3. Kapitel
Drittes Kapitel
Flammen in der Nacht
Schwer schlug der Türklopfer gegen die eisengebänderte Tür. Ein Steinbock-Kopf hielt den großen Ring im Maul. Drei Stufen führten nach oben. Über dem Portal war ein verwittertes Wappen zu sehen, neben einer Schmucklaterne.
Keine Reaktion. Die Klappe am vergitterten Guckloch blieb zu. Das Haus in der Rommilyser Neustadt schien völlig verwaist zu sein. Die blau-rot-golden gestreiften Fensterläden waren geschlossen, kein Lichtschein drang hindurch. Weder im Erdgeschoss, das aus Stein gemauert war, noch in dem aus Fachwerk gefügten Obergeschoss oder dem kleinen Erkerturm war das geringste Lebenszeichen auszumachen. Nur eine kleine Wettergans drehte sich quietschend auf dem Türmchen.
Erst jetzt realisierte der Besucher die Kordel, mit der die Tür versiegelt war: Links und rechts klebte ein rotes Wachssiegel, das die Rose und die Schlüssel des Stadtwappens zeigte.
Es dämmerte bereits. Die ersten Laternen flammten in der Straße auf.
"Verzeiht, mein Herr, aber das hier ist doch das Haus des Herrn Barons zu Friedwang?!" Der Fremde hatte sich an einen Nachbarn gewandt, der sich gerade mit einer weiteren Bürgerin unterhielt: Einem Bäckermeister, der mehlbestäubten Schürze und der Brezel über seiner Haustür nach zu urteilen.
Die beiden hatten gerade aufgeregt miteinander getuschelt. Ihre Augen weiteten sich, als der Neuankömmling auf sie zutrat. Die Frau schlug verstohlen das Gänsezeichen. Der Bäcker, ein wohlbeleibter, älterer Mann mit grauem Vollbart, sah den Neuankömmling misstrauisch an: "Mag...sein. Wer will das wissen?"
"Verzeiht. Ich bin ein guter Freund Baron Alrik Tsalinds von Friedwang, und zufällig gerade in Rommilys unterwegs. Er scheint verreist zu sein?"
Ein "verstehender" Blick des Rommilysers zu seiner Gesprächspartnerin. Nun wundert mich gar nichts mehr, schien das Mienenspiel sagen zu wollen.
"Ja, das ist er. Verreist" kam es einsilbig zurück. "Wie war noch einmal Euer Name, Herr...?"
"Oh verzeiht. Hesindian Silpho ya Phaitos, Edler zu Orweiler." Der Magus lüpfte seinen Spitzhut und lächelte bei seinem Adelstitel, fast schon etwas entschuldigend. "Außerdem Magus der Großen Grauen Gilde des Geistes. Wie ihr an meinem Gewand sicherlich schon gemerkt habt"
"Natürlich." Der Bäckermeister schluckte. Hesindian konnte die Reaktion des Rommilysers verstehen, zumindest ein wenig. Vor ihm stand ein scheinbar altersloser Zauberer in grauer, runengeschmückter Robe, umhüllt von einem weißen Bauschmantel, mit schulterlangen, schneeweißen Haaren. Dazu gesellte sich ein fein gedrechselter Stab mit Bergkristall, der von einer Drachenklaue gehalten wurde. Für Rommilyser Verhältnisse sicher ein verwegener Anblick. Immerhin, der Edlentitel erfüllte auch in diesem Fall seinen Zweck: Die beiden Nachbarn blickten etwas weniger misstrauisch.
Edler von Orweiler, Held des Bethanierkriegs, Hofmagus Seiner Hochgeboren Alrik Tsalind von Friedwang. In Gedanken fügte Hesindian seine weiteren Ehrentitel hinzu. Es half alles nichts. In der Traviastadt war ein reisender Graumagus gleich doppelt verdächtig: ein unsteter Wanderer, der kokett in Richtung Niederhöllen zwinkerte, statt sich eindeutig auf die Seite des Guten zu stellen. Wer keine blütenweiße Magierrobe trug, hatte schon den ersten Schritt zum Dämonenpakt hinter sich. In den Augen der Rommilyser ebenso wie vieler Friedwangen.
"Ihr wisst nicht zufällig, wohin Seine Hochgeboren Alrik verreist sind? Oder für wie lange?" Hesindian schnupperte leicht. Irgendwie roch es brenzlig. Dazu kam ein Geräusch, das ihn irgendwie irritierte, ohne dass er den Grund dafür hätte nennen können. War es das rostige Quietschen der Wettergans?
Aufgeregtes Kopfschütteln.
"Ich muss mich dann wieder mal um meinen Teig kümmern", sagte der Bäckermeister feierlich und blickte demonstrativ an Hesindian vorbei ins Leere.
"Es ist schon spät, ich werde mich besser nach Hause begeben", erwiderte seine Bekannte. "Um diese Zeit sollten sich anständige Bürger nicht mehr auf der Straße aufhalten." Ihr Blick streifte Hesindian, sie wich aber dem direkten Augenkontakt aus. "Gehabt Euch wohl.
"Wenn Ihr mir nur sagen könntet..." Ehe der friedwanger Hofmagier seinen Satz beendet hatte, waren die beiden Neustädter auch schon verschwunden, als hätte er einen Zauber auf das Duo gesprochen. Ein Fuhrwerk rumpelte vorbei, vom Markt her.
Hesindian blieb grübelnd zurück, den Zeigefinger ans Kinn gelegt, ganz weltfremder Akademie-Magier. Wie ein Knäuel Schlangen formte sich ein Rätsel in seinem Geist. Ein Knäuel, das er im Moment nicht entwirren konnte.
