11. Kapitel - Eine Verlobung und ein Unwetter

11. Kapitel

Eine Verlobung und ein Unwetter



Umgebung von Gernatsborn, gegen Mittag des 6. Praios 1043
Dumpf schlugen die Hufe der Pferde auf den Burgweg, der sich hinunter zu den Obstwiesen und Weiden von Gernatsborn schlängelte. Die Rösser schnaubten unruhig. Adginna, die vornehm im Damensitz im Reisesattel saß, geführt von einem Diener, blickte nach oben. Der Himmel, der heute Morgen noch makellos gewesen war, hatte sich seit den Mittagsstunden zunehmen bewölkt. Als hätte der finstere Rauch, in dem sich diese Meuchelmörderin aufgelöst haben sollte, es vermocht, den Himmel mit deren Bosheit zu vergiften. Das letzte, woran Adginna an einem Schreckenstag wie diesem gedacht hätte, war die Verlobung zwischen ihrer Tochter und Alboran. Ausgerechnet an einem Schrein der Koboldsgöttin Tsa. Tuvok, ihr treuer Forstwart, war zu allem Überfluss auch noch verschwunden. Odilon und Timoin hatten sich auf dessen Fährte geheftet, aber bislang hatte sie noch keine beruhigende Nachricht erhalten. Das alles war mehr als Besorgnis erregend.
Zur Mittagszeit war nun die Tsageweihte aus Schnayttach eingetroffen, um den Heiligen Hain einzuweihen. Also ritten die Adeligen den Hang hinunter, hinein in das kleine Dorf und eskortiert von mehreren Pfahlgardisten. Die Wachen waren durchaus nötig. Aufgeregte Dörfler drängten sich am Wegesrand und starrten auf die Burgherrin, die bleich, aber voller Selbstbeherrschung dem Zug voran ritt. Manche drängelten sich nach vorne, wollten Glyranas Umhang oder Tunika berühren und machten dabei die Pferde scheu. Dann wurden sie mit dem Hellebardenschaft sanft, aber bestimmt zurück befördert. Offenbar hatte es das Gerücht gegeben, Ihre Wohlgeboren wären ernsthaft verletzt oder – Frau Tsa bewahre! - gar ihren Wunden erlegen. Insofern machte es durchaus Sinn, sich als Burgherrin dem Volk zu zeigen, und jene Unerschrockenheit zu demonstrieren, wie sie Adeligen des Raulschen Reiches gut zu Gesicht stand.
Die Unbekümmertheit der Schnayttacher Tsadienerin wunderte die Vögtin von Schlotz allerdings schon: Am späteren Nachmittag sollte es erneut ein Gewitter geben. Hoffte die Dienerin des Lebens auf einen abschließenden Regenbogen, als Höhepunkt der Zeremonie? Und wer wusste schon, was die namenlosen Verschwörer (so es denn mehrere Täter gab) noch alles im Schilde führten. Diese Yasinthe hatte gestern Abend eindeutig Drohungen gegen die Tsakirche ausgestoßen...Die halbe Lanze Leibwachen schien da angeraten zu sein. Auch wenn die Bewaffneten nicht so Recht zur Einweihung eines Heiligtums der friedfertigen Jungen Göttin passen wollten.

Nun fehlt eigentlich nur noch, dass sich Ysilda von Schlotz unter den Tsajüngern befindet, dachte Alrik, der huldvoll zur Seite hin winkte und ein Stück nach vorne ritt, neben die Dienstritterin. Jadvige befehligte die Pfahlgardisten selbst, nachdem Rodericks Pferd immer noch hinkte.
"Gibt es etwas Neues von den Verhören?" wollte Alrik wissen.
"Wir haben diesen Wendelin erst einmal in den Kerker gesteckt", sagte die Dienstritterin. "Vorsichtshalber und zur Ausnüchterung...Der Barde scheint gestern Nacht wirklich heillos betrunken gewesen zu sein. Er kann sich auch nach ein paar Eimern Wassern an nichts erinnern. Behauptet er jedenfalls."
"Ah. Tulamidische Wasserfolter ?" Lächelnd grüßte der Friedwanger erneut.
"Nein. Thorwalsche Morgenwäsche. Unser Minnesänger hat einen ordentlichen Werwolf. Der nicht gespielt ist, beim Heiligen Valpo. Andererseits hat Yasinthe sich in seinem Zimmer versteckt. Und einer der Diener will gesehen haben, wie Wendelin nachts mit irgendwas unter dem Mantel zur Latrine gelaufen ist...Irgendetwas, was durchaus ein Seil hätte sein können. Da wäre er aber schon sternhagelvoll und kaum noch ansprechbar gewesen. "
"Das ist doch seltsam, für einen Mitverschwörer. Musste der Spielmann sich etwa Mut antrinken?"
"Könnte was Magisches sein" Jadviges Blick glitt misstrauisch über die Umgebung. "Aber da kenne ich mich nicht besonders gut aus...Leider oder Praios sei Dank, je nachdem."
"Ja, ich vermisse gerade  Hesindian, meinen Hofmagier. Was ist mit den Wachen auf der Burgmauer?"
"Haben Geräusche im Wasser gehört, kurz vor dem Attentat. Dachten allerdings, es wäre eine Rotte Wildschweine. Die schwimmen in letzter Zeit öfters über den Fluss. Die Küche wirft gerne ihre Abfälle über die Mauer. Muss mal mit Glyrana darüber reden..."
"Und die Leiter?" Alriks Pferd stolperte. Der Baron beruhigte es mit einem Tätscheln.
"Die Diener auf der Terrasse haben sie erspäht, als sie den Baldachin aufgestellt haben. Aber sich nichts Besonderes dabei gedacht. Schließlich war unsere Burg die letzten Monate eine einzige Baustelle, mit Gerüsten und Leitern. Ein schwarzes Eichhörnchen haben sie auch noch gesehen, auf dem Söller...das hat sie merkwürdig angeschaut..."
"Euer Gesinde scheint ein Herz für Tiere zu haben. Weiß von den Dienern jemand etwas über die Wilden Keiler, Wilden Kerle oder wie die sich nennen?"
"Über die Sokramurier redet man hierzulande nicht gerne". Auch Jadvige klang ausweichend. "Die Wilden Kerle tragen ihren Namen wohl zu Recht. Aber allzu gefährlich kommen sie mir nicht vor. Es gab mal eine Rauferei im Gerbaldsrast, böse Streiche und ein paar Schmierereien an Hauswänden. Märsingen geht nach Hause, und so weiter. Märsingen mit ä...Ich frage mich, wie diese Wildsauen da irgendwelche yesatanische Hetzschriften lesen sollen, von denen Valyria schreibt."
"Das heißt, wir haben momentan nichts..." Alrik erstarrte mitten im Satz. Aus dem Menschenauflauf heraus blickte ihn ein bekanntes Gesicht an wie ein Geist. Oder wie ein Untoter. Das Gesicht war mit Ruß und blutverschmiert, die schwarzgrauen Haare hatten heute noch keinen Kamm gesehen, die ledernen Gewänder waren schmutzig und feucht. Am schrecklichsten war der hohle, leere Blick des Mannes, in dessen Augen nun aber doch so etwas wie jähes Erkennen trat.
"Alrik... Alrik?!" Der "Geist" taumelte auf den Baron von Friedwang zu, dessen Reittier scheute und auswich. Eine Pfahlgardistin wollte sich ihm in den Weg stellen, aber der Friedwanger hielt sie mit einer Geste zurück.
"Tuvok?!! Wo warst du die ganze Zeit, beim Heiligen Assaf?"
"Ich...ich weiß es nicht..." stammelte der Forstwart. "Eigentlich wollte ich mir nur mal kurz die Beine vertreten...dann war alles ganz seltsam..."
Verstört starrte Tuvok auf seine Hände, deren Gelenke von rötlichen Striemen verunziert waren, und rieb sie sich über das Gesicht. "Wo, wo kommt ihr jetzt her? Wollt ihr schon zurück nach Burg Schlotz? Wo ist mein Bogen?"
Der Phexgeweihte schüttelte irritiert den Kopf. Auch Jadvige war verwirrt: "Hat der vielleicht gestern die Nacht mit Wendelin durchgemacht?"
Tuvok starrte an Alrik vorbei ins Leere. "Ich, ich kann mich wieder erinnern. Die Trollzacken...ein Geisterdorf...ich glaube es hieß Kurgasberg. Da war eine Grüne Wolke, in der alten Mine. Ja, nun weiß ich es wieder. Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund für alles...Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören...noch heute. Er will...ich soll euch ausrichten..." Mit einem Seufzen sank der barönliche Forstwart zu Boden.  


Da Odilon und Timoin schon am Vormittag umfangreich das Ufer des Gernat flussabwärts abgesucht hatten - wenn auch auf der Suche nach einer Spur von Yasinthe - so war doch klar, dass sich hier keine weiteren Spuren finden würden. Weder von einem Hofjagdmeister noch von sonst jemandem. Also hatte Odilon kurzerhand entschieden, ein wenig stromaufwärts auf gut Glück zu suchen. Es gab keinen Hinweis, wo Tuvok sich aufhalten könne. Hier nach einer Spur zu suchen war die sprichwörtliche Suche nach der Tannennadel auf dem Waldboden. So war es auch kein Wunder, dass sie die Spur des Jägers nicht fanden. Zumal beide wussten, dass Tuvok keine Spuren hinterlassen würde, wenn er darauf achtete.
"Sieh dort, Odilon! Da sind Spuren!" rief Timoin plötzlich aus, der vorangegangen war. Er deutete auf eine lehmige Stelle am südlichen Gernatufer, an einer Stelle, die als Furt über den Gernat bekannt war.
Der alte Jäger eilte zu seinem jugendlichen Begleiter und ließ seine Augen über den Boden gleiten. Er nickte.
"Interessant... Nicht Tuvoks Spur. Aber dennoch eine Fährte, die uns bekannt vorkommt. Sieh Timoin. Wie viele Spuren zählst du?"
"Vier. Das waren vier." antwortete Timoin schnell und sicher. "Gestern waren das noch fünf Spuren, aber einer wurde von einer Armbrusterin in den Rücken geschossen. Jetzt sind es noch vier Goblins.”
Odilon nickte. “Ja, eindeutig vier Spuren. Und von der Eindrucktiefe und den Schuhspuren her sind es Goblins. Die Richtung, in die die vier Rotpelze von gestern aufgebrochen sind, könnte auch passen. Ja, vermutlich sind es die gleichen Goblins, deren Fährte wir gestern gesehen haben.”
“Hilft uns das weiter auf der Suche nach Tuvok?”orakelte Timoin, halb an sich selbst gerichtet. Seine Augen folgten der Spur, sie weiter praioswärts in den Wald führte.
“Keine Ahnung” murmelte Odilon und zuckte mit den Schultern. “Aber eine bessere Fährte haben wir ja nicht, und vielleicht finden wir etwas heraus.” Odilons Stimme war leiser geworden. “Wenn wir hier Spuren sehen, dann haben die Goblins den Gernat erst nach dem Regen überquert. Irgendwann in der Nacht, vermute ich, denn tagsüber traut sich der Rotpelz so nahe an Gernatsborn vermutlich nicht über die Furt. Da wären sie ja vom Bergfried aus zu sehen gewesen. Und sie müssen irgendwann gelagert haben, also sind sie vielleicht nicht weit entfernt.”
Odilon spannte vorsichtshalber die Sehne auf Bavhano Bvaith, und Timoin tat es ihm gleich mit seinem Bogen. Dann folgten sie der Spur in den Wutzenwald.
Es war nicht schwer, der Spur zu folgen. Der Boden war weich genug, und die Goblins hatten sich nicht darum bemüht, ihre Spuren zu verwischen. Eine knappe Meile folgten beide der Fährte durch den Wald. Dann bemerkten sie eine Feuerstelle. Mehrere verkohlte Äste lagen in einem aus Steinen errichtetem Rund.
“Offenbar haben sie hier gelagert.” flüsterte Timoin. Odilon nickte. Der Platz rings um die Feuerstelle war gänzlich platt getreten. Ein paar abgenagte Rotpüschelknochen verrieten Odilon und Timoin, dass die Goblins Jagdglück hatten.
Dann wies Odilon auf eine weitere Spur hin. Odilon erkannte sie eindeutig als Spur eines Menschen. Eines Menschen, der mehr ins Lager geschleift war, als dass er gelaufen war.
“Sieh hier, Timoin. Hier führt eine Goblinspur weg vom Lager, hin zu der Spur des Menschen. Ab dort, wo die beiden Spuren sich kreuzen, endet die Laufspur des Menschen, und die Schleifspur beginnt. Was meinst du, Timoin?”
Der Angesprochene nickte. “Ich würde sagen, der Mensch hat sich zu unvorsichtig angepirscht, wurde erwischt und nieder geschlagen.”
“Ja, so ungefähr” bestätigte Odilon. “Das hätte ich auch so gedacht. Ob das Tuvok war? Immerhin wird sonst niemand vermisst außer dem Hofjagdmeister.”
“Das ist naheliegend… aber ich habe Tuvok noch nie gesehen. Also, wie sollte ich seine Spur erkennen” Odilon nickte. Auch wenn er Tuvok schon kannte, so wusste er doch nicht, welche Stiefel dieser trug. “Lass uns weiter sehen. Zwei Goblins schleifen einen Gefangenen zum Feuer. Dort, diese Eindruckspuren, dort haben sie ihn hingelegt, vielleicht gefesselt. Wer weiß das schon. Es ist alles ziemlich platt getreten. Man tut sich schwer, etwas zuzuordnen. Jedenfalls… dort führt die Spur wieder weg vom Lagerplatz. In diese Richtung scheinen sie gegangen zu sein.”
Timoin eilte in die angegebene Richtung. Sorgfältig untersuchte er den Boden. Dann stutzte er.
“Odilon, da stimmt was nicht.” Der junge Jäger wies auf einen Fußabdruck vor ihm. “Ich sehe vier Goblins und die Spur des Gefangenen. Aber da ist noch eine Spur. Eine Spur geht mit den Rotpelzen vom Lager fort. Eine Spur, die aber nicht zum Lagerplatz hin gegangen ist. Ich kann mir das nicht erklären, aber da ist noch jemand mit dabei gewesen. Eine weitere Spur…lederne Mokassins, schwerer als ein Goblin, leichter als der Gefangene… eine Frau vermutlich. Aber jemand, der nur vom Lager fort geht und offenbar nicht dorthin gekommen ist. Was kann das sein?”
“Nun, am plausibelsten” begann Odilon “ist es, dass die Frau schon vor dem Regen da gewesen ist… hat vielleicht auf die Goblins gewartet. Durch die Luft wird sie ja nicht geflogen sein. Oder jemand… der beim Hinweg darauf geachtet hat, keine Spuren zu hinterlassen. Vergiss nicht Timoin, wir sehen auch nicht immer alles. Gute Waldläufer verstehen sich darauf, keine Spuren zu hinterlassen.”
Der junge Jäger nickte. “Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden” flüsterte er. “Wir müssen der Spur folgen. Immerhin gehen alle sechs in die gleiche Richtung.”
Odilon stimmte seinem Begleiter zu, aber er legte den Finger an den Mund. Timoin verstand. Wer vermochte schon einzuschätzen, ob die Rotpelze weit weg waren oder nicht?
Vorsichtig folgten die beiden Jäger der Fährte, die nicht schwer zu verfolgen war,  tiefer in den Wald, Die Spuren von sechs paar Füßen war tatsächlich kaum zu übersehen für einen auch nur halbwegs geschulten Blick. Odilons Blick hob sich nach dem Stand der Sonne. Es durfte auf Mittag zugehen. Eigentlich hätte er gerne der Verlobung der jungen Baronin mit dem Sohn seines alten Freundes Alrik beigewohnt. Aber die Suche nach Tuvok ging eindeutig vor. Irgendetwas bahnte sich hier an. Odilon hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Der alte Jäger ging voran, und Timoin folgte ihm. Eine gute Meile führten die Spuren Odilon und Timoin tiefer in den Wald. Ein seltsam flirrendes Licht fiel durch die Bäume auf den Waldboden.
Pfifferlinge. Leckere, frische Pfifferlinge. Verborgen in einer schattigen Stelle zwischen moosbewachsenen Steinen. Wären die beiden noch auf ihrer Pilgerfahrt, Odilon hätte die Pilze mitgenommen für das Abendmahl. Jetzt allerdings blieb keine Zeit dazu. Aber noch etwas fiel Odilon auf.
Eine Spur zweigte von der Hauptfährte ab. Allerdings halb in Gegenrichtung, gen Rahja tiefer in das Unterholz hinein. Odilon bückte sich und winkte Timoin ebenfalls herunter. Der Junge verstand intuitiv, dass er schweigen sollte.
Odilon deutete auf die Spur, auf einen Fußtritt, dann auf den nächsten. Dann zeigte er auf zwei Fußtritte auf der Hauptfährte.
Timoin nickte. Die Abstände der Fußspuren auf der abzweigenden Fährte waren größer, tiefer. Ein Goblin, das war klar. Er war auf dem Rückweg gerannt. War er geflohen? Vor was? Aber jedenfalls war nur ein Goblin hier zurückgekehrt.
Odilon schlich vorsichtig weiter, der Hauptspur folgend. Einem fliehenden nachzusetzen schien dem alten Jäger im Augenblick nicht sinnvoll. Die Spur führte weg vom Gernatsborn, tiefer in den Wutzenwald hinein. Und die beiden Menschenspuren, die mit den Goblins unterwegs waren, führten weiter gerade aus. Es schien Odion wichtiger, festzustellen, wohin diese Spuren führten. Sachte auf den Waldboden achtend bewegten Odion und Timoin sich weiter.
Timoin zog leise Luft durch die Nase ein und zeigte nach vorne. Odilon verstand, was sein Begleiter ihm mitteilen wollte. Ein leichter Rauchgeruch lag in der Luft. Und der Wind stand gegen sie. Immerhin, das war vorteilhaft für sie beide.
Aber das sirrende, flimmernde Licht verwirrte beide. War es die verwunschene Aura des Wutzenwaldes? Oder brach sich Praios Schein in der feuchten warmen Luft und zauberte eine vielzahl kleiner Regenbogen?
Odilon und Timoin schlichen, die Deckung des Unterholzes ausnutzen, vorsichtig vorwärts. Wenn nicht weit von Ihnen ein Feuer brannte, dann war dort vorne auch jemand - oder zumindest noch bis vor kurzem gewesen. Mit drei Rotpelzen und zwei Menschen war zu rechnen, aber wer konnte das schon genau sagen?
Langsam wurde der Wald lichter. Odilon hielt inne, legte sich flach auf den Boden und kroch vorwärts. Der Geruch des Rauches hatte ihm verraten, dass es nur noch wenige Schritt waren bis zur Quelle des Rauches. Dennoch war im Waldesdickicht nicht zu sehen. Die Fährte folgte durch das Unterholz - aufrecht gegangen, wie die Rotpelze schienen, hätten ihnen ständig Äste und Zweige ins Gesicht geschlagen, und man hätte sich auch kommen hören. Das war den Rotpelzen offenbar gleichgültig gewesen. Odilon und Timoin hingegen krochen unter dem Unterholz hindurch, sich leise und sorgsam annähernd.

