1. Kapitel - Die Rückkehr von der Knappenschule

Erstes Kapitel

Haldanas Heimkehr




Burg Schlotz, 30. Rahja 1042 BF

Das Klappern der Hufe hallte auf dem gepflasterten Weg, der sich in engen Windungen von Schnayttach aus am Südhang des Burgberges nach oben schlängelte. Ein heißer Südwind strich von Praios her über den Wutzenwald, durch die Gassen von Schnayttach und den Schlotzberg hinauf zur Burg. In der nachmittäglichen Stunde war es warm, fast schon heiß. Haldana schwitzte und war froh, dass der lange Ritt von Rommilys her endlich ein Ende nahm. Eine gute Woche waren sie unterwegs gewesen nach ihrem Aufbruch. Sie und Alboran, Alrik und Hesindian. Rovik, der Sohn des Vulkanus und Tuvok, der treue Jäger. Über Zwerch und Gallys waren sie zuerst nach dem Friedstein geritten, wo Alrik und Hesindian sich verabschiedet hatten – der Friedwanger Baron hatte seiner Gemahlin Serwa tatsächlich viel zu erzählen. Haldana war neugierig gewesen, den Friedstein zu sehen und auch die Dörfer Gießenborn und Rübenscholl, in denen Alboran aufgewachsen war. Aber die Sehnsucht, ihre Heimat Schlotz wieder zu sehen, nach über einem Jahr, überwog. Und wenn sie rechtzeitig vor Beginn der Namenlosen Tage heimkehren wollte, wenn sie mit den Gefährten die unheilige Zeit nicht in der Wildnis verbringen wollte, sondern lieber den Schutz starker Burgmauern genießen wollte, dann blieb nicht viel Zeit.
Haldana wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte. Vor der Vorstellung, die Zeit zwischen den Jahren in der Wildnis des Vorsichellandes zu verbringen, oder vor der Schelte ihrer Mutter, die sicher einiges anzumerken hatte, wenn sie erfuhr, was sich in den letzten zwei Monden ereignet hatte. Nun, eigentlich fürchtete sie den zu erwartenden Zornausbruch ihrer Mutter mehr als die Namenlosen Tage. Aber da sie diesen nicht vermeiden, allenfalls aufschieben konnte, wollte sie es einfach nur hinter sich bringen. Immerhin war Alboran mit ihr gekommen, anstatt auf der väterlichen Burg zu bleiben. Das würde manches sicher einfacher machen. Und ebenso freute sie sich, dass Rovik, der stets fröhliche Angroschim, bei ihr geblieben war.
„Bist du nervös, Haldana?“ fragte Rovik, der mit seinem Pferd zu dem jungen Friedwang aufschloss. Nach all den Ereignissen am Kurgasberg waren Tuvok und Rovik mit den jungen Adeligen einfach per Du geblieben. So wie während des ganzen letzten Jahres, da er nicht gewusst hatte, dass die mit ihm reisende Bardin ihm verschwiegen hatte, die Tochter der Baronin von Schlotz zu sein. Auch mit Alboran waren beide verblieben, es mit den förmlichen Etiketten nicht so genau zu nehmen. Sie waren alle gemeinsam im Kurgasberg dem Herrn Boron nur knapp von der Schaufel gesprungen. Es war eine Art Vertrauen zwischen ihnen allen entstanden, dass Form und Etikette dahinter einfach nicht mehr so wichtig erschienen. Nur wenn Fremde anwesend waren und die Form eingehalten musste, mühten der Zwerg und der Jäger sich um die Einhaltung der Etikette. Aber auf dem Ritt zum Friedstein war es wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt durch die Raulschen Lande.
Die junge Baronin nickte. „Bei Travia, ja. Aber da haben sie schon recht auf der Knappenschule. Stelle dich der Gefahr, anstatt vor ihr davon zu laufen. Wer flieht, hat schon verloren. Das stimmt sicherlich, auch wenn die Gefahr eine liebende Mutter ist. Also… bringe ich es einfach hinter mich. Aber es ist gut, dass ihr alle dabei seid.“ Haldana lächelte ihre Gefährten an, wobei ihr Lächeln vor allem dem Junker aus Gießenborn galt.
„Was ist das für eine Flagge dort?“ wollte Alboran sein `Tanzgerät`, wie Haldana auf der Knappenschule mitunter genannt worden war, ablenken. Noch waren sie nicht auf der Burg. „Dort, neben der Schlotzer Fahne?“ Der Junker wies auf eine Fahne, die über dem Burgtor aufgezogen war.
„Wie würde ein Heraldiker das beschreiben?“ warf Rovik interessiert ein.
„Die Fahne dort… nun… horizontaler Wellenbalken in Blau über drei schwarzen vertikalen Balken auf Gold. Habe ich das jetzt richtig formuliert, oder würde mich der Heraldiklehrer der Knappenschule korrigieren? Ein Wappen der Mersingen. Das zeigt an, dass Besuch auf dem Schlotz weilt. Es muss der Gernatsborner sein, der ins Haus Mersingen eingeheiratet hat. Nun, vielleicht ein gutes Zeichen. Mutter wird nicht schimpfen können, wenn Gäste da sind. Jedenfalls nicht so sehr.“
„Nun, Haldana, wenn du auf mich gehört...“ begann Tuvok.
„Hat sie aber nicht“ bügelte Rovik gleich jeden Vorhalt des Jägers ab.
Der Jäger verstummte.
Haldana setzte sich mit einem kurzen Schenkeldruck an ihren Braunen an die Spitze der kleinen Schar. Hinter der nächsten Wegkurve würde schon das Burgtor erscheinen. Es war Zeit, wieder ein wenig auf die Form zu achten. An der Spitze der Truppe ließ sie ihr Pferd rhythmisch tänzeln, so wie sie es schon früh gelernt hatte. Lässig nahm sie die Zügel in die Linke und hob, als sie sich der Wache am Burgtor näherte, die rechte zum militärischen Gruß an die Stirn. Mit einem freundlichen und zugleich bestimmenden Blick musterte sie den Rekruten, der heute zum Tordienst eingeteilt war. Der Rekrut erwiderte den Gruß mechanisch, bevor er die junge Baronin, die seit einem Jahr nicht mehr auf der Burg gewesen war, wieder erkannte. Der Soldat strammte sich und verneigte sie in Richtung der Baronin, dann öffnete er das Burgtor.
