde er sich nicht mehr lange auf dem Steinbockthron halten können. Auch wenn der Abschied Seiner (gar nicht mal so) Hochgeboren sicher nebulös sein würde, wie es die Umstände seiner Machterschleichung gewesen waren. Gefiel "Alrik Tsalind von Friedwang" die Herausforderung des Schwarzen Bären, weil er selbst nur ein frecher Eindringling in der Welt des Adels war?
"Selemische Finsternis", sagte Yasinthe. "Halten zu Gnaden, aber es heißt selemische Finsternis. Selemische Finsternis - und benbukkulisches Durcheinander."
Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, versuchten sich mit Blicken abzuschätzen. Alrik lächelte, was vielleicht auch nur an der Pfeife in seinem Mundwinkel lag.
Ein schwarzer Schatten flatterte lautlos vorbei, wie ein übergroßer Schmetterling. Eine Fledermaus. War das nun ein Zeichen des Allerhöchsten? Oder des Heimlichen, dem der Fuchs von Friedwang diente?
"Wenn du es sagst. Wir sind gespannt, wie hoffentlich gleich deine Armbrust." Der Friedwanger vollführte eine einladende Geste. Auch Storko nickte, ein wenig überrumpelt.
Yasinthe deutete erneut eine Verbeugung an, als wäre sie eine Scharlatanin auf dem Marktplatz von Rommilys und trat gemessenen Schrittes an die Brüstung.
"Als erstes müssen sich die Augen des Schützen an die Dunkelheit gewöhnen. Löscht bitte die Kerzen."
"Aber wir haben sie doch gerade erst wieder angezündet..." Der Wehrvogt schüttelte unwirsch, aber auch misstrauisch, den Kopf. Dann erschlug er eine aufdringliche Mücke an seinem Hals.
"Es müssen ja nicht alle sein." Yasinthe ließ den Mahlstrom ihrer Stimme wirken. Wenn sie etwas meisterlich beherrschte, dann nicht das Armbrustschießen. Sondern die Kunst, Menschen mittels namenloser Einflüsterung in ihren Bann zu ziehen. ER war heute Nacht auf dieser Burg anwesend, das konnte sie beinahe körperlich spüren.
Alrik behielt die Söldnerin genau im Auge. "Aber nicht, dass du dir jetzt im Dunklen heimlich Carlogblüten einwirfst oder dergleichen."
"Nicht doch. Ich gebe zu, dass ich eine hervorragende Nachtsicht habe. Aber das Kunststück hat wirklich nichts mit Wundermittelchen zu tun." Yasinthe stemmte die Waffe gegen ihren Unterleib und zog mit leisem Ächzen die Sehne das Brett hinauf über die Nuss.
Dann zeigte sie mit der behandschuhten Rechten auf einen der wenigen sichtbaren, matt funkelnden Sterne. "Das da ist der unverrückbare Losstern. Der bekanntlich anzeigt, wo Norden ist. Wir blicken also gerade Richtung Nordosten. Der kleine rote Wandelstern daneben ist übrigens Kor. Der Nordstern hat schon am Himmel geleuchtet, als die Weide noch zu sehen war. Ich habe mir seine Position im Vergleich zum Ziel genau eingeprägt, mit Hilfe des Armbrustbogens." Yasinthe kippte ihre Waffe ein wenig hin und her, als wolle sie damit Winkel und Abstände messen.
"Wahrlich. Der Sternenhimmel beweist uns, dass Praios Ordnung und Ebenmaß selbst in der Nacht über unsere Welt herrscht." Praiodîn lehnte sich zurück und vergaß für einen Moment seine Schmerzen (die er zuletzt mit einigen Schlucken Wein gedämpft hatte). Seine Gnaden schüttete aus einem Gürteltäschchen ein paar Praiosblumenkerne in die Handfläche und begann sie aufgeregt zu kauen.
Alrik lächelte füchsisch, erwiderte aber nichts.
"Ich werde fünf Bolzen abschießen", sagte Yasinthe. "Ich wette, dass mindestens drei davon treffen werden."
