12. Kapitel - Das Bündnis mit dem Wutzenwald

12. Kapitel

Das Bündnis mit dem Wutzenwald



Im Wutzenwald nahe Gernatsborn, Nachmittag des 6. Praios 1043
Odilons Kriegspfad führte zunächst hangabwärts, zum Erstaunen seines Gehilfen. Der alte Waldläufer musste aufpassen, im Schlamm nicht abzurutschen. Immer wieder suchte sein Blick den Himmel ab, aber außer sturmgepeitschten Baumwipfeln und fein geäderten Blitzen war nichts mehr von der Hexe zu entdecken. Der Schwarze Bär schlug sich seitlich in die Büsche. Timoin verstand: Er wollte die Besenreiterin, vielleicht auch den Druiden oben auf der Anhöhe irreführen.
Sie kämpften sich durch ein kleines Nadelwäldchen wieder nach oben, wobei der Orkan ihr eigentlicher Gegner war. Kleine Sturzbäche flossen herab, die Tannen und Fichten wogen wie ein Kornfeld hin und her. Bäumchen brachen entzwei wie Schwefelhölzer. Dennoch musste Timoin zugeben, dass der Jäger einen klugen Weg gewählt hatte. Umstürzende kleine Nadelbäume waren nicht so gefährlich wie von oben herab brechende Äste. Außerdem waren sie einigermaßen sichtgeschützt, nicht zuletzt durch das Unwetter selbst. Das da vorne, unter einem Steilhang, musste der Gernat sein, dessen stark angestiegenes, aufgewühltes Wasser zu kochen schien, überschüttet von Hagel und Regentropfen.
Odilon warf sich den Bogen über die Schulter und begann zu klettern. Auch wenn er nur mühsam vorankam, schien diese Stelle doch einigermaßen wettergeschützt zu sein. Timoin folgte ihm beherzt. Als er wieder oben auf der bewaldeten Anhöhe stand, merkte er, dass der Sturm tatsächlich nachgelassen hatte. Vermutlich tobte er sich gerade über Gernatsborn aus.
Die Waldläufer atmeten durch und versuchten sich zu orientieren. Die einzige Spur, die es noch zu lesen gab, war die Spur der Verwüstung. Umgeknickte Bäume, kahle oder zersplitterte Äste, Hagelkörner, die unter den Stiefeln knirschten. Bei der kleinen Kletterpartie war Odilon doch warm geworden, aber nun merkte er, welche Eiseskälte hier oben herrschte. Im nächsten Moment wirbelten zart die ersten Schneeflocken herab. Odilon hatte wahrlich schon einiges erlebt und überlebt in den letzten Jahrzehnten. Aber ein Wintereinbruch im Praios gehörte nicht dazu.
Es schneite, kein Zweifel. Die Szenerie war vollkommen unwirklich, als hätte es die beiden Jäger in die Feenwelt verschlagen. Oder ins Reich des Eisigen Jägers? Die Macht des Blutdruiden schien enorm zu sein, aber irgendwie hatte der Baernfarn das Gefühl, dass der Zauberer Kräfte geweckt hatte, die jedes Menschenwerk überstiegen.
Timoin stand mit offenem Mund da, und schloss ihn erst wieder, als die ersten kalten Schneeflocken hinein wehten.
"Hast du sowas schon einmal erlebt, Odilon?"
"Nein, nicht selbst. In Nordenheim soll es mal einen Gallysard gegeben haben, mitten im Sommer. Aber das war kurz nach der Zerstörung Wehrheims, als ohnehin alles drunter und drüber ging."
Der Waldläufer nahm Bavhano Bvaith von der Schulter. Normalerweise liebte er solche kalte Pracht, aber dieser Winterzauber schien ihm wenig firunsgefällig zu sein. Knirschenden Schrittes ging er voran in den Wald. Alles war in graublaues Licht getaucht, zarter Nebeldunst waberte zwischen den gemarterten Baumstämmen.
Da vorne lagen auch schon die struppigen Leiber der toten Goblins am Opferstein, bedeckt mit einem dünnen Leichentuch aus Schnee. Timoin suchte nach seinem Bogen, aber der war tatsächlich entzwei gebrochen, unter dem Tritt der Wildschweine. Langsam wuchs die Schneeschicht unter ihren Stiefeln. Viele Bäume waren durch den Sturm entlaubt worden, so dass man sich wirklich im Firun- oder Hesindemond hätte wähnen können. Nur ein einzelner Baum, eine hohe, knorrige, mehrstämmige Buche, trug seine roten Blätter noch fast in voller Pracht. Odilon gab Timoin ein Zeichen, im Schatten zu bleiben. Es war besser, sie würden beide kein allzu gutes Ziel bieten.
Im Schutz der roten Buche sah Odilon sich um. Erst jetzt merkte er, dass der schwarzgraue Stamm mit Blut beschmiert war. Er blickte hinauf. Einen Herzschlag später schrie er auf, als sich etwas Spitzes, Scharfes von hinten in seine rechte Schulter bohrte, knapp neben dem Köcher, durch den Mantel und den Lederkoller hindurch. Irgendein Geschoss drang wie ein gleißender Blitz in seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Odilon spürte, wie der Bogen aus seinen Händen glitt. Im nächsten Moment wurde die kalte Klinge wieder herausgerissen, wie von Geisterhand. Der Baernfarn krümmte sich zusammen und spähte nach dem Angreifer.
Durch den weißen Schleier des Schneetreibens sah er, wie der Gehörnte auf ihn zukam, aus dem Wald. In seiner Linken hielt er einen knorrigen Stab, in der Rechten einen schwarzen, bluttriefenden Dolch. Das musste die Waffe sein, die ihn gerade getroffen hatte. Aber wie konnte sie so schnell zum Werfer zurückgekehrt sein? Der Dolch war durch die Luft geflogen, hin und wieder zurück, kein Zweifel. Langsam schritt der Druide näher. Dunkelrote Flecken verunzierten seine Robe und das bärtige Antlitz. Der Blutzauberer stand dem alten Graubart buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
"Das...nennst du Klinge?" ächzte Odilon und zog Wandelur blank. Auch wenn die Wunde nicht allzu tief gegangen war, hatte der Blutzauberer ihn äußerst schmerzhaft getroffen. Den mächtigen Langbogen zu spannen, daran war leider nicht mehr zu denken.
Der Schwarze Bär kämpfte sich zurück auf die Knie, spuckte etwas Schnee aus und wechselte den Stahl in die Linke. Wenn der Gehörnte nicht wieder Hexerei anwandte, würde er ihm im direkten Zweikampf noch immer weit überlegen sein.
Der Druide lächelte, dünn und ein wenig grausam. Dann setzte er sich im Schneidersitz auf seinen Umhang in den Schnee und bohrte seinen Dolch in den Boden. Eine beiläufige Bewegung mit dem Stab. Bruchholz schwirrte herbei, wie vom Sturm herbei geweht. Dann schossen wie aus dem Nichts Flammen aus dem Holz empor. Binnen weniger Augenblicke prasselte ein gemütliches Feuer mitten auf der weiß eingeschneiten Lichtung.
"Odilon Wildgrimm von Gallys, nehme ich an? Welch außergewöhnliche Ehre." Die Stimme des Druiden klang nicht nach Ironie. Einladend deutete er nach vorn. "Setzt Euch doch ein wenig ans Lagerfeuer. Der Praiosmond ist kalt in diesem Jahr." Das war nun doch spöttisch.
Mühsam, mit Wandelur als Stütze, kam Odilon wieder auf die Beine. Dann hob er drohend die Klinge. "Elender Blutzauberer... Mich behext du nicht" knurrte er.
Burchert reinigte seinen Dolch mit Schnee. "Sind wir schon beim Du? Warum nicht. Ich bitte dich, Odilon. Männer in unserem Alter haben besseres zu tun, als im Schnee herum zu raufen wie törichte Goblins. Man nennt mich Burchert von dem Born. Ich bin der Hüter dieses Waldes."
"Früher auch bekannt als Burchert vom Ebergrund ?!" Odilon nickte und hinkte näher, vor allem, um den Abstand zwischen sich und seinem Gegner zu verringern. Eine Gestalt schlich sich hinter Burchert an. Das war Timoin, mit einem schweren Holzprügel in der Hand. Tapferer Bursche... vielleicht ein wenig zu tollkühn. Aber der junge Waidmann stellte sich geschickt an, setzte wie eine Katze einen Fuß vor dem anderen. Der leise herab rieselnde, dichte Schnee half ihm beim Anschleichen.
"Liegt der Ebergrund nicht auf der anderen Seite des Flusses?" stichelte der Schwarze Bär, um sein Gegenüber abzulenken. "Warum hütest du den Wald nicht dort, Burchert?"
"Bitte, Odilon, steck dein Schwert ein. Wie nennt man es noch gleich? Wandelbar, oder? Nun, eine Legende wie Siebenstreich ist es nicht, aber immerhin, ein Geschenk des Schwertkönigs. Raidri Conchobair war Freund der Oberhexe Luzelin vom Blautann, sagt man. Er stand also ebenfalls auf unserer Seite. Wandelbar, der Name würde passen. Aber selbst die beste Schmiedekunst ist nichts weiter als ein Frevel wider die Kräfte der Natur. Deine Waffe besteht aus gebundenem Erz, das unserer Mutter Sumu aus dem Leib gerissen worden ist." Burchert legte noch einige Tannenzapfen ins Feuer.
Odilon spähte nervös um sich. Die Gleichmut des Druiden irritierte ihn mehr als jeder offener Angriff. War die Gestalt dort am Ende nur eine Halluzination? Was führte sie im Schilde? Hatte Burchert nicht mitbekommen, dass sie zu zweit waren? Veneficus hatte einmal einen machtvollen Todeszauber erwähnt, die Druidenrache, mit denen die "Weisen des Waldes" eine ganze Gegend verfluchen konnten, um den Preis ihres eigenen Lebens. Burchert sah nicht so aus, als könne man ihn mit einem kräftigen Schwert- oder Knüppelhieb aus dem Weg räumen. Aber vielleicht war er wirklich schon am Ende seiner Kräfte und wollte mit seinem Auftritt nur vortäuschen, unangreifbar zu sein?
"Es heißt Wandelur, Blutzauberer. Mein Schwert heißt Wandelur. "
"Wie auch immer. Du wirfst mir also Blutmagie vor? Gleichzeitig hast du nichts dagegen, wenn Sumus Blut, die Lebenskraft der Welt selbst, geopfert wird, für schnödes Geld und kupferne Dächer?" Echte Abscheu verzerrte das Gesicht des alten Mannes, dessen große, gelbliche Zähne Odilon irgendwie an ein Nagetier erinnerten. "Aber setz dich doch. Wir müssen reden, wie die Bäume miteinander sprechen, wenn dem Wald Gefahr droht." Er wies auf einen umgestürzten Baumstamm. “Verzeih den Flug des Dolches, aber ich fürchte deinen unfehlbaren Bogen.”
