1. Kapitel
Erstes Kapitel
Die Diagnose des Medikus
"Was soll das jetzt heißen - Quarantäne?"
Alrik ruckte in seinem Bett hoch, so heftig, dass eine kleine Gänsefeder von der Decke nach oben wirbelte.
Ein wunderbares darpatisches Daunenbett, natürlich nur von lebend gerupften Gänsen. Dennoch war dem hochgeborenen Baron von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck gerade ziemlich unbehaglich zumute. Er schnaufte, zog sich die Schlafmütze vom Kopf und griff nach dem Becher mit dem Trollzacker Rotwein. Er trank ein paar Schlucke, wischte sich den Rebensaft aus dem Viertagebart, stellte den Glaskelch zurück auf den Nachttisch, und versuchte dabei, möglichst nicht auf seine Hände zu schauen.
Buntes Licht drang in die Stube, aus den blau-rot-goldenen Butzenglasscheiben der Fensterchen, die das in gleicher Farbe leuchtende Steinbockwappen seiner Baronie zierte. Von draußen drang der Lärm des geschäftigen Rommilys herein, das Klappern der Wagen, das Rufen der Straßenhändler, das Quieken der Schweine und Blöken der Rindviecher, die zum Markt getrieben wurden.
Staub schwebte in der Luft, und erinnerte den Diener des Heimlichen entfernt an einen Sternenhimmel. Aber es war heller Nachmittag, Praios Schild stand hoch über der markgräflichen Residenzstadt Rommilys. Im Praiosschein stand Doctor Korwid Alfengrund, der Medicus, in seiner ganzen Pracht und kramte umständlich in einer schweren Ledertasche, die vor ihm auf dem Tisch stand. Neben einem kleinen Messer und der irdenen Schale mit Blut. Seinem, Alriks Blut.
Ein Außenstehender hätte die Szene leicht für irgendein finsteres Ritual halten können. Der Medicus trug einen wallenden, dunklen Knöpfmantel und eine Kopfhaube, vor die er sich eine Storchenmaske gebunden hatte. Der zarte Duft nach Kräutern lag in der Luft: Kräuter, die sich Korwid in den Schnabel gestopft hatte, um die schlechten Ausdünstungen zu vertreiben.
Alriks Ausdünstungen, um genau zu sein. Medicus? Pestarzt traf es wohl eher. Schon der Name passte mehr zu einem Borongeweihten als zu einem Perainejünger. Corvus hieß so viel wie der Rabe - wenn Alriks Bosparano ihn gerade nicht in Stich ließ.
Womöglich verdankte der "Doctor" seinen Namen auch Kor, dem blutfordernden Sohn der Rondra. Nach allem, was Alrik von ihm gehört hatte, hatte der Rommilyser sich die letzten Götterläufe als Feldscher herumgetrieben, auf den unzähligen Schlachtfeldern der Wildermark. Blut hatte es ihm jedenfalls angetan. Ein Vampir hätte dem Baron kaum weniger Lebenssaft gekostet, wie der "Heiler" gerade eben beim Aderlass. Der vierte in zwei Tagen.
Der Baron von Friedwang fühlte sich alt, ganz besonders an Tagen wie diesen. War er das wirklich? Sicher, er näherte sich rapide dem fünfzigsten Tsafest, die Haare wurden langsam grau, die Bewegungen langsamer, träger. Aber war er deswegen schon ein Greis? Alrik musterte den grünen Baldachin des Himmelbetts, den Wandteppich mit dem Einhorn und dem Auerochsen. Dann wieder Medicus Alfengrund.
"Ist das nicht alles ein klein wenig übertrieben? Ich fühle mich bestens." Ein nervöser Husten strafte Alriks Worte Lügen. "Überhaupt, dieser Mummenschanz, ist das Euer Ernst? Wo kriegt man so was eigentlich her?"
Doctor Korwid murmelte etwas Unverständliches. Dann zog er einen kleinen Spiegel hervor und näherte sich dem Bett, wo er in etwa anderthalb Schritt Abstand stehen blieb. Dort, wo er den roten Kreidestrich auf die knarrenden Holzbohlen gezeichnet hatte, wie bei einem Bannkreis.
"Ich zeige es Euch noch ein letztes Mal, Euer Hochgeboren" klang es dumpf unter der Schnabelmaske. Selbst die Augen waren hinter Glasscheiben verborgen: eine Art Brille, die Doctor Korwid fast schon etwas Dämonisches gab. Es roch nach Minze, Rosenwasser, Harz und einigen anderen würzigen Kräutlein, die Alrik nicht kannte. Korwid hantierte mit dem Spiegel herum, was den Baron blendete - zumindest das linke Auge, das nicht von einer Samtklappe verborgen war. Eine kleine Marotte des Friedwangs: Auf diese Art glaubte der Streunerbaron, die Sehkraft seiner Augen zu stärken. Außerdem erleichterte ihm die Klappe das Werfen gewisser kleiner Klingen und Sterne.
Derzeit hatte er andere Sorgen. Erneut sah er die blassen, erbsengroßen, teilweise zartrosafarbenen Pusteln, die sein ganzes Gesicht verunstalteten.
Alrik zwang sich zu einem schiefen Grinsen. Nun blickte er doch auf seine Hände, die ebenfalls mit grässlichen Pocken übersät waren. Wie der gesamte übrige Körper.
"Wir laaagen vor Maraskaaan", summte er. "Und hatten die Pocken an Booord...."
Maraskan. Für einen Moment kehrten Erinnerungen zurück. Wie lange war das nun her? Die gefahrvolle Queste zur Käferinsel, geradewegs in die Schwarzen Lande. Auf der Suche nach dem Grab seines Großvaters. Er sah den grünen, dampfenden Dschungel vor sich, hellen Sandstrand und türkisblaues, funkelndes Meer. Ein paar Herzschlag lang glaubte er die Wellen rauschen zu hören und das Geschnatter bunter Vögel in den Bäumen. D a s waren noch Zeiten gewesen. Gunelde, seine heilkundige Schwester, die hätte er jetzt gerne bei sich gehabt. Nicht diesen Quacksalber.
"Beim Heiligen Therbun, das ist wahrlich kein Anlass für Scherze" sagte der "Storch", und wich wieder einen Schritt zurück. "Peraine steh uns bei! Noch ist es zu früh für eine genaue Diagnosis, aber ich möchte, ich kann leider nicht ausschließen..." Korwid hüstelte unter seiner Maske. "Es scheinen wirklich die Zorganpocken zu sein", hauchte der Arzt. "Was das für Rommilys und die Mark bedeutet, bedeuten könnte, das brauche ich Euch ja wohl nicht zu sagen. Bei der Hüterin des Lebens, das Gerücht allein würde genügen, um eine Panik auszulösen."
Alrik winkte ab, scheinbar gleichmütig. "Vielleicht ist es ja die Duglumspest?!"
"Herr Baron! Versündigt Euch nicht!"