"Die Zwölfgötter zum Gruße. Gibt es ein Problem?" Wie aus dem Nichts tauchten zwei Stadtgardisten auf, mit schmuckem Federbarett und dem Rommilyser Wappen auf dem Waffenrock: ein Weibel und eine Gemeine. Die Gardistin senkte ihre Hellebarde etwas, kniff die Augen zusammen und spähte umher. Auch ihr Begleiter sah nicht allzu freundlich aus, was aber auch am buschigen Almadaner Schnauzbart liegen mochte.
"Nun, eigentlich wollte ich meinen Dienstherren besuchen, Baron Alrik Tsalind von Friedwang. Mein Name ist Hesindian Silpho ya Phaitos, Edler zu Orweiler, Magus der Grauen Gilde und Arkaner Berater der Familie Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck..."
"Arkaner...Berater?" Der Weibel blickte spätestens an dieser Stelle völlig verständnislos.
"Der Hofmagier." Hesindian lächelte tapfer. Zuhause, in Markt Friedwang, war dieser Titel schon seit längerem verpönt. Zumindest im Lichtschein der mächtigen Praiosgeweihtenschaft der Sankt-Alborans-Siegesbasilika.
"Wolltet Ihr Seine Hochgeboren, den Baron von Friedwang, nun besuchen. Oder steht Ihr in seinen Diensten, Hochgelehrter Herr?" Immerhin, die Anrede war schon mal korrekt.
"Beides. Mein Turm befindet sich eigentlich auf Burg Friedstein in der Schwarzen Sichel, aber da ich gerade in Rommilys weile, und sich mein Dienstherr hier zur Rekonvaleszenz befindet..."
Beiden Stadtwächtern war anzumerken, dass sie mit diesem Begriff überhaupt nichts anfangen konnten.
"Zur Erholung, nach den Strapazen der letzten Götterläufe", fügte Hesindian hinzu.
"Aha. Soso. Sicher, sicher. Darf man fragen, was der Grund für Euren Aufenthalt in unserer Stadt ist, Hochgelehrter Herr?"
Hesindian stockte für einen Moment. Obwohl die Antwort eigentlich einfach war.
Sie lautete: Ucurian Lansborn. Der neue Luminifer des Tempels hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Hesindian von tiefstem Herzen hasste. Anders als der stockkonservative, aber gutmütige Prätor Garafanion, der den "Arkanen Berater" zwar aus dem Weg ging, ihn aber eher höflich ignorierte statt ihn zu bekämpfen. Sein Stellvertreter indes hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn aus der Baronie zu vergraulen. Nicht nur als Magier, sondern fast mehr noch als Hesindediener. Ucurian Lansborn de Mott, so nannte sich der Praiot, nach seinem Lieblingsheiligen, Arras de Mott. Wie der Gründer des Hüterordens war Ucurian der Meinung, dass Wissen an sich schon dem Göttervertrauen abträglich war.
Seit seiner Ankunft in Markt Friedwang wollte er Hesindian nun loswerden. Und zwar möglichst schnell. Also hatte er den "Ratgeber des Barons" zum Informations-Institut nach Rommilys geschickt, mit einer Liste seiner Zauberbücher: Die Weißmagier sollten Hesindians Eignung zum "Arkanen Advisor" bestätigen, ebenso die Unbedenklichkeit seiner magischen Lektüre. Vermutlich hatte Erzpriester Lansborn gehofft, dass Hesindian eingeschüchtert das Weite suchen würde. Das hatte er natürlich nicht getan - schon Serwa zuliebe nicht, der Baronin, die so gut es ging ihre schützende Hand über ihn gehalten hatte. Früher, da war er misstrauisch beäugt worden, weil er sich zweimal in den Schwarzen Landen aufgehalten hatte. Mittlerweile warf man ihm vor, sich nicht am letzten Feldzug gegen die Feinde des Reiches und der Zwölfgötter beteiligt zu haben. Er hatte einfach genug von Dämonenwerk, Kriegsgeschrei, Blutvergießen, wandelnden Leichen. Die Heimat zu verteidigen war das eine, ferne Länder zu erobern etwas anderes. Selbst wenn es um Rückeroberungen im Namen der Götter ging.
"Hochgelehrter Herr?"
Hesindian erwachte aus seiner Geistesabwesenheit. Zerstreut blickte er den Gardisten an, der ihn fast schon besorgt ansah.
"Ach so ja. Der Grund meines Aufenthalts. Ich wurde beim Informations-Institut vorgeladen". Hesindian probierte es mit Ehrlichkeit. "Eine Routineüberprüfung", fügte er schnell hinzu.
Die beiden Gardisten wurden für einen Moment unruhig. War er zu offen gewesen? Andererseits verfügten Stadtwachen berufsbedingt über eine ausgeprägte Menschenkenntnis - und er selbst war nicht der beste Lügner.
"Die Überprüfung ist hoffentlich zu Eurem Gunsten ausgefallen?" fragte der Weibel und zwirbelte sich den Schnauzbart.