Haldana gab ihrem Pferd die Schenkel und galoppierte auf den Burghof. Dabei gab sie die Zügel frei und streckte die Arme zu den Seiten. Sie war daheim. Daheim auf dem Schlotz, der trollischen Burg auf dem Berg neben dem Ort Schnayttach, wo sie aufgewachsen war. Die Burg, die sie aber seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Burg, die mit ihren riesenhaften Felsen, aus denen sie errichtet war, so anders aussah als die Galbenburg, auf der sie Pagin gewesen war. Und so gänzlich anders als alles, was sie in Rommilys gesehen hatte.
„Ja, Euer Hochgeboren, ich denke, die Burg am Gernat ist wohl geraten. Die richtige Mischung aus Verteidigungs- und Repräsentativbau. Jeder, der von Hallingen her in die Schlotzer Lande und weiter in die Mark reitet, wird unser Land wehrhaft vorfinden, so er übles im Schilde führt. Oder er wird sich beschützt und behütet fühlen, wenn er als Gast und Freund kommt.“ Der Landjunker lächelte, und sein gepflegter, bereits grau melierter Vollbart rahmte seine Mundwinkel dabei in einer freundlich und verbindlich wirkenden Art ein.
„Gut, Gernatsborn. Ich hatte neulich schon einmal das Vergnügen, den Bau aus der Ferne zu bewundern. Ich bin neugierig, Eure Burg bald auch einmal von Innen ansehen zu dürfen. Lasst uns aber erst einmal auf den fertigen Bau trinken. Ich habe einen Gluckenhanger von 1040 bereitstellen lassen. Der lange warme Herbst Vierzig hat den Trauben eine schwere Süße verliehen. Ihr werdet den Wein schätzen, Storko.“
Der Angesprochene nickte, während seine Gastgeberin, die ergraute, schlanke und stets ernst wirkende Burgherrin die tönernen Becher füllte. Storko war ein wenig geblendet – die Vögtin Adginna, die aufgestanden war um den angekündigten Wein zu holen, hatte die Sonne im Rücken, während er selbst im wohl kühlenden Schatten saß. Storko griff nach dem Becher und wollte der Vögtin zuprosten, als Hufgetrappel auf den sonnenüberströmten Burghof erklang.
„Noch mehr Besuch?“ erkundigte sich Storko.
„Nun, niemand, der angemeldet wäre.“ Die Vögtin drehte sich um. „Dennoch ein sehr willkommener Besuch. Nein, kein Besuch. Aber ich sehe, meine liebe Tochter ist zurückgekehrt. Sie hat die Knappenschule in Rommilys absolviert, müsst Ihr wissen, geschätzter Storko. Wie es scheint, ist sie heimgekehrt. Ahh. Ich sehe auch Tuvok, meinen Jagdmeister. Ich hatte ihn ausgeschickt, meine Tochter abzuholen.“ Der Blick der Vögtin und des Landjunkers fiel auf zwei weitere Reiter, die der heimgekehrten Tochter folgten.
„Offenbar haben sie weitere Begleiter mitgebracht.“ stellte Storko nüchtern fest.
Die Vögtin nickte. „Verzeiht, Junker. Aber ich muss meine Tochter begrüßen.“
„Natürlich.“ Oft konnten Mutter und Tochter sich in den letzten Jahren nicht gesehen haben, wenn sie die Knappenschule in Rommilys besucht hatte. Der Gernatsborner hatte Verständnis für den Wunsch der Vögtin, nach der Tochter zu sehen. Auch er erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
Haldana sprang von ihrem Pferd, kaum dass es zum Stehen gekommen war. „Mutter!“ rief sie und rannte auf die sich langsam und würdevoll bewegende Altbaronin zu. Hastig schlang sie die Arme um ihre Mutter und hob sie hoch.
Storko lächelte ob des ungewöhnlichen, aber impulsiven Wiedersehens der beiden Frauen.
„Haldana...“ Die Vögtin wollte sich ihre Überraschung angesichts der stürmischen Begrüßung ihrer Tochter nicht anmerken lassen. „Als du aufgebrochen bist nach Rommilys habe ich dich noch hochgehoben. Jetzt ist das also umgekehrt. Lass dich ansehen, Tochter! … Deine Frisur hat sich auch geändert. Als ich dich verabschiedet habe, hattest du einen Zopf auf jeder Seite.“
Storko meinte aus der Stimme der Vögtin heraus zu hören, dass sie keinen Gefallen an der Frisur ihrer Tochter fand. Zugegeben, diese war auch merkwürdig. Der Zopf aus den Haaren auf der rechten Hälfte des Kopfes war noch vorhanden. Nur die linke Kopfhälfte war gänzlich kahl rasiert. Der Junker hüstelte leicht. Wie würde er reagieren, wenn eines seiner Kinder sich eine so eigenwillige und sicher nicht höfische Haarpracht zulegen würde, die eher an einen Söldner denn an eine Adelige erinnerte – nun, ein Stück weit war er froh, sich darüber jetzt keine Gedanken machen zu müssen. Die Tochter der Vögtin, Storko dachte nach, müsste jetzt neunzehn oder zwanzig sein.
Als Haldana die Mutter wieder absetzte, umarmte diese ihre Tochter auf eher sittsam wirkende Weise. Die Vögtin war gut einen Kopf größer als Haldana, und auch ein wenig schlanker als ihre kräftig und ausdauernd wirkende Tochter.
„Aber sag, mein liebes Kind, du hast Gäste mitgebracht. Magst du sie uns nicht vorstellen? Ich  Loop habe ebenfalls gerade einen sehr geschätzten Gast hier. Den Landjunker Storko zu Gernatsborn. Du hast ihn auch schon mehrere Jahre nicht gesehen.“
Haldana ließ es sich nicht anmerken, dass sie von ihrer Mutter nicht gerne wie ein kleines Kind angeredet wurde, erst recht nicht vor Alboran.
„Ja, Mutter. Ich habe zwei Begleiter mitgebracht. Nun… wo fange ich an. Vielleicht erst einmal mit dem Angroschim an. Rovik, der Sohn des Vulkanus. Du hattest doch in deinen Briefen erwähnt, dass die Schmiede in der Burg verwaist ist. Nun, Rovik scheint sich auf sein Handwerk zu verstehen. Außerdem hat er sich in all den Ereignissen zuletzt als absolut zuverlässig erwiesen. Ich muss Dir das ohnehin noch erzählen. Ich bin noch gar nicht zum Briefschreiben gekommen. Da gibt es noch viel zu berichten, was ich alles erlebt habe. Mehr, als sich jetzt kurz schildern lässt. Nun… wie soll ich das berichten...“ Haldana stockte und war froh, dass eine aufmerksame Magd rasch noch weitere Gedecke für die vier Neuankömmlinge auftrug und Auch Wein und Brot, Speck, Schinken und Käse wurden aufgetischt.