"Ach was!" Der Friedwang ließ sich wieder auf das Federbett sinken. Er fühlte sich matt und abgeschlafft, was sicher nur an dem verdammten Aderlass lag. Sein Hals war ein wenig belegt, dass stimmte schon. Mit dem Finger weitete er den Rüschenkragen. Und versuchte, nicht an Juckreiz zu denken. Der laut Medicus aber erst später einsetzen würde.
Der Baron von Friedwang griff wieder nach dem Wein, schlürfte daran. Verschluckte sich. Hustete. Krankheiten, damit hatte er nie Probleme gehabt. Der Brabaker Schweiß war damals allgegenwärtig gewesen, in den schwülheißen Mysobsümpfen. Nie war er ernsthaft erkrankt. Jedenfalls nie mehr, nachdem er die Weihen zum Mondschatten erhalten hatte. Er, der Nachtfuchs von Brabak.
"Die Zorganpocken? Macht Euch nicht lächerlich. Ich sage euch, es lag allein an diesem Gebräu im Phexens Finger. Ein Ausschlag, vermutlich, mehr nicht."
Maraskan... Maraskan… Der Name der fernen Perlenmeerinsel schwirrte noch immer in seinem Kopf herum. Hatte er bereits das Fieber? Aber er fühlte sich angenehm leicht bei diesem Gedanken. Maraskan, das klang nach Freiheit, Ungezwungenheit, Abenteuer. Und nach Gold, sehr viel Gold. Sollte nicht Rinde ein Heilmittel sein, gegen die Seuche? Rinde von einem Baum, der nur auf der Käferinsel wuchs?
„Ihr ward - drüben im Katzloch?" Der Medicus klang noch nervöser, als er es eh schon war. „Verdammter Unglücksvogel.“
"Vorgestern, ja. Da war ich ja auch noch ein freier Mann" ächzte Alrik. "Ist ja nur einen Katzensprung entfernt. Licht und Schatten liegen eng beieinander, auch in Rommilys."
Er deutete mit dem verbundenen Arm auf sein Gegenüber. "Ihr solltet in diesem Aufzug nicht durch die Stadt laufen. Damit würdet I h r eine Massenpanik auslösen."
Der Storch verstaute den Spiegel wieder in seiner Tasche. "Ihr wisst, was die übliche Vorgehensweise bei einem derart schwerwiegenden Verdacht ist. Die sofortige Verbannung aus der Stadt. Mit anschließender strikter Isolation… an einem..." - ein Räuspern - "An einem geeigneten Ort."
"Ich bin Baron des Reiches. Und ich werde Euch nicht schlecht bezahlen."
"Deswegen bin ich geneigt, die Sache diskret zu behandeln", sagte Korwid. "Natürlich auch, um eine Beunruhigung der Bevölkerung zu vermeiden. 13 Tage. Solange dauert es, bis diese wahrhaft namenlose Seuche überstanden ist. Mit Hilfe der Gütigen Herrin. Die Sterne stehen günstig, immerhin. Wir werden Gulmondtee benötigen und Xordaiabsud, um Eure Pocken damit zu bestreichen. Und natürlich eine regelmäßige Derivatio, um möglichst viel der bösen Säfte aus Eurem Leib zu bekommen. Vielleicht vermögen wir so das Schlimmste zu verhindern."
Täuschte Alrik sich, oder hörte er eine merkwürdige Faszination aus der Stimme des Maskenmanns heraus? Allzu oft hatte der Medicus sicher nicht mit den Zorganpocken zu tun gehabt. Alrik selbst allerdings auch nicht.
Einen Moment lang griff eine eisige Hand nach seinem Herz. Kalte Angst machte sich in ihm breit. Die Namenlose Pest. Wer sie überlebte, war für gewöhnlich ein Leben lang gezeichnet. In der Zeit der Erbfolgekriege hatte sie auch in Friedwang gewütet.
Verdammt, er war doch ein Phexenskind. Vom Glück verwöhnt. Ein Mondschatten. Und jetzt sowas! Hatte sich der Heimliche von ihm abgewandt? Er wollte nicht wochenlang aussehen wie ein Streuselkuchen, Blumenkohl - oder das zerfurchte Madamal. Schon gar nicht ein Leben lang mit einer Orkfresse herumlaufen, wie diese Blanca von Rabenmund, mit der einer seiner Vorfahren verheiratet gewesen war. Die Pockennarbige. Manche behaupteten, dass sie durch ihr entstelltes Gesicht wahnsinnig geworden war. Alriks Blick ging zu dem schmiedeisernen Kandelaber neben dem Bett, auf dem zart duftende Wachskerzen steckten. Am Ende war ein Kronleuchter auf das verschandelte Haupt der intriganten, mordlüsternen Rabenmund gefallen. Sicher nicht zufällig.
Wunderbar. Er würde sämtliche Spiegel aus Schloss Friedstein verbannen müssen.
"13 Tage" wiederholte Korwid feierlich. "Und ich habe danach etwas gut bei Euch, H e r r B a r o n."
"An wieviel Duckern denkt Ihr da genau?" Alrik lächelte verächtlich. "Zusätzlich zu Eurer üblichen Rechnung, meine ich?"
"Eine Hand wäscht die andere", sagte der Doctor ausweichend, fast schon etwas verlegen.
"Bei einem Medicus sicher anzuraten. Aber ich verstehe… Beziehungen muss man pflegen."
"Es hilft alles nichts. So leid es mir tut, ich werde Euch jetzt zwei, besser drei Wochen unter strengste Quarantäne stellen müssen. Ihr habt Glück, Eure Tür hat sogar ein echtes Katzloch". Korwid deutete auf die Klappe. "Damit kann euch die Dienerschaft in der nächsten Zeit mit den Nötigsten versorgen".
"Da passt doch nicht mal ein Nachttopf durch", höhnte Alrik. "Ich lasse mich hier nicht lebend einmauern, nicht auf einen bloßen Verdacht hin."
Der Medicus zückte Feuerstein, Stahl und Zunder und entzündete eine Kerze.
"Mit meinem Schweigen gehe ich weit über das übliche Verfahren hinaus, sehr weit sogar. Ich warne Euch, niemand außer mir darf diesen Raum betreten, bis ich es wieder gestatte. Ich werde ihn versiegeln. Eure Diener solltet Ihr ebenfalls gut bezahlen, damit sie nicht zu viel plaudern. Nicht jeder in dieser Stadt hat so viel Perainevertrauen wie ich." Korwid setzte sich sein schwarzes Barett auf, das eine grüne Feder zierte. Seine behandschuhte Linke griff nach der Schale mit dem barönlichen Blut, die Rechte nach der Arzttasche. "Phexens Finger, was habt Ihr Euch dabei gedacht? Die Elendsquartiere wo die Götterverfluchten hausen?"
"Wie Ihr schon sagtet: Beziehungen muss man pflegen. In die eine wie die andere Richtung". Alrik grinste noch schiefer. "Den Kalifen des Tulamidenlandes sagt man ja auch nach, sich ab und zu inkognito unters gemeine Volk zu mischen."