Hmja. Streng genommen stand das Ergebnis noch aus. Über eine Stunde lang hatten ihn die magischen Diener des Reiches mit Fragen traktiert, und sicher auch mit Hellsichtsmagie. Wie hielt er es mit den guten Göttern, der Kaiserin Rohaja, Markgräfin Svantje, dem Wein und Rauschkraut, dem Thema Steuern und Abgaben, dem Haus Baernfarn, dem Haus Friedwang, den Oppsteins, den Binsböckels, den Rabenmunds, seiner Heimat Almada und den Feinden des Reiches? Ob er sich vorstellen könne, ab und an selbst Auskünfte zu erteilen, fürs Institut, über diesen und jenen, dies und das? Schließlich habe sein alter Lehrmeister, Magister Gordianus Al´Runahand, ja auch für die Kaiserlich-Garethische Informationsagentur gearbeitet, laut vorliegendem Dossier. Was "so manches" darin aufwiegen würde.
Am Ende hatte es geheißen, dass sich Seine Spektabilität Gerowin von Birkenhöh gerne noch einmal unter vier Augen mit ihm unterhalten würde - sobald er die Zeit dazu hätte. Er solle doch bitte die Stadt nicht verlassen. Wie es mit Fürsprechern aussehe, außerhalb seiner Baronie? Man würde ihm dann Bescheid geben, im Gasthaus Zum Fährmann, wo er untergebracht war. Nun gut, er vermutete, dass es darum ging, die Autorität der Rommilyser Collegae in solchen Fragen herauszustellen - statt ihn schnellstmöglich in die Bleikammern zu verfrachten. Zumindest hoffte Hesindian das einfach mal.
"Ich wollte eigentlich ein Empfehlungsschreiben von Baron Alrik abholen", sagte Hesindian. "Nun sehe ich, dass er selbst verreist ist?! Und seine Tür versiegelt? Was hat das zu bedeuten?"
Dem Weibel war anzumerken, wie ungern er Fragen beantwortete, statt sie zu stellen. "Ja, der Baron ist abwesend", sagte er ausweichend. "Sichersicher, jaja. Etwas verworrene Geschichte. Solltet Ihr zufällig erfahren, wo sich seine Hochgeboren aufhält, meldet seinen Aufenthaltsort bitte umgehend bei der Stadtgarde. Es gab einen Einbruchsversuch heute, einen schweren Kutschenunfall, und, äh, auch sonst noch Klärungsbedarf."
"Einen Einbruchsversuch? Einen Kutschenunfall?" Hesindian blickte hinüber zum "Friedwanger Haus". Erst jetzt merkte er, was ihn die ganze Zeit über stutzig gemacht hatte: Eine zarte Rauchfahne wehte aus dem Kamin, als hätte darin längere Zeit ein großes Feuer gebrannt. Höchst ungewöhnlich: sowohl für einen Baron, der verreist war, als auch einen Einbrecher, der seine Abwesenheit ausnutzte. Nun war auch noch ein aufgeregtes, irgendwie klägliches Wiehern und Stampfen zu hören. Das kam aus den Stallungen.
"Seine Hochgeboren sind aber nicht verletzt?" fragte Hesindian, ehrlich besorgt.
"Verworrene Geschichte, verworrene Geschichte", echote der Weibel. "Zum laufenden Stand der Ermittlungen können wir leider keine Angaben machen", fügt er hinzu, als handele es sich bei dem Magier um einen Schreiberling des Landboten oder selbst um einen Schnüffler des Instituts. "Wie gesagt, falls Ihr den Baron treffen solltet..."
"Seine Diener...?
"Sind ebenfalls abwesend."
"Aber jemand muss sich doch um die Tiere kümmern? Hört Ihr nicht die Pferde im Stall?"
"Das Haus wurde bis auf weiteres versiegelt. Niemand darf es betreten." Der Schnauzbärtige blickte um sich und wippte auf den Stiefeln. "Mehr weiß ich auch nicht. Es wird sich wohl noch jemand kümmern." Ein verlegenes Räuspern. "Sobald die Erlaubnis vorliegt."
Eine weitere Doppelstreife kam die Straße herunter: doch nicht etwa wegen ihm, dem Magier?
Offensichtlich nicht. Die Gardisten unterhielten sich aufgeregt, dann marschierten sie mit knappem Gruß davon. "Im Hafen? Sind die sich da sicher...?" Diese Wortfetzen konnte er noch verstehen.
Schließlich blieb Hesindian allein auf der Straße zurück. Die ganze Geschichte war wieder mal hochgradig merkwürdig. Er ging um das Haus herum, auch um den neugierigen Blicken der Nachbarn zu entgegen. Hinüber zum Hoftor. Das jämmerliche Schnaufen der Pferde war nun gut zu hören. Das kleine Mannloch im Tor hatte die Stadtwache ebenfalls versiegelt, die großen Torflügel, die von innen verriegelt waren, nicht. Der Magier überlegte, ob er über den efeuumrankten Torbogen klettern konnte, der ebenfalls mit dem Steinbockwappen geschmückt war. Dafür bräuchte es aber schon eine Leiter. Hm, dort drüben stand eine Regentonne. Aber das wäre nun wirklich auffallend gewesen - und eines Magiers unwürdig.
Sein Freund Alrik steckte in Schwierigkeiten, das konnte Hesindian spüren. Die Frage war nur, inwieweit er sich selbst in Schwierigkeiten begeben wollte. Immerhin befand sich seine eigene Examination noch in der Schwebe, bei der "Magierakademie zur Mehrung magischen und nichtmagischen Wissens", besser bekannt als Informations-Institut und hesindianischer Ableger der untergegangenen KGIA. Andererseits, was die "Weißen" konnten, durfte er als Graumagier doch wohl auch: Sein Wissen mehren. Hesindians Neugierde war geweckt, ebenso seine Besorgnis. Aber auch das Mitleid mit den Pferden.