„Sag ihr, dass es Du Dich um die Nachbarn im Sichelbund bemüht hast“ hörte Haldana Nasdjas Stimme. Die Stimme ihrer Ahnin, die sie seit zwei Götternamen immer wieder vernahm. Haldana hatte sich inzwischen daran gewöhnt, ein Medium zu sein und immer wieder Geister zu sehen und zu hören. Geister, die nur sie selbst sah, jedoch keiner ihrer Begleiter. Und Nasdja war ihr eine fast ständige Gesellschaft geworden, seit sie ihr damals auf Helbers Hof, in der Nähe von Rommilys, erstmals erschienen war. Fast wie eine gute Freundin, mit der sie über alles reden konnte. Nur dass sie niemandem von dieser Freundin erzählen durfte, wollte sie nicht als Fall für die Noioniten wahrgenommen werden. Wie viel hatte sich seit damals verändert. Aber die alte Seherin hatte vermutlich recht. Ihre Mutter hatte davon geschrieben, wie wichtig die Bande mit den Sichelbaronen für ihre Baronie geworden sind. Da war es sicher eine gute Idee, darauf abzuzielen bei der Vorstellung ihres Begleiters.
„Das ist Alboran. Der Sohn Baron Alriks von Friedwang. Er war mit mir auf der Knappenschule. Du weißt, Mutter. Friedwang ist eine der einflussreichsten Baronien im Trutzbund“ erläuterte Haldana.
Die Vögtin nickte. Dass ihre Tochter den Trutzbund so betonte, machte sie eher misstrauisch. Aber es stimmte, seit die Edlen ihrer Baronie zuerst den Schlotzer Schutzbund gegründet und sich dann dem Bund der Sichel angeschlossen hatten, war der Sichelbund zu einer einflussreichen Größe ihrer Baronie geworden. Und das, obwohl die Baronie selbst gar nicht Teil des Bundes war. Die Vögtin hatte ihrer Tochter in einem ihrer Briefe geschrieben, dass es sinnvoll für Schlotz wäre, die Nähe des Bundes zu suchen. Aber in einem war Adginna sich sicher. Sie wusste, dass ihre Tochter den Sohn des Friedwangs nicht aus politischem Kalkül mitgebracht hatte. Dafür kannte sie ihr impulsives Kind zu gut. Sie wusste auch, dass Alboran das uneheliche Lieblingskind des Friedwanger Barons war, ein möglicher Erbe des Friedwanger Steinbockthrons.
„Wohlgeboren Alboran, ich bin erfreut Euch kennen zu lernen.“ Die Altbaronin reichte dem jungen Adeligen die Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“ antwortete Alboran galant und versuchte, mit einem charmanten Lächeln einen guten Eindruck zu machen. Wie er es auf der Knappenschule gelernt hatte verbeugte er sich mit Bückling und Kratzfuß und bedachte die Altbaronin mit einem Handkuss. Ein wenig ungewohnt und linkisch, sicherlich. Aber Haldanas Mutter schien nicht unerfreut zu sein.
Die Altbaronin bedachte ihn mit einigen freundlichen Worten, und erkundigte sich nach seinem Befinden und seinen Erfahrungen in der Knappenschule, worüber er höflich und sachlich, aber mit einer Verunsicherung angesichts der Schwiegermutter, die noch nichts von Haldanas und seinen Plänen wusste, Auskunft gab.
Adginna wandte sich nach einigen höflichen Sätzen mit Alboran Tuvok zu, dem Hofjäger. „Tuvok, schön, Dich wieder hier auf der Burg zu sehen. Ich sehe, du hast mir meine Tochter wohlbehalten wieder gebracht.“
„Ich habe mein Bestes gegeben.“ antwortete der Jäger mit der ihm typischen kurz angebundenen Art. Dennoch, Adginna beschlich endgültig das Gefühl, dass die Schar der Ankömmlinge ihr etwas zu erzählen hatte. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt. Daher würde sie jetzt auch nicht nachfragen, solange sie einen Gast auf der Burg hatte. Adginna sah erst ihre Tochter an, dann den Junker von Gießenborn und blickte ihm tief in die Augen. Alboran wich dem Blick Adginnas aus.
„Ach so ist das. Na, dann setzt Euch doch zu Landjunker Storko und mir. Ich bin sicher, auch der Herr zu Gernatsborn hört gerne Neuigkeiten aus der Capitale Rommilys.“ Die Vögtin fasste mit einem kurzen Blick auf die beiden jungen Edelleute die Situation auf. Allein, dass der Friedwanger Junker ihrem Blick nicht standhalten konnte, hatte ihr alles verraten, was sie wissen wollte.
Storko nickte. Ihn befiel das Gefühl, dass er hier mehr über die hochgeborene Familie auf dem Schlotz erfahren würde, als er es sich hätte träumen lassen. Nun, er würde seine Rolle als Gast weiter spielen und sich einfach überraschen lassen. Die junge Haldana, die irgendwann die ihrer Mutter als Landesherrin und Baronin von Schlotz nachfolgen würde, näher kennen zu lernen, war ohnehin wichtig und wenn sich hier Gelegenheit bot, warum nicht?
„Nun… Also setzt Euch. Gäste, die gute Geschichten erzählen können, sind im Land der Travia immer willkommen!“ Die Vögtin lächelte. Was immer Haldana ihr noch beichten würde, dazu war später immer noch Zeit. Die Knappenschule hat Euch also frei gesprochen, Herr Alboran? Also seid ihr jetzt ein Ritter?“
„Nun, ja, fast. Ich habe die Freisprechung noch nicht erhalten, aber das dürfte dieses Jahr noch geschehen. Ich war… nun, ich war von Schurken entführt worden, die meinen Vater damit unter Druck setzen wollten. Schlimme Geschichte, die da passiert ist. Hätte übel ausgehen können. Aber dank Eurer Tochter… Nun, sie hat mich da raus gehauen. Sie und Euer Jäger und der tapfere Angroschim.“
„Vergiss Deinen Vater nicht. Ohne ihn wäre das ganz anders geendet.“ Haldana war es nicht gewohnt, gegenüber ihrer Mutter die unerschrockene Kämpferin heraus zu kehren. Die sie so auch gar nicht war.