Odilon tat ächzend, wie ihm geheißen worden war. Durchnässt vom Regen, der an seinen Gewändern immer mehr gefror, mit einer stechenden Wunde im Rücken, war er froh über ein wenig Wärme, mit seinen fast siebzig Götterläufen. Ebenso über die Ablenkung des Druiden. Timoin, die Katze, hatte sich bereits auf wenige Schritte vorgearbeitet. Fast schon sah sein Geselle drollig aus, mit verkniffenem Mund, beflissenem Gesichtsausdruck und heraus geschobener Zunge. In einem hatte Burchert Recht: Sie waren beide nicht mehr die Jüngsten.
"Nun, ich habe etwas dagegen, wenn mit stählernen Armbrüsten eiserne Pfeilspitzen auf die rechtmäßige Herrin dieses Lehens abgeschossen werden, bei einem heimtückischen Mordversuch. Du offenbar nicht." Der Waldläufer lächelte unbestimmt, wie so oft, wenn er mit Orks, Suulak, Nivesen oder Elfen am Ratsfeuer gesessen hatte, bei schwierigen Verhandlungen. "Aber vielleicht bin ich da einfach etwas altmodisch."
"Du spielst auf die neunfingrige Dienerin des Kor an? Ich habe sie in meinen Visionen gesehen, habe ihre Pläne erspürt. Nun, seit Anbeginn der Schöpfung fließt durch diese Welt Blut. Blut, das Sumu am Leben erhält. Als die Götter damals gegen die Vielleibige Bestie gekämpft haben, mit den Gigantenklingen, da war es der schwarzrote Rondrasohn, der Sokramur geschwungen hat: Das Leben selbst in Gestalt einer gewaltigen schwarzen Sichel. Womöglich ist Kors Name sogar in dem Fluss verewigt, der dort unten rauscht. Irgendwo in der Nähe soll sich sogar eines seiner wichtigsten Heiligtümer befinden, die Blutkerbe. Es ist korgefällig, Blut zu vergießen, im Dienste Sokramurs, für das Leben selbst."
"Ich kenne mich mit der Entstehung von Flussnamen nicht besonders gut aus. Außer beim Großen Fluss vielleicht. Es heißt, dass der Schwarze Prinz der Chimären dem Reich der Dämonen näher steht als den Gefilden Alverans. Ich bin jedenfalls nicht hier, um mich über alte Sagen, Märchen und Legenden zu unterhalten."
Odilon sprach vor allem, um Timoin wertvolle Zeit zu verschaffen. Ebenso, um noch einige Informationen aufzuschnappen. Spielte ihm Burchert etwas vor oder wusste er wirklich nicht, dass Yasinthe eine Dienerin des Namenlosen gewesen war? Sein Zögling hob bereits den schweren Eichenholzprügel. `Schlag zu`, dachte Odilon. `Schlag endlich zu.` Tatsächlich wirkte Timoin unsicher. Er wollte seitlich ausholen, aber da standen ihm die Widderhörner im Weg. Also hob er seinen Prügel über dem Kopf, für einen Wuchtschlag von oben. Sehr gut. Der Jüngling hob den Knüttel ein wenig mehr – und streifte einen Ast, der daraufhin Schnee herabregnen ließ. Odilon verzog das Gesicht.
"Nein." Burchert hob die Hand. "Bevor dein Schüler zuschlägt, dessen Ohr ebenfalls eine Kerbe ziert. Wie bei allen Nachkommen des Heiligen Alboran üblich... Nun, bevor er diese Dummheit begeht, sollte er vielleicht wissen, was es mit seinem Geburtszeichen auf sich hat. Es ist der Sichelschnitt der Sokramur, den Kor Alboran mitsamt seinen Nachkommen verliehen hat, als der Blutfordernde sich in der Schlacht gegen die Orken offenbarte. Wir kämpfen auf der gleichen Seite, Odilon. Diese Grube dort unten wurde vermutlich schon zur Zeit der Ghorinchai gegraben, auf der Suche nach dem heiligen Metall ihres Götzen Tairach. Es waren euer beider Vorfahren Artema und Alboran, die der Schändung der Sumutochter Sokramor ein Ende bereitet haben, in einem blutigen Kampf an der Furt, noch vor der großen Schlacht um Wehrheim. Wollt Ihr euch nach 1300 Jahren nun auf die Seite der Orks schlagen, der blankhäutigen wie der schwarzpelzigen Orken?"
Der junge Jäger hielt für einen Moment inne, mit Schnee übergossen. Verwirrt langte er sich ans Ohr.
Odilon schnaubte verächtlich. "Du solltest wissen, dass deine vermeintliche Kordienerin ihren neunten Finger nicht dem Träger Sokramurs geopfert hat. Sondern dem Namenlosen. Yasinthe Dengstein war eine Geweihte des Dreizehnten. Sie hat sich heute Morgen in Rauch aufgelöst. Nach einem erneuten Anschlagsversuch gegen das Leben Glyranas von Mersingen."
Nun hob Burchert die buschigen Augenbrauen. "Das... das ist nicht wahr..."
"Nun, Burchert, würdest du mich wirklich kennen, würdest du wissen, dass ich öfters die Wahrheit sage als mancher Praiosgeweihter. Nun leg deinen Dolch nieder, und ich verspreche dir ein gerechtes Urteil. Offenbar wurdest auch du von dieser Abgesandten der Sternenbresche getäuscht. Nun sag mir nur noch, wer deine andere Komplizin war. Sicher eine Tochter Satuarias?"
"Ein gerechtes Urteil? Dass ich nicht..."
Im nächsten Moment war ein abgründiges Zischen zu hören. Timoin blickte hinauf zur Blutbuche, gerade noch rechtzeitig, um das Schwarze Feh auf sich zuspringen zu sehen: Ein übergroßes, verwachsenes Eichhörnchen, mir gefletschten Rattenzähnen, grotesken Fledermausflügeln unter den Vorderpfoten, purpurn leuchtenden Augen, Stachelschwanz und einem kleinen Horn auf der Stirn. Dazu erklang ein Knurren, dass nicht mehr von dieser Welt war.
Es war ein grotesker, verrückter Anblick: Timoin, wie er sich durch den sommerlichen Schnee wälzte, im Kampf mit einem Eichhörnchen, das keines mehr war. Sondern ein underisches Geschöpf der Finsternis, mit Klauen, Dämonenflügeln und scharfen Zähnen, das seinem Opfer in die Kehle zu beißen versuchte. Der Junge hatte den Knüppel fallen gelassen. In Panik stach er mit seinem Messer auf das Untier ein. Das Dämonenfeh schnappte nach Timoins Hand. Schreiend ließ der Jäger seine Klinge fallen.
Der Druide rappelte sich mühselig auf, mit Hilfe seines Stabs. Nun wirkte er tatsächlich alt, gebrechlich und kraftlos.
"Sokramund?!" rief Burchert, verwirrt und entsetzt zugleich. "Sokra!"
Ein heftiger Windstoß fauchte über die Lichtung. Die Hörnerhaube rutschte dem Druiden vom Kopf und enthüllte eine runzlige Glatze. Irgendwie sah "Burchert von dem Born" mit einem Mal kläglich aus, überhaupt nicht mehr wie ein machtvoller Zauberer. Dann schwirrte ein großer Schatten aus dem Winterwald herbei, lautlos und mit weit ausgebreiteten Schwingen. Die riesige Eule packte das Feh, durchbohrte es mit seinen Krallen. Schreiend verwandelte sich das dämonische Ungeheuer wieder in eine derische Kreatur. Der Raubvogel, ein großer Uhu, erhob sich mit mächtigem Flügelschlag und steuerte mitsamt Beute auf den Waldrand zu.
"Sokra????"
Odilon hieb dem Druiden erst Wandelurs Knauf in den Rücken, dann die Breitseite des Schwerts über den kahlen Kopf. Wenn dir gebundenes Erz lieber ist, dachte der Schwarze Bär grimmig.
Odilon stand für einen Moment still und keuchte, während ihm das warme Blut über den Rücken rann. Die Schmerzen, die von der Kälte ein wenig gedämpft worden waren, meldeten sich nun um ein vielfaches verstärkt zurück. Timoin starrte mit verzerrtem Gesicht auf seine zerbissene Hand und versuchte, sie mit Schnee sauber zu waschen. Dann sah er schuldbewusst  zum alten Waldläufer: "Bist du schwer verletzt, Odilon?"
Der Baernfarn nahm den schwarzen Dolch des Druiden an sich. "Sagen wir... ich hoffe, dass die Rotpelze, die er zuerst damit durchbohrt hat, keine ansteckenden Krankheiten hatten."
"Was, was war das für eine Kreatur?" ächzte sein Schüler.
"Das Eichhörnchen? Vermutlich ein Daimonid. Früher kam das unheilige Kroppzeug manchmal über die Berge, aus Schwarztobrien. Ein Mischwesen, halb Dämon, halb Tier. Möge die Heilige Artema uns gegen das Gezücht der Niederhöllen beistehen. Was ist mit dir, deine Hand sieht übel aus?"
"Die Wunde ist nicht sehr tief... aber... dieses Schwarze Feh?" Der junge Bursche wickelte sich bereits ein Taschentuch um die Hand und wischte sich verlegen eine Schmerzensträne aus dem Auge. "Bekomme ich jetzt die Duglumspest?" fragte er mit leiser, belegter Stimme.
"Vielleicht wächst dir jetzt eine Eichhörnchenpfote, wer weiß?" Odilon versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Als er Timoins entsetzten Blick bemerkte, schüttelte er den Kopf. "Ach komm, du kriegst höchstens den Flinken Difar. So schnell geht das auch wieder nicht."
“Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, den Blutzauberer unschädlich zu machen.”
“Lass gut sein. Die Jagd auf Druiden ist ein wenig schwieriger als die Hatz auf Rotpüschel, Rehe oder Wildsauen. Du hast dich wacker geschlagen.”
Der niedergeschlagene Druide begann zu zucken. Stöhnend und ächzend wühlte er mit den Händen im Schnee. Timoin zückte sein Messer. "Elender Paktierer!"
Odilon fiel ihm in den Arm. "Was hast du vor?"
"Wir müssen ihn unschädlich machen, ein für alle mal. Dieser verdammte Dämonenknecht!"
"Ich glaube nicht, dass Burchert wirklich bewusst war, mit welchen Mächten er sich eingelassen hat." Der Schwarze Bär nahm den Eichenholzast und zog ihn Burchert über den Schädel. Knackend zerbrach das Holzstück in zwei Teile. "Ach ja, das nächste Mal nimmst du einen kräftigeren Prügel..."
Hufgetrappel und dumpfes Pferdegestampfe lenkte beide ab. Der Waldboden dröhnte. Die Wolkendecke war aufgerissen, helles Tageslicht flutete in den Winterwald.  "Kannst du einen Bogen spannen?" fragte Odilon. Timoin nickte, und sein Lehrmeister wies auf den Langbogen, eigentlich nur, damit der nicht im nassen Schneematsch liegen blieb. Er selbst stellte sich neben die Blutbuche, Wandelur halb erhoben.