Der Baron zwirbelte sich versonnen den Spitzbart, der inmitten der übrigen Bartstoppeln wuchs. Der Doctor brauchte wahrlich nicht zu wissen, dass er sich im Katzloch mit einer Hehlerin getroffen hatte. Nach der "Fehde" mit Varena, der Drachenmeisterin, die Friedwang gründlich verwüstet hatte, war die Baronie immer noch reichlich klamm. "Die Maraske", so nannte sich das verschlagen um sich spähende Streunerweibchen.
Schon wieder ein Hinweis auf Maraskan. Ein merkwürdig exotischer Spitzname, für eine eher gewöhnliche Phexgesellin, wie man sie überall in der Rommilyser Gosse antreffen konnte. Zumindest drüben, im Schatten der westlichen Stadtmauer. Ihr sommersprossiges Kindergesichtchen, mit der hübschen Stupsnase, hatte harmlos gewirkt. Aber das konnte täuschen.
Alrik hatte den Spitznamen erst für eine Anspielung auf das Netzwerk gehalten, über dass seine Geschäftspartnerin verfügen sollte. Aber Marasken sponnen kein Netz. Wahrscheinlich waren es doch mehr die Sommersprossen und die struppigen blonden Haare, die dieser Spinne ihren Namen gegeben hatte. Das stachelähnliche Florett an ihrer Seite. Oder die getrockneten "Zauberpilze", an denen sie ständig kaute. Vermutlich ein leichtes Rauschmittel. Die Augen waren jedenfalls ziemlich glasig gewesen. Irgendwie beruhigend, dass er nicht der einzige in dieser Stadt war, dessen Gesicht durch Flecken verunziert wurde. Marike, so lautete angeblich der echte Name der Katzlocherin.
Jedenfalls hatte "Marike-Maraske" wenig Fragen nach dem speckigen Lederbeutel voller abgegriffener Dornrosenmünzen, Zholvaris und Dämonenkronen gestellt, die er über den klebrigen Tisch geschoben hatte. Während er gleichzeitig noch eine piepsende Ratte beiseiteschieben musste, neben seinem Humpen.
Die Maraske hatte sich sogar aufs Hütchenspiel eingelassen, als Alrik ihr Wechselkurs doch etwas zu phexisch vorgekommen war. Alrik hatte (natürlich) gewonnen, am Schluss wurde das Geschäft lachend mit Dunkelbier begossen. Das allerdings ein wenig bitter geschmeckt hatte. Waren die Pocken am Ende Phexens Fingerzeig dafür, dass er mit dem Edelmetall des Erzfeindes geschachert hatte? Ach was, der Ungehörte Schleicher war vieles, aber nicht kleinlich. Er hatte Beute aus dem letzten Krieg eingetauscht, mehr nicht, viel Klimpergeld und wenig harte Währung eine ganz normale Geldwäsche, wie sie dem Herren der Nacht eigentlich gefällig sein musste.
Ein paar Stunden später waren dann die ersten Pusteln auf seinen Händen aufgetaucht. Und dieselben ekligen Warunkel in seinem Gesicht gesprossen. Der spitze Schrei von Nele, der Köchin, hatte ihn darauf hingewiesen. Hatte er sich gehörig die Finger verbrannt, am Geld der Dreckigen?
"Nun denn. Peraine steh Euch bei!"
Alrik schreckte aus seinen Gedanken hoch. Ach so, der Pestdoctor. Die Tür fiel bereits ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich hastig, wie in einer Kerkerzelle. Ein Geräusch - und ein Gefühl - das er nur allzu zu gut kannte. "Peraine steh uns allen bei!"
Der Stimme nach hatte der Medicus die Storchenmaske abgenommen, auf der anderen Seite der Tür, und atmete jetzt wahrscheinlich erst einmal tief durch. "Ich werde im Perainetempel Zwiesprache mit der Gütigen Herrin halten und dann so schnell wie möglich zurückkehren." Ein merkwürdiges Schattenspiel in der Türritze und der Geruch nach heißem Wachs wiesen darauf hin, dass der Arzt die Tür tatsächlich versiegelte. "Ich beschwöre Euch, lasst niemanden herein! Das Wachs des heiligen Sigulums ist geweiht, wer es bricht, versündigt sich!"
"Schon Recht, so langsam habe ich es verstanden. Lauft nicht gleich zur Markgräfin mit dieser sicherlich sensationellen Neuigkeit. Wenn es falscher Alarm sein sollte, könnte das schnell peinlich werden. Für uns alle."
Korwid antwortet irgendetwas, was Alrik nicht verstand und entfernte sich. Im Perainetempel Zwiesprache halten? Mit der Göttin - oder der Geweihtenschaft? Gerade eben hatte der "Storch" noch etwas von Diskretion geschwafelt. "Ach, halt einfach deinen Schnabel." sagte der Baron, mehr zu sich selbst.
Alrik schlüpfte in seine Pantoffeln und rief sich in Erinnerung, wie er in diese Fuchsfalle geraten war. Das "Friedwanger Haus" - lange Zeit hatte er gar nicht gewusst, dass seine Familie über eine Residenz in der Markgrafenstadt verfügte. Nicht direkt im noblen Aldeburg, am Palast, aber doch recht nahe dran. Ein schmucker, efeu- und rosenumrankter Fachwerkbau, kein Marmorpalais. Immerhin keine trostlose Ruine, wie man sie jetzt überall im ausgeplünderten Sichelland finden konnte.
Gerrich von Friedwang, so hatte der entfernte Verwandte geheißen, der die letzte Belagerung durch die Dämonenknechte nicht überlebt hatte. Oder war es der vorletzte Angriff? Man konnte ganz durcheinander kommen in diesen Tagen. Das Loch in der Tür war jedenfalls nicht wegen einer Katze hineingeschnitten worden, sondern wegen Wolpert, Gerrichs Dachshund. Eine Hundeklappe, kein Katzloch. Nach allem, was Alrik über Gerrich wusste, hatte er extreme Abneigung gegen Zugluft und offenstehende Türen gehegt. Noch so ein Gesundheitsfanatiker. Im reinlichen Rommilys schien es einige davon zu geben. Korwid war Gerrichs "Leibarzt" gewesen, laut der Dienerschaft.
Die schönen, herrlich chaotischen Zeiten in der Wildermark, wo waren sie hin? Als Svantje Rahjandrael auf dem Thron der Markgrafschaft Platz genommen hatte, war die Aufteilung der Baronie Friedwang, zwischen seinem Bruder und ihm, aufgehoben worden. Immerhin, die Rabenmunds waren geneigt, die Sache mit dem "Thronraub" unter den Teppich zu kehren. Bitte, keine weiteren Skandale und Verwirrungen mehr, in Zeiten des tsagefälligen Aufbruchs. Sollte erst einmal Gras über die Sache wachsen.
Im Vergleich zu den Eskapaden eines Answin von Rabenmund war sein kleiner Rollentausch nun wirklich nur eine Lappalie gewesen. Oder etwa nicht? Bishdarielon, seinen Bruder, hatte die Markgräfin zum "Erbvogt" erklärt. Er selbst blieb weiterhin Baron, zumindest auf dem Pergament. Wurde aber als gichtgeplagter Kriegsinvalide dargestellt, der dringend Erholung, Heilbäder in den Darpatthermen und Zeit zu Gebet und Buße brauchte, in der Traviastadt Rommilys. Weit weg vom darbenden Friedwang. Ein Rohalsches Urteil. Man würde ein Auge auf ihn haben, im Palast wie im Friedenskaiser Yulag-Tempel.
