12. Kapitel - Das Bündnis mit dem Wutzenwald

12. Kapitel

Das Bündnis mit dem Wutzenwald



Im Wutzenwald nahe Gernatsborn, Nachmittag des 6. Praios 1043
Odilons Kriegspfad führte zunächst hangabwärts, zum Erstaunen seines Gehilfen. Der alte Waldläufer musste aufpassen, im Schlamm nicht abzurutschen. Immer wieder suchte sein Blick den Himmel ab, aber außer sturmgepeitschten Baumwipfeln und fein geäderten Blitzen war nichts mehr von der Hexe zu entdecken. Der Schwarze Bär schlug sich seitlich in die Büsche. Timoin verstand: Er wollte die Besenreiterin, vielleicht auch den Druiden oben auf der Anhöhe irreführen.
Sie kämpften sich durch ein kleines Nadelwäldchen wieder nach oben, wobei der Orkan ihr eigentlicher Gegner war. Kleine Sturzbäche flossen herab, die Tannen und Fichten wogen wie ein Kornfeld hin und her. Bäumchen brachen entzwei wie Schwefelhölzer. Dennoch musste Timoin zugeben, dass der Jäger einen klugen Weg gewählt hatte. Umstürzende kleine Nadelbäume waren nicht so gefährlich wie von oben herab brechende Äste. Außerdem waren sie einigermaßen sichtgeschützt, nicht zuletzt durch das Unwetter selbst. Das da vorne, unter einem Steilhang, musste der Gernat sein, dessen stark angestiegenes, aufgewühltes Wasser zu kochen schien, überschüttet von Hagel und Regentropfen.
Odilon warf sich den Bogen über die Schulter und begann zu klettern. Auch wenn er nur mühsam vorankam, schien diese Stelle doch einigermaßen wettergeschützt zu sein. Timoin folgte ihm beherzt. Als er wieder oben auf der bewaldeten Anhöhe stand, merkte er, dass der Sturm tatsächlich nachgelassen hatte. Vermutlich tobte er sich gerade über Gernatsborn aus.
Die Waldläufer atmeten durch und versuchten sich zu orientieren. Die einzige Spur, die es noch zu lesen gab, war die Spur der Verwüstung. Umgeknickte Bäume, kahle oder zersplitterte Äste, Hagelkörner, die unter den Stiefeln knirschten. Bei der kleinen Kletterpartie war Odilon doch warm geworden, aber nun merkte er, welche Eiseskälte hier oben herrschte. Im nächsten Moment wirbelten zart die ersten Schneeflocken herab. Odilon hatte wahrlich schon einiges erlebt und überlebt in den letzten Jahrzehnten. Aber ein Wintereinbruch im Praios gehörte nicht dazu.
Es schneite, kein Zweifel. Die Szenerie war vollkommen unwirklich, als hätte es die beiden Jäger in die Feenwelt verschlagen. Oder ins Reich des Eisigen Jägers? Die Macht des Blutdruiden schien enorm zu sein, aber irgendwie hatte der Baernfarn das Gefühl, dass der Zauberer Kräfte geweckt hatte, die jedes Menschenwerk überstiegen.
Timoin stand mit offenem Mund da, und schloss ihn erst wieder, als die ersten kalten Schneeflocken hinein wehten.
"Hast du sowas schon einmal erlebt, Odilon?"
"Nein, nicht selbst. In Nordenheim soll es mal einen Gallysard gegeben haben, mitten im Sommer. Aber das war kurz nach der Zerstörung Wehrheims, als ohnehin alles drunter und drüber ging."
Der Waldläufer nahm Bavhano Bvaith von der Schulter. Normalerweise liebte er solche kalte Pracht, aber dieser Winterzauber schien ihm wenig firunsgefällig zu sein. Knirschenden Schrittes ging er voran in den Wald. Alles war in graublaues Licht getaucht, zarter Nebeldunst waberte zwischen den gemarterten Baumstämmen.
Da vorne lagen auch schon die struppigen Leiber der toten Goblins am Opferstein, bedeckt mit einem dünnen Leichentuch aus Schnee. Timoin suchte nach seinem Bogen, aber der war tatsächlich entzwei gebrochen, unter dem Tritt der Wildschweine. Langsam wuchs die Schneeschicht unter ihren Stiefeln. Viele Bäume waren durch den Sturm entlaubt worden, so dass man sich wirklich im Firun- oder Hesindemond hätte wähnen können. Nur ein einzelner Baum, eine hohe, knorrige, mehrstämmige Buche, trug seine roten Blätter noch fast in voller Pracht. Odilon gab Timoin ein Zeichen, im Schatten zu bleiben. Es war besser, sie würden beide kein allzu gutes Ziel bieten.
Im Schutz der roten Buche sah Odilon sich um. Erst jetzt merkte er, dass der schwarzgraue Stamm mit Blut beschmiert war. Er blickte hinauf. Einen Herzschlag später schrie er auf, als sich etwas Spitzes, Scharfes von hinten in seine rechte Schulter bohrte, knapp neben dem Köcher, durch den Mantel und den Lederkoller hindurch. Irgendein Geschoss drang wie ein gleißender Blitz in seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Odilon spürte, wie der Bogen aus seinen Händen glitt. Im nächsten Moment wurde die kalte Klinge wieder herausgerissen, wie von Geisterhand. Der Baernfarn krümmte sich zusammen und spähte nach dem Angreifer.
Durch den weißen Schleier des Schneetreibens sah er, wie der Gehörnte auf ihn zukam, aus dem Wald. In seiner Linken hielt er einen knorrigen Stab, in der Rechten einen schwarzen, bluttriefenden Dolch. Das musste die Waffe sein, die ihn gerade getroffen hatte. Aber wie konnte sie so schnell zum Werfer zurückgekehrt sein? Der Dolch war durch die Luft geflogen, hin und wieder zurück, kein Zweifel. Langsam schritt der Druide näher. Dunkelrote Flecken verunzierten seine Robe und das bärtige Antlitz. Der Blutzauberer stand dem alten Graubart buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
"Das...nennst du Klinge?" ächzte Odilon und zog Wandelur blank. Auch wenn die Wunde nicht allzu tief gegangen war, hatte der Blutzauberer ihn äußerst schmerzhaft getroffen. Den mächtigen Langbogen zu spannen, daran war leider nicht mehr zu denken.
Der Schwarze Bär kämpfte sich zurück auf die Knie, spuckte etwas Schnee aus und wechselte den Stahl in die Linke. Wenn der Gehörnte nicht wieder Hexerei anwandte, würde er ihm im direkten Zweikampf noch immer weit überlegen sein.
Der Druide lächelte, dünn und ein wenig grausam. Dann setzte er sich im Schneidersitz auf seinen Umhang in den Schnee und bohrte seinen Dolch in den Boden. Eine beiläufige Bewegung mit dem Stab. Bruchholz schwirrte herbei, wie vom Sturm herbei geweht. Dann schossen wie aus dem Nichts Flammen aus dem Holz empor. Binnen weniger Augenblicke prasselte ein gemütliches Feuer mitten auf der weiß eingeschneiten Lichtung.
"Odilon Wildgrimm von Gallys, nehme ich an? Welch außergewöhnliche Ehre." Die Stimme des Druiden klang nicht nach Ironie. Einladend deutete er nach vorn. "Setzt Euch doch ein wenig ans Lagerfeuer. Der Praiosmond ist kalt in diesem Jahr." Das war nun doch spöttisch.
Mühsam, mit Wandelur als Stütze, kam Odilon wieder auf die Beine. Dann hob er drohend die Klinge. "Elender Blutzauberer... Mich behext du nicht" knurrte er.
Burchert reinigte seinen Dolch mit Schnee. "Sind wir schon beim Du? Warum nicht. Ich bitte dich, Odilon. Männer in unserem Alter haben besseres zu tun, als im Schnee herum zu raufen wie törichte Goblins. Man nennt mich Burchert von dem Born. Ich bin der Hüter dieses Waldes."
"Früher auch bekannt als Burchert vom Ebergrund ?!" Odilon nickte und hinkte näher, vor allem, um den Abstand zwischen sich und seinem Gegner zu verringern. Eine Gestalt schlich sich hinter Burchert an. Das war Timoin, mit einem schweren Holzprügel in der Hand. Tapferer Bursche... vielleicht ein wenig zu tollkühn. Aber der junge Waidmann stellte sich geschickt an, setzte wie eine Katze einen Fuß vor dem anderen. Der leise herab rieselnde, dichte Schnee half ihm beim Anschleichen.
"Liegt der Ebergrund nicht auf der anderen Seite des Flusses?" stichelte der Schwarze Bär, um sein Gegenüber abzulenken. "Warum hütest du den Wald nicht dort, Burchert?"
"Bitte, Odilon, steck dein Schwert ein. Wie nennt man es noch gleich? Wandelbar, oder? Nun, eine Legende wie Siebenstreich ist es nicht, aber immerhin, ein Geschenk des Schwertkönigs. Raidri Conchobair war Freund der Oberhexe Luzelin vom Blautann, sagt man. Er stand also ebenfalls auf unserer Seite. Wandelbar, der Name würde passen. Aber selbst die beste Schmiedekunst ist nichts weiter als ein Frevel wider die Kräfte der Natur. Deine Waffe besteht aus gebundenem Erz, das unserer Mutter Sumu aus dem Leib gerissen worden ist." Burchert legte noch einige Tannenzapfen ins Feuer.
Odilon spähte nervös um sich. Die Gleichmut des Druiden irritierte ihn mehr als jeder offener Angriff. War die Gestalt dort am Ende nur eine Halluzination? Was führte sie im Schilde? Hatte Burchert nicht mitbekommen, dass sie zu zweit waren? Veneficus hatte einmal einen machtvollen Todeszauber erwähnt, die Druidenrache, mit denen die "Weisen des Waldes" eine ganze Gegend verfluchen konnten, um den Preis ihres eigenen Lebens. Burchert sah nicht so aus, als könne man ihn mit einem kräftigen Schwert- oder Knüppelhieb aus dem Weg räumen. Aber vielleicht war er wirklich schon am Ende seiner Kräfte und wollte mit seinem Auftritt nur vortäuschen, unangreifbar zu sein?
"Es heißt Wandelur, Blutzauberer. Mein Schwert heißt Wandelur. "
"Wie auch immer. Du wirfst mir also Blutmagie vor? Gleichzeitig hast du nichts dagegen, wenn Sumus Blut, die Lebenskraft der Welt selbst, geopfert wird, für schnödes Geld und kupferne Dächer?" Echte Abscheu verzerrte das Gesicht des alten Mannes, dessen große, gelbliche Zähne Odilon irgendwie an ein Nagetier erinnerten. "Aber setz dich doch. Wir müssen reden, wie die Bäume miteinander sprechen, wenn dem Wald Gefahr droht." Er wies auf einen umgestürzten Baumstamm. “Verzeih den Flug des Dolches, aber ich fürchte deinen unfehlbaren Bogen.”
Odilon tat ächzend, wie ihm geheißen worden war. Durchnässt vom Regen, der an seinen Gewändern immer mehr gefror, mit einer stechenden Wunde im Rücken, war er froh über ein wenig Wärme, mit seinen fast siebzig Götterläufen. Ebenso über die Ablenkung des Druiden. Timoin, die Katze, hatte sich bereits auf wenige Schritte vorgearbeitet. Fast schon sah sein Geselle drollig aus, mit verkniffenem Mund, beflissenem Gesichtsausdruck und heraus geschobener Zunge. In einem hatte Burchert Recht: Sie waren beide nicht mehr die Jüngsten.
"Nun, ich habe etwas dagegen, wenn mit stählernen Armbrüsten eiserne Pfeilspitzen auf die rechtmäßige Herrin dieses Lehens abgeschossen werden, bei einem heimtückischen Mordversuch. Du offenbar nicht." Der Waldläufer lächelte unbestimmt, wie so oft, wenn er mit Orks, Suulak, Nivesen oder Elfen am Ratsfeuer gesessen hatte, bei schwierigen Verhandlungen. "Aber vielleicht bin ich da einfach etwas altmodisch."
"Du spielst auf die neunfingrige Dienerin des Kor an? Ich habe sie in meinen Visionen gesehen, habe ihre Pläne erspürt. Nun, seit Anbeginn der Schöpfung fließt durch diese Welt Blut. Blut, das Sumu am Leben erhält. Als die Götter damals gegen die Vielleibige Bestie gekämpft haben, mit den Gigantenklingen, da war es der schwarzrote Rondrasohn, der Sokramur geschwungen hat: Das Leben selbst in Gestalt einer gewaltigen schwarzen Sichel. Womöglich ist Kors Name sogar in dem Fluss verewigt, der dort unten rauscht. Irgendwo in der Nähe soll sich sogar eines seiner wichtigsten Heiligtümer befinden, die Blutkerbe. Es ist korgefällig, Blut zu vergießen, im Dienste Sokramurs, für das Leben selbst."
"Ich kenne mich mit der Entstehung von Flussnamen nicht besonders gut aus. Außer beim Großen Fluss vielleicht. Es heißt, dass der Schwarze Prinz der Chimären dem Reich der Dämonen näher steht als den Gefilden Alverans. Ich bin jedenfalls nicht hier, um mich über alte Sagen, Märchen und Legenden zu unterhalten."
Odilon sprach vor allem, um Timoin wertvolle Zeit zu verschaffen. Ebenso, um noch einige Informationen aufzuschnappen. Spielte ihm Burchert etwas vor oder wusste er wirklich nicht, dass Yasinthe eine Dienerin des Namenlosen gewesen war? Sein Zögling hob bereits den schweren Eichenholzprügel. `Schlag zu`, dachte Odilon. `Schlag endlich zu.` Tatsächlich wirkte Timoin unsicher. Er wollte seitlich ausholen, aber da standen ihm die Widderhörner im Weg. Also hob er seinen Prügel über dem Kopf, für einen Wuchtschlag von oben. Sehr gut. Der Jüngling hob den Knüttel ein wenig mehr – und streifte einen Ast, der daraufhin Schnee herabregnen ließ. Odilon verzog das Gesicht.
"Nein." Burchert hob die Hand. "Bevor dein Schüler zuschlägt, dessen Ohr ebenfalls eine Kerbe ziert. Wie bei allen Nachkommen des Heiligen Alboran üblich... Nun, bevor er diese Dummheit begeht, sollte er vielleicht wissen, was es mit seinem Geburtszeichen auf sich hat. Es ist der Sichelschnitt der Sokramur, den Kor Alboran mitsamt seinen Nachkommen verliehen hat, als der Blutfordernde sich in der Schlacht gegen die Orken offenbarte. Wir kämpfen auf der gleichen Seite, Odilon. Diese Grube dort unten wurde vermutlich schon zur Zeit der Ghorinchai gegraben, auf der Suche nach dem heiligen Metall ihres Götzen Tairach. Es waren euer beider Vorfahren Artema und Alboran, die der Schändung der Sumutochter Sokramor ein Ende bereitet haben, in einem blutigen Kampf an der Furt, noch vor der großen Schlacht um Wehrheim. Wollt Ihr euch nach 1300 Jahren nun auf die Seite der Orks schlagen, der blankhäutigen wie der schwarzpelzigen Orken?"
Der junge Jäger hielt für einen Moment inne, mit Schnee übergossen. Verwirrt langte er sich ans Ohr.
Odilon schnaubte verächtlich. "Du solltest wissen, dass deine vermeintliche Kordienerin ihren neunten Finger nicht dem Träger Sokramurs geopfert hat. Sondern dem Namenlosen. Yasinthe Dengstein war eine Geweihte des Dreizehnten. Sie hat sich heute Morgen in Rauch aufgelöst. Nach einem erneuten Anschlagsversuch gegen das Leben Glyranas von Mersingen."
Nun hob Burchert die buschigen Augenbrauen. "Das... das ist nicht wahr..."
"Nun, Burchert, würdest du mich wirklich kennen, würdest du wissen, dass ich öfters die Wahrheit sage als mancher Praiosgeweihter. Nun leg deinen Dolch nieder, und ich verspreche dir ein gerechtes Urteil. Offenbar wurdest auch du von dieser Abgesandten der Sternenbresche getäuscht. Nun sag mir nur noch, wer deine andere Komplizin war. Sicher eine Tochter Satuarias?"
"Ein gerechtes Urteil? Dass ich nicht..."
Im nächsten Moment war ein abgründiges Zischen zu hören. Timoin blickte hinauf zur Blutbuche, gerade noch rechtzeitig, um das Schwarze Feh auf sich zuspringen zu sehen: Ein übergroßes, verwachsenes Eichhörnchen, mir gefletschten Rattenzähnen, grotesken Fledermausflügeln unter den Vorderpfoten, purpurn leuchtenden Augen, Stachelschwanz und einem kleinen Horn auf der Stirn. Dazu erklang ein Knurren, dass nicht mehr von dieser Welt war.
Es war ein grotesker, verrückter Anblick: Timoin, wie er sich durch den sommerlichen Schnee wälzte, im Kampf mit einem Eichhörnchen, das keines mehr war. Sondern ein underisches Geschöpf der Finsternis, mit Klauen, Dämonenflügeln und scharfen Zähnen, das seinem Opfer in die Kehle zu beißen versuchte. Der Junge hatte den Knüppel fallen gelassen. In Panik stach er mit seinem Messer auf das Untier ein. Das Dämonenfeh schnappte nach Timoins Hand. Schreiend ließ der Jäger seine Klinge fallen.
Der Druide rappelte sich mühselig auf, mit Hilfe seines Stabs. Nun wirkte er tatsächlich alt, gebrechlich und kraftlos.
"Sokramund?!" rief Burchert, verwirrt und entsetzt zugleich. "Sokra!"
Ein heftiger Windstoß fauchte über die Lichtung. Die Hörnerhaube rutschte dem Druiden vom Kopf und enthüllte eine runzlige Glatze. Irgendwie sah "Burchert von dem Born" mit einem Mal kläglich aus, überhaupt nicht mehr wie ein machtvoller Zauberer. Dann schwirrte ein großer Schatten aus dem Winterwald herbei, lautlos und mit weit ausgebreiteten Schwingen. Die riesige Eule packte das Feh, durchbohrte es mit seinen Krallen. Schreiend verwandelte sich das dämonische Ungeheuer wieder in eine derische Kreatur. Der Raubvogel, ein großer Uhu, erhob sich mit mächtigem Flügelschlag und steuerte mitsamt Beute auf den Waldrand zu.
"Sokra????"
Odilon hieb dem Druiden erst Wandelurs Knauf in den Rücken, dann die Breitseite des Schwerts über den kahlen Kopf. Wenn dir gebundenes Erz lieber ist, dachte der Schwarze Bär grimmig.
Odilon stand für einen Moment still und keuchte, während ihm das warme Blut über den Rücken rann. Die Schmerzen, die von der Kälte ein wenig gedämpft worden waren, meldeten sich nun um ein vielfaches verstärkt zurück. Timoin starrte mit verzerrtem Gesicht auf seine zerbissene Hand und versuchte, sie mit Schnee sauber zu waschen. Dann sah er schuldbewusst  zum alten Waldläufer: "Bist du schwer verletzt, Odilon?"
Der Baernfarn nahm den schwarzen Dolch des Druiden an sich. "Sagen wir... ich hoffe, dass die Rotpelze, die er zuerst damit durchbohrt hat, keine ansteckenden Krankheiten hatten."
"Was, was war das für eine Kreatur?" ächzte sein Schüler.
"Das Eichhörnchen? Vermutlich ein Daimonid. Früher kam das unheilige Kroppzeug manchmal über die Berge, aus Schwarztobrien. Ein Mischwesen, halb Dämon, halb Tier. Möge die Heilige Artema uns gegen das Gezücht der Niederhöllen beistehen. Was ist mit dir, deine Hand sieht übel aus?"
"Die Wunde ist nicht sehr tief... aber... dieses Schwarze Feh?" Der junge Bursche wickelte sich bereits ein Taschentuch um die Hand und wischte sich verlegen eine Schmerzensträne aus dem Auge. "Bekomme ich jetzt die Duglumspest?" fragte er mit leiser, belegter Stimme.
"Vielleicht wächst dir jetzt eine Eichhörnchenpfote, wer weiß?" Odilon versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Als er Timoins entsetzten Blick bemerkte, schüttelte er den Kopf. "Ach komm, du kriegst höchstens den Flinken Difar. So schnell geht das auch wieder nicht."
“Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, den Blutzauberer unschädlich zu machen.”
“Lass gut sein. Die Jagd auf Druiden ist ein wenig schwieriger als die Hatz auf Rotpüschel, Rehe oder Wildsauen. Du hast dich wacker geschlagen.”
Der niedergeschlagene Druide begann zu zucken. Stöhnend und ächzend wühlte er mit den Händen im Schnee. Timoin zückte sein Messer. "Elender Paktierer!"
Odilon fiel ihm in den Arm. "Was hast du vor?"
"Wir müssen ihn unschädlich machen, ein für alle mal. Dieser verdammte Dämonenknecht!"
"Ich glaube nicht, dass Burchert wirklich bewusst war, mit welchen Mächten er sich eingelassen hat." Der Schwarze Bär nahm den Eichenholzast und zog ihn Burchert über den Schädel. Knackend zerbrach das Holzstück in zwei Teile. "Ach ja, das nächste Mal nimmst du einen kräftigeren Prügel..."
Hufgetrappel und dumpfes Pferdegestampfe lenkte beide ab. Der Waldboden dröhnte. Die Wolkendecke war aufgerissen, helles Tageslicht flutete in den Winterwald.  "Kannst du einen Bogen spannen?" fragte Odilon. Timoin nickte, und sein Lehrmeister wies auf den Langbogen, eigentlich nur, damit der nicht im nassen Schneematsch liegen blieb. Er selbst stellte sich neben die Blutbuche, Wandelur halb erhoben.
Im Licht erschienen zwei Ritter hoch zu Ross, mit silbrig leuchtenden, fein ziselierten Rüstungen und prunkvollen Visierhelmen, die wie Eberköpfe aussahen. Beide trugen bannerverzierte Lanzen und Schilde, die mit verschlungenen Ornamenten geschmückt waren, die ein wenig an albernische oder thorwalsche Kunst erinnerten. Der Linke hatte eine mächtige Streitaxt am Kriegssattel hängen, sein rechter Nebenmann ein breites Schwert. Sie zügelten ihre Pferde, und trabten gemächlich auf die Lichtung, die Köpfe unter den Zweigen gesenkt. Erst jetzt bemerkte Odilon, wie hünenhaft die Neuankömmlinge waren. Ihre Streitrösser, die ebenfalls Rüstzeug trugen, waren gewaltige Tralloper Riesen, mit prachtvollem Fesselbehang über den schweren Hufen. "Keinen Schritt weiter", erklang Timoins helle Stimme, der tatsächlich bereits Bavhano Bvaith spannte, mit einiger Mühe, blutiger Hand und wackelndem Pfeil auf der Sehne. Odilon gab ihm ein Zeichen, den Bogen zu senken. Das fehlte noch, dass sein wackerer Gehilfe versehentlich einen Pfeil abschoss und vorzeitig einen Waffengang heraufbeschwor.
"Dieser Kampf war ehrlos", dröhnte es tief und grollend unter dem Eberhelm einer der Lichtgestalten. Mit der Lanze wies der Ritter auf das kleine Schlachtfeld am Opferstein. Unter der gepanzerten Hand trug er einen graubraunen Fellhandschuh, so schien es dem Gallyser zumindest.
"Ehrlos war der Kampf gewiss, aber dieser Druide hat ihn begonnen!" sagte Odilon, der breitbeinig neben dem Baum stand – und merkte, wie Blut aus seinem Ärmel tropfte, auf Wandelurs Griff und von dort die Schneide herab. "Außerdem hat unser Gegner mit Blutmagie ein Unwetter beschworen, das vermutlich schon halb Gernatsborn zerstört hat. Wir mussten ihn irgendwie aufhalten, seinen Zauberkünsten zum Trotz."
"Das wissen wir" grollte der zweite Ritter. "Der Sturm ist bis weit über die Grenze unseres Reiches gedrungen."
"Ihr seid aus Hallingen?" fragte Odilon, ein wenig erstaunt. Kein Kratzer, kein Fleck verunzierte die strahlenden Brünnen, auch die Pferde wirkten, als wären sie gerade frisch gestriegelt aus der Rossschwemme herbeigeeilt.
Sein Gegenüber steckte die Lanze in den Boden und nahm den Helm ab. Zu Odilons Erstaunen kam ein echter Eberkopf zum Vorschein, mit glatten, graubraunen Haaren, Rüssel, reinweißen Hauern, kleinen, aber klugen und hellwachen Äuglein, spitzen Ohren sowie einem stattlichen Bürstenkamm auf dem Kopf.

"Mein Name ist Fiorg, mein Waffengefährte heißt Torkwyn."
Der Nebenreiter verbeugte sich knapp, und lüpfte ebenfalls den Helm. Auch seine gepanzerten Schultern zierte das massige Haupt eines Keilers, das allerdings dunkler gefärbt war als Fiorgs Antlitz. Fast schon wirkte das Fell schwarz. Odilon hob erstaunt die Augenbrauen, dann verneigte er sich. Der Wutzenreiter bewegte seine Lippen nicht, dennoch war seine grollende, aber dennoch irgendwie wohlklingende Stimme gut zu verstehen.
"Die guten Götter Alverans zum Gruße! Mein Name ist Odilon Wildgrimm von Baernfarn, das ist Timoin... Timoin, nimm den Pfeil von der Sehne." Sein Schüler sah tatsächlich aus, als würde er sich vor Verblüffung gleich in den eigenen Stiefel schießen.
Waren die beiden Ritter überhaupt Wutzen? Sie sahen edel und vornehm aus, fast schon überderisch, und rochen auch feiner als die Wildsauen, die vor kurzem den Hang herunter gestürmt waren: Ein zarter, leicht moosiger Wildgeruch.
"Artema schickt uns. Wir müssen mit Glyrana sprechen. Über die Grube, das, was vorgefallen ist und die Zukunft des Grenzwaldes", sagte Fiorg. "Bringt uns bitte zu ihrer Burg, werter Odilon Wildgrimm von Baernfarn." Der Manneber bekräftige das Gesagte mit einem Grunzen. Nun blickte Odilon erstaunt: Artema die Wegweiserin, Heilige des Firun und nebenbei seine eigene Vorfahrin? Diese Geschöpfe kamen aus der Feenwelt, daran hegte er keinen Zweifel. Befand sich die “Elfenheilige” ebenfalls im Lande Jenseits? Eigentlich hätte er die Alveraniarin in Firuns Paradies vermutet, nicht in der Anderwelt. Allerdings lag das Reich der Feen den Gefilden der Zwölfgötter zweifelsohne näher als die Welt von Dere und Feste.
Torkwyn hatte das tote Wildschwein erspäht und schnüffelte aufgeregt.
"Wir wurden von der Rotte angegriffen!" Odilon schob demonstrativ das Schwert in die Scheide. "Auch darüber sollten wir sprechen. Ich nehme doch an, dass ihr...ihr Wutzen...eure Hände...Klauen...im Spiel hattet? Ist Burchert etwa euer Freund und Verbündeter? Geht es um das Kupferbergwerk und die Zerstörung des Wutzenwaldes? Dann hat er eurer Sache schlecht gedient."
"Der Duridya ist nicht unser Feind", sagte Fiorg ausweichend und voller würdevollem Ernst. "Wir sind keine Wutzen, die auf vier Beinen durch den Wald laufen und quieken. Unsere Ahnen wurden einst aus Wildschweinen erschaffen, aber wir selbst sind keine Morka mehr. Der wahre Name unseres Volkes ist nicht für eure Zunge geschaffen. Die Suulak nennen uns Tha´ang. Ein Wort, das sie voller Respekt aussprechen. Für die Kleinzähne sind wir Gesandte ihrer Götter." Dem Gesichtsausdruck des Ebermanns war anzumerken, dass ihm dieser Gedanken gefiel.
"Burchert hat die Suulak dort heimtückisch erstochen, um mit ihrem Blut einen Sturmzauber zu nähren." Odilon wies mit dem Kopf auf die Opferstätte. "Es gibt Hinweise, dass Dhaza im Spiel war. Diese Grube hat leider sehr viel Unfrieden und Leid gestiftet, auch in unserer Welt. Dhao acan a´dao acan."
Der Waldläufer war bewusst ins Isdira verfallen. Odilon war nicht entgangen, dass Fiorg jeweils das elfische Wort für Druide, Duridya, und für Wildschwein benutzt hatte, Morka. Offenbar waren es die beiden Eberlinge gewohnt, sich mit Spitzohren, nicht mit Menschen zu unterhalten. Fiorgs Miene hellte sich auf, insofern Odilon das Mienenspiel eines Wildschweins richtig zu deuten verstand. Aber der Baernfarn spürte, dass sie als Menschen für die "Tha´ang" ebenso merkwürdig wirkten, wie es umgekehrt der Fall war. In ihren Augen waren Timoin und er wohl nur aufrecht gehende, sprechende Moosaffen mit Waffen und Gewändern. Jedenfalls Kreaturen, die nichts mit der Welt der Feen und Elfen gemein hatten. Nun, letzteres stimmte nicht ganz, auch wenn seine geliebte Jirka ihm da sicher widersprochen hätte.
Dhaza, das Wort stand für die Macht des Namenlosen. Odilons letzter Satz - "Dein Schmerz ist auch mein Schmerz" - war ernst gemeint. Vielleicht ein wenig ironisch, wie im Elfischen üblich. Odilon deutete auf das Blut, das sich mittlerweile rund um seine Stiefel ausbreitete.
Fiorg nickte, lenkte sein Pferd neben Odilon und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ungestüme Kraft durchströmte den Leib des Waldläufers, und ein wohliges, warmes Gefühl, dass er von den Heilzaubern der Elfen her kannte. Allerdings hatte noch nie ein schwergepanzerter Ritter einen Zauber auf ihn gewirkt (da laut Veneficus Metall jede magische Macht hemmte). Nun gut, von einem aufrecht gehenden oder besser gesagt reitenden Wildschwein war er bislang auch noch nicht geheilt worden.
Odilon spürte, wie sich die Wunde schloss, und blickte den "Tha´ang" dankbar an. "Nurd´dhao!"
"Bedanke dich nicht. Als der Weise des Waldes ein Tor in unsere Welt gerissen hat, ist sehr viel Mandra hinaus geflossen. Es ist gut, auch diesen Fluss wieder in geordnete Bahnen zu lenken." Fiorg sprach ebenfalls Elfisch. Odilon war sich keinesfalls sicher, ob er den Sinn der Worte verstand, die wie gewohnt mehrdeutig waren. Stöhnend rappelte sich Burchert auf, und hielt sich taumelnd den Kopf. "Was...was in Sumus Namen...!" Torkwyn berührte den Graubärtigen beiläufig mit seiner Lanze. Der Druide erstarrte mitten in der Bewegung, mit weit aufgerissenen Augen, und regte sich nicht mehr.
"Zur Zeit des alten Bundes haben wir allein jeden Frevel im Schatten des Waldes bestraft ", sagte Fiorg. "Falls Glyrana das Bündnis erneuert, werden wir über den Duridya Gericht halten. Führe uns nun zur Herrin dieses Landes."
Odilon blickte auf die Statue des Druiden, der ihn entsetzt anstarrte. Irgendetwas sagte den Waldläufer, dass der Blutzauberer seine Umgebung noch wahrnahm. Timoin wusste nicht, wohin er noch schauen sollte.
"Ich kann euch gerne zur Burg führen. Aber ich muss euch warnen. Es ist noch ein ganzes Stück bis nach Gernatsborn. Anders als ihr waren wir zu Fuß unterwegs."
Fiorg griff nach einem elfenbeinernen Horn, das ebenfalls an seinem Sattel hing, und blies hinein. Der mächtige Ruf des Horns drang durch den Wald. Krähen flatterten erschrocken auf. Im nächsten Moment war ein Wiehern zu hören. Eine Stute eilte wie aus dem Nichts herbei, deren Fell und Mähne weißer leuchteten als der Schnee, der unter ihren goldenen Hufen zerstob. Verwirrt blieb das herrliche Tier stehen. Hätte seine Stirn ein güldenes Horn geziert, wäre es von einem Einhorn kaum mehr zu unterscheiden gewesen. Das Zaumzeug und der Sattel waren ähnlich verziert wie die Rüstungen der Manneber.
Fiorg zog seine Lanze aus dem Boden und deutete erst auf Odilon, dann die Stute. Der Waldläufer nickte, griff nach dem Zügel und beruhigte das Tier mit einigen Worten auf Isdira. Die aufgestellten Ohren zeigten, dass auch diesem Geschöpf der Klang der Elfensprache vertraut war. Odilon schwang sich in den Sattel und lenkte das Tier einige Schritt im Kreis. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine Lippen. Seit Kutaki hatte er sich auf dem Rücken eines Pferdes nicht mehr so sicher, ja vertraut gefühlt, als wären diese Stute und er schon gemeinsam in hundert Schlachten und Abenteuer  geritten.
"Eines noch. Ihr solltet Eure Helme tragen, wenn wir nach Gernatsborn reiten. Nicht jeder auf dieser Seite ist einen derart extravaganten Anblick gewohnt. Zur Burg geht es in diese Richtung..."
Die Feenritter verbargen ihre Wildschweinhäupter. Dann entrollten sie die Fähnchen ihrer Lanzen, die einen goldenen Baum auf grünem Grund zeigten.
Der Schwarze Bär lenkte das Pferd an die Spitze ihrer merkwürdigen Gemeinschaft.
"Und ich, Odilon?" Das kam von Timoin.
"Schwing dich hinten in den Sattel."
Sein Schüler tat, wie ihm geheißen worden war. Odilon suchte einen Weg die Anhöhe hinab. Es klarte immer mehr auf, der Schnee begann bereits zu schmelzen. Zu dem verrückten Wetter des heutigen Tages gesellten sich nun auch noch einzelne Nebelschwaden. Es wurde wieder warm, das Wetterchaos verwandelte sich in einen lauen Sommerabend, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Die ersten Vögel begannen wieder zaghaft zu zwitschern. Nach einer kurzen Strecke war es für die Reiter möglich, bis hinüber nach Gernatsborn blicken. Rund um das Dorf lagen immer noch einzelne Schneereste. Ein gewaltiger Erdrutsch war durch den Wald gewalzt und hatte sich in die Grube geschoben, die jetzt Teil einer großen, trüben Gernatbucht war. Auch die andere Seite des Flusses war überflutet worden und hatte sich in einen sumpfigen Auenwald verwandelt. Der Weg zur Burg schien völlig überflutet zu sein.
Über allem leuchtete ein prachtvoller Regenbogen, in den bunten Farben der Tsa.