Im Licht erschienen zwei Ritter hoch zu Ross, mit silbrig leuchtenden, fein ziselierten Rüstungen und prunkvollen Visierhelmen, die wie Eberköpfe aussahen. Beide trugen bannerverzierte Lanzen und Schilde, die mit verschlungenen Ornamenten geschmückt waren, die ein wenig an albernische oder thorwalsche Kunst erinnerten. Der Linke hatte eine mächtige Streitaxt am Kriegssattel hängen, sein rechter Nebenmann ein breites Schwert. Sie zügelten ihre Pferde, und trabten gemächlich auf die Lichtung, die Köpfe unter den Zweigen gesenkt. Erst jetzt bemerkte Odilon, wie hünenhaft die Neuankömmlinge waren. Ihre Streitrösser, die ebenfalls Rüstzeug trugen, waren gewaltige Tralloper Riesen, mit prachtvollem Fesselbehang über den schweren Hufen. "Keinen Schritt weiter", erklang Timoins helle Stimme, der tatsächlich bereits Bavhano Bvaith spannte, mit einiger Mühe, blutiger Hand und wackelndem Pfeil auf der Sehne. Odilon gab ihm ein Zeichen, den Bogen zu senken. Das fehlte noch, dass sein wackerer Gehilfe versehentlich einen Pfeil abschoss und vorzeitig einen Waffengang heraufbeschwor.
"Dieser Kampf war ehrlos", dröhnte es tief und grollend unter dem Eberhelm einer der Lichtgestalten. Mit der Lanze wies der Ritter auf das kleine Schlachtfeld am Opferstein. Unter der gepanzerten Hand trug er einen graubraunen Fellhandschuh, so schien es dem Gallyser zumindest.
"Ehrlos war der Kampf gewiss, aber dieser Druide hat ihn begonnen!" sagte Odilon, der breitbeinig neben dem Baum stand – und merkte, wie Blut aus seinem Ärmel tropfte, auf Wandelurs Griff und von dort die Schneide herab. "Außerdem hat unser Gegner mit Blutmagie ein Unwetter beschworen, das vermutlich schon halb Gernatsborn zerstört hat. Wir mussten ihn irgendwie aufhalten, seinen Zauberkünsten zum Trotz."
"Das wissen wir" grollte der zweite Ritter. "Der Sturm ist bis weit über die Grenze unseres Reiches gedrungen."
"Ihr seid aus Hallingen?" fragte Odilon, ein wenig erstaunt. Kein Kratzer, kein Fleck verunzierte die strahlenden Brünnen, auch die Pferde wirkten, als wären sie gerade frisch gestriegelt aus der Rossschwemme herbeigeeilt.
Sein Gegenüber steckte die Lanze in den Boden und nahm den Helm ab. Zu Odilons Erstaunen kam ein echter Eberkopf zum Vorschein, mit glatten, graubraunen Haaren, Rüssel, reinweißen Hauern, kleinen, aber klugen und hellwachen Äuglein, spitzen Ohren sowie einem stattlichen Bürstenkamm auf dem Kopf.

"Mein Name ist Fiorg, mein Waffengefährte heißt Torkwyn."
Der Nebenreiter verbeugte sich knapp, und lüpfte ebenfalls den Helm. Auch seine gepanzerten Schultern zierte das massige Haupt eines Keilers, das allerdings dunkler gefärbt war als Fiorgs Antlitz. Fast schon wirkte das Fell schwarz. Odilon hob erstaunt die Augenbrauen, dann verneigte er sich. Der Wutzenreiter bewegte seine Lippen nicht, dennoch war seine grollende, aber dennoch irgendwie wohlklingende Stimme gut zu verstehen.
"Die guten Götter Alverans zum Gruße! Mein Name ist Odilon Wildgrimm von Baernfarn, das ist Timoin... Timoin, nimm den Pfeil von der Sehne." Sein Schüler sah tatsächlich aus, als würde er sich vor Verblüffung gleich in den eigenen Stiefel schießen.
Waren die beiden Ritter überhaupt Wutzen? Sie sahen edel und vornehm aus, fast schon überderisch, und rochen auch feiner als die Wildsauen, die vor kurzem den Hang herunter gestürmt waren: Ein zarter, leicht moosiger Wildgeruch.
"Artema schickt uns. Wir müssen mit Glyrana sprechen. Über die Grube, das, was vorgefallen ist und die Zukunft des Grenzwaldes", sagte Fiorg. "Bringt uns bitte zu ihrer Burg, werter Odilon Wildgrimm von Baernfarn." Der Manneber bekräftige das Gesagte mit einem Grunzen. Nun blickte Odilon erstaunt: Artema die Wegweiserin, Heilige des Firun und nebenbei seine eigene Vorfahrin? Diese Geschöpfe kamen aus der Feenwelt, daran hegte er keinen Zweifel. Befand sich die “Elfenheilige” ebenfalls im Lande Jenseits? Eigentlich hätte er die Alveraniarin in Firuns Paradies vermutet, nicht in der Anderwelt. Allerdings lag das Reich der Feen den Gefilden der Zwölfgötter zweifelsohne näher als die Welt von Dere und Feste.
Torkwyn hatte das tote Wildschwein erspäht und schnüffelte aufgeregt.
"Wir wurden von der Rotte angegriffen!" Odilon schob demonstrativ das Schwert in die Scheide. "Auch darüber sollten wir sprechen. Ich nehme doch an, dass ihr...ihr Wutzen...eure Hände...Klauen...im Spiel hattet? Ist Burchert etwa euer Freund und Verbündeter? Geht es um das Kupferbergwerk und die Zerstörung des Wutzenwaldes? Dann hat er eurer Sache schlecht gedient."
"Der Duridya ist nicht unser Feind", sagte Fiorg ausweichend und voller würdevollem Ernst. "Wir sind keine Wutzen, die auf vier Beinen durch den Wald laufen und quieken. Unsere Ahnen wurden einst aus Wildschweinen erschaffen, aber wir selbst sind keine Morka mehr. Der wahre Name unseres Volkes ist nicht für eure Zunge geschaffen. Die Suulak nennen uns Tha´ang. Ein Wort, das sie voller Respekt aussprechen. Für die Kleinzähne sind wir Gesandte ihrer Götter." Dem Gesichtsausdruck des Ebermanns war anzumerken, dass ihm dieser Gedanken gefiel.
"Burchert hat die Suulak dort heimtückisch erstochen, um mit ihrem Blut einen Sturmzauber zu nähren." Odilon wies mit dem Kopf auf die Opferstätte. "Es gibt Hinweise, dass Dhaza im Spiel war. Diese Grube hat leider sehr viel Unfrieden und Leid gestiftet, auch in unserer Welt. Dhao acan a´dao acan."
Der Waldläufer war bewusst ins Isdira verfallen. Odilon war nicht entgangen, dass Fiorg jeweils das elfische Wort für Druide, Duridya, und für Wildschwein benutzt hatte, Morka. Offenbar waren es die beiden Eberlinge gewohnt, sich mit Spitzohren, nicht mit Menschen zu unterhalten. Fiorgs Miene hellte sich auf, insofern Odilon das Mienenspiel eines Wildschweins richtig zu deuten verstand. Aber der Baernfarn spürte, dass sie als Menschen für die "Tha´ang" ebenso merkwürdig wirkten, wie es umgekehrt der Fall war. In ihren Augen waren Timoin und er wohl nur aufrecht gehende, sprechende Moosaffen mit Waffen und Gewändern. Jedenfalls Kreaturen, die nichts mit der Welt der Feen und Elfen gemein hatten. Nun, letzteres stimmte nicht ganz, auch wenn seine geliebte Jirka ihm da sicher widersprochen hätte.
Dhaza, das Wort stand für die Macht des Namenlosen. Odilons letzter Satz - "Dein Schmerz ist auch mein Schmerz" - war ernst gemeint. Vielleicht ein wenig ironisch, wie im Elfischen üblich. Odilon deutete auf das Blut, das sich mittlerweile rund um seine Stiefel ausbreitete.
Fiorg nickte, lenkte sein Pferd neben Odilon und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ungestüme Kraft durchströmte den Leib des Waldläufers, und ein wohliges, warmes Gefühl, dass er von den Heilzaubern der Elfen her kannte. Allerdings hatte noch nie ein schwergepanzerter Ritter einen Zauber auf ihn gewirkt (da laut Veneficus Metall jede magische Macht hemmte). Nun gut, von einem aufrecht gehenden oder besser gesagt reitenden Wildschwein war er bislang auch noch nicht geheilt worden.
Odilon spürte, wie sich die Wunde schloss, und blickte den "Tha´ang" dankbar an. "Nurd´dhao!"
"Bedanke dich nicht. Als der Weise des Waldes ein Tor in unsere Welt gerissen hat, ist sehr viel Mandra hinaus geflossen. Es ist gut, auch diesen Fluss wieder in geordnete Bahnen zu lenken." Fiorg sprach ebenfalls Elfisch. Odilon war sich keinesfalls sicher, ob er den Sinn der Worte verstand, die wie gewohnt mehrdeutig waren. Stöhnend rappelte sich Burchert auf, und hielt sich taumelnd den Kopf. "Was...was in Sumus Namen...!" Torkwyn berührte den Graubärtigen beiläufig mit seiner Lanze. Der Druide erstarrte mitten in der Bewegung, mit weit aufgerissenen Augen, und regte sich nicht mehr.
"Zur Zeit des alten Bundes haben wir allein jeden Frevel im Schatten des Waldes bestraft ", sagte Fiorg. "Falls Glyrana das Bündnis erneuert, werden wir über den Duridya Gericht halten. Führe uns nun zur Herrin dieses Landes."
Odilon blickte auf die Statue des Druiden, der ihn entsetzt anstarrte. Irgendetwas sagte den Waldläufer, dass der Blutzauberer seine Umgebung noch wahrnahm. Timoin wusste nicht, wohin er noch schauen sollte.
"Ich kann euch gerne zur Burg führen. Aber ich muss euch warnen. Es ist noch ein ganzes Stück bis nach Gernatsborn. Anders als ihr waren wir zu Fuß unterwegs."
Fiorg griff nach einem elfenbeinernen Horn, das ebenfalls an seinem Sattel hing, und blies hinein. Der mächtige Ruf des Horns drang durch den Wald. Krähen flatterten erschrocken auf. Im nächsten Moment war ein Wiehern zu hören. Eine Stute eilte wie aus dem Nichts herbei, deren Fell und Mähne weißer leuchteten als der Schnee, der unter ihren goldenen Hufen zerstob. Verwirrt blieb das herrliche Tier stehen. Hätte seine Stirn ein güldenes Horn geziert, wäre es von einem Einhorn kaum mehr zu unterscheiden gewesen. Das Zaumzeug und der Sattel waren ähnlich verziert wie die Rüstungen der Manneber.