"Nun gut, es sind deine Pfeile". Das kam von Storko. Eigentlich war ihm die kleine Abrundung des Abends ganz recht. So würde sich die Tischgesellschaft nicht endlos hinziehen, nach der merkwürdigen Verstimmung durch den Windstoß.
Einer der Diener eilte mit einem Löschhütchen herbei und stülpte es nach und nach über die brennenden Dochte. Wenige Momente später vermischte sich der Geruch von Kerzenrauch mit dem Duft von Alriks Tabaksmischung.
Es wurde dunkler und dunkler auf dem Söller, bis nur noch eine Handvoll Kerzen leuchteten.
"Purpurzunge" kicherte in Yasinthes Kopf.
Sehr gut. Gerade eben habe ich ihnen die Lichtlein ausgeblasen. Nun sorgen sie bereits selbst für die Finsternis. Manche Menschen muss man gar nicht zum Glauben an den All-Einen bekehren. Nur dafür sorgen, dass sie das Namenlose in sich selbst wecken. Wer braucht schon das Licht, das uns blendet und davon abhält, die Welt so zu sehen, wie sie am Anbeginn der Zeit war. Ein Ort vollkommener Schwärze. Erst die Sterblichen verschmutzen sie mit ihrem Licht, mit ihren Fackeln, Öllampen, Spieglein und Kerzen. Was hat der alte Merwan geflucht, über all die neumodischen Straßenlaternen in Gareth und Rommilys. S i e m a c h e n j e t z t d i e N a c h t z u m T a g, hat er gejammert.
Yasinthe stand an der Brüstung und wartete darauf, dass sich ihre Augen nach und nach an die Dunkelheit gewöhnen würden. Aber die Finsternis wich nicht wirklich. Da war nur eine vage Ahnung, von etwas Feuchtem, Kühlen da draußen, inmitten der leicht schwülwarmen Sommernacht. Das musste der Gernat sein, auch wenn kein Glitzern zu sehen war und kein einziges Wellengekräusel. Es roch modrig. Linkerhand glaubte sie gedämpft das Quaken von Fröschen zu hören, ebenso das "Schuhu" einer Eule. Nur wenige Sterne blinkten am Himmel, der immer noch bewölkt zu sein schien. Auch wenn die Söldnerin nie ernsthaft vorgehabt hatte, bei diesem "Kunstschießen" zu glänzen, hätte sie sich die Bedingungen doch leichter vorgestellt. Da draußen war einfach nichts Greifbares. Nur Tintenschwärze, als hätte sich die lichtlose Sternenbresche bereits über das gesamte Firmament ausgebreitet. Vielleicht hätte ihr der Stahlbogen der Armbrust wirklich beim "Vermessen" des Himmels geholfen – aber selbst den sah sie kaum.
Ihre Hand glitt in den Köcher, tastete über die Bolzen und deren Spitzen. Am Bolzen mit Lanzettspitze, der als Harnischbrecher gedacht war, erspürte sie den Feenring.
Jeden Augenblick konnte Ismena auftauchen, und sie wütend des Diebstahls bezichtigen.
Yasinthe lud dennoch völlig entspannt ihre Armbrust und zielte ins Nichts. Eine Weile schien sie sich zu konzentrieren, vollkommen eins zu werden mit ihrer Waffe.
Ohne Vorwarnung stand Jadvige neben ihr und griff nach dem Bolzen. Die Dienstritterin hielt das Geschoss ins verbliebene Kerzenlicht: ein schmuckloser, dickleibiger Pfeil mit zwei Holzflügelchen. Die Adelige schien eine Art Freipfeil erwartet zu haben, eine dämonisch verfluchte (und verunzierte) Waffe aus der Blutkerbe. Zumindest blickte sie enttäuscht.
Yasinthe versicherte sich, dass der Ring sicher in der Gürteltasche lag, wo sie ihn heimlich hinein gesteckt hatte. Gleich neben den toten Flöhen der echten Söldnerin, die wie ihre Wirtin der namenlosen Kälte zum Opfer gefallen waren. Yasinthe hatte sie alle eingesammelt, vielleicht aus schwarzpurpurnem Humor, vielleicht als eine Art Trophäe. Für tote Gegner empfand sie nicht mehr als für zertretenes Ungeziefer.