Womöglich war das Ganze auch eine Intrige der Mersingens gewesen, die Bischs Gemahlin Syrenia unterstützen. Seine eigene Gattin Serwa, die auf Burg Friedstein zurückgeblieben war, hatte ihm berichtet, dass der Golgarit die Zügel nicht allzu fest in der Hand hielt. Wenn er überhaupt mal in Suunkdal weilte, und sich nicht in den Schwarzen Landen herumprügelte. Irgendwo im Tobrischen, mit den Wandernden Toten der Schwarzen Lande. Der "Sterbvogt", so wurde er hinter vorgehaltener Hand verspottet, in seiner schwarz-weißen Golgaritenrüstung, den Rabenschnabel an der Seite. Syri war schlauer und durchtriebener als ihr entrückter, borongläubiger Gemahl. Aber gerade als Mitglied des Hauses Mersingen nicht sonderlich beliebt. Die feine Edeldame galt als schnippisch und streitsüchtig, außerdem als "reingeschmeckt". Das einfache Volk fürchtete Boron, liebte ihn aber nicht - und wollte nicht stillschweigend Teil der düsteren Rabenmark werden.
War Varena, die Drachenmeisterin und Verwüsterin der Sichellande, nicht sogar eine gebürtige Mersingen gewesen? "Den Tod vor Augen - frei von Furcht!" Jaja. Nach dieser marbiden Devise konnten auch nur abgehobene Hochadelige leben. Die nicht alle paar Jahre wieder von vorne anfangen mussten, zwischen den Trümmern ihrer Heimat und den Gräbern ihrer Liebsten. Dreimal war das Feuer des Krieges über Friedwang hinweg gerollt, seit der Rückkehr des Bethaniers. Konservativ gerechnet.
Die friedwanger Travia- und Praiosgläubigen taten jedenfalls ihr Möglichstes, um die hereingeflatterten "Rabsburger" zu sabotieren, wie die Senkenthaler Clique genannt wurde. Und waren sich da ausnahmsweise mal mit den Sokramoriern einig, den Anhängern der Alten Kulte, die ganz gewiss nicht in einem Ordensland Friedwang leben wollten: Unter den Schwingen der Boronsraben, die angeblich tagaus, tagein um die "verwunschene" Wasserburg Suunkdal kreisten.
Alle Hoffnung ruhte darauf, dass bald schon der Jüngling Solalin die berüchtigte "Friedwanger Watsche" erhalten würde, mit der die Barone ihren Nachfolger auf dem Steinbockthron ernannten. Eine Art Ritterschlag, der den Erben eindringlich an seine Pflichten erinnerte: "Wer Schmerz erleidet, erinnert sich" - das war nicht umsonst der Wahlspruch des Hauses Friedwang. Oder auch: "Gebranntes Kind scheut das Feuer." Na gut. Er selbst bevorzugte ein phexischeres Panier, im Andenken an die heroische Schlacht am Arvepass, in kalter Winternacht: "Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen."
Allerdings, Solalin galt seit seiner Kindheit als geisteschwach, als stammelndes, stotterndes "Feenkind", ohne große Aussicht auf eine standesgemäße Ehe. Serwas Ältester würde ebenfalls einen Erbvogt als Verwalter brauchen: Ginge es nach Alrik, würde dies Alboran sein, sein Lieblingssohn. Als Bastardsohn Ismenas von Gießenborn hatte Albo wiederum wenig Chancen, Baron zu werden. Aber mit der Erbvogtei würde ihm wenigstens die faktische Macht im Land zufallen. Nur dumm, dass Erbvogt Bisch schon jetzt darauf pochte, den kleinen Ravenhart als Nachfolger einzusetzen, seinen eigenen Sohn. Mit dem Hintergedanken, ihn oder dessen Nachkommen eines Tages wieder auf den Baronsthron zu setzen. Das friedwanger "Thronspiel" war noch immer kompliziert. Tsalinde Dian Artema gab es auch noch, Solalins jüngere Schwester. Schon mehrten sich die Stimmen, wonach es nur unter einer "Baronin Tsalinde II." einen echten Neuanfang geben würde, ohne Adelsränke und Wirrungen.
Alrik tastete an seine Wange, und spürte sofort die hässlichen Pusteln, sowohl im Gesicht als auch auf den Händen. Waren die "Zorganpocken" am Ende nur ein Trick, um ihn schon jetzt als Herren von Friedwang unmöglich zu machen? Das Bier hatte wirklich merkwürdig geschmeckt. War er, ausgerechnet er, der große Nachtfuchs, zu vertrauensselig gewesen? Konnte man einen Menschen auf solche Weise mit den Zorganpocken infizieren? Welcher Zwölfgöttergläubige würde überhaupt auf eine derart dämonische Idee kommen? Selbst den Mersingens mit ihren berüchtigten Meisterplänen war so ein Anschlag schwerlich zuzutrauen. Oder etwa doch? Aber die Sieche galt als hochgradig ansteckend - da konnte man gleich mit einem Zyklopen auf Spatzen schießen, bis zur Stadtresidenz der Mersingens war es nicht weit.
Sein Kopf schwirrte. Zwei Wochen Stubenarrest? Das würde er niemals aushalten. Nein, er war nicht krank, das spürte er, ebenso wie den Schutz des Heimlichen, der nach wie vor über ihm lag. Er rief nach seinen Dienern, Nele, Ildora und Kunbert. Keine Antwort, auch nach wiederholtem Rufen nicht. Waren sie am Ende schon getürmt? Das wurde ja immer schöner. Getraut hatte er diesen Rabenmund-Spitzeln nie, aber das sie derart treulos waren?
Luft, er brauchte frische Luft. Alrik öffnete ein Fenster und blickte hinaus auf die Straße, hinüber zum Friedenskaiser Yulag-Tempel.
In der Nähe gurrten Tauben. Sich auf die Straße abzuseilen wäre ein Wagnis gewesen, in jeder Hinsicht. Bis zur Regenrinne hingegen waren es keine zwei Schritt. Abgesehen davon, dass er sein Schlafgewand trug und aussah wie ein aussätziger Echsenmensch, wäre eine Flucht übers Dach denkbar. Erneut flackerten Bilder durch seinen Kopf. Das grausige Ende der Fürstenstadt Rommilys, in Mord und Brand. Er selbst, wie er über die Giebel hinweg balancierte, auf der Flucht vor den Schergen des Asmodeus, und deren Pfeilen. Feuer, Rauch, Gebrüll und Geschrei. Verdammt, konnte es sein, dass er nur noch in der Vergangenheit lebte? Ein siecher Veteran, den man in die Krankenstube abgeschoben hatte, wie den Altbauern ins Austragshaus?