„Ja, und Vaters Hofmagier Hesindian, und dieser Stadtadelige aus Rommilys, dieser di Barnfani… ich weiß.“
„Das hört sich nach einer guten Geschichte an“ warf Storko ein. „Nun, wenn ihr nichts dagegen habt, Vögtin, ich bin nicht in Eile. Von Gernatsborn habe ich berichtet, was wichtig ist. Ich höre gerne zu. Aber dann, Baronin, solltet Ihr von vorne anfangen.
Adginna nickte zu dem Vorschlag des Junkers. Es war vielleicht das Beste. Ihre Tochter anhören und den Gast alleine lassen verbot sich ohnehin. Wissbegierig, mehr zu erfahren, war sie dennoch. Was sprach also dagegen? Außerdem wusste sie, dass ihre Tochter Geschichten und Gesang über alles liebte. Vielleicht war es da tatsächlich das Beste, einfach Zeit zu haben und zuzuhören.
„Gut… warum nicht“ stimmte Haldana zu. „Einen Moment“. Die Baroness holte ihre Laute, die sie noch in der Hülle geschultert hatte. Kurz stimmte sie die Saiten und begann zu erzählen, während sie leise Akkorde griff. Diese Art, die eigene Erzählung mit Akkorden zu begleiten, hatte sie in Rommilys kennengelernt, von einem reisenden Skalden von der Westküste aufgeschnappt. Und so begann sie zu erzählen, wie sie mit Tuvok und Rovik im Gasthaus zum Flussschiffer in Rommilys saß, sie gemeinsam speisten, sangen und musizierten und dabei den Friedwanger Baron trafen, der sie um Hilfe bei einer verworrenen Sache bat.
Während Haldana die Ereignisse um den Hexer von Rommilys erzählte und dabei sachte die Saiten schlug, lauschten die am Tisch versammelten Zuhörer aufmerksam der Geschichte, die sie alle in ihren Bann schlug.  Nur einige Episoden ließ Haldana aus. Stellen, die nur sie selbst etwas angingen und nicht ihre Mutter oder sonst jemanden und die sie selbst Alboran nicht erzählt hatte.
Rovik griff beherzt zu und ließ sich den würzigen Sichler Ziegenkäse schmecken, der zu Früchten und Brot gereicht wurde. Auch Alboran rollte sich einen Schinkenstreifen auf und spießte ihn auf die Gabel. Ab und zu stellten Adginna oder Storko die eine oder andere Zwischenfrage, des besseren Verständnisses wegen oder um etwas genauer zu erfahren. Rovik und Tuvok lauschten, obgleich sie die Ereignisse ja miterlebt hatten, dennoch gebannt der Erzählung der Bardin. Mit dem Abstand von einigen Wochen zum Vorgefallenen ließ sich doch deutlich entspannter darüber reden und nachdenken. Die unheimlichen Ereignisse vom Kurgasberg lagen wie in einer entfernten Vergangenheit.
Storko lauschte ebenfalls interessiert. Es war schwer zu glauben, was sich da, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt, zugetragen hatte. Als neutraler Zuhörer hätte er nicht zu sagen vermocht, was Dichtung und was tatsächlich Geschehenes war. Aber dass zum Beispiel unlängst der Bruder von Ismena von Baernfarn, Jodokus von Baernfarn in Rommilys in den Magistrat berufen worden war, hatte er als Wehrvogt der Mark auch vernommen. Dennoch, er hatte keinen Grund, an der Geschichte zu zweifeln, auch wenn vielleicht manche Ausschmückung der Erzählkunst der jungen Baronin zuzurechnen war.


„Eine schöne Geschichte. Die hast du gut erzählt. Ich denke, deine Mutter hat nichts mehr vorzubringen.“
„Ja, das wird schon klappen.“ antwortete Haldana, ehe sie sich klar wurde, dass der Geist Nasdja zu ihr gesprochen hatte. Wieder einmal hatte sie Nasdja laut geantwortet und alle anderen Zuhörer mussten annehmen, dass sie mit sich selbst redete.
„Was wird klappen?“ Storko fragte überrascht nach. „Aber eine tolle Geschichte, die Ihr erzählt. Man könnte fast meinen, es handle sich um die Dichtung eines Barden und nicht um einen Erlebnisbericht.“
„Die G-Saite nachzuziehen.“ redete sich Haldanda heraus. „Die lässt immer wieder nach. Ihr habt Recht, ich habe das vorgetragen wie eine Geschichte, die ich selbst gehört habe. Nun, manchmal ist es leichter, die ganze Sache mit etwas mehr Abstand zu erzählen. Es war… nicht leicht, das alles.“
Storko nickte. „Das glaube ich gerne. Allein, dass nicht nur Alboran entführt wurde, dass auch Ihr zwischendurch in der Gewalt dieses Hexers wart. Auch dieser Golo… eine erschütternde Vorstellung.  Ich mag garnicht daran denken, was geschehen wäre, wenn Alrik von Friedwang Euch nicht befreit hätte.“
„Nun ja… am meisten Angst hatte ich im Dunklen in der Tiefe des Kurgasberges“ erzählte Haldana. „Als ich alleine und ohne eine Lichtquelle durch die Finsternis des Bergwerks irrte. Ich hatte Angst, dass ich da nie wieder raus komme. Und ohne Alboran wäre ich vielleicht immer dort unten geblieben.“
Haldana setzte sich etwas näher auf der Bank an Alboran heran, als es ihr von ihrer Mutter als schicklich beigebracht wurde. Aber sie hatte nicht noch einmal vor, sich zu verstecken. Ohne, dass sie etwas dazu sagen wollte, hatte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter gleich zu verdeutlichen, dass sie sich da nicht hineinreden lassen wollte.