Dann öffnete sich vor ihnen der Wald, und es bot sich ihnen ein Bild des Grauens.

Auf einem Moosbewachsenen, halb mannshohen Felsblock lagen die Leichen dreier Goblins, offenbar erstochen. Überreichlich Blut war über den Stein geflossen und auf den Waldboden getropft. Der alte Waldläufer war dankbar, dass sein junger Begleiter bei diesem Anblick nicht so sehr erschrak, als dass er aufgeschrien hätte. Regelrecht dahin gemetzelt schienen die drei Rotpelze zu sein. Kein Wunder, dass der Vierte in aller Hast geflüchtet war.
Neben dem Felsen machte Odilon eine Feuerstelle aus, von faustgroßen Steinen umringt, in der offenbar noch Glut war. Das unheilige Ritual - als solches würde er alles bezeichnen, was unter Zuhilfenahme von Blutmagie gewirkt worden war - schien noch nicht lange zurück zu liegen. Ob der Urheber des Rituals noch in der Nähe war, vermochte Odilon nicht einzuschätzen war. Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Odilon hatte in seinen fast siebzig Jahren genug gesehen und erlebt, um, auch ohne selbst die Magie zu beherrschen, Blutmagie als solche zu erkennen. Nicht zuletzt während des Krieges gegen den Bethanier waren solche Schauerlichkeiten häufiger geschehen. Wer oder was der Urheber des Massakers an den Rotpelzen war, da konnte er nur vermuten. Immerhin, die beiden Menschenspuren hatten hier nicht ihr Ende gefunden.
Die Rotpelze waren in die Falle gelockt worden!
Vorsichtig spähte Odilon weiter. Den Urheber dieses schändlichen Mordes an Goblins konnte er nicht sehen. Aber eines wusste er: Wer immer hier Blutmagie gewirkt hatte, dem würde er lieber nicht begegnen. Er mochte den Bogen meisterlich und das Schwert immer noch gut beherrschen, aber mit einem Schwarzmagier, Paktierer oder anderen finsterschurkischen Gesellen konnte er, würde er sich auf einen Kampf mit diesem einlassen - nicht auf einen guten Ausgang vertrauen können. Er hätte viel darum gegeben, seine Gefährtin Jirka mit ihrer mächtigen elfischen Magie an seiner Seite zu wissen.
Odilon scheute davor zurück auf die Lichtung zu treten, auch wenn er niemanden mehr dort sah. Vermochte er zu wissen, wie weit weg, die Verursacher dieses Blutbades inzwischen gelangt waren? Waren sie noch in der Nähe?
Immerhin konnte Odilon erkennen, dass zwei Spuren tiefer in den Wald hinein führten. Eine andere Spur - die des zuvor gefangenen, wie Odilon erkannte - führte in die Richtung, in der Gernatsborn lag.
Immerhin wusste Odilon nun, dass jemand hier am Stein - Opferstein, wie er besser sagen sollte, gewartet hatte, um die Goblins in einen Hinterhalt zu locken. Und die Frau war mit diesem mitgegangen.
Wem sollte er folgen? Aufteilen? Kurz dachte Odilon nach. Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Timoin alleine hätte nicht den Hauch einer Chance gegen jemanden gehabt, der sich der Dunklen Pforten bedient. Odilon wusste zumindest, auf was er sich da einlassen würde - was ihn seine Chancen aber auch nicht besser einschätzen ließ.
Also entschied Odilon, der Spur zum Gernatsborn zurück zu folgen. Immerhin konnten sie dann den Burgherrn warnen vor dem, was im Wald unweit seines Lehens vor sich ging.

Timoin bekam von der Sorge seines Lehrmeisters wenig mit. Die Lichtung faszinierte ihn, auf dunkle Art und Weise, nicht nur wegen der toten Rotpelze. Sie war voller Spuren. Genauer gesagt war die Wiese völlig zertrampelt. Mit der fiebrigen Begeisterung eines Jagdhunds, der eine heiße Fährte erspürt hatte, ließ er seinen Blick schweifen und tastete mit der Hand über das eingedrückte Gras, die kleinen Erdmulden, die zerbrochenen Äste, das abgeschabte Moos an den Steinen. Hier lag ein schartiges Schwert, dort ein Knüppel oder ein Speer. Auf den ersten Blick sah das alles nach einem wilden Kampf aus, aber der junge Binsböckel war sich unsicher. Die Goblins hatten ihre Waffen offenkundig fallen gelassen, bevor sie zum Stein gezerrt worden waren. Erst dort waren sie erstochen worden, mit einer spitzen, aber nicht allzu großen Waffe. Fliegen umschwirrten das Blut, das noch ziemlich frisch wirkte und kaum geronnen war. Kleine rote Pfotenspuren führten über den Stein: ein Marder, oder Ratten?
Timoin empfand Abscheu und Ekel, aber wenig Furcht vor der gräulichen Szene. Geschweige denn Mitleid. Goblins. Die Baronie hatte in den letzten Jahren wahrlich genug unter Strauchdieben wie diesen gelitten, die auf dem Stein lagen wie betrunkene Zecher an einer Theke: mit schiefem, hauerbewehrtem Maul und glasigem Blick. Irgendwie sahen sie erschöpft und müde aus. Zu Tode erschöpft und todmüde.
Gerade weil Timoin als Kind eine Heidenangst vor den plündernden, sengenden Götzenanbetern gehabt hatte, wollte er sich jetzt keine Furcht anmerken lassen. Der grausame Räuberhäuptling Chraaz sollte sich heute noch irgendwo in den endlosen Wäldern am Gernat herumtreiben. Nein, das erste Rotpüschel, das er erlegt hatte, hatte ihm mehr leidgetan als diese hingeschlachteten Banditen. Die Rotpelze, die er kannte, waren nichts als Mörder und Räuber (manchmal sogar Frauenschänder).
Nur Odilon schien ehrlich über deren Ableben betrübt zu sein. Aber der Schwarze Bär machte keinen Hehl daraus, Verständnis für die "Suulak" zu empfinden, als wahre Ureinwohner der Sichellande. Der alte Waidmann hatte sicher keine Gründe, selbst wenn Timoin sie nicht recht verstand: Immerhin hatte der Baernfarn in vielen Schlachten gegen die Goblins gekämpft.
Auch die Fußspuren wirkten merkwürdig. Bei einem Kampf gingen sie meist tief, in diesem Fall waren sie oft nur angedeutet, als wären die Goblins halb über die Lichtung geschwebt. Timoin kannte eigentlich nur ein Spurenbild, das dem Chaos hier ähnelte: Junge Rehböcke oder Hirsche, die übermütig durch den Wald sprangen. Auch wenn es keinen Sinn ergab, sah die Szene hier fast so aus, als hätten die kleinen Stinker getanzt – und wären dann mal hier, mal dort nieder gesunken. Was war denn das dort? Am Rand der Lichtung lagen fette, runde, glänzende Eicheln. Sie wirkten frisch, obwohl weit und breit keine Eichen standen und der Herbst noch fern war. Zahlreiche der Baumfrüchte waren bereits angefressen. Tatsächlich, hier waren überall Wildschweinspuren. Timoin roch an einer der zernagten Eicheln, die einen intensiven Geruch verströmte.

"Die Lichtung ist nicht nur eine Opferstätte, sondern auch eine Kirrung", sagte Odilon, der neben seinem Gesellen niedergekniet war. "Ein Ort, wo Schwarzwild mit Futter angelockt wird. Gar nicht so lange her, der Tod der Rotpelze...ein Viertel Wassermaß vielleicht, höchstens. Das Gras hat sich noch kaum aufgerichtet. Siehst du die Abdrücke der Schalen dort? Irgendetwas hat die Wildsauen vertrieben. Ich vermute, die Ankunft der Zweibeiner. Scheint eine ziemlich große Rotte zu sein."
Der Baernfarn, der den Pfeil bereits auf Bavhano Bvaith aufgelegt hatte, spähte um sich. "Das sollten wir übrigens auch tun...so schnell wie möglich verduften."
"Aber Odilon, da führen noch Spuren von Menschen in den Wald?!"
"Wer immer das hier getan hat, hat Blutmagie angewandt...Und wer soetwas tut, ist kein firunsgefälliger Mensch."
"Blutmagie?" Timoin schluckte und langte sich nervös an das Ohr mit der Alboranskerbe. Sein Meister empfand eindeutig Furcht, was ihn verwirrte.
"Ja, zaubern mit der Lebenskraft von beseelten Wesen. Oder sogar Zweibeinern, wie hier."
"Woran erkennt man das?"
"Für die tiefen Wunden befindet sich viel zu wenig Blut auf dem Stein. Die Körper der Suulak sind auch schon völlig kalt, obwohl sie erst vor kurzem gestorben sein müssen."
Odilon merkte, dass er selber gerade erst die Tragweite des Gesagten begriff. Zaubern mit der Lebenskraft von anderen Kreaturen - die Beschreibung traf es ganz gut. Blieb die Frage, worin der Zauber bestanden hatte. Von einem Schwarzmagier im Wutzenwald hatte er noch nie gehört, seit dem Ende der Wildermark. Oben in Hallingen, auf der anderen Seite des Gernat, hatte es mal Ärger mit einem Druiden gegeben, aber das war schon ein paar Jahre her. Wie hatte der Schadenszauberer noch mal geheißen? Barnhelm? Burkhart? Die Leute hatten sich einige Schauergeschichten über ihn erzählt. Mal sollte er schon über tausend Jahre alt sein, mal der ehemalige Hofdruide Answins von Rabenmund. Allerdings hatte man nichts mehr von ihm gehört, seitdem er aus der Nachbarbaronie vertrieben worden war. Burchert vom Ebergrund, das war sein Name gewesen.
"Wir sollten uns jedenfalls beeilen, zurück nach Gernatsborn zu gelangen, um Storko zu warnen. Mit einem Blutmagier legen wir uns hier und jetzt besser nicht an..."
Timoin schluckte.
"Odilon...?"
"Ja?!"
"Da drüben steht ein großer Schatten im Wald. Mit Hörnern...Und schaut in unsere Richtung" Timoin deutete mit dem Bogen ins Halbdunkel zwischen die Baumreihen. Tatsächlich war dort ein Schemen wahrzunehmen, mit Stab, Umhang und Widderhörnern, und, noch undeutlicher, eine zweite Gestalt dahinter. Der unwirkliche Anblick erinnerte den Schwarzen Bären an die Geschichten von Levthan, dem bocksgesichtigen Gott der Hexen.
Überall war nun Rascheln, Knacken, Knistern, Prasseln zu hören. Im Unterholz bewegte sich etwas.