Fiorg zog seine Lanze aus dem Boden und deutete erst auf Odilon, dann die Stute. Der Waldläufer nickte, griff nach dem Zügel und beruhigte das Tier mit einigen Worten auf Isdira. Die aufgestellten Ohren zeigten, dass auch diesem Geschöpf der Klang der Elfensprache vertraut war. Odilon schwang sich in den Sattel und lenkte das Tier einige Schritt im Kreis. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine Lippen. Seit Kutaki hatte er sich auf dem Rücken eines Pferdes nicht mehr so sicher, ja vertraut gefühlt, als wären diese Stute und er schon gemeinsam in hundert Schlachten und Abenteuer  geritten.
"Eines noch. Ihr solltet Eure Helme tragen, wenn wir nach Gernatsborn reiten. Nicht jeder auf dieser Seite ist einen derart extravaganten Anblick gewohnt. Zur Burg geht es in diese Richtung..."
Die Feenritter verbargen ihre Wildschweinhäupter. Dann entrollten sie die Fähnchen ihrer Lanzen, die einen goldenen Baum auf grünem Grund zeigten.
Der Schwarze Bär lenkte das Pferd an die Spitze ihrer merkwürdigen Gemeinschaft.
"Und ich, Odilon?" Das kam von Timoin.
"Schwing dich hinten in den Sattel."
Sein Schüler tat, wie ihm geheißen worden war. Odilon suchte einen Weg die Anhöhe hinab. Es klarte immer mehr auf, der Schnee begann bereits zu schmelzen. Zu dem verrückten Wetter des heutigen Tages gesellten sich nun auch noch einzelne Nebelschwaden. Es wurde wieder warm, das Wetterchaos verwandelte sich in einen lauen Sommerabend, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Die ersten Vögel begannen wieder zaghaft zu zwitschern. Nach einer kurzen Strecke war es für die Reiter möglich, bis hinüber nach Gernatsborn blicken. Rund um das Dorf lagen immer noch einzelne Schneereste. Ein gewaltiger Erdrutsch war durch den Wald gewalzt und hatte sich in die Grube geschoben, die jetzt Teil einer großen, trüben Gernatbucht war. Auch die andere Seite des Flusses war überflutet worden und hatte sich in einen sumpfigen Auenwald verwandelt. Der Weg zur Burg schien völlig überflutet zu sein.
Über allem leuchtete ein prachtvoller Regenbogen, in den bunten Farben der Tsa.

Odilon, mit Timoin hinter ihm im Sattel, führte die seltsame Schar an. Die beiden Feenritter, die ihm folgten - mit dem erstarrten Gefangenen im Schlepptau, den sie auf ein weiteres Elfenpony gebunden hatten, sie wirkten auf ihn, seltsam, gleichermaßen vertraut und doch fremd. Er vermochte es nicht in Worte zu fassen. Sie wirkten, als würden sie einfach zum Wutzenwald gehören, als wären sie schon immer da gewesen, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte. Es war… ohnehin ein ganz besonderes, eigenartiges Gefühl, durch den Wutzenwald zu reiten. Der Wald war, nun, eben nicht nur ein Wald. Ebenso wie der Silberbuchenwald oder auch der Silvanden Fae - beides Wälder im fernen Norden, die Odilon von früheren Fahrten kannte - lebte der Wald. Nicht nur die Bäume, die Tiere, nein, auch der Wald selbst schien eine Seele zu haben.
Oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Die Ereignisse des Tages waren wirklich schwer in Worte zu fassen. Eigentlich müsste er doch Angst verspüren, oder zumindest Sorge. Ein übermächtiger, das Wetter beherrschender Druide, Feenritter, die wie aus einer anderen Welt zu stammen schienen, und er empfand das als… völlig normal! Das war, was Odilon fast am meisten überraschte. Obwohl alles so anders war, so ungewohnt und mindestens bis vor vielleicht einer Stunde auch so bedrohlich, so fühlte er sich… seltsam… so, als wäre er heimgekehrt, als würde Jirka am gemeinsamen Lagerfeuer auf ihn mit einem Tee aus Waldkräutern und einem gebratenen Rotpüschel mit Preiselbeermarinade warten. So, als wäre er nach einer langen Reise durch die Wildnis nach Hause zurückgekehrt.
Aber er hatte zwei Feenritter zur Begleitung, nicht seine Gemahlin. Der alte Waldläufer war verwirrt… Mit einem Mal wusste er, an wen dieser Fiorg ihn erinnerte. Die Stimme glich der Rallions, dem Ältesten der Sippe, bei der er Jirka getroffen hatte. Damals, vor über vier Jahrzehnten, im Silberbuchenwald. Eine Stimme, die er nie vergessen hatte.
Der alte Waldläufer gab dem Pferd die Zügel frei, vertraute einfach dem Instinkt des Tieres. Er vermochte nicht zu sagen, wieso. Aber es schien ihm einfach das richtige zu sein. Es war die gleiche Zuversicht, die ihn durchströmte, wie damals, als er durch die schneebedeckte nivesische Tundra auf den Kvill zugewanderte, mit nichts als der Neugier, den sagenhaften Silberbuchenwald selbst zu erleben.
Der Wutzenwald.
Warum war ihm das früher nicht aufgefallen, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen beiden Wäldern waren. Wälder, in denen man sich gleichzeitig verloren und geborgen fühlte. Wälder, die ihren eigenen Willen zu haben schienen. Wälder, die man nicht einfach durchwanderte und deren Gefahren sich nicht auf das Verirren oder die Begegnung mit Wilden Tieren beschränkten.
Ein Gefühl, das er im Schratenwald oder im Rammholz nie gehabt hatte, in seiner Gallyser Zeit.
Odilon musste sich zwingen, sich zu konzentrieren, sich nicht einfach treiben zu lassen. Er hatte versprochen, die beiden Elfenritter zur Herrin des Landes zu bringen. Und zu Glyrana. Das hatten die beiden verlangt, auch wenn Odilon nicht wusste, ob sie damit nur Glyrana oder auch Haldana gemeint hatten. Vielleicht war es den Eberbiestingern auch egal, welches Rosenohr die alten Absprachen verlängerte, solange sie nur eingehalten wurden.
Warum dachte er jetzt über die Menschen als Rosenohren? Einen Augenblick lang hatte er sich fast selbst mehr als Elf denn als Mensch gefühlt. Ob das an all den Jahren mit Jirka lag? Oder erlag er gerade selbst  der Mystik des Wutzenwaldes. Irgendwie driftete Odilon mit seinen Gedanken immer wieder ab.
Ein lauer Praioswind schmolz die letzten Reste des Schnees ab. An einer Hangkante über dem Gernat hielt Odilon an, blickte über das Gernatstal, das sich vor ihm erstreckte.
Noch immer stand der Fluss deutlich über seinem regulären Ufer, aber ein Blick auf die Wiesen firunwärts des Gernat und den Hang auf der diesseitigen Flussseite verriet, dass der Pegelstand schon wieder sank. Schlimmer als das Wasser schien aber der Matsch sein, der sich überall hin erstreckte, wo sie Flut vorgedrungen war. Die Pfade und Wege waren unter Schlamm, Geröll, mitgerissenem Gehölz versunken. Es mochte ein glücklicher Umstand sein, dass das Gasthaus Gernats Rast nicht mit dem Element Efferds mitgerissen war. Es würde dennoch Tage, eher Wochen, dauern, Schutt und Schlamm abgetragen und die Schäden am Gemäuer zu reparieren. Odilon mochte sich gar nicht vorstellen, was das für die Ernte ausmachen. Aber mindestens auf den ufernahen Feldern dürfte die Arbeit des ganzen Jahres vernichtet sein.
Odilon hatte die Schar nicht direkt zur Burg geführt, auch wenn das Gemäuer schon in Sichtweite war. Nur noch ein kurzer Ritt hangabwärts wäre es bis zum Burgtor - der Weg dahin schien gangbar zu sein, trotz des Matsches, der herumliegenden Äste und der umgestürzten Bäume, derer vier den Weg herab behinderten.
“A´dahr Rhiana”
Fiorg hielt sein Ross mit einem kurzen Kommando an, zeitgleich als auch Odilon meinte, dass hier der richtige Ort war. Hinter ihnen ragten Felsen auf, und wiederum dahinter das undurchdringliche dunkle Grün des Waldes. Von hier oben war der Blick auf den Fluss und die Burg wirklich beeindruckend.
Nur dass der Fluss im Augenblick eher die Ausmaße eines Sees hatte.
“Ich denke, hier sind wir richtig” sagte Torkwyn.
Helle Stimmen waren unweit von ihnen im Wald zu hören.
“Ein würdiger Ort, fürwahr,” stimmte Fiorg zu.
Odilon nickte, auch wenn er nicht so recht wusste, wieso. Aber der Ort schien tatsächlich passend zu sein. Wofür nur? Nun, immerhin die Aussicht war majestätisch.
“Es ist nur noch den Abhang herunter, gleich sind wir auf der Burg” hörte Odilon Glyranas Stimme. Gleich darauf trat die Edle, gefolgt von Haldana und Alboran - ganz unschicklich Hand in Hand gehend - aus dem Dickicht des Waldes hervor.
“Es ist wirklich ein würdiger Ort” hörte die Baronin die Vertraute Stimme der alten norbardischen Seherin wieder. “Er war es damals, und er ist es jetzt. Sieh, Haldana. Dort drüben, die Furt, dort hat die Jägerin Artema ihre Schar aus dem Norden über den Fluss geführt vor dreizehn Jahrhunderten. Hier hielt sie Rat, hier wurde das Bündnis geschlossen. Es ist der einzig würdige Ort.”
“Du sagst es, Nasdja” antwortete Fiorg. Hier hat es angefangen. Schon lange bevor Artema ihre Schar hier über den Gernat führte zwar, aber es ist richtig, was du sagst.
Alboran, Glyrana und Haldana waren überrascht. Alboran und Glyrana, weil sie nicht verstanden, mit welcher Nasdja der seltsame Ritter sprach, und Haldana, weil sie sich nicht erklären konnte, warum auch der Fremde Nasdja hören konnte. Bislang hatte nur sie allein Nasdja hören können. Und sie fragte sich, wofür das hier ein würdiger Ort sein sollte.
Der Ring, ihr Verlobungsring. Er leuchtete in einem kräftigen Grün. Hatte das etwas mit der Anwesenheit Odilons und seiner seltsamen Begleiter zu tun? Haldana wusste es nicht. So ganz klar war ihr nicht, was es mit der Bewandtnis ihres Verlobungsringes auf sich hatte.
“Nurd`dhao, Nasdja. Ad gudam aria tha andarja i mada.”
“Ich grüße dich, Nasdja, schön, dass du die Herrinnen des Landes zu uns führst.” Odilon verstand, was Fiorg aus Isdira sagte und übersetzte es, nur auf die Bedeutung des Wortes oder Namens Nasdja konnte er sich keinen Reim machen.
Haldana straffte sich, ließ Alborans Hand los. Das schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Turteln zu sein.