„Sich das Leben gegenseitig gerettet zu haben, das schweißt Menschen zusammen. Das habe ich bei der Armee oft genug erfahren.“ Storko hatte die Situation ebenfalls erfasst, auch ohne dass Haldana oder Alboran das näher ausführen mussten. Nun gut. Seine Kinder waren noch jünger. Aber auch ihm würde es irgendwann vielleicht ähnlich geschehen. Wie würde er reagieren, wenn sein Spross ihm irgendwann eröffnen würde, die Liebe des Lebens gefunden zu haben? Und würde sich das dann in die dynastischen Verpflichtungen einfügen lassen? Dabei hatte er, und seine Gattin Glyrana von Mersingen erst, ganz besondere dynastische Überlegungen der eigenen Kinder in Sachen der Heiratspolitik. Er konnte nur zu gut nachvollziehen, was nun in seiner Gastgeberin vorging. Der junge Friedwang war, wie er wusste, ein uneheliches Kind. Anerkannt von seinem Vater zwar, und somit auf alle Fälle nicht unstandesgemäß. Aber vielleicht nicht das, was die Vögtin sich für das Haus Binsböckel erhofft hatte. Nun, er würde es erfahren. So würde er aufmerksam beobachten, wie die Vögtin sich unverhofft mit ihrer Tochter und ihren Wünschen auseinander setzen würde. Der Landjunker lehnte sich zurück hob seinen Becher. Hier, im Schatten hinter der Burgmauer, war es angenehm kühl. Nun, in einem Punkt immerhin musste er der Vögtin recht geben. Der Vierziger Gluckenhang war tatsächlich ein guter Tropfen. Er hob die Flasche, lächelte und schaute die jungen Edelleute an, um ihnen ebenfalls Wein einzuschenken. Alboran hielt dankbar seinen Becher hin. Haldana lehnte ebenfalls mit einem Lächeln ab. Was sie aber nicht daran hinderte, mit den anderen anzustoßen, auch wenn sie sich in ihren Becher frisches Brunnenwasser füllte. Auch Tuvok und Rovik bekamen einen Schluck Wein angeboten, den sie dankbar annahmen.
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Storko hatte das Gefühl, die Vögtin warte darauf, dass Haldana oder Alboran etwas sagten, wohingegen die beiden sich offenbar nicht getrauten. Aber vermutlich würden Mutter und Tochter nach dem Essen Zeit brauchen, sich auszutauschen. Eigentlich hätte er auch nichts anderes erwartet, als dass die Vögtin Familieninternes später mit ihrer Tochter besprach. Er hatte ohnehin genug mitbekommen. Also ergriff der Landjunker wieder das Wort. Er fragte interessiert nach zu den Ereignissen, die Haldana und Alboran widerfahren waren. Und nebenher erfuhr er auch viele Neuigkeiten aus Rommilys im Allgemeinen und vom Leben in der Knappenschule im Besonderen.

„Ihr müsst unbedingt noch einmal nach Gernatsborn kommen“ sagte Storko nach dem Mahl. „Die Burg, wie gesagt, ich würde sie Euch gerne zeigen, sobald sie fertig errichtet ist, Vögtin. Mit Ende dieses Sommers sollte sie vollendet sein, nachdem bereits zehn Götterläufe daran gearbeitet wird. Euch ebenso, Hochgeboren.“ Der Landjunker nickte der jungen Baronin zu. „Jedoch nun, wenn Ihr es erlaubt, dann würde ich mich heute noch zum Tempel der ewig jungen Göttin in Schnayttach aufmachen. Meine geliebte Gattin ist der jungen Göttin sehr zugetan und hat nicht nur einen Tempel in Zaberg im Friedwangschen gestiftet, sondern es ist ihr ausdrücklicher Wunsch auch einen Schrein bei uns in Gernatsborn weihen zu lassen. Eure Zustimmung vorausgesetz würde ich dies mit dem hiesigen Tempel gerne näher besprechen.“
Storko fühlte, dass es Zeit war sich als Gast zurück zu ziehen Nicht zuletzt, hatte er ja mitbekommen, dass die junge Baronin mit ihrer Mutter das eine oder andere besprechen musste. Das war nicht zu übersehen gewesen. Storko lächelte.
„Ich würde auch die Gelegenheit gerne nutzen, die Burg einzuweihen und da ist ein Segen Tsas wohl auch nicht verkehrt. Die neue Fähre über den Gernat wird auch nächsten Monat in Betrieb gehen, alle Materialien für den Seilzug sind eingetroffen, im Praios werden wir sie errichten, als erstes gleich im neuen Jahr. Nun, ein Fest zur Burgeinweihung, das würden wir wohl geben. Im Efferd oder Travia, nach der Ernte, dann muss die Burg errichtet sein, wenn es Euch Recht ist - auch wenn ich Genaueres mit meiner Gemahlin noch besprechen muss..“
„Das hört sich gut an“ bestätigte Vögtin Adginna. „Was haltet Ihr davon, Junker Storko, wenn ich Euch nach den unheiligen Tagen auf Eurer neuen Burg besuche, wie Ihr vorgeschlagen hat. Dabei können wir gerne einen Termin festsetzen und alles weitere bereden. Ihr werdet, nehme ich an, die Edlen des Schlotzer Bundes einladen wollen und auch die Sichler, mit denen der Bund inzwischen vereint ist.“ Adginna sah den Landjunker an, dieser nickte und bemerkte höflich “Ihr seid jederzeit auf Burg Gernatsborn willkommen”.
„Nun, ohnehin hatte ich daran gedacht, die Bande zwischen Schnayttach und ihren Edlen zu stärken und auch eine Annäherung an den Bund der Sichel zu suchen. Ich will nicht vorgreifen, aber ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn nicht nur die Edlen, sondern die Baronie als Ganzes sich dem Bund der Sichel anschließt. Was wäre da ein besserer Rahmen als ein Fest auf Eurer Burg? Lasst uns darüber über die kommenden Tage sinnieren und Anfang Praios darüber reden.“

Die Vögtin hatte das Gesinde angewiesen, das Gästezimmer für Alboran von Friedwang her zu richten. “Ich nehme nicht an, dass Ihr an den unheiligen Tagen zurück nach Friedwang reisen wollt” hatte Haldanas Mutter kurz und freundlich zu dem Gießenborner Edlen gesagt, aber eine Antwort gar nicht erst abgewartet. Haldana hatte genickt, noch bevor Alboran antworten konnte. Ohnehin war es ein Gebot der Travia, niemanden in der unheiligen Zeit die Gastung nicht zu gewähren. “Nun, lasst Euch von Rimhilde Euer Zimmer zeigen und seht es mir nach, wenn ich mich mit meiner Tochter ein wenig zurück ziehe” hatte sie gesagt. “Ihr habt sicher Verständnis dafür. Aber es soll Euch an nichts fehlen. Und du, mein guter Tuvok, zeige dem Herrn Rovik doch einmal die Schmiede, da er sich für eine Anstellung eben dort interessiert.”
Mit einem energischen Kopfnicken deutete sie ihrer Tochter, ihr zu folgen. Haldana lächelte Alboran, Tuvok und Rovik noch einmal kurz zu. Dann folgte sie der Mutter in das Haupthaus, führte sie durch den Thronsaal, in dem Schlotzer Axtwappen deutlich sichtbar über dem Kamin angebracht war, durch eine eisenbeschlagene Holztür in die Schreibstube.
„Sind ja gute Nachrichten, dass die Burg am Gernat fertig ist. Dieser Storko scheint mir ein tüchtiger Mann zu sein.“ begann Haldana, nach einem Thema suchend, um nicht gleich von der Mutter auf das genaueste befragt zu werden.