"Levthan" deutete in ihre Richtung, mit einem knorrigen Stab. So schien es zumindest.
Odilon wollte noch den mächtigen Elfenbogen hochreißen und einen Pfeil fliegen lassen, dann brachen die Niederhöllen auch schon los. Ein scharfer Geruch nach Wildsau war fast die einzige Vorwarnung, da walzte bereits ein kapitaler, infernalisch quiekender Keiler heran, genau auf Timoin zu.
Bavhanon Bvaith sang sein vertrautes Lied. Der Pfeil traf das Wildschwein mit voller Wucht und schleuderte es seitlich gegen einen Baum. Zuvor schaffte der Eber es noch, Odilons Schüler den Bogen aus der Hand zu fegen. Leider war es in der Hektik kein sauberer Blattschuss geworden. Quiekend, grunzend versuchte das Untier, seine Hauern in den Unterleib des jungen Jäger zu bohren. Erstaunlich beherzt, fast schon kaltblütig griff Timoin nach seinem Messer und stieß zu, ins Schulterblatt, kurz über dem Pfeil. Ein kurzes Keuchen, dann lag der vierbeinige Angreifer auch schon still.
Das Quieken wurde lauter. Der Wald erwachte. Wohin man sah, tauchten nun borstige Haarbüschel, böse glitzernde Äuglein, trippelnde Hufe, lehmverklebte Rüssel auf. Süßlicher Morastgeruch betäubte die Nasen der Menschen, der Kampruf der Schweine gellte in den Ohren.
"Zurück", rief Odilon und lief los, Richtung Burg oder zumindest dorthin, wo er sie vermutete.
Im nächsten Moment traf ihn auch schon ein massiger Leib und warf ihn mit Urgewalt um. Die Kraft und die Wut der halbstarken Bache waren erstaunlich. Einen Herzschlag später versuchte sie ihm ins Gesicht zu beißen. Odilon hatte keine Zeit, Furcht zu empfinden, geschweige denn nachzudenken. Er ließ seinen Bogen fallen, riss seinen Hirschfänger aus dem Gürtel und stach wie von Sinnen auf die Angreiferin ein. Ächzend brach das Wildschwein über ihm zusammen. Kratziges Fell nahm ihm die Sicht. Stöhnend wälzte der alte Jäger die Last von seinem schmerzenden Körper. Dann raffte er Bogen und Köcher an sich, und merkte, dass er bereits in einem reißenden Strom wütender Sauen und Eber stand, die durch den Wald fegten. Selbst einige gestreifte Frischlinge sprangen an ihm vorbei. Ein panisch fliehendes Reh war vor diesen lebenden, vielbeinigen Rammbock geraten und wurde ebenfalls umgerissen. Der Boden schien zu dröhnen und zu beben. Um Firuns Willen, wo war Timoin?
Jäher Schrecken durchglühte ihn, als er seinen Schützling nicht mehr entdecken konnte. Die Wildschweinstampede wurde langsam bedrohlich. Immer mehr Schweineschnauzen bissen nach ihm und fetzten Löcher in seinen Mantel. Im nächsten Moment hatte er seinen Jagdgenossen entdeckt, der sich auf eine hohe Esche gerettet hatte. Odilon nahm Anlauf, wuchtete sich den Baumstamm hoch und wurde nach oben gezogen, auf einen  rettenden Ast.
Es dauerte eine Weile, bis er einigermaßen sicher saß, neben Timoin, der wie ein Matrose im Ausguck nach den quiekenden Schwarzkitteln spähte. Die erstaunlich große Rotte, die mindestens zwei, eher drei Dutzend erwachsene Tiere und jede Mensche Frischlinge zählte, hielt nur kurz inne und stürmte dann weiter durch den Wald. An ihnen vorbei in Richtung Gernatsborn, voller Kraft und Zorn.
Odilon hatte einen Pfeil eingelegt, merkte aber, dass der Holzschaft angebrochen war, vermutlich durch den Tritt des Wildschweins. Kopfschüttelnd warf er das wertlose Geschoss nach unten.
"Bist du verletzt?" fragte Timoin besorgt.
Der Schwarze Bär langte sich ins Gesicht, das tatsächlich mit Blut verschmiert war. Klebriges, rahjanisbeerfarbenes Wildschweinblut...

Er schüttelte den Kopf. "Du hast mir heute schon das zweite Mal die Haut gerettet, Timoin. Langsam gibt es nichts mehr, was ich dir noch beibringen kann, fürchte ich."
Timoin atmete erstmal durch. "Du hast vorher mich gerettet" sagte er, und sah auf seine zitternden Hände. "Mein Bogen ist aber futsch, fürchte ich. Na, zum Glück sitzen wir ja schon auf Eschenholz..."
"Normales Wildschweinverhalten ist das jedenfalls nicht", brummte Odilon. "Diese Eicheln scheinen ein ganz schönes Kraftfutter zu sein. Das war eine  magische Mast, würde ich sagen...”
Der Baernfarn blickte nach unten. Vom "Gehörnten" fehlte jede Spur. Nur bei den Schwarzkitteln waren immer noch einzelne Nachzügler unterwegs, die im Schweinsgalopp durch das Gestrüpp preschten. Sie schienen wirklich Gernatsborn und die Burg anzustreben, die in der Ferne sogar zu erahnen war. Ein zartes Zirpen lenkte ihn ab. Auf einem Nachbarast saß ein großes nachtschwarzes Eichhörnchen und musterte ihn. Der Waldläufer hätte das Schwarze Feh für possierlich gehalten, wäre da nicht das klebrige Rot an seinen Pfötchen und rund um das Schnäuzchen gewesen. Goblinblut?
Odilon verzog das Gesicht, griff fast schon reflexartig nach einem Pfeil und legte ihn auf die Sehne.
Die Eichkatze fletschte die Zähne und zeigte ein blutverschmiertes Gebiss, das eher an spitze Rattenzähne als einen harmlosen Baumnager erinnerte. Im Sonnenlicht, das nun wieder durch die Wolken durchkam, schien sein Fell leicht purpurn zu glänzen. Aufgeregt trippelte das Tier umher, gab merkwürdige gurrende, kirrende Geräusche von sich. Einen Moment lang hörte es sich an wie "Go´lo...Go´lo...Go´lo..."
Odilon zielte kurz. Das Schwarze Feh machte keinerlei Anstalten zur Flucht. Mit einem Stoßgebet ließ der Gallyser den Pfeil von der Sehne. Auf diese Entfernung hätte er das Eichhörnchen nicht verfehlen dürfen – aber das Geschoss schwirrte eine ganze Handbreit am "Bluthörnchen" vorbei, als würde es von einer unsichtbaren Kraft abgelenkt. Der Blick des Baernfarn folgte dem Pfeil, der für immer im Waldgrün verschwand. Das Eichhörnchen löste sich einfach in Nichts auf, so schien es zumindest.
“Timon, tust du mir einen Gefallen? Erzähl niemanden, dass Odilon der Schwarze Bär an einem Eichhörnchen vorbeigeschossen hat, auf drei Schritt Entfernung…”