Odilon, mit Timoin hinter ihm im Sattel, führte die seltsame Schar an. Die beiden Feenritter, die ihm folgten - mit dem erstarrten Gefangenen im Schlepptau, den sie auf ein weiteres Elfenpony gebunden hatten, sie wirkten auf ihn, seltsam, gleichermaßen vertraut und doch fremd. Er vermochte es nicht in Worte zu fassen. Sie wirkten, als würden sie einfach zum Wutzenwald gehören, als wären sie schon immer da gewesen, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte. Es war… ohnehin ein ganz besonderes, eigenartiges Gefühl, durch den Wutzenwald zu reiten. Der Wald war, nun, eben nicht nur ein Wald. Ebenso wie der Silberbuchenwald oder auch der Silvanden Fae - beides Wälder im fernen Norden, die Odilon von früheren Fahrten kannte - lebte der Wald. Nicht nur die Bäume, die Tiere, nein, auch der Wald selbst schien eine Seele zu haben.
Oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Die Ereignisse des Tages waren wirklich schwer in Worte zu fassen. Eigentlich müsste er doch Angst verspüren, oder zumindest Sorge. Ein übermächtiger, das Wetter beherrschender Druide, Feenritter, die wie aus einer anderen Welt zu stammen schienen, und er empfand das als… völlig normal! Das war, was Odilon fast am meisten überraschte. Obwohl alles so anders war, so ungewohnt und mindestens bis vor vielleicht einer Stunde auch so bedrohlich, so fühlte er sich… seltsam… so, als wäre er heimgekehrt, als würde Jirka am gemeinsamen Lagerfeuer auf ihn mit einem Tee aus Waldkräutern und einem gebratenen Rotpüschel mit Preiselbeermarinade warten. So, als wäre er nach einer langen Reise durch die Wildnis nach Hause zurückgekehrt.
Aber er hatte zwei Feenritter zur Begleitung, nicht seine Gemahlin. Der alte Waldläufer war verwirrt… Mit einem Mal wusste er, an wen dieser Fiorg ihn erinnerte. Die Stimme glich der Rallions, dem Ältesten der Sippe, bei der er Jirka getroffen hatte. Damals, vor über vier Jahrzehnten, im Silberbuchenwald. Eine Stimme, die er nie vergessen hatte.
Der alte Waldläufer gab dem Pferd die Zügel frei, vertraute einfach dem Instinkt des Tieres. Er vermochte nicht zu sagen, wieso. Aber es schien ihm einfach das richtige zu sein. Es war die gleiche Zuversicht, die ihn durchströmte, wie damals, als er durch die schneebedeckte nivesische Tundra auf den Kvill zugewanderte, mit nichts als der Neugier, den sagenhaften Silberbuchenwald selbst zu erleben.
Der Wutzenwald.
Warum war ihm das früher nicht aufgefallen, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen beiden Wäldern waren. Wälder, in denen man sich gleichzeitig verloren und geborgen fühlte. Wälder, die ihren eigenen Willen zu haben schienen. Wälder, die man nicht einfach durchwanderte und deren Gefahren sich nicht auf das Verirren oder die Begegnung mit Wilden Tieren beschränkten.
Ein Gefühl, das er im Schratenwald oder im Rammholz nie gehabt hatte, in seiner Gallyser Zeit.
Odilon musste sich zwingen, sich zu konzentrieren, sich nicht einfach treiben zu lassen. Er hatte versprochen, die beiden Elfenritter zur Herrin des Landes zu bringen. Und zu Glyrana. Das hatten die beiden verlangt, auch wenn Odilon nicht wusste, ob sie damit nur Glyrana oder auch Haldana gemeint hatten. Vielleicht war es den Eberbiestingern auch egal, welches Rosenohr die alten Absprachen verlängerte, solange sie nur eingehalten wurden.
Warum dachte er jetzt über die Menschen als Rosenohren? Einen Augenblick lang hatte er sich fast selbst mehr als Elf denn als Mensch gefühlt. Ob das an all den Jahren mit Jirka lag? Oder erlag er gerade selbst  der Mystik des Wutzenwaldes. Irgendwie driftete Odilon mit seinen Gedanken immer wieder ab.
Ein lauer Praioswind schmolz die letzten Reste des Schnees ab. An einer Hangkante über dem Gernat hielt Odilon an, blickte über das Gernatstal, das sich vor ihm erstreckte.
Noch immer stand der Fluss deutlich über seinem regulären Ufer, aber ein Blick auf die Wiesen firunwärts des Gernat und den Hang auf der diesseitigen Flussseite verriet, dass der Pegelstand schon wieder sank. Schlimmer als das Wasser schien aber der Matsch sein, der sich überall hin erstreckte, wo sie Flut vorgedrungen war. Die Pfade und Wege waren unter Schlamm, Geröll, mitgerissenem Gehölz versunken. Es mochte ein glücklicher Umstand sein, dass das Gasthaus Gernats Rast nicht mit dem Element Efferds mitgerissen war. Es würde dennoch Tage, eher Wochen, dauern, Schutt und Schlamm abgetragen und die Schäden am Gemäuer zu reparieren. Odilon mochte sich gar nicht vorstellen, was das für die Ernte ausmachen. Aber mindestens auf den ufernahen Feldern dürfte die Arbeit des ganzen Jahres vernichtet sein.
Odilon hatte die Schar nicht direkt zur Burg geführt, auch wenn das Gemäuer schon in Sichtweite war. Nur noch ein kurzer Ritt hangabwärts wäre es bis zum Burgtor - der Weg dahin schien gangbar zu sein, trotz des Matsches, der herumliegenden Äste und der umgestürzten Bäume, derer vier den Weg herab behinderten.
“A´dahr Rhiana”
Fiorg hielt sein Ross mit einem kurzen Kommando an, zeitgleich als auch Odilon meinte, dass hier der richtige Ort war. Hinter ihnen ragten Felsen auf, und wiederum dahinter das undurchdringliche dunkle Grün des Waldes. Von hier oben war der Blick auf den Fluss und die Burg wirklich beeindruckend.
Nur dass der Fluss im Augenblick eher die Ausmaße eines Sees hatte.
“Ich denke, hier sind wir richtig” sagte Torkwyn.
Helle Stimmen waren unweit von ihnen im Wald zu hören.
“Ein würdiger Ort, fürwahr,” stimmte Fiorg zu.
Odilon nickte, auch wenn er nicht so recht wusste, wieso. Aber der Ort schien tatsächlich passend zu sein. Wofür nur? Nun, immerhin die Aussicht war majestätisch.
“Es ist nur noch den Abhang herunter, gleich sind wir auf der Burg” hörte Odilon Glyranas Stimme. Gleich darauf trat die Edle, gefolgt von Haldana und Alboran - ganz unschicklich Hand in Hand gehend - aus dem Dickicht des Waldes hervor.
“Es ist wirklich ein würdiger Ort” hörte die Baronin die Vertraute Stimme der alten norbardischen Seherin wieder. “Er war es damals, und er ist es jetzt. Sieh, Haldana. Dort drüben, die Furt, dort hat die Jägerin Artema ihre Schar aus dem Norden über den Fluss geführt vor dreizehn Jahrhunderten. Hier hielt sie Rat, hier wurde das Bündnis geschlossen. Es ist der einzig würdige Ort.”
“Du sagst es, Nasdja” antwortete Fiorg. Hier hat es angefangen. Schon lange bevor Artema ihre Schar hier über den Gernat führte zwar, aber es ist richtig, was du sagst.
Alboran, Glyrana und Haldana waren überrascht. Alboran und Glyrana, weil sie nicht verstanden, mit welcher Nasdja der seltsame Ritter sprach, und Haldana, weil sie sich nicht erklären konnte, warum auch der Fremde Nasdja hören konnte. Bislang hatte nur sie allein Nasdja hören können. Und sie fragte sich, wofür das hier ein würdiger Ort sein sollte.
Der Ring, ihr Verlobungsring. Er leuchtete in einem kräftigen Grün. Hatte das etwas mit der Anwesenheit Odilons und seiner seltsamen Begleiter zu tun? Haldana wusste es nicht. So ganz klar war ihr nicht, was es mit der Bewandtnis ihres Verlobungsringes auf sich hatte.
“Nurd`dhao, Nasdja. Ad gudam aria tha andarja i mada.”
“Ich grüße dich, Nasdja, schön, dass du die Herrinnen des Landes zu uns führst.” Odilon verstand, was Fiorg aus Isdira sagte und übersetzte es, nur auf die Bedeutung des Wortes oder Namens Nasdja konnte er sich keinen Reim machen.
Haldana straffte sich, ließ Alborans Hand los. Das schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Turteln zu sein.
“Ich grüße auch Euch, fremde Ritter. Ihr scheint zu wissen, wer wir sind? Glyrana, die Edle zu Gernatsborn, mein Verlobter, der Junker Alboran von Friedwang sowie ich, Haldana von Binsböckel?” Haldana bemühte sich, trotz ihres zerzausten und schmutzigen Aussehens, etwas Würde auszustrahlen. Sie war überrascht, dass offenbar Nasdja sie hierher geführt haben sollte, hatte ihre Urahnin doch nichts zu ihr gesagt, dass hier jemand auf sie warten würde. Aber zugleich wusste sie, dass der Wutzenwald auf andere Weise, nun, funktionierte. Es würde seine Richtigkeit haben. Haldana wusste nicht so viel über den Wutzenwald, wie sie als Baronin wohl wissen musste, schwante ihr. Aber sie vertraute Nasdja, und wenn diese Fremden sie kannten und wahrnehmen, dann schienen sie vertrauenswürdig zu sein. “Da meine Ahnin dieses Treffen offenbar anberaumt hat, willkommen in Schlotz. Darf ich fragen, mit wem wir die Ehre zu sprechen haben?”
Glyrana war ein wenig verwirrt. Sie verstand nicht alles, aber auch sie wusste genug über den Wutzenwald um zu wissen, dass man niemals alles über den Wald wissen konnte, und dass man mit den Geheimnissen und Verwirrungen einfach leben musste.
Fiorg nickte. “Wir kennen Dich, Herrin des Schlotzes. Und auch Dich, Herrin der Gernatsbeuge. Dich kennen wir nicht, Herr von Firuthawagan, aber ich bin sicher, wir werden uns noch kennen lernen. Wir sind Fiorg und Torkwyn, Ritter der Hüterin des Waldes.”
Haldana wusste nicht, wen die beiden als Hüterin des Waldes bezeichneten, aber sie war sicher dass sie das noch erfahren würde.
“Aber...warum…” begann Haldana, beendete ihre Frage aber nicht. Zu sehr war sie noch verwirrt von den schwer fassbaren Ereignissen.
“Warum..” antwortete Odilon. “Warum der Druide das gemacht hat?” Odilon wies auf den erstarrten Gefangenen, der noch immer mit Seilen aus lebendig-grün wirkenden Seilen gebunden war. Seile? Konnte man die beblätterten und mit weißen Blüten gezierten Stränge so nennen? Er kannte ähnliches von Jirkas Elfenmagie, dass Pflanzen in ihrem Wachstum beeinflusst wurden. Aber dass Pflanzen, die nicht mehr in der Erde wurzelten, noch lebten und sich dem Zauber der Feeischen fügten, das hatte er auch noch nicht erlebt. Doch Odilon konzentrierte sich auf das, was er berichten konnte. Wie sollten die junge Baronin und die Edle von Gernatsborn sonst sich einen Reim auf all das machen können. “Nun, er war fehlgeleitet vom Wirken des Dhaza, des Nicht zu Nennenden. Aber zugleich scheint er auf eher radikale und kompromisslose Art den Alten anzuhängen. Das Kupferbergwerk, das war sein Ziel. Er sah es als Sumufrevel an, und strebte danach, es zu zerstören. Mit fragwürdigen Methoden, nein, mit Methoden, die nicht duldbar und nicht entschuldbar sind. Blutmagie ist ein nicht minderer Frevel gegen Sumu.”
Haldanas Blick fiel auf die Ritter, die die Gesandten der Hüterin des Waldes zu sein behaupteten. Die beiden seltsamen Ritter sahen sich an. Dann nahmen beide ihre Helme ab. Glyrana, Alboran und Haldana blieb der Mund offen stehen. Tatsächlich, sie waren schon überrascht über die Ankunft zweier Ritter gewesen. Dass diese sich nun als Eberbiestinger - konnte man sie so bezeichnen? - entpuppten, nun… aber vermutlich musste man an einem solchen Tag mit allem rechnen.
Glyranas Blick fiel von den seltsamen Rittern auf den erstarrten und gefangenen Mann, der der Urheber des Unwetters gewesen sein sollte. Ein fragender Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. Ohnehin war das alles eigentlich zu viel für einen einzigen Tag. Glyrana machte sich Sorgen um ihre Familie und um die Menschen auf dem Gernatsborn. Der Blick hinunter zum Fluss zuvor hatte nicht gutes verhießen, und wo gestern noch die Kupfermine war, erstreckte sich heute eine einzige braungraue Matschmasse. Das war schon schlimme genug, aber sie wusste nicht, wie es im Rest ihres Lehens aussah, ob auf der Burg alles in Ordnung war.. Und jetzt war sie hier. Mit Haldana, ihrer werdenden Lehensherrin, die für sie in der kurzen Zeit, die sie sich gesehen hatten, sehr vertraut geworden war. Mit dem künftigen Baron des Landes, und jetzt mit zwei… nun, sie war ja schon einmal bei den Wutzen gewesen, vielleicht blieb sie deshalb vergleichsweise ruhig. Anders als Alboran, dessen Augen unruhig flackerten und der sich schutzsuchend Haldanas Nähe suchte.
“Gut, ihr habt uns offenbar gesucht und gefunden. Die Herrin Tsa zum Gruß - dieser Tag scheint mir besonders geeignet, den Segen der jungen Göttin zu erbeten. Ich freue mich sehr, Euch auf meinem Land, hier in Gernatsborn, begrüßen zu dürfen. Vielleicht habt ihr die Freundlichkeit, ein wenig zu erklären, was das hier alles zu bedeuten hat.” Ihr Blick wies auf den gefangenen Druiden.
“Nurd´dhao Tsa´ha, ero Odilon hva ruja jama” antwortete Fiorg.
“Er meint, ich solle das erklären” fasste Odilon den Ausspruch des Feenritters zusammen. “Zwar sprechen beide unsere Sprache, scheinen sich sonst jedoch des Isdira, des Elfischen, zu befleißigen. Nun.. ja… dieser Gefangene. Das ist Burchert vom Born. So nennt er sich jedenfalls. Ein Druide. Derjenige, der durch ein unheiliges Ritual und durch Blutmagie dieses Unwetter herauf beschworen hat. Timoin und ich haben ihn gefangen genommen. Doch Fiorg und Torkwyn beanspruchen das Recht, dass sie über ihn zu richten haben.”
“Dha Judra hva A´thra Wa´neja” unterbrach Torkwyn.
“Ich muss mich verbessern. Die Hüterin des Waldes wird über ihn richten.” korrigierte sich Odilon.
“Soso… dieser Gefangene ist also der Urheber dieser Katastrophe. Immerhin gut zu wissen, dass der Übeltäter geschnappt ist. Dass ich jemanden als Richter eingestellt habe, ist mir jedoch neu.”
Haldana wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Aber sie wusste, dass ihre Mutter die Gerichtsbarkeit in Schlotz immer selbst ausgeübt hatte, und dass sie das nicht gutheißen würde, sich ihre Privilegien und Pflichten abnehmen zu lassen. Immerhin stand hier die Halsgerichtsbarkeit zur Frage. Sie wusste ja noch gar nicht, ob dieses Unwetter Todesopfer gefordert hatte - mindestens jedoch waren die Schäden enorm. Haldana war kein Kind mehr, war nicht mehr eine reisende Bardin wie noch im vergangenen Jahr. Die junge Baronin fühlte sich mit der Situation überfordert, aber sie wusste, dass sie die Verantwortung nicht schleifen lassen durfte.
“Hochgeboren, ja.” bestätigte Odilon, der gut einschätzen konnte, was in Haldana vorging. Die junge Baronin war, nun, eben, ein junges Mädchen. Der alte Waldläufer konnte gut nachfühlen, wie sie sich überfordert vorkommen musste. Ihr fehlte sowohl die Erfahrung als auch schlicht die Macht, sich durchzusetzen und musste das doch. “Gestattet mir, als Übersetzer hilfreich zu sein. Und gestattet mir zu erläutern, soweit ich kann. Ich weiß selbst nicht genau, was die Feenritter wollen. Aber eines weiß ich, was immer wieder, im Norden, zu Missverständnissen zwischen Elfen und Menschen geführt hat, und ich schätze, das kann hier ähnlich sein. Ihr wisst wohl, dass die Lebensspanne der Elfen die der Menschen um ein Vielfaches übersteigt. Und so kam es oft zu Streitigkeiten, weil die Elfen auf die Gültigkeit von Absprachen bestanden, die die Kinder und Enkel derjenigen Menschen, die die Absprachen einst vereinbart hatten, schon gar nicht mehr kannten. In Gerasim, Donnerbach, Uhdenberg und anderen Städten in der Grenzregion zu den Elfenlanden kennt man das Problem. Nun, auch für die Feeischen - und dazu würde ich die beiden zählen - läuft Satinav anders als für uns. Ich würde meinen, dass es wohl alte Absprachen zwischen denen, die der Wutzenwald beherbergt und einem oder mehreren Eurer Vorgänger auf dem Schlotz gab, von denen ihr vielleicht nicht wisst oder noch nicht einmal wissen könnt.”
Haldana nickte. Sie konnte sich vorstellen, nach allem was sie gehört hatte, dass ihr Vater Tsafried schon nicht alles gewusst hatte, als er sein Amt auf geheiß des Kaisers übernommen hatte. Und da er gestorben war, als sie noch ein Kind war, wie hätte er da alles weiter geben können?
“Ebenfalls” erläuterte Odilon weiter, “scheint es auch Dinge zu geben, die die Kupfermine und den Gernatsborn betreffen. Daher baten die Elfenritter vor allem auch um ein Gespräch mit Euch, Wohlgeboren Glyrana.”
Die Angesprochene fasste sich schnell und nickte. “Mit der ehemaligen Kupfermine, wolltet Ihr vermutlich sagen. Viel davon scheint gegenwärtig nicht mehr übrig zu sein.”
Glyrana blickte in Richtung der Bucht, die an Stelle der Mine entstanden war. Überall im Hangwald waren die Bäume zerzaust, umgestürzt oder zersplittert. Hier und dort ragten noch Häuserreste und einzelne Trümmer aus dem Wasser. Die Szenerie sah aus, wie sich die Mersingen die geheimnisumwitterte Havener Unterstadt vorstellte. Der Schaden an ihrem Lehensgut war sicher enorm. Zum Glück besaß das Gernatsborner Haus der Mersingen noch weitere Einkünfte, zwischen Meidenstein und Friedwang. Immerhin, das eigentliche Dorf Gernatsborn schien weniger stark beschädigt und der frisch geweihte Schrein der jungen Göttin völlig intakt zu sein, ebenso wie der Hain. Auch die Burg selbst ragte unversehrt auf, abgesehen von größeren Schneeresten auf dem Kupferdach. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, seit dem gestrigen Festbankett. Wenn nur Storko und den Kindern nichts geschehen war...Die Adelige murmelte ein Gebet.
"Sag ihr, sie kann unbesorgt sein", wisperte Nasdjas Stimme in Haldanas Kopf. "Am heutigen Tag war Heshinjas Schwester Tsa mit Euch. Dieser Sturm hat keine Menschenleben gefordert, denn ihre Seelen würde ich sehen, auf ihrem Weg über das Nirgendmeer. Ihr habt den heiligen Ort gerade noch zur rechten Zeit geweiht. Die Große wünscht sich ebenfalls einen Bund mit der anderen Welt, damit sich der heutige Tage nie mehr wiederholen wird. Das kann ich deutlich spüren."
Die Zibilja verstummte. "Ich sehe sie gerade, diese andere Welt..."
Die junge Binsböckel erschauerte. Ihre Ahnin hörte sich glücklich an, aber in ihrer Flüsterstimme schwang noch etwas anderes mit, ein zwiespältiges Gefühl. Etwas von Melancholie, Ergriffenheit und Sehnsucht. Nasdja sah etwas, was größer und schöner war als die Welt eines sterblichen Menschen und ihr doch näher lag als die entrückten Paradiese der Zwölfgötter.
"Was siehst du?" flüsterte die Baronin, ohne auf die irritierten Blicke ihrer Begleiter aus Fleisch und Blut zu achten.
"Blütenblätter, die im Frühlingswind wehen, über eine Blumenwiese voll goldenem Licht. Da ist ein einzelner, großer Baum. Davor steht sie, die Herrin des Waldes. Sie spricht zu mir, aber ich verstehe sie nicht...Ich glaube, sie möchte, dass ich in ihr Reich komme, auf dass dort meine eigene Seele für immer Frieden finden möge."
Einen Moment lang schwieg die Zibilja. Der Gedanke an das Hinübergleiten schien etwas Verlockendes zu haben. "Nein, meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich werde noch gebraucht. Vielleicht nicht mehr in eurer Welt. Aber doch als Botin zwischen den Welten, die einander nicht verstehen." Die Stimme der Norbardin klang wieder fest.
Auch auf Dere und Feste breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus. Abendlicht flutete die Landschaft, ließ den stark angewachsenen Gernat glitzern, der nun eher an den Darpat erinnerte. Die Wutzenritter standen am Felsen, überderische Wesen, die einem Märchen oder Bardengesang entsprungen zu sein schien. Praios stand bereits tief am westlichen Horizont.
Alboran blickte abwechselnd auf den grün schimmernden Ring, den er vor kurzem an die Hand an seiner Verlobten gesteckt hatte, und auf die beiden glattfelligen Manneber in ihren fein ziselierten, glänzenden Rüstungen. "Wer ist eigentlich dieser Herr von Firuthewagan?" fragte er unbestimmt in die Runde. "Hat das etwas mit unseren Herrn Firun zu tun?"
"Das bist du", sagte Odilon, der gerade über seinen Rücken tastete, nach dem Schnitt in seinem Lederkoller – und merkte, dass er ein neues Jagdgewand benötigen würde. "In ihrer Sprache nennen sie so Friedwang."
"Hat Fried und Wang nicht irgendwas mit dem altehrwürdigen Weidefrieden zu tun, rund um Burg Friedstein?"
Der Waldläufer unterhielt sich leise mit Fjorg.
"Nun, unser Besucher sagt, dass ihre elfischen Freunde den Schratenwald Firgahert´Wartan nennen. Davon leite sich das Wort her. Ich glaube, dass bedeutet so viel wie Zauberwald des Winterweißen Hirschen. Loskarän, der Heilige Hirsch des Firun, soll ja aus der Anderwelt stammen."
Alboran schaute Odilon groß an. Bislang waren dem Junker die Geschichten von Feen und Kobolden immer wie kindische Ammengeschichten vorgekommen. Mit denen man vielleicht noch den kleinen Ravenhart beeindrucken konnte. So langsam ahnte er, dass weit mehr dahinter stecken musste. Der lebende Beweis stand ja gerade vor ihm, vorausgesetzt, dass er nicht träumte. Kopfschüttelnd musterte er die beiden Feenritter, die wiederum von der sie umgebenden Landschaft fasziniert zu sein schienen. Mit zarten Grunzen sogen sie die Luft in sich ein. Langsam kam Nebel auf. Der Wald begann zu dampfen und zu rauchen. Eine der beiden Wutzen wühlte in der Erde, beschnupperte sie ausgiebig. Sie schienen glücklich zu sein, auf Dere und Feste weilen zu dürfen. Eine Welt, die sich näher an Sumu befand als das "Land Jenseits" . Zumindest nach Alborans bescheidenem sphärologischem Verständnis, das er der Unterweisung in Götterkunde verdankte. Schon die Sterne, die nach und nach über dem Nebelmeer zu blinken begannen, waren für ihn ein Rätsel. Sumus Griff, die Kraft der Schwere, entsteht in des Kosmos zweiter Sphäre. Der Merksatz schwirrte ihm durch den Kopf. Dere und Feste befand sich in der Dritten Sphäre, auch das wusste er gerade noch. Die Götter residierten in der vierten Sphäre, oder waren das die Gefilde der Geister? Da sollte sich jemand auskennen. Die Feenwelten schwebten irgendwo da draußen herum, als eine Art buntschillernde Seifenblasen im grauen Wabern des Limbus. Zumindest stellte er sie sich so vor: Flüchtig, unbeständig, flatterhaft. Praiosungefällig.
Für erdverbundene Wildschweinwesen mochte Aventurien eine überaus sinnliche Erfahrung sein. Ähnlich wie die bäurischen Sokramorier von der entrückten, zauberhaften, flüchtigen, unstofflichen Lichtwelt träumten. Nun, er ganz sicher nicht, bei seinem Heiligen Namenspatron! Alboran tastete nach dem Sonnenamulett um seinen Hals. Es fühlte sich in diesem Augenblick kühl an, wie schnödes Metall, nicht wie ein geweihtes Schutzzeichen. Zu welchen Göttern diese Kreaturen wohl beteten? Oder sahen sie sich selbst schon als Gottheiten? Dann wären sie kaum besser als Dämonen, die versuchten, Menschen mit irgendwelchen Einflüsterungen in ihren Bann zu ziehen. Würde es Sinn machen, sie zum Glauben an die Wahren Zwölfe zu bekehren? Alboran wollte das Gespräch bereits in diese Richtung lenken und hob das Amulett. Aber seine Verlobte kam ihm mit einem Räuspern zuvor.
"Nun gut, reden wir über die Probleme zwischen unseren...verschiedenen...Lagern....Standpunkten..." Haldana versuchte die strenge, gefasste Landesherrin herauszukehren. Etwas in Odilons Blick war ihr nicht entgangen, eine Art von Zweifel, ob sie dieser unvorhergesehenen "Feuertaufe" wirklich schon gewachsen war. Nun, Haldana hätte es nie für möglich gehalte, dass sie ihre ersten Verhandlungen als Schlotzer Baronin mit zwei aufrecht gehenden Wildschweinen in Ritterrüstungen würde führen müssen. Ausgerechnet. Aber immer der Reihe nach. Nasdja hatte ihr gesagt, dass kein Gernatsborner dem Wüten der Elemente zum Opfer gefallen war, den guten Göttern Alverans sei Dank. Auch wenn das wahrlich an ein Wunder der Tsa grenzte. Immerhin, dieses "Wunder" konnte man schon mal als mildernde Umstände für den (oder die?) Verursacher werten.
Nichtsdestotrotz war durch den widernatürlichen Sturm Schlotzer Gebiet geschädigt worden. Die Vorwürfe gegen den Druiden wogen so oder so schwer, von extremer Schadenszauberei bis hin zu frevlerischer Blutmagie.
Die Blutsgerichtsbarkeit oblag seit der Ochsenbluter Urkunde den Baronen des Reiches, somit ihr selbst. Die junge Adelige verzog den Mund. Blut, Blut, Blut, irgendwie schien sich gerade alles um Blut zu drehen. Tsa war eine milde Göttin, die das Töten von Lebewesen verabscheute. Womöglich war es ganz gut, wenn dieser....Burchert auf der anderen Seite des Nebels verschwinden würde. Am besten für immer. Halb fasziniert, halb mit Abscheu musterte sie den graubärtigen, kahlschädeligen Mann, der mitten in der Bewegung erstarrt war. Im Havener Wachsfigurenkabinett hätte er sicher eine gute Figur abgegeben, als sinistrer Hexenmeister aus dem Schlotzer Wutzenwald. Täuschte sie sich, oder funkelten Burcherts dunkle Augen böse? Die Glatze verunzierte eine Beule, außerdem eine üble Platzwunde, deren Blutung gerade zur rechten Zeit gestillt worden war. Haldana tastete über den erstarrten Bart und die in die Luft greifende Hand – Körperteile, die zu einer Holzstatue hätten gehören können. Wenn da nicht noch Wärme in diesem Körper gesteckt hätte. Die Restwärme von Blut, das wohl auch in den Adern des Zauberers erstarrt war.
Haldana fürchtete sich, wobei sie nicht recht hätten sagen können, wovor genau. Schauderte ihr beim Gedanken, dass dieser Sokramorier zweibeinige Opfer dargebracht hatte? Oder dass sie womöglich bald selbst ein Todesurteil würde fällen müssen? War es feige, sich vor der Halsgerichtsbarkeit zu drücken? Vor ihren Aufgaben und Pflichten als Baronin, nach mehr oder weniger sorglosen Jahren? Gewiss, sie hatte schon getötet, im Zweikampf. Aber da war es um ihr eigenes Leben gegangen. Einen wehrlosen Gefangenen zum Scheiterhaufen oder Galgen schleppen zu lassen, war etwas völlig anderes. Sollte so ihre Herrschaft über Schlotz beginnen, oder der Traviabund mit Alboran?
"Zu was ratet Ihr mir, Odilon?" fragte die Herrin von Schlotz, und wunderte sich über sich selbst. Ihre Stimme hatte überraschend fest geklungen, fast schon barönlich. "Streng genommen ist dieser Mann ja Euer Gefangener".
"Zuviel der Ehre. Timoin war mir dabei schon eine große Hilfe."
Odilon nickte seinem Scholaren zu, der gerade entzückt lächelnd das Zauberpferd hielt. Sicher war dem Jungen dessen überderische Herkunft nicht bewusst, sonst hätte er das reinweiße Fell nicht derart sorglos gestreichelt. Was für ein wunderbares Tier. Soweit Odilon wusste, würde es bald schon wieder auf seine immergrüne Weide zurückkehren. Der Schwarze Bär vermisste Kutaki, der vor vielen Jahren beiläufig von einem Bannstrahler abgestochen worden war, am Beginn ihrer Queste nach Maraskan. Das Elfenross war nur eine liebliche Illusion. Eine schöne, allzu schöne Erinnerung an längst verwehte Tage. Es half alles nichts, er musste sich dem Hier und Jetzt stellen.
Der alte Baernfarn wandte sich der Binsböckel zu.
"Es hätte leicht anders ausgehen können, mit dem Druiden und seinem verhexten Dolch. Wenn Ihr ihn zum Schlotz schaffen wollt, solltet Ihr an Eisen nicht geizen. Dennoch...Burcherts Überwältigung war ein wenig zu leicht, für meinen Geschmack. Blutmagie ist abscheulich, aber... Ich sehe die Gefahr, einen Märtyrer zu erschaffen, wenn Ihr ihn aburteilt. Dieser Burchert war felsenfest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Jedenfalls nichts Böses. Ja, er wollte uns sogar auf seine Seite ziehen. Weil er uns ebenfalls für Verbündete der Alten Kulte hält. Sicher würde er diese Meinung auch in einem Gerichtsverfahren vertreten. Ich fürchte, dass Burchert damit bei vielen Schlotzern auf Verständnis stoßen würde, und auch sonst auf offene Ohren. Drei tote Goblins werden hierzulande nicht allzu viel Mitleid erwecken. Auch wenn der Codex Albyricus da eine klare Sprache spricht. Wer vernunftbegabte Zweibeiner für magische Zwecke opfert, ist so gut wie vogelfrei, sofern er keiner Magiergilde angehört. In diesem Fall würde ein Magus von den eigenen Gildenkollegen mit dem Feuertod bestraft werden."
"Die Sokramorier würden wahrscheinlich schon protestieren, wenn wir Holz für einen Galgen oder Scheiterhaufen schlagen würden." Haldana versuchte ein sarkastisches Lächeln. "Aber wir müssen herausfinden, welche Hintermänner und Helfer er gehabt hat. Vor allem, was er mit diesem Attentat auf Glyrana zu tun hatte. Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar, handelt es sich bei dem Zauberer ebenfalls um einen gefährlichen Anhänger des Namenlosen..."
"Verhören würde ich ihn auch gerne. Aber dass er mit dem verfluchten Dreizehnten unter einer Decke steckt, das glaube ich nicht. Verblendet, ja, so könnte man Burchert bezeichnen. Ich vermute, dass ihn ein Seelensammler in die Irre geführt hat, in Gestalt eines schwarzen Eichhörnchens. Wir hatten ein paar Mal mit diesen Tierdämonen zu tun. Mal sind sie in Gestalt eines Rattenkönigs aufgetaucht, mal als Piratenpapagei… Shruufschnabel, ich kann ich mich noch gut an ihn erinnern...die Pest holt den Rest..." Odilon lächelte gequält.
"Seelensammler?"
"Daimonide Kreaturen. Vermutlich wurden sie von Merwan dem Schrecklichen erschaffen oder herbeigerufen, dem Vampirmagier. Ein Kind der Finsternis, das in der Wildermarkzeit die Baronie Friedwang geknechtet und ausgesaugt hat. Eine eigene Geschichte. Es gibt die Vermutung, dass sie Menschen die Seele stehlen, im Augenblick des Todes..."
"So könnten Burcherts Übeltaten auch auf...dämonische Einflüsterungen zurückgegangen sein?"
Odilon nickte anerkennend. Haldana lernte schnell.
"Nun, ich möchte es zumindest nicht ausschließen. Auch wenn manche Menschen sicher empfänglicher für finstere Versuchungen sind als andere. Wer mit dem Dämonensultan speist, braucht einen langen Löffel, beim Heiligen Alwin!"
Haldana dachte mit Grausen an ihre Begegnungen mit Golo, dem Schiefhals. Es war nicht nur die Last des Richteramts, das sie drückte. Eine Richterin, die regelmäßig von einem Diener des Namenlosen, in Gestalt eines "Nachtmahrs" heimgesucht wurde, andere Geister sah und Zwiegespräche mit einer Urahnin führte - wie praiosgefällig konnte deren Urteil sein? Mehr noch, die Befragung des Schwarzdruiden fiel womöglich in die Zuständigkeit der Heiligen Inquisition. Die Rotpelze hatten vor ihrem Ableben einen Praioten attackiert, der dort unten auf der Burg weilte. Der Stein, den sie mit Burcherts Anklage ins Wasser warf, würde schnell Kreise ziehen. Vielleicht sogar Wellen bis nach Rommilys schlagen. Anselm Horninger, der Inquisitionsrat der Mark, galt als harter Hund, selbst für die Verhältnisse seiner Zunft. Ein Spürhund, der sicherlich nicht nur eine Fährte verfolgen würde. Golo, ihr geisterhafter "Gemahl", hatte schon zu Lebzeiten eine deutliche Spur hinterlassen.  
"Mit welcher Strafe müsste der Zauberer denn in diesem...Feenreich rechnen?"
Odilon unterhielt sich mit den beiden Eberrittern, die gerade Tannenmisteln entdeckt hatten, und sich daran labten, als wären sie im sagenhaften Schlemmerland gelandet. In diesem Moment wirkten sie wieder tierhaft, wie zweibeinige Wildschweine. Fiorg schob sich auch noch ein paar Pilze zwischen die Eberzähne und schmatzte.
Der Dolmetscher drehte sich um: "Feenstrafen sind nicht sehr streng, wenn es um Ihresgleichen geht. Oft werden Missetäter in Felsen oder Bäume gebannt."
Glyrana schüttelte verständnislos den Kopf: "Ein böser Geist, der hier, am Ufer des Gernat, oder im Wutzenwald sein Unwesen treibt? Kommt gar nicht in Frage!"
"Manchmal werden böse Feen auch in Braunchen verwandelt, und müssen Wiedergutmachung leisten, als Hausgeister bei den Menschen."
"Braunchen?" fragte die Baronin. "Klingt wie ein Gebäck oder eine Süßigkeit !?"
"Braunchen sehen aus wie alte Männer oder Weiblein, geschrumpft, mit brauner Haut und Lumpen als Kleidung. Wenn ich mich richtig an die Feenfabeln aus Albernia erinnere...gar nicht so unähnlich wie der da!" Odilon klopfte mit der Faust auf Burcherts Kopf. "Nur kleiner. So groß wie Kobolde, oder Hämmerlinge. Als Lohn genügt ihnen ein Schälchen Milch. Man darf ihnen nur keine neuen Gewänder schenken, dann verschwinden sie."
"Milch trinken statt Blut vergießen, das wäre für diesen Hexenmeister ein Fortschritt. Ebenso, wenn der Druide hilft, die Schäden zu beseitigen, die er angerichtet hat. Aber dieser Burchert ist ein Mensch, keine Fee." Haldana umschritt den "Versteinerten".
Fiorg grunzte und ging zu seinem Kaltblüter, der sich zwischen den Bäumen des Hochplateaus an Süßmoos gütlich tat. Dann zog er aus einem glitzernden Samtbeutel eine kleine, rote Zipfelmütze hervor, die wie eine Elfenkappe aussah - zumindest so, wie sich manche Städter die Kopfbedeckung eines Spitzohrs vorstellten.
Der Wutzenritter unterhielt sich mit Odilon wieder in seiner eigentümlichen Sprache, die wie eine Mischung aus Isdira und Thorwalsch klang. Der Baernfarn nickte.
"Ah, verstehe. Diese Kappe beraubt Feenwesen, aber auch Grauweltler ihrer magischen Kräfte. So lange, bis ihnen die Koboldsmütze wieder abgenommen wird, müssen sie der Herrin des Waldes gehorchen. Grauweltler, so nennen sie uns Geschöpfe außerhalb ihrer bunten Anderwelt. Wenn die Hüterin Burchert für schuldig befindet, wird sie ihn zurück in unsere Welt schicken. Desweiteren bietet sie einen Feenpakt an. Die Wutzenritter kommen in Frieden, aber sie wissen kaum mehr von diesem Land als wir von dem ihren. Ich habe ihnen erklärt, dass es neben der Herrin von Gernatsborn auch noch eine Baronin in Schnayttach gibt. Wenn ich es richtig verstehe, wurde schon einmal ein Bund zwischen den Herren von Schnayttach und dem Lichten Volk geschlossen...Ein Bund von Wald, Berg und Fluss, wie sie ihn nennen."
Haldana runzelte die Stirn. "Vor einiger Zeit" bedeutete in feeischen Maßstäben sicher vor mehr als einer Ewigkeit. Soviel glaubte sie bereits verstanden zu haben. Ihr Vater war erst zur Zeit Kaiser Hals mit der Baronie Schlotz belehnt worden. Mit den Alten Kulten hatte er wenig am Hut gehabt, auch oder gerade weil er selbst elfisches Blut in den Adern gehabt hatte.
Allerdings hatte es früher noch einen Greifenfurter Zweig der Familie gegeben, die ebenfalls in einem Dorf Schnayttach residiert hatten, Schnayttach am Rinnsee, wo lange Eidon Wischbart von Schnayttach-Pilzhain Baron gewesen war: ein entfernter Verwandter, an den sie sich vor allem wegen des drolligen Namens erinnern konnte.
"Onkel Wischbart", den sie sich als Kind immer mit riesigem, über den Boden schleifenden Trollbart vorgestellt hatte, war in der Zeit der Wirren zu Rondra gegangen, im Götterlauf vor ihrer Geburt. Angeblich sollte der Baron auf einer Queste mal echten Feen begegnet sein. Außerdem von der Amazone Liliane abstammen, die schon zur Zeit Rohals durch einen Pilzkreis in das Land hinter dem Regenbogen geraten war (deshalb auch der "angeheiratete" Familienname Pilzhain). Einen ganz Monat sollte die Rondradienerin dort verbracht haben, bei ihrer Rückkehr aber gerade mal die Zeit bis zum Sonnenuntergang vergangen sein. Auch an diese Erzählung aus Kindertagen vermochte sich Haldana wieder zu erinnern. Seltsam, in diesem Fall schien Satinavs Fluss in der jenseitigen Welt schneller geströmt zu sein, als im Diesseits.
"Lili", so hatte ihre Lieblingspuppe geheißen, die in ihren Augen immer eine wunderschöne Fee gewesen war. Wie auch immer, die Greifenfurter Linie war seit dem Krieg erloschen – womöglich war in den Augen der Feen sie, Haldana, zu deren Nachfolgerin geworden? Aber den Wutzenwald, um den es ging, gab es doch nur hier, im Sichelhag? Die junge Adelige musste zugeben, dass sie sich selbst in der Geschichte der Schlotzer Schnayttachs nicht gut auskannte. Ihre Mutter hatte sie als Binsböckel erzogen. Die Geschichte von Großvater Nengarions Eltern war besonders sorgfältig bemäntelt worden. Lag es an ihrer elfischen Urgroßmutter, dass sie überall Gespenster sah und jetzt sogar Feenwesen anlockte? Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie über das "wahre Schlotz" kaum mehr wusste als über die underischen Gefilde, aus der die Manneber herbei geritten waren. Die Binsböckel verschränkte die Arme, ein wenig trotzig: "Soll dieses Bündnis nun mit dem Junkerhaus Gernatsborn-Mersingen oder uns Binsböckel-Schnayttachs geschlossen werden? Mit dem Kupferbergbau hatten wir nie etwas zu schaffen...andererseits sind wir die Herren der ganzen Baronie."
"Nun, was die Baronie angeht, so wünscht sich die Herrin des Waldes, dass in ihrem Reich keine neuen Dörfer mehr gegründet werden. Die Köhler werden ihre Meiler nur noch am Waldrand errichten. Brandrodungen sind von nun an verboten, ebenso das Schlagen alter Bäume, die ein Feenzeichen haben. Fragt die Diener der Sokramur, sie wissen, was damit gemeint ist. Es werden nicht mehr Bäume gefällt, als innerhalb eines Götterlaufs neu gepflanzt oder gesät werden können. Der einzige Weg, der Menschen durch den Wutzenwald gestattet sein soll, ist der Pfad Eures Großvaters Nengarion, dem ihr bereits gefolgt seid. Als Zeichen der Ehrerbietung sind den Wutzen Eicheln oder Bucheckern darzubringen, wann immer ein Zweibeiner der Wald betritt. Untaten und Frevel, die im Wutzenwald begangen werden, unterliegen allein dem Richtspruch der Herrin des Waldes. Im Gegenzug werden die Wutzen dort keine Räuber zulassen und dem Schlotz gegen finstere Mächte beistehen. Für Gernatsborn gilt das Gleiche, insbesondere was das Fällen von Holz oder das Pflanzen und Säen von Bäumen betrifft. Vor allem aber verzichten die Junker von Gernatsborn darauf, auf ihrem Land nach Erz zu schürfen. Für alle Zeiten." Odilon klang wie ein Herold. "Das sind nicht meine Worte, dass sind die ihrigen", fügte er mit entschuldigender Miene hinzu.
Glyrana schluckte. Auf das Kupferbergwerk verzichten? Als Vögtin war sie es gewohnt, in Dukaten, Abgaben, Erträgen zu denken. Andererseits, viel Gewinn hatte die Mine nie gebracht, allein wegen des ständig eindringenden Gernatwassers. In den letzten Jahren war das Kupfer auch vollständig in den Burgausbau geflossen, der nun abgeschlossen war. Der Verlust der Kupfergewinnung würde der Familienkasse zumindest gefühlt nicht viel schaden. Und schon ihre Wiederherstellung würde ein kleines Vermögen kosten. Für Storko hat die Mine vielleicht auch einen sentimentalen Wert, war sie doch die Grundlage für den Aufstieg der Familie Geratsborn. Aber die Gernatsborner waren Geschichte und Glyranas Mersinger Meisterpläne schielten schon auf das Oppsteiner Silber, auf das sie über den Erbanspruch von Ismena von Oppstein-Baernfarn und einer Heirat in ihr Haus zugreifen wollte. Dennoch, wer war diese "Herrin des Waldes", dass sie glaubte, dem göttergegebenen Adel sämtliche Bedingungen vorschreiben zu können? 
"Die Straßen in Schlotz sind schlecht, wir brauchen neue, feste Wege. Und der Holzeinschlag muss sich auch rentieren..."
"Ich glaube nicht, dass die Forderungen der Wutzen verhandelbar sind", sagte Odilon.
"Nun, reichsrechtlich steht das Ganze doch auf etwas wackeligem Boden. Wer sagt uns, dass die Wutzen ihren Teil der Vereinbarung einhalten werden, ohne Brief und Siegel?"
 “Es ist ein Feenpakt, der gewiss nicht jedem Sterblichen angeboten wird, sei er nun Junker, Baron oder Graf. Seht es als große Ehre und als ein Bündnis, das auch noch euren Kindern und Kindeskindern Nutzen bringen mag. An der Siebenwindigen Küste gibt es so etwas öfters, ebenso bei den Elfen. Man tauscht Geschenke aus. Nimmt der andere sie an, ist der Bund besiegelt."
"Bund? Feenpakt? Das hört sich in meinen Ohren wirklich etwas windig an." Die stolze Mersingen wollte durchaus nicht einsehen, dass sie sich hier von Wildschweinen Vorschriften machen musste (auch wenn in ihren Weidener Ländereien ebenfalls mit Respekt vor Pandlaril und anderen Feen gesprochen wurde).
"Es ist kein besserer Dämonenpakt, wenn Ihr so etwas vermutet, Euer Wohlgeboren." Odilon unterhielt sich wieder mit Fiorg und Torkwyn. Dieser zog nun eine kleine, gläserne Flöte aus dem Samtbeutel und überreichte ihn mit einer Verbeugung Haldana. "Das Geschenk an Euch, Hochgeboren Haldana. Eine Feenflöte. Man sagt, ihr Klang beruhigt die Wilden Wutzen und dringt weit in Artemas Reich. Wann immer Ihr einen Wunsch auf dem Herzen habt, der die Feenwelt betrifft, kommt an diesen Ort und spielt eure Lieblingsweise. Die Ritter werden herbeieilen, so schnell wie es ihnen möglich ist."
Die junge Baronin nahm überrascht und fast schon erschrocken die Glasflöte in die Hand. Sie wirkte zerbrechlich, wie ein Eiszapfen, und schimmerte doch in den warmen Farben des Regenbogens. Haldana konnte einfach nicht widerstehen. Sie spielte einfach los, die alte seenländische Weise Fährst du ins schöne Nostria fort. Die zartsilbrigen, sphärischen Klänge stiegen fast schon allein aus der Flöte auf, wie Vogelgezwitscher, sie brauchte sie nur ein wenig zu modulieren. Ob Haldana wollte oder nicht, sie musste ihre Füße im Takt dazu bewegen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte zu tanzen begonnen. Auch ihre Gefährten folgten unwillkürlich dem Rhythmus mit, selbst die beiden Wutzenritter begannen sich mit klirrender Rüstung zu drehen und schienen vergnügt zu lachen. Nein, sie würde diesen Pakt nicht ablehnen können.
"Du hast selbst gesehen, welchen Zorn der Elemente dieser Druide auf Gernatsborn losgeschickt hat, Glyrana. Und doch ist er nun ein hilfloser Gefangener der Wutzen. Wehe, wenn sie ihre Macht zeigen! Ich denke, wir haben gar keine andere Wahl, als dem Bund zu zu stimmen, für einen dauerhaften Frieden und das künftige Wohl unserer Ländereien".
Haldana überlegte, was sie den Besuchern aus der Anderwelt schenken konnte. Sie tastete bereits nach dem Feenring an ihrem Finger, aber die Biestinger wehrten ab. "Der Ring nutzt Euch in dieser Welt mehr, als einem Feenwesen in der seinigen" erklärte Odilon Wildgrimm.
"Aber, ich wüsste nicht, was ich Ihnen sonst geben könnte. Ich habe nichts wirklich Wertvolles bei mir, geschweige denn Magisches..."
"Nun, sie nehmen auch einen Teil des Körpers, eine Haarlocke zum Beispiel! Damit können sie euch rufen, wenn es ihnen beliebt. Aber auch sicherstellen, dass Ihr Euren Teil des Paktes einhaltet."
Torkwyn deutete mit seiner Klaue auf Haldanas Unterleib und sagte etwas. Einen Moment lang spürte die Adelige doch wieder Furcht.
"Er sagt, wären Feen wirklich so grausam wie ihr Ruf, würden sie diesen Teil Eures Körpers verlangen. Aber die Märchen würden zum Glück nicht immer die Wahrheit sagen. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie er das meint...Sie sprechen manchmal wirklich in Rätseln."
Haldana verstand das Gesagte noch weit weniger. Mit was für Mächten ließ sie sich hier ein?
"Seid unbesorgt. Die beiden sind Ritter und überaus ehrenhaft zu Damen. Wenn Ihr ihnen Euren Gürtel geben würdet, dann würden Sie im kommenden Turnier für Euch streiten!"
Haldana schluckte. Ah, als Hochzeitsgäste würde sie die Wutzen also auch begrüßen dürfen, na wunderbar. Dann musste sie das nur noch ihrer Mutter erklären, ebenso den übrigen Festgästen. Schicksalsergeben öffnete sie die Gürtelschließe und überreichte das Feenpfand Torkwyn. Ein Moment lang berührte seinen borstigen Haare ihre Haut. Sie erschauerte. Der Eberling verbeugte sich wieder galant. Nun ja, wenn sie ehrlich war, hatte sie schon Männer getroffen, die sich ihr gegenüber "schweinischer" benommen hatten als dieser schweineköpfige Biestinger.
Fiorg überreichte Glyrana einen Kupferling: "Diese Münze vermehrt jeden Reichtum, der im Sinne der Feen erworben worden ist. Es soll eine kleine Entschädigung sein, für die Verluste, die Euer Haus erlitten hat."
Glyrana von Gernatsborn-Mersingen musterte die etwas abgegriffene, sechseckige Kupfermünze. Zwar hatte sie nicht mit einem derart weltlichen Geschenk gerechnet, aber was war bei Feenwesen schon wirklich berechenbar? Die Prägung auf der einen Seite war unkenntlich, die andere Seite schien einen Drachen zu zeigen. Sie kannte sich als Vögtin mit Münzen ein wenig aus. Das Kupfer und die Form der Münze deuteten auf einen Vallusaner Flindrich hin, der aber eigentlich ein Turmwappen zeigen müsste. War das noch der Drachen der Ornaldinen, die einst über die Markgrafschaft Vallusa und die Drachensteine geherrscht hatten – aber schon vor Jahrhunderten ausgestorben waren?
"Fiorg würde ebenfalls gerne am Gestech teilnehmen, für Euch als seine Dame, falls Ihr gestattet."
Glyranas Hand schloss sich um den "Feenheller", wie sie die Kupfermünze nannte. "Seid bedankt für dieses Geschenk. Nun, einen Gürtel brauche ich noch für meinen Dolch. Und ich werde sicher nicht vor wildfremden Männern meine Gewänder ablegen. Eine Haarlocke habe ich gestern schon verloren, im Bösen. Also soll Euch im Guten eine weitere Strähne gehören". Sie schnitt sich ein Stück Haar ab und überreichte es dem Eberbiestinger. "Gerne will ich Herrn...Fiorg seinen Minnedienst gestatten. Wenn beide wirklich bei der Turnei antreten wollen, so sind sie herzlich eingeladen. Ich erbitte mir nur ...Diskretion, was ihre Herkunft betrifft."
"So sei der Bund geschlossen!" sagte Fiorg feierlich auf Garethi, und zog dem erstarrten Burchert die Feenmütze über den Kopf.
Der Druide begann zu zucken und zu zittern. Mit einem Ächzen fiel er zu Boden. Verwirrt schaute er um sich und blinzelte. Die Eberbiestinger fesselten ihn mit den Blütenranken und schwangen sich wieder in den Sattel: "Gehabt Euch wohl, Grauweltler. Ihr werdet von uns hören!"
Dann ritten die beiden Gesandten der Artema in die Nebel des unergründlichern Wutzenwalds, mit einem schimpfenden, fluchenden Gefangenen im Schlepptau.



11. Kapitel - Eine Verlobung und ein Unwetter

11. Kapitel

Eine Verlobung und ein Unwetter



Umgebung von Gernatsborn, gegen Mittag des 6. Praios 1043
Dumpf schlugen die Hufe der Pferde auf den Burgweg, der sich hinunter zu den Obstwiesen und Weiden von Gernatsborn schlängelte. Die Rösser schnaubten unruhig. Adginna, die vornehm im Damensitz im Reisesattel saß, geführt von einem Diener, blickte nach oben. Der Himmel, der heute Morgen noch makellos gewesen war, hatte sich seit den Mittagsstunden zunehmen bewölkt. Als hätte der finstere Rauch, in dem sich diese Meuchelmörderin aufgelöst haben sollte, es vermocht, den Himmel mit deren Bosheit zu vergiften. Das letzte, woran Adginna an einem Schreckenstag wie diesem gedacht hätte, war die Verlobung zwischen ihrer Tochter und Alboran. Ausgerechnet an einem Schrein der Koboldsgöttin Tsa. Tuvok, ihr treuer Forstwart, war zu allem Überfluss auch noch verschwunden. Odilon und Timoin hatten sich auf dessen Fährte geheftet, aber bislang hatte sie noch keine beruhigende Nachricht erhalten. Das alles war mehr als Besorgnis erregend.
Zur Mittagszeit war nun die Tsageweihte aus Schnayttach eingetroffen, um den Heiligen Hain einzuweihen. Also ritten die Adeligen den Hang hinunter, hinein in das kleine Dorf und eskortiert von mehreren Pfahlgardisten. Die Wachen waren durchaus nötig. Aufgeregte Dörfler drängten sich am Wegesrand und starrten auf die Burgherrin, die bleich, aber voller Selbstbeherrschung dem Zug voran ritt. Manche drängelten sich nach vorne, wollten Glyranas Umhang oder Tunika berühren und machten dabei die Pferde scheu. Dann wurden sie mit dem Hellebardenschaft sanft, aber bestimmt zurück befördert. Offenbar hatte es das Gerücht gegeben, Ihre Wohlgeboren wären ernsthaft verletzt oder – Frau Tsa bewahre! - gar ihren Wunden erlegen. Insofern machte es durchaus Sinn, sich als Burgherrin dem Volk zu zeigen, und jene Unerschrockenheit zu demonstrieren, wie sie Adeligen des Raulschen Reiches gut zu Gesicht stand.
Die Unbekümmertheit der Schnayttacher Tsadienerin wunderte die Vögtin von Schlotz allerdings schon: Am späteren Nachmittag sollte es erneut ein Gewitter geben. Hoffte die Dienerin des Lebens auf einen abschließenden Regenbogen, als Höhepunkt der Zeremonie? Und wer wusste schon, was die namenlosen Verschwörer (so es denn mehrere Täter gab) noch alles im Schilde führten. Diese Yasinthe hatte gestern Abend eindeutig Drohungen gegen die Tsakirche ausgestoßen...Die halbe Lanze Leibwachen schien da angeraten zu sein. Auch wenn die Bewaffneten nicht so Recht zur Einweihung eines Heiligtums der friedfertigen Jungen Göttin passen wollten.

Nun fehlt eigentlich nur noch, dass sich Ysilda von Schlotz unter den Tsajüngern befindet, dachte Alrik, der huldvoll zur Seite hin winkte und ein Stück nach vorne ritt, neben die Dienstritterin. Jadvige befehligte die Pfahlgardisten selbst, nachdem Rodericks Pferd immer noch hinkte.
"Gibt es etwas Neues von den Verhören?" wollte Alrik wissen.
"Wir haben diesen Wendelin erst einmal in den Kerker gesteckt", sagte die Dienstritterin. "Vorsichtshalber und zur Ausnüchterung...Der Barde scheint gestern Nacht wirklich heillos betrunken gewesen zu sein. Er kann sich auch nach ein paar Eimern Wassern an nichts erinnern. Behauptet er jedenfalls."
"Ah. Tulamidische Wasserfolter ?" Lächelnd grüßte der Friedwanger erneut.
"Nein. Thorwalsche Morgenwäsche. Unser Minnesänger hat einen ordentlichen Werwolf. Der nicht gespielt ist, beim Heiligen Valpo. Andererseits hat Yasinthe sich in seinem Zimmer versteckt. Und einer der Diener will gesehen haben, wie Wendelin nachts mit irgendwas unter dem Mantel zur Latrine gelaufen ist...Irgendetwas, was durchaus ein Seil hätte sein können. Da wäre er aber schon sternhagelvoll und kaum noch ansprechbar gewesen. "
"Das ist doch seltsam, für einen Mitverschwörer. Musste der Spielmann sich etwa Mut antrinken?"
"Könnte was Magisches sein" Jadviges Blick glitt misstrauisch über die Umgebung. "Aber da kenne ich mich nicht besonders gut aus...Leider oder Praios sei Dank, je nachdem."
"Ja, ich vermisse gerade  Hesindian, meinen Hofmagier. Was ist mit den Wachen auf der Burgmauer?"
"Haben Geräusche im Wasser gehört, kurz vor dem Attentat. Dachten allerdings, es wäre eine Rotte Wildschweine. Die schwimmen in letzter Zeit öfters über den Fluss. Die Küche wirft gerne ihre Abfälle über die Mauer. Muss mal mit Glyrana darüber reden..."
"Und die Leiter?" Alriks Pferd stolperte. Der Baron beruhigte es mit einem Tätscheln.
"Die Diener auf der Terrasse haben sie erspäht, als sie den Baldachin aufgestellt haben. Aber sich nichts Besonderes dabei gedacht. Schließlich war unsere Burg die letzten Monate eine einzige Baustelle, mit Gerüsten und Leitern. Ein schwarzes Eichhörnchen haben sie auch noch gesehen, auf dem Söller...das hat sie merkwürdig angeschaut..."
"Euer Gesinde scheint ein Herz für Tiere zu haben. Weiß von den Dienern jemand etwas über die Wilden Keiler, Wilden Kerle oder wie die sich nennen?"
"Über die Sokramurier redet man hierzulande nicht gerne". Auch Jadvige klang ausweichend. "Die Wilden Kerle tragen ihren Namen wohl zu Recht. Aber allzu gefährlich kommen sie mir nicht vor. Es gab mal eine Rauferei im Gerbaldsrast, böse Streiche und ein paar Schmierereien an Hauswänden. Märsingen geht nach Hause, und so weiter. Märsingen mit ä...Ich frage mich, wie diese Wildsauen da irgendwelche yesatanische Hetzschriften lesen sollen, von denen Valyria schreibt."
"Das heißt, wir haben momentan nichts..." Alrik erstarrte mitten im Satz. Aus dem Menschenauflauf heraus blickte ihn ein bekanntes Gesicht an wie ein Geist. Oder wie ein Untoter. Das Gesicht war mit Ruß und blutverschmiert, die schwarzgrauen Haare hatten heute noch keinen Kamm gesehen, die ledernen Gewänder waren schmutzig und feucht. Am schrecklichsten war der hohle, leere Blick des Mannes, in dessen Augen nun aber doch so etwas wie jähes Erkennen trat.
"Alrik... Alrik?!" Der "Geist" taumelte auf den Baron von Friedwang zu, dessen Reittier scheute und auswich. Eine Pfahlgardistin wollte sich ihm in den Weg stellen, aber der Friedwanger hielt sie mit einer Geste zurück.
"Tuvok?!! Wo warst du die ganze Zeit, beim Heiligen Assaf?"
"Ich...ich weiß es nicht..." stammelte der Forstwart. "Eigentlich wollte ich mir nur mal kurz die Beine vertreten...dann war alles ganz seltsam..."
Verstört starrte Tuvok auf seine Hände, deren Gelenke von rötlichen Striemen verunziert waren, und rieb sie sich über das Gesicht. "Wo, wo kommt ihr jetzt her? Wollt ihr schon zurück nach Burg Schlotz? Wo ist mein Bogen?"
Der Phexgeweihte schüttelte irritiert den Kopf. Auch Jadvige war verwirrt: "Hat der vielleicht gestern die Nacht mit Wendelin durchgemacht?"
Tuvok starrte an Alrik vorbei ins Leere. "Ich, ich kann mich wieder erinnern. Die Trollzacken...ein Geisterdorf...ich glaube es hieß Kurgasberg. Da war eine Grüne Wolke, in der alten Mine. Ja, nun weiß ich es wieder. Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund für alles...Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören...noch heute. Er will...ich soll euch ausrichten..." Mit einem Seufzen sank der barönliche Forstwart zu Boden.  


Da Odilon und Timoin schon am Vormittag umfangreich das Ufer des Gernat flussabwärts abgesucht hatten - wenn auch auf der Suche nach einer Spur von Yasinthe - so war doch klar, dass sich hier keine weiteren Spuren finden würden. Weder von einem Hofjagdmeister noch von sonst jemandem. Also hatte Odilon kurzerhand entschieden, ein wenig stromaufwärts auf gut Glück zu suchen. Es gab keinen Hinweis, wo Tuvok sich aufhalten könne. Hier nach einer Spur zu suchen war die sprichwörtliche Suche nach der Tannennadel auf dem Waldboden. So war es auch kein Wunder, dass sie die Spur des Jägers nicht fanden. Zumal beide wussten, dass Tuvok keine Spuren hinterlassen würde, wenn er darauf achtete.
"Sieh dort, Odilon! Da sind Spuren!" rief Timoin plötzlich aus, der vorangegangen war. Er deutete auf eine lehmige Stelle am südlichen Gernatufer, an einer Stelle, die als Furt über den Gernat bekannt war.
Der alte Jäger eilte zu seinem jugendlichen Begleiter und ließ seine Augen über den Boden gleiten. Er nickte.
"Interessant... Nicht Tuvoks Spur. Aber dennoch eine Fährte, die uns bekannt vorkommt. Sieh Timoin. Wie viele Spuren zählst du?"
"Vier. Das waren vier." antwortete Timoin schnell und sicher. "Gestern waren das noch fünf Spuren, aber einer wurde von einer Armbrusterin in den Rücken geschossen. Jetzt sind es noch vier Goblins.”
Odilon nickte. “Ja, eindeutig vier Spuren. Und von der Eindrucktiefe und den Schuhspuren her sind es Goblins. Die Richtung, in die die vier Rotpelze von gestern aufgebrochen sind, könnte auch passen. Ja, vermutlich sind es die gleichen Goblins, deren Fährte wir gestern gesehen haben.”
“Hilft uns das weiter auf der Suche nach Tuvok?”orakelte Timoin, halb an sich selbst gerichtet. Seine Augen folgten der Spur, sie weiter praioswärts in den Wald führte.
“Keine Ahnung” murmelte Odilon und zuckte mit den Schultern. “Aber eine bessere Fährte haben wir ja nicht, und vielleicht finden wir etwas heraus.” Odilons Stimme war leiser geworden. “Wenn wir hier Spuren sehen, dann haben die Goblins den Gernat erst nach dem Regen überquert. Irgendwann in der Nacht, vermute ich, denn tagsüber traut sich der Rotpelz so nahe an Gernatsborn vermutlich nicht über die Furt. Da wären sie ja vom Bergfried aus zu sehen gewesen. Und sie müssen irgendwann gelagert haben, also sind sie vielleicht nicht weit entfernt.”
Odilon spannte vorsichtshalber die Sehne auf Bavhano Bvaith, und Timoin tat es ihm gleich mit seinem Bogen. Dann folgten sie der Spur in den Wutzenwald.
Es war nicht schwer, der Spur zu folgen. Der Boden war weich genug, und die Goblins hatten sich nicht darum bemüht, ihre Spuren zu verwischen. Eine knappe Meile folgten beide der Fährte durch den Wald. Dann bemerkten sie eine Feuerstelle. Mehrere verkohlte Äste lagen in einem aus Steinen errichtetem Rund.
“Offenbar haben sie hier gelagert.” flüsterte Timoin. Odilon nickte. Der Platz rings um die Feuerstelle war gänzlich platt getreten. Ein paar abgenagte Rotpüschelknochen verrieten Odilon und Timoin, dass die Goblins Jagdglück hatten.
Dann wies Odilon auf eine weitere Spur hin. Odilon erkannte sie eindeutig als Spur eines Menschen. Eines Menschen, der mehr ins Lager geschleift war, als dass er gelaufen war.
“Sieh hier, Timoin. Hier führt eine Goblinspur weg vom Lager, hin zu der Spur des Menschen. Ab dort, wo die beiden Spuren sich kreuzen, endet die Laufspur des Menschen, und die Schleifspur beginnt. Was meinst du, Timoin?”
Der Angesprochene nickte. “Ich würde sagen, der Mensch hat sich zu unvorsichtig angepirscht, wurde erwischt und nieder geschlagen.”
“Ja, so ungefähr” bestätigte Odilon. “Das hätte ich auch so gedacht. Ob das Tuvok war? Immerhin wird sonst niemand vermisst außer dem Hofjagdmeister.”
“Das ist naheliegend… aber ich habe Tuvok noch nie gesehen. Also, wie sollte ich seine Spur erkennen” Odilon nickte. Auch wenn er Tuvok schon kannte, so wusste er doch nicht, welche Stiefel dieser trug. “Lass uns weiter sehen. Zwei Goblins schleifen einen Gefangenen zum Feuer. Dort, diese Eindruckspuren, dort haben sie ihn hingelegt, vielleicht gefesselt. Wer weiß das schon. Es ist alles ziemlich platt getreten. Man tut sich schwer, etwas zuzuordnen. Jedenfalls… dort führt die Spur wieder weg vom Lagerplatz. In diese Richtung scheinen sie gegangen zu sein.”
Timoin eilte in die angegebene Richtung. Sorgfältig untersuchte er den Boden. Dann stutzte er.
“Odilon, da stimmt was nicht.” Der junge Jäger wies auf einen Fußabdruck vor ihm. “Ich sehe vier Goblins und die Spur des Gefangenen. Aber da ist noch eine Spur. Eine Spur geht mit den Rotpelzen vom Lager fort. Eine Spur, die aber nicht zum Lagerplatz hin gegangen ist. Ich kann mir das nicht erklären, aber da ist noch jemand mit dabei gewesen. Eine weitere Spur…lederne Mokassins, schwerer als ein Goblin, leichter als der Gefangene… eine Frau vermutlich. Aber jemand, der nur vom Lager fort geht und offenbar nicht dorthin gekommen ist. Was kann das sein?”
“Nun, am plausibelsten” begann Odilon “ist es, dass die Frau schon vor dem Regen da gewesen ist… hat vielleicht auf die Goblins gewartet. Durch die Luft wird sie ja nicht geflogen sein. Oder jemand… der beim Hinweg darauf geachtet hat, keine Spuren zu hinterlassen. Vergiss nicht Timoin, wir sehen auch nicht immer alles. Gute Waldläufer verstehen sich darauf, keine Spuren zu hinterlassen.”
Der junge Jäger nickte. “Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden” flüsterte er. “Wir müssen der Spur folgen. Immerhin gehen alle sechs in die gleiche Richtung.”
Odilon stimmte seinem Begleiter zu, aber er legte den Finger an den Mund. Timoin verstand. Wer vermochte schon einzuschätzen, ob die Rotpelze weit weg waren oder nicht?
Vorsichtig folgten die beiden Jäger der Fährte, die nicht schwer zu verfolgen war,  tiefer in den Wald, Die Spuren von sechs paar Füßen war tatsächlich kaum zu übersehen für einen auch nur halbwegs geschulten Blick. Odilons Blick hob sich nach dem Stand der Sonne. Es durfte auf Mittag zugehen. Eigentlich hätte er gerne der Verlobung der jungen Baronin mit dem Sohn seines alten Freundes Alrik beigewohnt. Aber die Suche nach Tuvok ging eindeutig vor. Irgendetwas bahnte sich hier an. Odilon hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Der alte Jäger ging voran, und Timoin folgte ihm. Eine gute Meile führten die Spuren Odilon und Timoin tiefer in den Wald. Ein seltsam flirrendes Licht fiel durch die Bäume auf den Waldboden.
Pfifferlinge. Leckere, frische Pfifferlinge. Verborgen in einer schattigen Stelle zwischen moosbewachsenen Steinen. Wären die beiden noch auf ihrer Pilgerfahrt, Odilon hätte die Pilze mitgenommen für das Abendmahl. Jetzt allerdings blieb keine Zeit dazu. Aber noch etwas fiel Odilon auf.
Eine Spur zweigte von der Hauptfährte ab. Allerdings halb in Gegenrichtung, gen Rahja tiefer in das Unterholz hinein. Odilon bückte sich und winkte Timoin ebenfalls herunter. Der Junge verstand intuitiv, dass er schweigen sollte.
Odilon deutete auf die Spur, auf einen Fußtritt, dann auf den nächsten. Dann zeigte er auf zwei Fußtritte auf der Hauptfährte.
Timoin nickte. Die Abstände der Fußspuren auf der abzweigenden Fährte waren größer, tiefer. Ein Goblin, das war klar. Er war auf dem Rückweg gerannt. War er geflohen? Vor was? Aber jedenfalls war nur ein Goblin hier zurückgekehrt.
Odilon schlich vorsichtig weiter, der Hauptspur folgend. Einem fliehenden nachzusetzen schien dem alten Jäger im Augenblick nicht sinnvoll. Die Spur führte weg vom Gernatsborn, tiefer in den Wutzenwald hinein. Und die beiden Menschenspuren, die mit den Goblins unterwegs waren, führten weiter gerade aus. Es schien Odion wichtiger, festzustellen, wohin diese Spuren führten. Sachte auf den Waldboden achtend bewegten Odion und Timoin sich weiter.
Timoin zog leise Luft durch die Nase ein und zeigte nach vorne. Odilon verstand, was sein Begleiter ihm mitteilen wollte. Ein leichter Rauchgeruch lag in der Luft. Und der Wind stand gegen sie. Immerhin, das war vorteilhaft für sie beide.
Aber das sirrende, flimmernde Licht verwirrte beide. War es die verwunschene Aura des Wutzenwaldes? Oder brach sich Praios Schein in der feuchten warmen Luft und zauberte eine vielzahl kleiner Regenbogen?
Odilon und Timoin schlichen, die Deckung des Unterholzes ausnutzen, vorsichtig vorwärts. Wenn nicht weit von Ihnen ein Feuer brannte, dann war dort vorne auch jemand - oder zumindest noch bis vor kurzem gewesen. Mit drei Rotpelzen und zwei Menschen war zu rechnen, aber wer konnte das schon genau sagen?
Langsam wurde der Wald lichter. Odilon hielt inne, legte sich flach auf den Boden und kroch vorwärts. Der Geruch des Rauches hatte ihm verraten, dass es nur noch wenige Schritt waren bis zur Quelle des Rauches. Dennoch war im Waldesdickicht nicht zu sehen. Die Fährte folgte durch das Unterholz - aufrecht gegangen, wie die Rotpelze schienen, hätten ihnen ständig Äste und Zweige ins Gesicht geschlagen, und man hätte sich auch kommen hören. Das war den Rotpelzen offenbar gleichgültig gewesen. Odilon und Timoin hingegen krochen unter dem Unterholz hindurch, sich leise und sorgsam annähernd.

Dann öffnete sich vor ihnen der Wald, und es bot sich ihnen ein Bild des Grauens.

Auf einem Moosbewachsenen, halb mannshohen Felsblock lagen die Leichen dreier Goblins, offenbar erstochen. Überreichlich Blut war über den Stein geflossen und auf den Waldboden getropft. Der alte Waldläufer war dankbar, dass sein junger Begleiter bei diesem Anblick nicht so sehr erschrak, als dass er aufgeschrien hätte. Regelrecht dahin gemetzelt schienen die drei Rotpelze zu sein. Kein Wunder, dass der Vierte in aller Hast geflüchtet war.
Neben dem Felsen machte Odilon eine Feuerstelle aus, von faustgroßen Steinen umringt, in der offenbar noch Glut war. Das unheilige Ritual - als solches würde er alles bezeichnen, was unter Zuhilfenahme von Blutmagie gewirkt worden war - schien noch nicht lange zurück zu liegen. Ob der Urheber des Rituals noch in der Nähe war, vermochte Odilon nicht einzuschätzen war. Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Odilon hatte in seinen fast siebzig Jahren genug gesehen und erlebt, um, auch ohne selbst die Magie zu beherrschen, Blutmagie als solche zu erkennen. Nicht zuletzt während des Krieges gegen den Bethanier waren solche Schauerlichkeiten häufiger geschehen. Wer oder was der Urheber des Massakers an den Rotpelzen war, da konnte er nur vermuten. Immerhin, die beiden Menschenspuren hatten hier nicht ihr Ende gefunden.
Die Rotpelze waren in die Falle gelockt worden!
Vorsichtig spähte Odilon weiter. Den Urheber dieses schändlichen Mordes an Goblins konnte er nicht sehen. Aber eines wusste er: Wer immer hier Blutmagie gewirkt hatte, dem würde er lieber nicht begegnen. Er mochte den Bogen meisterlich und das Schwert immer noch gut beherrschen, aber mit einem Schwarzmagier, Paktierer oder anderen finsterschurkischen Gesellen konnte er, würde er sich auf einen Kampf mit diesem einlassen - nicht auf einen guten Ausgang vertrauen können. Er hätte viel darum gegeben, seine Gefährtin Jirka mit ihrer mächtigen elfischen Magie an seiner Seite zu wissen.
Odilon scheute davor zurück auf die Lichtung zu treten, auch wenn er niemanden mehr dort sah. Vermochte er zu wissen, wie weit weg, die Verursacher dieses Blutbades inzwischen gelangt waren? Waren sie noch in der Nähe?
Immerhin konnte Odilon erkennen, dass zwei Spuren tiefer in den Wald hinein führten. Eine andere Spur - die des zuvor gefangenen, wie Odilon erkannte - führte in die Richtung, in der Gernatsborn lag.
Immerhin wusste Odilon nun, dass jemand hier am Stein - Opferstein, wie er besser sagen sollte, gewartet hatte, um die Goblins in einen Hinterhalt zu locken. Und die Frau war mit diesem mitgegangen.
Wem sollte er folgen? Aufteilen? Kurz dachte Odilon nach. Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Timoin alleine hätte nicht den Hauch einer Chance gegen jemanden gehabt, der sich der Dunklen Pforten bedient. Odilon wusste zumindest, auf was er sich da einlassen würde - was ihn seine Chancen aber auch nicht besser einschätzen ließ.
Also entschied Odilon, der Spur zum Gernatsborn zurück zu folgen. Immerhin konnten sie dann den Burgherrn warnen vor dem, was im Wald unweit seines Lehens vor sich ging.

Timoin bekam von der Sorge seines Lehrmeisters wenig mit. Die Lichtung faszinierte ihn, auf dunkle Art und Weise, nicht nur wegen der toten Rotpelze. Sie war voller Spuren. Genauer gesagt war die Wiese völlig zertrampelt. Mit der fiebrigen Begeisterung eines Jagdhunds, der eine heiße Fährte erspürt hatte, ließ er seinen Blick schweifen und tastete mit der Hand über das eingedrückte Gras, die kleinen Erdmulden, die zerbrochenen Äste, das abgeschabte Moos an den Steinen. Hier lag ein schartiges Schwert, dort ein Knüppel oder ein Speer. Auf den ersten Blick sah das alles nach einem wilden Kampf aus, aber der junge Binsböckel war sich unsicher. Die Goblins hatten ihre Waffen offenkundig fallen gelassen, bevor sie zum Stein gezerrt worden waren. Erst dort waren sie erstochen worden, mit einer spitzen, aber nicht allzu großen Waffe. Fliegen umschwirrten das Blut, das noch ziemlich frisch wirkte und kaum geronnen war. Kleine rote Pfotenspuren führten über den Stein: ein Marder, oder Ratten?
Timoin empfand Abscheu und Ekel, aber wenig Furcht vor der gräulichen Szene. Geschweige denn Mitleid. Goblins. Die Baronie hatte in den letzten Jahren wahrlich genug unter Strauchdieben wie diesen gelitten, die auf dem Stein lagen wie betrunkene Zecher an einer Theke: mit schiefem, hauerbewehrtem Maul und glasigem Blick. Irgendwie sahen sie erschöpft und müde aus. Zu Tode erschöpft und todmüde.
Gerade weil Timoin als Kind eine Heidenangst vor den plündernden, sengenden Götzenanbetern gehabt hatte, wollte er sich jetzt keine Furcht anmerken lassen. Der grausame Räuberhäuptling Chraaz sollte sich heute noch irgendwo in den endlosen Wäldern am Gernat herumtreiben. Nein, das erste Rotpüschel, das er erlegt hatte, hatte ihm mehr leidgetan als diese hingeschlachteten Banditen. Die Rotpelze, die er kannte, waren nichts als Mörder und Räuber (manchmal sogar Frauenschänder).
Nur Odilon schien ehrlich über deren Ableben betrübt zu sein. Aber der Schwarze Bär machte keinen Hehl daraus, Verständnis für die "Suulak" zu empfinden, als wahre Ureinwohner der Sichellande. Der alte Waidmann hatte sicher keine Gründe, selbst wenn Timoin sie nicht recht verstand: Immerhin hatte der Baernfarn in vielen Schlachten gegen die Goblins gekämpft.
Auch die Fußspuren wirkten merkwürdig. Bei einem Kampf gingen sie meist tief, in diesem Fall waren sie oft nur angedeutet, als wären die Goblins halb über die Lichtung geschwebt. Timoin kannte eigentlich nur ein Spurenbild, das dem Chaos hier ähnelte: Junge Rehböcke oder Hirsche, die übermütig durch den Wald sprangen. Auch wenn es keinen Sinn ergab, sah die Szene hier fast so aus, als hätten die kleinen Stinker getanzt – und wären dann mal hier, mal dort nieder gesunken. Was war denn das dort? Am Rand der Lichtung lagen fette, runde, glänzende Eicheln. Sie wirkten frisch, obwohl weit und breit keine Eichen standen und der Herbst noch fern war. Zahlreiche der Baumfrüchte waren bereits angefressen. Tatsächlich, hier waren überall Wildschweinspuren. Timoin roch an einer der zernagten Eicheln, die einen intensiven Geruch verströmte.