Der Zauberer sah sich auf der zunehmend nachtdunklen Straße um. Keine Zeugen zu sehen. Nur eine kleine graue Katze schlich umher, maunzte kurz in seine Richtung und sprang über ein Hoftor.
War das ein Zeichen seiner Göttin und Namenspatronin Hesinde?
Er berührte den Spalt zwischen den Torflügeln, stimmte sich auf den Zauber ein. Hesindian spürte den Balken auf der anderen Seite, sah ihn regelrecht mit seinem inneren Auge, ohne dass er dies einem Außenstehenden hätte erklären können.
Dreimal tippte er gegen das Tor: "FORAMEN FORAMINOR - öffne dich, Tür und Tor." Der Mechanismus war einfach, nur das Gewicht des Sperrriegels lastete spürbar auf seinem Geist.
Polternd glitt der Balken zur Seite, rutschte zu Boden. Na also.
Hesindian schlüpfte hinein und schloss das Tor von innen. Der kleine, gepflasterte Hof war dunkel. Hesindian erahnte seine Umgebung nur schemenhaft: Das Herrenhaus, die Remise (wo die barönliche Kutsche unversehrt stand), Waschhaus, Brunnen, Scheune und Stallungen. Das Stadthaus sah ein wenig aus wie Burg Friedstein, in Miniaturversion. Nur der untere Teil der zweiteiligen Stalltür war geschlossen, aber leicht zu entriegeln. Der Geruch nach Heu, Stroh und Pferd lag in der Luft. Sollte er seinen Zauberstab als Fackel aufleuchten lassen? Besser nicht.
"FLIM FLAM FUNKEL - Licht ins Dunkel!" Der Magus schnippte mit den Fingern. Eine kleine, orangefarbene Kugel begann über seiner Handfläche zu leuchten: ein traviagefälliger FLIMFLAM, der nicht gar so auffällig war wie das kaltweiße Licht der Standardformel. Auf jeden Fall nicht so feuergefährlich wie eine Fackel.
Drei Pferde standen in den Boxen und stampften unruhig mit den Hufen. Zum Glück erkannte Flocke, das Reitpferd des Barons, dessen Freund und Hofmagier. Leise schnaubend beruhigte er die anderen Tiere, zumindest kam es Hesindian so vor. Der Nachfolger von Ruß, der die Schlacht auf dem Arvepass nicht überlebt hatte, war braunschwarz, hatte aber eine große weiße Blesse auf der Stirn. Der Elenviner wieherte erfreut. Nicht einmal Hesindians Lichtkugel schien ihm Angst zu bereiten. Der Magier tätschelte Flockes Hals und streichelte dessen Mähne: "Hast mehr Verstand als mancher Praiosdiener, mein Guter… alles gut. Sag, was ist aus deinem Herrn geworden?"
Flocke wackelte mit den Ohren, das blieb aber die einzige Antwort.
Hesindian entzündete die Stalllaterne und ließ den Flimflam wieder verlöschen. Dann fütterte und tränkte er die Tiere, in der Hoffnung, dass nicht allzu viel Licht nach draußen dringen würde.
Nach einer Weile hatte er seine Arbeit beendet. Es wurde Zeit, sich dem Haupthaus zuzuwenden. Hier war die Eingangstür kleiner als auf der Straßenseite, aber dafür unverschlossen.
Knarrend schwang die Tür auf. Geradeaus schien es Richtung Küche zu gehen, linkerhand in einen großen Empfangssaal, mit Ritterrüstung und Ölgemälden.
Das Kaminfeuer glühte noch immer, inklusive Reste eines Stiefels, der halb herausgefallen war. Hesindian griff zum Schürhaken und stocherte in den glimmenden Überresten herum. Es war eindeutig Schuhwerk, das da noch kokelte. Eine ausgeglühte Gürtelschnalle tauchte ebenfalls in der Asche auf. Bei der Allweisen Herrin, was hatte das zu bedeuten?
Der Saal wirkte ein wenig unordentlich. Ein Stuhl war vom Tisch weggerückt worden, ein schlanke Klinge lag auf dem Boden. Ein Zinnbecher stand auf dem Tisch, ebenso eine angebrochene, unverschlossene Flasche Rebensaft. Auf dem Boden war noch eine Weinlache zu erahnen. Eines der Gemälde, ein Porträt, hing schief.
"Gerrich Praionald v. Friedwang" las Hesindian unter dem Bild, das einen graubärtigen, vornehm blassen Mann mit Dachshund zeigte, der sich elegant ein Schnupftüchlein an die zartrote Nase tupfte. Die große Bocksnase bewies seine Zugehörigkeit zum Hause Friedwang, aber den Namen hatte Hesindian noch nie gehört. Der Magus musste zugeben, dass der Maler das merkwürdige Schnupfen-Motiv geschickt dargestellt hatte: Der Mann mit dem sorgfältig gestutzten, eisgrauen Bart wirkte wie der Inbegriff eines feinsinnigen, leicht selbstironischen, aber selbstbewussten Aristokraten, nicht wehleidig wie ein Hypochonder. Neben dem Edelmann zeigte das Bild ein Tischchen mit einem Obstteller. Die kleine Fliege dort auf dem Apfel war sicher eine Anspielung auf das berühmteste Stillleben Aventuriens: den "Gratenfelser Apfel". Der Magier rückte das Gemälde sorgfältig zurecht. Hatte jemand versucht es zu stehlen und war dabei überrascht worden? Von Alrik?
Hesindian schnupperte. Der Duft von Pfeifenrauch lag in der Luft. Würziger Sinoda, mit einer Prise Mohacca - die Lieblingsmischung des Barons. Schwer zu sagen, ob er noch vor kurzem dagewesen war, oder monatelang alles vollgequalmt hatte.