Blinzelnd erwachte Tuvok aus seiner Benommenheit, auf einer Holzbank neben dem schmucken Bauernhäuschen unweit des Heiligen Hains. Eine Gernatsbornerin wischte ihm das Blut und den Ruß aus dem Gesicht.
"Gerbald naht...die Zwölfe sind der Grund für alles", seufzte der Hofjägermeister und wusste selbst nicht genau, warum ihm dieser Satz so wichtig war. Einzelne Bilder schwirrten ihm durch den Kopf, ohne wirklich Sinn zu ergeben. Das sachte schaukelnde Wirtshausschild des "Gerbaldsrast". Eine singende junge Frau mit Zöpfen, am Ufer des Gernat. Ismena von Oppstein, die auf einem Besen über ihn und mehrere Baumwipfel hinweg flog (zumindest sah die protzig-rahjanische Gewandung der Frau so aus). Ein entfernt menschenähnliches Ungeheuer mit Wildschweinkopf, das ihn merkwürdig anstarrte. Zuletzt drei Rotpelze, die einen irrsinnigen Veitstanz auf einer Waldlichtung aufführten, vor dem Gehörnten, bis zur vollständigen Erschöpfung. Als hätten sie das schwarze, sichelförmige Sokramurskorn gegessen. Krankes, von den Korngeistern verfluchtes Getreide, das manchmal das grausame "Feenfeuer" auslöste, mitunter auch Halluzinationen. War das leckere Bauernbrot in der Herberge vielleicht verunreinigt gewesen und hatte Tuvok in einen wilden Rausch gestürzt? Aber bis auf den schmerzenden Kopf und die brennende Handgelenke spürte er nichts von den typischen Symptomen. Firun sei Dank.
"Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund", wiederholte Tuvok mit Nachdruck, als würde dieser Satz sein Gedächtnis zurückkehren lassen.  "Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören..." Der Gehörnte. Irgendetwas war da gewesen. Irgendjemand. Einerseits wollte er sich das dazugehörige Bild  in Erinnerung rufen, andererseits schreckte er genau davor zurück.
"Jaja, das wissen wir schon" Jadvige musterte die Schläfe, wo eine nicht allzu große, bereits verschorfte Platzwunde zu sehen war. "Er scheint einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben...wahrscheinlich spricht er deswegen wirr."
Alrik begutachtete die wund geriebenen Handgelenke. "Gefesselt war er offenbar auch."
Adginna glitt aus dem Sattel. "Travia sei Dank ist mein Hofjäger zurückgekehrt. Ich denke, das Beste wird sein, du bringst ihn auf die Burg. Er soll sich erstmal ausruhen." Das galt dem Diener, der die Zügel gehalten hatte.
"Aber Euer Hochgeboren..."
"Nichts da. Die paar Schritte zum Schrein kann ich auch im Amazonensattel reiten statt im Damensitz." Der Knechte nickte gehorsam und nahm sich des verstörten Tuvoks an. An der kleinen Menschenmenge vorbei gingen die beiden zurück zur Burg.
"Im Bardenzimmer ist ein gutes Bett frei", rief Jadvige hinterher.
"Und nun?" Das galt Alrik. "Womöglich droht der Kupfergrube ja wirklich eine Gefahr..."
"Ich fürchte, da wirft der arme Tuvok ein bisschen was durcheinander. In den Trollzacken waren wir vor ein paar Wochen in einem alten, halb verfallenen Bergwerk unterwegs. Wo es...hm...am Ende ziemlich dämonisch zuging. Bevor alles eingestürzt ist. Ich vermute, das meint er mit Gehörnter. Mögen die guten Götter uns beistehen!"
Jadvige verkniff das Gesicht und langte sich verstohlen ans Pflaster. "Nun, auch die Gernatsborner Kupfergrube hat Feinde, die zu einem Gehörnten beten."
"Na ich weiß nicht...wie ein Orakel kommt mir unser Jägerfreund nicht vor. Ich meine, wie zerstört man ein Bergwerk? In Kurgasberg hat es dazu ein Erdbeben gebraucht. "
Storko war ebenfalls auf dem Burgweg umgekehrt und ließ sich Bericht erstatten.
"Das ist alles sehr beunruhigend. Offenbar ist die Gefahr doch noch nicht vorüber. Ich werde zwei der Gardisten das Rad bewachen lassen, das die Pumpen der Kupfergrube antreibt. Im letzten Jahr gab es dort schon mal Thorwalismus, gegen das Stangenwerk. Die anderen Wachen halten sich in der Nähe des Heiligen Hains bereit. Zusammen mit unseren eigenen Klingen sollte das als Schutz genügen...und natürlich wird uns auch Frau Tsa beistehen!"
Tatsächlich klarte der Himmel auf, die Sonne kam wieder heraus, erst zaghaft, dann kraftvoll. Fast schien es, als wolle der schöne Praiostag von heute Morgen zurückkehren. Oder einfach nur die Göttin des Lebens ein Zeichen setzen. Nichts ist vorherbestimmt, in Windeseile kann sich alles zum Guten wenden...
Wider Erwarten herrschte tatsächlich eine heitere, fröhliche Stimmung auf der kleinen Festwiese neben dem Schrein. Gerade wurde ein Baldachin aufgestellt, als Wetterschutz für die adeligen Gäste (vermutlich der gleiche wie der von der Terrasse). Kinder tanzten Ringelreigen, für die Gernatsborner Zaungäste gab es sogar ein Fässchen Freibier aus der Herberge, wenn auch nur das dünne Kofent.
Die Pferde wurden auf einer Koppel untergebracht, dann schritten die Vornehmen zum Heiligen Hain hinüber, wo die Tsa-Delegation gerade ein frisch gepflanztes Bäumchen mit bunten Bändern schmückte. Der Schrein selbst war mit einer Art Girlanden und Blumen verziert, einige Kindern malten die Holzbalken der Überdachung und ihre "Altersgenossen" an, deren Figuren rund um die Statue standen. Ein pummeliges Bauernmädchen lauschte am dicken Bauch der Allesgebärenden.
Die "Delegation" selbst bestand aus zwei Dienerinnen der Eidechse, die in regenbogenfarbige Gewänder gehüllt waren. Glyranas Anspannung fiel von ihr an, als eine der Frauen sich zu ihr wandte und mit der Sonne um die Wette lächelte. "Kinder, kommt herbei, ihr dürft angießen!" Der Bauernnachwuchs unterbrach den Ringelreigen und griff zu kupfernen Gießkannen.
"Euer Wohlgeboren, werte Gäste! Wenn ich mich vorstellen darf. Kukina Elfenwald die Fünfte, die neue Geweihte in Schnayttach!" Die Junkerin musste zugeben, dass die junge Frau mit den wallenden, kastanienbraunen Haaren und den lustigen Sommersprossen einer Rahjageweihten Ehre bereitet hätte. Vor allem besass Kukina Charisma, eine entwaffnende Fröhlichkeit und die Frische eines Frühlingsmorgens. Ihre blauen Augen leuchteten mit dem "Himmelsauge" um die Wette, das sich gerade in der Wolkendecke öffnete. Licht und Schatten fielen abwechselnd auf die Gernatsbeuge und schufen eigenartige Farbeffekte in der Landschaft, als hätte Tsa selbst zum Malerpinsel gegriffen. Verrücktes Perainewetter, und das im sonst so ordentlichen Praiosmond...
"Das ist meine Weggefährtin Ysilda von Schlotz, aber Ihr kennt sie ja bereits aus Zaberg." Kukina drückte ihrer Begleiterin einen innigen Kuss auf die Wange, was weniger amazonisch als unbekümmert-mädchenhaft wirkte.  "Sie ist eine unglaublich gute Gärtnerin." Kukina band eine letzte Regenbogenschleife an einem der Zweige fest. "Anders als ich hat sie wirklich den grünen Daumen. Mein Novize Kardanyan ist auch dabei, wo er steckt er denn wieder?"
Ysilda strahlte die Edle von Zaberg an. "Ich habe mir erlaubt, Melsine mitzubringen, meine Tochter. Damit sie beizeiten die große weite Welt kennenlernt. Melsine, würdest du bitte mal herkommen. Du kannst gleich mit den anderen Kindern weiterspielen."
Glyrana nickte. Sehr gut, dass Seine Gnaden Praiodîn oben auf der Burg weilte. Sie beschloss, der Vertrauten der Eidechse erst später von Praiodîn Xerbers Anwesenheit zu berichten. Melsine eilte herbei, ein blasses Mädchen mit lockigen, völlig zerzausten Haaren und einer weißen Tunika, ohne die bunt schillernden Borten einer Novizin. Der Knicks vor den hohen Herrschaften war nicht allzu formvollendet. Ihre Augen waren beunruhigend klug, aber sie wirkte völlig zerstreut und geistesabwesend.
Ysilda tätschelte sie stolz. “Meine Tochter.”
"Sisa sagt, sie will uns alle umbringen" flüsterte die kleine Melsine, die ihrem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Ihre Mutter suchte irritiert die Kinderschar ab. "Wer ist Sisa? Die kleine Rauferin da drüben? Warum sagt sie so schlimme Sachen?"
"Nein, das ist nicht die. Sisa war in einem Spiegel eingesperrt. Ich glaube, sie hat sich verletzt. Aber jetzt gerade sehe sie nicht mehr. Die alte Frau mit den Zöpfen ist sehr nett."
Ysilda blickte entschuldigend in die Runde, während sie an ihrem Armschmuck aus Eidechsenhaut drehte. "Ah..wieder mal zwei ihrer Spielgefährtinnen." Die Priesterin zwinkerte bei diesem Wort, um zu zeigen, dass es nicht ernst gemeint war. "Sie hat wirklich eine blühende Phantasie. Melsine, möchtest du wieder mit den anderen Kindern spielen?" Das seltsame Mädchen nickte und eilte davon.
Adginna, die Vögtin, wandte sich der Schnayttacher Geweihten zu. "Kukina Elfenwald die Fünfte? Das klingt nach adeliger Abkunft?"
"Nicht doch, ich bin nur die fünfte Wiedergeburt von Kukina der Ersten, einer Hexe aus Zaberg. Manche sagen auch, einer Priesterin der Tsatuaria." Kukina die Fünfte klang völlig unaufgeregt, als hätte sie sich gerade als Obermeisterin der Brauergilde von Rommilys vorgestellt.
"Verstehe", log die Vögtin.
"Früher, da war ich mal Delona Bundschuh, aus Rommilys."
"Ah... und dann ist Eure Seele erneut auf Dere zurückgekehrt, Euer Gnaden? Statt Eingang in Tsas Paradies zu finden?"
"Neinnein, ich heiße Delona Bundschuh. Aber ich nenne mich nun wieder Kukina. Auch wenn wir... ich damals ein trauriges Schicksal hatte, zur Zeit der Priesterkaiser. Sie haben mich in den Regenbogenteich geworfen, bei Zaberg, als Hexenprobe. Im gleichen Sack mit meiner Eule. Ihr wisst ja: Wer unterging, war unschuldig, wer oben blieb, wurde dem reinigenden Feuer überantwortet. Was soll ich sagen? Meine Unschuld hat sich zum Glück schnell herausgestellt..." Die Frau, die ihre Worte mit intensiven Gesten begleitete, klang betrübt und erbost zugleich.
"Gräme dich nicht", tröstete sie Ysilda. "Nach deiner Wiederkehr lebst du jetzt in einer besseren Welt, wie wir alle." Sie blickte erklärend in Richtung der Binsböckel. "Wir sind bereits in Tsas Paradies. Nur wissen es viele Menschen leider nicht. Kukina hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Wir haben uns mal zufällig auf einem Konvent kennengelernt. Und bei einer Rückführung gemerkt, dass wir beide Zaberger sind. Sozusagen. Ich war mal Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi. Haben die Wiedergeborenen behauptet. Aber eigentlich zähle ich mich mehr zu den Friedensfreunden. Ein bisschen auch zu den Koboldfreunden. Ach, ist nicht so wichtig."
"Rückführung, so so. Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi, aha." Einen Moment lang kam sich die Vögtin vor wie damals bei diesem Wohltätigkeitsbesuch im Noionitenkloster. Auch wenn der Schnayttacher Tempel nicht unbedeutend zu sein schien, wusste die Binsböckel wenig von der Gedankenwelt dieser sanften Verrückten und zappeligen Springsinsfelde. Gerade deswegen würde sie sich nicht auf eine götterkundliche Debatte einlassen.
"Mein seliger Gemahl war ein großer Freund und Förderer der Tsakirche", sagte sie höflich.
"Tsafried von Schnayttach zu Schlotz" Delona (oder Kukina) nickte ernst. "Er ist viel zu früh ins Land hinter den Regenbogen gegangen. Dieses Paradies gibt es schon auch. Nur ist den wenigsten von uns vergönnt, für immer dort zu bleiben. " Die Vertraute der Eidechse blickte zu Glyrana. "Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich noch einmal herzlich für Eure Großzügigkeit bedanken, Eure Wohlgeboren. Möge Tsa Euch segnen und weiterhin gegen die Gefahren beistehen, die auch zum Wunder des Lebens gehören. Wie gut, dass der Zwischenfall gestern glimpflich ausgegangen ist. Ach, lasst Euch einfach mal drücken..." Spontan umarmte sie die Junkerin, was sich Glyrana nicht nur widerstandslos, sondern auch erfreut gefallen ließ.
"Sagt, werte Kukina". Nun meldete sich Ismena zu Wort. "Wann werdet ihr mit der Weihe des Schreins beginnen? Es scheint ein Unwetter im Anmarsch zu sein... Außerdem – die werte Glyrana von Mersingen hat es sicher schon gesagt – ist auch noch eine Verlobung geplant. Welcher Anlass wäre dafür passender als die Weihe eines Heiligen Hains der Lebensspenderin?" Sie deutete auf Alboran und Haldana, die gerade händchenhaltend über die Wiese schritten.
Kukinas Stimmung war schon wieder in Begeisterung umgeschlagen: "Eine Verlobung, ich habe davon gehört. Das ist ja wunderbar, und außerdem noch die Erben dieser Baronie?! Es ist immer gut, wenn Menschen im Angesicht der Tsa den Mut finden, etwas Neues zu beginnen. Der Wetterumschwung, hm ja. Wie heißt es so schön: Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch eine Alveranie pflanzen? Eigentlich findet die Weihe schon längst statt." Sie deutete auf die Kinderschar, die Blumen pflückte, Bäume angoss, Purzelbäume schlug, Fangen spielte oder an dem kleinen Häuschen herum malte: "Die Kreide ist übrigens abwaschbar...Kardanyan hat ihnen doch die abwaschbare Kreide gegeben, oder, Ysilda?"

Wenig später begann die eigentliche Feierstunde. Adginna hatte anfangs verdrießlich geblickt, auf ihrem Ehrenplatz unter dem Baldachin. Aber sie musste zugeben, dass der Tsagöttinnendienst eine gewisse Würde ausstrahlte. Sie merkte, wie die Ruhe und Gelassenheit in ihre Seele zurückkehrte, die sie seit dem gestrigen Abend vermisst hatte. Nein, eigentlich schon seit ihrem Aufbruch aus Gernatsborn. Das Leben war nun wieder ein ruhiger, breiter Fluss mit kleinen Stromschnellen dazwischen, wie der glitzernde Gernat, den sie im Blickfeld hatte. Das Wetter grenzte an ein kleines Tsawunder, nur in der Ferne sammelten sich erneut dunkle Wolken.
Fast fühlte sich die Binsböckel ein wenig schläfrig. Nur halb hörte sie der Predigt Kukinas zu, über den Kreis des Lebens und seine ewige Wiederkehr im Gewand des Neuen und Unerwarteten. Über die Freiheit, loszulassen, um dafür Neues halten, erhalten zu können. Zwischendurch sang ein Kinderchor...Dankesworte der örtlichen Honoratioren...weitere Aufwertung für Gernatsborn...ein lebens- und liebenswertes Wohlfühldorf gerade auch für junge Familien...neue Hoffnung nach den Schrecken der Vergangenheit...mögen die Götter unsere gute Markgräfin...Dank an die Familie Mersingen…
Adginna unterdrückte ein Gähnen. Das alles oder so etwas Ähnliches hatte sie schon hundertmal gehört, zuhause in Schnayttach. Nun spielte ein nervöser junger Bauernbursche Laute und sang dazu mit kratziger Stimme, irgendwelche Volksweisen. Offenbar war der Musicus im letzten Moment für den Barden Wendelin eingesprungen. Haldana hätte das sicher besser gekonnt, aber das wäre nun wirklich unschicklich gewesen, für die künftige Herrin dieses Landes.
Der Blick der Binsböckel wanderte umher. Da war Kardanyan, der Novize, der mit einer Schnapsflasche testete, ob er die quietschbunte Kreide am heiligen Schrein wieder weg bekam. Ismena, die sich leise mit Ysilda unterhielt, und ihr nun, zum Erstaunen der Vertrauten der Eidechse, einen Ring zeigte, in einer Schatulle. Ah, offenbar dieser Feenring. Haldana und Alboran turtelten ganz ungeniert miteinander. Ach, das war in ihrer Jugend doch ein wenig anders gewesen, Frau Travia seis geklagt. Alrik hatte schon wieder einen Humpen Bier aufgetrieben, als säße er im Wirtshaus, Storko tätschelte seiner Glyrana die Hand und schien erst jetzt deren Errettung zu begreifen.
Eine wirkliche Ordnung gab es bei diesem Festablauf nicht. Nun sangen sie alle ein frommes Lied, dessen tsagefälligen Text Adginna nicht kannte. Dann erst fand die eigentliche Weihezeremonie statt. Kukina malte mit einem Gebet den Achtpfeil auf den Bauch der Ewigjungen (hoffentlich mit der richtigen Kreide). Dann ließ sie aus ihrem Prisma Regenbogenlicht darüber gleiten – es sah aus wie eine buntschillernd über die Statue huschende Eidechse. Im gleichen Moment erklang ein Glöckchen. Adginna erschauerte. Ein Kind plapperte aufgeregt dazwischen.
Tsas Finger schwebte durch die Luft und berührte Dere. Alles leuchtete im bunten Hoffnungsschimmer, die Welt atmete ungebändigte Lebenskraft und neue Zuversicht. Die Vögel zwitscherten, bunte Schmetterlinge taumelten über die Wiese, Bienen, Käfer und Hummeln brummten, der Wind streichelte sanft über Adginnas Wangen. Ein Bild vollkommenen, glückseligen Friedens.
Adginna runzelte die Stirn, wunderte sich über ihre Empfindungen und das kleine, erdfarbene Männchen, das ihr vom Waldrand aus zuwinkte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Die Baronieherrin winkte zaghaft zurück. Hatte sie gerade mit einem Kobold Artigkeiten ausgetauscht?
Ein grünes Funkeln lenkte sie ab. Das kam von Ysildas Hand, die den Ring trug, und verzückt einem winzigkleinen Mädchen zuschaute, das vor ihr auf und ab schwebte wie eine verirrte Biene. Einem daumengroßen Mädchen mit Schmetterlingsflügeln, um genau zu sein. Im nächsten Moment sah die Blütenfee sich erschrocken um. Dann zerstob die Erscheinung auch schon in einer glitzernden Wolke aus Feenstaub. Bis auf Adginna, Ismena und die Zabergerin schien niemand die traumhafte, unwirkliche Szene mitbekommen zu haben.
Das letzte Musikstück erklang, vor der Verlobung. Die Stimmung wurde wieder weltlicher, diesseitiger.
"Ich habe mir mal erlaubt, auf der Burg einen Verlobungsvertrag aufsetzen zu lassen", sagte Alrik neben ihr und zog bereits eine Schriftrolle hervor. "Im Wesentlichen steht drin, dass Alboran den Namen Binsböckel übernimmt, die wichtigsten Lehensgüter und das alles Weitere der Ehevertrag regeln wird. Das Wichtige sind die Monogramme der Zeugen und ihr Siegel. Storko und Ismena wissen schon bescheid."
"Alrik, du hast Nerven wie Ankertrossen, nach alldem, was geschehen ist", sagte die Binsböckel, mehrdeutig und leicht indigniert, auch wenn der Friedwanger im Grunde Recht hatte. Mit einem Feensegen allein würde Haldana die künftigen Geschicke ihres Hauses und der Baronie nicht lenken können.
"Wo Odilon nur bleibt?" Der Einäugige blickte unbestimmt zum Wald. "Ich glaube, er wäre gerne bei der Verlobung dabei gewesen…Jetzt ist Tuvok wieder da und dafür unser Fährtensucher verschwunden."
"So ist nunmal das Leben, würde unsere Kukina die Fünfte dazu sagen." Adginna hatte bereits die dunklen Wolken im Blick, die sich von der Trollpforte her näherten. "Es hilft alles nichts, Frau Tsa hat uns nur einen kleinen Aufschub gewährt. Odilon selbst hat uns ja vor Schlechtwetter gewarnt...Wir sollten nun langsam zu einem Abschluss kommen."
Die Vögtin lehnte sich zurück und beobachtete aus der Distanz, wie ihre Tochter vor Alboran nieder kniete. Tatsächlich herrschten in ihr gemischte Gefühle. Was geschah jetzt? Albo streifte seiner Versprochenen, die gerade schon ein "Ja" gehaucht hatte, einen Ring über. Der immer noch grünlich leuchtete, auch wenn der Schimmer schwächer wurde. Das musste dieser Feenring sein, von dem vorgestern im Wutzenwald die Rede gewesen war. Ein Zauberring, hinter dem diese Yasinthe Dengstein her gewesen sein sollte. Laut "Ludwina der Hexe." Eigentlich war Adginna dagegen gewesen, ein magisches Artefakt für die Verlobungszeremonie zu verwenden, hatte sich aber irgendwie durch das Weiheritual einlullen lassen.
Beifall, Händeschütteln, Umarmungen, ein paar verkniffene Tränen. Auch Adginna beglückwünschte das junge Paar, wenn auch nicht als erste. Der Himmel wurde schon wieder graublau und das Wetter kühler, was ganz gut ihrer Gemütslage entsprach. Wind kam auf. In der Ferne grummelte Donner.
Alrik baute ein kleines Tischchen auf, beschwerte den flatternden Vertrag mit Steinen, stellte Tinte, Federkiel und Siegelwachs bereit. Als der letzte Ring der Zeugen in das jeweilige Siegel gedrückt war, hatte sich das Firmament wieder bewölkt. Der erste schwere Regentropfen fiel herab und kleckste genau auf das Monogramm der Vögtin von Schlotz, das sich in einer Art Nebelwolke auflöste...