"Die Lichtung ist nicht nur eine Opferstätte, sondern auch eine Kirrung", sagte Odilon, der neben seinem Gesellen niedergekniet war. "Ein Ort, wo Schwarzwild mit Futter angelockt wird. Gar nicht so lange her, der Tod der Rotpelze...ein Viertel Wassermaß vielleicht, höchstens. Das Gras hat sich noch kaum aufgerichtet. Siehst du die Abdrücke der Schalen dort? Irgendetwas hat die Wildsauen vertrieben. Ich vermute, die Ankunft der Zweibeiner. Scheint eine ziemlich große Rotte zu sein."
Der Baernfarn, der den Pfeil bereits auf Bavhano Bvaith aufgelegt hatte, spähte um sich. "Das sollten wir übrigens auch tun...so schnell wie möglich verduften."
"Aber Odilon, da führen noch Spuren von Menschen in den Wald?!"
"Wer immer das hier getan hat, hat Blutmagie angewandt...Und wer soetwas tut, ist kein firunsgefälliger Mensch."
"Blutmagie?" Timoin schluckte und langte sich nervös an das Ohr mit der Alboranskerbe. Sein Meister empfand eindeutig Furcht, was ihn verwirrte.
"Ja, zaubern mit der Lebenskraft von beseelten Wesen. Oder sogar Zweibeinern, wie hier."
"Woran erkennt man das?"
"Für die tiefen Wunden befindet sich viel zu wenig Blut auf dem Stein. Die Körper der Suulak sind auch schon völlig kalt, obwohl sie erst vor kurzem gestorben sein müssen."
Odilon merkte, dass er selber gerade erst die Tragweite des Gesagten begriff. Zaubern mit der Lebenskraft von anderen Kreaturen - die Beschreibung traf es ganz gut. Blieb die Frage, worin der Zauber bestanden hatte. Von einem Schwarzmagier im Wutzenwald hatte er noch nie gehört, seit dem Ende der Wildermark. Oben in Hallingen, auf der anderen Seite des Gernat, hatte es mal Ärger mit einem Druiden gegeben, aber das war schon ein paar Jahre her. Wie hatte der Schadenszauberer noch mal geheißen? Barnhelm? Burkhart? Die Leute hatten sich einige Schauergeschichten über ihn erzählt. Mal sollte er schon über tausend Jahre alt sein, mal der ehemalige Hofdruide Answins von Rabenmund. Allerdings hatte man nichts mehr von ihm gehört, seitdem er aus der Nachbarbaronie vertrieben worden war. Burchert vom Ebergrund, das war sein Name gewesen.
"Wir sollten uns jedenfalls beeilen, zurück nach Gernatsborn zu gelangen, um Storko zu warnen. Mit einem Blutmagier legen wir uns hier und jetzt besser nicht an..."
Timoin schluckte.
"Odilon...?"
"Ja?!"
"Da drüben steht ein großer Schatten im Wald. Mit Hörnern...Und schaut in unsere Richtung" Timoin deutete mit dem Bogen ins Halbdunkel zwischen die Baumreihen. Tatsächlich war dort ein Schemen wahrzunehmen, mit Stab, Umhang und Widderhörnern, und, noch undeutlicher, eine zweite Gestalt dahinter. Der unwirkliche Anblick erinnerte den Schwarzen Bären an die Geschichten von Levthan, dem bocksgesichtigen Gott der Hexen.
Überall war nun Rascheln, Knacken, Knistern, Prasseln zu hören. Im Unterholz bewegte sich etwas.

"Levthan" deutete in ihre Richtung, mit einem knorrigen Stab. So schien es zumindest.
Odilon wollte noch den mächtigen Elfenbogen hochreißen und einen Pfeil fliegen lassen, dann brachen die Niederhöllen auch schon los. Ein scharfer Geruch nach Wildsau war fast die einzige Vorwarnung, da walzte bereits ein kapitaler, infernalisch quiekender Keiler heran, genau auf Timoin zu.
Bavhanon Bvaith sang sein vertrautes Lied. Der Pfeil traf das Wildschwein mit voller Wucht und schleuderte es seitlich gegen einen Baum. Zuvor schaffte der Eber es noch, Odilons Schüler den Bogen aus der Hand zu fegen. Leider war es in der Hektik kein sauberer Blattschuss geworden. Quiekend, grunzend versuchte das Untier, seine Hauern in den Unterleib des jungen Jäger zu bohren. Erstaunlich beherzt, fast schon kaltblütig griff Timoin nach seinem Messer und stieß zu, ins Schulterblatt, kurz über dem Pfeil. Ein kurzes Keuchen, dann lag der vierbeinige Angreifer auch schon still.
Das Quieken wurde lauter. Der Wald erwachte. Wohin man sah, tauchten nun borstige Haarbüschel, böse glitzernde Äuglein, trippelnde Hufe, lehmverklebte Rüssel auf. Süßlicher Morastgeruch betäubte die Nasen der Menschen, der Kampruf der Schweine gellte in den Ohren.
"Zurück", rief Odilon und lief los, Richtung Burg oder zumindest dorthin, wo er sie vermutete.
Im nächsten Moment traf ihn auch schon ein massiger Leib und warf ihn mit Urgewalt um. Die Kraft und die Wut der halbstarken Bache waren erstaunlich. Einen Herzschlag später versuchte sie ihm ins Gesicht zu beißen. Odilon hatte keine Zeit, Furcht zu empfinden, geschweige denn nachzudenken. Er ließ seinen Bogen fallen, riss seinen Hirschfänger aus dem Gürtel und stach wie von Sinnen auf die Angreiferin ein. Ächzend brach das Wildschwein über ihm zusammen. Kratziges Fell nahm ihm die Sicht. Stöhnend wälzte der alte Jäger die Last von seinem schmerzenden Körper. Dann raffte er Bogen und Köcher an sich, und merkte, dass er bereits in einem reißenden Strom wütender Sauen und Eber stand, die durch den Wald fegten. Selbst einige gestreifte Frischlinge sprangen an ihm vorbei. Ein panisch fliehendes Reh war vor diesen lebenden, vielbeinigen Rammbock geraten und wurde ebenfalls umgerissen. Der Boden schien zu dröhnen und zu beben. Um Firuns Willen, wo war Timoin?
Jäher Schrecken durchglühte ihn, als er seinen Schützling nicht mehr entdecken konnte. Die Wildschweinstampede wurde langsam bedrohlich. Immer mehr Schweineschnauzen bissen nach ihm und fetzten Löcher in seinen Mantel. Im nächsten Moment hatte er seinen Jagdgenossen entdeckt, der sich auf eine hohe Esche gerettet hatte. Odilon nahm Anlauf, wuchtete sich den Baumstamm hoch und wurde nach oben gezogen, auf einen  rettenden Ast.
Es dauerte eine Weile, bis er einigermaßen sicher saß, neben Timoin, der wie ein Matrose im Ausguck nach den quiekenden Schwarzkitteln spähte. Die erstaunlich große Rotte, die mindestens zwei, eher drei Dutzend erwachsene Tiere und jede Mensche Frischlinge zählte, hielt nur kurz inne und stürmte dann weiter durch den Wald. An ihnen vorbei in Richtung Gernatsborn, voller Kraft und Zorn.
Odilon hatte einen Pfeil eingelegt, merkte aber, dass der Holzschaft angebrochen war, vermutlich durch den Tritt des Wildschweins. Kopfschüttelnd warf er das wertlose Geschoss nach unten.
"Bist du verletzt?" fragte Timoin besorgt.
Der Schwarze Bär langte sich ins Gesicht, das tatsächlich mit Blut verschmiert war. Klebriges, rahjanisbeerfarbenes Wildschweinblut...

Er schüttelte den Kopf. "Du hast mir heute schon das zweite Mal die Haut gerettet, Timoin. Langsam gibt es nichts mehr, was ich dir noch beibringen kann, fürchte ich."
Timoin atmete erstmal durch. "Du hast vorher mich gerettet" sagte er, und sah auf seine zitternden Hände. "Mein Bogen ist aber futsch, fürchte ich. Na, zum Glück sitzen wir ja schon auf Eschenholz..."
"Normales Wildschweinverhalten ist das jedenfalls nicht", brummte Odilon. "Diese Eicheln scheinen ein ganz schönes Kraftfutter zu sein. Das war eine  magische Mast, würde ich sagen...”
Der Baernfarn blickte nach unten. Vom "Gehörnten" fehlte jede Spur. Nur bei den Schwarzkitteln waren immer noch einzelne Nachzügler unterwegs, die im Schweinsgalopp durch das Gestrüpp preschten. Sie schienen wirklich Gernatsborn und die Burg anzustreben, die in der Ferne sogar zu erahnen war. Ein zartes Zirpen lenkte ihn ab. Auf einem Nachbarast saß ein großes nachtschwarzes Eichhörnchen und musterte ihn. Der Waldläufer hätte das Schwarze Feh für possierlich gehalten, wäre da nicht das klebrige Rot an seinen Pfötchen und rund um das Schnäuzchen gewesen. Goblinblut?
Odilon verzog das Gesicht, griff fast schon reflexartig nach einem Pfeil und legte ihn auf die Sehne.
Die Eichkatze fletschte die Zähne und zeigte ein blutverschmiertes Gebiss, das eher an spitze Rattenzähne als einen harmlosen Baumnager erinnerte. Im Sonnenlicht, das nun wieder durch die Wolken durchkam, schien sein Fell leicht purpurn zu glänzen. Aufgeregt trippelte das Tier umher, gab merkwürdige gurrende, kirrende Geräusche von sich. Einen Moment lang hörte es sich an wie "Go´lo...Go´lo...Go´lo..."
Odilon zielte kurz. Das Schwarze Feh machte keinerlei Anstalten zur Flucht. Mit einem Stoßgebet ließ der Gallyser den Pfeil von der Sehne. Auf diese Entfernung hätte er das Eichhörnchen nicht verfehlen dürfen – aber das Geschoss schwirrte eine ganze Handbreit am "Bluthörnchen" vorbei, als würde es von einer unsichtbaren Kraft abgelenkt. Der Blick des Baernfarn folgte dem Pfeil, der für immer im Waldgrün verschwand. Das Eichhörnchen löste sich einfach in Nichts auf, so schien es zumindest.
“Timon, tust du mir einen Gefallen? Erzähl niemanden, dass Odilon der Schwarze Bär an einem Eichhörnchen vorbeigeschossen hat, auf drei Schritt Entfernung…”


Blinzelnd erwachte Tuvok aus seiner Benommenheit, auf einer Holzbank neben dem schmucken Bauernhäuschen unweit des Heiligen Hains. Eine Gernatsbornerin wischte ihm das Blut und den Ruß aus dem Gesicht.
"Gerbald naht...die Zwölfe sind der Grund für alles", seufzte der Hofjägermeister und wusste selbst nicht genau, warum ihm dieser Satz so wichtig war. Einzelne Bilder schwirrten ihm durch den Kopf, ohne wirklich Sinn zu ergeben. Das sachte schaukelnde Wirtshausschild des "Gerbaldsrast". Eine singende junge Frau mit Zöpfen, am Ufer des Gernat. Ismena von Oppstein, die auf einem Besen über ihn und mehrere Baumwipfel hinweg flog (zumindest sah die protzig-rahjanische Gewandung der Frau so aus). Ein entfernt menschenähnliches Ungeheuer mit Wildschweinkopf, das ihn merkwürdig anstarrte. Zuletzt drei Rotpelze, die einen irrsinnigen Veitstanz auf einer Waldlichtung aufführten, vor dem Gehörnten, bis zur vollständigen Erschöpfung. Als hätten sie das schwarze, sichelförmige Sokramurskorn gegessen. Krankes, von den Korngeistern verfluchtes Getreide, das manchmal das grausame "Feenfeuer" auslöste, mitunter auch Halluzinationen. War das leckere Bauernbrot in der Herberge vielleicht verunreinigt gewesen und hatte Tuvok in einen wilden Rausch gestürzt? Aber bis auf den schmerzenden Kopf und die brennende Handgelenke spürte er nichts von den typischen Symptomen. Firun sei Dank.
"Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund", wiederholte Tuvok mit Nachdruck, als würde dieser Satz sein Gedächtnis zurückkehren lassen.  "Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören..." Der Gehörnte. Irgendetwas war da gewesen. Irgendjemand. Einerseits wollte er sich das dazugehörige Bild  in Erinnerung rufen, andererseits schreckte er genau davor zurück.
"Jaja, das wissen wir schon" Jadvige musterte die Schläfe, wo eine nicht allzu große, bereits verschorfte Platzwunde zu sehen war. "Er scheint einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben...wahrscheinlich spricht er deswegen wirr."
Alrik begutachtete die wund geriebenen Handgelenke. "Gefesselt war er offenbar auch."
Adginna glitt aus dem Sattel. "Travia sei Dank ist mein Hofjäger zurückgekehrt. Ich denke, das Beste wird sein, du bringst ihn auf die Burg. Er soll sich erstmal ausruhen." Das galt dem Diener, der die Zügel gehalten hatte.
"Aber Euer Hochgeboren..."
"Nichts da. Die paar Schritte zum Schrein kann ich auch im Amazonensattel reiten statt im Damensitz." Der Knechte nickte gehorsam und nahm sich des verstörten Tuvoks an. An der kleinen Menschenmenge vorbei gingen die beiden zurück zur Burg.
"Im Bardenzimmer ist ein gutes Bett frei", rief Jadvige hinterher.
"Und nun?" Das galt Alrik. "Womöglich droht der Kupfergrube ja wirklich eine Gefahr..."
"Ich fürchte, da wirft der arme Tuvok ein bisschen was durcheinander. In den Trollzacken waren wir vor ein paar Wochen in einem alten, halb verfallenen Bergwerk unterwegs. Wo es...hm...am Ende ziemlich dämonisch zuging. Bevor alles eingestürzt ist. Ich vermute, das meint er mit Gehörnter. Mögen die guten Götter uns beistehen!"
Jadvige verkniff das Gesicht und langte sich verstohlen ans Pflaster. "Nun, auch die Gernatsborner Kupfergrube hat Feinde, die zu einem Gehörnten beten."
"Na ich weiß nicht...wie ein Orakel kommt mir unser Jägerfreund nicht vor. Ich meine, wie zerstört man ein Bergwerk? In Kurgasberg hat es dazu ein Erdbeben gebraucht. "
Storko war ebenfalls auf dem Burgweg umgekehrt und ließ sich Bericht erstatten.
"Das ist alles sehr beunruhigend. Offenbar ist die Gefahr doch noch nicht vorüber. Ich werde zwei der Gardisten das Rad bewachen lassen, das die Pumpen der Kupfergrube antreibt. Im letzten Jahr gab es dort schon mal Thorwalismus, gegen das Stangenwerk. Die anderen Wachen halten sich in der Nähe des Heiligen Hains bereit. Zusammen mit unseren eigenen Klingen sollte das als Schutz genügen...und natürlich wird uns auch Frau Tsa beistehen!"
Tatsächlich klarte der Himmel auf, die Sonne kam wieder heraus, erst zaghaft, dann kraftvoll. Fast schien es, als wolle der schöne Praiostag von heute Morgen zurückkehren. Oder einfach nur die Göttin des Lebens ein Zeichen setzen. Nichts ist vorherbestimmt, in Windeseile kann sich alles zum Guten wenden...
Wider Erwarten herrschte tatsächlich eine heitere, fröhliche Stimmung auf der kleinen Festwiese neben dem Schrein. Gerade wurde ein Baldachin aufgestellt, als Wetterschutz für die adeligen Gäste (vermutlich der gleiche wie der von der Terrasse). Kinder tanzten Ringelreigen, für die Gernatsborner Zaungäste gab es sogar ein Fässchen Freibier aus der Herberge, wenn auch nur das dünne Kofent.
Die Pferde wurden auf einer Koppel untergebracht, dann schritten die Vornehmen zum Heiligen Hain hinüber, wo die Tsa-Delegation gerade ein frisch gepflanztes Bäumchen mit bunten Bändern schmückte. Der Schrein selbst war mit einer Art Girlanden und Blumen verziert, einige Kindern malten die Holzbalken der Überdachung und ihre "Altersgenossen" an, deren Figuren rund um die Statue standen. Ein pummeliges Bauernmädchen lauschte am dicken Bauch der Allesgebärenden.
Die "Delegation" selbst bestand aus zwei Dienerinnen der Eidechse, die in regenbogenfarbige Gewänder gehüllt waren. Glyranas Anspannung fiel von ihr an, als eine der Frauen sich zu ihr wandte und mit der Sonne um die Wette lächelte. "Kinder, kommt herbei, ihr dürft angießen!" Der Bauernnachwuchs unterbrach den Ringelreigen und griff zu kupfernen Gießkannen.
"Euer Wohlgeboren, werte Gäste! Wenn ich mich vorstellen darf. Kukina Elfenwald die Fünfte, die neue Geweihte in Schnayttach!" Die Junkerin musste zugeben, dass die junge Frau mit den wallenden, kastanienbraunen Haaren und den lustigen Sommersprossen einer Rahjageweihten Ehre bereitet hätte. Vor allem besass Kukina Charisma, eine entwaffnende Fröhlichkeit und die Frische eines Frühlingsmorgens. Ihre blauen Augen leuchteten mit dem "Himmelsauge" um die Wette, das sich gerade in der Wolkendecke öffnete. Licht und Schatten fielen abwechselnd auf die Gernatsbeuge und schufen eigenartige Farbeffekte in der Landschaft, als hätte Tsa selbst zum Malerpinsel gegriffen. Verrücktes Perainewetter, und das im sonst so ordentlichen Praiosmond...
"Das ist meine Weggefährtin Ysilda von Schlotz, aber Ihr kennt sie ja bereits aus Zaberg." Kukina drückte ihrer Begleiterin einen innigen Kuss auf die Wange, was weniger amazonisch als unbekümmert-mädchenhaft wirkte.  "Sie ist eine unglaublich gute Gärtnerin." Kukina band eine letzte Regenbogenschleife an einem der Zweige fest. "Anders als ich hat sie wirklich den grünen Daumen. Mein Novize Kardanyan ist auch dabei, wo er steckt er denn wieder?"
Ysilda strahlte die Edle von Zaberg an. "Ich habe mir erlaubt, Melsine mitzubringen, meine Tochter. Damit sie beizeiten die große weite Welt kennenlernt. Melsine, würdest du bitte mal herkommen. Du kannst gleich mit den anderen Kindern weiterspielen."
Glyrana nickte. Sehr gut, dass Seine Gnaden Praiodîn oben auf der Burg weilte. Sie beschloss, der Vertrauten der Eidechse erst später von Praiodîn Xerbers Anwesenheit zu berichten. Melsine eilte herbei, ein blasses Mädchen mit lockigen, völlig zerzausten Haaren und einer weißen Tunika, ohne die bunt schillernden Borten einer Novizin. Der Knicks vor den hohen Herrschaften war nicht allzu formvollendet. Ihre Augen waren beunruhigend klug, aber sie wirkte völlig zerstreut und geistesabwesend.
Ysilda tätschelte sie stolz. “Meine Tochter.”
"Sisa sagt, sie will uns alle umbringen" flüsterte die kleine Melsine, die ihrem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Ihre Mutter suchte irritiert die Kinderschar ab. "Wer ist Sisa? Die kleine Rauferin da drüben? Warum sagt sie so schlimme Sachen?"
"Nein, das ist nicht die. Sisa war in einem Spiegel eingesperrt. Ich glaube, sie hat sich verletzt. Aber jetzt gerade sehe sie nicht mehr. Die alte Frau mit den Zöpfen ist sehr nett."
Ysilda blickte entschuldigend in die Runde, während sie an ihrem Armschmuck aus Eidechsenhaut drehte. "Ah..wieder mal zwei ihrer Spielgefährtinnen." Die Priesterin zwinkerte bei diesem Wort, um zu zeigen, dass es nicht ernst gemeint war. "Sie hat wirklich eine blühende Phantasie. Melsine, möchtest du wieder mit den anderen Kindern spielen?" Das seltsame Mädchen nickte und eilte davon.
Adginna, die Vögtin, wandte sich der Schnayttacher Geweihten zu. "Kukina Elfenwald die Fünfte? Das klingt nach adeliger Abkunft?"
"Nicht doch, ich bin nur die fünfte Wiedergeburt von Kukina der Ersten, einer Hexe aus Zaberg. Manche sagen auch, einer Priesterin der Tsatuaria." Kukina die Fünfte klang völlig unaufgeregt, als hätte sie sich gerade als Obermeisterin der Brauergilde von Rommilys vorgestellt.
"Verstehe", log die Vögtin.
"Früher, da war ich mal Delona Bundschuh, aus Rommilys."
"Ah... und dann ist Eure Seele erneut auf Dere zurückgekehrt, Euer Gnaden? Statt Eingang in Tsas Paradies zu finden?"
"Neinnein, ich heiße Delona Bundschuh. Aber ich nenne mich nun wieder Kukina. Auch wenn wir... ich damals ein trauriges Schicksal hatte, zur Zeit der Priesterkaiser. Sie haben mich in den Regenbogenteich geworfen, bei Zaberg, als Hexenprobe. Im gleichen Sack mit meiner Eule. Ihr wisst ja: Wer unterging, war unschuldig, wer oben blieb, wurde dem reinigenden Feuer überantwortet. Was soll ich sagen? Meine Unschuld hat sich zum Glück schnell herausgestellt..." Die Frau, die ihre Worte mit intensiven Gesten begleitete, klang betrübt und erbost zugleich.
"Gräme dich nicht", tröstete sie Ysilda. "Nach deiner Wiederkehr lebst du jetzt in einer besseren Welt, wie wir alle." Sie blickte erklärend in Richtung der Binsböckel. "Wir sind bereits in Tsas Paradies. Nur wissen es viele Menschen leider nicht. Kukina hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Wir haben uns mal zufällig auf einem Konvent kennengelernt. Und bei einer Rückführung gemerkt, dass wir beide Zaberger sind. Sozusagen. Ich war mal Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi. Haben die Wiedergeborenen behauptet. Aber eigentlich zähle ich mich mehr zu den Friedensfreunden. Ein bisschen auch zu den Koboldfreunden. Ach, ist nicht so wichtig."
"Rückführung, so so. Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi, aha." Einen Moment lang kam sich die Vögtin vor wie damals bei diesem Wohltätigkeitsbesuch im Noionitenkloster. Auch wenn der Schnayttacher Tempel nicht unbedeutend zu sein schien, wusste die Binsböckel wenig von der Gedankenwelt dieser sanften Verrückten und zappeligen Springsinsfelde. Gerade deswegen würde sie sich nicht auf eine götterkundliche Debatte einlassen.
"Mein seliger Gemahl war ein großer Freund und Förderer der Tsakirche", sagte sie höflich.
"Tsafried von Schnayttach zu Schlotz" Delona (oder Kukina) nickte ernst. "Er ist viel zu früh ins Land hinter den Regenbogen gegangen. Dieses Paradies gibt es schon auch. Nur ist den wenigsten von uns vergönnt, für immer dort zu bleiben. " Die Vertraute der Eidechse blickte zu Glyrana. "Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich noch einmal herzlich für Eure Großzügigkeit bedanken, Eure Wohlgeboren. Möge Tsa Euch segnen und weiterhin gegen die Gefahren beistehen, die auch zum Wunder des Lebens gehören. Wie gut, dass der Zwischenfall gestern glimpflich ausgegangen ist. Ach, lasst Euch einfach mal drücken..." Spontan umarmte sie die Junkerin, was sich Glyrana nicht nur widerstandslos, sondern auch erfreut gefallen ließ.
"Sagt, werte Kukina". Nun meldete sich Ismena zu Wort. "Wann werdet ihr mit der Weihe des Schreins beginnen? Es scheint ein Unwetter im Anmarsch zu sein... Außerdem – die werte Glyrana von Mersingen hat es sicher schon gesagt – ist auch noch eine Verlobung geplant. Welcher Anlass wäre dafür passender als die Weihe eines Heiligen Hains der Lebensspenderin?" Sie deutete auf Alboran und Haldana, die gerade händchenhaltend über die Wiese schritten.
Kukinas Stimmung war schon wieder in Begeisterung umgeschlagen: "Eine Verlobung, ich habe davon gehört. Das ist ja wunderbar, und außerdem noch die Erben dieser Baronie?! Es ist immer gut, wenn Menschen im Angesicht der Tsa den Mut finden, etwas Neues zu beginnen. Der Wetterumschwung, hm ja. Wie heißt es so schön: Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch eine Alveranie pflanzen? Eigentlich findet die Weihe schon längst statt." Sie deutete auf die Kinderschar, die Blumen pflückte, Bäume angoss, Purzelbäume schlug, Fangen spielte oder an dem kleinen Häuschen herum malte: "Die Kreide ist übrigens abwaschbar...Kardanyan hat ihnen doch die abwaschbare Kreide gegeben, oder, Ysilda?"

Wenig später begann die eigentliche Feierstunde. Adginna hatte anfangs verdrießlich geblickt, auf ihrem Ehrenplatz unter dem Baldachin. Aber sie musste zugeben, dass der Tsagöttinnendienst eine gewisse Würde ausstrahlte. Sie merkte, wie die Ruhe und Gelassenheit in ihre Seele zurückkehrte, die sie seit dem gestrigen Abend vermisst hatte. Nein, eigentlich schon seit ihrem Aufbruch aus Gernatsborn. Das Leben war nun wieder ein ruhiger, breiter Fluss mit kleinen Stromschnellen dazwischen, wie der glitzernde Gernat, den sie im Blickfeld hatte. Das Wetter grenzte an ein kleines Tsawunder, nur in der Ferne sammelten sich erneut dunkle Wolken.
Fast fühlte sich die Binsböckel ein wenig schläfrig. Nur halb hörte sie der Predigt Kukinas zu, über den Kreis des Lebens und seine ewige Wiederkehr im Gewand des Neuen und Unerwarteten. Über die Freiheit, loszulassen, um dafür Neues halten, erhalten zu können. Zwischendurch sang ein Kinderchor...Dankesworte der örtlichen Honoratioren...weitere Aufwertung für Gernatsborn...ein lebens- und liebenswertes Wohlfühldorf gerade auch für junge Familien...neue Hoffnung nach den Schrecken der Vergangenheit...mögen die Götter unsere gute Markgräfin...Dank an die Familie Mersingen…
Adginna unterdrückte ein Gähnen. Das alles oder so etwas Ähnliches hatte sie schon hundertmal gehört, zuhause in Schnayttach. Nun spielte ein nervöser junger Bauernbursche Laute und sang dazu mit kratziger Stimme, irgendwelche Volksweisen. Offenbar war der Musicus im letzten Moment für den Barden Wendelin eingesprungen. Haldana hätte das sicher besser gekonnt, aber das wäre nun wirklich unschicklich gewesen, für die künftige Herrin dieses Landes.
Der Blick der Binsböckel wanderte umher. Da war Kardanyan, der Novize, der mit einer Schnapsflasche testete, ob er die quietschbunte Kreide am heiligen Schrein wieder weg bekam. Ismena, die sich leise mit Ysilda unterhielt, und ihr nun, zum Erstaunen der Vertrauten der Eidechse, einen Ring zeigte, in einer Schatulle. Ah, offenbar dieser Feenring. Haldana und Alboran turtelten ganz ungeniert miteinander. Ach, das war in ihrer Jugend doch ein wenig anders gewesen, Frau Travia seis geklagt. Alrik hatte schon wieder einen Humpen Bier aufgetrieben, als säße er im Wirtshaus, Storko tätschelte seiner Glyrana die Hand und schien erst jetzt deren Errettung zu begreifen.
Eine wirkliche Ordnung gab es bei diesem Festablauf nicht. Nun sangen sie alle ein frommes Lied, dessen tsagefälligen Text Adginna nicht kannte. Dann erst fand die eigentliche Weihezeremonie statt. Kukina malte mit einem Gebet den Achtpfeil auf den Bauch der Ewigjungen (hoffentlich mit der richtigen Kreide). Dann ließ sie aus ihrem Prisma Regenbogenlicht darüber gleiten – es sah aus wie eine buntschillernd über die Statue huschende Eidechse. Im gleichen Moment erklang ein Glöckchen. Adginna erschauerte. Ein Kind plapperte aufgeregt dazwischen.
Tsas Finger schwebte durch die Luft und berührte Dere. Alles leuchtete im bunten Hoffnungsschimmer, die Welt atmete ungebändigte Lebenskraft und neue Zuversicht. Die Vögel zwitscherten, bunte Schmetterlinge taumelten über die Wiese, Bienen, Käfer und Hummeln brummten, der Wind streichelte sanft über Adginnas Wangen. Ein Bild vollkommenen, glückseligen Friedens.
Adginna runzelte die Stirn, wunderte sich über ihre Empfindungen und das kleine, erdfarbene Männchen, das ihr vom Waldrand aus zuwinkte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Die Baronieherrin winkte zaghaft zurück. Hatte sie gerade mit einem Kobold Artigkeiten ausgetauscht?
Ein grünes Funkeln lenkte sie ab. Das kam von Ysildas Hand, die den Ring trug, und verzückt einem winzigkleinen Mädchen zuschaute, das vor ihr auf und ab schwebte wie eine verirrte Biene. Einem daumengroßen Mädchen mit Schmetterlingsflügeln, um genau zu sein. Im nächsten Moment sah die Blütenfee sich erschrocken um. Dann zerstob die Erscheinung auch schon in einer glitzernden Wolke aus Feenstaub. Bis auf Adginna, Ismena und die Zabergerin schien niemand die traumhafte, unwirkliche Szene mitbekommen zu haben.
Das letzte Musikstück erklang, vor der Verlobung. Die Stimmung wurde wieder weltlicher, diesseitiger.
"Ich habe mir mal erlaubt, auf der Burg einen Verlobungsvertrag aufsetzen zu lassen", sagte Alrik neben ihr und zog bereits eine Schriftrolle hervor. "Im Wesentlichen steht drin, dass Alboran den Namen Binsböckel übernimmt, die wichtigsten Lehensgüter und das alles Weitere der Ehevertrag regeln wird. Das Wichtige sind die Monogramme der Zeugen und ihr Siegel. Storko und Ismena wissen schon bescheid."
"Alrik, du hast Nerven wie Ankertrossen, nach alldem, was geschehen ist", sagte die Binsböckel, mehrdeutig und leicht indigniert, auch wenn der Friedwanger im Grunde Recht hatte. Mit einem Feensegen allein würde Haldana die künftigen Geschicke ihres Hauses und der Baronie nicht lenken können.
"Wo Odilon nur bleibt?" Der Einäugige blickte unbestimmt zum Wald. "Ich glaube, er wäre gerne bei der Verlobung dabei gewesen…Jetzt ist Tuvok wieder da und dafür unser Fährtensucher verschwunden."
"So ist nunmal das Leben, würde unsere Kukina die Fünfte dazu sagen." Adginna hatte bereits die dunklen Wolken im Blick, die sich von der Trollpforte her näherten. "Es hilft alles nichts, Frau Tsa hat uns nur einen kleinen Aufschub gewährt. Odilon selbst hat uns ja vor Schlechtwetter gewarnt...Wir sollten nun langsam zu einem Abschluss kommen."
Die Vögtin lehnte sich zurück und beobachtete aus der Distanz, wie ihre Tochter vor Alboran nieder kniete. Tatsächlich herrschten in ihr gemischte Gefühle. Was geschah jetzt? Albo streifte seiner Versprochenen, die gerade schon ein "Ja" gehaucht hatte, einen Ring über. Der immer noch grünlich leuchtete, auch wenn der Schimmer schwächer wurde. Das musste dieser Feenring sein, von dem vorgestern im Wutzenwald die Rede gewesen war. Ein Zauberring, hinter dem diese Yasinthe Dengstein her gewesen sein sollte. Laut "Ludwina der Hexe." Eigentlich war Adginna dagegen gewesen, ein magisches Artefakt für die Verlobungszeremonie zu verwenden, hatte sich aber irgendwie durch das Weiheritual einlullen lassen.
Beifall, Händeschütteln, Umarmungen, ein paar verkniffene Tränen. Auch Adginna beglückwünschte das junge Paar, wenn auch nicht als erste. Der Himmel wurde schon wieder graublau und das Wetter kühler, was ganz gut ihrer Gemütslage entsprach. Wind kam auf. In der Ferne grummelte Donner.
Alrik baute ein kleines Tischchen auf, beschwerte den flatternden Vertrag mit Steinen, stellte Tinte, Federkiel und Siegelwachs bereit. Als der letzte Ring der Zeugen in das jeweilige Siegel gedrückt war, hatte sich das Firmament wieder bewölkt. Der erste schwere Regentropfen fiel herab und kleckste genau auf das Monogramm der Vögtin von Schlotz, das sich in einer Art Nebelwolke auflöste...

In einiger Entfernung flatterten bereits die Mäntel der beiden Wachen, die Storko am Radhaus aufgestellt hatte. Die Anlage unweit des Gernat war im Grunde ein besserer Holzschuppen, in den über einen Kanal Flusswasser auf ein unterschlächtiges Wasserrad strömte. Der Zufluss aus dem Kanal war oberhalb des Wasserspiegels vergittert. Auch die Zugangstür war sorgfältig verriegelt, nur ein Klappern zu hören. Auf der anderen Seite führte ein mächtiges Stangenwerk über mehrere Dutzend Schritt in Richtung Grube, und trieb mit ratternden Hin- und Herbewegungen die Pumpen an. Die Pumpenkunst beförderte über einen zweiten Kanal scharf riechendes Grubenwasser zurück in den Gernat, das zweifelsohne giftig war.
Eigentlich war es erstaunlich, dass die "Wilden Keiler" noch nicht versucht hatten, den Holzbau anzuzünden, dachte Perainfried, während er das Gesicht vor dem  Laub schützte, das der Wind aus dem Wutzenwald herbeiblies. Das hätte ein schönes Feuerchen gegeben. Allerdings stand das Radhaus ziemlich nahe am Wald, den diese spinnerten "Sokramurier" verehrten wie anständige Leute ihren Herrn Praios, Frau Travia oder die Himmlische Leuin. Jetzt im Sommer war der ganze, sanft ansteigende Hangwald ziemlich ausgetrocknet und würde sicherlich brennen wie Zunder. Es sei denn, es lag Regen in der Luft, wie gerade jetzt.
Robehild beobachtete kopfschüttelnd das mächtige Stangenwerk: Holzbalken, die aus zwei Fensterschlitzen des Radhauses kamen und sich, eingehängt an Kreuzstangen, rumpelnd hin und her bewegten, über eine ordentliche Strecke hinweg. Die Gardistin klopfte kurz mit der Hellebarde dagegen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass die ganze Mechanik in ihren Augen an Schwarzkunst grenzte. Auch Perainfried kam ins Grübeln. Die Nähe zum Fluss war Fluch und Segen zugleich: Einerseits drang ständig Grundwasser in die Grube ein. Andererseits war genügend Wasser vorhanden, um das mächtige "Kunstrad" anzutreiben, zum Auspumpen. Dennoch lag irgendwie ein Hauch von Yol-Ghurmak in der Luft, im Wortsinn, im sonst so firunsgefälligen Gernatsborn.
Robehild schlenderte näher. "Was meinst du, soll das die Strafe für unseren kleinen Ausrutscher heute sein, auf dem Kupferdach?"
"Ausrutscher? Unsere Knochen haben wir für Storko riskiert, nein, unser Leben, und das weiß Jadvige genau. Ist doch fast schon ein Drückposten hier. Wenn nur das Wetter ein klein wenig traviagefälliger wäre. Hoffentlich lassen die uns noch ein paar Schluck Freibier im Fass. Aber diese Einweihung vom Schrein brauche ich jetzt noch weniger, bei Rondras Klinge!"
"Vom Schwein?"
"Schrein". Perainfried musste tatsächlich lauter sprechen. In der Ferne grummelte das Gewitter, begleitet von Wetterleuchten, während der Wind an Heftigkeit zunahm. Irgendwo in der Nähe klapperte ein Fensterladen.
"Mistwetter" schimpfte Robehild. "Also ein Drückposten ist das nicht gerade. Wo stellen wir uns unter, falls es richtig losgeht?"
Perainfried zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe, die lösen uns rechtzeitig ab. Bei so ´nem Wetter traut sich doch nicht mal ein Wilder Keiler vor die Tür."
Der erste Blitz zuckte herab, gefolgt von Donnern.
Der Pfahlgardist kannte die Radkunst vom Sehen, aber so richtig verstanden hatte er deren Funktionsweise bislang nicht. Ah, dort oben wurde das Wasser im Kanal angestaut, um die "Mühle" anzutreiben. Was war das: Drei Gestalten standen einfach so auf dem hölzernen Laufsteg, der über den "kleinen Nebengernat" führte, und machten sich an den Nadeln zu schaffen: paddelähnliche Planken, die am Oberwasser in den Kanal gesteckt wurden, um es aufzustauen – und dank Griffen jederzeit herausgenommen oder hinzugefügt werden konnten. Im ersten Moment dachte er, die Drei wollten den Wasserzufluss an das nahende Gewitter anpassen. Aber nein, sie zogen eine "Nadel" nach der anderen heraus und warfen sie ins wild rauschende Unterwasser. Erst jetzt sah Perainfried die Wildschweinköpfe unter den Kapuzen, fast gleichzeitig mit Robehild.
"Das sind Wutzen!" schrie seine Kameradin ängstlich, die eine geborene Schlotzerin war.
Auch Perainfried wich einen Moment zurück. Dann merkte er, dass ein "Biestinger" eine Axt in Händen hielt und damit einfach auf die Holzbretter einschlug. Die Hände waren ein wenig zu zart und menschlich für echte Wutzen, vermutlich sogar die einer Frau.
"Das sind Wilde Keiler!" grollte er und rannte los, in Richtung Stauwehr. "Du bleibst hier und sicherst das Haus."
Das rauschende Wasser im Kanal wurde zu einem echten Wasserfall, das sich in einem rauschenden Schwall Richtung Radhaus ergoss und über den mauerbegrenzten unteren Kanal spritzte. Wollten die Sokramurier so etwas das Rad sabotieren, durch Überlastung? Die Kreuzstangen umzuhacken wäre effektiver gewesen. Allerdings auch auffälliger.
Die Saboteure bemerkten den Gardisten und ergriffen Reißaus. Ein dicker, stämmiger Kerl rutschte aus und stürzte ins Unterwasser. Ein weiterer türmte in den Wald. Die Axtschwingerin lief geradewegs Perainfried vor die Hellebarde, der sie mit der Spitze bedrohte. Mit wütendem Mädchenschrei hackte seine Gegnerin gegen die Waffe und schlug sie beiseite.
"Stehengeblieben, im Namen des Wehrvogts! Du bist verhaftet!"
"Leck mich!" hallte es dumpf unter der Maske hervor. "Ihr verdammten Waldmörder!"
Das klang eher nicht wutzisch.
Perainfried versuchte wieder seinen Hakentrick, um die Sokramurierin zu Fall zu bringen: sie war alles andere als eine geübte Kämpferin. Da bekam er von hinten auch schon einen derben Stoß. Der Dritte war unbemerkt zurückgekehrt. Die beiden Kapuzenträger liefen davon, die Frau ließ ihre Axt fallen.
Der Gardist rappelte sich wieder auf und rückte seinen Helm zurecht. Das Helmband war nach unten gerutscht, einige Herzschläge lang behinderte es seine Sicht. Als er sich wieder klar orientieren konnte, waren die Angreifer verschwunden. Er blickte zum Kanal, der nun einem reißenden Wildbach glich. Den strampelnden Dicken hatte es das Unterwasser entlang gespült wie ein Fäßchen, nun hing er mit den “Nadeln” am Gitter des Zulaufs und schrie zum Göttererbarmen. Die Wutzenmaske hatte er längst verloren. Perainfried verstand die Situation: Der Mann wurde langsam unter das Gittertor gedrückt, in Richtung des nun wie verrückt klappernden Mühlrads. Eigentlich hatte er nur noch die Wahl zu ertrinken oder loszulassen und dann "unters Rad zu kommen". Wer anderen eine Grube gräbt...
Robehild war herbeigeeilt und versuchte den Sokramurier mit ihrer Hellebarde aus dem schäumenden Wasser zu ziehen. Der Regen wurde stärker. Der Rettungsversuch war keinesfalls ungefährlich, am rutschigen Mauerwerk des Kanalrands. Perainfried warf seine Hellebarde ins Gebüsch und eilte der Gardistin zu Hilfe, um sie im Notfall festzuhalten.
Ein lautes Quieken lenkte ihn ab. Graubraune Wildschweinleiber fegten den Hang herunter, brachen durchs Unterholz und rannten geradewegs auf die Mühle los. Ihr Ziel war eindeutig das Stangenwerk, das in Richtung der Pumpen führte.

Robehild schlug mit der Beilseite ihrer Hellebarde gegen das mächtige Vorhängeschloss, das die Tür zum Radhaus sicherte. Sie würde den Sokramurier nicht mehr rechtzeitig aus dem Kanal ziehen können, soviel stand fest. Die Gardistin wusste nicht zu sagen, ob sie den zappelnden "Keiler" nun retten oder gefangen nehmen wollte – vermutlich beides. Ihre Axt traf eher die Tür als das Schloss, also versuchte sie den Bügel mit der Spitze aufzubrechen. Der Schlüssel befand sich in der Kupferschmiede, aber dorthin zu laufen hatte sie nun wirklich keine Zeit. Erst jetzt merkte sie, dass die schwere, eisenbebänderte Tür bereits Hiebspuren aufwies. Offenbar hatten die Wachen die Wilden Kerle bei einem Einbruchsversuch gestört und diese ihre sinnlose Wut dann am Stauwehr ausgelassen, wie die Moosaffen.
Pling! Das Schloss  gab endlich nach, und Robehild eilte ins Halbdunkel. Drinnen ratterte das mächtige Kunstrad wie verrückt, dass Wasser schäumte bereits seitlich aus der Führungsrinne heraus. Zerschmetterte Holzstücke klackerten in den Schaufeln. Der Sokramurier hing noch immer strampelnd am Rechengitter, lange würde er sich nicht mehr halten können. Die Wächterin spähte nach einem Hebel – irgendwie musste man dieses Ungetüm doch anhalten können. Ächzend ließ der Mann im Kanal los und wurde hereingespült...
Draußen zog Perainfried sein Schwert und stellte sich einer wütenden Bache entgegen, die nach einem Hieb auf den Kopf auswich und auf die Kreuzstangen zuraste. Was taten die verrückten Wildschweine da...sie begannen an den Holzbalken zu wühlen und zu graben, als würden sie darunter nach Futter suchen. Schräg prasselte kalter Regen herab. Donner grollte, Blitze zuckten.
Einige der Tiere stellten sich auf die Hinterbeine und – Perainfried traute seinen Augen nicht – begannen zu zucken, sich zu verrenken, grotesk in die Höhe zu wachsen. Die Gestalten wurden menschenähnlicher. Ihre Verwandlung schien schmerzhaft zu sein, denn ihr Brüllen klang nicht nur zornig, sondern auch nach Leid und Pein: "Oooaaaarrrrr!" Dampf hachte aus den platten, hauerbewehrten Schnauzen der Kreaturen, die von immer größeren Hagelkörnern getroffen wurde.
Im nächsten Moment standen drei, nein vier grollende, übermannshohe Ebermänner auf der Wiese. Einer der Wutzen griff nach der Axt, die die Sokramurierin fallengelassen hatte, und beschnupperte sie. Perainfried hob die Hellebarde auf und sah sich nach einem Rückzugsweg um. Das war fast schon unnötig. Der ganze Hass der vier- und zweibeinigen Wildsauen galt dem Stangenwerk. Mit Klauenhänden und vereinten, entfesselten Kräften rissen die Urviecher daran, der axtschwingende Wereber (oder wie immer man solche Kreaturen nannte) hackte auf die Nachbarstange ein. Ächzend brachen die schweren Gestelle in sich zusammen.

Reginlind, die nach einigen Methörnern nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne war, hatte sich oben  im Wald auf ihren Besen geschwungen. Nun schwirrte sie jauchzend in Richtung der finsteren Wolken. Krischan, der seine Krallen tief in ihre Schultern gegraben hatte, flatterte auf. Der herrliche graubraune Uhu, dessen Kopf zwei sichelförmige Federohren zierten, hatte etwas im Wald entdeckt, offenbar ein Eichhörnchen.
In Windeseile wurde sie durch die Magie der Flugsalbe in die Höhe gerissen. Spürte den wunderbaren Gegendruck der Luft, das klebrige Holz ihres Besens, vor allem aber Sumus unbändige Kraft zu ihren Füßen, eine Kraft, die sie eher als machtvoll denn bedrohlich empfand. Die Besenreiterin schrie vor Lust und Lebensfreude auf – und pflückte sich ein Zweiglein aus dem wild flatternden roten Haar. Es war wundervoll, den Sturmwind zu spüren, die Nässe des Regens, an den Händen, im Gesicht, den Oberschenkeln, den Brüsten...Jauchzend flog die Schwazerin eine Schleife über den Wutzenwald, sah in einem Augenwinkel Burcherts Hütte, im anderen zwei Gestalten, die weiter unten von einer Erle sprangen und der Schar der Wutzen folgten, hangabwärts, zum Dorf und der Burg hin. Regen, Regen, Regen. Es war, als wolle der große Regen sie reinwaschen, von Gerbolds Berührung und der Demütigung am Sokramurshügel.
Reginlind stieg höher und höher, dorthin, wo die Wolken erst langsam, dann immer schneller zu rotieren begannen: ein gewaltiges Auge bildete sich, eine Windhose, nein, ein regelrechter schwarzer Wirbelsturm, durchzuckt von Blitzen. Nun  prasselte auch noch Hagel herab. Die Hexe merkte, dass die harten Firunsgeschosse auch für sie gefährlich und überaus schmerzhaft waren. Fluchend versuchte sie, dem Sturm seitlich auszuweichen. War dieses Inferno überhaupt noch Burcherts Wille, oder entwickelte das Toben der Elemente gerade ein Eigenleben? Der Riesenkreisel drehte sich jetzt über dem Gernat, wirbelte die ersten zappelnden Fische hoch, darunter sogar den einen oder anderen verblüfft schnappenden Zander, Hecht oder Waller. Das war kein Wirbelsturm mehr, sondern ein Wallersturm ?!
Jetzt wurde auch Reginlind ordentlich durchgerüttelt und regelrecht mit Eisbrocken überschüttet. Die Tochter Satuarias merkte, wie der gigantische Mahlstrom aus Luft, Eis und Wasser an ihr zerrte. Nur wegen von hier! Das magische Holz kämpfte tapfer gegen die Turbulenzen an, trudelte, taumelte. Reginlind fluchte, als ihr ein kalter Karpfen ins Gesicht klatschte, gefolgt von Hagelkörnern. Raus hier, sie musste raus hier, aus diesem Alptraum jeden Wetterkundlers…
Der Sokramurier, der gerade vors Mühlrad gespült wurde und verzweifelt versuchte, sich noch irgendwo festzuhalten, hatte Glück. Robehildes Onkel war Müller, sie kannte sich mit solchen Rädern ein wenig aus. Trotz des Dämmerlichts fand die Gardistin den Bremshebel sofort und legte ihn um. Das Rad stand nach wenigen Augenblicken still, der Schwimmer prallte von außen gegen das Holz. Keuchend und erschöpft versuchte er sich ins Trockene zu ziehen. Draußen dröhnte der Hagel, prasselte der Regen, heulte der Sturm. Im Halbdunkel hatte Robehilde Mühe, überhaupt die Stelle zu finden, wo der Saboteur hing. Eine Abfolge greller Blitze wies ihr den Weg. Im nächsten Moment ertastete sie triefend nasse Kleidung. Er schien dick zu sein, klein und stämmig, mehr nahm sie im Moment nicht wahr.
"Im Namen des Wehrvogts" wollte sie noch schreien, da krachte ihr auch schon etwas ins Gesicht. Wie kann man nur so undankbar sein, dachte sie, dann realisierte sie, dass der Schlag nicht von ihrem menschlichen Gegner kam. Ebenso, dass sich das Dach über ihren Köpfen gerade auflöste.

"Ein Drückposten", dachte Perainefried und lachte überdreht auf, "ein Drückposten???!!" Das Lachen wurde ihm von den Lippen gerissen. Heute Vormittag war er noch auf dem Kupferdach der Burg balanciert. Nun stand er am Bergwerk und sah inmitten eines Jahrhundertsturms einer Horde Wildsauen zu, wie sie den Antrieb der Pumpen verwüstete. Der Gardist überlegte noch, ob er sich dieser Übermacht stellen sollte, da eilten die Schar auch schon davon, auf den Waldrand zu. Gegen manche Urgewalten waren selbst diese Berserker machtlos.
Rasch wurde es dunkel, eiskalte Windböen versuchten den Waffenknecht umzuwerfen. Plängplängpläng. Hagelkörner prasselten auf seinen Helm, für den er nun ungemein dankbar war. Der Gardist hieb die Hellebarde in den Schlamm, hinter einer Wurzel, hielt sich daran fest und legte sich flach auf den Boden, während sein Mantel davon wehte. Im Wald stürzten krachend die ersten Bäume um, Äste flogen als Speere durch die brodelnde Luft, Büsche rollten ins Nirgendwo. Aves Element zischte, orgelte, pfiff, stöhnte, heulte, peitschte. Wer immer diese niederhöllischen Orkanböen entfesselt hatte, dem ging es  nicht um das Zerstörungswerk allein. Die mehrfache Vernichtung des Bergwerks war eine Machtdemonstration, die noch lange in Erinnerung bleiben sollte.
Wie ein Späher unter Zyklopenbeschuss spähte Perainfried zum Gernat, durch den gerade ein brüllender Luftriese tobte und tanzte. Ein Wirbelsturm, im Sichelhag?
Glitzernde Fischschwärme wurden durch den Giganten aus dem Fluss gehoben und mitsamt Hagelschlag und Regenguss über Gernatsborn verteilt. Ein verwirrter Wehrheimer Zander klatschte vor Perainfried in den Schlamm, der bereits mit Wasser und Hagelkörnern bedeckt war. Kleine Zähnchen schnappten nach seinem Gesicht. Der Burgwächter zückte  den Dolch und erlegte den schuppigen Angreifer. Dann sah er, wie die Luftsäule auf das Radhaus zudröhnte. Dessen Holzschindeln wurden einfach weggeblasen, wie der Flugsamen einer Pusteblume. Im gleichen Moment fraß sich das Sturmungeheuer auch schon ins Gebäude, deckte es endgültig ab, ließ es halb in sich zusammen krachen. Die Götter hatten den Untergang Deres beschlossen, daran gab es keinen Zweifel mehr. Robehilde, wo war Robehilde? Hoffentlich hatte sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht...aber wo in dieser Verwüstungsorgie gab es noch Schutz und Zuflucht? Perainfried begann zu beten, flehte Efferd, Rondra und Firun um Verschonung an.
Im nächsten Moment schwamm der tote Zander an ihm vorbei. Das Wasser in der Pfütze begann zu steigen, immer weiter zu steigen...und druckvoll in Richtung Grube zu fließen. Der Pfahlgardist merkte, wie der Griff seiner kalten, blutig geschlagenen Hände um den Hellebardenschaft schwächer und schwächer wurde. Nicht schon wieder rutschen, dachte Perainfried noch, dann rollte die Flutwelle heran.