"Ihr gestattet?" Die Tobrierin nahm den Bolzen wieder an sich und legte ihn auf. Dann trat sie erneut an die Brüstung. Mit dünnem Lächeln blickte sie zu der Leiter, die von außen gegen die Mauer des Söllers lehnte. Sie vermutete, dass mit deren Hilfe die Rüstlöcher geschlossen werden sollten, an denen das Baugerüst verankert worden war. Vermutlich war die Leiter schlichtweg vergessen worden. ER war in dieser Burg bei ihr, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Fast war es, als könne sie ein zweites Mal hören, was Purpurzunge zu ihr gesagt hatte, mit ruhiger, fast schon einschmeichelnder Stimme. Kurz bevor sie den Ring vom Bolzen gezogen hatte.
Die alten Aarmarier haben geglaubt, dass eine verirrte Seele, die weder den Weg in die Niederhöllen noch in eines der zwölfgöttlichen Paradiese findet, eine Weile im Feenfeuer zubringen muss. Ein Zwischenzustand, in dem für dieses Seelchen sowohl noch der Aufstieg gen Alveran als auch der endgültige Absturz ins Reich der Erzdämonen möglich ist. Nun, gewissermaßen befindest du dich jetzt in diesem reinigenden Feenfeuer, Yasinthe. Bei einem Erfolg erwartet dich das Paradies des Dreizehnten auf Dere. Oder aber, bei einem erneuten Misserfolg, ein klägliches Ende als formlose Masse im endlosen, grauen Wabern des Limbus. Dein Versagen, damals auf der Insel, hat Jene überaus bekümmert, die bereit sind, dem Höchsten aller Herrscher weit mehr zu opfern als nur einen klitzekleinen Finger. Immerhin, die niederen Aufträge, die du in den letzten Jahren ausführen durftest, hast du zu ihrer Zufriedenheit erfüllt. Sie sind daher bereit, dir eine Möglichkeit zur vollen Rehabilitation zu geben. Verzeih, dass wir dich nicht früher über deinen wahren Auftrag informiert haben. Oder besser gesagt, deinen vollständigen Auftrag. Sie waren der Meinung, dass dieser Teil der Wahrheit dich zu sehr beunruhigen und damit deine Tarnung gefährden würde. Nun, um ehrlich zu sein: Sie waren besorgt, dass dir auch diesem Fall dein Überleben wichtiger sein würde als der Erfolg deiner Mission. Ich habe mir erlaubt, ihnen in diesem Punkt zu widersprechen. Die wahre Ratte ist schlau genug, sich stets einen Fluchtweg offen zu halten. Du wirst nun g e n a u d a s tun, was ich dir sage. Dann wirst du diese Nacht vielleicht überstehen..."
Yasinthe verspürte tiefes, inniges Glück. Zum ersten Mal seit langem war sie wieder mit sich und der Welt im Reinen. Es gab für sie also einen Weg zur Erlösung. ER war der Größte aller Götter.
Mit hasserfüllten Lächeln drehte sich die Söldnerin um, die Armbrust schussbereit erhoben, in einer Entfernung, in der sie ihr Ziel unmöglich verfehlen konnte.
"Tod allen Dienern der Tsa!" schrie die Ysilierin, eine Spur zu schrill. "Stirb, Mersinger Metzweib!"
Dann drückte sie ab.
Satinav, dessen Blick nicht an den natürlichen Fluss der Zeit gebunden ist, bot sich nun ein faszinierendes Schauspiel. Yasinthe betätigte den Abzug, der gerade noch den Rollverschluss der Armbrust blockiert hatte. Die Nuss rotierte und gab die Sehne frei, die wiederum den Bolzen mit Urgewalt auf sein Ziel katapultierte.
Glyranas Gesichtsausdruck hätte, in diesem Moment vollkommenen Erkennens, jedem cyclopäischen Bildhauer eine reizvolle Aufgabe gestellt. Dem Mund der Mersingerin entrang sich noch ein wilder Schrei, als auch schon der Mechanismus der Armbrust krachte.