In einiger Entfernung flatterten bereits die Mäntel der beiden Wachen, die Storko am Radhaus aufgestellt hatte. Die Anlage unweit des Gernat war im Grunde ein besserer Holzschuppen, in den über einen Kanal Flusswasser auf ein unterschlächtiges Wasserrad strömte. Der Zufluss aus dem Kanal war oberhalb des Wasserspiegels vergittert. Auch die Zugangstür war sorgfältig verriegelt, nur ein Klappern zu hören. Auf der anderen Seite führte ein mächtiges Stangenwerk über mehrere Dutzend Schritt in Richtung Grube, und trieb mit ratternden Hin- und Herbewegungen die Pumpen an. Die Pumpenkunst beförderte über einen zweiten Kanal scharf riechendes Grubenwasser zurück in den Gernat, das zweifelsohne giftig war.
Eigentlich war es erstaunlich, dass die "Wilden Keiler" noch nicht versucht hatten, den Holzbau anzuzünden, dachte Perainfried, während er das Gesicht vor dem  Laub schützte, das der Wind aus dem Wutzenwald herbeiblies. Das hätte ein schönes Feuerchen gegeben. Allerdings stand das Radhaus ziemlich nahe am Wald, den diese spinnerten "Sokramurier" verehrten wie anständige Leute ihren Herrn Praios, Frau Travia oder die Himmlische Leuin. Jetzt im Sommer war der ganze, sanft ansteigende Hangwald ziemlich ausgetrocknet und würde sicherlich brennen wie Zunder. Es sei denn, es lag Regen in der Luft, wie gerade jetzt.
Robehild beobachtete kopfschüttelnd das mächtige Stangenwerk: Holzbalken, die aus zwei Fensterschlitzen des Radhauses kamen und sich, eingehängt an Kreuzstangen, rumpelnd hin und her bewegten, über eine ordentliche Strecke hinweg. Die Gardistin klopfte kurz mit der Hellebarde dagegen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass die ganze Mechanik in ihren Augen an Schwarzkunst grenzte. Auch Perainfried kam ins Grübeln. Die Nähe zum Fluss war Fluch und Segen zugleich: Einerseits drang ständig Grundwasser in die Grube ein. Andererseits war genügend Wasser vorhanden, um das mächtige "Kunstrad" anzutreiben, zum Auspumpen. Dennoch lag irgendwie ein Hauch von Yol-Ghurmak in der Luft, im Wortsinn, im sonst so firunsgefälligen Gernatsborn.
Robehild schlenderte näher. "Was meinst du, soll das die Strafe für unseren kleinen Ausrutscher heute sein, auf dem Kupferdach?"
"Ausrutscher? Unsere Knochen haben wir für Storko riskiert, nein, unser Leben, und das weiß Jadvige genau. Ist doch fast schon ein Drückposten hier. Wenn nur das Wetter ein klein wenig traviagefälliger wäre. Hoffentlich lassen die uns noch ein paar Schluck Freibier im Fass. Aber diese Einweihung vom Schrein brauche ich jetzt noch weniger, bei Rondras Klinge!"
"Vom Schwein?"
"Schrein". Perainfried musste tatsächlich lauter sprechen. In der Ferne grummelte das Gewitter, begleitet von Wetterleuchten, während der Wind an Heftigkeit zunahm. Irgendwo in der Nähe klapperte ein Fensterladen.
"Mistwetter" schimpfte Robehild. "Also ein Drückposten ist das nicht gerade. Wo stellen wir uns unter, falls es richtig losgeht?"
Perainfried zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe, die lösen uns rechtzeitig ab. Bei so ´nem Wetter traut sich doch nicht mal ein Wilder Keiler vor die Tür."
Der erste Blitz zuckte herab, gefolgt von Donnern.
Der Pfahlgardist kannte die Radkunst vom Sehen, aber so richtig verstanden hatte er deren Funktionsweise bislang nicht. Ah, dort oben wurde das Wasser im Kanal angestaut, um die "Mühle" anzutreiben. Was war das: Drei Gestalten standen einfach so auf dem hölzernen Laufsteg, der über den "kleinen Nebengernat" führte, und machten sich an den Nadeln zu schaffen: paddelähnliche Planken, die am Oberwasser in den Kanal gesteckt wurden, um es aufzustauen – und dank Griffen jederzeit herausgenommen oder hinzugefügt werden konnten. Im ersten Moment dachte er, die Drei wollten den Wasserzufluss an das nahende Gewitter anpassen. Aber nein, sie zogen eine "Nadel" nach der anderen heraus und warfen sie ins wild rauschende Unterwasser. Erst jetzt sah Perainfried die Wildschweinköpfe unter den Kapuzen, fast gleichzeitig mit Robehild.
"Das sind Wutzen!" schrie seine Kameradin ängstlich, die eine geborene Schlotzerin war.
Auch Perainfried wich einen Moment zurück. Dann merkte er, dass ein "Biestinger" eine Axt in Händen hielt und damit einfach auf die Holzbretter einschlug. Die Hände waren ein wenig zu zart und menschlich für echte Wutzen, vermutlich sogar die einer Frau.
"Das sind Wilde Keiler!" grollte er und rannte los, in Richtung Stauwehr. "Du bleibst hier und sicherst das Haus."
Das rauschende Wasser im Kanal wurde zu einem echten Wasserfall, das sich in einem rauschenden Schwall Richtung Radhaus ergoss und über den mauerbegrenzten unteren Kanal spritzte. Wollten die Sokramurier so etwas das Rad sabotieren, durch Überlastung? Die Kreuzstangen umzuhacken wäre effektiver gewesen. Allerdings auch auffälliger.
Die Saboteure bemerkten den Gardisten und ergriffen Reißaus. Ein dicker, stämmiger Kerl rutschte aus und stürzte ins Unterwasser. Ein weiterer türmte in den Wald. Die Axtschwingerin lief geradewegs Perainfried vor die Hellebarde, der sie mit der Spitze bedrohte. Mit wütendem Mädchenschrei hackte seine Gegnerin gegen die Waffe und schlug sie beiseite.
"Stehengeblieben, im Namen des Wehrvogts! Du bist verhaftet!"
"Leck mich!" hallte es dumpf unter der Maske hervor. "Ihr verdammten Waldmörder!"
Das klang eher nicht wutzisch.
Perainfried versuchte wieder seinen Hakentrick, um die Sokramurierin zu Fall zu bringen: sie war alles andere als eine geübte Kämpferin. Da bekam er von hinten auch schon einen derben Stoß. Der Dritte war unbemerkt zurückgekehrt. Die beiden Kapuzenträger liefen davon, die Frau ließ ihre Axt fallen.
Der Gardist rappelte sich wieder auf und rückte seinen Helm zurecht. Das Helmband war nach unten gerutscht, einige Herzschläge lang behinderte es seine Sicht. Als er sich wieder klar orientieren konnte, waren die Angreifer verschwunden. Er blickte zum Kanal, der nun einem reißenden Wildbach glich. Den strampelnden Dicken hatte es das Unterwasser entlang gespült wie ein Fäßchen, nun hing er mit den “Nadeln” am Gitter des Zulaufs und schrie zum Göttererbarmen. Die Wutzenmaske hatte er längst verloren. Perainfried verstand die Situation: Der Mann wurde langsam unter das Gittertor gedrückt, in Richtung des nun wie verrückt klappernden Mühlrads. Eigentlich hatte er nur noch die Wahl zu ertrinken oder loszulassen und dann "unters Rad zu kommen". Wer anderen eine Grube gräbt...
Robehild war herbeigeeilt und versuchte den Sokramurier mit ihrer Hellebarde aus dem schäumenden Wasser zu ziehen. Der Regen wurde stärker. Der Rettungsversuch war keinesfalls ungefährlich, am rutschigen Mauerwerk des Kanalrands. Perainfried warf seine Hellebarde ins Gebüsch und eilte der Gardistin zu Hilfe, um sie im Notfall festzuhalten.
Ein lautes Quieken lenkte ihn ab. Graubraune Wildschweinleiber fegten den Hang herunter, brachen durchs Unterholz und rannten geradewegs auf die Mühle los. Ihr Ziel war eindeutig das Stangenwerk, das in Richtung der Pumpen führte.

Robehild schlug mit der Beilseite ihrer Hellebarde gegen das mächtige Vorhängeschloss, das die Tür zum Radhaus sicherte. Sie würde den Sokramurier nicht mehr rechtzeitig aus dem Kanal ziehen können, soviel stand fest. Die Gardistin wusste nicht zu sagen, ob sie den zappelnden "Keiler" nun retten oder gefangen nehmen wollte – vermutlich beides. Ihre Axt traf eher die Tür als das Schloss, also versuchte sie den Bügel mit der Spitze aufzubrechen. Der Schlüssel befand sich in der Kupferschmiede, aber dorthin zu laufen hatte sie nun wirklich keine Zeit. Erst jetzt merkte sie, dass die schwere, eisenbebänderte Tür bereits Hiebspuren aufwies. Offenbar hatten die Wachen die Wilden Kerle bei einem Einbruchsversuch gestört und diese ihre sinnlose Wut dann am Stauwehr ausgelassen, wie die Moosaffen.
Pling! Das Schloss  gab endlich nach, und Robehild eilte ins Halbdunkel. Drinnen ratterte das mächtige Kunstrad wie verrückt, dass Wasser schäumte bereits seitlich aus der Führungsrinne heraus. Zerschmetterte Holzstücke klackerten in den Schaufeln. Der Sokramurier hing noch immer strampelnd am Rechengitter, lange würde er sich nicht mehr halten können. Die Wächterin spähte nach einem Hebel – irgendwie musste man dieses Ungetüm doch anhalten können. Ächzend ließ der Mann im Kanal los und wurde hereingespült...
Draußen zog Perainfried sein Schwert und stellte sich einer wütenden Bache entgegen, die nach einem Hieb auf den Kopf auswich und auf die Kreuzstangen zuraste. Was taten die verrückten Wildschweine da...sie begannen an den Holzbalken zu wühlen und zu graben, als würden sie darunter nach Futter suchen. Schräg prasselte kalter Regen herab. Donner grollte, Blitze zuckten.
Einige der Tiere stellten sich auf die Hinterbeine und – Perainfried traute seinen Augen nicht – begannen zu zucken, sich zu verrenken, grotesk in die Höhe zu wachsen. Die Gestalten wurden menschenähnlicher. Ihre Verwandlung schien schmerzhaft zu sein, denn ihr Brüllen klang nicht nur zornig, sondern auch nach Leid und Pein: "Oooaaaarrrrr!" Dampf hachte aus den platten, hauerbewehrten Schnauzen der Kreaturen, die von immer größeren Hagelkörnern getroffen wurde.
Im nächsten Moment standen drei, nein vier grollende, übermannshohe Ebermänner auf der Wiese. Einer der Wutzen griff nach der Axt, die die Sokramurierin fallengelassen hatte, und beschnupperte sie. Perainfried hob die Hellebarde auf und sah sich nach einem Rückzugsweg um. Das war fast schon unnötig. Der ganze Hass der vier- und zweibeinigen Wildsauen galt dem Stangenwerk. Mit Klauenhänden und vereinten, entfesselten Kräften rissen die Urviecher daran, der axtschwingende Wereber (oder wie immer man solche Kreaturen nannte) hackte auf die Nachbarstange ein. Ächzend brachen die schweren Gestelle in sich zusammen.

Reginlind, die nach einigen Methörnern nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne war, hatte sich oben  im Wald auf ihren Besen geschwungen. Nun schwirrte sie jauchzend in Richtung der finsteren Wolken. Krischan, der seine Krallen tief in ihre Schultern gegraben hatte, flatterte auf. Der herrliche graubraune Uhu, dessen Kopf zwei sichelförmige Federohren zierten, hatte etwas im Wald entdeckt, offenbar ein Eichhörnchen.
In Windeseile wurde sie durch die Magie der Flugsalbe in die Höhe gerissen. Spürte den wunderbaren Gegendruck der Luft, das klebrige Holz ihres Besens, vor allem aber Sumus unbändige Kraft zu ihren Füßen, eine Kraft, die sie eher als machtvoll denn bedrohlich empfand. Die Besenreiterin schrie vor Lust und Lebensfreude auf – und pflückte sich ein Zweiglein aus dem wild flatternden roten Haar. Es war wundervoll, den Sturmwind zu spüren, die Nässe des Regens, an den Händen, im Gesicht, den Oberschenkeln, den Brüsten...Jauchzend flog die Schwazerin eine Schleife über den Wutzenwald, sah in einem Augenwinkel Burcherts Hütte, im anderen zwei Gestalten, die weiter unten von einer Erle sprangen und der Schar der Wutzen folgten, hangabwärts, zum Dorf und der Burg hin. Regen, Regen, Regen. Es war, als wolle der große Regen sie reinwaschen, von Gerbolds Berührung und der Demütigung am Sokramurshügel.
Reginlind stieg höher und höher, dorthin, wo die Wolken erst langsam, dann immer schneller zu rotieren begannen: ein gewaltiges Auge bildete sich, eine Windhose, nein, ein regelrechter schwarzer Wirbelsturm, durchzuckt von Blitzen. Nun  prasselte auch noch Hagel herab. Die Hexe merkte, dass die harten Firunsgeschosse auch für sie gefährlich und überaus schmerzhaft waren. Fluchend versuchte sie, dem Sturm seitlich auszuweichen. War dieses Inferno überhaupt noch Burcherts Wille, oder entwickelte das Toben der Elemente gerade ein Eigenleben? Der Riesenkreisel drehte sich jetzt über dem Gernat, wirbelte die ersten zappelnden Fische hoch, darunter sogar den einen oder anderen verblüfft schnappenden Zander, Hecht oder Waller. Das war kein Wirbelsturm mehr, sondern ein Wallersturm ?!
Jetzt wurde auch Reginlind ordentlich durchgerüttelt und regelrecht mit Eisbrocken überschüttet. Die Tochter Satuarias merkte, wie der gigantische Mahlstrom aus Luft, Eis und Wasser an ihr zerrte. Nur wegen von hier! Das magische Holz kämpfte tapfer gegen die Turbulenzen an, trudelte, taumelte. Reginlind fluchte, als ihr ein kalter Karpfen ins Gesicht klatschte, gefolgt von Hagelkörnern. Raus hier, sie musste raus hier, aus diesem Alptraum jeden Wetterkundlers…
Der Sokramurier, der gerade vors Mühlrad gespült wurde und verzweifelt versuchte, sich noch irgendwo festzuhalten, hatte Glück. Robehildes Onkel war Müller, sie kannte sich mit solchen Rädern ein wenig aus. Trotz des Dämmerlichts fand die Gardistin den Bremshebel sofort und legte ihn um. Das Rad stand nach wenigen Augenblicken still, der Schwimmer prallte von außen gegen das Holz. Keuchend und erschöpft versuchte er sich ins Trockene zu ziehen. Draußen dröhnte der Hagel, prasselte der Regen, heulte der Sturm. Im Halbdunkel hatte Robehilde Mühe, überhaupt die Stelle zu finden, wo der Saboteur hing. Eine Abfolge greller Blitze wies ihr den Weg. Im nächsten Moment ertastete sie triefend nasse Kleidung. Er schien dick zu sein, klein und stämmig, mehr nahm sie im Moment nicht wahr.
"Im Namen des Wehrvogts" wollte sie noch schreien, da krachte ihr auch schon etwas ins Gesicht. Wie kann man nur so undankbar sein, dachte sie, dann realisierte sie, dass der Schlag nicht von ihrem menschlichen Gegner kam. Ebenso, dass sich das Dach über ihren Köpfen gerade auflöste.

"Ein Drückposten", dachte Perainefried und lachte überdreht auf, "ein Drückposten???!!" Das Lachen wurde ihm von den Lippen gerissen. Heute Vormittag war er noch auf dem Kupferdach der Burg balanciert. Nun stand er am Bergwerk und sah inmitten eines Jahrhundertsturms einer Horde Wildsauen zu, wie sie den Antrieb der Pumpen verwüstete. Der Gardist überlegte noch, ob er sich dieser Übermacht stellen sollte, da eilten die Schar auch schon davon, auf den Waldrand zu. Gegen manche Urgewalten waren selbst diese Berserker machtlos.
Rasch wurde es dunkel, eiskalte Windböen versuchten den Waffenknecht umzuwerfen. Plängplängpläng. Hagelkörner prasselten auf seinen Helm, für den er nun ungemein dankbar war. Der Gardist hieb die Hellebarde in den Schlamm, hinter einer Wurzel, hielt sich daran fest und legte sich flach auf den Boden, während sein Mantel davon wehte. Im Wald stürzten krachend die ersten Bäume um, Äste flogen als Speere durch die brodelnde Luft, Büsche rollten ins Nirgendwo. Aves Element zischte, orgelte, pfiff, stöhnte, heulte, peitschte. Wer immer diese niederhöllischen Orkanböen entfesselt hatte, dem ging es  nicht um das Zerstörungswerk allein. Die mehrfache Vernichtung des Bergwerks war eine Machtdemonstration, die noch lange in Erinnerung bleiben sollte.
Wie ein Späher unter Zyklopenbeschuss spähte Perainfried zum Gernat, durch den gerade ein brüllender Luftriese tobte und tanzte. Ein Wirbelsturm, im Sichelhag?
Glitzernde Fischschwärme wurden durch den Giganten aus dem Fluss gehoben und mitsamt Hagelschlag und Regenguss über Gernatsborn verteilt. Ein verwirrter Wehrheimer Zander klatschte vor Perainfried in den Schlamm, der bereits mit Wasser und Hagelkörnern bedeckt war. Kleine Zähnchen schnappten nach seinem Gesicht. Der Burgwächter zückte  den Dolch und erlegte den schuppigen Angreifer. Dann sah er, wie die Luftsäule auf das Radhaus zudröhnte. Dessen Holzschindeln wurden einfach weggeblasen, wie der Flugsamen einer Pusteblume. Im gleichen Moment fraß sich das Sturmungeheuer auch schon ins Gebäude, deckte es endgültig ab, ließ es halb in sich zusammen krachen. Die Götter hatten den Untergang Deres beschlossen, daran gab es keinen Zweifel mehr. Robehilde, wo war Robehilde? Hoffentlich hatte sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht...aber wo in dieser Verwüstungsorgie gab es noch Schutz und Zuflucht? Perainfried begann zu beten, flehte Efferd, Rondra und Firun um Verschonung an.
Im nächsten Moment schwamm der tote Zander an ihm vorbei. Das Wasser in der Pfütze begann zu steigen, immer weiter zu steigen...und druckvoll in Richtung Grube zu fließen. Der Pfahlgardist merkte, wie der Griff seiner kalten, blutig geschlagenen Hände um den Hellebardenschaft schwächer und schwächer wurde. Nicht schon wieder rutschen, dachte Perainfried noch, dann rollte die Flutwelle heran.

Haldana hatte sich erhoben…vor ihrem nunmehr Verlobten zu knien war ungewohnt für sie. Von ihrer Mutter war sie dazu erzogen worden, dass sie einmal eine Baronie führen musste, dass sie entscheiden und anzuordnen hatte. Sicherlich, das war ihr manchmal schwer gefallen, aber auch in ihrem knappen Jahr auf Wanderschaft, mit Tuvok und Rovik, war immer sie es, die die Entscheidungen traf und die kleine Gruppe anführte. Auch Rovik, der damals nichts von ihrer adeligen Herkunft wusste, hatte das immer akzeptiert. Nun, es war sicher gut gleich zu lernen, dass ihr künftiger Ehemann eine andere Rolle spielen würde. Dennoch hatte sich das seltsam angefühlt.
Haldana hatte ihren Verlobten dann zu sich gezogen und ihm einen zarten Kuss gegeben - entgegen dem traviagefälligen Protokoll und zum Missfallen ihrer Mutter. Aber darüber setzte sie sich einfach hinweg. Das war schließlich eine Tsapredigt und keine Travienmette.
Ein Windstoß riss Haldanas kunstvoll aufgesteckte Haare - zumindest auf der rechten Kopfhälfte - auseinander. Kalte Regentropfen klatschten mit einem mal über die Festgesellschaft. Haldana löste sich von Alboran, hielt ihn aber an der Hand und zog ihn mit sich, um sich unter dem Baldachin unter zu stellen.
Urplötzlich war Wind aufgekommen und ließ die Äste der Bäume erzittern. Eine Folge starker Böen ließ die Bäume sich im Wind heftig schaukeln. Rasch erwies sich, dass der Baldachin als Schutz vor dem Regen nicht die gewünschte Wirkung hatte - er wurde schlicht umgeweht. Die hölzernen Stützen schlugen, verknotet an dem großen Leinenstoff der Plane, wie eine umschlagende Rah nach einer Patenthalse umher. Wie von einem Knüppelhieb getroffen sank die Vögtin zu Boden. Ein armdicker Stützstab war mit dem freien Ende ihr in den Rücken gefahren. Japsend, wie nach einem heftigen Tiefschlag, versuchte sie, zu Atem zu kommen.
“Zurück in die Burg - das ist ja ein furchtbares Unwetter!” kommandierte der Wehrvogt mit befehlsgewohnter Stimme. Aber tatsächlich war das das vernünftigste. Bei solcherart heftigen Windböen wäre ein Aufenthalt nahe am Wald ein unnötiges Risiko.
Ein Schwall kalten Wassers klatsche Haldana ins Gesicht und auf den Oberkörper, als der Baldachin im Wind peitschte und das darauf befindliche Regenwasser mit einem mal freigab. Der nasse Stoff klebte ihr am Leib und ließ sie frösteln. Vor wenigen Augenblicken war es doch noch ein warmer Tag im Praiosmond gewesen. Es schien, als habe die Luft einen großen Temperatursprung nach unten gemacht - oder lag es nur an dem kalten Regenwasser, das sie bis auf die Haut durchnässt hatte?
Tuvok half der Vögtin auf die Beine. Storkos Aufforderung, zur Burg zu eilen, schien ihm das einzig Sinnvolle zu sein. Er wusste um die Gefahren bei einem solchen Sturm wohl am besten von allen Anwesenden Bescheid. Und dass das nicht nur ein einfaches Wärmegewitter war, das da herein brach, das war Tuvok klar.
“Zurück zur Burg!” rief auch Alrik und winkte die Geweihtenschaft der Tsa heran und nahm die kleine Melsine auf den Arm, was Ysilda dazu veranlasste, dem Friedwanger zu folgen. Ismena hielt die Geweihtenschaft, die verunsichert unter Bäumen Schutz vor dem Unwetter suchte, zusätzlich zum Aufbruch an.
Noch nicht einmal zwei Minuten später waren allesamt bis auf das Untergewand durchnässt. Der Regen klatschte fast waagerecht einem jeden ins Gesicht. Zu allem Überfluss begannen sich Hagelkörner unter den Regen zu mischen. Erst kleinere, dann bis zu Taubeneigroße Firunskörner, die in dem Sturm zu gefährlichen Geschossen wurden. In all dem Geprassel und den aufstiebenden Wasserspritzern, den herumwirbelnden Ästen, Blättern und Steinchen konnte man kaum drei Schritte weit sehen.
“Komm mit” rief Haldana und zog Alboran hinter sich her, in die Richtung, in der sie die Burg vermutete. Unversehens stieß sie mit Glyrana zusammen.
“Wir müssen uns in Sicherheit bringen!” rief Alboran, vielleicht lag ein Hauch Panik in seiner Stimme.
Ein waagrecht fliegendes Firunskorn schlug in Haldanas haarloser Kopfseite ein und verursachte eine Platzwunde. Rotes Blut verschmierte sich auf der regennassen Kopfhaut.
Glyrana packte die Baronin an der Schulter und zog sie und Alboran vorwärts. “Tsa steh uns bei in diesem mörderischen Sturm!” murmelte sie. “Kommt mit!”
Die drei stolperten vorwärts, hoffend, im nahen Wald Schutz vor den Firunskörnern zu finden. Auf freiem Feld wäre man dem wilden eisigen Treiben schutzlos ausgeliefert. Eine weiße Schicht aus Firuns kugelförmigem Element bedeckte bereits den Boden. Schon nach wenigen Schritten war Haldana klar, dass sie in diesem Treiben selbst den kurzen Weg zurück zur Burg nicht finden würde. Es war schlicht nicht möglich, sich zu orientieren in dem nasskalten Inferno, das mit aller Urgewalt über sie hereingebrochen war. Odilon hatte am Morgen noch vor einem Unwetter gewarnt, vielleicht wäre es besser gewesen, Weihe und Verlobung zu verschieben. Doch da half jetzt alles nichts.
Der Pfad, auf den Glyrana Alboran und Haldana führte - war es der Pfad, der zurück zur Burg führte? - war kein Pfad mehr, sondern war zu einem Bachbett geworden, auf dem Knöcheltief das Wasser floss. Glyrana deutete nach links, der Fließrichtung des Wassers folgend.
“Dorthin… da muss es zum Gernat gehen, dort liegt die Burg”
Haldana schüttelte den Kopf. “Nein, Glyrana. Zum Gernat mag es gehen, aber nicht zur Burg, die liegt ein Stückchen höher als hier, meiner Erinnerung nach. Und wenn es hier schon vor Wasser strömt und schäumt, dann möchte ich nicht zum Gernat herunter.”
Glyrana hielt einen Moment inne.
“Du meinst…” begann sie, dann zögerte sie.
Haldana nickte.
“Wenn aus dem ganzen Wald knöcheltief das Wasser fließt… dann ist der Gernat kein beschauliches Flüsschen mehr. Dann möchte ich jetzt nicht im Gernatstal stehen. Nicht, solange dieses Unwetter anhält, man nichts sieht und nicht weiß, welche Urgewalt einen dort erwartet.”
Alboran wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Aber als Kind der Schwarzen Sichel wusste er, wie gefährlich ein aus dem Gebirge herab rauschender Bach sein konnte, wenn Schneeschmelze und Regen zusammen kamen. Vielleicht hatte Haldana Recht. Hier waren sie nass und froren, klar, aber wenn der Gernat über die Ufer treten würde, dann sollte man den Wassermassen nicht im Weg stehen.
Mit unbehaglichem Gefühl sah er die Firunskörner auf dem Regenwasser wegschwimmen, offenbar zum Fluss hin, firunwärts.
“Dann gen Rahja” beschied Glyrana kurz entschlossen. “Dorthin steigt das Land an, zum Wutzenwald. Gehen wir zu den Felsen im Wutzenwald, ich denke, dahin finde ich. Da sind wir zumindest vom Wind geschützt.”
Alboran und Haldana stimmten mit einem Nicken zu. Ein besserer Gedanke, wohin sie sich wenden konnten, war ihnen auch nicht gekommen.
“Hoffentlich finden wir dorthin.” murmelte Haldana, folgte aber der Mersingerin mit entschlossenem Schritt. Alboran fügte sich in den Entschluss der beiden Frauen.

Odilon hatte eine Bewegung in den Augenwinkeln erspäht, wandte unvermittelt den Kopf nach oben. Gerade noch rechtzeitig, um eine Frauengestalt auf einem Besen davon fliegen zu sehen. Rasch deutete er Timoin aufzuschauen, der ebenfalls die Hexe noch erblickte.
“Das muss die Frau gewesen sein, deren Spur wir bei den Goblins gesehen haben!” rief Timoin überrascht aus.
Odilon nickte. “Wahrscheinlich, ja. Die Frau, die die Rotpelze in die Falle geführt hat. Die drei von ihnen einem Ritual der Blutmagie geopfert hat. Hat sie selbst das Ritual durchgeführt? Oder der Unbekannte, dessen Spuren wir auch gesehen haben? Die Satuarientöchter sind eigentlich für vieles bekannt und verrufen, aber nicht für Blutmagie.”
“Ist doch egal, Odilon. Sie hat mitgemacht, egal wie genau. Wenn wir herausfinden wollen, was hier vor sich geht, dann müssen wir ihr folgen.”
Odilon lachte trocken. “Und wie? Welche Spur hinterlässt eine Hexe auf ihrem Besen?”
“Sie fliegt nach Rahja. Die gleiche Richtung, in die sich die unbekannte Spur unten entfernt hat” stellte Timoin sachlich fest. “Wir sollten der Richtung folgen, dann werden wir schon etwas finden. Komm, Odilon, steigen wir wieder runter vom Baum. Die Wildschweine sind weg.”
“Sachte sachte, Timoin.” Odilon zögerte. “Durch Regen und Hagel, in dem kaum etwas zu erkennen ist, willst du vordringen? Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.”
“Ja, Odilon. Ich weiß, ich verstehe nicht viel von Magie. Noch weniger von Blutmagie, wie du sagst. Aber eines weiß ich. Wir haben zwei Spuren, wir haben die Richtung. Und wer immer Blutmagie einsetzt, der hat damit Wettermagie bewirkt. Oder meinst du, diese Gallysardwetterlage wäre Zufall? Nein, Odilon. Wir sind schon einigen Druiden begegnet, das weißt du. Jetzt sehen wir eine Hexe und die Spur eines Unbekannten. Blutmagie, Wetterzauber, das deutet auf einen Druiden hin. Und auf ein Ritual, das weiter fortdauert. Hast du nicht selbst gesagt, dass jeder Zauberer sich auf seine Magie konzentrieren muss? Also wovor hast du Angst, Odilon. Wer immer dieses Unwetter verursacht, der ist beschäftigt. Und der wird nicht auf Verfolger achten. Warum auch, bei diesem Unwetter wird sich jeder, der bei klarem Verstand ist, einen Unterschlupf suchen. Niemand, so wird er erwarten, folgt seiner Fährte. Und genau deswegen haben wir eine Chance. Eine sehr gute sogar, würde ich sagen.”
Odilon dachte kurz nach und nickte.
“Gut… dann zum Henker mit der Verlobungsfeier, die ist ohnehin ins Wasser gefallen. Du hast Recht, Timion. Und da ist noch eines. Dieses Unwetter wird dauern, bis der Urheber sein Ziel erreicht hat… oder bis ihn der Pfeil eines Jägers trifft. Und das wird sicherlich einigen Menschen das Leben retten, denn dass ein solches Unwetter ohne Todesopfer bleibt, das können wir nicht hoffen.” Odilon ließ sich an den Ästen herab und sprang zu Boden - in knöcheltiefes, schäumendes und gurgelndes Wasser. “Sei vorsichtig, mein Junge. Einem so gefährlichen Gegner bist du noch nie begegnet. Du bist jetzt nicht auf der Pirsch, Timoin. Du bist auf dem Kriegspfad.”  

Durchnässt, fröstelnd und abgekämpft vom beschwerlichen Weg gegen den Wind erreichten Glyrana, Alboran und Haldana einen Felsen, knapp vier Schritt hoch und nach Efferd hin leicht überhängend. Immerhin windgeschützt konnte man hier stehen. Alboran stützte sich gegen den Felsen und atmete erst einmal durch. Haldana sah übel aus, obwohl sie kaum verletzt war. Aber das Blut der Platzwunde hatte mit dem überreichlich vorhandenen Regenwasser ihre Leinenbluse blutig verschmiert. Aber immerhin blutete die Wunde nicht mehr. Auch sie war froh, wenigstens vor dem ärgsten Unbill des Wetters Zuflucht gefunden zu haben. Dennoch, auch hier war der Boden völlig durchweicht, und das Wasser rann talwärts.
“Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es jetzt am Gernat aussieht” murmelte Glyrana. Haldanas Bedenken, das hatte sie rasch begriffen, bestanden vollkommen zurecht. Die Burg auf dem felsigen Untergrund mochte sicher sein. Aber dahin müsste man erst einmal kommen, und wie es bei diesem Unwetter um die Hütten der Bauern, Handwerker und Arbeiter am Gernatsufer stand, konnte man sich ausmalen. Die Landjunkerin hoffte nur, dass auch viele der Dörfler auf der Burg Zuflucht gefunden hatten. Wenn die Hütten oder die Uferstraße unterspült oder überschwemmt waren, dann würde davon vielleicht nicht mehr als eine einzige Matschpiste übrig bleiben. Und wer von den Fluten mitgerissen würde, dem möchten die Götter gnädig sein.
“Das… das ist doch kein normales Unwetter” Alboran war immer noch von einer Unruhe erfüllt. Ich meine… so ein Starkregen… mit Hagel, so plötzlich…”
Haldana nickte. “Du hast Recht, Alboran. So etwas haben wir in Schlotz noch nicht erlebt, so lange ich lebe.
`So etwas hat es hier auch nicht gegeben, seitdem ich nicht mehr lebe!` vernahm Haldana Golos Stimme. Die Baronin fuhr erschrocken auf, fasste sich aber wieder.
“Ach, nicht du schon wieder…” murmelte sie.
Glyrana und Alboran sahen sie verwundert an.
“Es ist Golo…” erläuterte Haldana, die die unheimliche Begegnung nicht mehr, wie in der Vergangenheit, geheim halten wollte.
`Das Wetter hast du mir zu verdanken, Schätzchen. Bekenne dich zu IHM, und ich werde dem Einhalt gebieten.`
“Was ist mit Golo?” hakte Alboran nach.
“Seine ruhelose Seele irrt als Nachtmahr umher. Er ist hier”
“Jetzt? Hier? Bei Tageslicht?” wunderte sich Alboran, der nicht wusste was er sagen sollte.
Haldana zuckte mit den Schultern. “Eigentlich müsste ich jetzt Angst haben. Jedenfalls ist es das, was Golo will. Aber tatsächlich friere ich einfach nur.” Einer Intuition folgend beschloss Haldana, keine Angst vor ihrem Peiniger zu zeigen, sondern über ihn statt mit ihm zu reden. “Sein Geist verfolgt mich, seitdem ich ihn damals erschlagen habe… mit der Laute. Ach ja… Laute. Golo war es auch, der gestern die Vorstellung von diesem Barden Wendelin mit seinem schaurigen Liedgut verunziert hat.” Alboran blickte verständnislos. Aber Glyrana, die auch etwas von dem unheiligen Lied vernommen hatte, zeigte sich interessiert.  
´Wenn dir was an den Menschen in deinem Lehen liegt, Püppchen, dann bekenne dich. Eine einzige Lobpreisung des Güldenen reicht, und der Regen wird aufhören. Oder willst du ein dutzend Tote verantworten?´ ätzte Golo nach, aber Haldana ignorierte ihn.
“Golo sagt, er wäre für das Unwetter verantwortlich. Aber ich glaube ihm nicht. Wie könnte ein Geist denn solches bewirken?” Tatsächlich hatte Haldana keine Ahnung, wozu Golo in der Lage war, und ebenso verspürte sie Angst. Allerdings weniger als bei früheren Begegnungen. Sie war nicht allein, und es war Tag.
`Du zweifelst, meine liebe Gemahlin? Du zweifelst? Habe ich Dir nicht auch angekündigt, dass du ein Kind erwartest? Meinen Sohn übrigens? Meinst du, ich muss selbst so eine läppische Beschwörung ausüben, um ein Unwetter zu erzeugen? Meinst du das? Ebenso wenig wie ich selbst kein Kind zeugen muss, um dich zu schwängern, sondern das meinem Sohn überlasse? Ebenso muss ich selbst nicht ein solches Ritual wirken, nein, ich habe genug Anhänger, die mir hörig sind, du ungläubige Göre!´
Haldana hatte den Eindruck, Golo zornig gemacht zu haben. Wieder zweifelte sie an sich, an ihrer eigenen Courage. Tatsächlich, sie war schwanger. Sie hatte das niemandem gesagt, selbst Alboran gegenüber nur angedeutet. Golo hingegen wusste davon. Woher?
“Wie? Ein Nachtmahr bewirkt ein Unwetter? Wie denn das?” fragte Glyrana nach.
“Er sagt, ein ihm Höriger habe ein Ritual oder eine Beschwörung bewirkt.” erläuterte Haldana mit gleichmütiger Stimme. “Mag sein, er selbst kann es jedenfalls nicht. Ein Nachtmahr kann nicht zaubern.” Das letzte hatte Haldana hinzugefügt, um Golo zu provozieren, um ihn aus der Reserve zu locken, auch wenn sie tatsächlich keine Ahnung hatte, wozu ein dem Dreizehnten Geweihter Nachtmahr imstande war.
´Du Ungläubiges Kind! Ich werde die Kupfermine von Gernatsborn vernichten. Du bist schuld daran, Blondchen. Du hättest das alles verhindern können. Einfach nur ein Gebet an den Güldenen richten, und alles wäre überstanden. Du trägst die Verantwortung dafür, für deine eigene Dummheit, deine Überheblichkeit, deine Kleingeistigkeit! Es sind deine Schutzbefohlenen, die sterben werden.´ vernahm Haldana wieder Golos tonlose Stimme in ihrem Kopf.
Dass alles, was am Ufer des Gernat stand, in Gefahr war, das hatte Haldana ohnehin schon geahnt. Und damit auch die Kupfermine. So konnte die Drohung Golos sie nicht zusätzlich erschrecken. Nicht mehr, als sie ohnehin bereits in Sorge war.
“Ist Golo immer noch da?” fragte Glyrana nach? Die Landjunkerin meinte, die unheilige Präsenz zumindest zu spüren, von der Haldana sprach.
Die Baronin nickte. “Ja. Aber… ich glaube, von ihm geht gerade keine Gefahr aus, nicht darüber hinaus, als dass er uns Angst machen will.”
´DU IRRST` gellte eine tonlose Stimme durch Haldanas Kopf. Selbst Glyrana spürte eine Erregung der unheiligen Präsenz. Plötzlich flog die Landjunkerin zur Seite, stolperte und fiel der Länge nach auf den matschigen Untergrund.
Alboran lachte dreckig “Da liegst du nun, Eidechsenanbeterin. Schade, dass meine Söldnerin gestern nicht besser getroffen hat. Na sei es drum, ich werde das nachholen. Und nun zu dir, Metze!” Alboran packte die völlig überraschte Haldana an ihrer Haarhälfte und zog mit einer Urgewalt daran. Haldana schrie vor Schmerz und Schreck auf.
“Keine Gefahr? Mein Weib, du wirst schon merken, wer von uns beiden die Hosen an hat!” Alboran zerrte Haldana zur Seite, stieß sie mit Wucht gegen den Felsen.
“Alboran!” schrie Glyrana auf
“Das ist nicht Alboran. Golos Geist beherrscht ihn!” rief Haldana in einem kurzen Moment, in dem Alboran der sich aufrappelnden Glyrana einen Tritt gab, dass diese einen erschrockenen, sich fast grunzend anhörenden Laut von sich gab, ehe Alboran sich wieder der Baronin zuwandte.
“Du bist mein Weib, du Metze!” rief Alboran mit ebenso hasserfüllter wie auch verächtlicher Stimme. “Ich werde dir schon beibringen, mich zu respektieren, du Trolltochter!” wieder schrie Alboran, zugleich schubste er Haldana mit kräftigem Stoß nach hinten weg, wobei diese über einen Stein stolperte und auf dem Rücken zum Liegen kam.
Wenigstens ist diese Matschbrühe schön weich, dachte Haldana, und drehte sich in Bauchlage, um aufzustehen.
Da schlug sie erneut auf dem Boden auf. Sie spürte einen Schlag auf dem Rücken, dann drückte eine unnachgiebige Hand ihre blonden Haare in den Schmutz und fixierte so ihren Kopf im Dreck.. Erneut versuchte Haldana, aufzustehen, jedoch kam sie keinen Fingerbreit hoch, da Alboran auf ihr lag und sie zu Boden drückte.
Für einen Moment fühlte Haldana sich an ihren Kampf mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges erinnert. Nur für einen kurzen Moment. Jetzt kämpfte sie nicht gegen Alboran, auch wenn ihr Gegner Alborans Körper nutzte. Golo war ihr Gegner.
“So, Püppchen, ich weiß, das gefällt Dir!” rief Alboran. Aber jetzt machen wir das so, wie ich das will. Schwanger bist du ja schon. Du bist doch sonst so eine Elfenversteherin, du Hinterwaldgöre! Da wirst du sicher deine Freude daran haben!”
Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als sie Alborans Zähne in ihrer Schulter spürte. Haldana schrie, übertönte damit ein erneutes Grunzen aus dem Hintergrund. Dann spürte sie ein Reißen an ihrem Kleid.
Doch der stabile Leinenstoff riss nicht so leicht.
Alboran griff nach seinem Messer, schnitt Haldanas Kleid unter dem Gürtel auf.
Ein erneutes Grunzen, diesmal lauter.
Plötzlich fühlte Haldana sich befreit. Das Gewicht auf ihrem Rücken war weg. Die Schlotzerin sprang auf.
Alboran zappelte wild um sich, jedoch fest umschlungen von überraschend kräftigen Armen, die den Gießenborner im Kreuzgriff umschlungen hielten.
Glyrana stand erhobenen Hauptes hinter dem jungen Edlen, ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr sonst so ordentlich gepflegtes Haar stand fast borstig weg.
Haldana konnte sich nicht erklären, wie die tsafreudige Landjunkerin plötzlich so wild und kräftig geworden war. Hatte sich die Gernatsborner Burgherrin einen Krafttrunk zu Gemüte geführt? Aber für Überlegungen hatte die Baronin keine Zeit.

Alboran japste, lief rot an im Gesicht. Hilflos wie ein Maikäfer zappelte er im Festen griff.
“Bring ihn nicht um… es ist Alboran!” rief Haldana Glyrana an, als sie erkannte, dass Alboran keine Luft mehr bekam.
“Er… hat dich angegriffen. Und mich… er ist der Verräter!”
“Golo ist der Feind. Nicht Alboran…” erläuterte Haldana. “Golos Geist kann in fremde Körper fahren, kann Menschen beherrschen, ich habe das selbst schon erlebt.”
Glyrana drückte nicht weiter zu, ließ den gefangenen Alboran einen Atemzug nehmen.
“Aber… wenn er von Golo beherrscht wird, ist er eine Gefahr…” gab Glyrana zu bedenken.
`Du musst ihn küssen` erklang die ruhige, angenehm tief klingende Stimme Nasdjas in Haldanas Kopf. Haldana war froh, die Seele der Seherin wieder zu hören. Sie gewann neue Zuversicht, atmete erst einmal durch. Wenn Nasdja in ihrer Nähe war, hatte Haldana keine Angst mehr. Die alte Norbardin hatte ihr immer hilfreich zur Seite gestanden. Ein Lächeln fuhr über Haldanas Gesicht.
“Wir müssen Alboran helfen, Golos Geist zurück zu drängen.” antwortete Haldana. “Ich glaube, ich kann das. Halte ihn fest… aber nicht zu fest… und lass ihn los, wenn ich ihn habe.”
Glyrana verstand nicht, was Haldana vorhatte. Aber sie nickte.
“Alboran, mein Guter” begann Haldana. “Jetzt weißt du, wie mir der Geist dessen, der nicht dein Vater ist, zu schaffen macht. Jetzt verstehst du es.” Haldana lächelte Alboran an, der hasserfüllt zurück blickte.
“Niemand wird uns trennen, auch dieser Stinkstiefel von Golo nicht.” Sanft umarmte Haldana den Geliebten, drückte ihm einen sanften und zugleich innigen Kuss auf den Mund, knabberte leicht an seinen Lippen.
Alboran würgte erst, rebellierte, wollte sich aus dem Griff Glyranas befreien. Doch zugleich drang ein anderer, freundlicherer Gesichtsausdruck auf sein Gesicht. Haldana sah, dass in Alborans Körper zwei Seelen um die Vorherrschaft rangen. Ein Golo, der sich nichts aus Frauen machte, und der gleichzeitig Alborans Seele niederkämpfen und sich der Zärtlichkeit Haldanas widersetzen wollte als auch versuchte, dem eisenharten Griff Glyranas zu entkommen. Und eine verunsicherte, aber von der Liebe zu Haldana beflügelte Seele Alborans, die sich allein darauf konzentrieren konnte, den fremden Eindringling zu bekämpfen, zu verdrängen. Einen Kampf, bei dem Alboran dank Haldana und Glyrana die besseren Karten hatte.
Der Widerstand in Alborans Armen erlahmte. Im gleichen Maß ließ Glyrana den Gießenborner los.
Haldana schlang ihre Arme um Alboran, fuhr ihm mit den Händen über das schwarze Haar, küsste ihn erneut.
Alboran atmete ruhig, entkrampfte sich, umarmte sanft die Geliebte.
“Verzeih mir” sagte Alboran. Man sah ihm die Erschöpfung an, die der Kampf mit Golo verursacht hatte.

Welch herrlicher Anblick, welch wunderbare Zerstörung!
Mit flatternder Robe und wehenden Haaren stand Burchert dicht unter der Krone der Blutbuche. Die eine Hand war an einem der borkigen Stämme festgekrallt, die andere Hand fest um seinen Stab geschlossen (der selbst einem Ast ähnelte und ein Geschenk des Waldes war). Mit dem Stock dirigierte er schreiend das Unwetter, zumindest bildete er sich das ein. Längst hatte den Druiden so etwas wie heiliger Wahnsinn ergriffen, während Regel und Hagel auf ihn herab prasselten. Auf seine Hörnerhaube und das leicht purpurn schimmernden Blätterdach des Heiligen Baums, ebenso auf dessen dunkles, fast schon schwarzes Holz.
Burchert beruhigte sich nur mühsam. Die Wirkung des Rituals war erstaunlich, nach dem kläglichen, warmen Landregen und lauen Lüftchen gestern Abend. Ein gewaltiger Wirbelsturm hatte sich über dem Gernat gebildet, der unterhalb des Steilhangs mächtig anzuschwellen begann und bereits die Artemafurt überflutete. Es war klug gewesen, den Regen hier, vor der Engstelle herunterstürzen zu lassen, wo das Wasser am meisten Kraft gewann, bevor es sich vor der Gernatsbeuge anstaute. Selten hatte der Name "Blutbaum" besser gepasst als jetzt. Burcherts Robe, Gesicht und Bart waren noch immer rot bespritzt, vom Dolch, der in seinem Gürtel steckte, tropfte der Lebenssaft der hingemeuchelten Goblins.
Burchert hatte zusammen mit Reginlind das alte Wetterritual ausgeführt, hoch über dem Fluss: Erst die Suulak bis zur völligen Erschöpfung tanzen lassen, dann das Leben der keuchenden, wimmernden Kreaturen auf dem Opferstein beendet. Die Abscheu im Gesicht der Hexe war ihm nicht entgangen – wäre es der Schwazerin lieber gewesen, die Lebenskraft der Rotpelze sinnlos zu vergeuden? Sorgfältig hatte er das Blut in einer irdenen Schale aufgefangen, damit den Heiligen Baum besprengt und gezeichnet. Hatte Walderde, Moos und Laub in die Luft geworfen, eine Sturmkrähenfeder aus der Hand geblasen, viermal mit dem Stab auf das Holz der Blutbuche geklopft, im ältesten Garethi befehlend zu den Geistern des Fallenden Wassers wie der Brausenden Luft gesprochen.
Nur Reginlind war von der Menge grunzender Wildschweine erstaunt gewesen, die ohne Vorwarnung im Unterholz aufgetaucht war, begleitet von mehreren Wanderern: Junge Wutzen, die sich in den Namenlosen Tagen gerne in Ebergestalt unter die Tiere mischten, um eine zeitlang unerkannt durch den Wald zu ziehen und das Treiben in der diesseitigen Welt zu beobachten. Im Praiosmond war er ihnen noch nie begegnet. Vermutlich hatte das Wirken von Magie die Feeischen angelockt, ebenso der Geruch von Goblinblut. Zum Glück hatte Burchert einige Handvoll Krafteicheln in seiner Felltasche dabei gehabt, um die Eberbiestinger und ihre Rotte zu beschwichtigen. In stummer Sprache hatte er den Borstenträgern begreiflich gemacht, dass es ihm bei seinem Zauber allein um das Schließen von Sumus Wunde ging. Zu seinem Erstaunen waren die Wanderer fast sofort in Richtung Gernatsborn gestürmt, um das Rumpelholz zu zerstören, das sie beim nächtlichen Suhlen störte, ebenso wie der ätzende Gestank aus der Grube. Heute Nacht würde die Herde zurückkehren, um sich an den Leibern der Rotpelze zu laben.
Nun stand Burchert auf der Blutbuche, die sich im Sturmwind hin und her neigte wie der Mast einer Schivone, die sich durch schwere See kämpfte. Es war schon körperlich schwierig, den Sturm zu lenken, aber die Kräfte, die er hier entfesselt hatte, überstiegen langsam, aber sicher seine magische Macht. Reginlind war mit dem Besen in die Lüfte aufgestiegen, um den herunter brechenden Ästen und dem herumfliegenden Holz oder Laub zu entgehen.
Burchert schaffte es noch, die Windhose in Richtung Bergwerk zu dirigieren, dann musste er das Toben der Elemente sich selbst überlassen. Verwirrt zuckte der Druidenmeister zusammen, als zappelnde kleine Gnitzen neben ihm im Baum einschlugen. Eigroße Hagelkörner fetzten die Blätter von den Zweigen, rissen ihm den Stab aus der Hand. Das Heulen des Sturms wurde zu einem Brüllen, der Tag zu stockfinsterer Nacht. Plötzlich verspürte selbst er Furcht: Welche Urkräfte hatten sie hier entfesselt?

Perainfried erwachte aus seiner schweren Benommenheit, wozu ein Schwall eiskalten Wassers beitrug, das ihm gegen den Hals, nein, ins Gesicht schlug. Der Gardist verschluckte sich, bekam keine Luft mehr, hustete. Mit panischen Bewegungen versuchte er sich aus der Flut freizukämpfen. Nach und nach gelang es ihm, sich hochzuziehen und an irgendeinem abgesplitterten Balken festzuklammern. Erst jetzt merkte er, dass er an einem der Holzgerüste des Bergwerks hing, das ihm im letzten Moment aufgefangen hatte. Genauer am Überrest eines Holzgerüsts. Mehr als einen Moment lang war er völlig überfordert und desorientiert. Nur die Blitze, die immer noch durch die Finsternis zuckten, offenbarten ihm nach und nach seine Lage. Er hing genau an der Abbruchkante eines bräunlichen Wasserfalls, der sich vom Gernat her in die Grube ergoss. Hatten hier die Pumpen nach unten geführt, oder war das einfach nur der Einstieg ins Bergwerk gewesen? Wenn ja, dann war die Anlage nun völlig zertrümmert.
Ein dumpfes Grollen lenkte ihn ab. Perainfried wagte einen Schulterblick zur Seite. Das Geräusch kam vom Hangwald her. Genau genommen war es der Hang, der ihm gerade entgegen donnerte: Die Erde hatte sich im Dauerregen selbstständig gemacht und rutschte los, als Lawine aus Schlamm, Wasser, Baumstämmen, Geröll. Perainfried verstand, dass Sumus Zorn auf dem Weg zur Grube alles unter sich begraben würde, was sich ihm in den Weg stellte. Unter anderem ihn selbst. Nein, das stimmte nicht ganz: Vom Fluss her trieb nun das Mühlrad heran, das sich sinnlos im Wasser um sich selbst wälzte: Es würde ihn vermutlich einige Herzschläge vor der Moräne zerschmettern und über den Rand des Abgrunds fegen.
"Heilige Mutter Sumu, steh mir bei!" hörte er sich brüllen. Ein Baumstämmchen wurde durch die Luft geschleudert und schwirrte genau auf ihn zu. Im nächsten Moment wurde der Gardist auch schon gepackt und mitgerissen. So sieht also das Ende aus, dachte er schicksalsergeben. Er flog, durch die Luft, den Hagel, den Sturm, das Wasser. Irgendetwas hatte ihn am Schlafittchen gepackt: Golgari? Verwirrt blickte er auf: Der Todesalveraniar sah aus wie eine junge, durchaus hübsche Frau mit flatternden roten Haaren, die auf dem Bäumchen, nein, einem Reisigbesen saß. Welch merkwürdige Halluzinationen man hatte, wenn bereits Uthars Pfeil auf einen zu raste. Die Besenreiterin hatte Mühe, Höhe zu gewinnen, kurz hinter der Grube plumpste ihre Last in den schlammigen Boden.
Als der nächste Blitz die Finsternis erhellte, war seine Lebensretterin bereits verschwunden. Für einen Moment schämte er sich, in höchster Not nicht zu den Göttern Alverans gebetet zu haben. Dann sah er, wie Sumu selbst die Wunde in ihrem Leib schloss, zumindest einen Teil, in Form von gigantischen Erd- und Steinrutschen, die in das Loch hinein rutschten, wie ein Erddrache, der in seine Höhle zurück kroch. Ergriffen sank er zurück in den Schlamm und spürte die Kraft der Erde, buchstäblich am eigenen Körper. Dann herrschte eine merkwürdige, gespenstische Ruhe. Selbst der Regen ließ schlagartig nach. War das das berühmte Auge des Wirbelsturms?
Perainfried atmete durch. Die Stille um ihn herum war beunruhigender als es ein erneutes Anschwellen des Sturms gewesen wäre. Wassertropfen pflatschten von den arg zerzausten Bäumen, das war fast das einzige Geräusch. Der Orkan kehrte nicht wieder. Stattdessen kam der Schnee - erst einzelne, zarte Flöckchen, dann schüttelte Frau Travia ihre Kissen aus, von Alveran herab. Der Winter brach über Gernatsborn herein.
Mitten im Schneetreiben spürte er eine zitternde Hand auf seiner Schulter. "Perainfried, du lebst?!", hörte er eine vertraute Frauenstimme, gefolgt von einem Husten. "Hat dich diese betrunkene Hexe auch aus dem Wasser gezogen?"