Haldana hatte sich erhoben…vor ihrem nunmehr Verlobten zu knien war ungewohnt für sie. Von ihrer Mutter war sie dazu erzogen worden, dass sie einmal eine Baronie führen musste, dass sie entscheiden und anzuordnen hatte. Sicherlich, das war ihr manchmal schwer gefallen, aber auch in ihrem knappen Jahr auf Wanderschaft, mit Tuvok und Rovik, war immer sie es, die die Entscheidungen traf und die kleine Gruppe anführte. Auch Rovik, der damals nichts von ihrer adeligen Herkunft wusste, hatte das immer akzeptiert. Nun, es war sicher gut gleich zu lernen, dass ihr künftiger Ehemann eine andere Rolle spielen würde. Dennoch hatte sich das seltsam angefühlt.
Haldana hatte ihren Verlobten dann zu sich gezogen und ihm einen zarten Kuss gegeben - entgegen dem traviagefälligen Protokoll und zum Missfallen ihrer Mutter. Aber darüber setzte sie sich einfach hinweg. Das war schließlich eine Tsapredigt und keine Travienmette.
Ein Windstoß riss Haldanas kunstvoll aufgesteckte Haare - zumindest auf der rechten Kopfhälfte - auseinander. Kalte Regentropfen klatschten mit einem mal über die Festgesellschaft. Haldana löste sich von Alboran, hielt ihn aber an der Hand und zog ihn mit sich, um sich unter dem Baldachin unter zu stellen.
Urplötzlich war Wind aufgekommen und ließ die Äste der Bäume erzittern. Eine Folge starker Böen ließ die Bäume sich im Wind heftig schaukeln. Rasch erwies sich, dass der Baldachin als Schutz vor dem Regen nicht die gewünschte Wirkung hatte - er wurde schlicht umgeweht. Die hölzernen Stützen schlugen, verknotet an dem großen Leinenstoff der Plane, wie eine umschlagende Rah nach einer Patenthalse umher. Wie von einem Knüppelhieb getroffen sank die Vögtin zu Boden. Ein armdicker Stützstab war mit dem freien Ende ihr in den Rücken gefahren. Japsend, wie nach einem heftigen Tiefschlag, versuchte sie, zu Atem zu kommen.
“Zurück in die Burg - das ist ja ein furchtbares Unwetter!” kommandierte der Wehrvogt mit befehlsgewohnter Stimme. Aber tatsächlich war das das vernünftigste. Bei solcherart heftigen Windböen wäre ein Aufenthalt nahe am Wald ein unnötiges Risiko.
Ein Schwall kalten Wassers klatsche Haldana ins Gesicht und auf den Oberkörper, als der Baldachin im Wind peitschte und das darauf befindliche Regenwasser mit einem mal freigab. Der nasse Stoff klebte ihr am Leib und ließ sie frösteln. Vor wenigen Augenblicken war es doch noch ein warmer Tag im Praiosmond gewesen. Es schien, als habe die Luft einen großen Temperatursprung nach unten gemacht - oder lag es nur an dem kalten Regenwasser, das sie bis auf die Haut durchnässt hatte?
Tuvok half der Vögtin auf die Beine. Storkos Aufforderung, zur Burg zu eilen, schien ihm das einzig Sinnvolle zu sein. Er wusste um die Gefahren bei einem solchen Sturm wohl am besten von allen Anwesenden Bescheid. Und dass das nicht nur ein einfaches Wärmegewitter war, das da herein brach, das war Tuvok klar.
“Zurück zur Burg!” rief auch Alrik und winkte die Geweihtenschaft der Tsa heran und nahm die kleine Melsine auf den Arm, was Ysilda dazu veranlasste, dem Friedwanger zu folgen. Ismena hielt die Geweihtenschaft, die verunsichert unter Bäumen Schutz vor dem Unwetter suchte, zusätzlich zum Aufbruch an.
Noch nicht einmal zwei Minuten später waren allesamt bis auf das Untergewand durchnässt. Der Regen klatschte fast waagerecht einem jeden ins Gesicht. Zu allem Überfluss begannen sich Hagelkörner unter den Regen zu mischen. Erst kleinere, dann bis zu Taubeneigroße Firunskörner, die in dem Sturm zu gefährlichen Geschossen wurden. In all dem Geprassel und den aufstiebenden Wasserspritzern, den herumwirbelnden Ästen, Blättern und Steinchen konnte man kaum drei Schritte weit sehen.
“Komm mit” rief Haldana und zog Alboran hinter sich her, in die Richtung, in der sie die Burg vermutete. Unversehens stieß sie mit Glyrana zusammen.
“Wir müssen uns in Sicherheit bringen!” rief Alboran, vielleicht lag ein Hauch Panik in seiner Stimme.
Ein waagrecht fliegendes Firunskorn schlug in Haldanas haarloser Kopfseite ein und verursachte eine Platzwunde. Rotes Blut verschmierte sich auf der regennassen Kopfhaut.
Glyrana packte die Baronin an der Schulter und zog sie und Alboran vorwärts. “Tsa steh uns bei in diesem mörderischen Sturm!” murmelte sie. “Kommt mit!”
Die drei stolperten vorwärts, hoffend, im nahen Wald Schutz vor den Firunskörnern zu finden. Auf freiem Feld wäre man dem wilden eisigen Treiben schutzlos ausgeliefert. Eine weiße Schicht aus Firuns kugelförmigem Element bedeckte bereits den Boden. Schon nach wenigen Schritten war Haldana klar, dass sie in diesem Treiben selbst den kurzen Weg zurück zur Burg nicht finden würde. Es war schlicht nicht möglich, sich zu orientieren in dem nasskalten Inferno, das mit aller Urgewalt über sie hereingebrochen war. Odilon hatte am Morgen noch vor einem Unwetter gewarnt, vielleicht wäre es besser gewesen, Weihe und Verlobung zu verschieben. Doch da half jetzt alles nichts.
Der Pfad, auf den Glyrana Alboran und Haldana führte - war es der Pfad, der zurück zur Burg führte? - war kein Pfad mehr, sondern war zu einem Bachbett geworden, auf dem Knöcheltief das Wasser floss. Glyrana deutete nach links, der Fließrichtung des Wassers folgend.
“Dorthin… da muss es zum Gernat gehen, dort liegt die Burg”
Haldana schüttelte den Kopf. “Nein, Glyrana. Zum Gernat mag es gehen, aber nicht zur Burg, die liegt ein Stückchen höher als hier, meiner Erinnerung nach. Und wenn es hier schon vor Wasser strömt und schäumt, dann möchte ich nicht zum Gernat herunter.”
Glyrana hielt einen Moment inne.
“Du meinst…” begann sie, dann zögerte sie.
Haldana nickte.
“Wenn aus dem ganzen Wald knöcheltief das Wasser fließt… dann ist der Gernat kein beschauliches Flüsschen mehr. Dann möchte ich jetzt nicht im Gernatstal stehen. Nicht, solange dieses Unwetter anhält, man nichts sieht und nicht weiß, welche Urgewalt einen dort erwartet.”
Alboran wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Aber als Kind der Schwarzen Sichel wusste er, wie gefährlich ein aus dem Gebirge herab rauschender Bach sein konnte, wenn Schneeschmelze und Regen zusammen kamen. Vielleicht hatte Haldana Recht. Hier waren sie nass und froren, klar, aber wenn der Gernat über die Ufer treten würde, dann sollte man den Wassermassen nicht im Weg stehen.
Mit unbehaglichem Gefühl sah er die Firunskörner auf dem Regenwasser wegschwimmen, offenbar zum Fluss hin, firunwärts.
“Dann gen Rahja” beschied Glyrana kurz entschlossen. “Dorthin steigt das Land an, zum Wutzenwald. Gehen wir zu den Felsen im Wutzenwald, ich denke, dahin finde ich. Da sind wir zumindest vom Wind geschützt.”
Alboran und Haldana stimmten mit einem Nicken zu. Ein besserer Gedanke, wohin sie sich wenden konnten, war ihnen auch nicht gekommen.
“Hoffentlich finden wir dorthin.” murmelte Haldana, folgte aber der Mersingerin mit entschlossenem Schritt. Alboran fügte sich in den Entschluss der beiden Frauen.

Odilon hatte eine Bewegung in den Augenwinkeln erspäht, wandte unvermittelt den Kopf nach oben. Gerade noch rechtzeitig, um eine Frauengestalt auf einem Besen davon fliegen zu sehen. Rasch deutete er Timoin aufzuschauen, der ebenfalls die Hexe noch erblickte.
“Das muss die Frau gewesen sein, deren Spur wir bei den Goblins gesehen haben!” rief Timoin überrascht aus.
Odilon nickte. “Wahrscheinlich, ja. Die Frau, die die Rotpelze in die Falle geführt hat. Die drei von ihnen einem Ritual der Blutmagie geopfert hat. Hat sie selbst das Ritual durchgeführt? Oder der Unbekannte, dessen Spuren wir auch gesehen haben? Die Satuarientöchter sind eigentlich für vieles bekannt und verrufen, aber nicht für Blutmagie.”
“Ist doch egal, Odilon. Sie hat mitgemacht, egal wie genau. Wenn wir herausfinden wollen, was hier vor sich geht, dann müssen wir ihr folgen.”
Odilon lachte trocken. “Und wie? Welche Spur hinterlässt eine Hexe auf ihrem Besen?”
“Sie fliegt nach Rahja. Die gleiche Richtung, in die sich die unbekannte Spur unten entfernt hat” stellte Timoin sachlich fest. “Wir sollten der Richtung folgen, dann werden wir schon etwas finden. Komm, Odilon, steigen wir wieder runter vom Baum. Die Wildschweine sind weg.”
“Sachte sachte, Timoin.” Odilon zögerte. “Durch Regen und Hagel, in dem kaum etwas zu erkennen ist, willst du vordringen? Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.”
“Ja, Odilon. Ich weiß, ich verstehe nicht viel von Magie. Noch weniger von Blutmagie, wie du sagst. Aber eines weiß ich. Wir haben zwei Spuren, wir haben die Richtung. Und wer immer Blutmagie einsetzt, der hat damit Wettermagie bewirkt. Oder meinst du, diese Gallysardwetterlage wäre Zufall? Nein, Odilon. Wir sind schon einigen Druiden begegnet, das weißt du. Jetzt sehen wir eine Hexe und die Spur eines Unbekannten. Blutmagie, Wetterzauber, das deutet auf einen Druiden hin. Und auf ein Ritual, das weiter fortdauert. Hast du nicht selbst gesagt, dass jeder Zauberer sich auf seine Magie konzentrieren muss? Also wovor hast du Angst, Odilon. Wer immer dieses Unwetter verursacht, der ist beschäftigt. Und der wird nicht auf Verfolger achten. Warum auch, bei diesem Unwetter wird sich jeder, der bei klarem Verstand ist, einen Unterschlupf suchen. Niemand, so wird er erwarten, folgt seiner Fährte. Und genau deswegen haben wir eine Chance. Eine sehr gute sogar, würde ich sagen.”
Odilon dachte kurz nach und nickte.
“Gut… dann zum Henker mit der Verlobungsfeier, die ist ohnehin ins Wasser gefallen. Du hast Recht, Timion. Und da ist noch eines. Dieses Unwetter wird dauern, bis der Urheber sein Ziel erreicht hat… oder bis ihn der Pfeil eines Jägers trifft. Und das wird sicherlich einigen Menschen das Leben retten, denn dass ein solches Unwetter ohne Todesopfer bleibt, das können wir nicht hoffen.” Odilon ließ sich an den Ästen herab und sprang zu Boden - in knöcheltiefes, schäumendes und gurgelndes Wasser. “Sei vorsichtig, mein Junge. Einem so gefährlichen Gegner bist du noch nie begegnet. Du bist jetzt nicht auf der Pirsch, Timoin. Du bist auf dem Kriegspfad.”  

Durchnässt, fröstelnd und abgekämpft vom beschwerlichen Weg gegen den Wind erreichten Glyrana, Alboran und Haldana einen Felsen, knapp vier Schritt hoch und nach Efferd hin leicht überhängend. Immerhin windgeschützt konnte man hier stehen. Alboran stützte sich gegen den Felsen und atmete erst einmal durch. Haldana sah übel aus, obwohl sie kaum verletzt war. Aber das Blut der Platzwunde hatte mit dem überreichlich vorhandenen Regenwasser ihre Leinenbluse blutig verschmiert. Aber immerhin blutete die Wunde nicht mehr. Auch sie war froh, wenigstens vor dem ärgsten Unbill des Wetters Zuflucht gefunden zu haben. Dennoch, auch hier war der Boden völlig durchweicht, und das Wasser rann talwärts.
“Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es jetzt am Gernat aussieht” murmelte Glyrana. Haldanas Bedenken, das hatte sie rasch begriffen, bestanden vollkommen zurecht. Die Burg auf dem felsigen Untergrund mochte sicher sein. Aber dahin müsste man erst einmal kommen, und wie es bei diesem Unwetter um die Hütten der Bauern, Handwerker und Arbeiter am Gernatsufer stand, konnte man sich ausmalen. Die Landjunkerin hoffte nur, dass auch viele der Dörfler auf der Burg Zuflucht gefunden hatten. Wenn die Hütten oder die Uferstraße unterspült oder überschwemmt waren, dann würde davon vielleicht nicht mehr als eine einzige Matschpiste übrig bleiben. Und wer von den Fluten mitgerissen würde, dem möchten die Götter gnädig sein.
“Das… das ist doch kein normales Unwetter” Alboran war immer noch von einer Unruhe erfüllt. Ich meine… so ein Starkregen… mit Hagel, so plötzlich…”
Haldana nickte. “Du hast Recht, Alboran. So etwas haben wir in Schlotz noch nicht erlebt, so lange ich lebe.
`So etwas hat es hier auch nicht gegeben, seitdem ich nicht mehr lebe!` vernahm Haldana Golos Stimme. Die Baronin fuhr erschrocken auf, fasste sich aber wieder.
“Ach, nicht du schon wieder…” murmelte sie.
Glyrana und Alboran sahen sie verwundert an.
“Es ist Golo…” erläuterte Haldana, die die unheimliche Begegnung nicht mehr, wie in der Vergangenheit, geheim halten wollte.
`Das Wetter hast du mir zu verdanken, Schätzchen. Bekenne dich zu IHM, und ich werde dem Einhalt gebieten.`
“Was ist mit Golo?” hakte Alboran nach.
“Seine ruhelose Seele irrt als Nachtmahr umher. Er ist hier”
“Jetzt? Hier? Bei Tageslicht?” wunderte sich Alboran, der nicht wusste was er sagen sollte.
Haldana zuckte mit den Schultern. “Eigentlich müsste ich jetzt Angst haben. Jedenfalls ist es das, was Golo will. Aber tatsächlich friere ich einfach nur.” Einer Intuition folgend beschloss Haldana, keine Angst vor ihrem Peiniger zu zeigen, sondern über ihn statt mit ihm zu reden. “Sein Geist verfolgt mich, seitdem ich ihn damals erschlagen habe… mit der Laute. Ach ja… Laute. Golo war es auch, der gestern die Vorstellung von diesem Barden Wendelin mit seinem schaurigen Liedgut verunziert hat.” Alboran blickte verständnislos. Aber Glyrana, die auch etwas von dem unheiligen Lied vernommen hatte, zeigte sich interessiert.  
´Wenn dir was an den Menschen in deinem Lehen liegt, Püppchen, dann bekenne dich. Eine einzige Lobpreisung des Güldenen reicht, und der Regen wird aufhören. Oder willst du ein dutzend Tote verantworten?´ ätzte Golo nach, aber Haldana ignorierte ihn.
“Golo sagt, er wäre für das Unwetter verantwortlich. Aber ich glaube ihm nicht. Wie könnte ein Geist denn solches bewirken?” Tatsächlich hatte Haldana keine Ahnung, wozu Golo in der Lage war, und ebenso verspürte sie Angst. Allerdings weniger als bei früheren Begegnungen. Sie war nicht allein, und es war Tag.
`Du zweifelst, meine liebe Gemahlin? Du zweifelst? Habe ich Dir nicht auch angekündigt, dass du ein Kind erwartest? Meinen Sohn übrigens? Meinst du, ich muss selbst so eine läppische Beschwörung ausüben, um ein Unwetter zu erzeugen? Meinst du das? Ebenso wenig wie ich selbst kein Kind zeugen muss, um dich zu schwängern, sondern das meinem Sohn überlasse? Ebenso muss ich selbst nicht ein solches Ritual wirken, nein, ich habe genug Anhänger, die mir hörig sind, du ungläubige Göre!´
Haldana hatte den Eindruck, Golo zornig gemacht zu haben. Wieder zweifelte sie an sich, an ihrer eigenen Courage. Tatsächlich, sie war schwanger. Sie hatte das niemandem gesagt, selbst Alboran gegenüber nur angedeutet. Golo hingegen wusste davon. Woher?
“Wie? Ein Nachtmahr bewirkt ein Unwetter? Wie denn das?” fragte Glyrana nach.
“Er sagt, ein ihm Höriger habe ein Ritual oder eine Beschwörung bewirkt.” erläuterte Haldana mit gleichmütiger Stimme. “Mag sein, er selbst kann es jedenfalls nicht. Ein Nachtmahr kann nicht zaubern.” Das letzte hatte Haldana hinzugefügt, um Golo zu provozieren, um ihn aus der Reserve zu locken, auch wenn sie tatsächlich keine Ahnung hatte, wozu ein dem Dreizehnten Geweihter Nachtmahr imstande war.
´Du Ungläubiges Kind! Ich werde die Kupfermine von Gernatsborn vernichten. Du bist schuld daran, Blondchen. Du hättest das alles verhindern können. Einfach nur ein Gebet an den Güldenen richten, und alles wäre überstanden. Du trägst die Verantwortung dafür, für deine eigene Dummheit, deine Überheblichkeit, deine Kleingeistigkeit! Es sind deine Schutzbefohlenen, die sterben werden.´ vernahm Haldana wieder Golos tonlose Stimme in ihrem Kopf.
Dass alles, was am Ufer des Gernat stand, in Gefahr war, das hatte Haldana ohnehin schon geahnt. Und damit auch die Kupfermine. So konnte die Drohung Golos sie nicht zusätzlich erschrecken. Nicht mehr, als sie ohnehin bereits in Sorge war.
“Ist Golo immer noch da?” fragte Glyrana nach? Die Landjunkerin meinte, die unheilige Präsenz zumindest zu spüren, von der Haldana sprach.
Die Baronin nickte. “Ja. Aber… ich glaube, von ihm geht gerade keine Gefahr aus, nicht darüber hinaus, als dass er uns Angst machen will.”
´DU IRRST` gellte eine tonlose Stimme durch Haldanas Kopf. Selbst Glyrana spürte eine Erregung der unheiligen Präsenz. Plötzlich flog die Landjunkerin zur Seite, stolperte und fiel der Länge nach auf den matschigen Untergrund.
Alboran lachte dreckig “Da liegst du nun, Eidechsenanbeterin. Schade, dass meine Söldnerin gestern nicht besser getroffen hat. Na sei es drum, ich werde das nachholen. Und nun zu dir, Metze!” Alboran packte die völlig überraschte Haldana an ihrer Haarhälfte und zog mit einer Urgewalt daran. Haldana schrie vor Schmerz und Schreck auf.
“Keine Gefahr? Mein Weib, du wirst schon merken, wer von uns beiden die Hosen an hat!” Alboran zerrte Haldana zur Seite, stieß sie mit Wucht gegen den Felsen.
“Alboran!” schrie Glyrana auf
“Das ist nicht Alboran. Golos Geist beherrscht ihn!” rief Haldana in einem kurzen Moment, in dem Alboran der sich aufrappelnden Glyrana einen Tritt gab, dass diese einen erschrockenen, sich fast grunzend anhörenden Laut von sich gab, ehe Alboran sich wieder der Baronin zuwandte.
“Du bist mein Weib, du Metze!” rief Alboran mit ebenso hasserfüllter wie auch verächtlicher Stimme. “Ich werde dir schon beibringen, mich zu respektieren, du Trolltochter!” wieder schrie Alboran, zugleich schubste er Haldana mit kräftigem Stoß nach hinten weg, wobei diese über einen Stein stolperte und auf dem Rücken zum Liegen kam.
Wenigstens ist diese Matschbrühe schön weich, dachte Haldana, und drehte sich in Bauchlage, um aufzustehen.
Da schlug sie erneut auf dem Boden auf. Sie spürte einen Schlag auf dem Rücken, dann drückte eine unnachgiebige Hand ihre blonden Haare in den Schmutz und fixierte so ihren Kopf im Dreck.. Erneut versuchte Haldana, aufzustehen, jedoch kam sie keinen Fingerbreit hoch, da Alboran auf ihr lag und sie zu Boden drückte.
Für einen Moment fühlte Haldana sich an ihren Kampf mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges erinnert. Nur für einen kurzen Moment. Jetzt kämpfte sie nicht gegen Alboran, auch wenn ihr Gegner Alborans Körper nutzte. Golo war ihr Gegner.
“So, Püppchen, ich weiß, das gefällt Dir!” rief Alboran. Aber jetzt machen wir das so, wie ich das will. Schwanger bist du ja schon. Du bist doch sonst so eine Elfenversteherin, du Hinterwaldgöre! Da wirst du sicher deine Freude daran haben!”
Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als sie Alborans Zähne in ihrer Schulter spürte. Haldana schrie, übertönte damit ein erneutes Grunzen aus dem Hintergrund. Dann spürte sie ein Reißen an ihrem Kleid.
Doch der stabile Leinenstoff riss nicht so leicht.
Alboran griff nach seinem Messer, schnitt Haldanas Kleid unter dem Gürtel auf.
Ein erneutes Grunzen, diesmal lauter.
Plötzlich fühlte Haldana sich befreit. Das Gewicht auf ihrem Rücken war weg. Die Schlotzerin sprang auf.
Alboran zappelte wild um sich, jedoch fest umschlungen von überraschend kräftigen Armen, die den Gießenborner im Kreuzgriff umschlungen hielten.
Glyrana stand erhobenen Hauptes hinter dem jungen Edlen, ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr sonst so ordentlich gepflegtes Haar stand fast borstig weg.
Haldana konnte sich nicht erklären, wie die tsafreudige Landjunkerin plötzlich so wild und kräftig geworden war. Hatte sich die Gernatsborner Burgherrin einen Krafttrunk zu Gemüte geführt? Aber für Überlegungen hatte die Baronin keine Zeit.

Alboran japste, lief rot an im Gesicht. Hilflos wie ein Maikäfer zappelte er im Festen griff.
“Bring ihn nicht um… es ist Alboran!” rief Haldana Glyrana an, als sie erkannte, dass Alboran keine Luft mehr bekam.
“Er… hat dich angegriffen. Und mich… er ist der Verräter!”
“Golo ist der Feind. Nicht Alboran…” erläuterte Haldana. “Golos Geist kann in fremde Körper fahren, kann Menschen beherrschen, ich habe das selbst schon erlebt.”
Glyrana drückte nicht weiter zu, ließ den gefangenen Alboran einen Atemzug nehmen.
“Aber… wenn er von Golo beherrscht wird, ist er eine Gefahr…” gab Glyrana zu bedenken.
`Du musst ihn küssen` erklang die ruhige, angenehm tief klingende Stimme Nasdjas in Haldanas Kopf. Haldana war froh, die Seele der Seherin wieder zu hören. Sie gewann neue Zuversicht, atmete erst einmal durch. Wenn Nasdja in ihrer Nähe war, hatte Haldana keine Angst mehr. Die alte Norbardin hatte ihr immer hilfreich zur Seite gestanden. Ein Lächeln fuhr über Haldanas Gesicht.
“Wir müssen Alboran helfen, Golos Geist zurück zu drängen.” antwortete Haldana. “Ich glaube, ich kann das. Halte ihn fest… aber nicht zu fest… und lass ihn los, wenn ich ihn habe.”
Glyrana verstand nicht, was Haldana vorhatte. Aber sie nickte.
“Alboran, mein Guter” begann Haldana. “Jetzt weißt du, wie mir der Geist dessen, der nicht dein Vater ist, zu schaffen macht. Jetzt verstehst du es.” Haldana lächelte Alboran an, der hasserfüllt zurück blickte.
“Niemand wird uns trennen, auch dieser Stinkstiefel von Golo nicht.” Sanft umarmte Haldana den Geliebten, drückte ihm einen sanften und zugleich innigen Kuss auf den Mund, knabberte leicht an seinen Lippen.
Alboran würgte erst, rebellierte, wollte sich aus dem Griff Glyranas befreien. Doch zugleich drang ein anderer, freundlicherer Gesichtsausdruck auf sein Gesicht. Haldana sah, dass in Alborans Körper zwei Seelen um die Vorherrschaft rangen. Ein Golo, der sich nichts aus Frauen machte, und der gleichzeitig Alborans Seele niederkämpfen und sich der Zärtlichkeit Haldanas widersetzen wollte als auch versuchte, dem eisenharten Griff Glyranas zu entkommen. Und eine verunsicherte, aber von der Liebe zu Haldana beflügelte Seele Alborans, die sich allein darauf konzentrieren konnte, den fremden Eindringling zu bekämpfen, zu verdrängen. Einen Kampf, bei dem Alboran dank Haldana und Glyrana die besseren Karten hatte.
Der Widerstand in Alborans Armen erlahmte. Im gleichen Maß ließ Glyrana den Gießenborner los.
Haldana schlang ihre Arme um Alboran, fuhr ihm mit den Händen über das schwarze Haar, küsste ihn erneut.
Alboran atmete ruhig, entkrampfte sich, umarmte sanft die Geliebte.
“Verzeih mir” sagte Alboran. Man sah ihm die Erschöpfung an, die der Kampf mit Golo verursacht hatte.

Welch herrlicher Anblick, welch wunderbare Zerstörung!
Mit flatternder Robe und wehenden Haaren stand Burchert dicht unter der Krone der Blutbuche. Die eine Hand war an einem der borkigen Stämme festgekrallt, die andere Hand fest um seinen Stab geschlossen (der selbst einem Ast ähnelte und ein Geschenk des Waldes war). Mit dem Stock dirigierte er schreiend das Unwetter, zumindest bildete er sich das ein. Längst hatte den Druiden so etwas wie heiliger Wahnsinn ergriffen, während Regel und Hagel auf ihn herab prasselten. Auf seine Hörnerhaube und das leicht purpurn schimmernden Blätterdach des Heiligen Baums, ebenso auf dessen dunkles, fast schon schwarzes Holz.
Burchert beruhigte sich nur mühsam. Die Wirkung des Rituals war erstaunlich, nach dem kläglichen, warmen Landregen und lauen Lüftchen gestern Abend. Ein gewaltiger Wirbelsturm hatte sich über dem Gernat gebildet, der unterhalb des Steilhangs mächtig anzuschwellen begann und bereits die Artemafurt überflutete. Es war klug gewesen, den Regen hier, vor der Engstelle herunterstürzen zu lassen, wo das Wasser am meisten Kraft gewann, bevor es sich vor der Gernatsbeuge anstaute. Selten hatte der Name "Blutbaum" besser gepasst als jetzt. Burcherts Robe, Gesicht und Bart waren noch immer rot bespritzt, vom Dolch, der in seinem Gürtel steckte, tropfte der Lebenssaft der hingemeuchelten Goblins.
Burchert hatte zusammen mit Reginlind das alte Wetterritual ausgeführt, hoch über dem Fluss: Erst die Suulak bis zur völligen Erschöpfung tanzen lassen, dann das Leben der keuchenden, wimmernden Kreaturen auf dem Opferstein beendet. Die Abscheu im Gesicht der Hexe war ihm nicht entgangen – wäre es der Schwazerin lieber gewesen, die Lebenskraft der Rotpelze sinnlos zu vergeuden? Sorgfältig hatte er das Blut in einer irdenen Schale aufgefangen, damit den Heiligen Baum besprengt und gezeichnet. Hatte Walderde, Moos und Laub in die Luft geworfen, eine Sturmkrähenfeder aus der Hand geblasen, viermal mit dem Stab auf das Holz der Blutbuche geklopft, im ältesten Garethi befehlend zu den Geistern des Fallenden Wassers wie der Brausenden Luft gesprochen.
Nur Reginlind war von der Menge grunzender Wildschweine erstaunt gewesen, die ohne Vorwarnung im Unterholz aufgetaucht war, begleitet von mehreren Wanderern: Junge Wutzen, die sich in den Namenlosen Tagen gerne in Ebergestalt unter die Tiere mischten, um eine zeitlang unerkannt durch den Wald zu ziehen und das Treiben in der diesseitigen Welt zu beobachten. Im Praiosmond war er ihnen noch nie begegnet. Vermutlich hatte das Wirken von Magie die Feeischen angelockt, ebenso der Geruch von Goblinblut. Zum Glück hatte Burchert einige Handvoll Krafteicheln in seiner Felltasche dabei gehabt, um die Eberbiestinger und ihre Rotte zu beschwichtigen. In stummer Sprache hatte er den Borstenträgern begreiflich gemacht, dass es ihm bei seinem Zauber allein um das Schließen von Sumus Wunde ging. Zu seinem Erstaunen waren die Wanderer fast sofort in Richtung Gernatsborn gestürmt, um das Rumpelholz zu zerstören, das sie beim nächtlichen Suhlen störte, ebenso wie der ätzende Gestank aus der Grube. Heute Nacht würde die Herde zurückkehren, um sich an den Leibern der Rotpelze zu laben.
Nun stand Burchert auf der Blutbuche, die sich im Sturmwind hin und her neigte wie der Mast einer Schivone, die sich durch schwere See kämpfte. Es war schon körperlich schwierig, den Sturm zu lenken, aber die Kräfte, die er hier entfesselt hatte, überstiegen langsam, aber sicher seine magische Macht. Reginlind war mit dem Besen in die Lüfte aufgestiegen, um den herunter brechenden Ästen und dem herumfliegenden Holz oder Laub zu entgehen.
Burchert schaffte es noch, die Windhose in Richtung Bergwerk zu dirigieren, dann musste er das Toben der Elemente sich selbst überlassen. Verwirrt zuckte der Druidenmeister zusammen, als zappelnde kleine Gnitzen neben ihm im Baum einschlugen. Eigroße Hagelkörner fetzten die Blätter von den Zweigen, rissen ihm den Stab aus der Hand. Das Heulen des Sturms wurde zu einem Brüllen, der Tag zu stockfinsterer Nacht. Plötzlich verspürte selbst er Furcht: Welche Urkräfte hatten sie hier entfesselt?

Perainfried erwachte aus seiner schweren Benommenheit, wozu ein Schwall eiskalten Wassers beitrug, das ihm gegen den Hals, nein, ins Gesicht schlug. Der Gardist verschluckte sich, bekam keine Luft mehr, hustete. Mit panischen Bewegungen versuchte er sich aus der Flut freizukämpfen. Nach und nach gelang es ihm, sich hochzuziehen und an irgendeinem abgesplitterten Balken festzuklammern. Erst jetzt merkte er, dass er an einem der Holzgerüste des Bergwerks hing, das ihm im letzten Moment aufgefangen hatte. Genauer am Überrest eines Holzgerüsts. Mehr als einen Moment lang war er völlig überfordert und desorientiert. Nur die Blitze, die immer noch durch die Finsternis zuckten, offenbarten ihm nach und nach seine Lage. Er hing genau an der Abbruchkante eines bräunlichen Wasserfalls, der sich vom Gernat her in die Grube ergoss. Hatten hier die Pumpen nach unten geführt, oder war das einfach nur der Einstieg ins Bergwerk gewesen? Wenn ja, dann war die Anlage nun völlig zertrümmert.
Ein dumpfes Grollen lenkte ihn ab. Perainfried wagte einen Schulterblick zur Seite. Das Geräusch kam vom Hangwald her. Genau genommen war es der Hang, der ihm gerade entgegen donnerte: Die Erde hatte sich im Dauerregen selbstständig gemacht und rutschte los, als Lawine aus Schlamm, Wasser, Baumstämmen, Geröll. Perainfried verstand, dass Sumus Zorn auf dem Weg zur Grube alles unter sich begraben würde, was sich ihm in den Weg stellte. Unter anderem ihn selbst. Nein, das stimmte nicht ganz: Vom Fluss her trieb nun das Mühlrad heran, das sich sinnlos im Wasser um sich selbst wälzte: Es würde ihn vermutlich einige Herzschläge vor der Moräne zerschmettern und über den Rand des Abgrunds fegen.
"Heilige Mutter Sumu, steh mir bei!" hörte er sich brüllen. Ein Baumstämmchen wurde durch die Luft geschleudert und schwirrte genau auf ihn zu. Im nächsten Moment wurde der Gardist auch schon gepackt und mitgerissen. So sieht also das Ende aus, dachte er schicksalsergeben. Er flog, durch die Luft, den Hagel, den Sturm, das Wasser. Irgendetwas hatte ihn am Schlafittchen gepackt: Golgari? Verwirrt blickte er auf: Der Todesalveraniar sah aus wie eine junge, durchaus hübsche Frau mit flatternden roten Haaren, die auf dem Bäumchen, nein, einem Reisigbesen saß. Welch merkwürdige Halluzinationen man hatte, wenn bereits Uthars Pfeil auf einen zu raste. Die Besenreiterin hatte Mühe, Höhe zu gewinnen, kurz hinter der Grube plumpste ihre Last in den schlammigen Boden.
Als der nächste Blitz die Finsternis erhellte, war seine Lebensretterin bereits verschwunden. Für einen Moment schämte er sich, in höchster Not nicht zu den Göttern Alverans gebetet zu haben. Dann sah er, wie Sumu selbst die Wunde in ihrem Leib schloss, zumindest einen Teil, in Form von gigantischen Erd- und Steinrutschen, die in das Loch hinein rutschten, wie ein Erddrache, der in seine Höhle zurück kroch. Ergriffen sank er zurück in den Schlamm und spürte die Kraft der Erde, buchstäblich am eigenen Körper. Dann herrschte eine merkwürdige, gespenstische Ruhe. Selbst der Regen ließ schlagartig nach. War das das berühmte Auge des Wirbelsturms?
Perainfried atmete durch. Die Stille um ihn herum war beunruhigender als es ein erneutes Anschwellen des Sturms gewesen wäre. Wassertropfen pflatschten von den arg zerzausten Bäumen, das war fast das einzige Geräusch. Der Orkan kehrte nicht wieder. Stattdessen kam der Schnee - erst einzelne, zarte Flöckchen, dann schüttelte Frau Travia ihre Kissen aus, von Alveran herab. Der Winter brach über Gernatsborn herein.
Mitten im Schneetreiben spürte er eine zitternde Hand auf seiner Schulter. "Perainfried, du lebst?!", hörte er eine vertraute Frauenstimme, gefolgt von einem Husten. "Hat dich diese betrunkene Hexe auch aus dem Wasser gezogen?"

9. Kapitel - Ein Duell auf den Dächern

9. Kapitel

Kampf auf den Dächern



Unweit Sokramshain, Sonnenaufgang am 6. Praios 1043
Arthorn hob die Arme, als der erste wärmende Strahl der Sonne über den Hügeln der Schlotzkuppen empor brach und die steinerne Oberfläche eines Felsbrockens, der einem übergroßen Tisch ähnlich, auf der Anhöhe eine halbe Meine firunwärts von Sokramshain lag, wiederum umrahmt von mehr als einem Dutzend etwa anderthalb Schritt Höhe zählender Menhire aus dunkelbläulich wirkendem Gestein. Steine, die so groß und schwer waren, dass wohl nur Riesen sie hätten errichten können, weswegen der Steinkreis auch Aarmarischer Steinkreis genannt wurde.
Der erste Lichtstrahl der Sonne fiel exakt über die Spitze einer im Rahjafirun stehenden Felssäule und warf den Schatten der Felsspitze auf die Oberfläche des Steines. Arthorn verfiel in einen tiefen, langsamen Gesang, der keiner bekannten Sprache zu entstammen schien. Waren es auswendig gelernte Worte einer heute vergessenen Zunge? Oder waren es rituelle, jedoch keine Bedeutung innehabende Laute, die der Druide sang? Konnte überhaupt irgendjemand diese Frage beantworten? Oder war diese Frage völlig bedeutungslos, die sich vielleicht mancher der der Predigt lauschenden Zuhörer stellte?
Arthorns Stimme überschallte mit einem melodischen Bariton die auf dem Hügel versammelten Menschen. Noch einige Minuten lang rezitierte der Druide seinen rhytmischen Sprechgesang. Dann verfiel er in die Sprache, die allen geläufig war.
„Freunde des ewigen Landes, der ewigen Wiederkehr von Gedeihen und Dahinscheiden, Freunde des Wutzenwaldes, Freunde des Sichelhags, Freunde des Landes von Veratia. Ich danke Euch für die Ehre, hier zu Euch sprechen zu dürfen.“
Ein erwartungsvolles Schweigen schwang ihm entgegen. Der alte Druide war erst im Frühjahr von den Seinigen, den Angehörigen seines Druidenzirkels, zum obersten Druiden der Region bestimmt worden - und damit zugleich zu so etwas wie einer Art Hohepriester der Alten Kulte – wenn eine solche hierarchische Deutung, die eher den Kirchen der Zwölfgötter als einem Naturglauben entsprechen mochte - überhaupt zulässig war. Und vor allem deswegen war die traditionelle Levthans- und Sonnwendfeier der Alten auf dem Hügel bei Sokramshain auf den sechsten Tag nach der Sonnenwende verschoben worden – Arthorn hatte die Sonnwendfeier am längsten Tag des Jahres noch in Kamlanodis zelebrieren müssen – dort stand mehr das Sonnwendfest und nicht die Levthanszeremonie im Vordergrund, weswegen das Fest dort nicht verschoben werden konnte – und hatte sechs Tage für die Reise zum Schlotzer Sokramurshügel gebraucht.
„Meine Freunde im Glauben“ begann Arthorn erneut. „Die Sonne, die zur Wintersonnenwende neu geboren wurde, hat nun ihren höchsten und hellsten Stand erreicht. Das Halbjahr des Niedergangs im ewigen Kreislauf des Lebens beginnt. Lasst uns Sumu, der Allschöpfenden und Allgebärenden, danken für die neue Wiedergeburt des Lebens vor sechseinhalb Mondläufen, und lasst unsere Gebete und Gedanken darauf richten, dass auch auf diese Phase des Niedergangs in erneut sechseinhalb Mondläufen ein Ende findet und aus dem Vergehen wieder neues entstehen wird.“
Wieder hob Arthorn vom Kallerishain die Arme, und die versammelten, geschätzt zweihundert Menschen fielen in einen gemeinsamen Gesang ein. In ein Lied, das die Sonne, das Licht und das Geheimnis des Leben besang. Während noch die Versammelten ein letztes Mal den Refrain sangen, geleiteten mit Blumengirlanden geschmückte Mädchen eine rothaarige, geschätzt noch nicht zwanzigjährige Frau, den Hügel hinauf und in das Innere des Steinkreises.
Neben dem Felsen, zu dem die Blumenmädchen die Rothaarige führten, hatten sich Trommler eingefunden und im Schneidersitz niedergelassen. Wie auf ein unmerkliches Kommando hin begann ein erst leises, dann lauter und kräftiger werdendes Tremolo, das in einen abgehakten und asynchronen Rhythmus überging, zu dem Arthorns Bariton in einen Sprechgesang verfiel.
Ein nur mit einem weiten Fellschurz und einer Widdermaske bekleideter Mann sprang aus dem Schatten eines Menhirs hervor und tänzelte mit wilden Sprüngen um den Stein, zu dem die Rothaarige geführt wurde. Die Trommler schlugen ihre Instrumente schneller. Dann, auf einen Wink des Widders, hörten die Trommler schlagartig auf, ihre Instrumente verstummten. Im gleichen Augenblick warf die Rothaarige ihren weißen Leinenumhang ab und präsentierte sich, wie Sumu sie geschaffen hatte. Von den Blumenjungfern geleitet wurde die Rothaarige – von den Besuchern der Sonnwendfeier wurde sie als Reginlind, die junge Hüterin des Satuarienschreins von Schwaz wieder erkannt – auf den felsenen Altar geleitet.
Rimhilde reckte sich aus der Reihe der Zuschauer, um einen Blick auf das Treiben um den Felsenaltar besser beobachten zu können. Rimhilde hatte selbst keine herausragende Rolle inne innerhalb der Anhänger der Alten Kulte. Ihre besondere, sonst eher unerkannte Funktion als Auge und Ohr der Alten am Baronshof verbot das. Insbesondere hätte es der eigeborenen Hexe gefallen, selbst das Fruchtbarkeitsritual zu vollziehen, zumal es Gerbold als Sprecher der Alten zukam, als Inkarnation Levthans am Ritual teilzuhaben. Nun, so würde denn die junge Hüterin des Schreins zu Schwaz, die ehemalige Schülerin der alten Heilerin Brinadette in den Genuss der rituellen Vereinigung kommen. Rimhilde hatte sich daran gewöhnt, den ihr heimlich vor den alten Göttern angetrauten nicht für sich allein haben zu können. Ihn nun mit Reginlind teilen zu müssen machte ihr nichts aus. Weniger jedenfalls, als ihn mit einer rechtsgültigen Eheschließung formal an die Gernatsquell verloren zu haben.
Wieder setzte rhytmisches Trommeln ein. Die Inkarnation Levthans näherte sich der auf dem Altar liegenden Reginlind. Da unterbrach ein lauter Schrei das beginnende levthansgefällige Treiben.
Mit wilden Sprüngen erschien eine zweite Inkarnation Levthans auf der Kuppe, er war offenbar zuvor unbemerkt in den Reihen der Festteilnehmer gestanden, ehe er sich die Levthansmaske übergestülpt und in die Mitte gesprungen war.
„Du nicht, Handlanger der Zwölfgötter!“
Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge. Den Angesehensten unter den Anhängern der Alten Kulte als Handlanger der Zwölf zu bezeichnen, war, wie unschwer für jeden zu verstehen war, wohl fast die größtmögliche Beleidigung, die man einem Altkultisten entgegen bringen konnte. Und es war, ebenso deutlich, eine Herausforderung, ein Machtkampf.
„Wer bist du, der einen Zweikampf mit einer Verleumdung beginnt?“ Gerbold hatte sich – mit einem Anflug von Bedauern – von der hübschen Satuarientochter abgewandt, um sich dem Herausforderer zuzuwenden. Gerbold war überrascht. Er hatte nicht mit einem Herausforderer gerechnet, auch wenn Rimhilde ihre Sorge zu seiner Stellung in der Gemeinschaft der Anhänger Sokramurs geäußert hatte. Nun, immerhin entnahm er dem Zeitpunkt der Herausforderung, dass der Unbekannte sich einer Mehrheit unter den versammelten nicht sicher war. Mit einer Mehrheit der Sokramursjünger hinter sich hätte er einen anderen, weitaus sichereren und gefahrloseren Weg wählen können, ihn von der Spitze zu vertreiben. Sein Rivale hätte dann nicht eine Herausforderung hier und jetzt gewählt, bei dem die Kraft, die Kampfesfertigkeiten und die Schnelligkeit eine Rolle spielten, und bei dem Gerbold nicht ablehnen konnte, wollte er weiterhin der Einflussreichste unter den Altkultisten bleiben. Das Element des Kampfes zweier Rivalen um ein paarungsbereites Weibchen war zu verbreitet unter Sumus tierischen Bewohnern. Wer einem solchen levthansgefälligen Kampf aus dem Weg ging, der stand in der Rangfolge noch hinter jemandem, der einen eben solchen Zweikampf verlor. Gerbald konnte also dem Zweikampf nicht aus dem Weg gehen, und sein Herausforderer schätzte sich wohl als stärker ein.
Dennoch hatte er kein gutes Gefühl. Sein Gegner schätzte sich ihm vermutlich nicht ohne Grund überlegen ein. Klar, Gerbold war kampferfahren und routiniert. Aber er spürte die ersten Anzeichen des Alters, und er selbst hatte sich nicht auf einen Zweikampf vorbereitet. Einen Zweikampf, der, anders als ein ritterliches Duell unter Anhängern der Rondra, nicht festen Regeln unterworfen war, und in dem das sich verschaffen eines Vorteils nicht als Trug galt.
Statt einer Antwort kam ein Stein geflogen. Ein Stein, den der Herausforderer vom Boden aufgehoben und nach Gerbold geschleudert hatte. Jedoch nicht so schnell und überraschend, als dass der Sokramshainer mit einer raschen Drehung seines Körpers dem nicht ausweichen konnte. Das Wurfgeschoss prallte an einem Menhir ab und fiel zu Boden.
Gerbold blieb ruhig. Wenn der Herausforderer sich nicht erklärte konnte es sein, dass er an Redegewandtheit sich ihm unterlegen einschätzte. Das wollte er nutzen, die Stimmung auf seine Seite zu ziehen. „Also kein Name. Aber nur jemand aus unserer Mitte darf sich das Recht heraus nehmen, selbst um seine Teilnahme am Ritual der Fruchtbarkeit teilzunehmen. Kein Name, keine Teilnahme. Also entferne dich, Fremder.“
„Er ist einer von uns!“ rief eine Frauenstimme aus der Menge. „Aber bist du das auch, oder frisst du dieser Gernatsquell schon aus der Hand?“
Gerbold konnte nicht erkennen, wer sich da auf die Seite seines Herausforderers schlug, aber das zustimmende Raunen der Menge machte ihm Sorgen. Wer immer das war, sie wusste zumindest, wo sein wunder Punkt war. Rimhilde hatte ihn gewarnt.
„Nein, tut er nicht!“ brüllte Leubold, sein Sohn. „Er stopft sie nur, und die Gernatsquell stöhnt wollüstig dabei.“
Einige Lacher erklangen. Gut, dachte Gerbold. Sein Sohn hatte zwar unflätige Worte gewählt, die dennoch dazu geeignet waren, die Stimmung unter den vielen einfachen Landleuten zu seinen Gunsten einzunehmen.
„Ich würde eher sagen, diese Gernatsquell hörnt dich, Gerbold! Aber nicht mit Levthanshörnern!“
Das war nicht gut, dachte Gerbold. Da schien sich jemand mit den tatsächlichen Hintergründen seiner Ehe mit Valyria auszukennen. Kein Thema, das in einer hitzigen Stimmung wie jetzt gut auszudiskutieren wäre.
„Oder hat dieser Leuenkriecher dich gehörnt, Gerbold!“ rief eine andere Stimme
Verdammt. Sein Herausforderer stand nicht allein. Er hatte Anhänger unter den Festgästen. Nun, damit war zu rechnen gewesen. Diese Pöbeleien waren zwar dazu geeignet, ihn in seiner Stellung zu schwächen. Die Gemeinschaft der Altkultisten anzuführen und auch gegen manche Adelige zu behaupten, dazu bedurfte es aber mehr als diesen billigen Populismus.
Nur, mit diesen staatsmännischen Überlegungen käme er jetzt nicht weiter, das wusste Gerbold auch.
„Was jetzt, willst du schwätzen, oder machen wir das aus wie Männer?“ blaffte der Unbekannte ihn an.
„Zeig dein Gesicht. Zeig, dass du einer von uns bist, oder verschwinde.“ antwortete Gerbold
Vielleicht kein schlechter Schachzug. Wenn der Herausforderer nicht tatsächlich aus den Reihen der Schlotzer Altkultisten stammte, dann würde er der Aufforderung nicht nachkommen können, und jeder der Anwesenden würde sich seinen Teil dazu denken.
Doch der Herausforderer tat ihm nicht den Gefallen, das Abnehmen der Maske zu verweigern. Gerbolds Blick fiel auf das Antlitz seines Herausforderers. Ein junges Gesicht… keines, das er persönlich kannte. Aber eines, dessen Gesichtszüge ihn an jemanden erinnerten.
„Du deutest das richtig, Sokramshain. Mein Dorf mag verbrannt sein, meine Leute mögen vom Rotpelz und von plündernder Soldateska erschlagen worden sein, mein Vater mag gestorben sein. Aber ich lebe. Ich bin Sokramorian von Schratenholzen, und ich werde deine Kuscheleien und Schmusereien mit den Paktierern der Zwölf nicht mittragen. Allzu lange liegst du schon im Bett der Gernatsquell, Ich fordere dich heraus, wenn du noch etwas Mumm hast. Falls nicht, krieche zurück unter die Decke zu deiner Bumsböckel in die Methstube.“
Aha. So nahm die Sache wenigstens langsam Gestalt an. Rimhilde hatte ihn gewarnt, das seine Ehe mit Valyria zwar politisch sinnvoll gewesen sein mochte, aber nicht unumstritten in den Reihen der Altkultisten war.
Gerbold überblickte die Anwesenden der Levthansfeier, die einen so unvorhergesehenen Verlauf genommen hatte. Klar schien es, dass diejenigen unter den Altkultisten, die auf der Seite des Schratenholzers standen, lautstärker und auffallender waren. Aber diese waren, davon war auszugehen, auch auf die Herausforderung vorbereitet gewesen. Die weit größte Anzahl der Versammelten war genauso überrascht wie er selbst, und verhielt sich abwartend. Aber eine schweigende Mehrheit, die er hinter sich versammeln konnte, wenn er geschickt vorging.
Gerbold lächelte. „Nun gut, Sokramorian. Dann erst einmal willkommen zurück in unseren Reihen, wenn du es denn wirklich bist. Aber lass dir gesagt sein, Schratenholzer. Mit Pöbeleien allein magst du vielleicht einige Lacher gewinnen, aber ob das dann unserer Sache dient, daran zweifle ich. Es mag an deinem jungen Alter liegen, und ich will nachsichtig sein. Aber eines sollte uns die Erfahrung seit der Tyrannei der Priesterkaiser gelehrt haben. Auf lange Sicht triumphiert nicht der, der schneller seine Feinde töten kann. Es wird derjenige bestehen, der weniger Verluste verbuchen muss, und der seine Verluste schneller ausgleichen kann. Das Wachstum ist stärker als Vergehen, und nur weil wir das immer beherzigt haben, konnten wir bestehen. Das hat uns in den Jahrhunderten seit unserer fast vollständigen Auslöschung unter der Tyrannei der Priesterkaiser bis in die Gegenwart stark gemacht. Das hat uns viele Stürme überstehen und sogar wachsen lassen. Also lass deine sinnlosen Schmähungen. Was hast du für uns getan, Sokramorian? Mehr als provozierende Reden geschwungen? Kannst du mehr, als diejenigen, die sich in den letzten Jahren Verantwortung getragen haben, zu beleidigen? Da magst du leicht reden, dir von deinen Claqueuren zujubeln lassen. Aber kannst du auch mehr?“
Statt einer Antwort stürmte Sokramorian auf Gerbold zu. Immerhin, er schien keine passende Antwort parat zu haben, dachte der Sokramshainer, während er dem Ansturm des sicher zwei Dekaden jüngeren Angreifers auswich, auszuweichen versuchte. Der Faustschlag Sokramorians rammte sich in die Magengrube des ergrauten Zwölfengrunders. Gerbold japste nach Luft. Er hatte die Reaktionsschnelligkeit und die Geschwindigkeit des Angreifers unterschätzt.
Ein herauf zuckendes Knie. Ein stechender Schmerz in der Leibesmitte. Der Tritt Sokramorians saß. Gerbold jaulte auf vor Schmerz, ging zu Boden, krümmte sich und rollte sich zur Seite. Der Schratenholzer setzte nach. Gerbolds Hand ertastete einen Ast, der am Boden lag. Griff nach ihm und warf ihn nach Sokramorian.
Rimhilde fühlte den Schmerz nach, den Gerbold bei diesem Tritt in seine empfindlichste Stelle erleiden musste. Aber nicht nur deswegen konnte sie es nicht zulassen, dass ihr insgeheim vor den Alten Angetrauter hier so sang- und klanglos unterging. Rasch flüsterte sie die Formel, die ihr wie von selbst über die Lippen kam.
Der Ast, den Gerbold geworfen hatte, entwickelte ein Eigenleben, schwirrte einem fliegenden Knüppel gleich um Sokramorian herum und deckte diesen mit Hieben ein. Hiebe, die Sokramorian mehrfach mit Wucht an beiden Armen trafen, ehe es diesem gelang, endlich den fliegenden Knüppel zu erhaschen, festzuhalten und über dem Knie in zwei Hälften zu brechen.
Gerbold hatte sich indes wieder aufgerappelt. Die Schmerzen unterdrückend stürmte er auf Sokramorian zu, hieb ihm seine Faust unter das Kinn, während der jüngere Kontrahent, verlangsamt aufgrund der zahlreichen Knüppelhiebe auf seine Arme, nicht schnell genug reagieren konnte. Erst die rechte Führungshand, dann die linke Schlaghand. Sokramorian stürzte wie ein Mehlsack zu Boden. Sokramorian rührte sich nicht. Die eisenharte Linke, seit jeher Gerbolds starke Hand, hatte das Ihrige getan. Blut floss aus Nase und Mund seines Herausforderers, der regungslos auf dem gräsernen Boden im Aarmarischen Kreis liegen blieb.
Gerbold warf einen kurzen, dankbaren Blick zu Rimhilde. Er wusste genau, wem er seinen Sieg verdankte. Dann wandte er sich wieder Reginlind zu. Die rothaarige Hexe aus Schwaz hatte den Zweikampf mitverfolgt. War die Hexe froh, dass er gewonnen hatte? Oder hatte sie insgeheim seinem jungen Herausforderer die Daumen gedrückt? Woher sollte Gerbold das wissen? Er meinte, dem Gesichtsausdruck der Hexe zu entnehmen, dass sie nach der unerwarteten Störung und dem Zweikampf keine rechte Lust mehr auf das Ritual zu haben schien. Hatte sie insgeheim auf Sokramorian gehofft? War sie Teil des Aufbegehrens gegen seine Autorität unter den Alten? Begeistert über seinen Sieg schien sie jedenfalls nicht zu sein. Die Schwazer Hexe hatte kein Lächeln für ihn übrig. Dabei hatte sie doch gewusst, mit wem sie das Ritual begehen sollte.
Nun, dem mochte so sein. Schmerzhaft rief sich ihm das Knie Sokramorians in Erinnerung. Nach diesem wörtlichen Tiefschlag, den er erlitten hatte, würde aus der Levthansehe, so wie es alle erwartet hatten, jetzt ohnehin nichts werden. Gerbold warf einen Blick auf Reginlind, ging langsam auf den Felsenaltar zu. Jetzt, in seinem Zustand, auch nur zu versuchen, das Ritual zu vollziehen, würde eine mehr als peinliche Vorstellung werden. Es nicht zu tun, wäre aber kaum besser. Wie sollte er der Sprecher der in Schlotz auch vom Levthanskult geprägten Altkultisten sein, wenn er jetzt nicht seiner Rolle gerecht wurde? Wenn in einem Fruchtbarkeits- und Levthanskult ihm gerade jetzt die Fruchtbarkeit versagte? Da konnte er gleich aufgeben und Sokramorian den Sieg und die Führung über die Altkultisten schenken.
Einer Eingebung folgend setzte er ein levthangefälliges, lüsternes Grinsen auf und lächelte Reginlind an, ging gemessenen Schrittes und mit einem nicht lauten, aber hörbaren Lachen auf die im Rahjagewand wartende Schwazer Hexe zu, fasste sich prüfend an den Schurz – der zum Glück weit geschnitten war und sein peinliches Unvermögen vor den Blicken anderer verbarg. Wieder wurde sein Grinsen breiter. Einen Augenblick zweifelte er, dass sein Plan aufgehen könnte, setzte er doch darauf, dass die Hexe auf Sokramorians Seite stand und fest mit seinem Sieg gerechnet hatte. Und darauf, dass sie ihm nicht freiwillig hingeben und zu einem weiteren Jahreskreis an der Spitze der Altkultisten verhelfen wollte. Dass sie ihn nicht wollte.
Mit einem lüsternen Gesichtsausdruck fasste er der Hexe an den schlanken Fuß, fuhr spielerisch an der Innenseite des Schenkels in Richtung von deren Körpermitte.
Gerbold hatte darauf gesetzt, dass sich Reginlind ihm entziehen würde. Dann würde nicht er das Scheitern des Rituals zu verantworten haben, sondern seine Gegner. Für ihn im Augenblick die beste Möglichkeit, gesichtswahrend das sich anbahnende Fiasko abzuwenden. Ein Blick in Reginlinds Gesicht verriet ihm, dass diese tatsächlich auf einen anderen Ausgang des Zweikampfes gehofft hatte, dass sie sich auf Sokramorian gefreut hatte und ihn, Gerbald – nicht wollte. Dennoch machte sie keine Anstalten, sich der rituellen Hochzeit zu entziehen, dennoch war sie verhaftet in die Zwänge, die sich aus ihrer Teilnahme an der Levthansfeier ergaben.
Gerbold setzte alles auf eine Karte. Ein kurzer, dankbarer Blick zu Rimhilde, wohl kalkuliert, denn er konnte davon ausgehen, dass die Schwazer Hexe wusste, welche Satuarientochter ihm im Zweikampf beigestanden hatte mit ihrer Magie. Gelang es ihm, das Mädchen mit einem Trick, einer glaubhaften Drohung, dazu zu veranlassen, das Levthansritual abzubrechen, damit er das nicht musste?
„Ich weiß, auf welcher Seite du stehst, Reginlind. Nun, ich verzeihe Dir, mein Mädchen. Du wirst mir dafür ein Kind austragen.“ Mit einem breiten Grinsen und leichter Grobheit legte er seine linke Hand, die immer noch verschmiert mit Sokramorians Blut war, auf Reginlinds Rahjasfrucht. Eine rote Spur von Sokramorians Blut führte, wo Gerbold seine Hand bewegt hatte, an der Innenseite von Reginlinds Schenkel entlang.
„Niemals!“ schrie die junge Hexe, schob sich mit den Händen auf dem Felsenaltar nach hinten, sprang auf und eilte den Hang des Sokramshügels herunter.