“Ich grüße auch Euch, fremde Ritter. Ihr scheint zu wissen, wer wir sind? Glyrana, die Edle zu Gernatsborn, mein Verlobter, der Junker Alboran von Friedwang sowie ich, Haldana von Binsböckel?” Haldana bemühte sich, trotz ihres zerzausten und schmutzigen Aussehens, etwas Würde auszustrahlen. Sie war überrascht, dass offenbar Nasdja sie hierher geführt haben sollte, hatte ihre Urahnin doch nichts zu ihr gesagt, dass hier jemand auf sie warten würde. Aber zugleich wusste sie, dass der Wutzenwald auf andere Weise, nun, funktionierte. Es würde seine Richtigkeit haben. Haldana wusste nicht so viel über den Wutzenwald, wie sie als Baronin wohl wissen musste, schwante ihr. Aber sie vertraute Nasdja, und wenn diese Fremden sie kannten und wahrnehmen, dann schienen sie vertrauenswürdig zu sein. “Da meine Ahnin dieses Treffen offenbar anberaumt hat, willkommen in Schlotz. Darf ich fragen, mit wem wir die Ehre zu sprechen haben?”
Glyrana war ein wenig verwirrt. Sie verstand nicht alles, aber auch sie wusste genug über den Wutzenwald um zu wissen, dass man niemals alles über den Wald wissen konnte, und dass man mit den Geheimnissen und Verwirrungen einfach leben musste.
Fiorg nickte. “Wir kennen Dich, Herrin des Schlotzes. Und auch Dich, Herrin der Gernatsbeuge. Dich kennen wir nicht, Herr von Firuthawagan, aber ich bin sicher, wir werden uns noch kennen lernen. Wir sind Fiorg und Torkwyn, Ritter der Hüterin des Waldes.”
Haldana wusste nicht, wen die beiden als Hüterin des Waldes bezeichneten, aber sie war sicher dass sie das noch erfahren würde.
“Aber...warum…” begann Haldana, beendete ihre Frage aber nicht. Zu sehr war sie noch verwirrt von den schwer fassbaren Ereignissen.
“Warum..” antwortete Odilon. “Warum der Druide das gemacht hat?” Odilon wies auf den erstarrten Gefangenen, der noch immer mit Seilen aus lebendig-grün wirkenden Seilen gebunden war. Seile? Konnte man die beblätterten und mit weißen Blüten gezierten Stränge so nennen? Er kannte ähnliches von Jirkas Elfenmagie, dass Pflanzen in ihrem Wachstum beeinflusst wurden. Aber dass Pflanzen, die nicht mehr in der Erde wurzelten, noch lebten und sich dem Zauber der Feeischen fügten, das hatte er auch noch nicht erlebt. Doch Odilon konzentrierte sich auf das, was er berichten konnte. Wie sollten die junge Baronin und die Edle von Gernatsborn sonst sich einen Reim auf all das machen können. “Nun, er war fehlgeleitet vom Wirken des Dhaza, des Nicht zu Nennenden. Aber zugleich scheint er auf eher radikale und kompromisslose Art den Alten anzuhängen. Das Kupferbergwerk, das war sein Ziel. Er sah es als Sumufrevel an, und strebte danach, es zu zerstören. Mit fragwürdigen Methoden, nein, mit Methoden, die nicht duldbar und nicht entschuldbar sind. Blutmagie ist ein nicht minderer Frevel gegen Sumu.”
Haldanas Blick fiel auf die Ritter, die die Gesandten der Hüterin des Waldes zu sein behaupteten. Die beiden seltsamen Ritter sahen sich an. Dann nahmen beide ihre Helme ab. Glyrana, Alboran und Haldana blieb der Mund offen stehen. Tatsächlich, sie waren schon überrascht über die Ankunft zweier Ritter gewesen. Dass diese sich nun als Eberbiestinger - konnte man sie so bezeichnen? - entpuppten, nun… aber vermutlich musste man an einem solchen Tag mit allem rechnen.
Glyranas Blick fiel von den seltsamen Rittern auf den erstarrten und gefangenen Mann, der der Urheber des Unwetters gewesen sein sollte. Ein fragender Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. Ohnehin war das alles eigentlich zu viel für einen einzigen Tag. Glyrana machte sich Sorgen um ihre Familie und um die Menschen auf dem Gernatsborn. Der Blick hinunter zum Fluss zuvor hatte nicht gutes verhießen, und wo gestern noch die Kupfermine war, erstreckte sich heute eine einzige braungraue Matschmasse. Das war schon schlimme genug, aber sie wusste nicht, wie es im Rest ihres Lehens aussah, ob auf der Burg alles in Ordnung war.. Und jetzt war sie hier. Mit Haldana, ihrer werdenden Lehensherrin, die für sie in der kurzen Zeit, die sie sich gesehen hatten, sehr vertraut geworden war. Mit dem künftigen Baron des Landes, und jetzt mit zwei… nun, sie war ja schon einmal bei den Wutzen gewesen, vielleicht blieb sie deshalb vergleichsweise ruhig. Anders als Alboran, dessen Augen unruhig flackerten und der sich schutzsuchend Haldanas Nähe suchte.
“Gut, ihr habt uns offenbar gesucht und gefunden. Die Herrin Tsa zum Gruß - dieser Tag scheint mir besonders geeignet, den Segen der jungen Göttin zu erbeten. Ich freue mich sehr, Euch auf meinem Land, hier in Gernatsborn, begrüßen zu dürfen. Vielleicht habt ihr die Freundlichkeit, ein wenig zu erklären, was das hier alles zu bedeuten hat.” Ihr Blick wies auf den gefangenen Druiden.
“Nurd´dhao Tsa´ha, ero Odilon hva ruja jama” antwortete Fiorg.
“Er meint, ich solle das erklären” fasste Odilon den Ausspruch des Feenritters zusammen. “Zwar sprechen beide unsere Sprache, scheinen sich sonst jedoch des Isdira, des Elfischen, zu befleißigen. Nun.. ja… dieser Gefangene. Das ist Burchert vom Born. So nennt er sich jedenfalls. Ein Druide. Derjenige, der durch ein unheiliges Ritual und durch Blutmagie dieses Unwetter herauf beschworen hat. Timoin und ich haben ihn gefangen genommen. Doch Fiorg und Torkwyn beanspruchen das Recht, dass sie über ihn zu richten haben.”
“Dha Judra hva A´thra Wa´neja” unterbrach Torkwyn.
“Ich muss mich verbessern. Die Hüterin des Waldes wird über ihn richten.” korrigierte sich Odilon.
“Soso… dieser Gefangene ist also der Urheber dieser Katastrophe. Immerhin gut zu wissen, dass der Übeltäter geschnappt ist. Dass ich jemanden als Richter eingestellt habe, ist mir jedoch neu.”
Haldana wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Aber sie wusste, dass ihre Mutter die Gerichtsbarkeit in Schlotz immer selbst ausgeübt hatte, und dass sie das nicht gutheißen würde, sich ihre Privilegien und Pflichten abnehmen zu lassen. Immerhin stand hier die Halsgerichtsbarkeit zur Frage. Sie wusste ja noch gar nicht, ob dieses Unwetter Todesopfer gefordert hatte - mindestens jedoch waren die Schäden enorm. Haldana war kein Kind mehr, war nicht mehr eine reisende Bardin wie noch im vergangenen Jahr. Die junge Baronin fühlte sich mit der Situation überfordert, aber sie wusste, dass sie die Verantwortung nicht schleifen lassen durfte.
“Hochgeboren, ja.” bestätigte Odilon, der gut einschätzen konnte, was in Haldana vorging. Die junge Baronin war, nun, eben, ein junges Mädchen. Der alte Waldläufer konnte gut nachfühlen, wie sie sich überfordert vorkommen musste. Ihr fehlte sowohl die Erfahrung als auch schlicht die Macht, sich durchzusetzen und musste das doch. “Gestattet mir, als Übersetzer hilfreich zu sein. Und gestattet mir zu erläutern, soweit ich kann. Ich weiß selbst nicht genau, was die Feenritter wollen. Aber eines weiß ich, was immer wieder, im Norden, zu Missverständnissen zwischen Elfen und Menschen geführt hat, und ich schätze, das kann hier ähnlich sein. Ihr wisst wohl, dass die Lebensspanne der Elfen die der Menschen um ein Vielfaches übersteigt. Und so kam es oft zu Streitigkeiten, weil die Elfen auf die Gültigkeit von Absprachen bestanden, die die Kinder und Enkel derjenigen Menschen, die die Absprachen einst vereinbart hatten, schon gar nicht mehr kannten. In Gerasim, Donnerbach, Uhdenberg und anderen Städten in der Grenzregion zu den Elfenlanden kennt man das Problem. Nun, auch für die Feeischen - und dazu würde ich die beiden zählen - läuft Satinav anders als für uns. Ich würde meinen, dass es wohl alte Absprachen zwischen denen, die der Wutzenwald beherbergt und einem oder mehreren Eurer Vorgänger auf dem Schlotz gab, von denen ihr vielleicht nicht wisst oder noch nicht einmal wissen könnt.”
Haldana nickte. Sie konnte sich vorstellen, nach allem was sie gehört hatte, dass ihr Vater Tsafried schon nicht alles gewusst hatte, als er sein Amt auf geheiß des Kaisers übernommen hatte. Und da er gestorben war, als sie noch ein Kind war, wie hätte er da alles weiter geben können?
“Ebenfalls” erläuterte Odilon weiter, “scheint es auch Dinge zu geben, die die Kupfermine und den Gernatsborn betreffen. Daher baten die Elfenritter vor allem auch um ein Gespräch mit Euch, Wohlgeboren Glyrana.”
Die Angesprochene fasste sich schnell und nickte. “Mit der ehemaligen Kupfermine, wolltet Ihr vermutlich sagen. Viel davon scheint gegenwärtig nicht mehr übrig zu sein.”
Glyrana blickte in Richtung der Bucht, die an Stelle der Mine entstanden war. Überall im Hangwald waren die Bäume zerzaust, umgestürzt oder zersplittert. Hier und dort ragten noch Häuserreste und einzelne Trümmer aus dem Wasser. Die Szenerie sah aus, wie sich die Mersingen die geheimnisumwitterte Havener Unterstadt vorstellte. Der Schaden an ihrem Lehensgut war sicher enorm. Zum Glück besaß das Gernatsborner Haus der Mersingen noch weitere Einkünfte, zwischen Meidenstein und Friedwang. Immerhin, das eigentliche Dorf Gernatsborn schien weniger stark beschädigt und der frisch geweihte Schrein der jungen Göttin völlig intakt zu sein, ebenso wie der Hain. Auch die Burg selbst ragte unversehrt auf, abgesehen von größeren Schneeresten auf dem Kupferdach. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, seit dem gestrigen Festbankett. Wenn nur Storko und den Kindern nichts geschehen war...Die Adelige murmelte ein Gebet.