Die Szenerie sah nicht nach einer geordneten Abreise aus - aber auch nicht unbedingt nach einem Kampf. Oder etwa doch? Hesindian wandte sich der Waffe neben dem Stuhl zu: Ein schmuckloses Florett. Eine Art Stöpsel lag daneben, gleich neben dem Griff. Hatte er sich beim Aufprall der Klinge auf den Boden gelöst? Tatsächlich, der Griff war hohl. Hesindian drehte das Florett etwas - eine längliches, taschentuchumwickeltes Etwas rutschte ihm in die Hand. Das Taschentuch des Aristokraten? Nein, ein besserer Allerweltslumpen.
Darin befand sich eine leere Phiole, mit Glaskorken. Fast leer. Am Boden befand sich noch ein Fingerbreit einer grünlichen Substanz: auf dem ersten Blick weder fest, noch flüssig. Eher schleimig. Hesindian entkorkte die Phiole, um daran zu schnuppern: was er sofort bereute. Der Gestank nach faulem Fisch, Verwesung und Schwefel war atemberaubend. Ein wahrer Pesthauch. Hastig pfropfte er den Glaskorken wieder ein und kämpfte mehr als einen Moment mit dem Brechreiz.
Was war das denn für ein Zeug? Rotz aus dem Taschentuch? Um ein Haar hätte er es vor Ekel fallen lassen. Alrik traute er zu, praiosungefällige Substanzen zu verwenden, gerade in Verbindung mit Stichwaffen. Aber das hier passte nicht zu ihm. Der Magus hielt den schimmelgrünen Schleim ins Licht seiner Laterne. Täuschte er sich, oder kroch das Zeug langsam, in dünnen, aderähnlichen Fädchen, die Glaswand nach oben - auch wenn das gemäß Sumus Gesetz eigentlich unmöglich war? Ganz so, als würde es nach einen Ausgang tasten. Hastig schüttelte er die Phiole durch. Das schien die Flüssigkeit wieder etwas zu beruhigen. Sorgfältig verstaute er die Phiole im Florett. Das würde eine sorgfältige Untersuchung erfordern.
Sein Blick fiel auf die Ritterrüstung, die ihre rechte, gepanzerte Hand etwas hob. Hesindian stutzte und pochte gegen den Stahl. Es klang hohl, natürlich. Der Magier schüttelte den Kopf, ungläubig über sich selbst: Hatte er geglaubt, dass sich der Baron in dieser Rüstung verstecken würde? Immerhin, die Klinge passte in den Panzerhandschuh, wenngleich so eine bessere Stricknadel nicht die bevorzugte Waffe eines märkischen Ritters war. Sah irgendwie lustig aus - ein kleiner Scherz Seiner Hochgeboren? Nein, das Florett wackelte zu sehr. Der Magier steckte die Klinge von unten in den Handschuh. Saß wie angegossen. Er versuchte sie wieder freizubekommen. Ein leises Klicken - der Vorderteil des Brustpanzers sprang auf, wie bei einer Eisernen Jungfrau. Hesindian, der leicht erschrocken zurückgewichen war, trat näher: Keine Stacheln zu sehen. Der Ritter war wirklich hohl. Ein formidables Versteck, für alles mögliche. Womöglich konnte man sogar in die Rüstung hineinkriechen, und darin ungesehen Gespräche belauschen, im Empfangssaal.
Dumpfe Gongschläge wehten herbei. Das kam vom Praiostempel. Zehn Schläge: Die zweite Perainestunde. Er war ziemlich lange im "Palais Friedwang" zu Gange gewesen, merkte er gerade.
"Hört ihr Leut und lasst Euch sagen, der Praiosgong hats zehnte Mal geschlagen": Dösig und leicht leiernd erklang die Stimme der Nachtwächterin. "Zehn ist Frau Peraines Zahl, behütet uns vor Siech und Qual!" Hesindian zuckte zusammen und blies die Laterne aus - auch wenn es unwahrscheinlich war, dass der Kerzenschein durch die geschlossenen Läden drang. Dennoch plagte ihn das schlechte Gewissen. Welcher Kobold hatte ihn geritten, sich nachts in dieses Haus zu schleichen? Sicherlich wäre schon morgen jemand vorbeigekommen und hätte sich um die Pferde gekümmert. Nun würde dieser Jemand merken, dass diese Arbeit bereits erledigt war - und Fragen stellen. Wenn die drüben im "Institut" den Streich mitbekamen, würden sie ihn den Codex Albyricus um die Ohren schlagen. Wahrscheinlich war alles ganz harmlos und seine Eigenmächtigkeit unnötig gewesen. Zeit, von hier zu verschwinden.
Ein dumpfes, halblautes Poltern ließ ihn zusammenzucken - es kam vom Dach, oder vom Dachboden. Irgendetwas zerschellte lautstark auf dem Hof. Klang nach einem Dachziegel. Hesindian verzog das Gesicht. In der Nachbarschaft bellte ein Hofhund, gefolgt von einem leisen Winseln. Dann Stille.
Beunruhigende Stille. Hesindian stand in beinahe vollkommener Dunkelheit. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf.
Vom Obergeschoss her waren tatsächlich Schritte zu hören. Nun flackerte auch noch Kerzenlicht.
Alrik? Hesindian lächelte - das sah seinem Freund ähnlich, in sein eigenes Haus einzubrechen. Aber eine innere Stimme warnte ihn. Was da hereinkam, zu ihm herunterstieg war nicht der Baron Friedwang-Glimmerdieck, das spürte er. Besser gesagt, er roch es. Ein zarter, süßer Geruch lag in der Luft. Es roch… nach Krankheit… und Verwesung...