Burg Gernatsborn, am Morgen des 6. Praios
Praiodîn stöhnte leise und versuchte, einen Moment lang nicht an die pochenden Schmerzen in seinem Unterschenkel zu denken. Es war, als würde der Goblin mit im Bett der Gästekammer sitzen, um wieder und wieder den Säbel in sein sündiges Fleisch zu hacken. Kaum weniger als "Kors Rache" peinigte den Geweihten die Seelenqual.
"Ich...ich werde dem Geweihtenamt entsagen..." flüsterte er leise, mit Tränen in den Augen, die auch, aber nicht nur, seinen körperlichen Qualen geschuldet waren.
Mit verschwommenen Blick sah er hinüber zu Baron Alrik, der im Licht des frühen Morgens die Heilige Praiociosa begutachtete. "Sieh an. Garafanion hat unsere gute Kara von Baliho restaurieren lassen? Hübsch...hübsch...sieht aus wie neu, unsere Weidener Elfenfreundin." Der Friedwanger rückte seine Schaube zurecht und drehte sich zum Krankenbett um. "Was sagtet Ihr gerade, Euer Gnaden?"
"Ich habe versagt", ächzte der Lichtbringer. "Schon wieder und auf ganzer Linie versagt...Ich bin es nicht wert, auch nur einen Tag länger der Gemeinschaft des Lichts anzuhören."
"Nana, wer wird denn an so einem wunderbaren Praiosmorgen derart trübe Gedanken hegen".
Der Baron von Friedwang trat ans Fenster und gähnte gemütlich. Der Blick über die Landschaft an der Gernatsbeuge war herrlich, gerade jetzt, wo die Flussaue mit zartem Morgennebel überhaucht war. "Ah, da drüben steht sie ja, die berühmte Weide...also um die zu treffen braucht es schon die Balliste oben auf dem Bergfried. Wie um alles in der Welt konnten wir nur auf ein derartiges Narrenspiel hereinfallen?"
Der Geweihte zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. "Ich habe den Namenlosen auf diese Burg gebracht. Um ein Haar wäre Glyrana von Mersingen ermordet worden. Die Gemahlin des Wehrvogts...die Edle von Zaberg. Wegen mir. Es ist alles nur meine Schuld."
"Ihr sagt es – um ein Haar." Der Friedwanger lachte in sich hinein.  Das hätte er sich in Brabaker Zeiten nicht träumen lassen: Dass er mal einem Praiosdiener mit tröstenden Worten beistehen würde, in einer Glaubenskrise. Vermutlich litt der Praiot aber auch an den Nachwirkungen des unheiligen Rauschtränkleins. Da waren vermutlich Zutaten drin wie Rattenpilz oder Purpurmohn...mit diesem namenlosen Zeug hätte man den Boten des Lichts in Zweifel stürzen können.
"Euer Gnaden, ich bitte Euch. Eure Schilderung des Casus war mehr als eindeutig, ebenso die scharfsinnige Beobachtung Odilons, was die Fußspuren betrifft. Diese Renia Hagewisch" – ein verächtliches Schnauben – "hat die Rotpelze angeheuert. Um Euer Vertrauen zu erschleichen. Sie hat mit den Räubern von Anfang an unter einer Decke gesteckt. In dem Schnaps, den sie Euch aufgenötigt hat, befand sich Dunkler Trost. Ein machtvolles Rauschmittel, mit dem wir es in Friedwang bisweilen schon zu tun hatten. Leider...der süßliche Geruch spricht für sich, ebenso die Wirkung. Die Attentäterin dürfte in Wahrheit Yasinthe Dengstein sein, eine üble Handlangerin des Namenlosen. Jadvige hat mir von den neun Fingern erzählt, und Glyrana konnte sich auch wieder an sie erinnern. Vor allem an ihre Stimme...dieses ysilische Geblöke hört sich schon furchtbar an, wenn das Schaf kein purpurnes Fell trägt." Alrik grinste schelmisch, wischte sich ein Stäubchen vom Pelzbesatz seiner Schaube und setzte sich auf den Schemel, neben die Heilige Praiociosa.
"Ich muss schon sagen. Dieses hässliche Luder traut sich was...spaziert einfach so in diese Burg hinein. Nach allem, was damals in Efferding passiert ist". Der Mondschatten hatte eine kleine, aufklappbare Taschensonnenuhr entdeckt, gleich neben dem Sonnenszepter, der Statue und ein paar Praiosblumenkernen. Alrik öffnete die Augenklappe, musterte die Göttersymbole am Stundenring und linste am Stab vorbei, dessen Schattenwurf die Stunden anzeigte. Schattenweiser wurde er genannt, ein Name, der ihm gefiel. So weit er wusste, mussten diese neumodischen Dinger gen Firun ausgerichtet werden, um zu funktionieren. Womöglich hatte sich Yasinthe davon zu ihrer Scharade mit dem Nordstern inspirieren lassen.
Auch wenn die kleine Reise-Praiosuhr noch kein Vinsalter Ei war, dürfte sie ihrem Besitzer ein paar schöne Dukaten gekostet haben. Hochwürden Garafanion hantierte gerne damit herum, vor der Basilika und auf dem Marktplatz. Wenn der Custos sie Bruder Feenbein mit auf den Weg gab, schien er einiges Vertrauen in ihn zu haben.  
"Und ich spiele für diese Gesandtin des leibhaftigen Erzbösen, diese Kreatur der Finsternis auch noch den Türöffner." Praiodîn schloss die Augen und wartete mit bebenden Lidern, bis sich die erneute Schmerzattacke ein wenig gelegt hatte.
"Was wolltet Ihr eigentlich hier, auf Gut Gernatsborn? Jetzt Burg Gernatsborn...Ich meine, Ihr seid nicht gerade auf dem kürzesten oder einfachsten Weg  zurück nach Markt Friedwang."  
Praidoîn Xerber antwortete nicht sofort.
Alrik stellte die Sonnenuhr zurück und knabberte an einen Praiosblumenkern.
"Verstehe...es ist wegen Eurer Tochter. In Zaberg?”
"Ihr kennt die Wahrheit ja schon, Euer Hochgeboren. Soweit haben mich die Ränke des Bösen gebracht, dass alle Bescheid wissen. Die Wahrheit liegt offen zu Tage.  Nur ich, der vermeintliche Diener des Praios, traue mich nicht mehr, sie offen auszuprechen."
"Ihr wolltet mit Wohlgeboren Glyrana über diese leidige Geschichte sprechen?"
"Jetzt ist der Zeitpunkt wohl nicht so günstig". Praiodîn starrte seufzend zur Decke und wunderte sich über seinen Sarkasmus.
"Nach einem Mordanschlag ist der Zeitpunkt nie besonders günstig."
Alrik hob die Praiociosa hoch und ertappte sich dabei, die Holzfigur auf einen Hohlraum hin abzuklopfen. Nein, sie war nicht hohl, auch wenn die Statue kein schlechtes Versteck für irgendwelche Kassiber oder andere wertvollen Dinge gewesen wäre. Warum schickte Hochwürden den unglücklichen Bruder Feenbein so weit nach Norden? Holzschnitzer gab es in Friedwang genug. Nein, Garafanion hatte keine größeren Geheimnisse. Zumindest keine, die Alrik nicht kannte. Dieser Biedermann war selbst dem Albuinatentum abhold. Dem Mondschatten sollte es Recht sein. Albuin, der durchgedrehte ehemalige Illuminatus von Wehrheim hielt sich nicht nur für den Sohn des Praios, sondern auch noch für den Spross von Sancta Hildemara, einer eingefleischten Gegnerin der Phexkirche. Wer sich heutzutage auf diese "Falkin" berief, musste sich auf Vorwürfe gefasst machen, insgeheim mit den Wehrheimer Ketzern zu sympathisieren. Die besten Waffen sind immer noch die, die uns unsere Gegner bereitstellen, dachte der einstige Nachtfuchs vergnügt.
"Ich kann mal mit Glyrana reden", sagte der Baron gönnerhaft. "In einem ruhigen Augenblick, versteht sich."
"So wisst also auch Ihr über meine Schande bestens Bescheid" sagte der Geweihte dumpf. "Seid bedankt, aber es ist ohnehin sinnlos geworden...Ich bin nicht würdig, auch nur einziges Mal noch vor den reinweißen Altar des Himmelskönigs zu treten. Schon gar nicht im Ornat eines Lichtbringers, das ich für alle Zeiten besudelt habe. Geschweige denn Hand in Hand mit einem... in Unehren gezeugten Kind… Wie könnte ich einen einzigen Herzschlag lang im Lichte Seiner hellen Wahrheit und vollkommenen Gerechtigkeit bestehen?  Jetzt geht es nur noch um mein Seelenheil."
"Wie heißt es so schön. Wenn Du die Wahrheit mit den Augen des Praios sehen willst...dann musst du so hoch fliegen wie ein Greif?" Alrik knubberte einen weiteren Sonnenblumenkern und klappte die Augenklappe wieder herunter. "Wer von uns Sterblichen weiß schon, wie der Oberste Richter Alverans solch menschliche, allzu menschliche Dinge beurteilt. Was ist damals eigentlich passiert, zwischen Euch und dieser Tsageweihten Ysilda?"
"Ich kann mich an wenig erinnern. An fast nichts. Nur an diese verfluchte Grolmensalbe... da war eine riesige Eule...Ein Schweifstern und ein Unhold im Henkersgewand. Und natürlich an das dritte Bein, das mir damals gewachsen ist. Auf widernatürliche, groteske, praioslästerliche Weise..."
"Na, ich zähle aber nur zwei",  nuschelte der Mondschatten aufmunternd und spuckte die Schalenreste auf den Boden.
"Dieser Schlamm muss eine überaus berauschende und sinnesverwirrende Wirkung gehabt haben...anders kann ich mir meine... unheiligen Visionen nicht erklären. Wie dieser Dunkle Trost, von dem Ihr gerade berichtet habt, Euer Hochgeboren. Ach ja, und der Rahja gehuldigt haben wir dann wohl auch...Ysilda und ich..."
"Schön, dass Ihr Euch wenigstens daran noch erinnern könnt, Euer Gnaden."
"Dieser Akt der Wollust war gegen meinen Willen, der Heilige Alboran sei mein Zeuge. Als ich nicht mehr Herr meiner Sinne war. Außerdem war ich ans Bett gefesselt. Glaube ich."
"So etwas kommt öfters vor, als man denkt, Euer Gnaden. Ihr braucht Euch dessen nicht zu schämen. Was haben sie eigentlich im Tempel zu all dem gesagt? Zu Eurer berauschenden Liebesnacht?"
Alrik ging wieder ans Fenster. So langsam wurde es richtig hell, die Vögel zwitscherten. Leider war nicht zu sehen, ob die Pfahlgarde bereits aufsattelte. Gestern Nacht hatten die Burgwachen versucht, die Spur der Rättin aufzunehmen. Aber in dieser, nun ja, Selemischen Finsternis war das Unterfangen natürlich schnell zum Scheitern verurteilt gewesen. Hoffentlich würde sich Odilon rasch an die Fersen der Attentäterin heften.
"Sie hätten diese verrückte Tsapriesterin natürlich gerne befragt. Ysilda von Schlotz und ihre Feilscher-Freunde. Aber kurz darauf brach ja schon das nächste Unheil über uns herein, im Roten Rondra 1035. Dieses Dämonenbein bringt mir nichts weiter als Unglück...und wenn es nur zum Peraineerbarmen schmerzt, wie jetzt gerade wieder..."
"Triskele", sagte der Friedwanger, der wieder Platz genommen und in Richtung Sonnenuhr geblickt hatte.
"Wie meinen, Euer Hochgeboren?"
"Ein Dreibein. Ist ein uraltes Symbol. So alt, dass man schon nicht mehr genau weiß, für was eigentlich. Drei Beine, die im Kreis herum marschieren. Die Thorwalschen nennen es Triskal.  Bei den Barbaren aus den Nordlanden sieht es eher aus wie eine rotierende Welle. Soll angeblich vor dem Bösen und dem Unglück schützen. Und für alle möglichen Dreiheiten stehen. Oder besser gesagt laufen. Jugend, Alter, Tod. Vater, Mutter, Kind. Sumu, Satuaria, Sokramor. Körper, Geist, Seele. Etcetera, etcetera. Aber auch für den Weg des Lebens und den Sonnenlauf. So ganz  auszuschließen scheinen sich der Macht der Tsa und des Praios gegenseitig nicht. Eher zu...ergänzen..." Alrik griff nach einem weiteren Sonnenblumenkern, schob ihn dann aber von sich. “Ein drittes Bein muss jedenfalls nichts Schlechtes bedeuten.”
Hatte Ismena nicht etwas von einem Triskal erzählt, einem thorwalschen Zauberzeichen, das sie damals in Balträa gesehen haben wollte? Eine magische Schutzrune, ausgerechnet neben "der" Orakelstätte des Praios?
"Ihr wollt mir Trost spenden, dafür danke ich Euch" sagte Praiodîn nach längerer Pause. "Das Wappen des Hauses Berlinghân ist auch ein...eine Triskele. Dieser dreischwänzige Fisch..."
"Stimmt.  Jetzt wo Ihr es sagt. Ab und zu sind mal Abgesandte des Methumiser Herzogenhauses durch Friedwang geritten, auf den Weg nach Oppstein. Unser geliebtes Haus Rabenmund ist ja jetzt auch mit den Berlinghâns verbunden, seit dem Vertrag von Mantrash´Mor."
Der Baron ordnete die Kerne auf dem Tisch zu einem Kreis an. War das geheimnisvolle Zeichen am Ende eine Triskele gewesen...Lebensweg...Sonnenlauf...Was wollte Praios Ismena damit sagen?
Er musste die Gießenbornerin nachher unbedingt danach fragen.
Praiodîn badete schon wieder in Selbstmitleid. "Ich bin verflucht...von Anfang an verdammt. Seitdem ich damals in die Hände dieses Ketzers Lacertinus gefallen bin. Und ich ihn verraten habe."
"Nana..." Alrik griff wieder nach seinem Barrett und stand auf. Er wollte sich diese Litanei nicht den ganzen Vormittag anhören. "Was denn nun? In die Hände eines Frevlers geraten? Oder ihn verraten? Auch Bruder Lacio war ein Opfer namenloser Ränke. Nebenbei bemerkt, mein Vater...mein leiblicher Vater..."
"Ich weiß" seufzte Praiodîn. "Ich weiß, Euer Hochgeboren."
"Ihr wisst Bescheid, so so. Nun, wir alle haben unsere kleinen oder größeren Geheimnisse. Die manchmal schmerzlicher sein können als jede Wunde. Die Familiengeheimnisse sind die schlimmsten, lasst es Euch gesagt sein."
"Ich habe ihn auf den Scheiterhaufen gebracht... meinen Lehrmeister... und Euren Vater."
"Nun übertreibt es mal nicht gleich, mit Euren ständigen Selbstbezichtigungen. Die Praioten haben Lacertinus aus dem Kerker gelassen, als die Fliegende Festung kam. Als plötzlich Galottas Weltenbrand in der Luft lag, hatten sie es mit ihrem kleinen Feuerchen im Hof des Sonnenpalasts nicht mehr gar so eilig. Lacio war schließlich ein fähiger Heiler...nachdem Gareth in Trümmern lag, und es nichts mehr zu heilen gab, hat er es irgendwie aus der Stadt raus geschafft. In einem kleinen Gutshof in Garetien sind wir uns nochmal begegnet, er, ich und mein Bruder." Alrik schluckte. Warum erzählte er diesem Praiosgeweihten das alles? Ausgerechnet einem Wahrheitsfanatiker, der nicht mal lügen oder schmutzige Geheimnisse für sich bewahren durfte.
Praiodîn schaute ihn mit großen Augen an. "So habe ich meinen Meister gar nicht umgebracht? Lacertinus...hat den Kerker der Inquisition überlebt?"
Der Geweihte verkniff das Gesicht.  "Aber...warum hat mir Selbfried nie davon erzählt...der Inquisitionsrat?"
"Wie war das? Ich verschweige nicht, dass ich etwas verschweige. Aber fragt mich nicht danach, auf das mich nicht die Lüge versuche...Zitat Großinquisitor Amando Laconda da Vanya."
"Was ist aus ihm geworden? Aus Lacertinus?"
"Er fiel einer vergifteten Klinge zum Opfer", sagte Alrik mit rauher Kehle und hustete. "Eine längere Geschichte...übrigens war sein wahrer Name Oswin Herofalk von Eppelein zu beider Prähnskaten. Ein direkter Nachfahre des Heiligen Alboran von Baliho...Vermutlich hat ihn der Unhold Merwan deswegen heimgesucht. Ihn und seine Nachfahren."
Der Donator Lumini bekam einen glasigen Blick.
"Die Sache mit dem Ohr, deswegen seid Ihr doch drauf gekommen, oder?" Der Baron tippte an seine Locken.
"Lacertinus... war ein Nachfahre des Heiligen Alboran" murmelte Praiodîn. "Das Ohr, natürlich. Das fehlende Stück ist ein Stigma...ein Zeichen göttlicher Auserwähltheit. Jetzt sehe ich alles klar."
"Na, nun übertreibt es mal nicht gleich wieder. Aber denkt ruhig mal drüber nach, wo in Eurem Leben Ihr dem Heiligen näher ward. In der leuchtenden, reinweißen St. Alborans-Siegesbasilika oder im ach so sündigen Tempel von Zaberg? Vielleicht wärt Ihr beim Bund des Wahren Glaubens besser aufgehoben, von wegen Vertrag von Mantrash´Mor. Nach der Entsagung vom schweren Amt als Lichtbringer, meine ich?  Womöglich ist es einfach der Wille von Tsa und Praios, dass Ihr mit Eurem geheilten Bein beiden Pfaden folgt: Dem Weg des Lebens...und dem Sonnenlauf. Was sich ja nicht ausschließen muss. Einstweilen wünsche ich Euch gute Genesung."
Der Baron von Friedwang nickte knapp, als die beiden Pfahlgardisten stramm standen, gähnte kurz und ging durch das Burgtor.
Es war gar nicht so leicht, zum Burgsöller zu gelangen, der Hügel war dort ziemlich felsig und das Vortasten entlang der Mauer fast schon eine Kletterpartie. Alrik fragte sich, wie jemand eine gar nicht so kleine Leiter auf diesem Ziegenpfad dorthin gebracht haben konnte.
An Yasinthes Fluchtort standen Odilon und Jadvige, letztere mit einem großen Pflaster auf der Wange.
"Morgen...was macht Eure Wunde?"
Die Dienstritterin schaute den Friedwanger kurz und ein wenig zerknirscht an. "Es ist nur ein Kratzer, Euer Hochgeboren. Das Loch in der Stuhllehne ist größer."
Alrik kramte die unvermeidliche Pfeife hervor. Um ein Haar wäre er unter der Leiter hindurchgegangen, aber das brachte bekanntlich (noch mehr) Unglück.
"Was sagt unser Fährtensucher? Wo finden wir die Attentäterin?"
Odilon, der einige Steinchen am Gernatufer umdrehte, hatte mitgehört. "Ist noch zu früh um das zu sagen...das Wichtigste ist, dass die Wachen nicht überall herumtrampeln und Spuren zerstören. Wie sie es gestern leider schon zur Genüge getan haben." Der Schwarze Bär fluchte leise, als er mit dem Stiefel kurz ins trübe Wasser abrutschte. "Das gilt übrigens auch für dich, Alrik...bleib da oben."
Der Friedwanger, der gerade zum Fluss hinunter wollte, hielt inne. Dann musterte er die Leiter, die ziemlich massiv wirkte und oben in der Mauer eingehakt war. "Sieh an. Das ist ja eine echte Sturmleiter."
"Anders kommt man da gar nicht rauf", sagte die Rittfrau. "Ich dachte erst, irgendwelche Maurer hätten sie vergessen. Aber die muss erst gestern Abend angelehnt worden sein. Sonst hätte ich das gemerkt, glaubt es mir."
"Hm-hm, aha..." Der Mondschatten entzündete seine Pfeife. "Was haben wir noch, von wegen Spurensicherung?"
"40-Halbfinger-Armbrustbolzen mit Lanzettspitze. Keine Marke, nichts Besonderes. Ein Harnischbrecher, wie man ihn überall zwischen hier und Brabak findet." Odilon nahm ein einzelnes Steinchen näher in Augenschein, roch erst daran und wischte dann drüber.
"Brabak?"
"Von mir aus auch Riva, wenn dir das lieber ist. Hier ist Blut...eine ganze Spur bis zur Leiter. Auf den Sprossen auch. Unser Kunstschützin ist wirklich verletzt. Genau hier hat sie sich ins Wasser gestürzt."
"Was hätte sie sonst tun sollen...?”
"Den gleichen Weg nehmen wie wir, zum Beispiel. Nur in die andere Richtung." Der alte Waldläufer spähte hinüber zum anderen Flussufer. "So ein wattierter Waffenrock saugt sich ziemlich schnell voll, mit Wasser. Vor allem wenn er zerschlissen ist, wie ihrer. Ebenso die schweren Stiefel. Ah, was haben wir denn da?" Odilon griff ins Wasser und zog ein triefendes, leicht angebeultes Stück Metall heraus. "Den Helm hat sie als erstes zurückgelassen."
Der Gallyser warf seinen Fund auf die Ufersteine. "Eine allzu gute Schwimmerin scheint sie nicht zu sein. Ich kenne Albernier, die würden sich hier im Kettenhemd über Wasser halten. Zumindest ist sie verwundet.”
Alrik klopfte auf die Leiter. "Sie scheint Verbündete gehabt zu haben. Nicht nur die Goblins, meine ich. Die Sturmleiter steht doch nicht zufällig da." Der Friedwanger rieb seine Finger gegeneinander. "Das Holz ist nass und aufgequollen. Das Ding hat womöglich längere Zeit im Wasser gelegen."
"Ah, die Schleifspuren haben mich schon ein wenig irritiert. Wenn, dann war das gleich da drüben." Odilon wies in die Richtung. "Der Boden ist leider nicht sehr gut zum Spurenlesen. Und die Wachen haben einiges zerstört. Ich dachte schon, sie hätten diese Mammutfährte dort hinterlassen."
"Da oben hängt ein Strick. Da an der Sprosse. Wahrscheinlich war die Leiter festgebunden, so dass sie sie nur noch rausziehen mussten. Dieses Attentat war von langer Hand vorbereitet, soviel steht fest. Kann ich mir den Helm mal ansehen?"
"Ach, komm her. Die Garde hat eh schon ganze Arbeit geleistet."
Alrik hangelte sich vorsichtig ans Flussufer hinunter. Die Beckenhaube war allerdings vollkommen unspektakulär. "Andererseits...so richtig durchdacht und geplant wirkt Yasinthes Flucht nicht. Wenigstens ein Boot hätte doch bei dem Ganzen drin sein müssen. Und warum sie als Schützin? Wer sich die Mühe mit der Leiter macht, der hätte unsere kleine Runde jederzeit von außen angreifen können."
"Es sei denn, er möchte dauerhaft unerkannt bleiben. Diese Yasinthe ist doch schon längst verbrannt...also ich meine nicht auf dem Scheiterhaufen. Als Spionin aufgeflogen. Die kann man zur Not opfern. Ich glaube langsam auch, dass sie Helfer  in der Burg hatte." Odilon begutachtete einen angetriebenen Ast, zuckte dann aber mit den Schultern.
"Oder vielleicht auch im Dorf oder in der Kupfermine". Das kam von Jadvige. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leiter noch nicht dagestanden hat, als das Burgtor geschlossen worden ist. Solche Hakenleitern gibt es auch in einem Bergwerk." Jadviges Gesichtsnerv zuckte kurz. “Die Wachen auf der Mauer hätten eigentlich was mitbekommen müssen.”
“Es hat zwischendurch mal geregnet”, sagte Alrik. “Meine Steinbockgardisten rennen bei jedem Nieselregen unters nächste Dach. Dann das Gesinge von dem Barden...da hört man auch nicht mehr allzuviel”.
So langsam kam die Sonne heraus und brachte den Gernat zum Funkeln. Ein paar Enten paddelten vorbei. Der Friedwanger blickte wieder auf den Helm. "Vielleicht hat sichs unsere Yassi ja auch anders überlegt...und ist wieder auf dieser Seite des Gernat an Land gegangen. Ich meine, beim letzten Mal ist sie in der Orckensauffe davon geschwommen. Sie weiß, dass wir das wissen. Diese Ratte ist schlau. Gut möglich, dass sie eine falsche Fährte gelegt hat...und jetzt will, dass wir sie auf der anderen Seite suchen. "
"Vielleicht, vielleicht auch nicht." Odilon stieg aus dem brackigen Wasser. "Schade eigentlich, dass aus unserem kleinen Duell heute nichts geworden ist."
"Is nicht dein Ernst. Selbst die Armbrust hat sich geweigert, von dieser Rattenpriesterin abgeschossen zu werden. Den guten Göttern sei Dank! Hauptsache, du triffst genau ins Schwarze, sobald du das Miststück das nächste Mal siehst."
Angewidert warf Alrik den Helm wieder zu Boden. Das Metall war ziemlich schlammverschmiert, wie er nun merkte. Der Spitzbart kniete sich nieder, um seine Hände im Gernatwasser zu säubern. Schon der Gedanke, dass eine Dienerin des Dreizehnten diesen Kopfschutz getragen hatte, war ihm mehr als zuwider. Ein silbriges Blinken ließ Alrik für einen Moment zwinkern.
Was war denn das? Unter dem Wellengekräusel schien ein Silbertaler oder etwas Ähnliches zu glitzern. Hatte Yasinthe sich am Ende auch noch von ihrer Geldkatze getrennt?
Der Phexjünger tastete danach, und fischte das Stückchen Metall heraus. Im nächsten Moment hielt er einen silbernen Ring in Händen, geschmückt mit einem schwarzen Edelstein und einer Blütenfee. Ein leichtes Kribbeln schien von dem Silber auszugehen, fast schon eine Art sanftes Flüstern oder Wispern.
Leise pfiff der Streunerbaron durch die Zähne. Verstohlen blickte er über die Schulter. Odilon hatte nichts gemerkt, sondern ließ sich von Jadvige hinauf zur Mauer helfen.
Sieh an, sieh an, dachte Alrik. Der Mordanschlag auf Glyrana scheint nicht Yasinthes einziger Auftrag gewesen zu sein. Viel erreicht hatte sie gestern Nacht offenbar nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass diese Ratte bald schon wieder aus ihrem Loch huschen würde. Der Mondschatten schloss die Hand zur Faust und ließ den Ring in der Tasche seiner Schaube verschwinden.
Der Diener des unfassbaren Schleichers stapfte wieder den steilen Hang hinauf und merkte, dass er seine Schaube eingenässt hatte, am oder besser gesagt im Gernat. Egal, sie war eh schon ziemlich abgewetzt und sogar dezent geflickt. Das letzte Phexwunder in der Baroniekasse war eben schon etwas länger her.
Alrik wunderte sich über sich selbst: Warum hielt er die Sache mit Bastans Feenring vor den Anderen geheim? Erst jetzt sah er das Lederbeutelchen in Jadviges Händen.
Der Baron schaute fragend durch ein paar Rauchwölkchen hindurch.
"Das lag hier auch noch rum", sagte die Dienstritterin, ein wenig einsilbig. Odilon musterte Alrik, mit gerunzelter Stirn. Hatte er etwas vom Ring mitbekommen?
"Deine Morgentoilette ist ein wenig schiefgegangen" brummte er und wies auf die tropfend nasse Gewandung des Friedwangers.
"Der Helm war ziemlich dreckig" sagte Alrik ausweichend. "Was war in dem Lederbeutelchen? Die Reisekasse unserer Renia, alias Yasinthe, alias Dienerin des Namenlosen?"
"Tote Flöhe", sagte Jadvige, leicht angeekelt.
"Tote Flöhe...aha..."
Alrik, dem seine Intuition oft vorauseilte, verstand so langsam ein eigenes Misstrauen. Ziemlich sicher gab es eine weitere Ratte in Gernatsborn, die Yasinthe geholfen hatte. Wahrscheinlich sogar mehrere Ratten. Woher hatte er eigentlich die Garantie, dass nicht die Dienstritterin die "Wühlmaus" war? Immerhin hatte Jadvige die Armbrustschützin überhaupt erst auf die Terrasse geschleppt. Soweit er wusste, hatte sie eine Zeitlang in den Schwarzen Landen zugebracht, als Schindsklavin in einem Bergwerk irgendwo in Transysilien. In Galottas Reich wurde der erzdämonische Herr der Rache verehrt, und der war nun einmal erbitterter Feind des Nicht-zu-Nennenden… wer weiß, zu welchem Unglauben man in den Minen von Yol-Ghurmak bekehrt wurde, wenn man mit den guten Göttern Alverans abgeschlossen hatte? Oder wohin genau es die unglückliche Kressenbrück verschlagen hatte. Ebenso offen war die Frage, wie sie der Gefangenschaft entkommen war.  
"Warum trägt man eigentlich tote Flöhe in einem Lederbeutelchen spazieren?" Der Mondschatten versuchte möglichst scharfsinnig zu klingen.
Jadvige musterte ihn eindringlich. "Wir hätten dieses unsinnige Nachtschießen niemals zulassen dürfen" sagte sie, mit merkwürdiger Betonung auf dem "Wir".
Oha. Auch das klang nach Misstrauen. Immerhin hatte er, Alrik, sich das kleine Kunststückchen ausdrücklich gewünscht, nachdem Odilon und Storko eigentlich schon anders entschieden hatten.
"Wer weiß, wie der Schießwettbewerb heute ausgegangen wäre" sagte er ausweichend. "Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende..." Dann deutete er mit dem Pfeifenstiel auf den schmalen Pfad, der entlang der Burgmauer zu erahnen war. "Kann es eigentlich sein, dass es hier irgendwo eine geheime Ausfallpforte gibt, oder etwas in der Art?"

Hell, golden und freundlich fiel das Sonnenlicht in die Gästekammer des Praiosgeweihten. Es war, als wollte der Herr des Himmels seinem zweifelnden, völlig verzweifelten Diener ein Lichtstrahl der Hoffnung senden. Praiodîn blickte hinüber zur Heiligen Kara von Baliho, besser bekannt als Praiociosa, der ersten Hochgeweihten des Tempels von Nordenheim (oder Nerdanheim, wie man damals in den Dunklen Zeiten gesagt hätte). Das Sonnenszepter begann wunderbar zu glänzen und zu schimmern.
Ein wenig Ruhe kehrte in Praiodîns aufgewühlte Seele zurück. Lacertinus hatte eigentlich Oswin Herofalk geheißen? Ein Nachkomme von Sankt Alboran daselbst sollte er gewesen, heiliges Blut durch seine Adern geflossen sein? Sein Lehrmeister war gar nicht auf dem Scheiterhaufen der Heiligen Inquisition, sondern irgendwo in Garetien umgekommen, im Jahr des Feuers? Mehr noch als das alveranische Licht trug diese Erkenntnis zum Seelenfrieden des Geweihten bei. Es war, als schmölze die Wirkung des Dunklen Trosts in der Wärme des neuen Praiostages dahin wie schmutziger Schnee.
Praiodîn merkte, dass er tatsächlich ein drittes Bein hatte: in Form einer Krücke, die ihm eine der Dienstmägde ans Bett gestellt hatte. Die Schmerzen ließen etwas nach, stattdessen meldete sich der Hunger. Seine Blase drückte, auf ungemein weltliche Art und Weise. Ächzend kämpfte er sich aus dem Bett und verzog sofort wieder das Gesicht, als er leichtsinnigerweise seinen rechten Unterschenkel belastete. Aber diesmal blieb die Pein erträglich. Ihm war schwindlig, und auch ein wenig übel. Leise zischend schlug er das rote Skapulier beiseite, ebenso die aufgeschlitzte, eigentlich reinweiße, jetzt mit großen rostfarbenen Flecken verunzierte Robe.
Immerhin, die Wunde unter dem neuen Verband hatte in der Nacht nur wenig geblutet.
Praiodîns Blick ging zur Gehhilfe, die schon länger im Gebrauch zu sein schien. Vielleicht hatte das "Storchenbein" vorher irgendeinem Kriegsinvaliden aus dem Dorf gehört. Die Burgbewohner meinten es sicher gut mit ihm. Aber er würde damit nicht durch die Gänge klappern wie ein Rommilyser Bettler oder ein verstümmelter Pirat der Charyptik.
Praiodîn Xerber atmete tief durch. Er mochte die Worte des Kleinen Heilsegens nicht besonders, obwohl der als Perainegeschenk Teil der Zwölfgöttlichen Segnungen war. In seinen Ohren klang er fast wie ein Gebet der verblendeten Sokramorer, auch wenn der Gedanke selbst schon ein wenig lästerlich war. Schenkt diesem Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist...Klang das nicht nach heimlicher Verehrung der Erdriesin, wie bei den Drudnern und Hexenweibern? Dieser Leib ist geschlagen mit Bitterkeit und Schmerzen und bedarf der Heilung in Eurem Namen. Das passte nur allzu gut auf seine trübe Situation.
Wie konnte er es wagen, einen Segensspruch der Peraine anzuzweifeln, von Praios göttlicher Schwester? Hatte Alrik Recht, der "Herr Lügenbaron", wie ihn der Luminifer verächtlich nannte? Hatte er in seinem Drang, Praios allein gehorsam zu sein, die Gebote der anderen Götter Alverans sträflich vernachlässigt? War er, der ehemalige Tsanovize, am Ende nicht etwa glaubensschwach, sondern ganz im Gegenteil ein blinder Eiferer geworden, erfüllt vom Groll des Abtrünnigen und von falschem Ehrgeiz?
Praiodîn besann sich für einen Moment, legte die Hände auf die Wunde und sprach dann, erst stockend, dann um so entschlossener, die Heiligen Worte: "O mein Herr Praios und Ihr, Herrin Peraine, und Ihr anderen Herrscher Alverans, schenkt diesem Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist..."
Es war, als könne er mit den Fingern spüren, wie sich die vom Verband zusammengepresste Wunde noch ein wenig mehr zusammen fügte. Wärme durchflutete Praiodîns Körper, die teilweise vom Fenster hereinzuströmen schien, aber ihm nicht allein von Praios glänzendem Schild gesandt wurde. Demütig senkte der Rübenscholler Bauernsohn sein Haupt. Längst vergessene Bilder und Gerüche stiegen in ihm auf: Der erdige Duft eines frisch umgepflügten Ackers. Das Schnauben der Zugochsen, das Scharren der Pflugschleife über dem Feldweg. Die ersten zaghaft sprießenden grünen Halme, das im goldene Licht wogende Kornfeld...der klappernde Storch in seinem Nest, oben auf dem Schulzenhaus.
Die  Schmerzen wurden zu einem bloßen Unwohlsein. Praiodîn erhob sich. Gemessenen Schrittes humpelte er zum Tisch, legte die Schärpe an und steckte das Sonnenszepter hinein. Warum hatte er den Segen nicht gestern schon gesprochen, als er Peraine näher gewesen war als heute? Seine Verwirrung musste wirklich an diesem namenlosen Gift in Yasinthes Feldflasche gelegen haben. Der Geruch nach Ziegenfell und einem allzu süß duftenden Gebräu mischte sich jetzt in die Erinnerungsfetzen an seine schöne Kindheit im Gießental.
Nur kurz blickte er auf die Praiosuhr, die ihm Garafanion zur Orientierung bezüglich des pünktlichen Mittagsgebets mitgegeben hatte. Nun, das sollte heute seine geringste Sorge sein.
Fast schon wollte sich eine feierliche Stimmung in ihm ausbreiten, als sich wieder ein höchst derisches Gefühl in Erinnerung rief. Seine Blase drückte mittlerweile zum Göttererbarmen.
Praiodîn schritt so würdevoll nach draußen, wie es ihm dieses Ungemach und seine Blessur gestattete.
Zum Glück kannte er den verwinkelten Weg zum Heimlich Gemach und konnte bald schon dessen kleine Tür hinter sich verriegeln.
Ach, er hatte ja das Sonnenszepter im Gürtel stecken. Wohin mit dem heiligen Artefakt an einem derart unwürdigen Ort? Auf den Boden stellen? Nein. Neben das Latrinenloch legen? Undenkbar. Unter das Dachgebälk des Erkers klemmen? Schon eher.
Praiodîn tastete über die Holzbalken – und stutzte, als er dort etwas Merkwürdiges spürte. Der Geweihte zog daran und hielt plötzlich ein Seil in Händen. Sehr viel Seil. Tatsächlich, jemand hatte es unter dem Dach festgeknotet, und das Bündel danach eher notdürftig versteckt.
Durch ein kleines Butzenfensterchen drang nur schummriges Licht in die Abortstube. Dennoch fielen dem Lichtbringer sofort die rötlichen Spuren am Seil auf: die sehr den Blutflecken auf seiner Robe ähnelten. Da war eine blutige Hand im Spiel gewesen. Ein Kletterseil, eindeutig.
Das Fenster war zu klein, um hindurch zu kriechen, es sei denn, man war ein Gaukler und "Schlangenmensch" (welch abscheuliche Vorstellung). Auch das Abtrittsloch lud nicht gerade zum Durchschlüpfen ein, selbst wenn der Sitz erfreulich neu und sauber wirkte. Praiodîn verstaute seine Ritualwaffe und tastete den "Difarsthron" ab. Rasch merkte er, dass das hölzerne Sitzbrett nur festgenagelt zu sein schien. Angewidert hob der Praiot den losen, aber schweren Deckel an und blickte hinunter in den Abgrund. Der Geruch, der von dort heraufwehte, ließ ihm den Atem stocken. Zum Glück war der Bereich unter dem Latrinerker ziemlich verschattet. Eine grobe, eklig glänzende Rinne schien Richtung Fluss zu führen.
An der Seitenwand des Latrinensitzes war ebenfalls ein wenig Blut zu erahnen, auch wenn dieser Abdruck weitgehend verwischt worden war. Dort im Eimer gab es jede Menge Stroh und Moosballen, als "Arschwische", wie das derbe Rübenscholler Bauernvolk gesagt hätte. Auch davon waren einige blutig. Sieh an: Arschwische für die verletzte Hand der Hagewisch? Die Kupferkanne auf dem Regal diente wohl zum Nachspülen, war aber kaum noch mit Wasser gefüllt. Daneben kämpfte eine kleine Blumenvase mit ihrem Duft tapfer gegen die üblen Gerüche an.
Praiodîn schauderte. Nun konnte es keinen Zweifel mehr geben. Yasinthe war zurückgekehrt, durch dieses Rattenloch. Es half alles nichts, auch er musste jetzt mal für kleine Goblins. Der Geweihte erleichterte sich plätschernd, schloss den Deckel, goss das restliche Wasser über seine Hände und trocknete sie sich mit Stroh ab. Dann verstaut er das Seil wieder im Versteck, nahm das Sonnenszepter an sich und entriegelte die Tür.
Der Geweihte zuckte zusammen, als er draußen beinahe mit einem der Diener zusammenprallte: ein unscheinbarer Mann mittleren Alters, der die auf der Burg so beliebte Pagenfrisur trug, ebenso wie ein Livree in den Gernatsborner Farben.
"Verzeiht, Euer Gnaden!" sagte der Mann erschrocken.
"Schon gut. Das Wasser in der Kanne, es gehört wieder einmal aufgefüllt. Und der Eimer mit den Ar....Ahornblättern." Der Priester bekam im letzten Moment die Kurve, auch wenn im Eimer gar keine nostrianische Ahornblätter lagen (ganz so reich schien Storko dann doch nicht zu sein).
Praiodîn kam sein Gegenüber sogar vage bekannt vor. Das war doch einer der Diener, die gestern Abend den Baldachin auf dem Söller befestigt hatten, wie hieß er noch gleich? Hilberian? Aarwulf? Ach, wer sollte und wollte sich das merken.
"Sehr wohl, Euer Gnaden. Deswegen bin ich hier." Hilberian (Aarwulf?) hielt tatsächlich einen großen Sack in Händen, in dem Stroh raschelte. Zarter Moosgeruch trat an Praiodîns Nase.
"Ah, sehr gut." Praiodîn runzelte die Stirn. In dem Sack konnte man leicht ein Seil verstecken, dachte er. Sollte er Aarwulf (Hilberian?) deswegen zur Rede stellen? Der Mann wirkte freundlich und eher unbedarft - ein Mensch, der von Geburt an zur Unterordnung bestimmt war.
"Wir verwenden dafür keine Blätter, Euer Gnaden!" sagte der Diener, respektvoll, aber merkwürdig bestimmt. Seine Augen funkelten, als wäre er sogar ein klein wenig empört. "Nicht aus dem Wutzenwald."
Praiodîn nickte. Vermutlich war es übertrieben, wenn er anfing, vor einer Latrine den Inquisitionsrat zu spielen. Das Beste wäre, er würde so schnell wie möglich den Burgherren über seine Entdeckung informieren. Eine Entdeckung, die mehr als beunruhigend war.

Praiodin fand den Wehrvogt im Burghof, als dieser gerade mit Odilon und Timoin sprach. Gut, dachte er. Da käme er wenigstens genau im richtigen Moment.
“Wir haben den Gernat drei Meilen lang flussabwärts abgesucht. Aber… es war nichts zu finden” berichtete Odilon. “Eigentlich wäre es anzunehmen gewesen, dass die Meuchlerin nicht lange schwimmend im Gernat verweilt. Sie war gerüstet, meiner Einschätzung nach zumindest keine begnadete Schwimmerin, und der Gernat ist an vielen Stellen zu tief, um im Fluss zu waten.”
“Jedenfalls gab es keine Spur, keinen Hinweis darauf, dass jemand die Uferböschung hinauf gekraxelt wäre” ergänzte Timoin.
“In dem matschigen und meist steilen Flussufer hätte man Spuren finden müssen. Dass sie länger als drei Meilen in ihrem vollgesogenen Waffenrock durch den Gernat geschwommen wäre, das glaube ich nicht.” berichtete Odilon weiter. “Das kann darauf hindeuten, dass die Flucht vorbereitet war, dass irgendwo ein Floß versteckt bereit lag und sie sich weiter treiben lassen konnte. Aber das ist nur eine Vermutung. Eine Möglichkeit eben.”
“Oder sie ist gar nicht geflohen, sondern ist immer noch hier” warf Praiodin ein, der zu den dreien herangetreten war.
Storko ebenso wie Odilon blickten ihn überrascht an.
“Wie meint Ihr das?” erkundigte sich Storko.
“Interessante Idee, und kein schlechter Trick. Mögliche Verfolger auf eine falsche Fährte einer vermeintlichen Flucht locken, sich dann aber selbst versteckt halten und alle Verfolger vorbei ziehen lassen. Ja, mit der gleichen Taktik hatte ich auch schon einige Male mich Feinden entzogen… aber… dennoch muss sie aus dem Gernat heraus gestiegen sein. Und wo soll sie sich verborgen gehalten haben?” Odilon war gleichzeitig skeptisch wie auch erstaunt. Dass ein Praiot unter die Fährtensucher gegangen ist, war zumindest mal etwas Neues.
“Können wir es als wahrscheinlich annehmen, dass die ganze Sache vorbereitet war? Dass diese Renia Hagewisch oder wie immer sie heißen mag vielleicht Unterstützer auf der Burg hat? Ich denke, wir müssen das ins Auge fassen.” Praiodin gefiel sich in der Rolle des Erklärers. “Habt ihr auch das Flussufer nahe der Burg untersucht? Gibt es da Spuren?”
“Das lässt sich nicht sagen.” antwortete Timoin. “Hier ist das Ufer zertrampelt, als wäre eine Herde Darpatbullen vorbei gekommen.”
“Ich habe im Latrinenerker ein Seil gefunden.” erläuterte Praiodin. Mit diesem Seil kann ein jeder die Burg heimlich verlassen - oder auch wieder hinein gelangen, wenn ein Mittäter einem das Seil herab lässt.”
Storko legte nachdenklich den Finger an die Wange. Vor seinem inneren Auge ging er sein Gesinde und seine Soldaten durch, fragte sich, wem er ein Doppelspiel zutrauen würde - oder wer auch schlicht bestochen worden sein konnte. Aber wirklich konkret herausgreifen konnte er niemanden.

"Über Geheimgänge kann ich nichts sagen", meinte Jadvige, ebenso mehrdeutig wie ausweichend, während sie die Treppe zur Terrasse hinaufklirrte. "Ebensowenig über Schlupfpforten in der Burg."
Alrik überlegte, ob er den Geheimen Kammerherrn der Markgräfin herauskehren sollte – aber er hätte nicht einmal sagen können, wie offiziell seine Ernennung bereits war. Das "Geheim" in dem Höflingstitel klang schon mal nicht sehr offiziell.
"Der Baumeister?"
"Der würde Euch in dieser Frage auch nicht weiterhelfen können."
Sie kamen auf dem "Schlachtfeld" an, dass Alrik irgendwie an ein wildes Seegefecht erinnerte. Wie ein herunter geschossenes Segel lag der Baldachin auf der Festtafel, die immer noch nicht abgeräumt war. Becher waren umgestürzt, Teller heruntergefallen. Zumindest hier hatten die Diener keine oder kaum Spuren beseitigt. Selbst der Armbrustbolzen steckte noch tief in der Stuhllehne und hatte sie einige Fingerbreit durchschlagen. Ein weiterer Stuhl war umgefallen. Der Baron schlug den schweren Leinenstoff beiseite. Unter dem bislang verborgenen Teil des Tisches herrschte ebenfalls das Chaos.
Der Friedwanger musste aufpassen, nicht in eine Metlache zu treten. Ein Kerzenstummel rollte davon. Das alles sah aus wie das Ergebnis einer Orgie Al´Anfaner Grandenkinder. Da drüben lag noch der Stein, den Timoin auf die Attentäterin geworfen hatte. Blutspritzer verunzierten den Boden, neben einen morschen Schneidezahn. Der große braune Klumpen war der halboffene Umhängebeutel, den Yasinthe Haldana um die Ohren geschlagen hatte. Die Überreste der Armbrust waren auch noch nicht bewegt worden. Nur den kleinen Wurfstern, denn hatte er bereits gestern wieder an sich genommen. Was roch denn da so widerwärtig?
Auch Jadvige verzog die Nase und ging zur Sturmleiter, die tatsächlich an der Brüstung eingehakt war. Eine Stützstange, die den Regenschutz gehalten hatte, war gleich daneben mitsamt Leine umgestürzt. Gurrend flatterte eine Taube auf.
Die Dienstritterin blickte über die Mauer: "Ah, die Spannleine ist unten an einem Rüstbalken befestigt, ebenso da drüben." Die Kressenbrück folgte der Brüstung. "Dafür haben sie die Leiter gebraucht."
Alrik sah nach unten. Tatsächlich, dort ragte noch ein Stückchen Holz aus der Mauer, um das die nun schlaff herab baumelnde Baldachinleine geschlungen war. Beiläufig sah er zu den Flößern hinüber, die mit ihrer Fracht gemächlich den Fluss hinunter glitten.
Jadvige ruckelte an der Leiter. "Das scheint wirklich eine Grubenleiter zu sein. Hier oben ist sie ziemlich trocken." Die Ritterin wandte sich Alrik zu, der gerade den Schusswinkel des Armbrustbolzens begutachtete. "Da fällt mir ein...Ein paar Fronbauern haben gestern nachgefragt, ob sie beim Fest behilflich sein könnten. Glyrana gibt ihnen immer mal ein paar Taler, selbst wenn wir ihre Hilfe gar nicht brauchen."
"Die Leiter ist oben trocken und unten nass?"
"Wir haben ziemliche Problem mit Grundwasser in der Grube", fuhr die Dienstritterin fort, und zeigte auf die Kupferhütte, wo gerade dunkler Rauch aufstieg. War das der Grund für den unangenehmen Geruch? Die Schwaden, die am Hügel aufstiegen, wurden vom Wind gnädigerweise in Richtung Wutzenwald getrieben.
Irgendwo hatte Alrik mal gehört, dass Schiefer über Feuer geröstet werden musste, um an das Kupfer zu gelangen. Ein leises Pochen und Klopfen war zu hören. Der Phexgeweihte war ein geborener Stadtmensch, aber der eingeräucherte, eigentlich sattgrüne Wald tat ihm in der Seele weh. War es die Sommertrockenheit oder der vermutlich giftige Dampf, der die Blätter auf der anderen Seite des Gernat gelblich verfärbt hatte? Sein Bild von der idyllischen Hochzeitsburg Gernatsborn bekam erste Risse.
"Der Gernat ist ja wirklich nicht weit weg. Die armen Kerle im Bergwerk haben einiges wegzupumpen" Jadviges Mitgefühl schien nicht einmal gespielt zu sein. "Was will man machen? Der Wohlstand der Familie stammt nun einmal aus dem Bergbau. Der Junkerfamilie, aber auch der Menschen hier."
"Ist ja bei uns in Gießenborn nicht anders", brummte Alrik. "Einschließlich des Grundwassers...Ohne Pumpenkunst geht da gar nichts."
Der Friedwanger versuchte abzuschätzen, in welchem Winkel Yasinthe gestern geschossen hatte. Besonders hoch gezielt hatte sie nicht, Glyrana war ja gesessen. Den Schuss hatte es dann auch noch ziemlich verrissen, durch den fast schon wundersamen Bruch des Stahlbogens. Der Bolzen war Jadvige von Kressenbrück über die Wange geschrammt. Das hieß, die Rittfrau war zu kurz gesprungen, und bereits am Fallen gewesen, als sie das Geschoss gestreift hatte. Zu kurz gesprungen, oder doch ein Stückchen zu weit?
Hatte Jadvige die aufopferungsvolle Leibwächterin nur gemimt, um jeden Verdacht von sich abzulenken? Andererseits, um bei diesem Gaukelspiel nicht ernsthaft verwundet zu werden, hätte sie schon einiges an Körperbeherrschung aufbringen müssen. Nein, irgendwie fügte sich das nicht recht zusammen.
Ob sich die Ratte Yasinthe vielleicht im Bergwerk verkrochen hatte? Aber dort wuselten gerade die Bergarbeiter herum – nicht gerade das lauschigste Versteck.
Der Gestank wurde langsam unerträglich: Es roch nach Fäulnis, Verwesung, Pest, Tod, Schwefel...und irgendwie vertraut. Sein Blick fiel auf die Umhängetasche, die – er zwinkerte – ebenfalls leicht rauchte und qualmte. Der Baron von Friedwang zückte seinen Dolch, öffnete damit die Tasche, und drehte angeekelt den Kopf weg. Grünlicher Dampf stieg hoch, über einem viereckigen Etwas und der verrotteten Masse von irgendetwas anderem, das sich einmal in der Tasche befunden hatte.
Ein kleiner grüner Schleimbatzen kroch daraus hervor und versuchte sich unter dem faulenden, modernden Stoff zu verstecken.
Angewidert flüchtete Alrik zum Tisch und presste sich eine Serviette vor Mund und Nase.
"Was ist das?" wollte Jadvige noch fragen, als sie auch schon totenbleich, hustend, keuchend und würgend an der Brüstung hing.
Der Mondschatten setzte seine Untersuchung fort, mit Mundschutz.
Das viereckige Ding schien ein geborstener Spiegel zu sein, mit hübsch verschnörkelten Rahmen, der aber bereits blind und schwarzgrau war: der Alptraum einer jeden Reinigungsmagd. Einzelne Scherben waren bereits herausgebrochen. Kleinere und größere Splitter von Glas schienen das einzige zu sein, was im Sack noch nicht verrottet war. Eine Phiole, oder ein Fläschchen?
In dem Moment, als er den Sack noch ein wenig mehr öffnete, knalle und zischte es. Eine kleine grüne Wolke stieg auf und verteilte sich in der Luft neben dem Bergfried.
Immerhin, der Gestank ließ jetzt doch etwas nach. Jadvige spuckte geräuschvoll aus und nahm erstmal einen tiefen Schluck Wasser aus einer Kanne auf dem Tisch.
"Gütige Herrin Peraine! Was war das denn für ein Basiliskenodem?"
Alrik trat an die Brüstung, rotzte in die Serviette und atmete tief durch. "Kein Basiliskenodem...aber etwas ähnliches. Tlalucs Brodem."
"Wie haltet es Ihr nur aus, so nahe an dem Zeug?"
"Ich habe sogar mal davon getrunken."
"Nicht Euer Ernst?!"
"Mit Bier gehts. Heiliger Assaf, nicht nur, das Yassi die gute Glyrana an den Stuhl nageln wollte. Sie schleppt uns auch noch einen Hauch von Kurgasberg nach Gernatsborn."
"Kurgawas?"
"Kurgasberg...eine längere Geschichte. Wenn ich mal Zeit habe, schreibe ich sie vielleicht auf."
Alrik hob die letzten Reste vom Umhängesack an. Die kleine, grüne Schleimlache, die sich darunter verborgen hatte, kroch amöbenartig und fast schon panisch auf den Schatten des Bergfrieds zu. Einen Moment später löste sich die "Amöbe" zischend im Praioslicht auf.
"Machs gut, kleiner Morfunello. Grüß mir die Niederhöllen."
"Ihr sprecht in Rätseln?!"
"Das Zeug ist dämonisch. Nein, kein Dämon, das nicht. Höchstens ein Minderdämon. Aber dennoch gefährlich. Ich würde den unheiligen Schleim nicht anfassen. Er ruft überaus hässliche Hautkrankheiten hervor. Ich frage mich gerade, wie Yasinthe an das kriechende Gift gekommen ist. Obwohl, die Zorgan-Pocken fallen in ihre Zuständigkeit."
"Die Zorganpocken?" Jadvige erbleichte noch ein wenig mehr, schlug das Schwertzeichen und wich zur Treppe zurück. "Herrin Rondra steh uns bei gegen das Böse!"
"Das Gift täuscht die Zorganpocken nur vor. Um Seelenqualen, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Man nennt Yasinthe auch die Alchimistin. Natürlich, Verfall und Fäulnis ziehen sie magisch an, wie verdorbener Sembelquaster die Ratte...Dunkler Trost und Tlalucs Brodem...das passt wahrlich zusammen, wie Pech und Schwefel."
"Wenn Ihr es sagt, Euer Hochgeboren." Jadvige nahm einen weiteren Schluck. Auch sie kannte diesen (oder einen ganz ähnlichen) Gestank zur Genüge. Es waren nicht nur kahle, ausgemergelte Sklaven gewesen, die sich damals durch die Stollen gewühlt hatten. Dort, wo kein Licht mehr in die Finsternis gedrungen war, hatte sich etwas Anderes durch den Stein gefressen und genagt. Ein hungriges Etwas, das manchmal zu ihnen gekrochen war...um sich ein schlafendes Opfer zu packen.
Auch wenn der schrille, grauenhafte Schrei nur ein ferner Nachhall ihrer Erinnerung war, riss er sie dennoch zurück ins Hier und Jetzt.
"Wenn Ihr es sagt", wiederholte sie leise und rang um Fassung. "Was wissen wir nun?"
"Man müsste nochmal sämtliche Wachen befragen. Aber die Diener mit der Leiter würde ich fast schon ausschließen. Das ist doch irgendwie zu auffällig und zu plump. Wären wir gestern nicht abgelenkt gewesen, hätten wir es auf jeden Fall mitbekommen. Hm...Was wissen wir eigentlich über diesen Barden?"