„Das ist er, zweifellos. Ein aufstrebender junger Mann, der nicht umsonst zum Wehrvogt der Mark ernannt wurde. Er hat sich zum einflussreichsten Edlen in Schlotz gemausert und wurde nach der Verteidigung von Rommilys von der Markgräfin zum Landjunker ernannt. Mit ihm als loyalem Vasall haben wir übrigens auch einen guten Kontakt zum Haus Mersingen. Er hat sein ehemals kleines Gut zum einflussreichsten Gut mit Burg in unserer Baronie gemacht. Mindestens dann, wenn der Schattenholzer mit seiner Schwarzen Lanze in Rammholz weilt. Aber das weißt du ohnehin, Tochter. Ich habe dir alles geschrieben, was sich hier ereignet hat während du in Rommilys weiltest. Ach ja… es wäre übrigens denkbar, mit seiner Hilfe für Dich eine Heirat mit dem Haus Mersingen zu arrangieren. Eine gute Partie wäre das.“ Adginna hatte nicht vor, lange um den heißen Brei herum zu reden.
„Ähm, ja, sicherlich, ein einflussreiches Haus. Aber wäre es nicht sinnvoller, den Blick in die Schwarze Sichel zu wenden? Wenn wir in den Sichelbund wollen, dann könnten wir unsere Position im Bund mit der richtigen Vermählung ebenfalls stärken. Der Bund der Sichel hat als Gesamtes sicher einen ähnlich großen Einfluss in der Region wie eine der großen Familien. Und das Haus Binsböckel könnte im Bund zu einem entscheidenden Faktor werden. Solange Tante Valyria dem Hause Baernfarn vorsteht und mit Gallys freundschaftlich verbunden ist und mein Halbbruder in Rammholz herrscht. Meinst du nicht, ich sollte versuchen, eine weitere Baronie der Schwarzen Sichel oder des Bundes der Sichel an unser Haus zu binden?“ Haldana zog es vor, erst einmal strategisch zu argumentieren, in der Hoffnung, dass die Mutter dem eher zugänglich war.
„So gefällst du mir schon besser, Tochter. Immer die Möglichkeiten im Blick haben und nüchtern abwägen. Ja, deine Gedanken haben etwas für sich. Hast du deswegen diesen jungen Friedwangen mit gebracht?“
Nüchtern abwägen, dachte Haldana. Naja, das konnte man nun nicht wirklich sagen. Eher war sie von den Ereignissen überrollt worden. Aber vollständig überrollt. Die Begegnung mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges hatte ihr Leben auf eine ihr völlig unbekannte Art und Weise auf den Kopf gestellt. Aber so direkt wollte sie ihrer Mutter das auch nicht sagen.
„Nun, ja. Was meinst du? Er steht kurz vor dem Ritterschlag, und ist immerhin der Älteste Sohn des Barons. Mit Gallys und Friedwang als Teil der Familie...“
„Ich gehe eher davon aus, dass sich in Friedwang diese Tsalinde durchsetzt. Sie ist ehelich geboren, und weiß das Haus Baernfarn in ihrem Rücken.“ Die Vögtin blieb nüchtern.
„Mag sein… Aber er hat… Talent.“ Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. „Er ist aus der Sichel, er kennt das Land. Ein Adeliger aus Garetien oder von anderswo wäre zeitlebens ein Hereingeschmeckter.“
„Du magst ihn, nicht wahr?“ Adginna fragte ganz direkt.
„Nein. Ich liebe ihn.“ Haldana hatte es gelernt, ebenso direkt zu antworten, und ihre Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass sie es ernst meinte.
„In Ordnung. Ich werde darüber nachdenken. Deine Gedanken mit der Anbindung an den Bund der Sichel haben etwas für sich, und dieser Alboran scheint mir kein schlechter Mensch zu sein. Also gut, ich werde ihn mir die nächsten Tage anschauen. Er wird ohnehin mindestens bis zum Neujahr bei uns bleiben. Aber, Haldana, dass mir nichts Unbotmäßiges zu Ohren kommt, meine Tochter. Die Gebote Travias werden in dieser Burg ernst genommen.“ In den freundlichen Worten von Haldanas Mutter lag eine bestimmende Strenge.
„Ja, sicher, aber für Deine Ermahnung ist es ohnehin zu spät.“
Adginna blickte ihre Tochter erneut streng an. Haldana, die ebenso unbeeindruckt zurück blickte, merkte, wiewohl ihre Mutter sich nichts anmerken ließ, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Die Altbaronin zögerte mit ihrer Antwort.
„Mutter, es ist mein Leben. Hattest du ein erfülltes Leben mit Tsafried?“
Adginna überhörte die Frage nach Haldanas Vater.
„Es ist nicht Dein Leben. Du bist die Baronin von Schlotz. Dein Leben gehört diesem Land und den Menschen, die hier leben. Diesen Platz haben die Götter Dir zugedacht. Also stehle Dich nicht aus der Verantwortung. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Rang und Titel zu erben. Das Märchen können die Barden dem einfachen Volk erzählen, die nur das tun müssen, was man Ihnen anschafft. Du bist Baronin, und damit bist du vom Aufstehen bis zum Schlafengehen sowohl Deiner Lehensherrin, der Markgräfin, verantwortlich wie ebenso deinen Lehnsleuten, für deren Wohlergehen du zu sorgen hast. Dafür haben die Götter die Welt so geschaffen, wie sie ist. Füge dich, wenn du eine gute Baronin sein willst.“
„Ja, Mutter. Mit Alboran an meiner Seite füge ich mich.“
Adginna sah ihrer Tochter lange in die Augen.