Bsssss....Ssss.....
Eine fette Fliege summte vorbei. Dann eine weitere. Schwirrten ihn um die Nase.
Kopfschmerzen breiteten sich hinter seiner Schläfe aus - die Wirkung des Pesthauchs? Nun zitterte er auch noch am ganzen Körper.
Ein Huschen, Kratzen, Scharren. Im unsteten Lichtschein der Kerze sah er Asseln, Spinnen, Schaben über die schweren Holzdielen huschen. Immer wieder summte eine fette Schmeißfliege an seinem Gesicht vorbei. Es war alles wie...wie damals...
Nein...
Nicht an damals denken. Nicht an Gratenfels. Und auch nicht an Orweiler.
Seine Zähne klapperten. Was tun? Ein VISIBILI? Ein TRANSVERSALIS? Ein FULMINICTUS auf den Eindringling? Aber sein Geist war wie gelähmt. Er musste sich verstecken, verkriechen. Irgendwo im finstersten Schatten. Hesindian wich zurück, stieß gegen den "Hohlen Ritter". Den schickte ihn Hesinde. Für seinen Zauberstab war kein Platz, also stellte er ihn hinter die Ritterrüstung. Dann schlängelte er sich hinein, wie ein Schlangenmensch auf dem Jahrmarkt. Seinen Hut bracht er gerade noch unter. Hesindian zog die Klappe zu. Ein Klicken, und er saß in der Falle. Verdammt, das war ein Fehler gewesen.
Der Magus spürte, wie der Stahl an seinen astralen Kräften zehrte, als befände er sich bereits in den Bleikammern - oder einem Bergwerk voller Koschbasalt. Als hätte man ihn einem Praioskragen umgelegt, der ihm nun Madas Gabe aus dem Leib zog. Dumpf hauchte sein Atem gegen den Helm, während draußen die Fliegen dagegen prallten.
Einige Herzschläge lang war er reine Panik. Ein dummer, kleiner Adept, der alles vergeigt hatte. Nein, ein Zauberlehrling, der die Dämonen nicht zu beherrschen vermochte, die er selbst herbeigerufen hatte. Luft, Luft, er brauchte Luft, nicht diesen Gestank, der durch den vergitterten Sehschlitz des Visiers herein quoll wie in einen eisernen Sarg. Hesindian unterdrückte ein klägliches Wimmern. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich eingenässt.
Keuchend beruhigte Hesindian sich wieder. Wenn der "Hohle Ritter" ein Versteck für einen Menschen war, dann gab es sicher nicht nur einen Weg hinein. Sondern auch wieder heraus.
Langsam blickte er klarer, im Wortsinn.
Das flackernde Kerzenlicht kam näher. Gefolgt von einem Schatten.
Nach und nach enthüllten sich Konturen eines Gesichts.
Eine junge Frau geisterte im Saal umher. Ein müdes, fahles Gesicht mit eingefallenen Wangen, blauen Lippen, fiebrig glänzenden, dunkel umrandeten Augen, schweißnasser Stirn. Dem Gestank nach hatte er mit einem abscheulichen Ungeheuer gerechnet. Wie damals.
Aber die Frau war faszinierend schön - auf merkwürdige, marbide Weise wunderschön. Wie eine dunkle Rose. Blauschwarze Haare ringelten sich unter einer ebenfalls schwarzen, verschleierten Hörnerhaube. Darunter trug sie so etwas wie ein Ballkleid, in gleicher Farbe. In der einen zartweißen Hand hielt sie eine Kerze, in der anderen einen Besen, als wolle sie damit das Kroppzeug, das aus allen Ritzen und Löchern kroch, beiseite fegen.
Je länger Hesindian die geheimnisvolle Besucherin betrachtete, desto mehr wichen seinen Qualen einem angenehmen Fieberschauer. Einer Art seligem Dahindämmern, als würde er gerade in einem wohligwarmen, brodelnden Sumpf versinken. Diese Frau, das spürte er, brachte die Qual - und zugleich die Linderung. Oder beides, in einem einzigen, röchelnden Atemzug.
Eine Hexe? Ja, die "Schwarze Rose", war sicherlich eine Hexe. Einen Moment lang schienen sich ihr Augen in die seinen zu bohren - dunkel umrandete, grüne Augen in gelblich verfärbten Augäpfeln. Hesindians Herzschlag dröhnte. Sie musste ihn hören?! Sehen...spüren...?
Tatsächlich schien sie etwas zu suchen. Hatte sie seine Anwesenheit bemerkt? Zu allem Überfluss fand nun auch noch eine der Fliegen den Weg durch das Visier. Schwirrte ihm vor der Nase herum, summte, brummte zum Peraineerbarmen. Es half kein Naserümpfen, kein Pusten, kein Schnauben. Sie hatte Schweiß gerochen, vielleicht auch den Inhalt seiner Ohren. Ihre kleinen Füße tappelten durch Hesindians Gesicht, eine Art Rüssel tastete seine Haut ab. Dann flog sie wieder auf, verursachte einen niederhöllischen Lärm im Helm.
Die Hexe fuhr herum, schien einen Moment zu wittern. Ihre gelbgrünen Augen suchten nach der Ursache der Fliegenmusik. Nun ließ sich die Schmeißfliege wieder auf Hesindians Nase nieder. Krabbelte darauf umher, bis er das Kitzeln kaum noch aushielt. So ähnlich musste sich also der Gratenfelser Apfel fühlen?!
