10. Kapitel - Der Meister des Wetters

10. Kapitel

Der Meister des Wetters



Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken.  Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
 
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben.  Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der  Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."


Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.


Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.

Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria



Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide  deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
 
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
 "Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."