Yasinthe schlug verwirrt die Augen auf und schreckte hoch.
"Aufwachen, he, he...aufgewacht, Herr Praios lacht!" Das war Alriks Stimme. Sie klang spöttisch und vergnügt, als hätte der Herr Baron wieder mal einen Schelm verschluckt.
Die Geweihte prallte gegen das Bett, dessen Boden zum Glück nicht aus einem Holzkasten, sondern einem Netz gespannter Seilen bestand, auf denen eine weiche, strohgepolsterte Matratze lag. Instinktiv kauerte sie sich wieder zusammen. Nun sah sie mehrere Stiefel neben ihrem Gesicht. Ein Paar war ziemlich durchnässt und roch nach Gernatschlamm und Uferdreck...wie sie selbst. Auch der Mantelstoff, der daneben herab baumelte, war völlig durchnässt und tropfte.
"Der ist ja sternhagelvoll", sagte der Nebenmann des Friedwangers, der wie Storko klang. "Eine ganze Flasche Waldbeerenschnaps, ich fasse es nicht.... Die wollte ich gestern Abend noch als Schlummertrank reichen lassen. Auf den Schreck hin."
Es dauerte eine Weile, bis die Dienerin des Namenlosen wieder vollends zur Besinnung kam. Vorsichtig zog sie ihre Beine zu sich heran. Sie lag unter dem Bett des Minnesängers, der wie ein schlafender Troll schnarchte. Der vor allem wie ein Schnapsfässchen stank. Tatsächlich, dort stand die tönerne Flasche.
Alrik ging hinüber zum Tisch. Eine silbrige, schiefe Melodie erklang. Offenbar zupfte der Friedwanger das Hackbrett.  “Was ist denn das? Eine Strähne von Glyranas Haar?! Zur Inspiration?"
"Unser Minnesänger scheint einen ziemlichen Schreck gehabt zu haben." Die Bodendielen knarrten, als Storko durch die Kammer ging und das Fenster öffnete. "Seinem Durst nach zu urteilen. Bah, das stinkt ja wie in einer Thorwaler Kaschemme." Im Zimmer wurde es hell.
"Das sind ja wirklich Glyras Haare...Der Bolzen muss sie abgetrennt haben. Dieser selemische Lüstling kann was erleben, wenn er aufwacht. Schnuppert an den Haaren von meiner Gemahlin..."
"Was machen wir jetzt?" fragte der Friedwanger.
"Groß befragen können wir diesen haarigen Barden nicht. Am besten, wir stellen ihm den Pott neben das Bett, bevor er mir den schönen neuen Holzboden einsaut..."
Der Nachttopf. Erschrocken sah Yasinthe, dass der fast vor ihrer Nase stand. Im nächsten Moment griff Alrik schon danach, zum Glück, ohne dabei unters Bett zu schauen.
"Die Pfahlgarde ist schon dabei, die Burg vom Keller bis zum Bergfried zu durchkämmen. So viele Verstecke gibt es auf meiner Burg auch wieder nicht. Jedenfalls keine von Dauer."
"Wir brauchen auch Leibwachen für Glyrana", sagte Alrik. "Die Diener sollen sich in ihren Kammern verschanzen. Nicht, dass Yasinthe noch Geißeln nimmt oder dergleichen. Außerdem erleichtert es die Durchsuchung, wenn nicht alle aufgescheucht herumrennen."
"Glyrana befindet sich schon in unseren Privatgemächern, unter starker Bewachung. Mit der gesamten Familie. Ravenhart übrigens auch. Ich überlege gerade, ob sie sich nicht besser rüber in den Bergfried begeben sollten?"
Yasinthe biss die Zähne zusammen, was nicht nur an dem jähen Schmerz an ihrer Hand lag. Wie waren die Gernatsborner ihr nur derart schnell auf die Schliche gekommen? War es ein Fehler gewesen, zurückzukehren? Aber wohin hätte sie jetzt noch fliehen sollen, ohne Ring, ohne tote Jungfer? Nicht einmal im Güldenland würde sie vor Seinem Zorn sicher sein.
"Wer weiß, ob Yasinthe nicht schon im Bergfried lauert. Da würde ich mich an ihrer Stelle verkriechen. Guter Überblick, keine Bewohner. Besser, deine Gemahlin bewegt sich nicht vom Fleck. So ein Turm kann schnell zur Falle werden..."
"Du solltest Glyrana nicht unterschätzen, Alrik. Sie ist nicht mehr die zarte Mersinger Prinzessin von einst. Wenn sie das jemals war. Nein, auch wenn sie jetzt zur Milden Göttin betet, ist sie doch flink mit dem Schwert."
"Keine Sorge, ich kenne ihre Schwester bereits zur Genüge. Sind ja beide Streitzigs, mütterlicherseits. Das hat mir gerade erst einen Wandteppich auf Burg Friedstein gekostet. Allerdings habe ich auch die Heimtücke von Ratten kennengelernt. Im wahrsten Sinne des Wortes, damals im Schratenwald. Da ist ein ganzer Schwarm von den Biestern über uns hergefallen, in einer Jagdhütte, nach einer Beschwörung durch einen Diener des Namenlosen. Hunderte Wolfsratten, wenn nicht Tausende. Hätten wir kein Feuer im Kamin entfacht, wären sie sogar übers Dach reingekrochen..." Alriks Stimme bebte. "Damit hat das Jahr des Feuers bei mir angefangen."
"Hm, vielleicht gar nicht mal eine schlechte Idee. Das mit dem Feuer entfachen, meine ich. Diese Yasinthe scheint eine verdammt gute Kletterin zu sein. So ein Feuer im Kamin hält sie vielleicht ab, von oben einzusteigen. Ich würde mich an ihrer Stelle auf dem Dachboden verstecken. Da oben gibt es eine Wäscheleine, um sich neu einzukleiden, ein Schlafplätzchen...und auch einen guten Überblick."
"Wie heißt der Minnesänger eigentlich?"
"Wendelin, glaube ich...stand gestern auch noch vor dem Burgtor. Er streift öfters mal durch die Schlotzer Gegend, auch wenn ich ihn nicht wirklich kenne. Glyrana findet ihn ganz gut."
"Sein Gesang war schon ein bisschen gespenstisch, meinst du nicht?"
"Die Sache mit der Armbrust fand ich gespenstischer". Storkos Stimme zitterte. "Das mit dem Windstoß, das war doch eher so eine Art Vorahnung. Wenn meiner Glyrana etwas zugestoßen wäre, nicht auszudenken...das hätte ich auch nicht überlebt."
"Ach, Storko, den Tapferen hilft das Glück. Selbst mit Dummen und Gedankenlosen wie mir hat Phex manchmal Mitleid. Ich hab immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich diese blödsinnige Armbrustschießerei unterstützt habe..."
"Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf...Dann hätte sich Yasnsichewasnndr..."
Die Stimmen wurden zu einem undeutlichen Murmeln. Die beiden Adeligen waren nach draußen gegangen. Knarrend schloss sich die Tür.
Yasinthe atmete erstmal durch und zuckte zusammen, als der schlaffe Arm des Barden herunterfiel. Der schnarchte aber unverdrossen weiter.

Sie hatte Glück gehabt, dass ihre Füße nicht unter dem Bett hervor geschaut hatten. Der Bettkasten war ziemlich kurz, wie bei den feinen Herren und Damen üblich. Der Troubadour schlief fast schon im Sitzen, den Kopf auf ein großes Gänsefeder-Kissen gebettet. Natürlich, in den Augen der vornehmen Leute war ausgestrecktes Schlafen der Gesundheit abträglich und damit Frau Peraine ungefällig. Derartige Probleme hätte sie in ihrer Jugend gerne habt. Damals, als sie sich mit ihren Geschwistern ein verflohtes, stechendes Strohbett hatte teilen müssen..
Die Ratte kroch vorsichtig aus ihrem Versteck hervor. Lauschte und spähte in Richtung Tür. Gerne hätte sie sich jetzt in Bett gelegt und ein paar Stunden geschlafen. Aber die Ruhe da draußen, das war nur die Ruhe vor dem Sturm. Was für eine Nacht...Im Gernat hatte sie ordentlich Wasser geschluckt und gemerkt, dass der Fluss ziemlich ungestüm war, nach dem Gewitter vor zwei Tagen. Eher unfreiwillig war sie wieder an Land getaumelt, auf der Gernatsborner Seite. Fast geradewegs vor die Latrine, wo schon das Seil herab gebaumelt war, wie in einem Spukschloss. Mit Gespenstern, die ihr wohlgesonnen zu sein schienen.
Ihre linke Hand schmerzte niederhöllisch. Der heimtückische Wurfstern des Friedwangers hatte sie mit einem Zacken glatt durchbohrt, zum Glück ohne einen der Knochen zu verletzen. Über den ausgebrochenen Zahn wollte sie sich gar nicht beschweren, der wäre ohnehin ein Fall für den Zahnreißer gewesen.
Zum Glück befanden sich in einer Truhe frische Leinentücher. Sie ging zum Tisch, entfernte den notdürftigen Verband aus Stroh und Moos. Mit verkniffenem Mund warf sie das Zeug in den Kamin, schob es mit dem Schürhaken ins Dunkle. Mit dem Restgebiss zog sie den Korken aus der Schnapsflasche und goss den Brand über das blutige Loch. Es war, als hätte sie die Hand ins Feuer gehalten. Sie verkniff sich einen Schrei, kämpfte mit den Schmerzen. Dann verband sie die Wunde sorgfältig, mit zurecht gerissenem Verbandsstoff.
Ein ordentlicher Heiltrank, was hätte sie jetzt dafür gegeben. Aber die Phiole mit dem Storchenschnabel lag draußen im Umhängebeutel. Das grüne, stinkende Zeug war kein echtes Lebenselixier, sondern ein gut getarntes Gift aus Rommilys, und das Glas vermutlich ohnehin zerbrochen. Tlalucs Brodem schien hervorragend geeignet zu sein, um Spuren zu verwischen ... vielleicht sogar als Brechreiz erregende Atemwaffe. Aber es war ganz sicher nichts, was einer Dienerin des Verheißenen Lebenskraft zurückgab.
Langsam kam die Ysilierin wieder zu Kräften. Heute Nacht war es zu finster gewesen, um irgendetwas Vernünftiges in die Wege zu leiten. Allein Purpurzunge war es zu verdanken gewesen, dass sie es bis in die Kammer des Barden geschafft hatte, ohne entdeckt zu werden. Das Bett war allerdings ein armseliger Unterschlupf gewesen.
Nun sei nicht gar so selbstkritisch, Yasinthe. Dein Eifer ehrt dich, trotz des kleinen Missgeschicks gestern abend. Doch wirklich. Du bist zäh. Ich wusste, dass jemand wie du nicht so schnell aufgibt. Sonst hättest du ja nichts in der Hand, außer einer schmerzenden Wunde, nicht wahr?
"Woher sollte ich wissen, dass die Armbrust zerbricht" murmelte Yasinthe. "Mein Missgeschick liegt nur am verfluchten Praiosmond."
Natürlich. Das behaupten die Zwölfgötteranbeter auch immer. Wenn etwas schief geht, dann waren es die Namenlosen Tage. Purpurzunge kicherte.
“Du hast mir dieses Seil heruntergelassen. Dafür danke ich dir. Das war mehr als nur ein Strohhalm in meiner Not.”
Ja, ein gutes, festes Baustellenseil. Aber dank nicht dem Falschen. Der Verdienst gebührt allein dem Dieb. Wie soll ich sagen. Es ist gar nicht so leicht, den Geist eines Sterblichen zu beherrschen. Mit Musik geht das leichter. Manche sagen, seit Dagal dem Sänger wäre Musizieren der einzige Wahnsinn, den die Menschen als etwas Schönes und Gutes akzeptieren. Nun, streng genommen war es der Lügenbringer, der sich damals in Dagals Melodie gemischt hat. In diesem Fall war ich der herrliche, düstere, dreizehnte Wind. Wendelin hat es mir auch sonst leicht gemacht. Ein Freund starker Getränke. Nicht ganz charakterfest, scheint mir. Statt sich mit auf die Suche nach der Meuchelmörderin zu begeben, hat er Storkos Schnaps gestohlen, an Glyranas Haar gerochen und eine Ballade gedichtet. Schule der Torbenia, vermutlich. Schon morgen wird er die Neuigkeit in der Rommilyser Mark hinausposaunen...oder besser gesagt, hinausklimpern. Wie ich schon sagte. Man muss diese schwachen Seelen gar nicht zum wahren Herren der Welt bekehren. Man muss nur das Namenlose in ihnen selbst wecken.
Yasinthe war vergnügt, was an ein paar Schlückchen aus der Flasche lag. Selbst wenn der Schnaps fürchterlich an der Zahnwunde brannte. Es tat gut, Purpurzunges weiche, schmeichelnde Stimme wispern zu hören. Auch wenn das elfische Gesäusel etwas Einlullendes hatte. Elfisch, ja, er klang elfisch, in jederlei Hinsicht. Stand dieser Nachtmahr gerade hinter ihr, oder befand er sich in ihrem Kopf? Sie hätte es nicht sagen können. Ebensowenig, ob die Stimme aus dem Nichts ihr helfen oder sie in Wahrheit immer tiefer ins Verderben locken wollte.
"Momentan schaffen sie es nicht einmal, den Barden zu wecken", flüsterte Yasinthe.
Trotz der Trunkenheit hat Wendelin ganze Arbeit geleistet. Du solltest dir ein Vorbild an seinem Eifer und Geschick nehmen. Sogar das Sitzbrett der Latrine hat er aufgestemmt, mit dem Dolch. Ich hätte dich durch das schändliche Loch kriechen lassen, meine kleine Ratte. Strafe muss sein. Der wahre Attentäter überprüft seine Waffe, bevor er sich vor einem derart erlesenen Publikum blamiert.
Ein Dolch? Yasinthes Blick irrte umher. Ah, dort lag er, auf dem Kamin. Hastig steckte sie die Klinge ein. Ihre Gewandung war nach der warmen Sommernacht fast schon wieder trocken, unglaublich. Nur die nassen Stiefel waren unangenehm. Rasch tauschte sie das Schuhwerk mit dem des Barden und versteckte ihre Latschen im Kamin.
Im Haupthaus wurde es unruhig. Aufgeregtes Rufen, Stimmengewirr und Waffengeklirr drang an ihr Ohr.
"Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze." Das war Jadviges befehlsgewohnte Stimme. "Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Jadvige von Kressenbrück, wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte die Neunfingrige und trank den letzten Schluck aus.
"Ich möchte Meldung bei jedem ungewöhnlichen Fund", bellte es von draußen. "Wer sie entdeckt, bekommt doppelten Sold. Wer sie gefangen nimmt oder sonstwie unschädlich macht, dem winkt eine Beförderung."
Das Rufen und Gerumpel kam jetzt gefährlich nahe.

Yasinthe schlüpfte in den Kamin und spähte in den Rauchfang. Zwielicht drang von oben herein, aber kein Sonnenlicht. Sie hatte einmal gehört, dass manche Baumeister Wert auf den “richtigen” Standort des Schornsteins legten, den Kamin also manchmal abknicken ließen. Dennoch ging es immer noch ziemlich steil nach oben. Das Mauerwerk schien auf den ersten Blick neu und buchstäblich sauber verfugt zu sein.
Nun, die Ysilierin war eine gute Kletterin, nicht nur am Seil. Damals, als Bauernkind, hatte sie öfters nach verlorenen Schäfchen und Zicklein suchen müssen, im Vorgebirge der tobrischen Sichel. Was hatte sie diese blökenden, dummen Lämmer gehasst, und insgeheim gehofft, dass sie schon den hungrigen Wölfen zum Opfer gefallen waren. Ihren wahren Freunden.
Schreien die Lämmer noch, Yasinthe? Oder möchtest du dich jetzt vielleicht doch mal auf deine Aufgabe konzentrieren?
Purpurzunge hatte Recht. Aber in den Schacht zu gelangen war gar nicht mal so einfach, zumal mit ihrer durchlöcherten Hand. Die Kletterpartie danach würde ebenfalls anstrengend werden. Gerne hätte sie Maruk-Methai beschworen, die rechte Hand des Namenlosen. Dann wäre sie in Windeseile hinauf geeilt und hätte die Protzburg vom Dach her abgedeckt. Hätte sich bis zu Glyranas Gemächern vorgewühlt wie ein Bär zu den Honigwaben, und dabei ein paar Balken auf den Burghof geschleudert. Aber für diese machtvolle Zeremonie fehlte ihr eindeutig die Zeit.
Yasinthe griff nach dem Schemel und stellte ihn in den Kamin. Vermutlich würden die Häscher ihn sofort entdecken, aber diesen Preis musste sie zahlen. Ah, so war es wirklich einfacher.
Wieder einmal hatte sie Glück. Offenbar waren zum Burgenbau auch Bruchsteine aus dem alten Gutshof verwendet worden, die schon ziemlich löcherig waren und Halt gaben. Spann für Spann arbeitete sie sich nach oben vor. Presste sich mit dem Rücken gegen die eine Wand, mit den Knien und Füßen gegen die andere. Stemmte, ruckte sich langsam nach oben. Oh Dreizehnter, das war kräftezehrend. Maruk-Methai, steh mir bei! Wenigstens im Geiste!
Die Ratte kämpfte sich Stückchen für Stücken nach oben. Das ging besser als gedacht, aber quälend langsam. Dunkler Abrieb und kleine Steinchen klackerten nach unten, teilweise auf den Stuhl. Die Tür flog auf, Wachen polterten ins Zimmer.
Es kam, wie es kommen musste. Im nächsten Moment hallte es auch schon triumphal herauf: "Da steckt sie! Im Bardenzimmer, im Schornstein. Herbei, herbei!"
Nur weiter nach oben, Fingerbreit für Fingerbreit. Kein Armbrustbolzen traf sie in ihrer misslichen Lage, sehr gut.
Jetzt knickte der Schacht auch schon seitlich ab. Sie kroch in den kleinen "Geheimgang" hinein, versuchte nicht an die Schmerzen in ihrer Hand und in den Muskeln zu denken. Unten waren immer mehr aufgeregte Stimmen zu hören. Es klang unwirklich verzerrt, wie Geschrei aus den tiefsten Niederhöllen.
Das letzte Stück nach oben war einfach zu klettern, aber sehr eng. Natürlich, der Schornstein war mit Kupferblech überdacht, fast wie ein kleines Häuschen, mit schmalen, viel zu schmalen Abzugsfensterchen an der Seite. Eine Taube flatterte hoch, als wollte sie ebenfalls Alarm schlagen. Tatsächlich hatten sie ihr Nest in eines der Fenster gebaut.

Immerhin, das dünne Kupferdach hatte Yasinthe wenig entgegen zu setzen. Mit roher Gewalt drückte und bog sie es beiseite. Draußen flogen weitere Tauben auf.
Sie kletterte aus dem Schornstein - und befand sich in einer anderen Welt, hoch über dem Burghof und der Landschaft am Gernat. Ein zart säuselnder Sommerwind war fast das einzige Geräusch. Nur der Bergfried überragte das kupfergedeckte Dach des Haupthauses, das nun in der Vormittagssonne funkelte und glänzte. Sie hangelte sich hinüber zum First, leicht geduckt, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Yasinthe war wahrlich kein romantisches Elfengemüt. Aber der Anblick war durchaus prachtvoll. Gen Rahja erstreckte sich das endlose Grün des Wutzenwalds, wie ein Moosteppich beiderseits des Gernats, der schon nach wenigen Meilen darin verschwand. An den Schlotzkuppen hielten sich selbst jetzt noch, am Vormittag, einzelne Nebelschwaden. Sogar Burg Schlotz war in der Ferne zu erahnen, vor den schwarzgrauen Bergen.  Efferdwärts schug der silbrig glänzende Gernat seinen Bogen.
Auch auf der anderen Flußseite stand Wald, dahinter ragten weitere Burgen auf, Hallingen vermutlich und Burg Bregelsaum. Wie Spielzeug waren immer wieder kleine Dörfer und Gehöfte zwischen dunklen Wäldern, sanften Hügeln, grünen Weiden und goldfarbenem Ackerland eingestreut. Über allem zogen watteweiße Wolken durchs Himmelblau, im güldenen Schein des Sonnenwagens, wie auf einem einfältigen Tempelgemälde.
Ein wenig konnte Yasinthe den Adel verstehen: Es war ein herrliches Bild,  das sie von ihren Burgen und Schlössern aus genießen durften. Nur die Zwölfgötter selbst schauten noch hochnäsiger auf Dere und Feste herab. Neben der Burg stieg der Rauch der Kupferhütte auf und verpestete die Luft: eine hässliche Narbe auf dem Leib der toten Sumu, der schlafenden Sokramur, oder was immer diese närrischen Widderanbeter für ihre Urmutter hielten.
Der Abgrund zog und zerrte an ihr, unter den Füßen, auch wenn sie ihn nicht sah: Das unwirkliche Gefühl ähnelte der schrecklich-schönen Stimmung in einem Tempel des Dreizehnten.
Ihre Beine zitterten nur ein wenig, als sie sich auf dem Dach um blickte. Die Kupferschindeln blitzten und glänzten in der Sonne, als stünden sie in hellen Flammen. Nicht lange, und sie würden von grünlicher Patina bedeckt sein, auch ohne die wunderbare Liturgie Staub und Schimmel. Die Zeit arbeitete wieder einmal für Ihn, unermüdlich, unaufhaltsam. Ach ja. Wie spät es wohl war? Sie sah zur Sonne hinüber. Um die zehnte Stunde, vermutlich. Eigentlich hatte sie sich jetzt mit Odilon zum Duell verabredet. Aber es gab Wichtigeres zu erledigen. Vorsichtig, wie eine Seiltänzerin, arbeitete sie sich auf dem Dachfirst voran. Das kupferne Dach war verflucht glatt.
Nur aus einem einzigen Kamin stieg Rauch auf. Hatte Glyrana wirklich ein Feuer entfacht, um zu verhindern, dass ihre Mörderin auf diesem Weg zu ihr gelangte? Oder war es einfach nur die Küche, in der das Herdfeuer brannte?
"Yasine Hagewisch, das Spiel ist aus! Ergib dich, oder...."
Sie drehte sich um, leicht verärgert. Wer immer da schrie, kannte nicht einmal ihren Namen.
Einer der Pfahlgardisten trippelte auf dem Dachfirst heran, wobei er seine Hellebarde wie eine Balancierstange benutzte. Ein blondes, bärtiges Gesicht. Den schweren Kürass hatte der Mersinger Waffenknecht abgelegt, er trug nur das schwarzgoldene Wams und die blau bebänderte Sturmhaube. Wo kam der jetzt wieder her? Der Wächter musste aus einer Dachgaube herauf geklettert sein. Eine Gardistin folgte, mit gezogenem Schwert. Verdammt, diese Burgwachen waren ziemlich motiviert. Sogar übermotiviert. Vermutlich lag es an der Belohnung, die Jadvige ihnen versprochen hatte.
"Stehenbleiben!" Auch von der anderen Seite näherte sich ein Gernatsborner, mit Armbrust im Anschlag, als spüre er Sumus Kraft überhaupt nicht. Nicht einmal den Kürass hatte er abgelegt.
Aus der Burg erklang eine wilde Melodie. Das Hackbrett?! War der betrunkene Barde doch noch erwacht – oder sorgte Purpurzunge für die schauerliche Begleitmusik für das, was nun folgte?
Der Armbruster drückte ab, fast im gleichen Moment warf sich Yasinthe auf den Dachfirst. Der Bolzen schwirrte über sie hinweg, verfehlte um Haaresbreite den Hellebardier und prallte von einem Kamin ab. Der Schütze schwankte, schlitterte scheppernd den kupfernen Hang nach unten und blieb mit viel Glück in einem Schneefang hängen. Yasinthe sprang wieder auf, gerade rechtzeitig, um sich dem nächsten Angreifer zu zu wenden. Der Blonde war ein schneller, wendiger Kämpfer, das konnte sie förmlich spüren, aber er hatte einen entscheidenden Nachteil: Sein Blut war nicht so kalt wie ihres. Die Geweihte des Namenlosen zog ihren Dolch. Der Mann stieß mit der Hellebardenspitze zu, aber Yasinthe parierte. Im nächsten Moment kämpfte er mehr mit dem Gleichgewicht als mit seiner Gegnerin. Die Ysilierin wich rückwärts zurück, den Dolch drohend erhoben.
"Hah!" brüllte der Schwarzgoldene, um sie einzuschüchtern. Dann hackte er mit Axtseite ein Loch in die Luft. Yasinthe versuchte einen Gegenstoß, kam aber nicht an der Stangenwaffe vorbei.
Nun versuchte er sie mit dem Haken zu Fall zu bringen. Die Gardistin näherte sich polternd auf der Dachschräge – wie schaffte sie es bloß, sich vorwärts zu bewegen? Natürlich, sie versuchten sie einzukreisen. Der Blonde hatte nun gemerkt, dass er Yasinthe mit Tiefschlägen auf die Beine am meisten verunsichern konnte, und deckte sie mit kurzen, beidseitigen Hieben ein, gefolgt von schnellem Gehakel. Die Hellebarde verhakte sich zwischen zwei Kupferschindeln und blieb für einen Moment darin stecken. Yasinthe warf den Dolch, der den Gardisten mit dem Griff am Helm traf. Dann packte sie mit beiden Händen den Hellebardenschaft, und bohrte dem Träger mit beiden Händen das stumpfe Ende in den Unterleib. Keuchend verschwand der Mann nach unten. Er hatte ebenfalls Glück, ein Kamin bremste seinen Fall. Auch Yasinthe begann zu schlittern. Sie drehte die Hellebarde um und hakte sie in letzter Sekunde in den First. Es war, als stünde sie auf Eis –  allerdings auf einer schiefen Eisfläche. Ihre Schuhe rutschten herum, die Füße fanden keinen Halt, während sie mit beiden Händen die Hellebarde umklammerte.
Die Frau kam nun von unten heran gekrochen und hieb mit dem Schwert nach ihren Beinen. Yasinthe pendelte zur Seite. Die Klinge schlug eine ordentliche Delle in eine Kupferschindel. Ein wütender Tritt, und auch diese Gegnerin glitt nach unten, durchschlug den Schneefang und klammerte sich verzweifelt schreiend an die Dachrinne.
Die Geweihte schwang sich wieder auf den Dachfirst und schleuderte die Hellebarde nach unten. Die Waffe verfehlte die Wächterin knapp und sauste in die Tiefe. Der entwaffnete Armbruster kroch schwerfällig am Dachrand zu seiner Gefährtin, um sie festzuhalten und in Sicherheit zu ziehen. Wie überaus rührend.

Auf dem Hof liefen nun immer mehr Burgwachen zusammen, einige mit Armbrüsten. Ein, zwei Bolzen schlugen bereits gegen das Kupferdach. Wo war der rauchende Kamin? Yasinthe lief geduckt auf ihr Ziel zu. Ein weiterer Pfeil schwirrte knapp an ihr vorbei, dann ließ der Beschuss nach. Offenbar mussten die Armbruster erst wieder nachladen.
Yasinthe spürte die Wärme, die das Kupferdach abstrahlte, und sonst kaum etwas. Nur die Leere der Sternenbresche, die schon seit vielen Jahren in ihrer Seele herrschte. Nein, sie hatte keine Furcht.
“Firun bi!” Eine tiefe, wohlbekannte Stimme drang an ihr Ohr, von unten, dem Burghof her. "Die zehnte Stunde hat schon längst begonnen, Yasinthe. Wollest du dich nicht im Wettschießen mit mir messen? Wo hast du deine Armbrust gelassen?"
Dort unten stand Odilon, der Schwarze Bär, der bereits einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt hatte, mit der Spitze noch nach unten. Zwei der Armbruster rissen ihre Waffen ebenfalls wieder hoch.
Der Baernfarn blinzelte für einen Moment, als das Kupferdach zu gleißen begann. Die Dienerin des Namenlosen verschwand in einem grellen Lichtblitz. Für einen Moment lang befürchtete der Waldläufer, sein Ziel könne sich wegteleportiert haben wie ein Magier. Aber nein, da stand sie, aufrecht und die Hände erhoben. Wollte sie sich ergeben? Odilon ging ein paar Schritte zur Seite, um den Sichtwinkel zu ändern. Diese verfluchten Lichtblitze. Das Dach schien unter Yasinthes Füßen regelrecht zu brennen.
Das war keine Sinnestäuschung, bei Firun.
Purpurne Flammen züngelten hoch, formten sich brüllend zu einem fast mannshohen Feuerteufel mit entfernt menschenähnlicher Fratze. Sein zuckender Flammenleib schien sich beständig zu verformen, zu verzerren und wieder zusammen zu fließen, wie geschmolzenes Metall oder Lava. Dies alles im hellsten Licht des Praios, den die Wesenheit nicht etwa zu fürchten, sondern geradezu herauszufordern schien. Ein übler Gestank wie nach Schwefel, verbranntem Fleisch oder ausgeglühtem Metall wehte heran. Das Knistern und Prasseln klang wie höhnisches, grausames Flüstern in einer Sprache des Wahnsinns, die nicht von dieser Welt war. Einem Schild aus Feuer gleich schützte der Dämon nun den Körper seiner Beschwörerin. Die Wachen auf dem Burghof wichen allein vor dem Anblick zurück. Selbst die kakophonische Musik aus Wendelins Kammer verstummte.
Yasinthe blickte ebenso stolz wie verblüfft auf den Diener, den ER ihr geschickt hatte. Das Kupfer unter ihren Füßen wurde heißer und heißer, die Luft flirrte vor Hitze. Ivash, so nannte man den Feuerteufel, aber dieses Exemplar war weitaus stattlicher als die kleinen Irrwische, die ihr bei dieser Anrufung sonst immer erschienen waren. Beinahe mannsgroß ragte der Feuerdämon vor ihr auf – und wartete auf ihre Befehle.
Ich habe mir erlaubt, dir etwas unter die Arme zu greifen, wisperte Purpurzunge. Du scheinst mir nämlich gehörig in Schwierigkeiten zu stecken. Dieser Feuerteufel ist ein Vulkan, nicht nur eine Kerze. Man könnte ihn einen Hohen Ivash nennen.
"Wer, wer bist du?" hörte sich Yasinthe rufen. "Warum spielst du solche Spiele mit mir?"
Ich bin ein Teil von jener Kraft, die nicht nur Böses will, sondern Böses auch erschafft. Nun triff deine Wahl, aber triff deine Entscheidung mit Bedacht. Denn diesmal könnte es wirklich deine letzte sein.

Ein kalter Hauch glitt an ihr vorbei, ein schwarzer Schemen mit rotglühenden Augen und merkwürdig schiefen Hals. War das Golo von Friedwang-Glimmerdieck? Täuschte sie sich, oder reckte der Nachtmahr ihr zum Abschied seine Zunge heraus, die wirklich purpurrot zu sein schien?
Dann war Yasinthe allein mit dem Dämon und Odilon, der hinter der Feuerlohe nur noch als heller Schemen zu erahnen war, als stünde sie bereits auf einem brennenden Scheiterhaufen. Langsam begriff sie, was Purpurzunge mit "Entscheidung" meinte.
Sie konnte dem "Hohen Ivash" befehlen, in den rauchenden Kamin dort zu schlüpfen, und alles Leben im Raum darunter auszulöschen. Wenn sie Glück hatte, befand sich gerade die gesamte Familie des Wehrvogts in der Kammer, einschließlich des Pagen Ravenhart. Hatte sie Pech, war dort unten wirklich nur die Küche, und der Dämon würde lediglich das Mittagessen (und vielleicht den einen oder anderen Koch) in Asche verwandeln. Ein wunderbarer Brand in der neu gebauten Burg lag so oder so im Bereich des Möglichen.
Im gleichen Moment würde sie allerdings eine hervorragende Zielscheibe für Odilon Wildgrimm von Gallys sein, dem Meisterschützen der Schwarzen Sichel. Natürlich konnte sie den Feuerdämon auch auf den Baernfarn hetzen und dessen Heldenleben hier und jetzt beenden. Ein überaus reizvoller Gedanke. Aber dann hätte sie bei ihrer eigentlichen Mission versagt.
Wollte sie die Taube auf, oder besser gesagt unter dem Dach – oder den Spatz auf dem Burghof? Die Wahl, die Yasinthe nun zu treffen hatte, war wahrlich dämonisch.

Timoin hatte seinen alten Lehrmeister nachgeschaut, als dieser auf den Hof lief, den Bogen in der Hand. Dennoch hatte er sich entschieden, Odilon nicht zu folgen. Vielmehr griff er rasch nach seinem Bogen - ebenso wie Odilons Bogen während der Jägerprüfung selbst aus Eibenholz geschnitzt - und seinen Köcher mit Pfeilen und hastete dann der Pfahlgardistin nach, die sich durch die Dachgaube im obersten Saal auf das Dach begeben hatten. Mit einer Hellebarde auf einem Dach zu kämpfen, hier oben den Nahkampf zu wagen, schien ihm ein lebensgefährliches Unterfangen zu sein. Viel größer als die Gefahr, von einer feindlichen Klinge getroffen zu werden war das Risiko, bei der wilden Hatz das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Fehltritt, und die Augenblicke bis zum Aufschlagen auf dem Burghof würden die letzten Augenblicke des Lebens sein. Timoin war Jäger, weder Fassadenkletterer noch maraskanischer Meuchler, und auch, obwohl er durchaus ein geschickter Kletterer war, war er nicht bereit, leichtfertig sein Leben zu riskieren und in die Tiefe zu stürzen. Damit war niemandem geholfen. Stattdessen balancierte Timoin am Dachfirst entlang, bis er sich an einem Kamin festhalten konnte. Erst einmal guten Stand haben, darauf kam es an. Dann zog er einen Pfeil aus seinem Köcher. Der junge Jäger blickte sich um.
Das Gefecht auf dem Dach vor ihm tobte. Timoin zielte, aber er hatte kein freies Schussfeld. Die Hellebardin, die der Meuchlerin nach geeilt war, stand zwischen ihm und seinem Ziel. Bei den schnellen und abgehakten Bewegungen der Kämpfer auf dem Dach war es dem jungen Jäger nicht möglich, sicher zu zielen. Die Gefahr, die Soldatin zu treffen, war zu hoch. Timoin stand auf dem Dachfirst, an den Kamin gelehnt, der ihm eine sichere Position bot. Der Pfeil lag auf der Sehne, der Bogen war gespannt. Allein, solange der Weg vor ihm blockiert war, konnte er nicht schießen.
Plötzlich stürzte die Soldatin in die Tiefe, hielt sich an einem Kamin fest, der zum Glück ihre Rutschfahrt unterbrach. Aber auch die Meuchlerin war abgerutscht, so dass Timoins Pfeil ins Leere flog. Renia - oder Yasinthe - schien weder ihn noch das Geschoss bemerkt zu haben. Die Attentäterin war aus seinem Sichtfeld gerutscht. Timoin schulterte den Bogen, um die Hände frei zu haben. Dann balancierte er weiter am Dach entlang. Um wieder die Meuchlerin ins Blick- und Schussfeld zu bekommen, würde er ein gutes Stück um einen Erker herum klettern müssen. Die beiden Pfahlgardisten, die sich auf das Dach gewagt hatten, kämpften ihrerseits damit, nicht abzustürzen. Leise fluchte Timoin. Jetzt der Meuchlerin nachzueilen hieße, zwei Soldaten vermutlich abstürzen zu lassen. Das konnte er nicht tun. Timoin knotete sein Seil, das er in Waldläuferart immer bei sich trug, um den Kamin und warf es den Soldaten unter ihm zu. Dabei schienen sie alle Glück zu haben, dass Yasinthe sich nicht darum scherte, den Gardisten nachzusetzen. Vielmehr schien sie genug mit sich selbst, oder auch mit den Schützen auf dem Hof unten, zu tun zu haben. Die Hellebardistin griff nach dem Seil und half ihrem Kameraden wieder auf das Dach.
Erst als Timoin sah, dass die Gardisten wieder festen Stand erreicht hatten, machte er sich an die Verfolgung der flüchtenden Attentäterin. Behende sprang er auf den Erker, huschte mit sicheren Schritten über die Kupferschindeln - die zum Glück vom Regen der vergangenen Nach wieder gänzlich abgetrocknet waren - und spähte vorsichtig hinter den gemauerten Zinnen hervor. Er erblickte Renia ein Stück weit unter ihm. Glühte das Dach dort? Welche unheilige Magie wirkte dort? Es schien ihm, als wäre die Meuchlerin von Flammen umhüllt.

Die Entscheidung, wohin sie das dämonische Feuer lenken wollte, wurde Yasinthe abgenommen. Odilons Pfeil schwirrte von der Sehne und schnellte auf die Meuchlerin zu. Nur wenige Augenblicke später stoben zwei Bolzen, herauskatapultiert von zwei Armbrüsten, in die Höhe in Richtung Dach, wo die Attentäterin stand. Instinktiv riss Yasinthe ihren Arm hoch, zeigte auf Odilon und schrie „Brenn´, du Bastard!“ Schon stob die Feuergestalt empor, knisterte, flirrte und brodelte einem Flammenblitz gleich vom Dach in die Tiefe.
Das erste, was dem Feuerdämon zum Opfer fiel, war der von Odilon geschossene Pfeil, der sich auf der Flugbahn zwischen Renia und Odilon befand. Der hölzerne Schaft überstand die Hitze nicht den Augenblick, den die Begegnung dauerte. Einen Bolzen ereilte das gleiche Schicksal, ein zweiter, schlechter gezielter Bolzen des anderen Schützen entging dem brennenden Schicksal und schlug einige Schritt unterhalb Renias in die Mauer ein. Dann stob die Feuergestalt weiter in die Tiefe. Wie zur Seite ausweichend sprang Odilon nach rechts, während der Flammendämon im folgte. Was hätte Odilon darum gegeben, hätte er jetzt sein Schwert Wandelur bei sich getragen. Immerhin ein Schwert, das auch Dämonen Wunden schlagen konnte - denn dass sich ihm hier ein Flammendämon näherte, das war dem alten Jäger unzweifelhaft klar. Und er hatte keine Waffe bei sich, mit der er sich gegen einen solchen zur Wehr setzen konnte. Allein der Versuch, den Flammentod mit dem Bogen oder gar mit dem Jagdmesser anzugreifen, wäre lächerlich gewesen. Odilon hastete mit raschen Schritten zur über den Hof, zum überdachten Brunnenschacht, jedoch folgte der Flammendämon dem alten Jäger, holte ihn ein, umhüllte ihn. Odilon sprang, schon von Flammen umhüllt, in die Tiefe  und stürzte sich in das unter ihm liegende Nass.

Oben auf seinem Erker hatte Timoin Gelegenheit gehabt, gut zu zielen. Seine rechte Hand verharrte, die Bogensehne ruhig haltend, an seinem verkümmerten Ohrläppchen, während seine Augen entlang des Pfeiles zu Renia blickten. Sein Blick versank in der Meuchlerin, während sich gleichzeitig die Finger von der Sehne lösten, und diese hervorschnellend den Pfeil auf seine Flugbahn schickte. Die Augen Yasinthes, die dem ihrerseits zum Waldläufer geschickten Feuerdämon folgten, weiteten sich überrascht. Der Pfeil schlug in der Brust der Priesterin des Ungenannten ein, und noch im gleichen Augenblick hörte das durchbohrte Herz zu schlagen auf. Noch nicht einmal zu einem letzten Schrei, einem letzten Fluch, blieb der überraschten Dienerin des Rattenkindes die Zeit. Eine Seele, die zu schwer auf Rethon gewogen wurde, fuhr hinab in die Tiefe.
Eine niederhöllische Stichflamme fuhr von der Oberfläche einer Feuerlohe gleich in die Höhe und setzte züngelte die Burgmauer hoch, bevor sie erstarb.
Eine in die Tiefe gestürzte tote Meuchelmörderin lag, zu einer unförmigen Masse zerschlagen, auf den Pflastersteinen des Burghofs.

10. Kapitel - Der Meister des Wetters

10. Kapitel

Der Meister des Wetters



Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken.  Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
 
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben.  Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der  Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."


Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.


Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.

Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria



Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide  deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
 
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
 "Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."
 

8. Kapitel - Ein nächtliches Attentat

8. Kapitel

Ein Attentat in der Nacht



Gernatsborn, am späten Abend des 5. Praios 1043
Jadvige von Kressenbrück klappte den Zinndeckel ihres Bierkrugs auf: „Prost und den Zwölfgöttern befohlen“. Die Dienstritterin trank einen kleinen Schluck Dünnbier und wischte sich den kargen Schaum aus den Mundwinkeln. Dann musterte sie diese Renia Hagewisch, die gerade in ihrem Eintopf rührte, im Schankraum des Wirtshauses „Gerbaldsrast“.
„Oben auf der Burg geht es zu wie in einem Taubenschlag“, sagte die Dienstritterin. „Hier unten sind wir ungestört“.
Die beiden Frauen waren tatsächlich fast alleine, bis auf zwei der Handwerker, die derzeit noch Restarbeiten auf der Burg erledigten. Kupferschmiede, vermutlich, oder Fensterladenbauer. Tuvok, der Barönliche Forstwart, tunkte an einem Nebentisch Brot in seine Suppe. Der Duft von Kohl vermischte sich mit dem Geruch nach Wildleder und dem Metall von Jadviges Kettenhemd.
Die Adelige schob die Kerze ein wenig näher ans Gesicht der Söldnerin heran - scheinbar, um Platz für ihren schön geschmückten Zinnkrug zu schaffen. Der Humpen zeigte eine fein gravierte Szene aus dem Feldzug Kaiser Gerbalds. Seine Majestät rastete in einem Zelt am Ufer des Gernat und schien schon mächtig einen in der Krone zu haben. Eine heitere, volkstümliche Szene. Ein paar Elfen sahen aus dem Wald zu, mit merkwürdigen Zipfelmützen. Einer hielt sich die Hand ans Spitzohr, vermutlich in Anspielung auf die berühmte Anekdote über die Herkunft des Flussnamens: „Wer naht?“ „Gerbald naht!“ „Gernat?“ Oder so ähnlich...Der Deckel war mit Wildschweinen verziert, die aus dem Wutzenwald lugten.
Renia Hagewisch blinzelte im flackernden Kerzenlicht. Ihre Zähne sahen ziemlich schadhaft aus. Abgesehen davon waren sie beide sich nicht ganz unähnlich, fand Jadvige. Wenn auch mehr dem Typ als dem Aussehen nach. Die Armbrusterin hatte, so schien es, ebenfalls Jahre voller Kampf und Schlachten hinter sich, ihre kurzgeschorenen Haare waren grau geworden, das Gesicht faltig. Der eisige Blick verriet Misstrauen, Entbehrungen und Härte. Jadviges Blick vermutlich auch. Versonnen rieb sich Glyranas Leibritterin die Narbe, die ihre linke Wange verunzierte, und jetzt, vor dem Regen, ein wenig schmerzte. Der häßliche Wulst rief sich aber auch gerne dann in Erinnerung, wenn Jadvige irgendetwas aus tiefster Seele mißfiel.
Es war ja schön und gut, dass die Reisläuferin Seine Gnaden...wie hieß er noch gleich...Praioswin? Praiodan? Ach ja, Praiodin. Dass Renia den wandernden Geweihten vor den räuberischen Stinkern gerettet hatte.
Aber deswegen würde Jadvige nicht gleich jede wildfremde Bewaffnete in eine neu gebaute Burg führen. Renias leicht blökender tobrischer Dialekt mochte sich im ersten Moment gemütlich anhören. Aber es gab wahrlich genug schwarze Schafe jenseits der Sichel. Renias Mundart war eindeutig ysilisch gefärbt. Allein der Gedanke an Transysilien ließ Jadviges Hände zittern. Die Dienstritterin war froh, dass das ständige Geklopfe und Gehämmere oben auf der Burg zu Ende war. Es hatte wie in einem Bergwerk geklungen.
Nein, die von Kressenbrück vertraute dieser Renia keinesfalls, dieser erstbesten Heldin von der Straße. Auch wenn sie nicht recht sagen konnte, warum. An der Armbrust lag es nicht, auch wenn das Schießzeug wenig rondragefällig war. Heimtückisch und unehrenhaft, aber halt auch ziemlich durchschlagend und grausam effektiv. Nur mit Hellebarden, Schwertern oder Säbeln würde man Gernatsborn nicht verteidigen können. Womöglich ließ sich Renia Hagewisch als Ausbilderin der Pfahlgardisten verwenden. Mal sehen....
Jadvige hatte auch nichts gegen Söldlinge im Allgemeinen. Solange sie auf der richtigen Seite fochten. Auch Kor war ein legitimer Sohn der Himmlischen Leuin, sein gnadenloses Wüten auf dem Schlachtfeld gehörte seit Urzeiten zum Wesen von Kampf und Krieg dazu. Ein Kampf, der völlig anders aussah als in den lieblichen Gesängen des Barden da oben. Sich anders anhörte und anfühlte. Anders roch...Ob nun ein edler Ritter den anderen gefangen nahm, um Lösegeld zu erbeuten. Oder ein heimatloser Mietling sein Schwert für Gold verkaufen musste... Das war heutzutage allzu oft nur eine Standesfrage.
Nein, Jadvige war nicht dünkelhaft oder gar arrogant einer Gemeinen gegenüber. Zumindest glaubte sie das von sich selbst. Aber einige Sachen irritierten sie schon. Die schweren Handschuhe etwa, die Renia bislang keinen Herzschlag lang abgelegt hatte, selbst jetzt am Tisch nicht. Für eine Schützin, bei der es auf das Fingerspiel ankam, mussten die Dinger ziemlich hinderlich sein. Jadvige hatte schon von Dieben gehört, die auf die Hand gebrandmarkt worden waren, und solcherart ihre Ehrlosigkeit verbergen wollten.
Die Rittfrau hatte gerade eine Runde durch die Burgsiedlung gedreht, um die Bewohner vor herumstreunenden Rotpelzen zu warnen. Aber auch, um sich vor dem Abendessen der Herrschaften ein wenig am Fluss umzusehen. Mit einem starken Bogen ließ sich womöglich der Burgsöller unter Beschuss nehmen, von einem Boot oder Floß aus. Aber sie hatte am Gernat nichts Ungewöhnliches erspäht -  so ein „Schuss vom Fluss“ wäre doch ein ziemliches Glücksspiel und Wagnis.
Hernach hatte sie Renia zu einem kleinen Umtrunk eingeladen. An der Theke war ihr Deuten auf die Fässer sofort verstanden worden. Sie erhielt den gewohnten schwachen Trunk: Kofent oder Nachbier, wie es selbst die Kinder zu Trinken bekamen.  Die Tobrierin erhielt ordentlich Rommilyser Starkbier in den Krug. Ein süffiges Getränk, das hoffentlich ihre Zunge lockern würde.
„Seid bedankt, edle Dame. Ich weiß die Ehre zu schätzen, an einem Tisch mit einer Ritterin des Reiches sitzen zu dürfen“, sagte Renia. Sie schien tatsächlich beeindruckt zu sein, fast ein wenig verlegen. „Damit hätte ich niemals gerechnet...“
„Du hast heute einem Mann des Praios beigestanden, im Kampf gegen Raubgesindel. Das war wahrlich ein Guter Kampf. So sagt man doch, bei euch Anhängern des Kor? Eine fähige Schützin scheinst du zu sein. Aber sprich...Was verschlägt eine derart tüchtige Armbrusterin zu uns an die Gernatsbeuge? Du kamst aus Beorwang und wolltest weiter nach Gernatsborn? Bist du da nicht ein klein wenig übers Ziel hinausgeschossen?”
„Gernatsborn. Beuge. Au. Quell...da kann eine ortsfremde Reisende wie ich schnell mal durcheinander kommen.“ Jadvige wischte sich mit dem belederten Handrücken die Lippen sauber und hob den Krug.
„Burg Gernatsborn zu übersehen, das ist in dieser Gegend unmöglich. Zumal heute sogar das Banner Seiner Wohlgeboren des Landjunkers am Bergfried hängt.“ Jadvige setzte ein Löwinnenlächeln auf, meinte es aber ernst.
„Gewiss. Eigentlich wollte ich ja nach Gallys, nicht auf eure Burg. Und vorher noch einmal am Wundweiher knien. Um für meine Errettung zu danken, in der letzten Schlacht, wo´s wieder mal knapp war. Ein Gebet sprechen und ein würdiges Opfer darbringen – für den Ritter des Immerwährenden Kampfes und Herrn der Neun Streiche.“ Renia schlürfte geräuschvoll den dunklen Gerstensaft.
Jadvige blickte fragend, während die Abendröte den Gastraum in ein tiefes Schwarz und Rot färbte.
„Die Blutkerbe, habt Ihr noch nie davon gehört, hohe Dame? Ein Heiliges Tal, wo eine Waffenmagd Kors den blutroten Segen des Schwarzen Panthers erhält. Irgendwo in der Wildnis am Gernat soll das Heiligtum liegen. Die einen sagen, Richtung Hallingen, die anderen, in der Gegend von Königsweber. Ein wandernder Jünger des Rondrasohns hat mir mal davon erzählt. Ich dachte, Ihr wisst vielleicht mehr darüber?“
Jadvige blickte auf ihr Kettenhemd herab und merkte, dass am Unterarm ein einzelner Ring aufgebrochen war. Mit dem Finger versuchte sie ihn wieder in Form zu drücken. Seltsam, sie konnte sich an diesen Hieb gar nicht mehr erinnern. Blutkerbe? Wundweiher? Korgefällige Heiligtümer hatte es in der Wildermark genug gegeben. Auch sonst mangelte es in den Sichellanden nicht an Kultstätten alter, halber oder zwielichtiger Götter. Oft schien es sich dabei um Tümpel oder Seen zu handeln. Die Korjünger ritzten aber auch gerne Kerben in Bäume (für jeden toten Feind eine), malten sie blutrot an, hingen erbeutete Rüstungen und Waffen oder tote Tiere in die Äste.
„Eigentlich kenne ich nur die Blutkeule beim Imman. Wildnis gibt es am Gernat genug. Keine allzu gute Beschreibung, würde ich sagen. Was ist eigentlich mit deinen Händen? Warum trägst du ständig diese Handschuhe?“
„Mein Hände? Ah...ach so, ja. Ich habe den Spanner meiner Geißfußarmbrust verloren, und bislang noch keinen Ersatz gefunden. Seitdem spanne ich meinen Liebling mit bloßer Hand. Gut für die Oberarme, aber schlecht für die Hände.“
„Die Bierkrüge in diesem Wirtshaus sind nicht scharfkantig“. Jadviges auffordernde Geste war eindeutig. „Zieh sie doch mal aus...bitte.“
Renia streifte nach kurzem Zögern und mit spürbarem Widerwillen die Handschuhe ab. Jadvige stutzte. An Renias rechter Hand fehlte der kleine Finger. „Das wolltet Ihr doch sehen, oder?“
„Eine alte Schlachtwunde?“
Renia lächelte versonnen. „Nein...ich will ehrlich zu Euch sein. Ich habe ihn meinem Gott geopfert.“
Jadvige, die einen Schluck Kofent nehmen wollte, hätte sich um ein Haar verschluckt. Sie schaute nicht allzu hesindegefällig über den Krugrand, dessen war sie sich sicher. Für einen Moment vergaß sie sogar, den Trunk herunterzuschlucken, der gerade ihre Backen füllte. Dann holte sie das Versäumnis geräuschvoll nach, mit zuckendem Avesapfel.
„Kors heilige Zahl ist die Neun“, sagte Renia, scheinbar beglückt. „Die Opferung des zehnten Fingers ist ihm überaus gefällig.“
„Du...du bist eine Korgeweihte?“
„Nein, nein. Zuviel der Ehre. Eine alte Geschichte. Das war schon bei der Befreiung von Rommilys, damals, im grausamen Winter `28. Wir wurden auf Vorposten umzingelt, von Asmodeus Schergen. Pardon durften wir nicht erwarten. In dieser Nacht habe ich wirklich inbrünstig zu Kor gebetet. Mein Opfer war nicht so groß, wie Ihr vielleicht denkt. Der Finger war ohnehin schon erfroren. Was soll ich sagen. Der Entsatz kam keinen Herzschlag zu spät. Ein unbedeutendes Scharmützel am Rand der großen Schlacht. Aber nicht für die, die dabei waren. Ich werde diese Zeit niemals vergessen. Vor allem den Hunger nicht...den Hunger, den Frostbiss und den eisigen Wind. Firuns sei´s geklagt. Habt Dank für Eure traviagefällige Gastung, hohe Herrin, in dieser wunderbaren Sommernacht.“
„Krieg im Winter, ja, der ist besonders grausam“, sagte die Dienstritterin bedächtig. „Deswegen trägst du diese Handschuhe auch nach dem Dienst? Damit es nicht zu irgendwelchen Missverständnissen kommt?“
„Eigentlich, weil ich mir in dieser niederhöllischen Kälte nichts sehnlicher als Handschuhe gewünscht habe.“ Renia nahm noch einen Schluck, ihre Zunge wurde schwer. „Das Schicksal des Fußvolkes...Nichts für ungut. Erinnere mich gerade wieder an alles. Wir haben unsere Hände mit irgendwelchen Stofffetzen umwickelt, wie die Landstreicher. Das Metall eines Armbrustdrückers kann kalt sein wie Gloranas Arsch...Verzeihung...es war halt ein langer und harter Krieg, hohe Herrin.“
„Schon gut, ich habe mein Lebtag auch nicht nur am prasselnden Kaminfeuer einer Burg zugebracht. Lass mich raten, du stammst aus der Gegend von Ysilia? Deine Art zu sprechen, irgendwie kommt sie mir bekannt vor.“
„Ja. Aber wir, meine Eltern und ich, wir sind schon vor den tausend Ogern ins Darpatische geflohen. Vor den verfluchten Menschenfressern. Meine Familie hatte von einem Tag auf den anderen nichts mehr, und daran hat sich wenig geändert. Am Ende blieb mir gar nichts anderes übrig, als Söldnerin zu werden. Eine gute Wahl. Seitdem Kaiser Hal verschwunden war, gab es im Mittelreich eigentlich nur noch Krieg und Hader. Hab mich durchgeschlagen, seither.“ Mit verkniffenem Mund zog Renia ihre Handschuhe wieder an. „Wenn das mit dem fehlenden Finger vielleicht unter uns bleiben könnte? Ersteinmal, meine ich. Korgesellen gegenüber gibt es ständig Missverständnisse. Nicht nur wenn es um unsere heiligen Farben Schwarz und Rot geht...“
„Natürlich. Ich werde mit Herrn Storko reden, ob wir überhaupt eine Armbrusterin brauchen. Du kannst heute Nacht hier bleiben...Kost und Logis übernehme ich. Sieh es als Dank, für deinen guten Kampf. Damit meine ich nicht allein die Rettung des Praiosgeweihten.“
„Hier? Im Wirtshaus?“ Renia blickte betrübt, als fühlte sie sich in ihrer Söldnerehre gekränkt.
Jadvige musterte die Söldnerin erneut. Nun, da die Sonne unterging, lag deren Gesicht zur Hälfte im Schatten. Schwarz und Rot...
„Wenn überhaupt, wären nur noch schlechte Betten frei, auf der Burg. Wir haben adelige Gäste, wie du weißt. Ich muss jetzt auch wieder zurück.“
Jadvige stand klirrend auf. Diese Renia schien auf den ersten Blick „sauber“ zu sein. Aber wie hieß es so schön: Vertrauen ist gut, Vorsicht ist besser.
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Lasst mich zumindest die Heilige Praiociosa hinauf tragen. Sie ist ganz schön schwer.“ Die Söldnerin wies auf den Rucksack des Praioten. „Ich glaube, Bruder Praiodîn vermisst sie schon. Bevor sie heute noch ein zweites Mal abhandenkommt.“
„Ist sie denn so wertvoll? Die Statue selbst, meine ich?“
„Nun, an ihr ist sicherlich nicht alles Gold, was glänzt. Aber Seine Gnaden scheint sie sehr viel zu bedeuten. Und den friedwanger Gläubigen natürlich. Er hat mich gebeten, sie nicht aus den Augen zu lassen, während er dem Burgherren seine Aufwartung macht.“
Jadvige überlegte, ob sie den Rucksack mitnehmen sollte. Aber das würde nicht sehr ritterlich aussehen am Tor. Vielleicht war sie in diesem Fall wirklich zu misstrauisch.
„Er bezahlt dich dafür, dass du Schnitzwerk bewachst?! Eine Söldnerin? Soviel Vorsicht braucht es bei uns nicht. Gernatsborn ist ein götterfürchtiger Ort.“
„Nicht doch. Wie könnte ich Sold von einem Geweihten verlangen? Aber ich weiß, dass man uns Diener des Kor öfters mal schief anschaut...da versuche ich halt, unseren schlechten Ruf aufzupolieren, wo es nur geht.“
Renia blickte ein wenig vorwurfsvoll, und griff verstohlen an ihren Handschuh, dort, wo eigentlich der kleine Finger der rechten Hand stecken sollte.
Jadvige überlegte. Sie versuchte auf ihr Bauchgefühl zu hören. Aber irgendwie gluckerte dort gerade nur das Dünnbier. Eigentlich hätten sie beide sich sympathisch sein müssen, von Kriegsfrau zu Kriegsfrau. Aber irgendetwas gefiel ihr an dieser Ysilierin immer noch nicht. Kleiner Finger, ganze Hand. Das Sprichwort irrlichterte durch ihren Kopf. Jemanden um den kleinen Finger wickeln. Den Spruch gab es auch. Aber womöglich war es gerade deswegen besser, wenn sie die Söldnerin bei sich in der Nähe und damit im Auge behielt. Die Ritterin bedeutete Renia mit einem Wink, ihr zu folgen. „Ich schau mal, was sich machen lässt. Wegen der Übernachtung oben auf der Burg. Vielleicht gibt es bei den Gardisten noch einen Platz für dich.“
 
"Renia" wunderte sich, wie leicht es ihr gelungen war, bis zum Gästetrakt vorzudringen. Obwohl sie mit Armbrust, Rucksack, Umhängebeutel, Köcher, Helm, Feldflasche und Schwert an der Seite nicht gerade unauffällig daher stapfte.
Offenbar hielt das Gesinde sie für eine vollbeladene Begleiterin der Gäste aus Schlotz. Eine Art Packtier der hohen Herren und Damen, das ihnen schnell noch ein paar Sachen auf die Kammer brachte. Alle schienen schwer beschäftigt zu sein, auch Jadvige, die in Richtung Stallungen entschwunden war. Niemand beachtete sie wirklich, in diesem aufgescheuchten Bienenkorb, von ein paar verwunderten Blicken abgesehen.
Es sollte ihr Recht sein. Was sie beunruhigte, war der Umstand, dass sich das Mannloch im Tor hinter ihr geschlossen hatte und fest verriegelt worden war. Sie war nun in der Höhle des Wehrheimer Waldlöwen gefangen. Vor morgen früh würde sie Burg Gernatsborn nicht mehr verlassen können.
Am Eingang des Herrenhauses hatte sie behauptet, die Statue zum Zimmer des Geweihten bringen zu wollen. So weit, so gut. Irgendwo in der Nähe sang ein Barde, wahrscheinlich auf der Burgterrasse. Da war noch etwas anderes, das in der Luft lag, ohne dass sie es in Worte zu fassen vermochte. Nur, dass es sich vertraut und stark anfühlte. Sein Beistand.
Die Frau, die sich Renia nannte, kannte sich in alten, muffigen Gemäuern aus. Aber eine funkelnagelneue Burg hatte sie bislang noch nicht gesehen, geschweige denn von innen. Der Geruch nach Putz und frischem Mörtel lag überall in der Luft. Selbst das Holz roch noch leicht harzig, als wäre es erst vor kurzem geschlagen worden. Die kupfernen Beschläge der Türen und Möbel waren makellos, ohne den leisesten Hauch Grünspan. Es war, als herrschte in dieser Festung der Geist der Tsa und nicht der Rondra, geschweige denn der des Kor.
Dennoch gab es Mächte, die hier und jetzt stärker waren.
Jadvige von Kressenbrück war eine harte Prüfung ihrer Tarnung gewesen. Warum hatten sie ihre Auftraggeber nicht gewarnt? Die wichtigste Information war ihr wieder einmal vorenthalten worden: Dass die Ritterin ebenfalls auf Burg Gernatsborn anwesend sein würde. Nun, die Kressenbrück war misstrauisch gewesen, aber hatte sie offenkundig nicht erkannt. Dabei war der Abstand kaum größer gewesen, wie damals, auf der Insel Fischermanns Freund. Als die stolze Adelige eine schmutzige Gefangene im Käfig gewesen war. Ihre Gefangene. Zum Glück hatte „Renia“ damals ihr Gesicht hinter einer Maske verborgen. Die Ritterin konnte sie einfach nicht wiedererkannt haben, nach all den Jahren. Oder etwa doch? Ahnte Jadvige etwas?
Es half nichts. Sie musste sich nun auf ihren Auftrag konzentrieren. Die Informationen waren auch sonst spärlich gewesen. Wie vor ein paar Wochen in Rommilys. Jeder Gesandte wusste nur das Nötigste und agierte völlig unabhängig von den Anderen. Flog er auf, konnte er (fast) keine Namen nennen.
Keine Alleingänge gegen den Wehrvogt und seine Familie, Yasinthe. Das Haus Gernatsborn-Mersingen befindet sich zu nahe am innersten Kreis unseres Netzwerks. Blinde Rache mag dem dämonischen Erzfeind Unseres Herrn gefällig sein. Aber nicht dem Größten Aller Götter. Wer ist dagegen schon der Anti-Praios? Ein klägliches Zerrbild des Götterfürsten, der selbst nur durch Betrug am Erstgeborenen zum Herren Alverans aufgestiegen ist. Ein wütender Hund, der nach der Peitsche schnappt. Wir müssen kühles Blut bewahren und geduldig sein. Denn ER allein ist unser aller Herr, seit Anbeginn der Zeit. Der Älteste der Äonen wird die ehernen Peitschen schwingen, die jetzt noch seine Ketten sind, und unsere Feinde zermalmen. Götter wie Menschen.
 