Hm. Der Weg übers Dach sah doch nach ein wenig Akrobatik aus. Und dann? Vielleicht konnte er im "Finger" herausfinden, wer ihm das alles eingebrockt hatte, oder ins Bier geträufelt. Wahrscheinlich diese giftspritzende Maraske. Eine Sänfte wurde unten vorbeigetragen. Der Vorhang bewegte sich, eine junge Edeldame blickte neugierig nach oben, unterm Hennin. Hastig wich Alrik ins Innere seines Schlafgemachs zurück.
Nein, durchs Fenster gab es gerade keinen Fluchtweg, zumindest nicht vor Einbruch der Dämmerung. Nicht in seinem Zustand.
Alrik ging an die Tür. Das Schloss war nicht allzu kompliziert. Der Blick des Phexgeweihten huschte umher. Na sowas, auf dem Tischchen lag noch das Messerchen, mit dem ihm Korwid zur Ader gelassen hatte. Der Friedwanger stocherte damit im Schloss herum. Phex sei Dank, der Schlüssel steckte noch, im richtigen Winkel. Alrik stieß ihn hinaus, hörte ihn auf die Bodenbretter poltern, öffnete die Hundsklappe und zog ihn zu sich herein. Das war einfach - fast schon eine Beleidigung für einen Mondschatten! Vom Einbrecher-König zum Ausbrecher-Baron, welch Abstieg.
Alrik öffnete die Tür, ohne auf das "heilige Siegel" zu achten. Liebe Güte, der Medikus hatte es sogar fertig gebracht, ein großes rotes Kreuz auf die Tür zu schmieren und einen hässlichen Perainestorch.
Niemand zu sehen, auch unten, im Rittersaal nicht, wie das geräumige Kaminzimmer genannt wurde. Das Herdfeuer brannte lichterloh. Darin verbrannten gerade seine Gewänder, inklusive Stiefel. Seuchenbekämpfung?! Noch einmal rief Alrik nach seinen Dienern. Niemand zu sehen oder zu hören. Die Gesindestuben waren alle hastig leergeräumt worden - und die Vögel tatsächlich ausgeflogen. Unglaublich.
"Ihr seid gefeuert" zischte Alrik. Soweit zum Thema "Versorgung in der Quarantäne". Sein Blick fiel auf die Ritterrüstung unter dem Steinbockwappen im Ritterrsaal. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich die schweren Stahlplatten anzulegen, inklusive Schaller, und damit nach draußen, zu den Stallungen neben dem Haupthaus zu stapfen. In Rommilys würde er damit nicht unbedingt auffallen. Zumindest, solange er das Visier geschlossen hielt.
"Scheint, da hat jemand sein Gesicht verloren, nä?" Eine leise, gehässige Frauenstimme hinter ihm. Das "nä" kannte er nur zu gut.
Die Einbrecherin saß am großen Eichentisch, den Stiefel auf dem Tisch, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Ein Gluckern folgte. Es war tatsächlich eine Bekannte, die dort lümmelte und sich mit frechem Lächeln an seinen Weinvorräten bediente: Marike- Maraske.
"Auch einen Schluck, Barönchen?" Die Katzlocherin nahm den Stiefel vom Tisch und schob ihm einen Zinnbecher zu. "Is gut für die Haut. Ach ja. Falls du deinen Wanststecher suchst..." Die Hehlerin hob Alriks Rapier etwas an, der neben ihr an der Tischkante lehnte. Am Gürtel hing ein krummes Florett: der Stachel der Maraske. Wie es hieß, war der vergiftet, aber das konnte auch nur ein Gerücht sein.
"Ich muss sagen, bin etwas enttäuscht. Kein Wunder, dass du Dämonenzeugs verscherbeln musst. Egal. Ich war mal so frei, reinzukommen. Die Tür stand offen, nä. Deine Diener haben ja alle Reißaus genommen. Verständlicherweise, wenn ich dich so anschaue." Die junge Frau verzog das Gesicht. "Bäh, was für eine widerliche Visage. Also wirklich, nä. Und die Pratzen erst. Eklig, einfach nur eklig." Die Streunerin kippte den Wein auf den Boden und schob sich ein getrocknetes Stück Pilz zwischen die Lippen. Begann mit frechem Grinsen loszukauen, als würde sie gerade den Baron selbst verspeisen.
Alrik blickte zur Tür.
"Was willst du jetzt tun?" höhnte es vom Tisch. "Die Stadtwache rufen? Schau vorher lieber nochmal in den Spiegel. Nä, besser nich´."
Der Friedwanger ging betont gelassen zur Außentür, verriegelte sie und streifte sich seinen Morgenmantel über, der sich zum Glück ebenso an seinem angestammten Platz befand wie seine Rauchutensilien. Alrik nahm auf einem der gepolsterten Sessel Platz, stopfte sich die Pfeife (die mit einem Fuchskopf verziert war) und lächelte kalt.
"Hast du Feuer?" Er deutete auf den Kamin.
"Zünd dir deine Pfeife selber an, Orkfresse."
Alrik ging zum Kamin, wo ein "Maulgoblin" auf dem Sims stand: eine kleine Tonfigur, die als Kienspanhalter fungierte. Der Baron nahm den Span heraus, hielt ihn erst in die Flammen und dann das brennende Stückchen Holz an die Pfeife. Erstmal rauchen. Die Nerven beruhigen. Nachdenken.
"Du scheinst keine Angst vor der Seuche zu haben."
Ein verächtliches Lachen.
"Könnte es sein, dass ich gar nicht an der Namenlosen Pest leide?"
"Richtig, Barönchen. Schlaues Kerlchen. Aber erklär das mal den Spießbürgern da draußen, nä. In ein, zwei Wochen werden die Pusteln wieder verschwinden, aber vorher noch richtig schon anwachsen, sich rotfärben, und eitern. Eklig, sowas, nä. Siehst jetzt schon aus wie ein Eitriger Krötenschemel. Haha..."
"Schön, dass die Flecken in m e i n e m Gesicht wieder verschwinden werden, Maraske". Der Baron von Friedwang versteckte sein verunstaltetes Gesicht hinter einigen süßlich riechenden Rauchwolken. "Was willst du?"
Marike die Maraske schob ihr Kauzeug aufgeregt im Mundwinkel herum. Ihr Blick wurde schon wieder trüb. Vermutlich wirklich irgendein Rauschpilz. "Möchte nicht wissen, was sie jetzt mit dir anstellen werden, Barönchen. Hast auch noch Pech im Unglück. Den Medicus, den du angeheuert hast, Korwin Albengrund..."
"Korwid Alfengrund."
"Egal. Ich sags dir. Der hat einen Riesen Vogel, sagt man, seit dem Untergang von Wehrheim, und nicht nur einen Storch auf der Kutte, nä... Gehört zu den übelsten Perainefanatikern hier in der Stadt. Ist ein ganzer Schwarm, die Storchenschwingen, oder einfach nur: `Die Schwinge´. Treiben sich ständig im Katzloch rum, um hustende Straßenkinder oder kranke Rahjastuten einzufangen und ins Spital zu schleppen. Der hat echt ne Meise. Hält jeden Schnupfen für ne Strafe Alverans wegen unserer Sünden. Manche behaupten sogar, die bringen alle Pestkröten um, damit sich ja keine Pestilenz ausbreitet, im schönen Rommilys, bei den Reichen und Vornehmen. Und ausgerechnet den heuerst du an? Na dann beschwer dich nicht, wenn die Rosskur schlimmer ist als die Krankheit, nä."
"Ist doch perainegefällig, wenn er arme Kranke ins Spital bringt, und Pestkröten sind ja auch hässlich."
"Nicht in d a s Spital...In das N e s t. Das Schwarze Spital."
"Klingt nicht nach dem Perainetempel."
"Soll außerhalb der Stadtmauern sein. Man fragt besser nicht nach. Und Pestkröten, damit meinen sie Schwerkranke, Perainefrevler wie dich, nä... Sünder, die eher Strafe als Heilung verdient haben." Marike tippte sich ins Gesicht. "Kröten, verstehst du?"
"Verstehe. Um wieviele Duckern gehts dir? Spucks schon aus. Was kostet das Gegenmittel? Das Ganze hier ist nichts weiter als eine kleine, schmutzige Erpressung, oder?"
Ein verächtliches Schnauben. "Wer sagt, dass es ein Gegengift gibt, nä... Aber vielleicht möchtest du ja gerne wissen, wer mir den Auftrag gegeben hat, dir das Zeug ins Bier zu schütten."
"Oho, du verrätst deinen Auftraggeber? Ich dachte, selbst dahergelaufene kleine Handlanger wie du haben sowas wie Diebesehre."
"Natürlich habe ich das, nä" zischte die Maraske. "Als wir den Preis ausgemacht haben. Da war nie davon die Rede, dass ich einem Baron die Fresse verschandeln soll, nä. Nur von einem miesen Kerl aus den Sichellanden, der sich seine kleine Abreibung verdient hat. Einer, der sich von den Dreckigen bestechen lässt, mit Zholvaris und Dämonenkronen, nä... Ein Verräter an den freien Landen."
"Das Ganze hatte mehr mit Erstechen als mit Bestechen zu tun, glaubs mir. Genug der schönen Worte. Wer hat dich angeheuert?"
"Dafür möchte ich die acht Dukaten zurück, die ich dir im Finger gegeben habe. Die fünf Taler kannst du behalten, nä. Weil Du mir trotzdem irgendwie leid tust. Schau bloß in keinen Spiegel, nä."
"Die zwanzig Heller und 15 Kreuzer auch?"
"Die auch."
"Wer sagt dir, dass ich dir das Geld dann gebe? Und hör ähnlich mit dem dämlichen `nä´ auf."
"Einen Scheiß werd ich, nä... Du gibst mir erst das Gold, dann bekommst du die Information. So läuft das hier. Ein gerechter Tausch. Glotz nicht so dämlich. Ich hätte deine Bruchbude längst leerräumen können. Wenn es hier noch besonders viel zu holen gäbe. Und wenn es mir nur um die Duckern gehen würde, nä. Ich mag einfach nicht, wenn man mich hintergeht...du hast mich beim Hütchenspielen beschissen, und der andere bei der Bezahlung. Da ist es nur gerecht, wenn ich für einen Ausgleich sorge, nä."
"Ich hab dich beim Hütchenspielen..."
"Du hast mein Diebesehrenwort: Die Dukaten, und ich sag dir, was ich weiß, nä."
Der Friedwanger ging hinüber zum Kamin, klopfte seine Pfeife aus und wandte sich einem Ölgemälde in der Wand zu. Es zeigte den alten Aristokraten Gerrich, seinen geliebten Dackel Wolpert auf den Arm. Der Baron hängte das Bild ab. Ein Geheimfach kam zum Vorschein, in dem der Dukatenbeutel lag, dessen Inhalt vorgestern den Besitzer gewechselt hatte. Der Baron schüttete ihn seufzend auf den Tisch und zählte das Kleingeld heraus. "Versauf nicht alles auf einmal. Ach nein, du bist ja die mit den Rauschpilzen. Kosten sicherlich auch eine Kleinigkeit. Lass mich raten: Marbotäubling? Irgendwie traurig."
"Herzlichen Dank, nä." Marike spuckte aus und raffte die Goldstücke zusammen, ohne auf letztere Bemerkung einzugehen.
"Also, ich warte. Wem verdanke ich das mit den angeblichen Zorganpocken?"
Die Maraske grinste schief. "Hab nicht viel gesehen. Der Kerl hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, als wir zusammen im Finger saßen. Beide Male. Erst, als er mich angeheuert hat, nä. Und dann, als er den Lohn ausgezahlt hat. Ist finster im Finger, wie du weißt, und man schaut nicht so genau hin. Aber eins war nicht zu übersehen, nä..." Die Hehlerin legte eine kleine Kunstpause ein, während der sie gierig über die Dukaten tastete und sie umständlich zählte. Offenbar waren die Rechenkünste der Hehlerin nicht so ausgeprägt, wie man bei ihrem Berufsstand eigentlich hätte erwarten können.
Alrik schraubte den Fuchs-Kopf von der Pfeife, nahm eine Bürste aus einem Kästchen und begann das Pfeifenrohr ausgiebig zu reinigen.
"Ich warte."
"Das Wappen auf seinem Dukatenbeutel. Als er die Duckern auf den Tisch gezählt hat, wie Du gerade eben, nä..."
"Du machst es ja wirklich sehr spannend. Und?"
"Es zeigte nen Bären. Einen schwarzen Bären."
"Einen Bären?" Der Baron hielt kurz inne. "Den willst mir doch nicht etwa aufbinden?"
"Das Wappen des Hauses Bärnfang. Eindeutig. Hab mich schlau gemacht, nä. Bin nicht von gestern, nä." Marike tippte an ihre Stirn.
"Natürlich". Alrik hob die Augenbraue. "Nur leider gibt es kein Haus Bärnfang. Weder in Darpatien noch sonstwo im Raulschen Kaiserreich."
"Heißen aber so. Kenn einen, der öfters bei Turnieren klaut. Hat gesagt, das Wappen is von denen, nä."
"Dann hat er das Haus Baernfarn gemeint. Baernfarn, nicht Bärnfang. Mal angenommen, du sagst die Wahrheit. Der Trick ist uralt. Warum sollte der geheimnisvolle Unbekannte das Wappen seiner Hintermänner auf den Tisch legen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, er will eine falsche Fährte zurücklassen. Wie sah das Wappen aus? Beschreib es mir. Genau."
"Na, wie sah`s schon aus? Ein schwarzer Bär halt. Vor goldener Sonne auf rotem Dings... Schild... Grund, nä."
"Gut auswendig gelernt. In welche Richtung hat das Firunstier geblickt?"
"Nach links, nä."
"Zeig es mir. Von dir aus gesehen."
Die Streunerin tippte sich auf die Schulter - auf ihre rechte. Gut, mit heraldischer Sprache kannte sie sich schon mal nicht aus, aber ansonsten lag sie richtig.
"Wieviele Strahlen hatte die Sonne?"
"Genauso viele, wie Dukaten hier liegen. Acht, nä."
Der Phexgeweihte musterte die junge Frau. Sie schien ein wenig nervös zu sein, aber das konnte auch daran liegen, dass sie Adelsintrigen fürchtete.
Womöglich sagte sie die Wahrheit - ihre Wahrheit. Eine kleine Handlangerin, mehr nicht. Schade eigentlich.
"Soso. Eine Visitenkarte hat der Strolch aber nicht zufällig dagelassen? Ich muss schon sagen. Alles ein bisschen dürftig, für eine derart stolze Summe."
"Mehr weiß ich nicht. Großes Phexensehrenwort, nä." Marike verstaute ihre Beute in der Gürteltasche und packte Alriks Rapier.
"Der bleibt schön da."
"Hältst du mich für blöd? Den nehme ich mit, als kleines Andenken, nä..." Die Katzlocherin lachte kehlig. "Sicher ist sicher. Viel Spaß noch beim Herumeitern."
"Mein Schwert bleibt hier. Ich sag es nicht noch einmal."
"Leck mich, Krötenfresse. Obwohl, besser nicht,nä... Mann, bist du eklig."
" Oh, was ist denn das? Völlig verstopft..." Alrik setzte das Pfeifenröhrchen an die Lippen. Er musterte Marike und blies kurz und kräftig hinein.
Ein kleiner puscheliger Pfeil schwirrte durch die Luft und traf die verdutzte Streunerin in den Hals, knapp über der Schulter. Der Rapier fiel polternd zu Boden. Die Maraske schrie halb zornig, halb erschrocken auf. "Du... du elender Mistkerl! Nä..." Sie riss das kleine Geschoss heraus, taumelte wie von der Tarantel gestochen umher - und zog ihr Florett. Einige Herzschläge später verdrehte sie die Augen und sank breitbeinig in den Stuhl. Ein matter Seufzer und sie lag still. Auch die eigenen Klinge glitt ihr nun aus ihrer schlaffen Hand.
"Eine vergiftete Maraske. Sowas sieht man auch nicht alle Tage, nä..." Alrik zog den Mohapfeil heraus, strich über die Gefiederung aus Distelwolle, und legte ihn wieder ins Kästchen, zu den anderen Blasrohr-Pfeilchen, neben die Phiole mit Schlafgift.
Die Gewänder der Streunerin waren zum Glück eher für einen Mann als eine Frau geschnitten: Ein Lederwams, ein gelbes Rüschenhemd und eine zerschlissene rote Stoffhose. Wahrscheinlich waren die Klamotten sogar gestohlen. Die vornehmen Stiefel auf jeden Fall. Auch die Größe passte, so ungefähr. Nur das Schuhwerk zwickte etwas. Das Umkleiden ging rasch über die Bühne, ebenso der Transport der zart schnarchenden Streunerin hinauf ins Himmelbett. Der Streunerin hatteer galanterweise sein Schlafgewand überlassen - er wurde auch älter und vernünftiger. Alrik deckte Marike behutsam, fast schon sanft zu, gürtete sich seine Klinge um und schloss die Tür von außen. Den Schlüssel ließ er schräg stecken, so dass seine Gefangene ihn nicht würde herausstoßen können. Entweder, die Maraske würde über das Dach türmen, oder sie musste Doctor Korwid irgendeine schlüssige Geschichte auftischen. Das Florett der Diebin hängte er in den Eisenhandschuh der Ritterrüstung, die im Thronsaal stand.
Was sollte er jetzt tun? Natürlich konnte er die Stadtwache herbeirufen und versuchen alles aufzuklären. Nur musste er dazu seine lichtscheuen Geschäfte im "Finger" erklären - und die Familie seiner Gemahlin belasten. Ganz abgesehen davon, dass er mit seiner Fratze selbst den tapfersten Gardisten in die Flucht schlagen würde. Er hasste Situationen, die sich unmöglich in zwei Sätzen erklären ließen. Das Leben, sein Leben, war leider voll davon.
Seine Reithandschuhe waren noch da, damit konnte er schon mal die Hände verbergen. Der Federhut lag auch noch am angestammten Platz. Wenn er ihn tief genug ins Gesicht zog... Wohin sollte er sich jetzt wenden? Seine einzige Spur war das Wappen des Hauses Baernfarn. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal genau, welche der Verwandten seiner Gemahlin in Rommilys weilten. Ob sie in diesem Fall Verbündete sein würden oder Gegenspieler?
Erstmal raus aus der Fuchsfalle. In Bewegung bleiben. Nachdenken.
Er öffnete die Tür - und prallte zurück. Drei Gestalten standen vor ihm: Doctor Alfengrund - ohne Storchenmaske, aber begleitet von zwei kräftigen Helfern in schweren Ledermänteln, ein Mann und eine Frau. Der Bursche hielt eine Art Gabel in der Hand. Hastig zog das Duo Stofftücher vors Gesicht, als sie den Baron erblickten.
Alrik wollte sich vorbei drängeln, war aber ein Herzschlag zu langsam. "Im Namen Peraines, hiergeblieben!" rief Korwid halblaut und schüttete ihm den Inhalt einer kleinen Flasche ins Gesicht. Überrumpelt und geblendet torkelte Alrik in die gute Stube zurück. Dem Geruch nach war es Wasser, vermischt mit Essig oder Al´Kohol, das da gerade in seinem Auge brannte. Das Trio folgte ihm in Haus, wenn auch mit respektvollem Abstand. Der Baron wollte zu seinem Rapier greifen, da spürte er auch schon, wie kühles Metall seinen Hals umschloss. Der Häscher des Doktors hatte ihn mit einem Fangeisen festgenagelt, an einer langen Stange: Die Federn im Inneren des Metallkragens stachen nun schmerzhaft gegen seine Kehle. Diese Dinger wurden eigentlich eingesetzt, um Ritter einzufangen und Lösegeld zu erpressen. Oder Hexen in den Kerker der Inquisition zu schleifen.
"Ich wusste, dass Ihr uneinsichtig sein würdet" Korwids Stimme klang anklagend - und dumpf, denn er hatte sich wieder die Storchenmaske vors Gesicht gesetzt. "Thesia, sieh oben nach, ob der Herr Baron das Heilige Siegel der Göttin zerstört hat."
"Nein, ich bin unten durch die Hundeklappe gekrochen, was denkt Ihr?" Alrik griff wütend nach dem Schaft des "Ritterfängers" - und wurde sofort gegen die Wand gedrückt. "Was zum Namenlosen! Ich bin von Stand, wagt es nicht, mich anzufassen." Sein Gegenüber war kräftig. Entsetzte Augen starrten in die Fratze des vermeintlichen Pockenopfers. Unter dem Mundschutz baumelte ein Amulett, das zwei schlanke, hochaufragende Schwingen zeigte. Storchenschwingen.
Nein, sie wagten tatsächlich nicht, ihn anzufassen. Leider aus anderen als Standesgründen.
"Ich-habe-keine-Zorganpocken" knurrte der Streunerbaron. Er überlegte, ob er blankziehen sollte. Aber das Halseisen war wirklich unangenehm, vor allem die spitzen, nach innen weisenden Federn, die nur beim Einfangen des Opfers nachgaben. Würde nicht einfach werden, das Ding loszuwerden. Ohne dass heute noch mehr von seinem Blut floss.
"Der Medicus bin immer noch ich" schimpfte Meister Alfengrund. "Ihr habt mein Vertrauen schändlich missbraucht."
"Ach ja? Wolltet Ihr mein kleines Ungemach nicht diskret lösen?"
"Ihr werdet verstehen, dass ich in einem derart schwerwiegenden Fall, äh... Rücksprache halten musste. Tut mir leid."
Im ersten Stock wurde es unruhig. Poltern und Fluchen war zu hören. Ein Tisch stürzte um, im Schlafgemach, oder wars der Kerzenhalter?
Wenig später eilte Thesia die Treppe herunter, lief schimpfend auf die Straße - und kehrte nach wenigen Augenblicken kurzatmig zurück: "Ich glaube es nicht. Da war eine Frau im Zimmer. Halbnackt. Ist einfach durchs Fenster gesprungen. Wenn Ihr mich fragt, war die voll auf Rauschkraut. Hatte Glück, da unten ist gerade ein Fuhrwerk vorbeigefahren. Is weich gefallen, auf Rinderhäute."
Die Gehilfin des Medicus wischte sich etwas Schweiß aus der Stirn: "Jetzt ist sie weg..."
"Gerade noch eine Maraske, jetzt eine Springspinne", murmelte Alrik.
Der "Storch" sah ihn tadelnd an (soweit der Baron das hinter der grotesken Maske erkennen konnte). "Ich glaube es nicht. Nicht nur, dass Ihr die Quarantäne missachtet. Ihr vergnügt Euch auch noch mit Weibspersonen, trotz Eures Zustands?"
"Von Vergnügen konnte keine Rede sein. Das ist alles nur eine heimtückische Intrige."
"Das Siegel ist auch futsch, natürlich", berichtete Thesia.
"Euer Hochgeboren, ich warne Euch. Ihr mögt von Stand sein, aber Ihr steht gewiss nicht über den Göttern. Leider zwingt Ihr mich dazu, schärfere Maßnahmen zu ergreifen."
"Noch schärfer? Wollt Ihr das ganze Stadtviertel niederbrennen?"
"Reto, den Sack."
Sein Bewacher nestelte einen großen Leinensack hervor, der ihm von Thesia über den Kopf gezogen wurde, mehr oder weniger respektvoll.
Mit einem Mal war es zappenduster. Auch sein Rapier wurde ihm abgenommen.
"Was zum Namenlosen..."
"Verzeiht, Euer Hochgeboren, aber es geht nicht anders. Glaubt mir, es ist auch in Eurem Interesse, Euer Gesicht zu verbergen. Thesia, fahr schon mal die Kutsche vor. Am besten direkt vor den Eingang. Und ich warne Euch, Alrik von Friedwang: Ich mag nur ein Bürgerlicher sein, aber ich genieße in dieser Stadt einen hervorragenden Ruf. Ich tue hier nur meine Pflicht. Als Intrigant lasse ich mich gewiss nicht beschimpfen, Euer Hochgeboren."
"Ich meine ja auch nicht Euch. Verflucht, seht Ihr nicht, dass das alles nur eine arglistige Täuschung ist?"
"Das sehe ich. I h r habt versucht, m i c h hinters Licht zu führen. Ich hätte Euch ja noch eine Wahl gelassen, Abtransport an einen sicheren Ort oder Quarantäne im eigenen Haus, aber Reto hatte Recht. Das erste, was die Opfer der Namenlosen Seuche verlieren, ist jedwede Vernunft und Selbstbeherrschung. Ihr hättet das Siegel nicht zerstören dürfen, beim Heiligen Therbun."
"Die Frau da oben, sie hat mir diese Krankheit verpasst."
"Glaubt mir, werter Herr Baron" Die Stimme des Medicus triefte bei der Anrede vor Ironie. "Ich kenne den Unterschied zwischen Zorganpocken und einer horasischen Lustseuche. Aus dem Katzloch, ich fasse es nicht. Eure Gespielin ist womöglich gerade dabei, die Pocken in die Stadt zu tragen. Wo habt Ihr sie aufgegabelt? Eine der Dirnen, die sich rund um Phexens Finger herumtreiben, nicht wahr? Die-Krankheit-darf-sich-nicht-ausbreiten."
"Ihr missversteht mich. Und nehmt endlich den verdammten Sack runter, mir wird schon ganz heiß."
"Wahrscheinlich ist es bereits das Fieber, das aus Euch spricht. Sicher ist es das. Ah, die Kutsche ist vorgefahren."
Alrik wurde nach draußen geführt. Licht drang von unten in seine Kapuze. Undeutliche Schemen waren zu erahnen, außerdem große Räder. Pferde schnaubten. Aufgeregtes Gemurmel war zu hören, offenbar standen mehrere Schaulustige herum. Zwei oder drei Kinder spielten schäkernd Fangen.
"Geht weiter, es gibt nichts zu sehen", blaffte Reto. "Der Herr Baron von Friedberg weilt außerhalb der Stadt. Dreiste Diebe haben versucht, in sein Haus einzubrechen, das ist alles."
"Friedwang", murmelte Alrik. "Der Baron von Friedwang."
"Ist das nicht ein Fall für die Stadtwache?" fragte eine Frauenstimme besorgt.
"Ja, die Stadtwache, wo sind die Gardisten?" Mehrere Stimmen schwirrten durcheinander.
Diskretion? Alrik schüttelte den Kopf, nicht nur ungläubig, sondern auch um sein Blickfeld zu vergrößern. Das Heer der 1000 Oger oder Galotta mit seiner Fliegenden Festung war unauffälliger gewesen. Reto, der die jähe Bewegung missverstand, packte das Halseisen nur noch fester. "Ganz ruhig. Nicht aufregen. Es ist alles nur zu Eurem… und unser aller Besten. "
Im nächsten Moment wurde er in das Innere der Kutsche geschoben, und die Tür geschlossen. Wenige Herzschläge später fuhr der Wagen an. Alrik wurde umgeworfen, fiel auf eine Trage am Boden. Fluchend zerrte er den Stoffbeutel von seinem Kopf und befreite sich vom Fangeisen (seine Häscher hatten sich nicht mal mehr getraut, es ihm abzunehmen).
Es dauerte eine Weile voller Ruckeln und Wackeln, bis er sich orientieren konnte. Er saß auf einer Tragbahre, die Fensterläden waren bis auf kleine Lichtlöcher geschlossen. Die Tür nach draußen war wieder mal verriegelt. Vom Regen in die Traufe...
Er eilte zu einem der Fensterlöcher - und sah nur noch, wie der Medicus mit einer kleinen Menschenmenge vor seinem Haus debattierte. Immerhin, die Storchenmaske hatte er drinnen zurückgelassen. Dann fuhr der Wagen auch schon um die nächste Straßenecke. Die Orientierung fiel Alrik schwer, aber eins war sicher: Ins Perainespital ging die irrwitzige Fahrt nicht.