Jadvige erkannte fast im gleichen Augenblick ihre eigene, unbegreifliche Torheit. Wie hatte sie nur in eine derart offenkundige Falle taumeln können? Die Ritterin warf sich in die Schussbahn, beide Hände erhoben, bereit, den tödlichen Bolzen abzufangen, der ihrer Herrin galt.
In diesem Bruchteil eines Herzschlags zerbrach der frostgeschädigte Stahlbogen in zwei Stücke. Der rechte Wurfarm wurde an der Sehne herumgeschleudert wie ein kleiner Morgenstern – ein Anblick, der einen Satinavschen Beobachter vielleicht auch an den Stachelschweif eines Mantikors erinnert hätte. Fast gleichzeitig bohrte sich ein silberner Wurfstern in Yasinthes Linke, die den Drücker betätigt hatte. Schmerzerfüllt öffnete die Geweihte beide Hände. Das davonfliegende Trümmerstück des Bogens zerschnitt das Leder über dem Stummel, der einmal ihr rechter kleiner Finger gewesen war.
Der Bolzen selbst hatte noch genügend Kraft, um auf dem Weg zu seinem Opfer eine völlig unbeteiligte kleine Gernatmücke zu erschlagen, zwei Nachtfalter ins Trudeln zu bringen und blutig durch die Narbe auf Jadviges linker Wange zu ritzen, als wolle er der Dienstritterin das Ogerkreuz ins Gesicht zeichnen. Mit Wucht schwirrte das nadelspitze Geschoss aufs Glyranas Stirn zu, schlug einen Fingerbreit daneben in die Lehne ihres Stuhls und durchtrennte dabei eine Strähne ihres wunderschönen, rabenschwarzen Haares.
Der abgebrochene Wurfarm schwirrte im gleichen Augenblick in die andere Richtung davon, durchsäbelte eine Kerze und warf einen der hölzernen Ständer um, die den Baldachin über der Terrasse stützten.
Der Himmel stürzte ein, so schien es zumindest.
Noch schneller als Jadvige, die sich die Hand erschrocken an die blutige Wange hielt, reagierte die junge Schlotzer Baronin. Das mochte einem Beobachter, so er ebenso unabhängig von der Zeit die rasch aufeinander folgenden Ereignisse wie unter einem Brennglas gleich vergrößert betrachten konnte, überraschen. Es mochte schlicht sein, dass Haldana, nachdem sie erneut von Golo heimgesucht worden war, besonders vorsichtig und angespannt war. Obwohl sie unbewaffnet war - wie alle, außer Jadvige, stürzte sie mit drei, vier schnellen Schritten auf die Attentäterin zu und hechtete nach dieser, während sich diese ihrerseits gerade über die Zinnen auf die noch nicht entfernte Bauleiter schwingen wollte. Sie bekam die Meuchlerin um die Hüften zu fassen, so dass diese einen Augenblick taumelte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Die Armbrust – ohnehin jetzt eine wertlose Waffe, glitt Yasinthe aus den Händen. Stattdessen griff sie nach der Sacktasche mit ihren Habseligkeiten, den sie immer noch über der Schulter trug – sie hatte ja noch vor wenigen Minuten sich darauf eingestellt, in das Gasthaus zu gehen – und zog ihn der Baronin mit einer Urgewalt über die linke, kahl rasierte Kopfhälfte.
Mehr als deutlich war nicht nur der dumpfe Aufschlag auf dem Schädel der Bardin zu hören, sondern auch ein schauriges Klirren wie von einer eingeworfenen Butzenglasscheibe.
Ein lautes, schrilles, hexenhaftes Kreischen gellte durch die Nacht. Ein trommelfellzerreißender, kreischender und langgezogener Schrei durchbrach die Stille. Ein Schrei, dessen Laut schwer zu verstehen war, und bei dem alle Anwesenden sich später nicht einigen konnten, ob „Frei!“ oder „Nein!“ gebrüllt worden war.