"Sag ihr, sie kann unbesorgt sein", wisperte Nasdjas Stimme in Haldanas Kopf. "Am heutigen Tag war Heshinjas Schwester Tsa mit Euch. Dieser Sturm hat keine Menschenleben gefordert, denn ihre Seelen würde ich sehen, auf ihrem Weg über das Nirgendmeer. Ihr habt den heiligen Ort gerade noch zur rechten Zeit geweiht. Die Große wünscht sich ebenfalls einen Bund mit der anderen Welt, damit sich der heutige Tage nie mehr wiederholen wird. Das kann ich deutlich spüren."
Die Zibilja verstummte. "Ich sehe sie gerade, diese andere Welt..."
Die junge Binsböckel erschauerte. Ihre Ahnin hörte sich glücklich an, aber in ihrer Flüsterstimme schwang noch etwas anderes mit, ein zwiespältiges Gefühl. Etwas von Melancholie, Ergriffenheit und Sehnsucht. Nasdja sah etwas, was größer und schöner war als die Welt eines sterblichen Menschen und ihr doch näher lag als die entrückten Paradiese der Zwölfgötter.
"Was siehst du?" flüsterte die Baronin, ohne auf die irritierten Blicke ihrer Begleiter aus Fleisch und Blut zu achten.
"Blütenblätter, die im Frühlingswind wehen, über eine Blumenwiese voll goldenem Licht. Da ist ein einzelner, großer Baum. Davor steht sie, die Herrin des Waldes. Sie spricht zu mir, aber ich verstehe sie nicht...Ich glaube, sie möchte, dass ich in ihr Reich komme, auf dass dort meine eigene Seele für immer Frieden finden möge."
Einen Moment lang schwieg die Zibilja. Der Gedanke an das Hinübergleiten schien etwas Verlockendes zu haben. "Nein, meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich werde noch gebraucht. Vielleicht nicht mehr in eurer Welt. Aber doch als Botin zwischen den Welten, die einander nicht verstehen." Die Stimme der Norbardin klang wieder fest.
Auch auf Dere und Feste breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus. Abendlicht flutete die Landschaft, ließ den stark angewachsenen Gernat glitzern, der nun eher an den Darpat erinnerte. Die Wutzenritter standen am Felsen, überderische Wesen, die einem Märchen oder Bardengesang entsprungen zu sein schien. Praios stand bereits tief am westlichen Horizont.
Alboran blickte abwechselnd auf den grün schimmernden Ring, den er vor kurzem an die Hand an seiner Verlobten gesteckt hatte, und auf die beiden glattfelligen Manneber in ihren fein ziselierten, glänzenden Rüstungen. "Wer ist eigentlich dieser Herr von Firuthewagan?" fragte er unbestimmt in die Runde. "Hat das etwas mit unseren Herrn Firun zu tun?"
"Das bist du", sagte Odilon, der gerade über seinen Rücken tastete, nach dem Schnitt in seinem Lederkoller – und merkte, dass er ein neues Jagdgewand benötigen würde. "In ihrer Sprache nennen sie so Friedwang."
"Hat Fried und Wang nicht irgendwas mit dem altehrwürdigen Weidefrieden zu tun, rund um Burg Friedstein?"
Der Waldläufer unterhielt sich leise mit Fjorg.
"Nun, unser Besucher sagt, dass ihre elfischen Freunde den Schratenwald Firgahert´Wartan nennen. Davon leite sich das Wort her. Ich glaube, dass bedeutet so viel wie Zauberwald des Winterweißen Hirschen. Loskarän, der Heilige Hirsch des Firun, soll ja aus der Anderwelt stammen."
Alboran schaute Odilon groß an. Bislang waren dem Junker die Geschichten von Feen und Kobolden immer wie kindische Ammengeschichten vorgekommen. Mit denen man vielleicht noch den kleinen Ravenhart beeindrucken konnte. So langsam ahnte er, dass weit mehr dahinter stecken musste. Der lebende Beweis stand ja gerade vor ihm, vorausgesetzt, dass er nicht träumte. Kopfschüttelnd musterte er die beiden Feenritter, die wiederum von der sie umgebenden Landschaft fasziniert zu sein schienen. Mit zarten Grunzen sogen sie die Luft in sich ein. Langsam kam Nebel auf. Der Wald begann zu dampfen und zu rauchen. Eine der beiden Wutzen wühlte in der Erde, beschnupperte sie ausgiebig. Sie schienen glücklich zu sein, auf Dere und Feste weilen zu dürfen. Eine Welt, die sich näher an Sumu befand als das "Land Jenseits" . Zumindest nach Alborans bescheidenem sphärologischem Verständnis, das er der Unterweisung in Götterkunde verdankte. Schon die Sterne, die nach und nach über dem Nebelmeer zu blinken begannen, waren für ihn ein Rätsel. Sumus Griff, die Kraft der Schwere, entsteht in des Kosmos zweiter Sphäre. Der Merksatz schwirrte ihm durch den Kopf. Dere und Feste befand sich in der Dritten Sphäre, auch das wusste er gerade noch. Die Götter residierten in der vierten Sphäre, oder waren das die Gefilde der Geister? Da sollte sich jemand auskennen. Die Feenwelten schwebten irgendwo da draußen herum, als eine Art buntschillernde Seifenblasen im grauen Wabern des Limbus. Zumindest stellte er sie sich so vor: Flüchtig, unbeständig, flatterhaft. Praiosungefällig.
Für erdverbundene Wildschweinwesen mochte Aventurien eine überaus sinnliche Erfahrung sein. Ähnlich wie die bäurischen Sokramorier von der entrückten, zauberhaften, flüchtigen, unstofflichen Lichtwelt träumten. Nun, er ganz sicher nicht, bei seinem Heiligen Namenspatron! Alboran tastete nach dem Sonnenamulett um seinen Hals. Es fühlte sich in diesem Augenblick kühl an, wie schnödes Metall, nicht wie ein geweihtes Schutzzeichen. Zu welchen Göttern diese Kreaturen wohl beteten? Oder sahen sie sich selbst schon als Gottheiten? Dann wären sie kaum besser als Dämonen, die versuchten, Menschen mit irgendwelchen Einflüsterungen in ihren Bann zu ziehen. Würde es Sinn machen, sie zum Glauben an die Wahren Zwölfe zu bekehren? Alboran wollte das Gespräch bereits in diese Richtung lenken und hob das Amulett. Aber seine Verlobte kam ihm mit einem Räuspern zuvor.
"Nun gut, reden wir über die Probleme zwischen unseren...verschiedenen...Lagern....Standpunkten..." Haldana versuchte die strenge, gefasste Landesherrin herauszukehren. Etwas in Odilons Blick war ihr nicht entgangen, eine Art von Zweifel, ob sie dieser unvorhergesehenen "Feuertaufe" wirklich schon gewachsen war. Nun, Haldana hätte es nie für möglich gehalte, dass sie ihre ersten Verhandlungen als Schlotzer Baronin mit zwei aufrecht gehenden Wildschweinen in Ritterrüstungen würde führen müssen. Ausgerechnet. Aber immer der Reihe nach. Nasdja hatte ihr gesagt, dass kein Gernatsborner dem Wüten der Elemente zum Opfer gefallen war, den guten Göttern Alverans sei Dank. Auch wenn das wahrlich an ein Wunder der Tsa grenzte. Immerhin, dieses "Wunder" konnte man schon mal als mildernde Umstände für den (oder die?) Verursacher werten.
Nichtsdestotrotz war durch den widernatürlichen Sturm Schlotzer Gebiet geschädigt worden. Die Vorwürfe gegen den Druiden wogen so oder so schwer, von extremer Schadenszauberei bis hin zu frevlerischer Blutmagie.
Die Blutsgerichtsbarkeit oblag seit der Ochsenbluter Urkunde den Baronen des Reiches, somit ihr selbst. Die junge Adelige verzog den Mund. Blut, Blut, Blut, irgendwie schien sich gerade alles um Blut zu drehen. Tsa war eine milde Göttin, die das Töten von Lebewesen verabscheute. Womöglich war es ganz gut, wenn dieser....Burchert auf der anderen Seite des Nebels verschwinden würde. Am besten für immer. Halb fasziniert, halb mit Abscheu musterte sie den graubärtigen, kahlschädeligen Mann, der mitten in der Bewegung erstarrt war. Im Havener Wachsfigurenkabinett hätte er sicher eine gute Figur abgegeben, als sinistrer Hexenmeister aus dem Schlotzer Wutzenwald. Täuschte sie sich, oder funkelten Burcherts dunkle Augen böse? Die Glatze verunzierte eine Beule, außerdem eine üble Platzwunde, deren Blutung gerade zur rechten Zeit gestillt worden war. Haldana tastete über den erstarrten Bart und die in die Luft greifende Hand – Körperteile, die zu einer Holzstatue hätten gehören können. Wenn da nicht noch Wärme in diesem Körper gesteckt hätte. Die Restwärme von Blut, das wohl auch in den Adern des Zauberers erstarrt war.
Haldana fürchtete sich, wobei sie nicht recht hätten sagen können, wovor genau. Schauderte ihr beim Gedanken, dass dieser Sokramorier zweibeinige Opfer dargebracht hatte? Oder dass sie womöglich bald selbst ein Todesurteil würde fällen müssen? War es feige, sich vor der Halsgerichtsbarkeit zu drücken? Vor ihren Aufgaben und Pflichten als Baronin, nach mehr oder weniger sorglosen Jahren? Gewiss, sie hatte schon getötet, im Zweikampf. Aber da war es um ihr eigenes Leben gegangen. Einen wehrlosen Gefangenen zum Scheiterhaufen oder Galgen schleppen zu lassen, war etwas völlig anderes. Sollte so ihre Herrschaft über Schlotz beginnen, oder der Traviabund mit Alboran?
"Zu was ratet Ihr mir, Odilon?" fragte die Herrin von Schlotz, und wunderte sich über sich selbst. Ihre Stimme hatte überraschend fest geklungen, fast schon barönlich. "Streng genommen ist dieser Mann ja Euer Gefangener".
"Zuviel der Ehre. Timoin war mir dabei schon eine große Hilfe."
Odilon nickte seinem Scholaren zu, der gerade entzückt lächelnd das Zauberpferd hielt. Sicher war dem Jungen dessen überderische Herkunft nicht bewusst, sonst hätte er das reinweiße Fell nicht derart sorglos gestreichelt. Was für ein wunderbares Tier. Soweit Odilon wusste, würde es bald schon wieder auf seine immergrüne Weide zurückkehren. Der Schwarze Bär vermisste Kutaki, der vor vielen Jahren beiläufig von einem Bannstrahler abgestochen worden war, am Beginn ihrer Queste nach Maraskan. Das Elfenross war nur eine liebliche Illusion. Eine schöne, allzu schöne Erinnerung an längst verwehte Tage. Es half alles nichts, er musste sich dem Hier und Jetzt stellen.
Der alte Baernfarn wandte sich der Binsböckel zu.