Der Feenring befand sich im Besitz Ismenas von Oppstein, soviel stand fest. Sie sollte ihn – diskret - beschaffen und am vereinbarten Treffpunkt übergeben.
Woher hatten Sie eigentlich gewusst, dass die „Rahjajungfer“ genau heute auf Gernatsborn eintreffen würde? Offenbar gab es einen Spion in deren Nähe. Ein „Unsichtbarer“, der sehr schnell Nachrichten übermitteln, aber aus irgendeinem Grund nicht selbst eingreifen konnte. Faszinierend, aber auch rätselhaft und damit beunruhigend. Anders als früher teilten Sie ihr nur noch das Nötigste mit. Schienen ihr zu misstrauen, die sich seit der Rückkehr des Bethaniers oft mit den Kräften der Siebten Sphäre verbündet hatte. Zu oft?
ER war in diesem Moment bei ihr, das spürte sie. Zog unsichtbar die Fäden im Hintergrund, im Kleinen wie im Großen, wie ein Puppenspieler. Wie konnten die Menschen seine Allgegenwart nur missachten?
„Ach ja. Bring nachher noch ein paar Blumen ins Zimmer der Frau von Oppstein. Sie hat es sich ausdrücklich gewünscht.“ Eine der Mägde hatte das gerade eben zu einem pummeligen Bauernkind gesagt, und dabei beiläufig auf eine Tür gewiesen. „Ein bisschen aufgeräumt werden müsste da drin auch.“ Dann hatte sich die Dienerin eiligst an der Söldnerin vorbei gedrückt. Die Ysilierin hatte noch höflich nach der Kammer des Praiosgeweihten gefragt. Es lief wirklich alles wie am Schnürchen. Praiodîns Zimmer war nicht abgeschlossen, natürlich nicht. Renia ging hinein, stellte den Rucksack des Geweihten ab und die Heilige Praiociosa auf das Tischchen, gleich neben das Sonnenszepter.
Sie überzeugte sich, dass draußen die Luft rein war. Dann nahm sie eine der Wandkerzen an sich und huschte in Ismenas abgedunkeltes Zimmer. Es duftete nach Rosenwasser, gar nicht mal so dezent. Überhaupt sah es in der Kammer ein bisschen schlampig aus, für eine „Von und zu“. Hier lag ein fein bestickter Umhang überm Schemel, dort ein vornehmer Hut auf dem Bett. Zwei Paar teure Schuhe standen kreuz und quer herum.
Offenbar hatten die Unsitten der „lässig eleganten“ Horasier auf die Oppstein abgefärbt, während ihrer Hurerei im Lieblichen Feld. Sie musste sich beeilen, jeden Augenblick konnte das Dienstmädchen auftauchen. Was, wenn Ismena den Ring gerade bei sich trug? Etwa, um ihn Alboran zur Verlobung zu schenken? Nein, da drüben saß ein Praiosgeweihter mit am Tisch. Die Gießenbornerin konnte in dessen Gegenwart nicht einfach einen Zauberring hervorziehen.
Würde die Oppstein den Silberring unbewacht in ihrer Kammer herumliegen lassen? Unter dem Bett? Nein. Unterm Kopfkissen? Auch nicht. Ebensowenig Erfolg hatte sie im Schrank. Der Tisch wackelte ein bisschen, aber entgegen ihrer ersten, freudigen Vermutung befand sich der Ring nicht unter dem Tischbein.
Ihr Blick fiel auf den Kamin, der unbenutzt war, jetzt im Hochsommer. In einem eisernen Korb lagen dennoch, fein säuberlich aufgeschichtet, Holzscheite. Die Söldnerin eilte zur Feuerstelle, und tastete ins Innere hinein. Nichts. Einen Moment lang glaubte sie das Objekt ihrer Begierde gefunden zu haben, auf dem Kaminsims. Aber es war nur ein Zunderkästchen. Die Holzscheite...wirklich ordentlich gestapelt waren sie nicht, merkte sie nun. Draußen war ein Schäkern zu hören. Die Dienstmägde? Zum Glück entfernten sich die Stimmen wieder.
Eilig sah die Armbrusterin unter den Scheiten nach. Tatsächlich, am Grund des Korbs befand sich eine kleine Schatulle. Sie klappte das Schatzkästlein auf. Dort lag er, auf dunklem Samt, und glitzerte verführerisch, in lauterem Silber. Bastans Feenring.
Die Gesandte erlaubte sich ein karges Lächeln, während sie die ersehnte Beute an sich nahm. Ihr Herz, das allzu oft nur ein Eisklumpen war, schlug ein wenig schneller. Ein erneuter Blick zur angelehnten Tür. Niemand, der störte. Es wurde Zeit für den zweiten Teil des Plans. Sie zog einen Kriegsbolzen heraus, mit einer mehrkantigen Spitze, zog den Ring darüber und drehte ihn hinter der Tülle am Zain, dem Holzschaft fest. Wie sie erhofft hatte, war ihr der Eine auch jetzt gewogen. Alles fügte sich wunderbar zusammen. Schnell stapelte sie das Holz wieder über der leeren Schatulle auf, ungefähr so, wie sie es vorgefunden hatte.
Die Grauhaarige öffnete das Fenster und sah nur konturlose Dunkelheit. So ganz einleuchtend kam ihr die Idee nicht mehr vor, das Artefakt ein paar Dutzend Schritt nach draußen zu schießen, aus der Burg heraus. Um es später an sich zunehmen, ohne eine Durchsuchung am Tor fürchten zu müssen. Wer weiß, wo der „Ringpfeil“ landen und ob sie ihn überhaupt wiederfinden würde.
Die Wortfetzen draußen wurden stärker. Helle Stimmen hallten von den Wänden wider, gefolgt von mädchenhaftem Gekicher. Yasinthe Dengstein ließ den Bolzen mitsamt Ring im Köcher verschwinden, schloss die Fensterläden und eilte nach draußen. Sie würde ein besseren „Abschussplatz“ brauchen, merkte aber gerade, wie wenig sie über Burg Gernatsborn wusste. Was Wunder bei einer neu gebauten Feste. Sie wollte die Kerze gerade wieder an ihren Platz stellen, da kamen ihr auch schon zwei Mädchen des Gesindes entgegen. Die Dunkelhaarige war picklig und pummelig, die andere recht hübsch für ihr Alter, mit brünetten Zöpfen.
„Verzeihung...Ronia...Ronia Hagebusch?“ fragte die Hübschere der Beiden, die einen Blumenstrauß in Händen hielt, mitsamt Vase. Das Mädchen schlug scheu die Augen nieder.
„Ja, ja, die bin ich.“ Die Soldfrau versuchte gleichmütig zu klingen, während sie ihre Lichtquelle wieder befestigte. „Renia Hagewisch“, fügte sie hinzu, ein wenig zu hastig. Aber die halben Kinder sahen nicht so aus, als kannten sie den alten Verhörtrick, einen möglichen Spion zwecks Verwirrung mit falschen Namen anzureden.
„Verzeiht. Frau Jadvige sucht Euch. Jadvige von Kressenbrück. Die Hohe Dame klang, als wäre es sehr dringend.“
 
Besonders geschickt stellst Du dich ja nicht an, Yasinthe. Sei vorsichtig, das hier läuft nicht so glatt, wie es am Anfang ausgesehen haben mag.
Die Söldnerin trat hinaus auf den Burghof, die Armbrust lässig geschultert. Im Licht der Fackeln erwartete sie bereits Jadvige, die sich vor den Stallungen mit Roderick von Oppstein unterhalten hatte. Der Ritter würdigte die falsche Renia kaum eines Blickes, sondern eilte rasch weiter zur Unterkunft der Burgwache.
Stirnrunzelnd wandte sich die Kressenbrück in ihre Richtung. "Wo war sie die ganze Zeit?" Das klang barsch. Sie? Gerade eben hatte die Edelfrau sie noch gedutzt. "Sie sollte besser in meiner Nähe bleiben. Man kann sich in dieser Burg schnell verlaufen."
"Ich habe die Praiociosa in die Gemächer Seiner Gnaden gebracht", sagte Yasinthe, die fast schon körperlich spürte, wie sie sich wieder in "Renia Hagewisch" verwandelte: eine alternde Soldfrau auf der Suche nach einer behaglichen Unterkunft und einem bescheidenen Auskommen. "Verzeiht, aber ich habe Euch vorhin irgendwie aus den Augen verloren, Hohe Dame. Danach habe ich mich halt durchgefragt."
"Ich musste nach meinem Streitross sehen, das angeblich gelahmt hat", sagte Jadvige und schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum rechtfertigte sie sich hier gegenüber einer Niedergeborenen?
"Soll ich mal nachsehen? Ein bisschen kenne ich mich mit Pferden und Tierheilkunde aus", sagte Renia, mit vollkommener Unschuldsmiene.
"Mit Streitrössern kenne ich mich auch aus, glaub mir." Jadvige schien sich wieder zu beruhigen. "Bestens sogar. Es war eine Verwechslung des Stallburschen. Rodericks Pferd hat sich ein Steinchen eingetreten, heute beim Empfangskomitee." Dem Gesicht der Rittfrau war anzumerken, was sie über den jungen Oppsteiner dachte: Unser ewiger Pechvogel.
"Dann ist ja alles gut. Sagt an, wo kann ich nun mein Zicklein unterstellen, heute Nacht?"
Jadvige blickte fragend (aber das tat sie eigentlich schon den ganzen Abend).
"Meine treue Gefährtin." Renia klopfte auf die beiden seitlichen vorstehend "Hörner" am Schaft ihrer Armbrust, wo eigentlich der Geißfuß-Hebel angelegt wurde, zum Spannen. "Ich nenne sie auch meine Klackklack."
"Hm ja...Eine Sache ist mir dann doch noch nicht ganz klar...Du bist also heute früh von Beorwang hergekommen und weiter gen Gernatsau gewandert?"
"Ja, aber das hatten wir doch alles schon."
Renia nestelte mit der freien Hand an ihrem Schwertgehänge, das mittlerweile schon halb an ihrem Rücken hing, und ruckte es am Gürtel nach vorne. Dann zupfte die Tobrierin ein Stückchen Bausch ab, das von einer geflickten Stelle ihres Gambesons weg stand. Vom Söller her wehte süßlicher, leicht biederer Bardengesang heran. Vermischt mit munterem Stimmengewirr und den zarten, silbrigen Klängen eines Musikinstruments, dass die Söldnerin nicht recht einzuordnen vermochte: ein Hackbrett?
"Hm. Ich habe gerade eben mit einem der Fährleute gesprochen, der bei uns im Stall aushilft. An dich konnte er sich überhaupt nicht erinnern...nun, und ich glaube schon, dass du jemand bist, den man so schnell nicht vergisst."
Renia schluckte. Wie war das nun wieder gemeint? Verstohlen linste sie zum Tor. Dort standen zwei Wachen und blickten mit Wehrheimer Gelassenheit ins Halbdunkel des "Zwingers", die Hellebarden in Habachtstellung. Auch auf den Zinnen war Bewegung wahrzunehmen. So ohne weiteres würde sie nicht die Flucht ergreifen können.
"Ach ja. Eine unserer Gardistinnen hat sogar von dieser Blutkerbe gehört. Eine Wutzenwalderin. Sie meinte, die Kultstätte wäre schon vor längerer Zeit vernichtet worden. Von einigen echten Helden im Auftrag des Pflegers der Lande." Jadvige schlug langsam das Zeichen des Schwertes. "Es soll sich dabei in Wahrheit um ein Unheiligtum des Jenseitigen Mordbrenners gehandelt haben. Rondra steh uns bei gegen das Erzböse!"
Die Stoppelhaarige hob die Augenbrauen. "Korseibeiuns...Ist das wahr? Mir wurde versichert, in der Blutkerbe würden jede Menge herrliche Waffen zu finden sein. Mit denen man ein ganzes Banner ausrüsten könnte, für einen wahrhaft guten Kampf. Beim Schwarzen Prinz der Chimären! Mir hätte schon ein einziges unzerbrechliches Schwert genügt, bei meinem Verschleiß in den letzten Götterläufen." Renia versuchte ein entwaffnendes Lächeln.
"Wolltest du dir dort nicht den Segen deines Herren holen?" Leicht angewidert blickte Jadviga auf die krummen, fauligen oder fehlenden Zähne der Soldfrau: ein Makel, der im Fackellicht nicht länger verborgen war. Im Pferdestall schnaubte und stampfte es leise.
"Korgefällige Klingen sind ein Segen, in Zeiten wie diesen." Renia verbarg ihr schadhaftes Gebiss wieder.
"Nun, im Wutzenwaldischen erzählt man sich, dass die Waffen aus der Blutkerbe vergiftet waren. Das verfluchte Metall hat unheilbare, scheußliche Wunden geschlagen. Nennst du soetwas korgefällig?"
"Oh. Das wusste ich nicht", sagte Renia leichthin.
Jadvige blickte zu den Torwachen. Sollte sie die Tobrierin vorsichtshalber im Kerker übernachten lassen? Das Verlies war noch neu und blitzsauber – eine angenehmere Unterkunft als manche Herberge in der Warunkei. Storko mit dieser Angelegenheit zu behelligen, der Gedanke gefiel ihr ebensowenig wie diese Renia weiterhin unbeaufsichtigt in der Burg herumrennen zu lassen.
Du musst versuchen, irgendwie auf die Burgterrasse zu kommen. Dort kannst du den Ring über den Gernat schießen, und später heimlich an dich nehmen.
Renia stutzte. "Purpurzunge" begleitete sie schon seit den Goldenen Festtagen, die sie im Tempel des Götterkaisers verbracht hatte. Es war wie ein leises, sanftes Flüstern aus der Sternenbresche, das sie seither hörte. Ohne dass sie genau zu sagen vermochte, wer oder was da mit ihr sprach. Nur dass es sich anfühlte wie eine Zunge in ihrem Ohr. Ein durchaus sinnliches, wenn nicht sogar wollüstiges Gefühl...
Eine Zeitlang hatte sie befürchtet, wahnsinnig zu werden. Dass sie nun langsam anfing, mit sich selber zu sprechen oder Stimmen zu hören. Wie ein bleicher Tiefzwerg, der zu lange in den tiefsten Abgründen gekauert hatte, mit gespaltener Seele. Dann war sie ein klein wenig von Hochmut und Größenwahn ergriffen worden: Was, wenn ER selbst...nein, diese Ehre wäre zu groß gewesen, für eine kleine Dienerin des Allerhöchsten wie sie.
Aber was ihr "Purpurzunge" sagte, hatte bislang Sinn ergeben. Er wusste Dinge, die nur Sie wissen konnten. Seine Einflüsterungen waren überaus hilfreich. Sowohl die Beschattung des Praioten als auch der inszenierte Überfall der Goblins hatten sich bislang ausgezahlt.
Natürlich, Renia hätte von Anfang an zugeben können, von Hallingen her nach Schlotz gekommen zu sein. Allerdings hatte es bei Bausenberg Ärger mit ein paar streitsüchtigen Söldnern gegeben, am ersten der verfluchten, unheilbringenden Tage des Praios.
Die Geweihte hatte rasch für "Abkühlung" gesorgt, und das Pack in die Flucht geschlagen, mit Ausnahme dieser schweißtriefenden Armbrusterin. Mitten im Hochsommer war der echten Soldfrau das gehässige Grinsen in der Narbenfresse eingefroren. Wie aus dem Nichts war der erbarmungslose Eishauch des Güldenen Gottes heran geweht, der Gluthitze zum Trotz: Ein Frost, wie er sonst nur noch in einem gloranischen Unwinter zu spüren sein mochte. In Windeseile hatte sich die Söldnerin in gefrorenes Fleisch verwandelt, mit blauen Lippen, firnglänzender Haut und Eiszapfen unter dem Helm. Renia hatte einige Mühe gehabt, ihrer Gegnerin die Armbrust aus den starren, weißen Händen zu winden. Dabei waren einige Hautfetzen am Abzug kleben geblieben.
Renia war klug genug gewesen, mit der Plünderung der Toten zu warten, bis deren dampfender Körper wieder ein wenig aufgetaut war (der Helm hatte sich anfangs kein Haarbreit bewegen lassen). Der Spannhebel war durch die namenlose Kälte leider wertlos geworden, mit gebrochenen Nieten. Für die gerissene Sehne hatte sie schnell Ersatz gefunden. Wäre es klüger gewesen, Jadvige die Wahrheit zu sagen, was ihre Reiseroute anbelangte? Aber die Überlebenden würden plaudern, wenn nicht in Schlotz, dann doch in einer der Nachbarbaronien – und die Nachricht früher oder später ihren Weg an den Gernat finden.
"Hörst du mir überhaupt zu?" Tatsächlich, Jadvige hatte etwas gesagt, was nicht an ihren Geist gedrungen war.
"Gewiss, und ich danke Euch von Herzen, dass Ihr mir die Augen geöffnet habt. Gut, dass ich nun weiß, was es mit dieser Blutkerbe auf sich hatte. Um ein Haar wäre meine unsterbliche Seele da in eine niederhöllische Falle getappt..." Auch Renia schlug das Schwertzeichen, um zu beweisen, dass sie keine Dämonenbündlerin war.
"Und Beorwang?"
"Hieß das Dorf Beorwang, wo ich heute Morgen war? Oder war es doch Gernatsau? Verzeiht einer alten Kriegsreisenden wie mir. Aber ich kenne mich in eurer Gegend nicht aus. Die Namen sind wirklich verwirrend. Einer der Bauern, den ich in Hallingen getroffen habe, meinte, er wolle nach Beorwang...da dachte ich, das nächste Dorf hieße Beorwang. Und nicht Gernatsau."
"Schon gut. Für dein Wanderleben musst du dich vor Frau Travia rechtfertigen, nicht vor mir. Aber du hast dir ein weiches Bett verdient. Leider sind in der Zwischenzeit weitere Gäste eingetroffen. Sag den Wachen, sie sollen dich durchlassen...mein Angebot mit dem Quartier im Gasthaus steht noch. Die Heilige ist ja jetzt in Sicherheit.
Renia jubilierte innerlich. Wieder stand ER ihr zur Seite. Sie würde einfach mirnichtsdirnichts mit dem Feenring aus der Burg spazieren können? Ihre Mission schien wirklich nur eine bessere Fingerübung zu sein. Ein Kinderspiel.
Die Söldnerin wandte sich schon zum Burgtor, als sie ein scharfes Räuspern innehalten ließ.
"Deine Waffen bleiben allerdings hier. Die Armbrust, der Köcher und das Schwert."
"Hohe Herrin...?!"
"Nun. Du hast sicherlich schon vom Burgfrieden gehört. Der nicht nur auf einer Burg, sondern auch um ihre Mauern herum gilt." Jadvige verschränkte die Arme, und merkte, wie sie die Ungeduld befiel. Sie gab sich schon viel zu lange mit dieser Herumtreiberin ab. Einen Goblin in Goblinart, sprich hinterrücks, zu erschießen, war nun wahrlich keine besondere Heldentat.
"Niemals werde ich mich von meinem Zicklein und dem Schwert trennen."
"Du möchtest doch Mitglied der Burgwache werden?"
"Gewiss."
"Bis du den Eid auf den Burgfrieden geschworen hast, zählst du nicht zur Wache. Gernatsborn ist ein tsagefälliger Ort. Als Vertreterin Seiner Wohlgeboren ordne ich an, dass deine Waffen erst einmal verwahrt werden."
"Ich hoffe, eure Burgmannen und -Frauen sind weniger tsagefälig", sagte Renia, durchaus ein wenig frech. "Was, wenn die Goblins heute Nacht angreifen? Also lasst mich schnell den Eid schwören, in Kors Namen, auf dass mir rondrianische Gastung zuteilwerde."
"Das kann nur Herr Storko entscheiden, und der hat gerade..." Ohne Vorwarnung setzte ein warmer Sommerregen ein. Jadvige blinzelte in die Nässe. War das ein Zeichen der Travia, oder gar der Kormutter selbst?
Sie eilten in die Kapelle, die noch ungeweiht und eine Baustelle war. Renia versuchte fluchend die Armbrustsehne zu trocknen.
Drinnen war es kühler als auf dem Hof, der noch immer von der Praiosglut des Tages aufgeheizt war. Jadvige fröstelte. Ihr schien es, als griffe plötzlich eine schwarze, kalte Hand nach ihrer Seele. Die Ritterin konnte dieses Gefühl nicht recht deuten. Dunkler schien der Burghof auch geworden zu sein. Zürnten die Göttinnen ihr etwa, weil sie eine tapfere Veteranin derart ungastlich und ehrenrührig behandelte?
"Storko hat gerade Gäste". Jadvige strich ihr nasses Haar aus der Stirn zurück. "Gäste von Stand. Deine Vorstellung muss auf jeden Fall bis morgen warten. Die Waffen bekommst du zurück, wenn du vereidigt bist oder weiterziehst. Einen Platz im Stroh hätten wir noch, drüben im Stall. Wenn dir das lieber ist..."
"Wer sind denn all die hohen Herrschaften?" fragte Renia, scheinbar beiläufig.
"Besuch aus Schlotz. Die Vögtin und ihre Tochter sind auch da. Gerade eben ist noch ein berühmter Waldläufer eingetroffen, mit seinem Gehilfen..."
Renia lachte leise. "Ein berühmter Waldläufer? Verstehe, Firunsadel."
"Odilon Wildgrimm, der Schwarze Bär. War früher Baron in Gallys. Ein Meister mit dem Langbogen. Hat sogar mal das Kaiserliche Turnier zu Gareth gewonnen."
"Ehemaliger Baron von Gallys? Vielleicht kann ich ihn ja in die Stadt am Artemaberg begleiten. Dort scheint man um den Wert guter Schützen zu wissen."
"Du schätzt dich hoch ein, Korgesellin. Leider etwas zu hoch. Der Mann hat schon eigenhändig Oger erschlagen, an der Trollpforte. Nicht nur einen fliehenden Rotpelz niedergeschossen. Ich habe gehört, dass er kaum noch in Gallys weilt. Man sagt, er streift lieber durch die Wildnis und die Berge, mit einer hübschen Elfin. Ein paar ordentliche Langbögen auf unseren Zinnen, das wärs natürlich..."
"Für die Burgverteidigung, hohe Herrin? Da würde ich Euch schon Armbrüste empfehlen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Herr Odilon besser mit dem Kreuzbogen schießt als ich mit dem Langbogen..."
Jadvige ging achselzuckend nach draußen. Der Regen hatte längst aufgehört. Oben auf dem Söller, wo nun ein Baldachin aufgespannt war, schien der Praiosgeweihte eine regelrechte Predigt zu halten, im Licht der Kerzen.
"Du kannst ihn ja gerne herausfordern", sagte die Adelige amüsiert. "Er schießt mit deinem klackernden Zicklein, du mit Bavhano Braith, dem König der Bögen...Ich wette, du könntest nicht mal die Sehne auf das Eibenholz spannen. Also, wenn ich nun um deine Waffen bitten darf, Söldnerin? Und um eine Entscheidung, wo du heute übernachten möchtest..."
"Bei einem Wettbewerb in Altzoll habe ich mal blind ins Schwarze getroffen, mit Augenbinde."
"Natürlich hast du das. Mit Augenbinde ist jedes Ziel schwarz. Oder hast du einfach Richtung Schwarze Lande geschossen?"
"Hm, wenn ich bei einem Wettschießen gegen den Gallyser gewinnen würde. Ich mit meiner Armbrust, er mit seinem Bogen? Was wäre dann der Lohn?"
Jadvige schüttelte den Kopf, irritiert und erheitert zugleich: "Im Herbst soll es bei uns ein Turnier geben, zur Burgeinweihung. Da darfst du gerne antreten, bei den Schützen..."
Die Bardenmusik setzte wieder ein, wenn auch leiser als zuvor. Die Adelige blickte nach oben, wo die Stimmung eingetrübt zu sein schien, trotz (oder gerade wegen?) der mahnenden Worte Seiner Gnaden. Die Gespräche plätscherten lustlos dahin, so schien es. Herrschte auf dem Söller etwa Langeweile, unter den illustren Gästen?
Renia trat hinter Jadvige.
"Auf der anderen Seite des Gernat steht ein alter, krummer Weidenstumpf, der Burg genau gegenüber. Er ist tagsüber gar nicht zu übersehen. Die grünen Zweige sehen aus wie die Haare und der Bart eines Waldschrats. Wir haben heute Tote Mada, er dürfte jetzt also so gut wie unsichtbar sein. Ich wette, dass ich es dennoch schaffe, ihn mit mindestens drei von fünf Bolzen zu treffen. Das soll mir dieser berühmte Odilon erst einmal nachmachen. Ein Ziel treffen, dass er kaum sieht. Ich schieße natürlich zuerst. Bei Tageslicht zählen wir nach. Habe ich die Prüfung bestanden, nehmt ihr mich in die Garde auf. Übertreffe ich sogar Odilon, dann nimmt er mich mit nach Gallys. Meine Bedingungen..."
Die Ysilierin wunderte sich über sich selbst. Der tote Goblin heute war ein Glückstreffer gewesen, und im Grunde war sie eine ebenso lausige Schwertkämpferin. Als "Alchimistin" griff sie lieber auf zuverlässige Waffen zurück. Aber darum ging es in diesem Fall gar nicht. Die Armbrust war stark genug, um über den Gernat zu schießen. Niemand würde Fragen stellen, wenn die verrückte Söldnerin morgen ihre scheinbar sinnlos verschossenen Bolzen suchen musste.
"Die alte Weide? Stimmt, die müssen wir auch noch fällen, und das Gebüsch daneben roden...Viel zu gute Deckung für Heckenschützen". Jadvige war ehrlich erstaunt. "Du möchtest die Edelleute zu einem kleinen Spiel herausfordern? Lass dich warnen: Auch Gelächter kann schmerzhaft sein. Aber gut, wir können ja mal fragen, ob Herr Odilon sich darauf einlässt. Vorher gibst du mir aber dein Schwert. Das ist meine Bedingung. Und lass da oben mich sprechen..."

Später Abend des 5. Praios, am Ufer des Gernat
Tuvok wischte seinen Teller mit dem letzten Bissen Brot sauber, schob ihn sich in den Mund und spülte mit einem Becher frischem Apfelmost nach. Das Essen auf dem Land war weitaus besser als in Rommilys, fand er. Selbst das herzhaft duftende Bauernbrot schien geradewegs aus dem Dorfbackofen zu stammen.
Der Waidmann streckte seine Füße unter dem Tisch aus und ließ für den Moment Firun einen guten Mann sein. Gewiss, er vermisste schon jetzt den rauschenden, sattgrünen Wutzenwald. Das sanfte Flüstern und Knarren der Bäume, den Duft nach Moos und Waldmeister, den Anblick der "Kuppen" im Morgennebel.
Dennoch, der Barönliche Forstwart war lange genug in den dichten Wäldern und morastigen Auen am Gernat unterwegs gewesen, um die Annehmlichkeiten eines vollen Tellers, von trockenen Schuhen und eines behaglichen Strohbetts zu schätzen. Die Gästekammer im "Gerbaldsrast" war nicht voll belegt, so dass es ein recht angenehme Sommernacht werden würde, ohne viel Geschnarche und Gestank. Die Schwüle des Tages hatte ein wenig nachgelassen, vermutlich würde es bald regnen. Nein, er beneidete die hohen Herrschaften keineswegs, die da oben, eingesperrt in zugigen, engen Steinburgen, ihr Dasein fristen mussten: nur eine andere Art von Unfreiheit als die ihrer Hörigen und Grundholden.
Tuvoks Blick ging zur Dienstritterin Glyranas hinüber, deren Namen er für einen Moment vergessen hatte. Aus irgendeinem Grund unterhielt sich die stramme Rondrianerin mit einer schon etwas gealterten Söldnerin. Deren Armbrust lehnte neben einem großen Rucksack an der Wand.
Der Jäger lauschte dem Gespräch nicht wirklich – wie so viele Hofbedienstete war er es gewohnt, mit einem Ohr hin und mit dem anderen wegzuhören. Es wären ohnehin nur Wortfetzen zu verstehen gewesen. Die Korgesellin schien an einer Stelle oben auf der Burg interessiert zu sein. Merkwürdigerweise zog sie ihre Handschuhe nicht aus, auch bei dem Abendmahl und dem Bier nicht, das ihr die Rittfrau großherzig spendierte. Ah, jetzt: Sie zeigte der Befehligerin ihre Hand, an der ein kleiner Finger fehlte. Wollte sie die Adelige ernsthaft damit beeindrucken? Womöglich war die etwas abgerissen wirkende Frau nicht mal eine echte Veteranin. Wilddieben hackte man auch oft einen oder mehrere Finger ab, damit sie den Bogen nicht mehr spannen konnten. Vielleicht hatte die Frau zwangsläufig auf eine leichte Armbrust umsatteln müssen?
Tuvok hatte jedenfalls schon grausamer verstümmelte Invaliden gesehen. Gegen die blutgetränkte, vom Schlachtenlärm erfüllte Welt da draußen war der wilde Wutzenwald das reinste Tsaparadies gewesen, in all den Jahren seit dem Orkensturm. Er durfte sich über sein Amt wahrlich nicht beschweren.
Der Jäger merkte, wie sich der Kohl aus der Suppe in seinen Eingeweiden bemerkbar machte. Es war ein wunderbarer Praiosabend, eigentlich zu früh, um ins Bett zu sinken. Tuvok ließ seine Zeche ins Kerbholz schnitzen, und ging nach draußen, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Gernatsborn hatte sich in den letzten Jahren stark verändert - nicht nur, weil anstelle eines wehrhaften Gutshofs nun eine stattliche Burg an der Gernatsbeuge aufragte. Vor allem die Kupfergrube war tiefer und breiter geworden. Zum Glück rauchte der Hochofen an diesem Abend nicht, ebenso wenig wie die Kohlenmeiler am Waldrand. Das Sägewerk schien auch ganze Arbeit zu leisten. Der Wald war deutlich geschwunden, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Natürlich, die neue Burg brauchte Holz, sehr viel Holz. Die Dächer waren sogar mit Kupferschindeln gedeckt, die in der späten Abendsonne funkelten und glitzerten. Offenbar sollte das die Gefahr durch Brandgeschosse vermindern. Was hätte Nengarion zu alldem gesagt?
Leichter Wind kam auf und vertrieb die letzte Hitze des Tages. Am Bergfried begannen die aufgehängten Banner sacht zu wehen, in der blutroten Abendsonne. Ein Vogelschwarm schwirrte zu den Schlafplätzen im Wald, die letzte Taube kehrte auf die Burg zurück. Ein leises Quietschen lenkte seinen Blick nach oben, hinauf zum Wirtshausschild, das eine Kaiserkrone auf einem gemütlichen Stuhl zeigte.
Er beschloss, noch einmal zum Fluss hinüberzugehen, und die untergehende Sonne zu genießen, mit Blick auf die grüne Wand "seines" geliebten Wutzenwaldes. Der Uferbereich war schon ziemlich abgeholzt worden. Nur hie und da ragte noch eine einsame Weide oder Pappel auf. Rötlich glänzte die untergehende Sonne auf den Gernatwellen. In einiger Entfernung grasten die ersten Rehe auf den Wiesen.
Im Wasser pflatschte ein großer Fisch. Nicht weit davon entfernt saß eine späte Anglerin auf einem Baumstumpf: eine pausbäckige junge Frau mit brünetten Zöpfen in Bauerngewandung, die auf den ersten Blick ein bisschen thorwalisch aussah (zumindest so, wie sich Tuvok die Nordländer vorstellte).
Wie auch immer. Die Stille war atemberaubend. Im Vergleich zum lauten, lärmenden Rommilys war Gernatsborn ein firunsgefälliger Ort, zumindest, wenn er die Kupfergrube in seinem Rücken für einen Moment vergaß. Von Bergwerken hatte er bis auf weiteres genug. Und nun? Zurück ins Wirtshaus und sich langstrecken?

Mit halblauter, etwas brüchiger, aber doch wohlklingender Stimme begann die Frau zu singen:

He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Kamerad, heb Dich empor,
Bleibst Du hier bist Du ein Tor
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Ich habe dieses Leben satt
Will raus aus dieser großen Stadt
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz.

Tuvok runzelte die Stirn. Galt das etwa ihm? Zumindest entsprachen die Reime seiner Stimmung. Nein, er war wahrlich kein Schwerenöter, kein Lebemann wie dieser berüchtigte Adran von Oppstein oder – Travia bewahre – dieser neureiche Jodokus in seiner Brauerei in Rommilys. Andererseits, die Anglerin war durchaus hübsch und wohlgestalt zu nennen. Sie schien bei ihrem Gesang sogar verstohlen in seine Richtung zu schauen. Der Waidmann fühlte sich beschwingt, was nicht nur am Most lag.
Im "Schlotzer Lied" ging es ja wirklich um die Liebe und die Suche nach einem Gefährten.  Aus einer heiteren, mostseligen Laune heraus begann Tuvok zu singen, mit kehliger, rauer Stimme. Mit übertriebener Inbrunst stimmte er die einzige Strophe der Baroniehymne an, die ihm auf die Schnelle einfiel. Dabei reckte er beide Hände aus wie ein horasischer Opernsänger, um zu unterstreichen, dass die musikalische Einlage nicht allzu ernst gemeint war.

Dies stinkende Nest
Gibt mir den Rest
Ich bin hier nicht frei
Geld ist mir einerlei
ich brauch den Wutzenwald
und auch den Gernatstrand
Drum reite ich sehr bald
ins Schlotzerland.

Tatsächlich, die Brünette lachte herzhaft auf, wobei sie ihre schönen weißen Zähne zeigte: keine rahjagefällige Schönheit. Aber doch ein natürliches Bauernmädchen, das ihr Herz sicher am rechten Fleck hatte. Erfreut packte sie ihre Angel zusammen und schlenderte ihm entgegen, eine Madarite im Mundwinkel. Tuvok war ein bisschen überrumpelt. Sein Herz schlug schneller. Was bahnte sich da gerade an?
Die "Thorwalerin" zwinkerte ihm verschwörerisch zu und legte die Angel über ihre Schulter. Irgendwie schien sie an diesem Abend keinen einzigen Fisch gefangen zu haben. "Das war zwar ganz nicht die richtige Strophe...aber sie passt trotzdem".
"Haben wohl schlecht gebissen?" sagte Tuvok und deutete auf die Angel.  
"Ich würde sowieso keinen Fisch essen, den ich in der Nähe der Grube gefangen habe. Das Wasser ist doch längst vergiftet." Ein Schatten hatte sich auf die Stirn der jungen Frau gelegt. "Du bist also der schöne Ingalf. Ich muss sagen, du siehst nicht ganz so aus, wie ich dich mir vorgestellt habe."
Einen Moment verspürte Tuvok Enttäuschung. Natürlich, eine Verwechslung. Wie hatte er sich einbilden können, das Herz dieses Bauernkinds im Sturm erobern zu können? Der Jäger linste zur Burg. Es kam ihm vor, als stünde Ihre Hochgeboren Haldana schon oben auf den Zinnen und musterte die Szene kopfschüttelnd.
Er beschloss, die Situation noch einige Herzschläge lang auszukosten: "Wie meinst du das? Sehe ich nicht aus wie Ingalf? Oder bin ich einfach nicht hübsch genug?"
Seine Gegenüber lächelte verschmitzt. "So mein ichs nicht. Ich hab dich mir ein bisschen kräftiger vorgestellt... na egal." Sie nahm die Madarite aus dem Mund und warf sie ins Gras. "Jedenfalls bist du spät dran. Wir dachten schon, du hättest kalte Füße bekommen."
"Kalte Füße?"
"Muffensausen, ja."
Tuvok hob die Augenbrauen. Von einem Moment zum nächsten erwachte in ihm wieder der Schlotzer Forstwart. Streng genommen hätte er die Anglerin bereits nach ihrem Fischereirecht fragen müssen. Aber nachdem sie offenkundig keinen Fisch aus dem Gernat gezogen hatte, und das Gewässer hier gemeinfrei aussah, wollte er nicht kleinlich sein. Zumal er sich gerade auf dem Grund und Boden des Junkers von Gernatsborn-Mersingen befand.
"Vier Leute müssen wir auf jeden Fall sein, hat Burchert gesagt. Ich bin Gritta!" Sie reichte ihm neckisch die Hand hin, nur um sie im letzten Moment auszuschlagen und ein Handzeichen mit zwei Fingern zu zeigen, das wie umgedrehte Levthanshörner aussah: mit hochgereckten, gekrümmten kleinem Finger und Zeigefinger.
Aus einem Gefühl heraus wiederholte Tuvok die Geste. Gritta hatte wunderschöne Sommersprossen, gefällige Rundungen und duftete wie eine Blumenwiese. Offenbar steckten keinerlei amouröse Absichten hinter ihrer "Annäherung". Schade eigentlich. Dennoch, Tuvoks Jägerinstinkt (und Neugierde) war geweckt. Vor was sollte er Muffensausen haben? Zu welchem Zweck hatten sich vier Leute zu einem Treffen verabredet, bei dem man "kalte Füße" bekommen konnte? Zu einem erfrischenden Fußbad im Gernat wohl nicht...
Tuvok hegte bereits einen vagen Verdacht. Wilderei galt überall in der Vorsichel als lässliche Sünde.
"Hast du deine Holzkohle dabei?" fragte Gritta.
Er schüttelte den Kopf. Aha, die leidige Erfahrung und sein Instinkt hatten ihn wieder einmal nicht getäuscht. Vermutlich wollte Gritta mit ihren Komplizen Kaninchenschlingen auslegen oder dergleichen. Jedenfalls schien sich die Wilddiebin nicht daran zu stören, dass er nur ein Jagdmesser am Gürtel trug.
Gritta sah ihn noch vorwurfsvoller an. Was bist denn du für einer, schien ihr Blick sagen zu wollen.
"Wir sollten uns beeilen, die anderen warten schon" sagte sie und ging in Richtung Wald. Der Barönliche Forstwart folgte ihr. Würde seine Dienstherrin wirklich dort oben auf der Burg stehen, mit alles sehenden Augen, wie zuhause auf Burg Schlotz, dann bekäme sie nun sicherlich Schnappatmung. Dabei war Tuvok gerade in ihrem Sinne unterwegs. Ein kleiner Trampelpfad führte durchs dichte Unterholz. Einen Moment lang hatte Tuvok das Gefühl, wieder in den Wutzenwald zurückgekehrt zu sein. Da vorne waren auch schon "die Anderen".
Sie waren zu zweit, und trugen derbe Bauernkittel. Die Burschen schienen noch ziemlich jung zu sein. Wirkten eher wie Halbstarke, die sich zu irgendeinem Streich am Glückstag verabredet hatten. Sicherlich zählten sie und ihre Gefährtin noch keine zwanzig Lenze.
"Ich habe unseren Ingalf dabei" verkündete Gritta, scheinbar gut gelaunt. "Ingo, das ist Perchdan. Wir nennen dich Ingo, oder? Harger kennst du ja sicher schon, aus Sokramshain?"
Tuvok zuckte zusammen. Allerdings, es war ziemlich dunkel. Selbst die Gesichter von Perchdan und Harger waren im Schatten der Bäume kaum zu unterscheiden.
"Naja, kennen" sagte Harger, ein hoch aufgeschossener Kerl mit freundlicher, aber auch selbstbewusster Jünglingsstimme. "Ich glaube, wir haben uns mal zu Sonnwend getroffen. Deine Base ist die fesche Mirnhilda, nicht wahr? Deren Verlobter in der Märkischen Schlacht geblieben ist?! Richte ihr schöne Grüße aus...Mit der habe ich mal beim Erntefest in Wutzenbach getanzt. Ist aber ein paar Götterläufe her."
Tuvok nickte schicksalsergeben. Wenn Harger das sagte.
"Hör mir bloß auf mit Sonnwend" schimpfte Gritta los, die sich bereits Kohle ins Gesicht schmierte. "Am Sokramurshügel treffen sie sich gerade wieder. Zum Levthansfest, wie sie´s nennen. Ihr wisst ja wie das läuft. Einer der Blassen und Blaublütigen spielt den Gehörnten und besteigt irgendein dummes Bauernmädchen. Hinterher nennen sie's dann Vermählung mit dem Land, und alle freuen sich. Der Druide soll aus Gallys kommen, habe ich gehört. Irgendso ein alter Haindruide. Nicht mal der Tag stimmt. Ist ja schon mitten im Praiosmond. Über-Übermorgen sitzen sie dann alle wieder im Traviatempel und singen fromme Lieder, diese Heuchler..."
"Als Aves grub und Gylda spann, wo war denn da der Edelmann", sagte Perchdan vergnügt, der wohlbeleibt und untersetzt wirkte. Er hielt eine Fellmaske in Händen, stülpte sie sich über den Kopf und band sie fest. Was war denn das? Eine Wildschweinmaske, mit furchterregendem Gewaff. "Wilkommen bei den Wilden Keilern vom Wutzenwald" klang es dumpf zwischen den Hauern hervor. "Ist dein erster Ausflug mit uns Wutzen, habe ich gehört?" Der Bursche zog sich die Kapuze über die lockigen, verschwitzten Haare und einen Fellumhang über die Schultern. Der ganze Kerl roch oder besser gesagt stank jetzt nach Wildschwein.

Tuvok nickte erneut, auch wenn er diesen Mummenschanz nicht recht verstand. Damit würde Perchdan das Niederwild doch eher verscheuchen statt anlocken. Sah aus wie eine Verkleidung zum Firunsfest, von wegen Austreiben des Winterunholds...
Nun reichte ihm Gritta ein Stück Kohle. "Ingo ist kein Freund vieler Worte" erklärte seine Begleiterin, als wären sie beide schon seit Ewigkeiten beste Freunde. "Das ist auch gut so. Die Widderhörner schwatzen und schwatzen. Schwatzen, schnackseln und tanzen nackt ums Feuer. Wenn von den Pfaffen niemand hinguckt. Aber es geschieht nichts. Während diese verfluchten Mersingens den Heiligen Wald abholzen und den Leib der Sumu schänden. Jeden Tag reißen sie die Wunde der Erdmutter mehr auf. Dazu kommt der stinkende Rauch aus der Kupferschmiede, der alles vergiftet. Wie können sie es wagen! Sumu leidet, Sokramur leidet, der Wald stirbt, und alle feiern ein Fest?!"
"Den Tod vor Augen, frei von Furcht" sagte Harger. "So lautet der Mersinger Wahlspruch. Nur dass sie dem Wald den Tod bringen. Aber Furcht, die werden wir denen da oben schon beizeiten lehren."
Tuvok merkte, dass er der einzige in der Runde war, der wirklich eine Waffe trug, was ihn doch ein wenig beruhigte. Aber was hatte dieses Treffen wirklich zu bedeuten? Für gewöhnliche Wilderer schwangen die Drei ganz schön aufrührerische Reden. Nun, wenn er die ganze Wahrheit herausfinden wollte, dann musste er schon eine Weile mit den Wölfen heulen. Oder besser gesagt mit den Wutzen grunzen. Er rieb sich die Kohle ins Gesicht.
Lächelnd half Gritta mit ihrem Zeigefinger nach, an den Stellen, wo er schwer hinkam. Ihre Berührungen waren...schön. Spielte er auch deswegen dieses nächtliche Spiel mit? Sie reichte ihm einen Lappen, um sich die Hände zu reinigen. "Musst aufpassen, manche Büttel haben ein Auge für schwarzen Ruß an den Klamotten...Und jetzt Kapuze drüber."
Das Trio ging in Richtung Fluss. Ah, dort waren wohl die Jagdwaffen versteckt.
Hinter einem Gebüsch sah Tuvok zu seinem Erstaunen eine große, schwere Holzleiter, die mit einer Schnur an einem dicken Ast befestigt war. Der größere Teil der Kletterhilfe, die ziemlich lang und an der Landseite mit Eisenhaken versehen war, lag gut versteckt im Wasser. Offenbar sollte die Leiter nicht wegtreiben. Perchdan und Harger zogen, zerrten mit einiger Mühe am triefenden, haushohen Ungetüm. Es bewegte sich kaum von der Stelle. "Mach dich mal nützlich, Ingalf...Wenn du schon fast ´ne Stunde zu spät kommst."
Tuvok packte mit an. Das Ding war wirklich schwer wie ein Baumstamm. Mit Müh und Not wuchteten sie es ans Ufer. Nun sah der Jäger, dass die Standfüße mit eisernen, leicht angerosteten Dornen verziert waren. Tuvok brauchte eine Weile, bis er seine Atmung wieder beruhigt hatte. Was hatten seine "Gefährten" damit vor? Einen Bären erschlagen?
"Eine echte Sturmleiter", sagt Harger mit jugendlichem Stolz und pflückte irgendeine Wasserpflanze von der Sprosse.
"Jedenfalls ist sie sauschwer". Der dicke Perchdan schnaufte ordentlich und lüpfte seine Maske. "Heilige Sokramor, wie haben die das damals geschafft, das Riesentrumm von Schattenholz hierher zu schleppen?"
"Wenn die Leiter überhaupt vom Schattenholzer Turm stammt." Das kam von Gritta. "Gekämpft wurde doch überall, bei uns in Schlotz. Burchert war so klug, danach ein bisschen was beiseite zu schaffen. Auch wenn er Eisen nicht mag."
"Also bis zur Burg bekommen wir die Leiter nie." Harger schmierte sich ebenfalls sorgfältig Kohle ins Gesicht und wusch sich die Hände im Gernatwasser. "Schon gar nicht unbemerkt."
Gritta öffnete ein Gürteltäschchen und zog etwas hervor. Dann öffnete sich ihre Hand. Vier große Eicheln glänzten im letzten Tageslicht.
Harger schnaufte. Es klang verblüfft. "Gesegnete Eicheln?"
"Genau. Die wecken die Kraft der Wutzen in uns..."
Tuvok musste unter seiner Schminke grinsen. Gesegnete Eicheln? Das klang levthansgefällig.
Die vermeintlichen Wilderer kauten die Eicheln – mit überaus respektvollem Gesichtsausdruck, so schien es. Auch Tuvok nahm seinen Anteil. Er zog sich etwas in den Schatten zurück und steckte sich die Eichenfrucht in den Mund. Sie schmeckte bitter, nussig und ziemlich mehlig. Wohlschmeckend war sie schon mal nicht, aber was hatte er erwartet?
"Und nun?" fragte Harger, ein wenig verunsichert. "Ich habe noch nie eine von Burcherts Eicheln gegessen."
"Du hast Sonnwend eben noch nie bei den Wahren Dienern der Sokramur gefeiert" sagte Gritta fröhlich. "So wie es sich gehört, während der Graunächte. Und nicht zur gleichen Zeit wie die Praidioten."
"Ich schon", sagte Perchdan. "Hab sogar mal gesehen, wie die Dinger wirken. Da warens glaube ich Bucheckern. Es dauert ein wenig, bis die Wirkung einsetzt. Aber dann ist sie kaum noch aufzuhalten." Irgendetwas in der Stimme des Bauernburschen gefiel Tuvok nicht. War das Ehrfurcht, oder nur Furcht? Ein wenig besorgt klang es auf jeden Fall.
Überhaupt, was würde geschehen, wenn jetzt der echte Ingalf herbei spazieren würde, der sich eben ein wenig verspätet hatte. Einer gegen Drei? Laut den Wehrheimer Zahlen sollte man da eher den Rückzug antreten. Dennoch, er wollte wissen, was da geplant war. Was hatte es mit der Sturmleiter auf sich und was war das für eine merkwürdige Wegzehrung? Offenbar sollten die Eicheln besondere Kräfte wecken. Tuvok spürte noch keinerlei Wirkung.
"Ein paar Stunden haben wir auf jeden Fall Zeit", sagte Gritta beschwichtigend. "Weiße Sokramurier, ha, allein der Name ist schon lächerlich. Der Leib der Bergmutter ist schwarz. Also sind wir es auch." Das stimmte sogar. Ihr Gesicht war kohlrabenschwarz, als wäre sie die Tochter vom “Greif”, des ehemaligen Herolds von Gareth. Oder vom Schwarzen Elfen aus Unau. Oder herrschte der finstergesichtige Scharfrichter über Thalusa? Tuzak? Egal. Firunsgefällige Gegenden waren das allesamt keine, da unten in den heißen, sonnenverbrannten Südlanden.
 