Einen Augenblick lang brauchte Haldana, um wieder zu sich zu kommen. Blut strömte ihr über die kahle Kopfhaut. Einen langen Augenblick, den Jadvige dazu nutzte, ihr Schwert zu ziehen und zur Mauer zu eilen. Einen Augenblick, den Yasinthe dazu nutzte, ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen und erneut zur Leiter zu hasten. Einen Augenblick, in dem Alboran erschrocken „Haldana!“ ausrief und der verletzten Freundin zu Hilfe eilen wollte. Einen Augenblick, in dem Storko aufsprang und sich mangels Schwert mit einem schweren Kerzenständer aus Messing bewaffnete, während Glyrana lautstark nach der Burgwache rief, einen Dolch unter dem Kleid hervor holte und beschloss, noch am gleichen Abend eine Brieftaube nach Gernatsquell zu schicken, um das benachbarte Gut vor namenlosen Umtrieben zu warnen, jedoch gemeinsam mit der Schlotzer Vögtin Adginna vorsichtshalber hinter einem schweren Lehnstuhl in Deckung ging und - bevor der schwere Leinenstoff des einstürzenden Baldachins Storko und die beiden Frauen unter sich begrub.
Einen Augenblick, in dem Timoin sich einen am Boden liegenden Stein aufhob und nach der flüchtenden Attentäterin warf, obwohl er sich fragte, wieso jemand, der noch am gleichen Tag einem Geweihten des Praios das Leben gerettet hatte, plötzlich zum hinterhältigen Meuchler mutieren konnte, während der Stein mit einem dumpfen Plopp der Meuchlerin ins Gesicht schlug.
Einen Augenblick, in dem als Letzter von allen Odilon reagierte. Das mochte überraschen, angesichts des Misstrauens, das er als einziger gegen die Armbrusterin gehegt hatte. Aber er war im Augenblick, da Yasinthe sich umgedreht und auf Glyrana angelegt hatte, abgelenkt. Vielleicht gerade wegen des Misstrauens, das er gegen die vermeintliche Renia gehegt hatte. Er hatte sich mit dem Gedanken beschäftigt, warum die Schützin das rötliche Gestirn neben dem Losstern, den er wie alle Jäger Firunsstern nannte, fälschlich als den Wandelstern Kor benannt hatte. Dabei war es doch eher eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Wandelsterne sich entlang der Ekliptik bewegten und niemals auch nur in die Nähe des Firunsternes kamen. Als Söldnerin, wenn diese Renia auch nur halbwegs wildniskundig war - und das war eigentlich anzunehmen – hätte sie das wissen müssen. Warum, so fragte sich Odilon, gab die Armbrusterin dann einen solchen Mumpitz von sich? Und, was für ein rötliches Gestirn, der kein Fixstern war, da er eben erst an diesem Abend am nächtlichen Himmel sichtbar geworden war. Dies konnte doch nur ein unbekannter Komet am Himmel sein, dachte Odilon. Hoffentlich keiner, der Unheil bringt. Oder hatte er genau das schon getan?
Und noch vier Dinge geschahen in diesem von Satinav ausgedehnten Augenblick. Als erstes fiel eine kaputte Armbrust zu Boden. Als zweites schlug eine Sacktasche auf den Mauersteinen der Burgmauer auf, öffnete sich, und ließ Scherben eines zerbrochenen Spiegels auf den Wehrgang fallen. Als drittes trallerte ein zu Boden gefallener Schneidezahn Yasinthes, ausgeschlagen durch den von Timoin geworfenen Stein, umher, und kam schließlich zum Liegen. Und als viertes fiel ein Ledertäschchen, das durch Haldanas Angriff vom Gürtel der Söldnerin gerissen worden war, über die Mauer der Burg in die Tiefe, öffnete sich im Fallen und gab einen Ring frei, der auf dem grasigen, teils auch steinigen Untergrund vor der Burgmauer aufschlug und in Richtung des Flusses davon kullerte.
Yasinthe sprang, am unteren Ende der Leiter angekommen, in den Gernat und verschwand mit der Strömung in der finsterschwarzen Nacht.