Die Schwarze Hexe huschte näher. Draußen schwirrten weitere Fliegen und warfen kleine, flirrende Schatten an die Wand. Was tat seine kleine, schwarzpelzige Freundin nun? Krabbelte zielstrebig in Richtung Mundwinkel. Es half kein Grimassen schneiden und kein Grinsen: Das kleine Biest wollte ihn in den Wahnsinn treiben. Vor allem aber in die Entdeckung...Wenn sie jetzt aufflog, tat er es auch.
Es gab nur einen Ausweg, auch wenn dieser bitter sein würde. Hesindian schnappte zu, mit ausgereckter Zunge, wie eine Kröte. Spürte einen Moment lang ein pelziges Etwas in seinem Mund, ebenso wie das Vibrieren von Flügeln. Hörte ein wütendes Summen und ein Knacken. Schluckte das Ding einfach herunter… Hesindian war überzeugt, im nächsten Moment durch den Ritterhelm speien zu müssen, was sicherlich ein interessanter Anblick sein würde, für seine Verfolgerin.
Hesinde sei Dank. Es blieb bei einem bitteren Nachgeschmack, und einem flauen Gefühl im Magen.
Die dunkle Schönheit wollte bereits einen Schritt nähertreten. Ein Knarren der Bodenbretter lenkte sie ab.
Ein weiterer Schatten tauchte hinter der Besucherin auf, gehüllt in einen Kapuzenmantel. Die Schöne zuckte für einen Moment zusammen, eher kokett als wirklich erschrocken. Sie seufzte, als befände sie sich in einem wollüstigen Fiebertraum. Es war eine Männerhand, die sie berührte. Ansonsten hatten sie nicht viel mit einem Menschen gemeinsam. Schwarzgrau gefärbte Finger legten sich ihr von hinten auf die Schulter, überwuchert mit borstigen, schwarzen Haaren. Sie sahen aus, wie… Spinnenfüße? Nein, eher wie die Füße einer riesigen Fliege. Ausgerechnet.
Der Geruch in der Luft veränderte sich, wurde fauliger, widerlicher. Der Kapuzenmantel tropfte und steuerte, ebenso wie die Stiefel, den "Duft" von Kloake und Kanalisation bei. Immerhin ließen die Schmeißfliegen nun von der Rüstung ab und umschwirrten den Neuankömmling, wie ein Stück Aas.
"Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet." Die Stimme des Fremden klang merkwürdig, wie ein leises Summen oder Schnarren. "Mein geliebter Honigschinken."
Der Schwarze schlurchte zum Tisch, leicht gebückt. Tatsächlich hielt er etwas in seiner Hand, das er nun fasziniert betastete.
Daran schnupperte. Einen Moment lang sah Hesindian ein großes, grauschwarzes Auge, das merkwürdig aussah - es schien aus unzähligen kleineren Augen zu bestehen. Wirres, grauschwarzes Haar hing dem Mann ins Gesicht, das rötlich und aufgedunsen wirkte, von schwarzen, borstigen Haaren übersprenkelt. Was geschah nun? Gelblichweißer Schleim tropfte aus der Mundöffnung des Unbekannten, auf den Schinken. Der Gourmet sabberte eine Weile vor sich hin - und begann seine vollgeschleimte Speise, nun… Hesindian hätte vor Ekel beinahe aufgeschrien. Er begann sie aufzuschlürfen.
"Ich wünsche Euer Wohlgeboren einen guten Appetit." Die Hexe lächelte versonnen. Sie schien keinesfalls Abscheu zu empfinden, eher eine düstere Freude. "Auch wenn die Tischmanieren in diesem Haus schon einmal besser waren."
Die Kreatur schmatzte und schlürfte genussvoll. "Was würde ich jetzt auch noch für einen Tropfen Trollzacker geben. Unten aus dem Keller…"
"Schon manche unvorsichtige Fliege ist in einen Becher gefallen - und ertrunken." Die Schöne schritt im Saal umher, wie ein Gespenst. "Wein ist jetzt Gift für dich, mein Liebling."
"Du bist Gift für mich" stöhnte das Wesen. "Wenn auch ein süßes Gift. Sisa Brundel, meine Honigfliegenfalle..."
"Gerrich, der Hexer von Rommilys. Bevor die Grüne Wolke kam, warst du ein Niemand, vergiss das nicht. Wo ist denn nun dieses verfluchte Ding?"
Die Frau, die Sisa Brundel genannt wurde, leuchtete den Bereich um den Stuhl herum aus.
"Nicht da. Ich habe doch geahnt, dass man ihr nicht trauen kann. Jemand wie du sollte sich nicht mit einer Spinne einlassen."
Ein herzloses Lachen.
"Eifersüchtig?" schnarrte-summte die Stimme. "Sehe ich aus wie ein Giftpilz? Dein Misstrauen ist grundlos, Siss. Sie hat mir getreulich Bericht erstattet. Wir sollten ihre Aufrichtigkeit belohnen, und über das kleine Missgeschick hinwegsehen. Noch ist das Werk nicht vollendet."
"Diener sind austauschbar." Die Schöne klang eiskalt. "Maraskantarantel? Jede Küchenschabe stellt sich geschickter an. Sie hat sich von Alrik überrumpeln lassen wie eine Anfängerin. Wo ist dieses verdammte Florett? Wahrscheinlich liegt es schon bei der Stadtwache."
"Da drüben steht es doch. Da, an der Ritterrüstung..."
Entsetzt schloss Hesindian die Augen. Der Gruftgestank kam näher.