„Gut. Soll er um Deine Hand anhalten. Hören wir uns an, was das Haus Friedwang uns zu bieten hat. Dann sollte aber nicht nur Alboran hier vorstellig werden. Wer ist das Oberhaupt seiner Familie? Baron Alrik? Ich werde mit ihm reden müssen.“
„Das wirst Du, Mutter. Wir hatten vereinbart, dass er nach Schlotz reist, im neuen Jahr. Er wird sicher bald zu uns kommen.“

 …

In den frühen Morgenstunden betrat der Wehrvogt der Mark den Schlotzer Burghof. Frühes Aufstehen war er seit seinen Kadettenjahren immer gewöhnt und im Sommer war eine Reise in der Kühle des Morgens ohnehin vorzuziehen. Auf ihn warteten bereits vier berittene Soldknechte und ein schwerer abgedeckter Wagen samt Trossleute. Auch sein eigenes Ross war gesattelt und bereit zur Reise. Er nickte den kampferfahrenen Reitern zu, allesamt Veteranen aus Wildermarkzeiten, kaum wurde ein Wort gewechselt und die Gruppe reiste Firunwärts los. Trotz der unheiligen Tage, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Storko hatte nicht nur die Schlotzer Burg passiert um der Vögtin einen Besuch abzustatten sowie den hiesigen Tsatempel zu besuchen. Die schwere Fracht, die er mit sich führte musste nach Gernatsborn gebracht werden und der schwere Wagen würde an den Trampelpfaden südlich und westlich des Wutzenwaldes kaum weiter kommen. So blieb nur der Wutzenwalder und dann Hallinger Weg als Option übrig, um dann die verbliebenen Meilen bis zum Gernat mit schweren Ochsen auszukommen. Unter der märkischen Verpflichtung, die durch den Burgausbau von der Markgräfin ausgesprochen war, das obere Gernatstag und strategisch für die Mark wichtig den passierbaren Oberlauf auf Feinde und Schurken zu überwachen, erhielt er nicht nur das Privileg von der Markgräfin zum Landjunker ernannt zu werden. Als Wehrvogt hatte er sich auch eingesetzt, von den sicheren Burgmauern aus dies auch tatsächlich zu können und eine ausrangierte, schwere Feldballiste erhalten, die er nun an den Gernat brachte um sie auf den Gernatsborner Burgfried zu platzieren.
Der erste Reiter hielt das Banner seiner Familie hoch an einer Lanze. Der Gernatsborner blickte kurz hinauf. Drei schwarze Balken auf Gold, darüber horizontal ein blauer Wellenbalken. Nun, er war in den letzten Jahren weit gekommen und nun Teil eines der edelsten Adelshäuser des Reiches geworden. Gernatsborn? Die Adelsfamilie Gernatsborn ging in die Geschichte ein. Gernatsborn war die Burg, aber auch er selbst war ins Haus Mersingen aufgenommen worden und bildete mit Glyrana, seiner Gemahlin, einen neuen aufstrebenden Seitenast der Familie. Alle Reiter waren ebenso wie das Banner in Schwarz und Gold gewandet, nur um den Helmen war ein blaues Band geschnürt. Nun, er konnte sich nicht beklagen und war weit gekommen. Als ernannter Wehrvogt kommt er viel in der Mark herum, um sich um die märkischen Verteidigungsanlagen, Straßen und Brücken zu kümmern - und bei der Verteidigung von Rommilys vor wenigen Jahren konnte er sich unter den Augen des Bannerherrn und der Markgräfin beweisen. Zuletzt wurde er nun zum Landjunker ernannt, und damit aus seiner Sicht einer er höchstrangigen Landadeligen der Mark. Allein, dass er aufgrund der vielen Reisen nur hin und wieder Frau und vier Kinder besuchen kann, trübt ihn etwas. So war es auch Glyrana, die sich in den letzten Jahren um den Burgausbau und auch die Familiengeschäfte gekümmert hat. Als Vögtin von Meidenstein ist es nur ein kurzer Weg in die heimatliche Burg. Ihre zunehmenden Ambitionen für sich und ihre Nachkommen gefielen Storko und er lehnte sich auch etwas zurück, auf viel mehr als er bereits erreicht hatte, konnte er ohnehin nicht hoffen.
Nach kurzer Zeit hatte der Wagenzug den Schlotzer Berg hinter sich gebracht und hier öffnete sich das Land vom Wutzenwald heraus. Hier war auch das Stammland der Schlotzer Barone zu finden. Guter Ackerboden mit Gehöften zwischen den Ausläufern des Waldes gen Efferd und einer Hügelkette gen Rahja, die bereits in der Baronie Rosenbusch lag. Auch hatte man bei gutem Wetter Sicht auf See und Ort Firnsjön, der auch Firnsee genannt wird. Hier residierten mit der Familie Firnsjön alte Getreue der Schlotzer Barone. Geografisch war diese fruchtbare Gegend jedoch am äußersten Nordosten der Baronie, abgeschirmt von des restlichen Gütern und Dörfern durch den tiefen Wutzenwald. Storko musste immer schmunzeln, wenn er an die Worte seines Vaters, Boron habe ihn selig, dachte. “Die Macht der Schlotzer Barone reicht nur so weit, wie sie von Schlotzer Berg aus blicken können” hatte er immer gesagt. Die Burg Schlotz soll ja weitaus älter sein als Menschen hier ihren Fuß erstmals hinsetzten, er hatte selbst bereits die Tunnels unter den Berg einst gemeinsam mit Traviahold von Schnayttach genutzt, und so war sie eine der wehrhaftesten wenn auch rätselhaftesten Burgen der Region. Tatsächlich war die Lage des Hauptortes für die Schlotzer Baronieverwaltung jedoch nicht gut gelegen, so hatte sich auch eine starke Eigensinnigkeit des Schlotzer Landadels etabliert.
Die Gedanken des Gernatsborner, der nun eigentlich ein Mersingen war, wandten sich wieder dem Burgbau zu und dem bevorstehenden Einweihungsfest. Er würde gleich nach der Ankunft mit Glyrana die weiteren Pläne besprechen.

Burg Schlotz, Fünfter der Namenlosen Tage 1042
Es war noch stockfinster, als Haldana aufwachte. Das nur teilweise sichtbare, am Himmel stehende Madamal leuchtete nur matt durch das Fenster. Irgendetwas hatte sie hochschrecken lassen. Nur was? Die junge Baronin sah sich um. War irgendetwas anders als zuvor in ihrem Schlafzimmer? Ihr fiel nichts auf… und doch. Oder hatte sie nur ein ungutes Gefühl? Was nichts Ungewöhnliches wäre, in der Zeit zwischen den Jahren.
Haldana stand auf. Was hätte sie darum gegeben, nicht allein zu sein. Es war unheimlich, ohne sagen zu können, was sie verunsicherte. Natürlich hatten Alboran und sie ihre Mutter nicht heraus gefordert und hatten sich daran gehalten, Travias Gebote zu beachten. Hatte sie Angst deswegen? Wegen Alboran? Mutter hatte ihm die Magd Rimhilde zugegeteilt, sie sollte ihm das Zimmer einrichten und sich auch sonst um sein Wohl kümmern. Ausgerechnet Rimhilde. Die von keinem Stallburschen die Finger lassen konnte. Mit ein wenig Binsböckler Zorn hatte sie ihre Mutter gefragt, was das sollte. Mutter hatte einfach nur mit den Achseln gezuckt und lapidar gesagt, dass sie dann wenigstens gleich wisse, ob auf den jungen Friedwang Verlass sei oder nicht. Und das solle man doch besser vor einer Hochzeit wissen.