Etwas in Grittas Stimme gefiel Tuvok nicht, gerade weil er sie anfangs ganz sympathisch gefunden hatte. Sie klang ein wenig zu schrill. Zu eifernd und verbohrt. Offenbar hatte er es hier nicht mit Wilddieben, sondern “echten” Sokramuriern zu tun. Was es nicht unbedingt besser machte.
Die Graunächte, so nannte manche Anhänger der "Alten Kulte" die Namenlosen Tage, die angeblich den Feen und Alten Göttern heilig waren und gebührend gefeiert werden mussten...Wenn niemand so genau wusste, wann die Lücke zwischen den Jahren begann oder endete,  beim letzten Sonnenlicht, beim ersten Praiosstrahl oder um Mitternacht? Dann konnte in den Augen der "Schwarzen Sokramurier" auch niemand mit Bestimmtheit sagen, ob der Jahreswechsel wirklich eine verfluchte, unheilige Zeit war, so nahe am Fest der Sonnenwende. Vor allem nicht, ob diese Zeit dem Dreizehnten schon vor seinem Sturz geweiht gewesen war - oder ob er sie in Wahrheit den "Alten Kulten" nicht einfach gestohlen hatte.
Also feierten manche Halbstarke "vom 31. bis zum 35. Rahja" einfach durch, auf ihre Weise: Nicht, um den Gott ohne Namen anzubeten, sondern um seine Macht auszutreiben. Manchmal nagelte die Meute lebende Gespensterkrähen an Scheunentore, damit deren Schreie das Böse vertreiben würden. Ein andermal vergrub sie lebende schwarze Katzen, verprügelte den Dorfdeppen oder jagte den Kindern mit wilden Verkleidungen Angst ein.
Auch den Erwachsenen spielten die Burschen und Mädel grausame Streiche. So langsam ahnte er, was Perchdans Ebermaske zu bedeuten hatte. Mit Schwarzsokramuriern legte sich kein Bauer ohne Not an. Wenn ihm nicht die Heustadel angezündet oder seine Kühe von der Weide getrieben werden sollten. “Das Böse" war nicht immer das Böse gewesen, sollte das närrische Treiben wohl bedeuten. Sondern ursprünglich ein Teil der ungebändigten Natur. Vielleicht sogar deren wahres Wesen. Bis es vom Namenlosen verdorben worden war.
Nun, Tuvok war kein Freund von Tierquälereien oder grobem Unfug. Aber in der Wildnis hatte "Gut" und "Böse" wirklich nicht dieselbe Bedeutung wie auf dem Marktplatz von Rommilys oder am behaglichen Kaminfeuer von Burg Schlotz.
"Wie kommen wir an den Wachen vorbei?" wollter Harger nun wissen.
"Heute ist Tote Mada", verkündete Gritta. "Regnen wird es wohl auch. Man kann gut am Ufer entlang waten, wo das Wasser nicht sehr tief ist. Wenn wir leise sind, werden sie uns schwerlich bemerken."
"Warum müssen wir die schwere Leiter überhaupt durch die Gegend schleppen?" maulte Perchdan.
"Hab ich ja schon gesagt. Es kann sein, dass einer der Unsrigen aus der Burg fliehen muss... Heute Nacht ist wohl irgendeine kleine Ablenkung geplant. Burchert weiß, was er tut."
"Ja, er schon" Harger grunzte verächtlich. "Nur wir wissen so gut wie nichts. Kleine Ablenkung? Einer von unseren Leuten? Na wunderbar. Ich würde schon gerne wissen, warum ich mir hier die Nacht um die Ohren schlage...und morgen früh vielleicht in Storkos Kerker aufwache? Heißt das, dass wir für jemand den Kopf hinhalten sollen, der wichtiger ist als wir? Was ist mit der Heilung von Sumus Wunde?"
"Sokramur selbst spricht mit Burchert. Manchmal spricht die Schwarze Göttin sogar aus seinem Mund. Das habe ich schon erlebt." Gritta klang nun wie ein trotziges Kind. "Was es heißt und was es nicht heißt, das weiß der Druide allein. Ebenso, wann endlich der große Regen fällt, und den ganzen Schmutz wegspült, von Sumus verschandeltem Antlitz..."
Tuvok wurde hellhörig. Großer Regen, der den Schmutz wegspült? Das hörte sich in seinen Ohren irgendwie nach "Grüner Wolke" an. Der Jäger spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten. Er war Barönlicher Forstwart, im Grunde konnte er jetzt schon die Tarnung abwischen und "Ihr seid verhaftet" rufen.
Er wollte etwas sagen, bekam aber nur ein tiefes Grunzen heraus.
"Ah, bei Ingo wirkt es schon." Perchdan griff nach einem dicken Ast und brach ihn fein säuberlich in der Mitte durch. Dem Geräusch nach war er nicht allzu morsch gewesen. Überhaupt waren Tuvoks Sinne jetzt ungemein geschärft. Dort hörte er das "Schuhu" einer Eule, dort das Knacken eines Rehtritts. Eine ganze Woge von Gerüchen brandete heran, nach feuchter Walderde, Kräutern, Pilzen, Blumen, Moos, Beeren, Rinde...und Aas. Nur mit dem Sehen klappte es nicht mehr ganz so gut. Allerdings war es jetzt endgültig Nacht geworden.
Tuvok fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Seine Gefährten offenbar auch. Sie packten die Leiter und huschten ohne besondere Anstrengung los.

Vorsichtig wateten sie am Ufer des Gernat entlang, im kalten Wasser. Das Gewicht spürten sie kaum, die Leiter schien wirklich federleicht zu sein. Ein paar Enten flatterten mit empörtem Quaken auf, das war alles. Im Dorf schienen sie bereits zu schlafen. Es war wie ein merkwürdiger Rausch, oder ein Traum. Ein Traum, in dem irgendwann Musik zu hören war, von der Burg herab, die durch flackerndes Kerzenlicht und Fackeln in magische Farben getaucht wurde. Stimmengewirr wehte herbei. Dort oben wurde hörbar gefeiert, offenbar mit Forelle und Kaninchenschlegeln, Met und Wein. Aber auch üblere Gerüche lagen in der Luft.
"Riechst du´s?" hörte er halblaut von den Zinnen. "Sind nur Wildschweine. Die schwimmen manchmal durch den Fluss, auf den Weg zu ihren Suhlplätzen."
Sie duckten sich an der steilen Böschung, waren aber vermutlich außer Sichtweite oder im Schatten verborgen. Toter Winkel und Tote Mada, was wollte man mehr.
Die Rotte schleifte ihre Last den Hang hinauf, was doch kräftezehrend war. Im nächsten Moment stand die Leiter schon an der Mauer und wurde vorsichtig eingehakt. Oben war es unangenehm hell, das Durcheinander der Stimmen, der Bardengesang und die Musik beinahe schon peinigend laut. Die Wildschweinnatur erlangte in Tuvok immer mehr die Oberhand. Der Jäger wusste kaum noch, wer er war, geschweige denn, was er hier eigentlich tat. Nur, dass es dort oben vielfältig nach Mensch roch, somit nach Gefahr. Noch irgendetwas anderes, Bedrohlicheres lag in der Luft. Plötzlich begann es zu regnen.
In jäher Panik schwamm er hinaus auf den Gernat, blieb an einer Untiefe stecken, wurde von einem vorbeitreibenden Ast gestreift. Er tastete durch sein Gesicht, überzeugt, dass es bereits von einem Wildschweinrüssel und mächtigen Hauern verunstaltet wurde. Aber dem war nicht der Fall. Tuvok paddelte und trieb durch die Nacht, bis er sich irgendwann in dichtem Schilf wiederfand. Einen Moment lang widerstand er der Versuchung, sich grunzend und quiekend im herrlichen Schlamm zu wälzen.
Es war jetzt stockdunkel. Mit letzter Anstrengung taumelte er ans Ufer, torkelte ein paar Dutzend Schritte durchs Unterholz in den Wald und blieb dann erschöpft liegen. Hexerei, das gerade eben musste Hexenwerk gewesen sein. Der Zauber schien die Wutzenkräfte, die er ihm geliehen hatte, nun wieder mit Zins und Zinseszins zurückzufordern. Tuvok fühlte sich matt und ausgelaugt. Vor allem war er völlig durchnässt. Die Blätter über ihm waren noch immer nass vom Regen, der schwer auf ihn herab tropfte. Also weiter. Feuchter Farn streifte ihm durchs Gesicht, Dornenranken und spitze Äste zerrten an seinem triefenden Jägerwams. Die Stiefel waren vollgesogen mit Wasser, die Sohlen hingen voller Schlammklumpen.
Wenn die Nacht nur nicht so dämonisch finster gewesen wäre. Tuvok hätte nicht einmal mehr sagen können, auf welcher Seite des Flusses er angetrieben worden war.
Ein flackerndes Licht zwischen den Baumstämmen wies dem zitternden Jäger den Weg. Ein Lagerfeuer, ja, das helle Glosen da vorne musste ein Lagerfeuer sein. Firun sei Dank! Rotgelbliche Funken flogen munter in Richtung der wenigen Sterne, die am Nachthimmel zu sehen waren.
Tuvok war erfahren genug, um sich mit klappernden Zähnen anzuschleichen. Drei Gestalten saßen um das wärmende Feuer. Ihre Haut wurde durch die Flammen rot gefärbt. Einer blickte ungefähr in seine Richtung. Einen Moment lang glaubte der Forstwart seine "Gefährten" wiedergefunden zu haben, denn das Gesicht zierten zwei klobige Wildschweinhauer. Perchdan? Nein, es waren keine Menschen, die dort kauerten. Ihr Pelz war schon von Natur aus rot gefärbt.
Tuvok roch den Goblin, der sich gerade von hinten anschlich, mehr, als dass er ihn hörte. Er griff nach seinem Messer, drehte sich in der gleichen Bewegung um. Da traf ihn auch schon ein harter Knüppelhieb an der Schläfe. Die lichtlose Nacht wurde zur vollkommenen Schwärze.

Nacht des 5. Praios, in Burg Gernatsborn
Glyrana stellte ihr Weinglas ab. Das Abendmahl hatte einen unerwarteten Verlauf genommen. Interessant fand sie, was sie über die Häuser Baernfarn und Oppstein erfahren hatte. Sie würde in ihrer nächsten Brieftaube Syrenia berichten müssen. Gerade was man ihr über Oppstein mitgeteilt hatte, passte vielleicht ganz gut zu ihren Plänen bezüglich dieser Baronie. Nun, sie würde eine Weile darüber nachdenken müssen.
Was anschließend für eine Unruhe aufgekommen war, als der Regen eingesetzt hatte… so ganz verstand sie es noch immer nicht. Aber, so dachte sie, sie würde darüber noch einmal mit Haldana reden müssen. Nun, vielleicht nicht mehr am gleichen Abend. Das Mahl war beendet, Die Gäste saßen noch bei einem Glas Wein oder Meth zusammen. Es war vermutlich schon nach der zehnten Stunde, ging auf die elfte Stunde zu. Vielleicht hätten sie an einem anderen Abend länger zusammen gesessen, aber die unruhige und unheimliche Stimmung hatte das Abendmahl kürzer ausfallen lassen. Nach dem Regen hingen noch Wolken am Himmel und schluckten auch das wenige Sternenlicht, das zuvor noch am Nachthimmel zu sehen gewesen war.
Glyrana blickte auf. Jadvige, ihre Ritterin, kam, mit einer Söldnerin im Schlepptau. War das nicht die Armbrustschützin, die dem Praiosgeweihten das Leben gerettet hatte? Was wollte Jadvige? Wenn sie zu so später Stunde noch störte, musste es etwas wichtiges sein.
“Hochgeboren!” grüßte die Ritterin militärisch vor Storko und seiner Gemahlin. Dann berichtete sie, was sie mit der Söldnerin Renia zum Burgherren führte.
Storko nickte. “Ich fasse also zusammen: Diese Armbrustschützin sucht eine Anstellung und kann sich entweder die Pfahlgarde oder die Gallyser Büttel vorstellen. Ist das so richtig? Und, ach ja, sie möchte ihr Können mit einem Wettschießen unter Beweis stellen?”
“Ja” nickte Jadvige. Mit einem Wettschießen gegen Odilon von Baernfarn, dem sein Ruf als guter Schütze vorauseilt. Ich schätze… sie verspricht sich eine besondere Ehre davon, trägt sie den Sieg davon… auch wenn das vorgeschlagene Ziel seltsam anmutet.”
“Nun, interessant” antwortete Storko. “Gute und zuverlässige Bewaffnete kann ich natürlich schon gebrauchen. Ich nehme an, Jadvige, du hast sie auf Herz und Nieren geprüft, wie man so sagt. Aber ich will nicht überstürzen. Und vor allem liegt es auch nicht an mir, zu entscheiden, ob mein geschätzter Gast aus den Gallyser Landen sich auf ein Wettschießen einlässt.”
“Sie hat, wie man hört, den Diener des Praios gerettet.” Odilon nutzte die Gelegenheit, da das Gespräch auf ihn kam, sich einzumischen. “Erzähle sie, wie war das genau?” erkundigte sich der alte Waldläufer weiter.
Alrik ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Er kannte Odilon, hatte mit ihm sogar Seite an Seite auf einer Mission nach Maraskan gefochten. Odilon war nicht für seine Standesdünkel bekannt. Odilons Worte hörten sich ungewöhnlich für ihn an. Er hätte erwartet, dass der alte Gallyser die Söldnerin duzte, aber nicht, dass er in der dritten Person Singular mit ihr sprach. Das war ungewöhnlich. Jemandem anderen, der Odilon nicht so gut kannte, wäre das jedoch nicht aufgefallen, da war Alrik, sich sicher.
“Ach, naja” Yasinthe versuchte, bescheiden zu wirken, in der Annahme, dass sie Odilon damit für sich einnehmen konnte. Ich war auf dem Weg hierher, oder vielmehr war ich ein wenig vom Weg hierher abgekommen. Habe mich irgendwie zwischen Gernatsau und Beorwang ein wenig verlaufen. Von einer Anhöhe aus bemerkte ich eine Bande Rotpelze, die seiner Hochwürden ans Leder wollten. Ihn überfallen. Seine Statuette hatten sie ja geraubt. Firun bi, was soll ich sagen, ich bin den Rotpelzen gefolgt und kam gerade noch rechtzeitig. Na, zum Glück waren die Rotpelze sprichwörtlich feige. Ein paar Schläge von einem unerwarteten Gegner, und sie sind getürmt. Einen habe ich noch erlegen können, mit meinem Zicklein.” Sie hob die Armbrust.
“Gut. Da scheint Seine Gnaden aber Glück gehabt zu haben. Sage sie, wie viele Rotpelze waren es?”
Ein wenig mit ihrer Heldentat glänzen, ohne dabei prahlend zu wirken, das war sicher ein gutes Rezept, um diesen alten Narren von Waldläufer zu umgarnen, dachte Yasinthe.
Auch Alrik war nachdenklich. Wenn Odilon auf so ungewohnte Weise mit der Söldnerin redete, so konnte das bedeuten, dass diese ihm nicht sympathisch war. Vielleicht sogar, dass er ihr misstraute? Das war möglich. Es war denkbar, das Odilon ihm so einen Hinweis geben wollte, den nur er und - vielleicht auch Timoin - verstehen konnten, da nur sie beide den alten Jäger näher kannten.
Mit ein wenig schauspielerischer Leistung fuhr Yasinthe scheinbar zählend über die Finger ihrer behandschuhten Hand. “Fünf. Fünf waren es.”
“Fünf. Gut. Zu zweit gegen fünf ist schon einmal eine Leistung. Hat Sie noch weitere Rotpelze gesehen? Kamen noch Goblins hinzu, zu dem Kampfplatz?” Immerhin stimmte die Anzahl der Rotpelze mit der Anzahl der von ihm und Timoin aufgefundenen Spuren überein.
“Nein.” Yasinthe zuckte, bescheiden wirkend, mit den Schultern.
Odilon hatte genug erfahren. Kein Goblin war der Söldnerin also gefolgt. Das hieß, Renia war gemeinsam mit dem Rotpelz unterwegs gewesen. Odilon war sich jetzt sicher, dass die Armbrusterin log, dass die ganze Geschichte, die sie zum Besten gab, nicht stimmte. Er konnte nicht abschätzen, was tatsächlich vorgefallen war oder vor allem, welche Pläne diese Renia verfolgte. Wenn sie den Kampf genutzt hatte, um die Seiten zu wechseln, vor dem Praioten zu glänzen und sich so einen Zugang in die Burg zu verschaffen? Um mit einem geweihten Fürsprecher eine gut besoldete Anstellung zu erhalten? Nun, das war immerhin möglich.
Aber die Söldnerin hatte gelogen.
“Ich… wäre auf der Suche nach einer Anstellung in einer gut besoldeten Truppe.” bestätigte die Söldnerin Odilons Vermutung. “Die Pfahlgarde hat einen guten Ruf, die Artemareiter ebenso. Daher wollte ich meine Fähigkeiten mit der Armbrust unter Beweis stellen. Herr Odilon, erweist mir die Ehre, gegen Euch schießen zu dürfen.” schmeichelte Yasinthe.
Odilon war unbeeindruckt. Auch das Lächeln, das die Söldnerin aufgesetzt hatte, überzeugte ihn nicht. “Sie muss wissen, ich bin ein alter Mann, Söldnerin. Meine Sehkraft lässt nach, meine Finger sind nicht mehr so ruhig wie früher. Ich weiß nicht, ob es ihr Ehre brächte, mich im Schießen zu besiegen. Auch wenn dem Herrn Firun ein Kräftemessen sicher mitunter gefällig wäre.”
“Eurem Bogen, Herr Odilon, sagt man nach, seine Pfeile träfen von selbst ins Ziel.”
“Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe Bavhano Braith nicht bei mir. Ich war auf einer Firungefälligen Pilgerfahrt, und nach dem firungefälligen Waidwerk darf man hierbei nichts als Axt und Messer mit sich führen. Den Bogen, den ich jetzt dabei habe, habe ich unterwegs selbst geschnitzt. Er ist ganz gut geraten, aber kein Vergleich mit Bavhano Bvaith.”
Yasinthe war ein wenig enttäuscht. Dem alten Jäger seinen Wunderbogen abzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, hätte sie zusätzlich gereizt.
“Wenn mir die Unterbrechung gestattet ist… was unterscheidet Euren Bavhano Braith von einem gewöhnlichen Bogen?” warf Storko interessiert ein.
“Bavhano Braith ist elfischer Machart. Der Unterschied ist, ein menschlicher Bogenbauer sucht nach einem Baum, der gut gewachsen für einen Bogen ist. Ein Elf lässt den Baum so wachsen, dass er perfekt ist. Keine Verästelung, keine ungewünschte Krümmung, keine Verhärtung, kein Schaden durch Käferbefall. Einfach ein Bogen, der aus dem perfekten Holz geschnitzt wurde, der absolut ruhig in der Hand liegt und absolut präzise schwingt.”
Storko nickte.
Yasinthe wurde ungeduldig. Geschichten über dieses Elfenpack interessierten sie nicht. “Ich würde folgenden Wetteinsatz vorschlagen. Treffe ich genauso viele Schüsse wie, Ihr, dann nimmt die Pfahlgarde mich auf. Treffe ich öfters als Ihr, dann werden es die Artemareiter.”
Odilon legte, scheinbar nachdenklich, die Hand an die Wange.
“Hmm, ein Wetteinsatz, den ich leider nicht leisten kann. Die Gardeobfrau der Artemareiter, Rauline Finkenschlag, entscheidet über die Aufnahme neuer Rekruten. Nicht ich. Nein, ich kann ihr keinen Wetteinsatz anbieten, den ich nicht halten kann.
“Nun, sicher, aber Ihr könnt mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen…”
“Ich soll eine zu Fuß kämpfende, korgläubige Armbrusterin für eine berittene, firungläubige Truppe mit Reiterbögen empfehlen? Nein.” Odilons Tonfall hatte etwas Endgültiges.
Wäre Yasinthe tatsächlich interessiert daran, den Armemareitern anzugehören, sie wäre jetzt enttäuscht. Aber sie wollte nur eine plausible Möglichkeit bekommen, ein paar Bolzen über die Mauer zu schießen. Sie musste den alten Waldläufer dazu bringen, auf das Wettschießen einzugehen, auch wenn der Alte wohl etwas verstockt schien. Von den Artemareitern und ihrem guten Ruf hatte sie nur gesprochen, um damit dem alten Gallyser zu schmeicheln.
“Gut, die Pfahlgarde ist mir auch recht. Die hat einen sehr guten Ruf, auch wenn sie noch nicht so lange besteht wie die Artemareiter.”
“Den hat sie tatsächlich. Und ich bin bestrebt, dass das auch immer so bleibt.” bestätigte Storko.
“Und dann soll ich, alter Mann, mit meinen schwächer werdenden Augen auf eine Weide schießen, die ich in der Finsternis noch nicht einmal sehen kann? Das wäre reiner Zufall, wenn ich etwas treffe.” Odilon blieb zögerlich. Natürlich hatte er sich schlechter dargestellt, als er war. Anders als beim Schwertkampf, bei dem ihm inzwischen die Reaktionsschnelligkeit und Kraft von einst ein Stück weit fehlte, hatte er in Sachen Treffsicherheit das gleiche scharfe Auge und die gleiche ruhige Hand wie früher. Aber das musste die Söldnerin ja nicht wissen. Was wollte diese Renia wirklich? Ihm kam das alles so absonderlich vor, dass er schon alleine deswegen nicht wirklich Lust hatte, sich auf ein Wettschießen einzulassen. Außerdem kannte er doch genug Tricks, mit denen bei den Korjüngern geschummelt wurde. Wenn es diese Renia von Anfang an vorgehabt hatte, irgendjemanden auf der Burg zu einem Schützenwettstreit zu fordern und dabei ein so ungewöhnliches Ziel vorschlug… wer sagte dann, dass die Söldnerin nicht zuvor einige Bolzen in die Weide geschossen hatte und jetzt einfach nur ihr Schüsse im Gernat versenken musste, um dennoch zu gewinnen? Irgendwie schien es ihm, als könnte Renia so etwas im Sinn haben.
“Wenn ihr ein Sieg bei einem Schützenwettstreit zur Ehre gereichen soll, dann sollten wir das unter Wettkampfbedingungen austragen. Meinetwegen morgen, bei Tageslicht. Wenn Junker Storko damit einverstanden ist. Es lässt sich bestimmt eine Schießbahn einrichten und eine Strohscheibe aufstellen. Aber jetzt aufs Geratewohl in die Dunkelheit zu schießen, das ist doch kein firungefälliger Schützenwettstreit. Dass ich da nicht treffe liegt auf der Hand, und somit wäre es kein Gewinn an Ehre für sie.”
Odilon dachte mehr darüber nach, was diese Renia denn tatsächlich wollte? In die Pfahlgarde aufgenommen werden? Ihre Treffsicherheit konnte sie auch so unter Beweis stellen, ohne ihn zu fordern. Und warum hatte sie so ein völlig ungeeignetes Ziel vorgeschlagen? Entweder, weil die Weide manipuliert war, oder, weil sie etwas völlig anderes plante, und jetzt eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver unternahm. Odilon konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er hatte sich nur dafür entschieden, einen Wettstreit nicht zu den Bedingungen, die Renia vorschlug, anzunehmen.
„Nun gut.“ beschied Storko mit einem Nicken. „Morgen bei Tageslicht. Das scheint auch mir tatsächlich der bessere Zeitpunkt für einen Schützenwettstreit. Dann können wir alle gemeinsam den Kontrahenten zusehen, auch die, die jetzt schon in ihre Schlaflager gegangen sind. Und die Pfahlgardisten, denen sie als Kamerad bald angehören will, können gleich ihre Fertigkeit bewundern. Es soll mir recht sein. Eines nur, Renia, muss sie wissen. Ich biete keinen Wetteinsatz an. Es mag ihr zur Ehre gereichen, wenn Sie gegen einen Schützen wie Odilon im Zweikampf besteht. Und Treffsicherheit ist tatsächlich eine der Fertigkeiten, die ich von meinen Pfahlgardisten erwarte. Allerdings nicht die einzige Fertigkeit. Insofern hat ihr Talent, das Sie uns morgen unter Beweis stellt, sicher Gewicht. Aber ich gebe ihr hier und jetzt kein Versprechen ab. Wenn ihr das genügt, dann freue ich mich, morgen zur Zehnten Stunde einen Wettkampf zu sehen.”
Yasinthe blieb nichts anderes übrig, als freundlich zu nicken und zuzustimmen, wollte sie ihre Tarnung nicht gefährden. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als auf morgen zu warten. Da sie ihre Armbrust mit den Bolzen auch erst dann wieder bekäme – sie würde ja jetzt im Gasthaus übernachten – blieb ihr keine andere Wahl. Sie konnte nur hoffen, dass niemand das Schächtelchen mit den Bolzen öffnete und den Ring fand.

Ismena von Oppstein stand auf und gähnte dezent hinter ihrem Fächer. "Aah, es ist spät geworden. Der Ritt durch den Wutzenwald war lang...Entschuldigt, werter Storko, werte Glyrana. Ich werde mich nun zurückziehen." Alborans Mutter strich ihr Festtagsgewand glatt und blickte in die Runde.
Sollte sie Adran warnen, vor der Intrige, die sich gerade in Rommilys (oder der Vorsichel) gegen ihn anzubahnen schien? Andererseits war sie auch vor solchen Ränken und Machtspielen ins Horasreich geflohen. Der Sohn Wisshards hatte die Saat der Zwietracht in die Familie getragen, in dem Moment, als er die Hochzeitsfeier seines Onkels gesprengt hatte. Ein gemeinsamer Erbe mit dem Herzogenhaus Berlinghân hätte der Baronie reiche Früchte gebracht. Statt diesen erstklassigen Traviabund zu nutzen, hatte sich der Oppsteiner Adel seit Adrans Rückkehr in tödlichem Hass bekriegt. Nur um mit ihm und Thahira zwei darpatische Landeier auf den Drachenthron zu hieven. Die Oppsteinerin merkte, dass sie noch einen großen Schluck Wein im Kelch hatte und trank aus. In diesem Moment fiel ihr ein alter Flüsterwitz ein: "Was ist unter Baron Adran nur aus Oppstein geworden? Ein Zwerch!" Mittlerweile war Thahira von Birkenbruch nicht einmal mehr Zwercher Landvögtin und ihre Familie bei Erlaucht Svantje in Ungnade gefallen. Die Gefahr war real, dass die brechende Birke auch die Oppsteiner Ähren zerdrücken würde.
"Eigentlich sind wir ja hier, um Alborans und Haldanas Verlobung bekannt zu geben, vor Zeugen", sagte Ismena freundlich. "Ich denke, der Heilige Hain der Jungen Göttin wäre dafür ein guter Ort. Morgen, wenn wir alle erfrischt und ausgeruht sind...Die Hochzeit darf dann gerne im Namen der Travia stattfinden", fügte sie hinzu, als sie Adginnas säuerliche Miene bemerkte.
Yasinthe spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg, obwohl oder gerade weil sie von der noblen Tischrunde schon wieder wie Luft behandelt wurde. Ismena war auf dem Weg ins Schlafgemach? Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar würde die Oppsteinerin vor dem Zubettgehen noch einmal nach dem Ring schauen.
"Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag!" Storko erhob sich galant, neben seinem prachtvollen Federbarett, das auf dem Tisch lag. Im arangefarbenen Kerzenlicht sah der Wehrvogt aus, als wäre er einem horasischen Prachtgemälde entsprungen. Auch mit seiner Gemahlin Glyrana schien es in den letzten Jahren stetig bergauf gegangen zu sein. Kaum zu glauben, dass der stolze Landjunker (Wehrvogt, Edler...) der gleiche Storko sein sollte, den ihre Schergen damals triefend nass aus der Grotte der Ersäuferin herbeigezerrt hatten: halb ertrunken, blutig geschlagen und besinnungslos. Bei Storko war die Gefahr gering, dass er sie hier und jetzt wieder erkennen würde.
"Frau Junkerin" wirkte derweil völlig geistesabwesend unter ihrer schwarzen Fransenfrisur. Wie damals, als die Mersingen überreichlich vom "Dunklen Trost" gekostet hatte. Auch bei Glyrana war es unwahrscheinlich, dass sie sich an Einzelheiten erinnern konnte. Die Dienerin des Dreizehnten hatte in weiser Voraussicht eine purpurne Maske getragen. Das blaublütige Opfertier von einst hatte sich gut gehalten, musste Yasinthe Dengstein zugeben, trotz des namenlosen Rauschmittels und der  vielen Schwangerschaften.
Ein Gurren lenkte Yasinthe ab. Waren das Tauben? Ja, irgendwo in der Nähe waren Tauben untergebracht, die irritiert waren ob der späten Störung. Dort drüben lag sogar eine kleine weiße Flaumfeder. Opfertiere unter sich...
Die Gesichter der meisten Adeligen wandten sich Ismena zu, die gerade mit ihren rot-goldenen Fächer in die Luft schlug. Das galt einer der Stechmücken, die, angelockt vom Licht, aus der Flussaue heranschwirrten.
Was hatte sie, die ysilische Unfreientochter, erwartet?  Auf dem Söller saß das übliche, arrogante, schnöselige Adelspack, wie sie es aus Tobrien und Darpatien zur Genüge kannte. Erst durch die Rückkehr des Bethaniers hatten die Blasshäutigen ein wenig von dem Ungemach erlitten, wie es sonst nur dem gemeinen Volk widerfuhr. Dessen Haut von Praios braun und bäurisch gefärbt wurde, bei der täglichen Plackerei, wie bei einem Brandmal. Nur der Herrscher der Herrscher behandelte alle Sterblichen gleich. ER unterschied die Menschen nicht nach adelig oder gemein, frei oder unfrei, arm oder reich, schön oder häßlich, wie all diese selbstgerechten Heuchler in ihren Burgen, Kontoren und Tempeln.
Yasinthe wollte gar nicht wissen, wie viele Frondienste und Abgaben allein dieser Protzbau dem Volk gekostet hatte. Geprasst und gebechert hatten die "von und zus" auch schon reichlich, wie die glasigen Blicke und roten Wangen verrieten. Storko verabschiedete die Jungfer formvollendet, mit angedeutetem Handkuss.
Die dahergelaufene Armbrusterin schien fast schon wieder vergessen zu sein. Nur ein junger Jägersbursche, der wohl der "Gehilfe" dieses Odilon war, musterte die Tobrierin ausgiebig. Aus irgendeinem Grund hatten es ihm Yasinthes Nagelschuhe besonders angetan. Der dunkelgelockte Jüngling schaute fragend (und ein wenig verständnislos) zu Odilon. "Sollten wir nicht...", begann der junge Mann, aber eine kaum merkliche Geste des Schwarzen Bären hieß ihn schweigen. Dort drüben, das mussten Alboran und Haldana sein. Golos Sohn versuchte mit seiner Verlobten zu turteln, aber die Schlotzerin schien nicht recht in Stimmung zu sein. Eine hübsche junge Frau, die im Halbschatten saß, war Yasinthe vollkommen unbekannt. Der Barde, der gerade pausierte und einen Becher Wein genoss, hatte tatsächlich ein Hackbrett dabei. Baron Alrik stand derweil an der Brüstung und stopfte sich seine Pfeife.
Praiodîn Xerber blickte als einziger wohlwollend in Yasinthes Richtung. Die Wirkung des "Trosts" schien bei ihren Wegbegleiter schon etwas nachgelassen zu haben. Damit waren sicher auch die Schmerzen zurückgekehrt. Ächzend schob der Lichtbringer sein verwundetes Bein hin und her. "Ich glaube, ich werde mich demnächst ebenfalls zurückziehen, zum Nachtgebet...die Heilige Praiociosa ist in Sicherheit?"
"Euer Gnaden, ich habe sie auf Euer Zimmer gebracht. Ganz, wie Ihr es angeordnet habt." Yasinthe verbeugte sich und achtete darauf, dass es die übrigen mitbekamen.
Ismena klappte ihren Fächer zusammen und entschwebte ins Haupthaus. Wieviel Vorsprung würde sie der Ysilierin geben? Die Dauer von ein paar "Praiosunsern" oder die ganze Nacht?
Odilon wandte sich wieder seiner Herausforderin zu. "Sie möge verzeihen, wir waren gerade etwas abgelenkt" sagte der alte Waldläufer mit bemühter Höflichkeit, die keinerlei Zweifel an der Rangfolge ließ. Oder an seinem Erstaunen, dass die Söldnerin noch immer auf der Terrasse weilte. "Sie ist also bereit für ein kleines Wettschießen. Morgen, bei Tageslicht...?"
"Es ist mir wirklich eine übergroße Ehre, Herr Odilon, gegen einen Meisterschützen wie Euch antreten zu dürfen. Auch wenn meine Dienste in Gallys nicht benötigt werden, wäre mir das Lohn genug. Aber die edlen Herren und Damen müssen mich ja nun für eine üble Prahlerin und Aufschneiderin halten, was das Nachtschießen betrifft. Eigentlich wollte ich Herrn Storko beweisen, dass ich über besondere Fähigkeiten verfüge, als seine künftige Gardistin. Dazu zählt auch die Kunst des Armbrustschießens bei vollkommener Dunkelheit."
Jadvige runzelte die Stirn. Sie hätte sich auf diesen Unsinn gar nicht erst einlassen dürfen. Was für eine peinliche Situation, auch für sie selbst. "Ist gut jetzt", sagte sie leise. "Du hast es gehört, die Herrschaften sind müde. Morgen, da kannst du dich nach Herzenslust blamieren."
"Nun. Mich würde schon interessieren, ob die Söldnerin eine würdige Gegnerin für unseren Odilon ist. Bevor wir vielleicht morgen unsere Zeit verschwenden. "
Alrik Tsalind von Friedwang hatte diese Worte gesprochen. Der Baron drehte sich halb um und musterte die Tobrierin aus seinem unverdeckten Auge. "So ein kleines Gauklerkunststückchen, warum denn eigentlich nicht, lieber Storko? Wenn mein Sohn demnächst Hochzeit feiert, vielleicht sogar auf dieser Burg.... Womöglich kann dann deine künftige Nachtwächterin... Frau äh..." Der Friedwanger deutete mit der Pfeife auf seine Gegenüber.
"Renia...Renia Hagewisch..."
Der spitzbärtige Baron ging zu einer Kerze und nutzte sie, um die Fuchskopf-Pfeife anzuzünden. Dann paffte er erst einmal ausgiebig. Kleine Nachtfalter flatterten aufgeregt im unsteten Licht und warfen merkwürdige Schatten auf den Stoff des Baldachins.
"Womöglich vermag Frau Hagewisch unsere Gäste dann mit einer kleinen Vorführung zu erheitern. In dieser benbukkulischen Finsternis stelle ich es mir schwer vor, auch nur das Burgtor zu treffen. Aber einen Baum, auf der anderen Seite des Gernat? Man lernt nie aus. Vielleicht erfährt selbst ein alter Nachtfuchs wie ich heute Abend noch etwas Neues."
Alriks Boltangesicht irritierte Yasinthe beinahe mehr als Odilons offene Zurückweisung. Alrik, der Lügenbaron. Dass es sich bei dem ergrauten Freiherren von Friedwang um einen Mondschatten handelte, war längst ein offenes Geheimnis. Als mehr oder weniger enttarnter Phexgeweihter würde er sich nicht mehr lange auf dem Steinbockthron halten können. Auch wenn der Abschied Seiner (gar nicht mal so) Hochgeboren sicher nebulös sein würde, wie es die Umstände seiner Machterschleichung gewesen waren. Gefiel "Alrik Tsalind von Friedwang" die Herausforderung des Schwarzen Bären, weil er selbst nur ein frecher Eindringling in der Welt des Adels war?
"Selemische Finsternis", sagte Yasinthe. "Halten zu Gnaden, aber es heißt selemische Finsternis. Selemische Finsternis - und benbukkulisches Durcheinander."
Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, versuchten sich mit Blicken abzuschätzen. Alrik lächelte, was vielleicht auch nur an der Pfeife in seinem Mundwinkel lag.
Ein schwarzer Schatten flatterte lautlos vorbei, wie ein übergroßer Schmetterling. Eine Fledermaus. War das nun ein Zeichen des Allerhöchsten? Oder des Heimlichen, dem der Fuchs von Friedwang diente?
"Wenn du es sagst. Wir sind gespannt, wie hoffentlich gleich deine Armbrust." Der Friedwanger vollführte eine einladende Geste. Auch Storko nickte, ein wenig überrumpelt.
Yasinthe deutete erneut eine Verbeugung an, als wäre sie eine Scharlatanin auf dem Marktplatz von Rommilys und trat gemessenen Schrittes an die Brüstung.
"Als erstes müssen sich die Augen des Schützen an die Dunkelheit gewöhnen. Löscht bitte die Kerzen."
"Aber wir haben sie doch gerade erst wieder angezündet..." Der Wehrvogt schüttelte unwirsch, aber auch  misstrauisch, den Kopf. Dann erschlug er eine aufdringliche Mücke an seinem Hals.
"Es müssen ja nicht alle sein." Yasinthe ließ den Mahlstrom ihrer Stimme wirken. Wenn sie etwas meisterlich beherrschte, dann nicht das Armbrustschießen. Sondern die Kunst, Menschen mittels namenloser Einflüsterung in ihren Bann zu ziehen. ER war heute Nacht auf dieser Burg anwesend, das konnte sie beinahe körperlich spüren.
Alrik behielt die Söldnerin genau im Auge. "Aber nicht, dass du dir jetzt im Dunklen heimlich Carlogblüten einwirfst oder dergleichen."
"Nicht doch. Ich gebe zu, dass ich eine hervorragende Nachtsicht habe. Aber das Kunststück hat wirklich nichts mit Wundermittelchen zu tun." Yasinthe stemmte die Waffe gegen ihren Unterleib und zog mit leisem Ächzen die Sehne das Brett hinauf über die Nuss.
Dann zeigte sie mit der behandschuhten Rechten auf einen der wenigen sichtbaren, matt funkelnden Sterne. "Das da ist der unverrückbare Losstern. Der bekanntlich anzeigt, wo Norden ist. Wir blicken also gerade Richtung Nordosten. Der kleine rote Wandelstern daneben ist übrigens Kor. Der Nordstern hat schon am Himmel geleuchtet, als die Weide noch zu sehen war. Ich habe mir seine Position im Vergleich zum Ziel genau eingeprägt, mit Hilfe des Armbrustbogens." Yasinthe kippte ihre Waffe ein wenig hin und her, als wolle sie damit Winkel und Abstände messen.
"Wahrlich. Der Sternenhimmel beweist uns, dass Praios Ordnung und Ebenmaß selbst in der Nacht über unsere Welt herrscht." Praiodîn lehnte sich zurück und vergaß für einen Moment seine Schmerzen (die er zuletzt mit einigen Schlucken Wein gedämpft hatte). Seine Gnaden schüttete aus einem Gürteltäschchen ein paar Praiosblumenkerne in die Handfläche und begann sie aufgeregt zu kauen.
Alrik lächelte füchsisch, erwiderte aber nichts.
"Ich werde fünf Bolzen abschießen", sagte Yasinthe. "Ich wette, dass mindestens drei davon treffen werden."
"Nun gut, es sind deine Pfeile". Das kam von Storko. Eigentlich war ihm die kleine Abrundung des Abends ganz recht. So würde sich die Tischgesellschaft nicht endlos hinziehen, nach der merkwürdigen Verstimmung durch den Windstoß.
Einer der Diener eilte mit einem Löschhütchen herbei und stülpte es nach und nach über die brennenden Dochte. Wenige Momente später vermischte sich der Geruch von Kerzenrauch mit dem Duft von Alriks Tabaksmischung.
Es wurde dunkler und dunkler auf dem Söller, bis nur noch eine Handvoll Kerzen leuchteten.
 
"Purpurzunge" kicherte in Yasinthes Kopf.
Sehr gut. Gerade eben habe ich ihnen die Lichtlein ausgeblasen. Nun sorgen sie bereits selbst für die Finsternis. Manche Menschen muss man gar nicht zum Glauben an den All-Einen bekehren. Nur dafür sorgen, dass sie das Namenlose in sich selbst wecken. Wer braucht schon das Licht, das uns blendet und davon abhält, die Welt so zu sehen, wie sie am Anbeginn der Zeit war. Ein Ort vollkommener Schwärze. Erst die Sterblichen verschmutzen sie mit ihrem Licht, mit ihren Fackeln, Öllampen, Spieglein und Kerzen. Was hat der alte Merwan geflucht, über all die neumodischen Straßenlaternen in Gareth und Rommilys. S i e   m a c h e n  j e t z t   d i e  N a c h t   z u m  T a g, hat er gejammert.
Yasinthe stand an der Brüstung und wartete darauf, dass sich ihre Augen nach und nach an die Dunkelheit gewöhnen würden. Aber die Finsternis wich nicht wirklich. Da war nur eine vage Ahnung, von etwas Feuchtem, Kühlen da draußen, inmitten der leicht schwülwarmen Sommernacht. Das musste der Gernat sein, auch wenn kein Glitzern zu sehen war und kein einziges Wellengekräusel. Es roch modrig. Linkerhand glaubte sie gedämpft das Quaken von Fröschen zu hören, ebenso das "Schuhu" einer Eule. Nur wenige Sterne blinkten am Himmel, der immer noch bewölkt zu sein schien. Auch wenn die Söldnerin nie ernsthaft vorgehabt hatte, bei diesem "Kunstschießen" zu glänzen, hätte sie sich die Bedingungen doch leichter vorgestellt. Da draußen war einfach nichts Greifbares. Nur Tintenschwärze, als hätte sich die lichtlose Sternenbresche bereits über das gesamte Firmament ausgebreitet. Vielleicht hätte ihr der Stahlbogen der Armbrust wirklich beim "Vermessen" des Himmels geholfen – aber selbst den sah sie kaum.
Ihre Hand glitt in den Köcher, tastete über die Bolzen und deren Spitzen. Am Bolzen mit Lanzettspitze, der als Harnischbrecher gedacht war, erspürte sie den Feenring.
Jeden Augenblick konnte Ismena auftauchen, und sie wütend des Diebstahls bezichtigen.
Yasinthe lud dennoch völlig entspannt ihre Armbrust und zielte ins Nichts. Eine Weile schien sie sich zu konzentrieren, vollkommen eins zu werden mit ihrer Waffe.
Ohne Vorwarnung stand Jadvige neben ihr und griff nach dem Bolzen. Die Dienstritterin hielt das Geschoss ins verbliebene Kerzenlicht: ein schmuckloser, dickleibiger Pfeil mit zwei Holzflügelchen. Die Adelige schien eine Art Freipfeil erwartet zu haben, eine dämonisch verfluchte (und verunzierte) Waffe aus der Blutkerbe. Zumindest blickte sie enttäuscht.
Yasinthe versicherte sich, dass der Ring sicher in der Gürteltasche lag, wo sie ihn heimlich hinein gesteckt hatte. Gleich neben den toten Flöhen der echten Söldnerin, die wie ihre Wirtin der namenlosen Kälte zum Opfer gefallen waren. Yasinthe hatte sie alle eingesammelt, vielleicht aus schwarzpurpurnem Humor, vielleicht als eine Art Trophäe. Für tote Gegner empfand sie nicht mehr als für zertretenes Ungeziefer.
"Ihr gestattet?" Die Tobrierin nahm den Bolzen wieder an sich und legte ihn auf. Dann trat sie erneut an die Brüstung. Mit dünnem Lächeln blickte sie zu der Leiter, die von außen gegen die Mauer des Söllers lehnte. Sie vermutete, dass mit deren Hilfe die Rüstlöcher geschlossen werden sollten, an denen das Baugerüst verankert worden war. Vermutlich war die Leiter schlichtweg vergessen worden. ER war in dieser Burg bei ihr, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Fast war es, als könne sie ein zweites Mal hören, was Purpurzunge zu ihr gesagt hatte, mit ruhiger, fast schon einschmeichelnder Stimme. Kurz bevor sie den Ring vom Bolzen gezogen hatte.
Die alten Aarmarier haben geglaubt, dass eine verirrte Seele, die weder den Weg in die Niederhöllen noch in eines der zwölfgöttlichen Paradiese findet, eine Weile im Feenfeuer zubringen muss. Ein Zwischenzustand, in dem für dieses Seelchen sowohl noch der Aufstieg gen Alveran als auch der endgültige Absturz ins Reich der Erzdämonen möglich ist. Nun, gewissermaßen befindest du dich jetzt in diesem reinigenden Feenfeuer, Yasinthe. Bei einem Erfolg erwartet dich das Paradies des Dreizehnten auf Dere. Oder aber, bei einem erneuten Misserfolg, ein klägliches Ende als formlose Masse im endlosen, grauen Wabern des Limbus. Dein Versagen, damals auf der Insel, hat Jene überaus bekümmert, die bereit sind, dem Höchsten aller Herrscher weit mehr zu opfern als nur einen klitzekleinen Finger. Immerhin, die niederen Aufträge, die du in den letzten Jahren ausführen durftest, hast du zu ihrer Zufriedenheit erfüllt. Sie sind daher bereit, dir eine Möglichkeit zur vollen Rehabilitation zu geben. Verzeih, dass wir dich nicht früher über deinen wahren Auftrag informiert haben. Oder besser gesagt, deinen vollständigen Auftrag. Sie waren der Meinung, dass dieser Teil der Wahrheit dich zu sehr beunruhigen und damit deine Tarnung gefährden würde. Nun, um ehrlich zu sein: Sie waren besorgt, dass dir auch diesem Fall dein Überleben wichtiger sein würde als der Erfolg deiner Mission. Ich habe mir erlaubt, ihnen in diesem Punkt zu widersprechen. Die wahre Ratte ist schlau genug, sich stets einen Fluchtweg offen zu halten. Du wirst nun  g e n a u   d a s  tun, was ich dir sage. Dann wirst du diese Nacht vielleicht überstehen..."
Yasinthe verspürte tiefes, inniges Glück. Zum ersten Mal seit langem war sie wieder mit sich und der Welt im Reinen. Es gab für sie also einen Weg zur Erlösung. ER war der Größte aller Götter.
Mit hasserfüllten Lächeln drehte sich die Söldnerin um, die Armbrust schussbereit erhoben, in einer Entfernung, in der sie ihr Ziel unmöglich verfehlen konnte.
"Tod allen Dienern der Tsa!" schrie die Ysilierin, eine Spur zu schrill. "Stirb, Mersinger Metzweib!"
 
Dann drückte sie ab.
 
Satinav, dessen Blick nicht an den natürlichen Fluss der Zeit gebunden ist, bot sich nun ein faszinierendes Schauspiel. Yasinthe betätigte den Abzug, der gerade noch den Rollverschluss der Armbrust blockiert hatte. Die Nuss rotierte und gab die Sehne frei, die wiederum den Bolzen mit Urgewalt auf sein Ziel katapultierte.
Glyranas Gesichtsausdruck hätte, in diesem Moment vollkommenen Erkennens, jedem cyclopäischen Bildhauer eine reizvolle Aufgabe gestellt. Dem Mund der Mersingerin entrang sich noch ein wilder Schrei, als auch schon der Mechanismus der Armbrust krachte.
Jadvige erkannte fast im gleichen Augenblick ihre eigene, unbegreifliche Torheit. Wie hatte sie nur in eine derart offenkundige Falle taumeln können? Die Ritterin warf sich in die Schussbahn, beide Hände erhoben, bereit, den tödlichen Bolzen abzufangen, der ihrer Herrin galt.
In diesem Bruchteil eines Herzschlags zerbrach der frostgeschädigte Stahlbogen in zwei Stücke. Der rechte Wurfarm wurde an der Sehne herumgeschleudert wie ein kleiner Morgenstern – ein Anblick, der einen Satinavschen Beobachter vielleicht auch an den Stachelschweif eines Mantikors erinnert hätte. Fast gleichzeitig bohrte sich ein silberner Wurfstern in Yasinthes Linke, die den Drücker betätigt hatte. Schmerzerfüllt öffnete die Geweihte beide Hände. Das davonfliegende Trümmerstück des Bogens zerschnitt das Leder über dem Stummel, der einmal ihr rechter kleiner Finger gewesen war.
Der Bolzen selbst hatte noch genügend Kraft, um auf dem Weg zu seinem Opfer eine völlig unbeteiligte kleine Gernatmücke zu erschlagen, zwei Nachtfalter ins Trudeln zu bringen und blutig durch die Narbe auf Jadviges linker Wange zu ritzen, als wolle er der Dienstritterin das Ogerkreuz ins Gesicht zeichnen. Mit Wucht schwirrte das nadelspitze Geschoss aufs Glyranas Stirn zu, schlug einen Fingerbreit daneben in die Lehne ihres Stuhls und durchtrennte dabei eine Strähne ihres wunderschönen, rabenschwarzen Haares.
Der abgebrochene Wurfarm schwirrte im gleichen Augenblick in die andere Richtung davon, durchsäbelte eine Kerze und warf einen der hölzernen Ständer um, die den Baldachin über der Terrasse stützten.
Der Himmel stürzte ein, so schien es zumindest.

Noch schneller als Jadvige, die sich die Hand erschrocken an die blutige Wange hielt, reagierte die junge Schlotzer Baronin. Das mochte einem Beobachter, so er ebenso unabhängig von der Zeit die rasch aufeinander folgenden Ereignisse wie unter einem Brennglas gleich vergrößert betrachten konnte, überraschen. Es mochte schlicht sein, dass Haldana, nachdem sie erneut von Golo heimgesucht worden war, besonders vorsichtig und angespannt war. Obwohl sie unbewaffnet war - wie alle, außer Jadvige, stürzte sie mit drei, vier schnellen Schritten auf die Attentäterin zu und hechtete nach dieser, während sich diese ihrerseits gerade über die Zinnen auf die noch nicht entfernte Bauleiter schwingen wollte. Sie bekam die Meuchlerin um die Hüften zu fassen, so dass diese einen Augenblick taumelte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Die Armbrust – ohnehin jetzt eine wertlose Waffe, glitt Yasinthe aus den Händen. Stattdessen griff sie nach der Sacktasche mit ihren Habseligkeiten, den sie immer noch über der Schulter trug – sie hatte ja noch vor wenigen Minuten sich darauf eingestellt, in das Gasthaus zu gehen – und zog ihn der Baronin mit einer Urgewalt über die linke, kahl rasierte Kopfhälfte.
Mehr als deutlich war nicht nur der dumpfe Aufschlag auf dem Schädel der Bardin zu hören, sondern auch ein schauriges Klirren wie von einer eingeworfenen Butzenglasscheibe.
Ein lautes, schrilles, hexenhaftes Kreischen gellte durch die Nacht. Ein trommelfellzerreißender, kreischender und langgezogener Schrei durchbrach die Stille. Ein Schrei, dessen Laut schwer zu verstehen war, und bei dem alle Anwesenden sich später nicht einigen konnten, ob „Frei!“ oder „Nein!“ gebrüllt worden war.
Einen Augenblick lang brauchte Haldana, um wieder zu sich zu kommen. Blut strömte ihr über die kahle Kopfhaut. Einen langen Augenblick, den Jadvige dazu nutzte, ihr Schwert zu ziehen und zur Mauer zu eilen. Einen Augenblick, den Yasinthe dazu nutzte, ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen und erneut zur Leiter zu hasten. Einen Augenblick, in dem Alboran erschrocken „Haldana!“ ausrief und der verletzten Freundin zu Hilfe eilen wollte. Einen Augenblick, in dem Storko aufsprang und sich mangels Schwert mit einem schweren Kerzenständer aus Messing bewaffnete, während Glyrana lautstark nach der Burgwache rief, einen Dolch unter dem Kleid hervor holte und beschloss, noch am gleichen Abend eine Brieftaube nach Gernatsquell zu schicken, um das benachbarte Gut vor namenlosen Umtrieben zu warnen, jedoch gemeinsam mit der Schlotzer Vögtin Adginna vorsichtshalber hinter einem schweren Lehnstuhl in Deckung ging und - bevor der schwere Leinenstoff des einstürzenden Baldachins Storko und die beiden Frauen unter sich begrub.
Einen Augenblick, in dem Timoin sich einen am Boden liegenden Stein aufhob und nach der flüchtenden Attentäterin warf, obwohl er sich fragte, wieso jemand, der noch am gleichen Tag einem Geweihten des Praios das Leben gerettet hatte, plötzlich zum hinterhältigen Meuchler mutieren konnte, während der Stein mit einem dumpfen Plopp der Meuchlerin ins Gesicht schlug.
Einen Augenblick, in dem als Letzter von allen Odilon reagierte. Das mochte überraschen, angesichts des Misstrauens, das er als einziger gegen die Armbrusterin gehegt hatte. Aber er war im Augenblick, da Yasinthe sich umgedreht und auf Glyrana angelegt hatte, abgelenkt. Vielleicht gerade wegen des Misstrauens, das er gegen die vermeintliche Renia gehegt hatte. Er hatte sich mit dem Gedanken beschäftigt, warum die Schützin das rötliche Gestirn neben dem Losstern, den er wie alle Jäger Firunsstern nannte, fälschlich als den Wandelstern Kor benannt hatte. Dabei war es doch eher eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Wandelsterne sich entlang der Ekliptik bewegten und niemals auch nur in die Nähe des Firunsternes kamen. Als Söldnerin, wenn diese Renia auch nur halbwegs wildniskundig war - und das war eigentlich anzunehmen – hätte sie das wissen müssen. Warum, so fragte sich Odilon, gab die Armbrusterin dann einen solchen Mumpitz von sich? Und, was für ein rötliches Gestirn, der kein Fixstern war, da er eben erst an diesem Abend am nächtlichen Himmel sichtbar geworden war. Dies konnte doch nur ein unbekannter Komet am Himmel sein, dachte Odilon. Hoffentlich keiner, der Unheil bringt. Oder hatte er genau das schon getan?
Und noch vier Dinge geschahen in diesem von Satinav ausgedehnten Augenblick. Als erstes fiel eine kaputte Armbrust zu Boden. Als zweites schlug eine Sacktasche auf den Mauersteinen der Burgmauer auf, öffnete sich, und ließ Scherben eines zerbrochenen Spiegels auf den Wehrgang fallen. Als drittes trallerte ein zu Boden gefallener Schneidezahn Yasinthes, ausgeschlagen durch den von Timoin geworfenen Stein, umher, und kam schließlich zum Liegen. Und als viertes fiel ein Ledertäschchen, das durch Haldanas Angriff vom Gürtel der Söldnerin gerissen worden war, über die Mauer der Burg in die Tiefe, öffnete sich im Fallen und gab einen Ring frei, der auf dem grasigen, teils auch steinigen Untergrund vor der Burgmauer aufschlug und in Richtung des Flusses davon kullerte.

Yasinthe sprang, am unteren Ende der Leiter angekommen, in den Gernat und verschwand mit der Strömung in der finsterschwarzen Nacht.