"Es hätte leicht anders ausgehen können, mit dem Druiden und seinem verhexten Dolch. Wenn Ihr ihn zum Schlotz schaffen wollt, solltet Ihr an Eisen nicht geizen. Dennoch...Burcherts Überwältigung war ein wenig zu leicht, für meinen Geschmack. Blutmagie ist abscheulich, aber... Ich sehe die Gefahr, einen Märtyrer zu erschaffen, wenn Ihr ihn aburteilt. Dieser Burchert war felsenfest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Jedenfalls nichts Böses. Ja, er wollte uns sogar auf seine Seite ziehen. Weil er uns ebenfalls für Verbündete der Alten Kulte hält. Sicher würde er diese Meinung auch in einem Gerichtsverfahren vertreten. Ich fürchte, dass Burchert damit bei vielen Schlotzern auf Verständnis stoßen würde, und auch sonst auf offene Ohren. Drei tote Goblins werden hierzulande nicht allzu viel Mitleid erwecken. Auch wenn der Codex Albyricus da eine klare Sprache spricht. Wer vernunftbegabte Zweibeiner für magische Zwecke opfert, ist so gut wie vogelfrei, sofern er keiner Magiergilde angehört. In diesem Fall würde ein Magus von den eigenen Gildenkollegen mit dem Feuertod bestraft werden."
"Die Sokramorier würden wahrscheinlich schon protestieren, wenn wir Holz für einen Galgen oder Scheiterhaufen schlagen würden." Haldana versuchte ein sarkastisches Lächeln. "Aber wir müssen herausfinden, welche Hintermänner und Helfer er gehabt hat. Vor allem, was er mit diesem Attentat auf Glyrana zu tun hatte. Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar, handelt es sich bei dem Zauberer ebenfalls um einen gefährlichen Anhänger des Namenlosen..."
"Verhören würde ich ihn auch gerne. Aber dass er mit dem verfluchten Dreizehnten unter einer Decke steckt, das glaube ich nicht. Verblendet, ja, so könnte man Burchert bezeichnen. Ich vermute, dass ihn ein Seelensammler in die Irre geführt hat, in Gestalt eines schwarzen Eichhörnchens. Wir hatten ein paar Mal mit diesen Tierdämonen zu tun. Mal sind sie in Gestalt eines Rattenkönigs aufgetaucht, mal als Piratenpapagei… Shruufschnabel, ich kann ich mich noch gut an ihn erinnern...die Pest holt den Rest..." Odilon lächelte gequält.
"Seelensammler?"
"Daimonide Kreaturen. Vermutlich wurden sie von Merwan dem Schrecklichen erschaffen oder herbeigerufen, dem Vampirmagier. Ein Kind der Finsternis, das in der Wildermarkzeit die Baronie Friedwang geknechtet und ausgesaugt hat. Eine eigene Geschichte. Es gibt die Vermutung, dass sie Menschen die Seele stehlen, im Augenblick des Todes..."
"So könnten Burcherts Übeltaten auch auf...dämonische Einflüsterungen zurückgegangen sein?"
Odilon nickte anerkennend. Haldana lernte schnell.
"Nun, ich möchte es zumindest nicht ausschließen. Auch wenn manche Menschen sicher empfänglicher für finstere Versuchungen sind als andere. Wer mit dem Dämonensultan speist, braucht einen langen Löffel, beim Heiligen Alwin!"
Haldana dachte mit Grausen an ihre Begegnungen mit Golo, dem Schiefhals. Es war nicht nur die Last des Richteramts, das sie drückte. Eine Richterin, die regelmäßig von einem Diener des Namenlosen, in Gestalt eines "Nachtmahrs" heimgesucht wurde, andere Geister sah und Zwiegespräche mit einer Urahnin führte - wie praiosgefällig konnte deren Urteil sein? Mehr noch, die Befragung des Schwarzdruiden fiel womöglich in die Zuständigkeit der Heiligen Inquisition. Die Rotpelze hatten vor ihrem Ableben einen Praioten attackiert, der dort unten auf der Burg weilte. Der Stein, den sie mit Burcherts Anklage ins Wasser warf, würde schnell Kreise ziehen. Vielleicht sogar Wellen bis nach Rommilys schlagen. Anselm Horninger, der Inquisitionsrat der Mark, galt als harter Hund, selbst für die Verhältnisse seiner Zunft. Ein Spürhund, der sicherlich nicht nur eine Fährte verfolgen würde. Golo, ihr geisterhafter "Gemahl", hatte schon zu Lebzeiten eine deutliche Spur hinterlassen.  
"Mit welcher Strafe müsste der Zauberer denn in diesem...Feenreich rechnen?"
Odilon unterhielt sich mit den beiden Eberrittern, die gerade Tannenmisteln entdeckt hatten, und sich daran labten, als wären sie im sagenhaften Schlemmerland gelandet. In diesem Moment wirkten sie wieder tierhaft, wie zweibeinige Wildschweine. Fiorg schob sich auch noch ein paar Pilze zwischen die Eberzähne und schmatzte.
Der Dolmetscher drehte sich um: "Feenstrafen sind nicht sehr streng, wenn es um Ihresgleichen geht. Oft werden Missetäter in Felsen oder Bäume gebannt."
Glyrana schüttelte verständnislos den Kopf: "Ein böser Geist, der hier, am Ufer des Gernat, oder im Wutzenwald sein Unwesen treibt? Kommt gar nicht in Frage!"
"Manchmal werden böse Feen auch in Braunchen verwandelt, und müssen Wiedergutmachung leisten, als Hausgeister bei den Menschen."
"Braunchen?" fragte die Baronin. "Klingt wie ein Gebäck oder eine Süßigkeit !?"
"Braunchen sehen aus wie alte Männer oder Weiblein, geschrumpft, mit brauner Haut und Lumpen als Kleidung. Wenn ich mich richtig an die Feenfabeln aus Albernia erinnere...gar nicht so unähnlich wie der da!" Odilon klopfte mit der Faust auf Burcherts Kopf. "Nur kleiner. So groß wie Kobolde, oder Hämmerlinge. Als Lohn genügt ihnen ein Schälchen Milch. Man darf ihnen nur keine neuen Gewänder schenken, dann verschwinden sie."
"Milch trinken statt Blut vergießen, das wäre für diesen Hexenmeister ein Fortschritt. Ebenso, wenn der Druide hilft, die Schäden zu beseitigen, die er angerichtet hat. Aber dieser Burchert ist ein Mensch, keine Fee." Haldana umschritt den "Versteinerten".
Fiorg grunzte und ging zu seinem Kaltblüter, der sich zwischen den Bäumen des Hochplateaus an Süßmoos gütlich tat. Dann zog er aus einem glitzernden Samtbeutel eine kleine, rote Zipfelmütze hervor, die wie eine Elfenkappe aussah - zumindest so, wie sich manche Städter die Kopfbedeckung eines Spitzohrs vorstellten.
Der Wutzenritter unterhielt sich mit Odilon wieder in seiner eigentümlichen Sprache, die wie eine Mischung aus Isdira und Thorwalsch klang. Der Baernfarn nickte.
"Ah, verstehe. Diese Kappe beraubt Feenwesen, aber auch Grauweltler ihrer magischen Kräfte. So lange, bis ihnen die Koboldsmütze wieder abgenommen wird, müssen sie der Herrin des Waldes gehorchen. Grauweltler, so nennen sie uns Geschöpfe außerhalb ihrer bunten Anderwelt. Wenn die Hüterin Burchert für schuldig befindet, wird sie ihn zurück in unsere Welt schicken. Desweiteren bietet sie einen Feenpakt an. Die Wutzenritter kommen in Frieden, aber sie wissen kaum mehr von diesem Land als wir von dem ihren. Ich habe ihnen erklärt, dass es neben der Herrin von Gernatsborn auch noch eine Baronin in Schnayttach gibt. Wenn ich es richtig verstehe, wurde schon einmal ein Bund zwischen den Herren von Schnayttach und dem Lichten Volk geschlossen...Ein Bund von Wald, Berg und Fluss, wie sie ihn nennen."
Haldana runzelte die Stirn. "Vor einiger Zeit" bedeutete in feeischen Maßstäben sicher vor mehr als einer Ewigkeit. Soviel glaubte sie bereits verstanden zu haben. Ihr Vater war erst zur Zeit Kaiser Hals mit der Baronie Schlotz belehnt worden. Mit den Alten Kulten hatte er wenig am Hut gehabt, auch oder gerade weil er selbst elfisches Blut in den Adern gehabt hatte.
Allerdings hatte es früher noch einen Greifenfurter Zweig der Familie gegeben, die ebenfalls in einem Dorf Schnayttach residiert hatten, Schnayttach am Rinnsee, wo lange Eidon Wischbart von Schnayttach-Pilzhain Baron gewesen war: ein entfernter Verwandter, an den sie sich vor allem wegen des drolligen Namens erinnern konnte.
"Onkel Wischbart", den sie sich als Kind immer mit riesigem, über den Boden schleifenden Trollbart vorgestellt hatte, war in der Zeit der Wirren zu Rondra gegangen, im Götterlauf vor ihrer Geburt. Angeblich sollte der Baron auf einer Queste mal echten Feen begegnet sein. Außerdem von der Amazone Liliane abstammen, die schon zur Zeit Rohals durch einen Pilzkreis in das Land hinter dem Regenbogen geraten war (deshalb auch der "angeheiratete" Familienname Pilzhain). Einen ganz Monat sollte die Rondradienerin dort verbracht haben, bei ihrer Rückkehr aber gerade mal die Zeit bis zum Sonnenuntergang vergangen sein. Auch an diese Erzählung aus Kindertagen vermochte sich Haldana wieder zu erinnern. Seltsam, in diesem Fall schien Satinavs Fluss in der jenseitigen Welt schneller geströmt zu sein, als im Diesseits.
"Lili", so hatte ihre Lieblingspuppe geheißen, die in ihren Augen immer eine wunderschöne Fee gewesen war. Wie auch immer, die Greifenfurter Linie war seit dem Krieg erloschen – womöglich war in den Augen der Feen sie, Haldana, zu deren Nachfolgerin geworden? Aber den Wutzenwald, um den es ging, gab es doch nur hier, im Sichelhag? Die junge Adelige musste zugeben, dass sie sich selbst in der Geschichte der Schlotzer Schnayttachs nicht gut auskannte. Ihre Mutter hatte sie als Binsböckel erzogen. Die Geschichte von Großvater Nengarions Eltern war besonders sorgfältig bemäntelt worden. Lag es an ihrer elfischen Urgroßmutter, dass sie überall Gespenster sah und jetzt sogar Feenwesen anlockte? Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie über das "wahre Schlotz" kaum mehr wusste als über die underischen Gefilde, aus der die Manneber herbei geritten waren. Die Binsböckel verschränkte die Arme, ein wenig trotzig: "Soll dieses Bündnis nun mit dem Junkerhaus Gernatsborn-Mersingen oder uns Binsböckel-Schnayttachs geschlossen werden? Mit dem Kupferbergbau hatten wir nie etwas zu schaffen...andererseits sind wir die Herren der ganzen Baronie."