Gut, da hatte Mutter auch irgendwie recht. Aber vor Rimhilde musste sie doch sicher keine Angst haben. Außerdem, das seltsame, leicht beklemmende Gefühl, das sie befallen hatte, hatte mit Eifersucht nichts gemeinsam. Irgendetwas war anders. Etwas fehlte. Mit einem Mal wusste Haldana, was sie vermisste.
Nasdja. Ihre Urahnin, sie sie sonst ständig umschwärmte, hatte sie in den unheiligen Tagen noch gar nicht gesehen. Ob sich gute Geister auch versteckten? So wie sich die Menschen in dieser Zeit in ihren Häusern verkrochen?
`Aber was ist eigentlich gut und was ist böse?`fragte Haldana sich.
Dann wurde ihr gewahr, dass das nicht ihre eigenen Gedanken waren, sie sie durchfahren hatten. Wieder sah Haldana sich um, erblickte aber niemanden. Irgendwie war es einen Hauch kälter geworden. Oder bildete sie sich das nur ein?
`Vielleicht sind das die guten Tage, und nur der Rest des Jahres ist böse` durchzuckten wieder Gedanken, die nicht die ihren waren, die junge Baronin. Und mit einem mal wusste Haldana, wessen Gedanken sie vernehmen konnte. Wer immer noch nicht von ihr gegangen war, auch wenn sie die vergangenen Wochen nichts von ihm wahrgenommen hatte.
Haldana nahm sich ihren Umhang, der über dem Bettpfosten hing, und schlug ihn sich um, um die nächtliche Kälte zu vertreiben. Es half nichts.
`Du wirst mir nicht entkommen. Du bist immer noch mein. Sogar mit Travias Segen, auch wenn das völlig überflüssig ist.
`Verschwinde` dachte Haldana mit ungewohnter Schärfe.
`Du hast mir gar nichts zu sagen. Umgekehrt, du tust, was ich sage.` wieder diese kalten, körperlosen Gedanken. Haldana wusste nur zu gut, welche noch nicht zu Boron gefahrene Seele sie hier heimsuchte. Aber Angst… Angst durfte sie nicht haben. Angst war das Schlimmste, was man haben konnte, wenn einen Geister, die einem nichts Gutes wollten, aufsuchten. Aber wie konnte sie Angst verhindern? Das kalte, beklemmende Gefühl griff bereits nach ihr. Haldana schluckte.
`Du bist nicht mein Gemahl, Golo von Glimmerdieck. Ich werde jemand anderen heiraten.` widersprach Haldana.
`Ach, Püppchen. Du kannst doch gar nicht anders. Selbst wenn du dich mir widersetzt, machst du doch nur das, was ich will. Du wohnst meinem eigen Fleisch und Blut bei. Meinst du, du erfülltest damit nicht meinen Willen, wenn du mit Alboran den Traviabund eingehst? Formal zumindest, für die unwürdige Welt da draußen, die die Weisheit des Güldenen noch nicht erblickt, noch nicht erkennt. In Wahrheit vollendest du nur das, was wir begonnen haben. Damals, auf der Flusshexe. Wir sind uns versprochen, wir werden gemeinsam über Rübenscholl und Gießenborn und auch über Schlotz herrschen. Alboran mag mich derisch vertreten, mir seinen Körper zur Verfügung stellen. Mein Sohn ist mir treu und erfüllt meinen Willen. Ebenso wie du. Und ganz gleichgültig, ob er es freiwillig tut oder sich widersetzt. Du bist mein. Du entkommst mir nicht. Ebenso wenig wie mein Sohn.`
`Nein, du irrst`begehrte Haldana auf. `Nur weil du jetzt, in der unheiligen Zeit, Zweifel sähst, hast du dennoch keine Macht. Nicht über mich, nicht über Alboran. Noch nicht einmal über dich selbst. Vergiss nicht, ich habe dich erschlagen, auf der Flusshexe!` Haldana wusste nicht, ob sie selbst das glauben konnte, was sie zu Golo gedacht hatte. Nur eines wusste sie: Sie durfte keine Angst zeigen, wenn die Toten mit ihr redeten.
Ein stimmloses Lachen drang durch die Stille. `Das hättest du wohl gerne, Kindchen. Erschlagen… wie hättest du mich erschlagen können, bin ich doch schon seit vielen Jahren tot. Nein, wen du erschlagen hast, das war Jobdarn. Ich habe ihm die Ehre gewährt, mir seinen Körper auszuleihen. Einen unschuldigen jungen Mann hast du erschlagen. Mit der Schuld musst du jetzt wohl leben… Nein, musst du nicht. Der Güldene sieht keine Schuld darin. Wenn du dich zu ihm bekennst, musst du keine Schuld tragen. Es liegt an Dir.`
Haldana versuchte, mit einer wischenden Handbewegung den unheimlichen Geist zu vertreiben. Natürlich vergebens. Die junge Baronin zitterte.
`Alboran ist nicht dein Sohn. Er ist Alriks Sohn` widersprach Haldana in Gedanken. Es klang eher trotzig als überzeugt.
`Natürlich, natürlich, Kindchen. Wie lange bist du jetzt meine Frau? Sechs Wochen erst? Naja, nicht wirklich lange, aber du solltest inzwischen wissen, dass es eine scheinbare Realität gibt für die Unwissenden und die Wahrheit, die nur diejenigen erkennen, die den Güldenen erblickt haben. Und nun komm, meine Gemahlin.`
Eine schattenhafte Hand streichelte Haldana über die Wange. Der Binsböckel stellten sich die Haare zu Berge. Sie bekam eine Gänsehaut
Haldana schrie.
Sie rannte aus ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und rannte weiter. Durch die Gänge, durch den großen Saal und hinaus auf den Hof, wo sich die Rondrakapelle befand, die der Geweihte von Gernatsquell, Hochwürden Deggen, vor einigen Jahren eingeweiht hatte. Immerhin geweiht. Vielleicht der einzige Ort in der Burg, an den ihr dieser unheilige Geist Golo nicht folgen konnte.
Weinend kauerte sich Haldana unter die Statue der Herrin Rondra. Sie war froh, dass sie hier allein war und niemand sie sah.
Endlich, einige Stunden später, ging im Rahja über den Gipfeln der Schwarzen Sichel die Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres.