2. Kapitel
Zweites Kapitel
Auf der Flucht
Drei Wochen zuvor, im Stadion zu Rommilys
Ein Raunen war von den Rängen zu Hören. Umbert, der Reiter auf dem Rappen, der zuerst noch am Ende des Feldes lag, hatte langsam, aber unaufhaltsam aufgeholt, und war als erster über die Ziellinie galoppiert.
„Ein toller Ritt“ gab Jodokus anerkennend von sich.
„Zweifellos, mein Guter, ganz ohne Zweifel.“ antwortete die Patrizierin, die trotz ihres Alters – sieben Dekaden mochte sie sicher erlebt haben – eine erhabene Eleganz ausstrahlte. „Eine Stimmung, wie früher bei den Spielen der Falken. Ich vermisse diese Spiele, die wir so lange hier nicht hatten. Das hättest du mal sehen sollen, früher, als noch richtige Immanmeisterschaften ausgetragen wurden. Das waren noch Zeiten. Anders als heute, da außer Pferderennen wenig geboten ist und vieles gar zu traviaungefällig gilt. Du solltest deinen Vater mal fragen, wenn du ihn siehst. Bevor er das Erbe seiner Familie antrat, war er ein ganz großer Immaner.“
„Ja, Irmelinde, wenn er mal wieder nach Rommilys kommt. Das werde ich. Ihr ward dabei, meine liebe Gemahlin, bei dem legendären Sieg der Eber über die Falken? Mein Onkel hat mir erzählt, dass das von allen Spielen das war, was ihm am meisten in Erinnerung geblieben ist.“ Der junge Mann lächelte die Greisin an.
„Sicher, mein Guter. Die Eber hatte damals niemand auf dem Schirm, bei der Fürstlich Darpatischen Immanmeisterschaft, damals, anno Tausendneun. Ich erinnere mich noch an die Banner, die die Falkenfreunde im Stadion aufgehängt hatten. Falken können fliegen, Schweine nicht! Hatte man überall lesen können. Aber damit hätte keiner hier gerechnet. Dein Onkel war als Torsteher nicht überragend, aber er hatte auch nicht viel auf sein Gestänge bekommen. Dein Vater war vielleicht der beste Bremser seiner Zeit. Hätte er bei einer großen Mannschaft gespielt und nicht bei dieser, verzeih` mein Junge, Provinztruppe, er hätte mehr als einmal Allaventurischer Meister werden können. Natürlich war es auch ein Überraschungsmoment… einen Ork als Jäger einzusetzen, das war neu. Und natürlich tat auch die Angst vor dem Schwarzpelz ein Übriges, die Abwehr der Falken zu verunsichern. Aber alles in allem, eine Sensation. Die Falken galten damals als Favorit für die Aventurische Meisterschaft, und dann schieden sie schon bei der Qualifikation in der Provinzmeisterschaft aus.“
Ein Mann aus einer Gruppe neben ihnen stehender Zuschauer verlor das Gleichgewicht und stürzte, sei es dass er angetrunken war, sei es, dass er vom Rennen so mitgerissen war, gegen den jungen Mann. Beide Männer fielen zu Boden.
„Schulligung, junger Herr. Ich wollte Euch nicht verletzen“ stammelte der Mann mit näselnder Stimme, rappelte sich auf und reichte dem ebenfalls Gestürztem die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Ihr habt Euch doch nicht verletzt, junger Herr?“
„Keineswegs. Ja, ich weiß, Imman ist eine Leidenschaft, da kann schon mal was passieren. Macht Euch keine Gedanken.“
„Danke, junger Herr… Verzeiht. Ich habe ein wenig vorhin zugehört. Welcher großartige Bremser war Euer Vater? Wo spielte er früher?“
„Das war bei den Wildern Ebern zu Gallys. Mein Vater war der Bremser und Mannschaftskapitän, er spielte unter dem Namen Deggen Romerzi. Leider lebt Vater nicht in Rommilys, er weilt weiter im Norden, in der Sichel. Er hätte sicher seine Freude, wieder mal ein Spiel zu sehen.“
„Ja. Verzeiht meine Unhöflichkeit. Ich habe mich selbst noch nicht vorgestellt. Raberto Gustlfinger mein Name.“
„Jodokus di Barnfani. Und meine liebreizende Gemahlin Irmelinde.“
Meistens erntete Jodokus auf diese Vorstellung seiner selbst und seiner Angetrauten einen erstaunten Blick. Irmelinde war ein halbes Jahrhundert älter als er. Aber dieser Raberto ließ sich keine Reaktion anmerken. Er schien ein Bürgerlicher zu sein. Ein einfacher Mann, sicher keiner, den er sonst treffen würde, in den Kreisen, in denen er und seine Gemahlin verkehrten. Aber auch das war das Besondere beim Imman. Man konnte sich mit jedem Treffen, ohne jeden Standesdünkel. Und auch ein Patrizier oder Adeliger nahm es einem einfachen Mann nicht krumm, hier einmal ohne die vollständigen Etikette angesprochen zu werden.
„Erfreut“ sagte Raberto. „Ja, ist lange her mit Eurem Vater, aber ich habe ihn früher auch noch mal spielen sehen. Damals in Andergast.“
„Ihr wart bei der Endrunde in Andergast dabei?“ fragte Jodokus interessiert.
„Ja. Na eigentlich mehr zufällig. Ich war als Söldner im Dienst des Eichenthrons. Aber wenn da schon mal die Meisterschaft war, da musste ich natürlich schon mal ein Spiel anschauen. Naja, auch schon wieder eine Ewigkeit her. Aber verzeiht nun die Störung. Ich werde mir etwas von diesem Gebäck dort vom Verkaufskarren holen.“
Der Fremde verbeugte und entfernte sich.
In seiner Erinnerung dachte Jodukus Redenhardt Firunjan an seinen Vater Deggen. Hätte er die Zeit damals vor Krieg und Katastrophen nur miterlebt, als man keine größeren Sorgen hatte als welcher Immanverein welchen Titel errang.
Seinen Vater hatte er ja kaum kennen gelernt. Er war ja damals aus Darpatien verbannt worden und hatte sich der Rondrakirche zugewandt. Jodokus war noch ein Kind gewesen. Seine Mutter Irmena Darina hatte sich zurück gezogen nach Deggens Verbannung, hatte mit Vereinsamung und starken Depressionen zu kämpfen, da sie sich weder in der Familie ihres Bruders Redenhardt noch in der ihres Gatten Deggen wohl fühlte. Valyria, die Gattin seines älteren Vetters Raul, war für ihn eine Ziehmutter geworden.
Später, als der endlose Heerwurm die Trollpforte überschritten hatte, hatte Valyria ihn rechtzeitig in Sicherheit gebracht, ihn und seine Schwester Ismena Rondrija, ebenso seinen Ziehbruder – der ebenfalls Jodokus hieß - und seine Ziehschwester Alrike, die Thronerbin. Gallys war damals nicht sicher, direkt in der Stoßrichtung der Heptarchenarmee auf dem Weg nach Wehrheim und Gareth. Daher hatte ihr entfernter Vetter, Reto von Helligfarn, ihn und seine Schwester nach Rommilys evakuiert… und zugleich auch einen Teil des Familienvermögens. Es war zu gefährlich, die potentiellen Thronerben im Kriegsgebiet zu belassen. Als Kinder hätten sie damals ohnehin nichts ausrichten können. Und in Rommilys wartete zumindest sein Onkel Redenhardt, der Stadtvogt.
Jodokus lächelte. Reto, dieses Schlitzohr, hatte in dieser Krise das Geschäft seines Lebens gemacht. In der allgemeinen Panik, die auch Rommilys nach dem Untergang Wehrheims befallen hatte, hatten einige Noble Familien danach getrachtet, sich in Sicherheit zu bringen und alles zu Gold zu machen, was man nicht mitnehmen konnte. Reto hatte für das Silber aus Gallys drei Patrizierhäuser und die Mehrheit an der Rommilyser Brauerei gekauft. Für einen Schnäppchenpreis, den man gar nicht laut sagen durfte. Seine Familie war damit – zumindest was das betraf - zum Kriegsgewinner geworden, und auf den Schlag auch eine der reicheren Familien in Rommilys, auch wenn seine Familie gar nicht in Rommilys ansässig war. Damals nicht. Inzwischen schon. Valyria hatte letztlich entschieden, dass Alrike ihr auf den Thron in Gallys nachfolgen sollte, und dass er die Familiengeschäfte in Rommilys eines Tages übernehmen solle. An sich war das für ihn kein schlechter Handel. Während seine Ziehschwester, am Titel gemessen zwar das wertvolle Erbe bekam, so war ihre Baronie doch durch den Krieg arg gebeutelt geworden, während er die Annehmlichkeiten der Stadt genießen konnte, und sicher mehr Silber zur Verfügung hatte als seine hochgeborene Schwester.
Silber allerdings, mit dem er keinen luxuriösen Lebensstil pflegte. Für die alteingesessenen Rommilyser Patrizier war er immer noch ein Hereingeschmeckter. Trotz Titel und Wohlstand. Also blieb Jodokus stets bescheiden und diskret im Auftreten. Es entsprach ohnehin nicht seinem Naturell, und lockte nur Neider oder falsche Freunde auf den Plan. Er wollte auch nicht nur als Zögling seines Onkels Redenhardt gelten.
Die Ehe mit der bürgerlichen, alteingesessenen, kinderlosen Witwe Irmelinde Rodfurten passte da genau in seine Lebensplanung. Die Rodfurtners bekamen Zugang zum Adel, und er zu den Rommilyser Patriziern und konnte sich Hoffnungen auf einen Sitz im Magistrat machen. Außerdem würde sich das Familienvermögen im Erbfall noch um ein beträchtliches Stück erweitern.
Irmelinde riss ihn aus den Gedanken. „Mein Junge, eigentlich ist das von diesem Raberto eine gute Idee gewesen. Sei doch so gut und hole uns Speckfladen und zwei Krüge Bier.“
„Sicher doch, meine Liebe.“ Jodokus blickte sich um, wo der nächste Verkaufswagen stand. Zugleich fasste er an seinen Gürtel.
„Meine Börse! Sie ist weg…“ rief Jodokus überrascht und verärgert aus.
Irmelinde runzelte die Stirn. „Das muss dann wohl dieser Raberto gewesen sein… oder wie immer er wirklich heißen mag.“
Drei Wochen später
Die Kutschfahrt dauerte nur wenige Augenblicke. Ruckartig hielt die Kutsche an. Alrik wurde erneut umgerissen wurde. Reto entriegelte die Tür, die quietschend und knarrend aufschwang. In diesem Moment stieß Alrik mit dem Fangeisen zu. Allerdings wurde der Friedwanger vom Gegenlicht geblendet.
Die Greifzange verhedderte sich am Mundschutz (oder dem Amulett?) des Spitalknechts und rutschte seitlich ab. Der Perainediener sprang zurück und schlug mit seiner Peitsche zu. Der Lederriemen wickelte sich um den vorderen Schaft des Fangeisens. Der Baron versuchte dem Kutscher die Waffe aus der Hand zu reißen. Aber der Bursche war kräftig, und konnte sich mit dem Stiefel an den kleinen Holzstufen abstützen, die draußen an der Tür angebracht waren. Alrik hatte buchstäblich einen schlechten Stand. Seine Finger waren von der Peitsche gestreift worden und schmerzten niederhöllisch. Nun stolperte er nun auch noch über die Tragbahre. Im Nu war er selbst entwaffnet.
Reto befestigte wieder seinen Mundschutz. "Nein. Nein. Nein. Seid froh, dass Ihr ein Baron seid, sonst..."
"Und du kannst froh sein, dass ich keine Perainediener verprügle."
Die Tür flog zu. Die beiden Storchenschwingen unterhielten sich leise auf dem Kutschbock. Eine Weile ruckelte die Kutsche wieder über die Pflaster von Rommilys. Es schien in Richtung Perainetempel und Spital zu gehen. Immerhin, nicht zu irgendeinem geheimnisvollen Schwarzen Spital, wie diese haarige Maraske behauptet hatte.
Alrik stellte fest, dass es einen Klappsitz in der Kutsche gab, an zwei Ketten, auf dem er einigermaßen bequem Platz nehmen konnte. Zeit, sich etwas zurückzulehnen. Dennoch sah der Kasten weit mehr nach einem Gefangenenwagen aus als nach einer Krankenkutsche.
Das Metalldings, das da an der Decke schaukelte, war wohl eine Lampe.
An der Wand hing ein Kästchen, dass mit einem roten Storch verziert war - eine Art Wandschränkchen. Ein leises Klirren war zu hören. Als er den Kasten öffnete, sah er tatsächlich mehrere Glas- und Tonflaschen, die in Holzhalterungen wackelten. Er nahm wahllos eine heraus, entkorkte sie und roch daran. Ah, Baldriantropfen... wahrscheinlich zur Beruhigung der Patienten?
An einem Haken hing eine Feldflasche. Alrik entkorkte sie und schnupperte am Inhalt. Ein scharfer, aber nicht unangenehmer Schnapsgeruch, der leicht an Rübe erinnerte. Premer Feuer? Wahrscheinlich zum Desinfizieren. Er nahm einen kräftigen Schluck, dann noch einen. Tatsächlich, er hatte richtig gelegen: "Das Feuer von Prem, das ist mir genehm." Seine Stimmung hellte sich etwas auf.
Das Ruckeln verebbte, stattdessen spritzte nun Schlamm. Die Zahl der Schlaglöcher nahm zu. Irgendwie war die Kutsche linker Hand abgebogen, statt geradeaus Richtung Spital zu fahren, wie es Alrik erwartet hatte.
Der Baron von Friedwang spähte mit seinem unverdeckten Auge nach draußen. Der Gestank und die schemenhaften Reihen windschiefer, aus Brettern und Fachwerk zusammengefügter Bruchbuden deuteten darauf hin, dass sich die Kutsche durchs Katzloch zwängte. Offenbar, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Natürlich, sie suchten die Maraske - wahrscheinlich, um sie ebenfalls ins Spital zu bringen. Ab und an hielt der Wagen an, und Thesia erkundigte sich: nach einer stoppelhaarigen blonden Frau in einem Schlafgewand. Alrik verstand die Gespräche kaum.
"Steig runter, du Luder, dann zeige ich dir, wos langgeht, hahaha." gröhlte eine betrunkene Stimme.
"Was seid denn Ihr für welche? Hundefänger?" keifte ein altes Weib, das wohl das Fangeisen missverstand. "Meine Hundis bleiben hier. Verzieht euch." Dazu erklang irres Gekläffe. Vermutlich waren die "Hundis" herumtollende Gassenköter, die sich um irgendein Aas balgten. In der Nähe meckerte eine Ziege.
Pflatschend und übelriechend ergoss sich der Inhalt eines Pisseimers aufs Kutschendach.
Diese Narren würde es noch schaffen, das größte Dreckloch von Rommilys in hellen Aufruhr zu versetzen.
Der Friedwanger hängte die Flasche wieder an den Haken und setzte die Untersuchung des Kutscheninneren fort.
In einem Schubfach des Wandschränkchens befand sich reichlich Verbandszeug und eine Schere. Das war doch schon mal was. Natürlich hatte er nicht vor, sich in ein Siechenhaus fahren zu lassen, weder in ein Schwarzes noch in sonst irgendein Spital. Schon gar nicht zusammen mit der Maraske. Die Wahrscheinlichkeit, sich dort mit einer echten Krankheit anzustecken, war hoch - auch wenn viele arme Hungerleider den Kranken nur markierten, um eine regelmäßige Mahlzeit zu ergattern. Egal, dieses Elend hatte er seit der Brabaker Zeit hinter sich gelassen. Sorgfältig wickelte er sich die Mullbinden um seine Hände, besonders aber um seinen verschandelten Kopf.
Auf seiner nächsten Flucht würde man ihn wahrscheinlich für ein Brand- oder Unfallopfer halten. Vielleicht auch für eine entlaufene Bregelsaum-Mumie. Aber zumindest schon mal nicht für einen Abgesandten für... wie hieß Peraines Gegenspielerin noch gleich? Die Faulige Monarchin des Ewigen Siechtums?
"Mishkara" Ohne dass er es gewollt hatte, schlüpfte ihm der Name der Erzdämonin über die Lippen. Erschrocken hielt der Geweihte inne. Hieß es nicht, dass solch unheilige Worte genügten, um die Macht der Niederhöllen auf Dere herabzurufen?
Alrik verspürte ein leichtes Kratzen und einen üblen Geschmack im Hals. Dazu das Gefühl, als würden sich Maden in seinem Rachen winden. Alrik spuckte kräftig aus, und dann nochmal, als könne er so seinen Mund vom erzdämonischen Namen säubern.
Spielten ihm seine überreizten Sinne einen Streich, oder roch es tatsächlich gerade leicht schweflig?
"Da vorne ist sie" rief Thesia triumphierend. "Sehr gut, sie hinkt... die schnappen wir uns. "
Ah. Die beiden waren also Perainediener - und freuten sich über das Humpeln ihres Opfers?
"In der Ecke kenne ich mich aus" sagte die Frau auf dem Kutschbock. "Ich steig` ab und verfolg` sie mit dem Fangeisen. Versuch sie in die Seitengasse da vorne zu treiben!"
Die Beifahrerin sprang hörbar in den Dreck: "Das Miststück werde i c h jetzt mal ein bisschen verarzten."
Der Fanatismus in ihrer Stimme klang wirklich ungesund.
"Hüüaaa...." Reto knallte mit der Peitsche und schlug mit den Zügeln, die Krankenkutsche nahm rasselnd Fahrt auf.
Alrik verdrehte das Auge. So eine Rennwagen-Tour wäre schon auf der breiten Fürstin-Irmegunde-Allee ein Wagnis gewesen, oder auf der Straße der Gastlichkeit. Aber in den engen, verwinkelten Gassen des Katzloch grenzte sie (wieder mal) an Wahnsinn. Ein Bettler schimpfte und sprang im letzten Moment zur Seite. Zumindest hörte sich das zahnlose Genuschel so an. Auch ein paar vollgespritzte Straßendirnen begannen zu keifen.
Immerhin schien nun auch der Kutscher zu merken, das der Plan nicht allzu hesindial war. Hektisch begann er an den Zügeln zu zerren: "Brr..."
Dann ging alles rasend schnell. Die Kutsche schrammte gegen eine Hauswand. Mit einem lauten Knacken brach die hintere Achse. Das Gefährt scherte aus, stürzte um. Wie ein Würfel im Becher wurde Alrik herumgeschleudert, das ihm Hören und Sehen verging. "Gut, das ich mich schon verbunden habe", dachte Alrik noch, dann knallte er mit der Stirn gegen hartes Holz, vermutlich die Sitzbank. Oder war es das Wandschränkchen? Wahrscheinlich beides.
Als der Streuner aus der Benommenheit (?) erwachte, lag er im kalten, stinkenden Unrat der Straße, neben der geöffneten Tür der Kutsche. Die eine ordentliche Bresche in irgendeine armselige Behausung geschlagen hatte. Der Wagen war umgekippt. Bedeckt von Dachziegeln, Brettern, Stein- oder Lehmbrocken. Allzu lange war Alrik nicht dagelegen, zumindest drehte sich das eine Rad noch. Ein brauner Warunker war gestürzt und rappelte sich gerade wieder auf. War es schon Nacht geworden? Nein, eine große, graugrüne Wolke war vor die Sonne gezogen und tauchte das Katzloch in mattes, fahles Dämmerlicht. Oder lag das jähe Zwielicht am heftigen Schlag gegen seinen Kopf?
Alrik kroch orientierungslos herum, neben einer heruntergerissenen Wäscheleine. Immerhin, bis auf einen Brummschädel schien er nicht ernsthaft verletzt zu sein. Ironischerweise hatte ihn der Kopfverband wohl wirklich vor Schlimmerem bewahrt.
Reto hatte es da schon bedeutend schlimmer erwischt. Ein Holzbalken war herabgestürzt und hatte ihn an der Schulter getroffen - einer der morschen Balken, mit denen sich die krummen Häuser gegenseitig abstürzten. Er brüllte und krümmte sich neben dem Kutschbock. Ein dreckiger kleiner Gassenjunge war bereits dabei, ihm die Stiefel zu stehlen, ohne auf die Schmerzen seines Opfers zu achten. Mit einem Schrei fiel Reto in gnädige Ohnmacht. Eine weitere Elendsgestalt machte sich daran, einen der Warunker auszuschirren.
Der Baron nahm einen süßlichen Geruch war. Parfüm?! Kein Rosenwasser, die billigste Sorte. Verschwommen sah er zwei, drei, nein vier Kokotten über sich aufragen. Oder waren es nur zwei, die er gerade doppelt sah?
Die Frauen machten sich an seinen Stiefeln zu schaffen und tasteten ihn nach Wertsachen ab. "Nicht so stürmisch, meine Damen", hörte er sich stöhnen. Eine der beiden, ein rothaariges, pickliges, spindeldürres Ding, griff nach der Augenklappe, die er abgestreift hatte und die ihm nun tief in den Hemdkragen hing. Offensichtlich hoffte sie auf ein Medaillon oder sonst irgendeinen wertvollen Anhänger. Die Hure schrie auf, als sie die Pocken an Alriks Hals sah, und entblößte dabei faulige Zähne. Fluchend wie die Schwarztobrier flatterten die Bordsteinschwalben davon.
Irgendwie hatte er momentan kein Glück mit den Frauen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie das eine Pferd und dessen neuer Besitzer in einer Seitengasse verschwand. Rattenmenschen - so nannte man derlei Gesindel im Tiefen Süden. "Vielen Dank für die schnelle Hilfe", ächzte der Friedwanger und wischte sich eine Kakerlake aus dem bandagierten Gesicht. Das Flattertierchen stammte wohl aus der Ruine, die sie gerade endgültig zertrümmert hatten. Immerhin, seine Stiefel hatten sich noch nicht auf Wanderschaft begeben. Ein paar Ratten wuselten ebenfalls herum. Eine begann schon neugierig an seiner Stiefelsohle zu knabbern.
Alrik verspürte jähe Übelkeit. Er würgte, erbrach sich - oder besser gesagt, versuchte sich zu erbrechen. Nur ein Schwall gelbgrünlicher, übelriechender Schleim drang über seine Lippen. Der Baron spuckte aus. Der Geschmack in seinem Mund war fürchterlich.
Der giftgrüne Rotz sah nicht gesund aus. Fiel das jetzt eher in den Bereich "Zorganpocken" oder "Kutschenhavarie"? Vermutlich hatte er wirklich eine Gehirnerschütterung: Irgendwas stimmte mit seinem Sehsinn nicht. Oder?
Begann der Schleim sich gerade wirklich zu bewegen? Tatsächlich, wie eine eklige Schnecke glitt das Zeug durch den Schlamm. Obwohl Alrik nicht gerade von Wohlgerüchen umgeben war, sorgte der Gestank von faulen Eiern und Schwefel, die der Schleim verströmte, für erneuten Brechreiz. Zum Glück entfernte sich die Lache von seiner Nase. Was war das denn? Kleine Fühlerchen wuchsen aus dem wandernden, dukatengroßen Klumpen. Damit schien er - es? - zu wittern und sich vorwärts zu tasten. Irgendwie erinnerte ihn der Anblick an eine Begegnung in den Brabaker Sümpfen. Morfus, so nannte man die giftsplitterverschießenden Dämonenschnecken, oder auch: Tlalucswürmer. Das Ding sah zumindest aus wie ein... Ein Tlalucswürmchen. Ein Morfunello, wie er seine Entdeckung gerade eben auf Brabaci getauft hatte. Ein winziger Morfu.
Nicht ohne Faszination beobachtete Alrik seinen Gast, der ihn verließ, um amöbengleich auf einen zweiten Schleimbatzen zuzuschwimmen (zu kriechen?), der gerade von der Kutsche tropfte.
Der Mondschatten robbte näher, neugierig wie ein Kind, das irgendein widerliches, aber ungemein faszinierendes Getier entdeckt hatte (wobei er sich allerdings das Hemd als Mundschutz über die Nase zog). Tatsächlich, der zweite Morfunello tropfte genau von der Stelle, wo die Hinterachse der Kutsche gebrochen war. Die schien völlig verrostet zu sein, aber nur im Bereich der Bruchstelle. Was hatte das zu bedeuten? Hatte der zweite Grünschleim-Batzen die Kutsche sabotiert? Wo kam der jetzt wieder her? Alrik konnte sich nicht daran erinnern, sich auf die Kutsche erbrochen zu haben. Dann fiel ihm wieder ein: Er hatte auf den Kutschenboden gespuckt. Tatsächlich, genau an der Stelle hatte sich ein kleines Loch hinein gebrannt. Nein, es war eher hinein gefault. Eine dunkle Kriechspur führte von dort zur Achse.
Der Glibber wuchs zu einem handtellergroßen Etwas zusammen, und erinnerte nun wirklich an einen Zwerg-Morfu. Im nächsten Moment spuckte der Morfunello auch schon los, mit einer Art feuchtem Niesen. Kleine Rotzspritzer klatschten dem Baron ins Gesicht. Erneut bewährte sich der Kopfverband, der das meiste aufhielt.
"Peraine steh mir bei!" keuchte Alrik, und wunderte sich über sich selbst: Jetzt klang er schon selbst wie Doctor Alfengrund. Ein leises Zischen war zu hören. Der Grünschleim löste sich in einem schwefelstinkenden Rauchwölkchen auf, wie Fett oder Öl in einer heißen Pfanne. Der Geweihte stutzte: Lag das das Verdampfen am heiligen Namen der Göttin - oder an der Nachmittagssonne, die in diesem Moment hinter der grünlichen Wolke aufgetaucht war?
An beidem? Kein Zweifel, die Morfunellis waren bis auf ihren Gestank verschwunden. Selbst die Spritzer waren nicht mehr zu sehen, zumindest auf den Händen. Damals, im Sumpf, war er im letzten Moment hinter einem Mangrovenbaum in Deckung gehechtet. Aber selbst die drei (oder waren es vier?) Hornsplitterchen, die ihn damals getroffen hatten, hatten fürchterlichen Schüttelfrost und Krämpfe ausgelöst. Auch das Herauspulen der Giftnadeln aus seinem Fleisch war alles andere als angenehm gewesen, im Tempel des Heimlichen. Kedio Wakanabi, sein Mentor, hatte die Splitter fein säuberlich herausgezogen und die Wunden verbunden.
Wüstes Schimpfen und Fluchen lenkte ihn ab. Es war Thesia, die gerade die humpelnde, barfüßige Maraske herbeizerrte, die sie tatsächlich mit dem Halseisen eingefangen hatte. Die beiden Frauen waren sich alles andere als einig. Marike hatte den Ritterfänger mit beiden Händen gepackt und versuchte nach Thesia zu spucken. In ihrem Nachthemd sah sie aus wie eine Verrückte. Oder ein Schlossgespenst. ""Die Pocken? Ja, die hab ich! Bin schon ganz heiß! Lass mich sofort gehen, oder ich steck dich an, nä!!!"
"Versuchs, und ich stech´ dich ab! Du wirst mich nicht verseuchen, elende Dirne! Mich nicht und Rommilys auch nicht"
Tatsächlich fuchtelte Thesia mit einem Rapier herum, den sie in der Rechten hielt. Alriks Klinge. Erst jetzt sah die Storchenschwinge die Bescherung auf der Straße - und schien endgültig durchzudrehen: "Verdammtes Katzlocher Gesindel!".
Thesia hob mit hochrotem Kopf den Stahl. Wollte sie Marike erstechen? Sah fast so aus. "Heilige Mutter Peraine, steh uns bei wider die Sünde und Verderbnis!"
Im nächsten Moment traf sie ein Stein, geradewegs gegen die Stirn. Dann sackte sie in die Knie, seufzte, kippte zur Seite und rührte sich nicht mehr. Es war Alrik, der seine Augenklappe zur Schleuder umfunktioniert hatte (auch dafür war sie gut zu gebrauchen). Eigentlich hatte er die Hand der Perainejüngerin treffen wollen - aber ein ganz so meisterlicher Schleuderer war er dann auch wieder nicht. Dann eben so. Auf die harte Tour.
Marike war für einen Moment unschlüssig, ob sie türmen, oder den Eisenkragen, der sich um ihren Hals schloss, entfernen sollte. Alrik nahm ihr die Entscheidung ab, indem er das Fangeisen packte. "Hiergeblieben. Das ist mein Nachthemd..."
"Und du trägst meine Klamotten, Barönchen, nä." Die Streuerin grinste schon wieder frech. "Was soll das jetzt werden? Die Rückkehr der Mumie?"
"Ich glaube, wir sollten unser kleines Gespräch fortsetzen."
"Mitten auf der Straße? Im Katzloch?"
"Ist doch gemütlich. Sind wir wenigstens unter Unseresgleichen. Fangen wir mal damit an, was genau du mir ins Bier geschüttet hast?"
Trotziges Schweigen. Alrik drückte seine Gefangene gegen eine Bretterwand und drehte das Halseisen etwas. Die Maraske biss wütend und schmerzerfüllt die Zähne zusammen. Sie sah jetzt aus wie ein kleines Raubtier, das in eine Schlagfalle geraten war, aber noch zuckte und die Zähne fletschte.
"Das mit dem geheimnisvollen Unbekannten kannst du vielleicht der Stadtwache erzählen, aber nicht mir", knurrte Alrik."Also, wer hatte wirklich die Idee, mich abzuzocken, mit den Zorganpocken? Lass mich raten. Die Baernfarns waren es schon mal nicht?!"
"Lass mich los, du tust mir weh." Täuschte Alrik sich, oder schimmerte tatsächlich eine Träne in Marikes Augen. "Die paar Pusteln, was ist denn schon dabei?"
"Ach ja? Das Zeug, das im Bier war, hatte einen ziemlich üblen Nachgeschmack. Es stinkt wie die Niederhöllen. Vor allem kriecht es ein bisschen zu sehr in der Gegend herum, für meinen Geschmack. Wer hantiert hier mit Dämonenzeugs, ich oder du? Los, fang das Zwitschern an, oder du brüllst demnächst auf dem Scheiterhaufen, als Dämonenbuhle!"
"Was quatscht du da? Das grüne Zeug war doch nur ein kleiner Spaß, nä."
"Wenn du auf Streckbank liegst, drüben am Greifenplatz bei den Bannstrahlern - dann haben wir was zu lachen."
"Greifenplatz? Bannstrahler? Nun halt den Kork mal flach, nä..."
"Vielleicht ist dir der Turm der Heiligen Inquisition ja lieber. Die Zorganpocken sind auch als `Namenlose Sieche´ bekannt. Denk mal drüber nach, mit deinem kleinen Maraskengehirn. Vor allem über den Teil mit dem Namenlosen."
Marike schwieg verstockt. Tatsächlich schien sie einen Moment nachzusinnen.
"Du hast doch mehr Angst vor den Praidioten als ich" sagte sie lahm.
"Sagen wir, ich kanns ganz gut mit den Dienern des Greifen. Ich hab nämlich einen großen, schönen Praiostempel bei mir zuhause in Friedwang stehen. Hab ihn damals sogar mitfinanziert."
Marike murmelte etwas.
"Lauter!"
"Das Zeug hat Raberto angeschleppt, nicht ich..."
"Raberto? Ist das dein Komplize?"
"Mein Verlobter, nä...hat seine Augen und seine Fingerchen überall, verstehst du." Die Maraske grinste anzüglich und hob ihre Hand. Tatsächlich glänzte dort ein kleiner Silberring.
"Verlobter? Herzlichen Glückwunsch. Ich bin hoffentlich auch eingeladen, zu eurem Traviafest. Was ist das für ein Gift? Und wo hatte er den Dukatenbeutel her?"
"Du stellst aber dumme Fragen, nä... Sein Finger hat sich drin verhakt."
"Ist das eure Spezialität? Adelige abziehen? Barone sind eine Nummer zu groß für euch, glaub es mir."
"Gehörte irgendso ner Ollen, nä. Oder ihrem Stecher. weiß nicht mehr so genau. Irmegunde von Bärnfang oder so ähnlich... ach nee, Baernfarn. Er hieß Justus, Jokus oder so... irgendein reicher Schnösel von und zu halt. Haben sogar mit Raberto gequatscht, im Immanstadion, nä. Die Alte hätte dem Jukus seine Mutter sein können. Waren aber verheiratet. Normalerweise vergisst Rabo die Leute gleich wieder, die er beklaut. Aber an die beiden konnte er sich gut erinnern. Irmelinde? Jukus? Egal.“
"Was ist das für ein grünes Zeug?"
"Was weiß denn ich? Habs doch gesagt. Raberto hat es angeschleppt. Kleiner Nebenverdienst, nichts Besonderes. Der Stinker hat ihm Schwarzen Pfeffer versprochen, beste Ware aus Aranien. Wenn wir das grüne Stinkzeug einem verpassen, ders verdient hat. Da musste ich irgendwie sofort an dich denken, nä. Wir sollten dann nachprüfen, ob es wirkt. Als Beweis wollte er nur den Krug. Den Bierkrug, aus dem du getrunken hast, nä. Warum auch immer. Hat dann anstandslos bezahlt. N ganzer Pott Rauschkraut. Beste Ware aus Aranierberg. "
"Der Stinker? Wer ist das schon wieder? Ein Goblin?"
"So hat ihn Raberto genannt...mehr weiß ich nicht. Bei so was is er verschwiegen wie ein Borontempel. Hat nur was von Zwergenduft erzählt, nem komischen Auge und Fliegenfingern."
"Fliegenfängern?"
"Nee, Finger. Keine Ahnung, was er damit meint, nä. Die grüne Pisse verschandelt einem die Fresse, hats geheißen, aber nur für ein paar Tage, nä. Vielleicht ist der Stinker ein Answinist oder so was... Schnieke angezogen war er ja, aber kein Freund vom Badehaus. Das nich, nä. "
"Ein Answinist?"
"Einer, der im Keller hockt und Gift mischt… lebst du hinterm Madamal? Wär mehr so`n kleines Hexperiment, hat der gesagt."
"Ach so. Ein Alchimist. Was denn für ein Experiment?"
"Ob das Zeug in Bier wirkt. Verträgt kein Sonnenlicht, hat er gesagt... aber man muss es trotzdem in Glas aufbewahren. Ganz sauber war das Stinktier nicht, nä. Aber sein Zitabhar ist wirklich allererste Sahne. Soll ich dir was davon verticken? "
"Sehe ich so aus, als würde ich Gift in meine Pfeife stopfen?"
"Sehr witzig. Hab dir alles gesagt, was ich weiß, du heimtückischer Drecksack. Kann ich jetzt gehen?"
"Eine Frage hätte ich noch. Wie hast du`s geschafft, m i c h zu vergiften?"
"So schwer war das jetzt auch wieder nicht, Barönchen, als du auf die Tänzmäuse geglotzt hast, bei ihrem Mohagehopse."
Ah, die barbusigen Damen im Baströckchen. Die sogenannten "Tänzerinnen". Rommilys, das Sünden-Elem. Was war nur aus der einstigen Hauptstadt der Traviamark geworden? Zu Asche, zu Staub, Frau Travia geraubt. Nach dem Krieg und den sittenstrengen Zeiten waren die Rommilyser gierig aufs pralle Leben, auch und gerade der ärmere Teil der Bevölkerung. Vor allem drüben, im Paradies, jagten sie jetzt wieder jeder Art von Vergnügen hinterher und machten dabei die Nacht zum Tag. Zumindest in den verborgenen Hinterzimmern und verbliebenen Winkelhäusern, rund um den Tempel der Rahja.
"Wundert mich trotzdem, dass du nichts gerafft hast." Marike plapperte unverdrossen weiter. "Das Zeug hat gestunken, nä, als ob es der Stinker persönlich ausgekotzt hätte. So sehr, dass man`s selbst im Finger gerochen hat. In Schnaps und Wein schmeckt man`s nicht, sagt Raberto. Oder in Gebrautem. Naja. Nicht so sehr."
"Es lebe das Rommilyser Reinheitsgebot. Wo finde ich deinen Verlobten?"
"D e n findest du nicht, glaubs mir. Aber vielleicht findet er ja dich?! Oder seine Freunde finden dich..."
Alriks Blick wanderte umher. Auch wenn die Straße scheinbar menschenleer war, ahnte er, dass er beobachtet wurde, von den "Katzen" des Katzloch. Der Anblick war sicherlich interessant. Eine umgekippte Kutsche neben einem zertrümmerten Haus. Zwei reglose Kutscher. Eine Diebin im Schlafgewand, die gerade von einer Mumie verhört wurde, die sie mit einem Fangeisen und merkwürdigen Fragen traktierte.
"Kann ich jetzt gehen? Ich bekomme langsam kalte Füße, nä..."
"Das glaube ich aufs Wort." Alrik überlegte. Marike war die einzige, die bei der Stadtwache für ihn aussagen konnte. Nur leider machte er selbst bei der Geschichte keine allzu gute Figur. Am Ende war er wirklich mit den Pocken verseucht worden. Es half alles nichts: Er musste bis zur Quelle des ganzen Übels vordringen.
"Keine Idee, wo dein geliebter Raberto gerade ist? Der mit einer Schmeißfliege Geschäfte macht?"
"Damit du mit den Greifern anrückst? Vergiss es. Ich seh` ihn auch nur alle paar Nächte, nä. "
"Wie du schon gesagt hast. Zur Stadtwache kann ich gerade nicht. Hab irgendwie mein Gesicht verloren. Möchte nur ein paar Takte mit ihm plaudern, wie wir zwei gerade eben."
"Völlig zwanglos, nä? Lass mich los, du tust mir weh!"
Tatsächlich drehte Alrik das Halseisen noch ein wenig mehr. Marikes Hals begann zu bluten, dort wo die Federn in ihre Haut stachen.
"Aahhh... Such ihn selber. Hängt öfters am Immanstadion rum oder an der Halle der Süßen Verzückung, klaut, vertickt Rauschkraut, oder treibt Schutzgeld ein. Was weiß ich. Frag nach Andergaster Eiche, dann findest du ihn. Wenn du ihn gut bezahlst, quatscht er vielleicht, nä. Oder er macht dich kalt, weil du seine Freundin angelangt hast. Hör, aah, hör auf, das tut weh."
"Hab ich dich angefasst? Ich hab dich überhaupt nicht angefasst." Alrik ließ wieder locker. "Na gut, weil du so brav warst, könnte ich mir sogar vorstellen, dich laufen zu lassen. Unter einer klitzekleinen Bedingung."
"Das Schlafgewand zieh ich nicht aus."
"Interessante Vorstellung. Ich dachte eher an die Phiole. Da müsste doch noch was vom Inhalt drin sein? Gib sie mir, und wir sind quitt."
"Seh ich so aus, als hätte ich das Fläschen eingesteckt?" maulte die Maraske.
"Soll ich nachgucken? Da, wo es dunkel ist?""
"Pervalisches Scheusal". Die Maraske spuckte aus.
"Die Perainetante vorhin. Ich glaub, die war kurz davor, dich aufzuspießen. Vielleicht bin ich sentimental - aber mir kommt`s fast so vor, als hätte ich dir gerade eben den Arsch gerettet. Wenn´s schon zu einem Danke nicht reicht."
"Ich sag dir, wo`s ist, und du lässt mich laufen, nä. Großes Phexensehrenwort?"
"Ich versprech`s bei Phex! Aber keine Lügen und Halbwahrheiten mehr."
Marike zögerte kurz. "Mein Florett hätte ich auch gerne wieder. Der Griff ist hohl, nä." Ein Augenzwinkern.
"Na also. Das Florett muss noch im Haus sein. Hast es verloren, als du ein Nickerchen gemacht hast. Ich werde dein Geraffel später in die Tonne vors Haus stecken. Und danach sehen wir uns nie wieder, dass das klar ist?"
Alrik schleifte seine Gefangene zu dem verbliebenen Warunker, schirrte ihn los und band das Fangeisen an einem der Riemen fest. Dann gab er dem Tier einen Klaps.
Der Braune trabte los, mit der empörten Marike im Schlepptau.
"Du hast gesagt, du lässt mich laufen, nä...??!" Die Streunerin versuchte sich hektisch zu befreien.
"Das mache ich ja gerade."
Der Baron nahm seinen völlig verdreckten Rapier an sich, der in eine Pfütze gefallen war, und säuberte ihn mit einem der Hemden von der Wäscheleine.
Alrik machte sich keine Illusionen. Natürlich würde Marike sofort zu ihrem Verlobten rennen und ihn warnen. Gut so - das brachte etwas Bewegung in den Ameisenhaufen, wie Meister Kedio gesagt hätte. Spielchen mit geheimen Kennwörtern kannte er ebenfalls zur Genüge. Andergaster Eiche? Vermutlich bedeutete das eine ordentliche Tracht Prügel. Wenn sie ihn nicht gleich an eine Eiche binden und über die Darpatfälle schicken würden. Irgendwo hatte er mal gehört, dass die Andergaster die Todesstrafe bevorzugt unter Zuhilfenahme von Eichenholz vollstrecken würden.
Alrik wandte sich den beiden Perainedienern zu, die gerade zu stöhnen und zu zucken begannen. Was jetzt? Sein Blick fiel auf die Feldflasche, die ebenfalls aus der Kutsche geschleudert worden war. Leckte ein bisschen, war aber noch immer gut gefüllt.
Als erstes wandte er sich Thesia zu: "Trink erstmal n Schluck, dann schaut die Welt schon ganz anders aus."
Mehr oder weniger sanft flößte er der hustenden, prustenden Frau das Premer Feuer ein. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor. Gut, dass er im Wandschränkchen in der Kutsche auch noch einen kleinen Trichter entdeckt hatte.
"Trink. Das wird deine Leiden und Sorgen mindern."
"Soorgan...Pockn..Rommlss...verseucht..." ächzte die Frau und spuckte Schnaps. Noch ein paar Unzen. So. Das durfte für einen ordentlichen Vorsprung reichen.
Alrik wandte sich Reto zu und wiederholte die Prozedur. Der Kutscher brachte von vorneherein nur noch Stöhnen und Lallen heraus. Schmerzen hatten die beiden jedenfalls keine mehr. Eigentlich schade um das gute "Feuer". Den letzten Schluck gönnte er sich selber.
"Alle Zwölfe, dass sieht wahrlich schlimm aus!"
Erstaunt sah sich Alrik um. In einer Seitengasse erblickte er ein Fuhrwerk mit zwei vorgespannten Kaltblütern: Tralloper Riesen, die von einem jungen Fuhrknecht mit Lederschürze gelenkt wurden. Ein Bierkutscher? Tatsächlich standen einige schwere Fässer auf dem nur halb beladenen Wagen.
Der Fuhrknecht blickte arglos. Offenbar hatte er nichts von Alrik Verhör mitbekommen. "Kann ich helfen? Bin sowieso auf dem Weg ins Spital."
Die Freundlichkeit des Burschen verwirrte Alrik für einen Moment. Gutmütigkeit war er einfach nicht mehr gewohnt. Einen Moment lang wurde er regelrecht misstrauisch.
"Zum Spital? Da bist du aber völlig falsch abgebogen."
"Is meine erste Auslieferung in der Gegend" sagte der Bursche verlegen. "Bin erst seit einem Monat im Rommilys".
"Ach so. Ja, die beiden müssen dringend ins Spital… schwere Kopfverletzungen, fürchte ich. Und dann der Schock. Nicht ansprechbar. Reden nur noch wirres Zeug."
"Was ist mit Euch, Ihr scheint auch verletzt zu sein?"
"Hab mich schon selber verarztet. Wie ist dein Name?"
"Sendric".
"Trifft sich gut, ich heiße Alrik… Kannst du dich um die beiden kümmern?"
Sendric nickte. „Ich nehme sie einfach mit. Wird sich schon jemand kümmern im Spital.“
Alrik atmete auf. Jetzt hatte er erst einmal Ruhe vor dem übereifrigen Medikus und seinen Gesellen. Besser, er würde auch den Abgang machen. Die ganze Sache war viel zu auffällig gewesen. Wenn Korvid oder seine Kumpane melden würden, dass ein mutmaßlich an den Pocken erkrankter im Katzloch abgängig war, dann würde es bald von Gardisten wimmeln hier. Und Alrik hatte wahrhaftig keine Lust, die nächsten Wochen ein Einzelkämmerchen im Siechenhaus zu bewohnen – wenn ihn nicht irgendwelche panikerfüllten Büttel nicht gar gleich erschlagen würden. So wie er aussah, würde ihn vielleicht nicht einmal seine adelige Herkunft vor Angstreaktionen der Stadtgarde schützen. Und wie ein Adeliger sah er zudem im Augenblick auch nicht aus.
`Also gut` murmelte Alrik leise vor sich hin. `Primo: Weg von hier. Secundo: Überlegen, was ich tun kann.`
Alrik schlenderte unauffällig – soweit mit seiner Gesichtsbandage unauffällig denn möglich war, zurück in die besseren Stadtviertel. Im Katzloch hatten ihn zu viele gesehen. Zurück in sein Haus konnte er allerdings auch nicht. Sicher würde man ihn dort zuallererst suchen. Alrik fasste an seinen Gürtel. Immerhin, sein Dukatenbeutel war noch da. Den hatte man ihm nicht abgenommen. Er konnte sich also immerhin in einer Taverne einmieten.
Einen Augenblick überlegte Alrik, ob er nach Friedwang abreisen sollte. Einmal aus der Stadt gelangt, würde er sich schon in die Heimat durchschlagen können. Sicher wäre das die vernünftigste Entscheidung.
Aber dann würde er nie herausfinden, was dieser Raberto eigentlich wollte. Oder Stinker, dieser unbekannte Auftraggeber Rabertos. Oder vermutlich noch jemand, der ihm gänzlich unbekannt war, und der diesen Stinker für was auch immer bezahlt hatte. Außerdem, wenn man ihn suchte, dann würde man auch auf dem Weg in seine Heimatbaronie suchen.
Das könnte eine Intrige sein, dachte Alrik. Eines war schließlich klar. Wenn man ihn einfach nur aus dem Weg haben wollte, warum machte man sich dann die Mühe, eine Fährte auf die Baernfarns zu legen. Dann hätte ihm niemand etwas von diesem Geldbeutel mit Bärenwappen erzählen müssen. Den hätte auch niemand stehlen müssen – es gab sicher einfachere Opfer für Langfinger. Und wer die Spuren verwischen will, der wirft einen auffälligen Geldbeutel weg und behält nur das Silber.
Nein, das passt so alles nicht zusammen, murmelte Alrik vor sich hin. Die Handlanger der ganzen Scharade mögen aus dem Katzloch kommen. Der Urheber tut es gewiss nicht.
Jokus von Baernfarn, Justus von Baernfarn… Diese Marike konnte diesen Namen natürlich nicht zuordnen. Alrik hingegen schon. Die Familie seiner Gemahlin kannte er natürlich. Nicht jeden aus der weitläufigen Verwandtschaft. Aber dass der Sohn vom vormaligen Baron Deggen Redenhardt Firunjan Jodokus hieß und in Rommilys lebte, daran erinnerte er sich. Gut. Wer auch immer ihm so übel mitspielte, der tat es wohl auch mit dem jungen Baernfarn. Immerhin wurde von diesem die Börse geklaut und dessen Name in den Schmutz gezogen. Also ein potentieller Verbündeter. Noch dazu einer, der mit ihm verschwägert war, und dessen Familie mit der Seinigen trotz einiger Rivalitäten mitunter eigentlich verbündet war.
Alrik seufzte.
Nur mit seinem derzeitigen Aussehen konnte er schlecht in einem Patrizierhaus vorsprechen. Er könnte einen Brief schreiben und einen Boten vorbei schicken. Bliebe aber ein Risiko. Der junge Baernfarn kannte ihn nicht persönlich, und sicher würde auch er bald vom Pockenerkrankten Flüchtigen Friedwanger Baron hören. Und warum sollte Jodokus sich mit einem gesuchten Seuchenflüchtling treffen wollen? Nur, weil dessen Tante seine Frau war? Alrik musste vorsichtig sein.
In Gedanken versunken schlenderte Alrik durch die Gassen und näherte sich dem Flusshafen. Nicht ganz so schäbig hier wie im Katzloch, dachte Alrik zufrieden. Aber bei so vielen Durchreisenden würde er wenigstens nicht so sehr auffallen.
Alrik bummelte an ein paar Marktständen vorbei, unweit vom Hafen. Ein neuer Mantel, eine neue Gugel. Das könnte er gebrauchen. Seine eigene Kleidung war ja noch in seinem Haus, soweit sie nicht verbrannt war. Na, da lag sie gut, fluchte Alrik innerlich. Aber er wurde fündig und kleidete sich erst einmal neu ein. Mit tief ins Gesicht gezogener Gugel würde sein einbandagiertes Gesicht jedenfalls nicht sofort jedem in die Augen springen.
Dann sah Alrik sich um. Er hörte Lautenklänge, etwas Singen und Lärmen aus einer Taverne um die Ecke. Ein wenig fühlte Alrik sich an die Zeit erinnert, da er als junger Bursche durch Brabak gezogen war. Er hob den Kopf ein wenig und blickte auf das leicht im Wind schwingende Tavernenschild. Zum Flussschiffer. Ja, warum nicht. Sah so aus, als würden hier nicht nur Einheimische verkehren. Er würde Hilfe brauchen. Vielleicht konnte er jemand Durchreisenden anheuern. Irgendwelches Söldlingsvolk, Mietlinge, Herumtreiber, Abenteurer. Jemand wie er selbst vor drei Jahrzehnten.
Alrik drückte die Schwingtür auf. Sanfte Saitenklänge drangen an sein Ohr. Alrik ging in den Schankraum, vor zum Tresen, um beim Wirt ein Zimmer zu ordern und sich dabei etwas umzusehen welche Gäste in der Taverne waren. Dabei lauschte er dem leisen Gesang, der vom Tisch neben dem Kamin kam. Die blonde Bardin fiel ihm gleich auf, mit ihrer auffälligen Frisur. Die rechte Kopfhälfte war von schulterlangem, glatten Haar bedeckt. Die linke Kopfhälfte war kahlrasiert. Eigenwillige Frisur, dachte Alrik. Aber singen konnte sie. Der Mondschatten lauschte der glockenklaren hellen Stimme. Diese Frisur… Die war ein echter Blickfang, auch wenn es vielleicht schöner aussehen würde, fehlte nicht die Hälfte der Haare. Über der linken Schulter spitzte das obere Ende einer schmalen Lederscheide hervor. Eine Scheide für einen Degen oder ein Rapier. Das erklärte vielleicht auch die Frisur. Beim Schnellen ziehen der Klinge wären lange offene Haare vermutlich einfach im Weg. Eine Klinge befand sich allerdings nicht in der Scheide. Natürlich nicht. In jeder Taverne, die etwas auf sich hielt, wurden Waffen beim Wirt abgegeben. Der hatte schließlich keine Lust darauf, dass regelmäßig die Stadtgarde nach Händel mit Klingenwaffen seine Schänke durchsuchten. Alrik hatte seine Klinge ja auch abgegeben. Naja, nicht alle. Den Stiefeldolch nicht. Der war gut genug versteckt.
Alrik konzentrierte sich darauf, den Gesang zu verstehen.
Über den Berg ist mein Liebster gezogen,
weit übers Meer ist mein Falke geflogen,
Wenn er gedächte der heimlichen Nächte,
dann kehrte er zurück, dann kehrte er zurück.
Alrik kannte die Melodie. Auch den Text dazu kannte er. Serwa hatte das früher auf dem Cembalo oder der Harfe hin und wieder gespielt. Eine nivesische Melodie eigentlich, die aber Elfe Jirka, die Gattin des alten Odilon, von ihren Reisen mitgebracht hatte. Die melancholische Melodie, zwischen Hoffnung und Verzweiflung und voll Sehnsucht, passte gut zur Mentalität der Schwarzsichler und war auch von der einfachen Bevölkerung aufgenommen worden. Dass das Lied ursprünglich aus den Nivesenlanden stammte, wusste kaum einer mehr. Seit zwei Jahrzehnten gehörte es zum bekannten Schwarzsichler Liedgut. Tuoll on mun kultani, den nivesischen Titel des Liedes kannte kaum jemand mehr. Er wüsste ihn ja auch nicht, wenn seine liebe Gemahlin ihn nicht eigens erwähnt hätte.
Hinter dem Salzmeer im goldenen Schlosse,
tränkt er dem König die stampfenden Rosse
Wenn er gedächte der heimlichen Nächte,
dann kehrte er zurück, dann kehrte er zurück.
Alrik sah zu den Gästen an den Tischen. Dort neben dem Eingang saßen Arbeiter aus dem Hafen. Einheimische. Nicht diejenigen, die er jetzt gebrauchen konnte, auch wenn die muskulöse, luftig bekleidete Hafenarbeiterin sicher attraktiv war. An den beiden Tischen vor dem Tresen waren Handwerker, an Gildensymbolen und Handwerkskleidung unschwer zu erkennen. Sah auch nach Einheimischen aus. Und drüben vor dem Fenster mit den bunten Butzenglasscheiben saß ein Pärchen, das mit sich selbst beschäftigt war. Da wollte er auch nicht stören.
Blieb neben dem Kamin der Tisch mit dem Mädchen mit der Laute, wo auch ein Mann in Waldläufergewand sowie ein Angroschim saßen. Oder dort neben der Tür zu den Schlafsäälen ein Tisch mit vier Bewaffneten – aktuell nicht zwar nicht bewaffnet, aber die leeren Scheiden am Gürtel und die ledernen Rüstungen, die sie trugen sahen eindeutig nach Söldnern aus. Die vier schienen Tobrier zu sein, dem Dialekt nach zu urteilen. Zwei Männer und zwei Frauen, alle wohl um die dreißig. Die rothaarige Kämpin hatte ein sympathisches Gesicht. Die beiden Männer, einer mit Vollbart und einer mit Kaiser-Alrik-Bart, sahen aus, als könnten sie gut zupacken.
Wohin wollte er sich wenden. Die Kämpen oder die bunt zusammen gewürfelte Reisegruppe. Söldner konnte er sicher gebrauchen. Wer, wie sein unbekannter Feind, mit Giften hantierte, der schreckte vor Gewalt nicht zurück.
Wieder erklang die Stimme der Bardin nach einem instrumentalen Intermezzo mit der nächsten Strophe.
Schön wie der Morgen auf waldigen Auen,
strahlt er hervor aus den Rittern und Frauen,
Wenn er gedächte der heimlichen Nächte,
dann kehrte er zurück, dann kehrte er zurück.
Anderseits, und das wusste er als Phexdiener nur zu gut, kam Schläue, Heimlichkeit und Talent oft besser zum Ziel als blanker Stahl. Außerdem fand er die Bardin letztlich doch attraktiver als die Söldnerin. Alrik ging zu dem Tisch neben dem Kamin nickte den drei Gesellen zu.
„Die Zwölf zum Gruß, ist noch ein Stuhl frei hier?“, fragte Alrik, nachdem die Musikantin den Schlussakkord gespielt hatte und die Melodie verklungen war.
Der Zwerg blickte ihn an und brummte etwas in seinen Bart, das Alrik als ja deutete. „Gestatten, Tsalind“ stellte er sich vor, vorsichtshalber mit seinem zweiten Namen. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls irgendwann offen nach einem Alrik aus Friedwang gefahndet wurde, auch wenn Alrik ja mehr als nur ein Allerderesname war.
„Du schaust aber ziemlich mitgenommen aus“ sagte der Jäger mit forscher Stimme. Vierzig mochte er wohl sein, ein paar ergraute Strähnen schimmerten durch seine sonst schwarzen, glatten Haare, und ein paar Falten hatten die Stirn, sich eben auf dieser zu zeigen. Der hagere Bursche wirkte zäh und ausdauernd, trotz seines Alters. An seinem Gürtel hing neben der üblichen Börse, einer leeren Messerscheide und einer Halterung für ein Handbeil auch noch ein weiterer kleiner Beutel, der mit Wachstuch ausgekleidet war. Offenbar für die Bogensehne, dachte Alrik. Einen leeren Köcher trug er auch über die Schulter.
„Hätte mal besser aufgepasst in der Küche. Das Bratenfett ist plötzlich in Brand geraten. Hat eine riesige Stichflamme gegeben. Mein ganzes Gesicht ist verbrannt. Hoffe, die Salbe hilft“ log Alrik mit so selbstverständlichem Tonfall, dass ihm diese Lüge sicher jeder abnahm.
Die Sängerin sah ihn an. War sie misstrauisch, oder war Alrik nur überreizt nach allem, was geschehen war.
„Grüazi. Haldana“ sagte die Musikantin, sich selbst mit heller Stimme und unverkennbar schwarzsichler Dialekt vorstellend. „D`r Jäga isch Tuvok und uns`r bärtig`r Freund heiß` Rovik.“
Alrik fiel auf, dass die Musikantin zuvor auf dialektfreiem Garethi gesungen habe, aber beim Reden in ihren Dialekt zurück fiel. War sie weit herumgekommen oder hatte sie lediglich das Lied in Garethi nachgesungen, weil sie es so gehört hatte? Na, immerhin schien es, als wäre seine Wahl des Tisches eine Gute gewesen. Er fühlte sich schon fast etwas heimisch beim Klang des vertrauten Dialekts. Der Dialekt wies auf eine Herkunft nördlich seiner Friedwanger Heimat hin, im Grenzgebiet zu Weiden würde er schätzen.
Immerhin würde es sicher ein netter Abend werden. Ob die drei – oder auch einzelne davon – die Richtigen waren, die er als Abenteurer oder Mietlinge engagieren konnte? Na, man würde sehen. Alrik hob die Hand und winkte die Schankmagd heran, um vier Bier zu bringen. Eine gelockerte Zunge und etwas Freigiebigkeit konnten nicht schaden.
„Bin auch aus der Sichel“ begann Alrik, allerdings ohne Dialekt. „Schätze aber, ihr drei seid schon weiter herum gekommen“
Der Angroschim griff nach dem Krug, den Alrik spendiert hatte, und prostete dem Baron zu. „Ich bin nicht aus der Sichel. Bin ein Hügelzwerg. Auf der Durchreise.“ Er grinste. „Das Bier hier ist in Ordnung. Kein Vergleich zu dem, was die Zwerge brauen. Aber man kann es trinken.“
Alrik wusste, dass das aus dem Mund eines Zwerges ein Kompliment war. Alrik blickte den Zwerg an. Er trug einen langen Reisemantel über seiner ledernen – war das nun eine Rüstung oder die Kutte und Schürze eines Schmiedes. Vermutlich beides in einem. Alrik brauchte nicht hinzusehen um zu wissen, dass am Gürtel des Zwerges auch eine Axthalterung befestigt war. Er prostete dem Zwerg zu. „Aber die Haldana, die ist aus der Sichel“ fuhr der Zwerg fort. „Na für uns Angroschim ist die Sichel nicht unbedingt ein lohnendes Reiseziel. Zu wenig Erz dort. Wie heißt du nochmal? Tsalind? Komischer Name.“
Alrik lachte und nickte. Vielleicht hätte er doch besser seinen ersten Namen gesagt. „Ja gut… Ihr reist zusammen?“ Alrik wollte gleichermaßen das Gespräch in Gang halten und etwas über die drei heraus finden. Zumindest soviel um einzuschätzen, ob er sie ins Vertrauen ziehen sollte.
Tuvok nickte. Aber der Zwerg fuhr fort zu reden, ehe der Jäger das Wort ergreifen konnte. „Ja… noch ist das Land nicht befriedet. Gibt noch manchen Taler für Unsereinen zu verdienen hier.“
Alrik hatte die drei also offenbar richtig eingeschätzt. Ein kleiner Trupp Mietlinge und Abenteurer auf der Durchreise. Und eine gute Mischung. Ein offensichtlich kampferfahrener Zwerg und ein Jäger für die Wildnis. Und eine Bardin oder Streunerin. In der Zusammensetzung konnten die drei sicher einiges an Talent und Fähigkeit bieten. Er war sicher, die drei hatten sich, wie viele junge, abenteuerlustige Leute, zusammen gefunden, um etwas von Aventurien zu sehen und ihr Glück zu machen. Alrik lachte viel, erzählte selbst nicht sehr viel – aber das Wenige dafür sehr ausgeschmückt und mit blumigen Worten, und zugleich achtete er auf die Informationen, die er den Worten seiner neuen Bekanntschaften entnehmen konnte. Vom Jäger konnte er nicht sehr viel erfahren. Der redete nicht so viel. Aber er schien etwas nivesisches Blut in sich zu haben. Die Augen waren leicht schräg gestellt. Mischling, würde er sagen. Kein reiner Nivese. Vielleicht war er deswegen nicht bei seiner Sippe geblieben.
Vom Zwerg hingegen erfuhr er um so mehr. Wenn dieser Rovik erst mal in Fahrt gekommen war, hörte er kaum noch auf zu erzählen. Immerhin erfuhr Alrik auf diese Weise, dass die drei seit einem knappen halben Jahr gemeinsam unterwegs waren und gegen gutes Geld ihre Klingen anboten. Alrik war etwas überrascht, was eine Musikantin hierbei einbringen konnte. Aber Rovik grinste nur und sagte: „Du solltest unsere Haldana mal nicht unterschätzen. Ihr Rapier ist so schnell wie ihr Saitenschlag“.
Haldana hingegen sagte nur wenig. Aber was sie sagte, schien für ihre Gefährten Gewicht zu haben. Offenbar war sie der Anführer der kleinen Schar. Meist zupfte Haldana während des Gesprächs beiläufig Akkorde auf der Laute. Aber zugleich beobachtete sie Alrik genau. Ein weniger aufmerksamer Beobachter als Alrik hätte das vermutlich nicht bemerkt und Haldana einfach nur für die Fröhliche Seele der Gruppe gehalten. Aber als heimlicher Phexgeweihter wusste Alrik natürlich, wie man unauffällig und harmlos wirkt und dennoch alles im Blick hat.
Alrik gab noch eine Runde Bier aus. Mindestens den Zwerg hatte er fast schon auf seine Seite gezogen, wenn es später darum ging, die drei anzuheuern. Aber Haldana lächelte den Wirt freundlich an und lehnte den zweiten Krug ab. Sie habe noch was in ihrem Krug, später aber gerne. Nicht dass Alrik das vorgehabt hätte, aber Alrik erkannte ganz klar, dass er es nicht probieren sollte, Haldana mit Bier zu irgendwelchen Leichtsinnigkeiten zu bewegen. Das würde nicht gelingen.
Gut, dachte sich Alrik. Das Mädel scheint wissbegierig zu sein und ist wohl auch schon etwas mehr herum gekommen als nur in der Sichel, auch wenn sie nicht älter als zwanzig Lenze sein mochte. Aber vielleicht konnte er ihr Vertrauen über die Musik gewinnen. Klar, selbst musizieren war nicht Alriks Fach. Aber mit etwas Wissen glänzen, das sollte schon gehen. Über die Elfe Jirka waren damals mehrere Lieder aus anderen Ländern in die Sichel gekommen. Und von Serwa hatte er zumindest theoretisches Wissen über Musik erfahren. Also testete Alrik mal aus, ob er hier weiter käme.
„Dein Lied vorhin erinnert mich an ein anderes, was ich früher gehört hatte. Du kennst doch sicher das Lied Draußen in unserem Garten?“
Haldana nickte. „Ut i var hage, klar. Kenne ich.“
Alrik nickte. Er wusste, dass Jirka dieses Lied aus Thorwal mitgebracht hatte. Zwar verstand Alrik kein Thorwalsch, aber den thorwalschen Titel des Liedes erkannte er wieder.
Alrik hatte zwar eher ein Gespräch anfangen wollen, aber Haldana hatte das wohl als Bitte um ein Lied aufgefasst. Nagut, damit war er auch zufrieden. Wie alle Musikanten würde sich auch Haldana freuen, wenn ihre Musik Gefallen fand.
Ut i var hage, där växa bla bär, kom hjärtans fröjd
Vill du mig nagot sa träffas vi där, kom hjärtans fröjd
kom liljor och akvileja, kom rosor och salivia,
kom ljuva krusmynta, kom hjärtans fröjd
Haldana schien bei diesem Lied den Originaltext zu bevorzugen. Alrik war es zufrieden. Auch ohne Thorwalsche Sprachkenntnisse stellte er aber fest, dass Haldana Thorwalsch auch nicht aktiv sprach, zu sehr war ihr schwarzsichler Akzent heraus zu hören. Sie hatte sicher nur den Liedtext auswendig gelernt.
Fagra sma blommor där bjuda till dans, kom hjärtans fröjd
Vill du, sa binder jag at dig en krans, kom hjärtans fröjd
kom liljor och akvileja, kom rosor och salivia,
kom ljuva krusmynta, kom hjärtans fröjd
Kransen den sätter jag sen i ditt har, kom hjärtans fröjd
Solen den dalar, men hoppet uppgar, kom hjärtans fröjd
kom liljor och akvileja, kom rosor och salivia,
kom ljuva krusmynta, kom hjärtans fröjd
Alrik bemerkte, dass Tuvok und Rovik beide mitsangen – eher mitsummten - und ihre Freude an der Musik hatten. Also wollte der Baron nicht gleich damit anfangen, an die drei sein eigentliches Anliegen zu stellen. Er ließ noch eine gute weitere Stunde im angeregten Gespräch zu vergehen, bevor er andeutete, dass er etwas Unterstützung brauchen könnte, um Herauszufinden, wer ihm so übel mitgespielt hatte. Und es verging noch eine weitere Viertelstunde und eine Runde Bier – bei dem Haldana wieder sehr zögerlich zugriff – ehe Alrik sich traute zu erzählen, was vorgefallen war und über eine Entlohnung zu reden.
„Ja, sicher. Natürlich werde ich Euch für Euren Aufwand entschädigen. Ich will da nicht kleinlich sein“ begann Alrik. „Ich werde Euch für die Dauer der Ermittlungen Kost und Logis bezahlen. Und bei Erfolg gibt es eine Prämie. Sagen wir drei Duckern.“
Rovik grinste. Alrik hatte die Anzahl der Bierkrüge am Abend nicht begrenzt. Haldana aber blieb ernst, obwohl auch sie lächelte.
„Gutr Tschalind“ begann Haldana. „Ich bin sich`r, du weisch, was Kors Kodex reg`lt. Und wir wissen wed`r, ob es g`fäährlich wird noch wie lang es düürt.“
Diese Haldana wusste, was sie wollte. Daran bestand kein Zweifel, bemerkte Alrik. Aber weniger anzubieten als was Kors Kodex vorsah, war auch zu dreist gewesen. Gut, Alrik wäre kein echter Mondschatten gewesen, wenn er es nicht wenigstens probiert hätte. Aber dass der Kodex einen Tagessold zuzüglich Kost und Logis vorsah, wusste Alrik natürlich. 2-3 Taler täglich für einfache Mietlinge, fünf für erfahrenere Söldner und noch etwas mehr für Hauptleute. Auch wenn es sich bei Haldana, Tuvok und Rovik nicht um klassische Söldner handelte war es doch üblich, sich daran zu orientieren.
„Ja, natürlich. Den Tagessold.“ Verdammt. Er musste Haldana dazu bringen, ihr Angebot auf den Tisch zu legen anstatt sich einfach nur hochtreiben zu lassen. „Wie schätzt ihr Euch ein?“
„Fünf Taler am Tag. Darüber wird nicht verhandelt. Und natürlich die Erfolgsprämie. Über die müssen wir auch noch reden“
Mit sehr überzeugend gespieltem Erschrecken reagierte Alrik, obwohl er wusste, dass Haldana ein sehr realistisches Angebot gemacht hatte.
„Fünfzehn Duckern Erfolgsprämie...“
Haldana sah nicht so aus, als ob sie nicht wüsste, was sie verlangen konnte.
„Fünfzehn?“ Alrik unterbrach sie und spielte weiterhin überzeugend sein Entsetzen,
„Für jed`n von uns.“ ergänzte Haldana.
„Das ist viel“ stöhnte Alrik.
„Nä, dasch is korr`kt. Un du schausch nit so üs, als ob du viel Üswahl hätt´sch.
Damit hatte Haldana allerdings recht.
„Hmm.“ brummte Alrik. „Lass uns darum spielen. Ganz einfach. Drei Karten. Ein Wahrsager, zwei Söldner. Wenn du den Wahrsager findest, dann ist es so wie du sagst. Wenn nicht, dann bleibts bei drei Dukaten Prämie, für alle zusammen.“
„Einverstanden“ warf Rovik ein.
Haldana warf dem Zwerg einen strengen Blick zu.
Alrik war es gleich, wer das Einverständnis gab. Wirklich zurück rudern konnte Haldana jedenfalls nicht mehr.
„I werd` de Kart`n üssucha“ legte Haldana fest, bevor Rovik etwas anderes sagen konnte.
Alrik nickte und holte seine Boltankarten aus der Tasche und zeigte den Wahrsager und die zwei Söldner. Dann mischte er, und schob die Karten mit schnellen Fingern über den Tisch. Mit einer hundertfach geübten und zur Perfektion vollendeten Bewegung tauschte er dabei den Wahrsager gegen einen weiteren Söldner aus.
Noch etliche Male schob er die Karten auf dem Tisch umher. Nicht dass das noch notwendig gewesen wäre. Er tat das, weil die raschen Bewegungen einfach dazu gehörten um den Mitspieler zu verwirren. Allerdings bewegte er die Karten nicht so schnell, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Karten mit den Augen zu verfolgen. Er bemerkte, dass Haldana konzentriert die Bewegungen der Karten beobachtete.
„Und?“ fragte Alrik. „Wo ist der Wahrsager?“ der Phexdiener war siegessicher.
„Die linke Karte“ rief Rovik.
Haldanas linke Hand klatschte auf den Tisch und bedeckte die linke Karte. Alrik frohlockte. Die Auswahl war richtig. Da wäre der Wahrsager. Wenn Alrik ihn nicht ausgetauscht hätte gegen einen weiteren Söldner.
„D`r isses“ bestätigte Haldana.
„Dann schau nach“ forderte Alrik die Musikantin auf. Es war egal gewesen, welche Karte Haldana sich aussuchte. Alle drei zeigten den Söldner auf der anderen Seite. „Ich weiß es selbst nicht, ich habe einfach nur gemischt. Aber finden wir es heraus. Ich bin auch gespannt.“ log Alrik, ohne dass man seiner Stimme etwas anmerkte. Innerlich jubelte Alrik. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass es so leicht sein würde, Haldana hier über den Tisch zu ziehen. Aber jetzt war die Prämie mit drei Dukaten wirklich ein Spottpreis, angesichts dessen, dass man es sicher mit einem gefährlichen Gegner zu tun hatte.
„Also wenn das links d`r Wahrsaga isch… Dann muss die Kart`n rechts e Söldn`r si.“ Haldana deckte die rechte Karte auf. Natürlich war das ein Söldner. „Un die Kart`n in d`r Mitt`n muss au e Söldner si.“
Haldana deckte den zweiten Söldner auf.
„I hen d`r Wahrsaga g`funde“ sagte Haldana, ohne dabei den dritten Söldner umzudrehen.
Alrik seufzte. Dass man ihn, den Streunerbaron, mit so einem Bauerntrick übertölpelt hatte. Das wäre ihm früher nicht passiert. Aber jetzt musste er wohl der hohen Prämie zustimmen, wollte er sich nicht selbst des Falschspiels überführen.
„Gut. Ich habe zwei erst Aufgaben, die für Euch anstehen. Einer muss zu Jodokus von Baernfarn. Ich weiß nicht, ob er im Stadthaus seiner Familie wohnt, oder mit seiner Alten in irgend einem Patrizierhaus. Aber das werdet ihr herausfinden. Ich will ihn treffen. Morgen früh. Er soll hier in die Taverne kommen oder einen anderen geeigneten Treffpunkt vorschlagen. Für morgen Vormittag, heute ist es wohl schon zu spät.“ Tatsächlich war die Sonne schon untergegangen, wie ein Blick aus dem Fenster offenbarte.
„Und dann bräuchte ich noch ein paar Sachen aus meinem Haus. Das könntet ihr mir holen. Ich gebe Euch den Schlüssel, jeder wird Euch für Hausdiener halten, wenn ihr Euch entsprechend gebt. Wartet, ich zähle Euch auf was ich brauche und wo ihr es findet.“