"Nun, was die Baronie angeht, so wünscht sich die Herrin des Waldes, dass in ihrem Reich keine neuen Dörfer mehr gegründet werden. Die Köhler werden ihre Meiler nur noch am Waldrand errichten. Brandrodungen sind von nun an verboten, ebenso das Schlagen alter Bäume, die ein Feenzeichen haben. Fragt die Diener der Sokramur, sie wissen, was damit gemeint ist. Es werden nicht mehr Bäume gefällt, als innerhalb eines Götterlaufs neu gepflanzt oder gesät werden können. Der einzige Weg, der Menschen durch den Wutzenwald gestattet sein soll, ist der Pfad Eures Großvaters Nengarion, dem ihr bereits gefolgt seid. Als Zeichen der Ehrerbietung sind den Wutzen Eicheln oder Bucheckern darzubringen, wann immer ein Zweibeiner der Wald betritt. Untaten und Frevel, die im Wutzenwald begangen werden, unterliegen allein dem Richtspruch der Herrin des Waldes. Im Gegenzug werden die Wutzen dort keine Räuber zulassen und dem Schlotz gegen finstere Mächte beistehen. Für Gernatsborn gilt das Gleiche, insbesondere was das Fällen von Holz oder das Pflanzen und Säen von Bäumen betrifft. Vor allem aber verzichten die Junker von Gernatsborn darauf, auf ihrem Land nach Erz zu schürfen. Für alle Zeiten." Odilon klang wie ein Herold. "Das sind nicht meine Worte, dass sind die ihrigen", fügte er mit entschuldigender Miene hinzu.
Glyrana schluckte. Auf das Kupferbergwerk verzichten? Als Vögtin war sie es gewohnt, in Dukaten, Abgaben, Erträgen zu denken. Andererseits, viel Gewinn hatte die Mine nie gebracht, allein wegen des ständig eindringenden Gernatwassers. In den letzten Jahren war das Kupfer auch vollständig in den Burgausbau geflossen, der nun abgeschlossen war. Der Verlust der Kupfergewinnung würde der Familienkasse zumindest gefühlt nicht viel schaden. Und schon ihre Wiederherstellung würde ein kleines Vermögen kosten. Für Storko hat die Mine vielleicht auch einen sentimentalen Wert, war sie doch die Grundlage für den Aufstieg der Familie Geratsborn. Aber die Gernatsborner waren Geschichte und Glyranas Mersinger Meisterpläne schielten schon auf das Oppsteiner Silber, auf das sie über den Erbanspruch von Ismena von Oppstein-Baernfarn und einer Heirat in ihr Haus zugreifen wollte. Dennoch, wer war diese "Herrin des Waldes", dass sie glaubte, dem göttergegebenen Adel sämtliche Bedingungen vorschreiben zu können? 
"Die Straßen in Schlotz sind schlecht, wir brauchen neue, feste Wege. Und der Holzeinschlag muss sich auch rentieren..."
"Ich glaube nicht, dass die Forderungen der Wutzen verhandelbar sind", sagte Odilon.
"Nun, reichsrechtlich steht das Ganze doch auf etwas wackeligem Boden. Wer sagt uns, dass die Wutzen ihren Teil der Vereinbarung einhalten werden, ohne Brief und Siegel?"
 “Es ist ein Feenpakt, der gewiss nicht jedem Sterblichen angeboten wird, sei er nun Junker, Baron oder Graf. Seht es als große Ehre und als ein Bündnis, das auch noch euren Kindern und Kindeskindern Nutzen bringen mag. An der Siebenwindigen Küste gibt es so etwas öfters, ebenso bei den Elfen. Man tauscht Geschenke aus. Nimmt der andere sie an, ist der Bund besiegelt."
"Bund? Feenpakt? Das hört sich in meinen Ohren wirklich etwas windig an." Die stolze Mersingen wollte durchaus nicht einsehen, dass sie sich hier von Wildschweinen Vorschriften machen musste (auch wenn in ihren Weidener Ländereien ebenfalls mit Respekt vor Pandlaril und anderen Feen gesprochen wurde).
"Es ist kein besserer Dämonenpakt, wenn Ihr so etwas vermutet, Euer Wohlgeboren." Odilon unterhielt sich wieder mit Fiorg und Torkwyn. Dieser zog nun eine kleine, gläserne Flöte aus dem Samtbeutel und überreichte ihn mit einer Verbeugung Haldana. "Das Geschenk an Euch, Hochgeboren Haldana. Eine Feenflöte. Man sagt, ihr Klang beruhigt die Wilden Wutzen und dringt weit in Artemas Reich. Wann immer Ihr einen Wunsch auf dem Herzen habt, der die Feenwelt betrifft, kommt an diesen Ort und spielt eure Lieblingsweise. Die Ritter werden herbeieilen, so schnell wie es ihnen möglich ist."
Die junge Baronin nahm überrascht und fast schon erschrocken die Glasflöte in die Hand. Sie wirkte zerbrechlich, wie ein Eiszapfen, und schimmerte doch in den warmen Farben des Regenbogens. Haldana konnte einfach nicht widerstehen. Sie spielte einfach los, die alte seenländische Weise Fährst du ins schöne Nostria fort. Die zartsilbrigen, sphärischen Klänge stiegen fast schon allein aus der Flöte auf, wie Vogelgezwitscher, sie brauchte sie nur ein wenig zu modulieren. Ob Haldana wollte oder nicht, sie musste ihre Füße im Takt dazu bewegen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte zu tanzen begonnen. Auch ihre Gefährten folgten unwillkürlich dem Rhythmus mit, selbst die beiden Wutzenritter begannen sich mit klirrender Rüstung zu drehen und schienen vergnügt zu lachen. Nein, sie würde diesen Pakt nicht ablehnen können.
"Du hast selbst gesehen, welchen Zorn der Elemente dieser Druide auf Gernatsborn losgeschickt hat, Glyrana. Und doch ist er nun ein hilfloser Gefangener der Wutzen. Wehe, wenn sie ihre Macht zeigen! Ich denke, wir haben gar keine andere Wahl, als dem Bund zu zu stimmen, für einen dauerhaften Frieden und das künftige Wohl unserer Ländereien".
Haldana überlegte, was sie den Besuchern aus der Anderwelt schenken konnte. Sie tastete bereits nach dem Feenring an ihrem Finger, aber die Biestinger wehrten ab. "Der Ring nutzt Euch in dieser Welt mehr, als einem Feenwesen in der seinigen" erklärte Odilon Wildgrimm.
"Aber, ich wüsste nicht, was ich Ihnen sonst geben könnte. Ich habe nichts wirklich Wertvolles bei mir, geschweige denn Magisches..."
"Nun, sie nehmen auch einen Teil des Körpers, eine Haarlocke zum Beispiel! Damit können sie euch rufen, wenn es ihnen beliebt. Aber auch sicherstellen, dass Ihr Euren Teil des Paktes einhaltet."
Torkwyn deutete mit seiner Klaue auf Haldanas Unterleib und sagte etwas. Einen Moment lang spürte die Adelige doch wieder Furcht.
"Er sagt, wären Feen wirklich so grausam wie ihr Ruf, würden sie diesen Teil Eures Körpers verlangen. Aber die Märchen würden zum Glück nicht immer die Wahrheit sagen. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie er das meint...Sie sprechen manchmal wirklich in Rätseln."
Haldana verstand das Gesagte noch weit weniger. Mit was für Mächten ließ sie sich hier ein?
"Seid unbesorgt. Die beiden sind Ritter und überaus ehrenhaft zu Damen. Wenn Ihr ihnen Euren Gürtel geben würdet, dann würden Sie im kommenden Turnier für Euch streiten!"
Haldana schluckte. Ah, als Hochzeitsgäste würde sie die Wutzen also auch begrüßen dürfen, na wunderbar. Dann musste sie das nur noch ihrer Mutter erklären, ebenso den übrigen Festgästen. Schicksalsergeben öffnete sie die Gürtelschließe und überreichte das Feenpfand Torkwyn. Ein Moment lang berührte seinen borstigen Haare ihre Haut. Sie erschauerte. Der Eberling verbeugte sich wieder galant. Nun ja, wenn sie ehrlich war, hatte sie schon Männer getroffen, die sich ihr gegenüber "schweinischer" benommen hatten als dieser schweineköpfige Biestinger.
Fiorg überreichte Glyrana einen Kupferling: "Diese Münze vermehrt jeden Reichtum, der im Sinne der Feen erworben worden ist. Es soll eine kleine Entschädigung sein, für die Verluste, die Euer Haus erlitten hat."
Glyrana von Gernatsborn-Mersingen musterte die etwas abgegriffene, sechseckige Kupfermünze. Zwar hatte sie nicht mit einem derart weltlichen Geschenk gerechnet, aber was war bei Feenwesen schon wirklich berechenbar? Die Prägung auf der einen Seite war unkenntlich, die andere Seite schien einen Drachen zu zeigen. Sie kannte sich als Vögtin mit Münzen ein wenig aus. Das Kupfer und die Form der Münze deuteten auf einen Vallusaner Flindrich hin, der aber eigentlich ein Turmwappen zeigen müsste. War das noch der Drachen der Ornaldinen, die einst über die Markgrafschaft Vallusa und die Drachensteine geherrscht hatten – aber schon vor Jahrhunderten ausgestorben waren?
"Fiorg würde ebenfalls gerne am Gestech teilnehmen, für Euch als seine Dame, falls Ihr gestattet."
Glyranas Hand schloss sich um den "Feenheller", wie sie die Kupfermünze nannte. "Seid bedankt für dieses Geschenk. Nun, einen Gürtel brauche ich noch für meinen Dolch. Und ich werde sicher nicht vor wildfremden Männern meine Gewänder ablegen. Eine Haarlocke habe ich gestern schon verloren, im Bösen. Also soll Euch im Guten eine weitere Strähne gehören". Sie schnitt sich ein Stück Haar ab und überreichte es dem Eberbiestinger. "Gerne will ich Herrn...Fiorg seinen Minnedienst gestatten. Wenn beide wirklich bei der Turnei antreten wollen, so sind sie herzlich eingeladen. Ich erbitte mir nur ...Diskretion, was ihre Herkunft betrifft."
"So sei der Bund geschlossen!" sagte Fiorg feierlich auf Garethi, und zog dem erstarrten Burchert die Feenmütze über den Kopf.
Der Druide begann zu zucken und zu zittern. Mit einem Ächzen fiel er zu Boden. Verwirrt schaute er um sich und blinzelte. Die Eberbiestinger fesselten ihn mit den Blütenranken und schwangen sich wieder in den Sattel: "Gehabt Euch wohl, Grauweltler. Ihr werdet von uns hören!"
Dann ritten die beiden Gesandten der Artema in die Nebel des unergründlichern Wutzenwalds, mit einem schimpfenden, fluchenden Gefangenen im Schlepptau.