"Tatsächlich, wie konnte ich das nur übersehen."
Erneut schlug dem Magier das Herz bis zum Hals. Wenn sich jetzt die Ritterrüstung öffnete...
Er zwinkerte. Das Florett war aus dem Panzerhandschuh gefallen. Sisa hob es auf und öffnete den Griff.
Erfreut sah sie auf die Phiole.
"Wir sollten sie beseitigen, alle beide", sagte die Schwarzhexe beiläufig. "Warum hast du sie überhaupt angeheuert? Ein Liebespärchen? Sie empfinden nichts für unsere Sache. Gibt es nicht genügend anderes Gesindel in dieser Stadt?"
"Auch wir waren einmal wie sie. Ein junges Glück… sie erinnern mich daran…"
"Sie erinnert mich daran, was damals in der Sichel passiert ist…"
"Du bist eifersüchtig" stellte der Fliegenmann fest und nahm Sisa die Phiole aus der Hand. "Die Wintersonnenwende auf dem Bocksberg. Wir waren wahnsinnig. Das Schneetreiben, das riesige Feuer, der wilde Wald, selbst ich, der bei jedem grauen Regentag das Bett hüten musste, habe mitgetanzt. Als Boris, der wandernde Bäckergeselle. Welch herrliches Vergnügen."
Gerrich entkorkte die Phiole und schnupperte am Inhalt - anders als Hesindian schien er den Pesthauch als Wohlgeruch zu empfinden. Dem drehte sich in der Rüstung schon wieder der Magen um.
"Nun, Siss. Warum, glaubst du, erkranken so viel mehr Menschen an Schnupfen oder dem Flinken Difar als an den Zorganpocken, der Blauen Keuche oder der Schwarzen Wut?"
Die Hexe setzte sich auf einen der Stühle und schenkte sich Wein in einen gläsernen Becher. "Du wirst es mir sicher gleich sagen, mein Schatz."
"Die Zorganpocken töten schnell und wahllos. Ebenso die Schwarze Wut und oft genug auch die Keuche. Welch Verschwendung. Eine schlaue Seuche hält ihr Opfer am Leben, wie ein Floh den Hund. Reist auf seinem Rücken durch die Welt, hüpft von einem Überträger auf den nächsten und lässt sich bis in den letzten Winkel verbreiten...."
"Deine beiden Flöhe sind nichts weiter als Schmarotzer, gewiss. Leider sitzen sie in unserem Fell." Sisa erschlug eine aufdringliche Schabe mit ihrem Besen. "Wir haben noch die Schwingen als Helfershelfer. Der Medicus ist jetzt bereit, sich in allem der Gebieterin zu unterwerfen. Er hat begriffen, dass die Grünkutten bestenfalls heilen und gesundbeten können. Weil sie noch an dieses herzallerliebste Bauerntrampel in Alveran und den Klapperstorch glauben. Während wir bereits… resistent sind."
"Korwid? Dein Hagel hat ihm die Augen geöffnet, gewiss, und natürlich die Grüne Wolke. Aber die meisten seiner Jünger rennen immer noch ihrer Gütigen Herrin hinterher...Denen traue ich nicht über den Weg."
"Erfreulicher als ein eifriger Diener der Fauligen Herrin ist nur noch ein übereifriger, verblendeter Storchenanbeter. Auf dem Irrweg in die Ewige Verdammnis." Sisa rieb sich die Hände, die von schwarzen, spitzen Fingernägeln verunziert waren.
"Man sollte nicht mitten im Rennen das Pferd wechseln", murrte Gerrich. "Raberto ist bereits dabei, einen Handlanger in der Brauerei anzuheuern. In ein paar Tagen grassieren die Pocken in ganz Rommilys - oder das, was die dummen Zwölfgötter-Kriecher dafür halten. Die Schwingen werden sich rührend und aufopferungsvoll um die Kranken kümmern. Bis der wahre Abgesandte der Herrin erscheint, hinter einer Storchenmaske, und sie heilen wird. Der Hexer von Rommilys wird zum Wunderheiler von Rommilys. Natürlich nur gegen blanke Dukaten. Belzhorash seis gedankt!"
Sisa Brundel zerdrückte eine einzelne Made, die irgendwie zwischen ihre Finger geraten war.
"Gerrich, das klingt schon wie gierig". Die Schwarzhexe lachte höhnisch. "Verwesende Leichen, die sich auf den Straßen häufen. Sprühender Bluthusten und platzende Eiterbeulen. Verrückte Flagellanten, brennende Scheiterhaufen, Aufstand und Verzweiflung überall. Ein solcher Anblick wäre der Herrin der Ratten, Fliegen und Würmer gefällig. Nun gut, dein Plan mag nicht ganz vollkommen sein... aber er ist krank. Darum gefällt er mir. Im Grunde hast du Recht. Die Faulige Monarchin des Ewigen Siechtums will diese armseligen Menschlein gar nicht töten. Zumindest nicht schnell. Angst. Ekel. Abscheu. Wahnsinn. Die Furcht der Menschen voreinander sind ihre wahre Freude, ebenso wie Zwietracht und Misstrauen überall. Sollen die Rommilyser erst einmal begreifen, dass ihre geliebten Zwölfgötzen sie nicht schützen können. Dann werden sie merken, wer die wahre Herrin über Leben und Tod ist, auf dieser Welt - und allen anderen Welten. Man muss die Seelen der Sterblichen verseuchen, bevor man ihre elenden Leiber verrotten lässt."
Der Mann, der Gerrich genannt wurde, verstaute die Phiole wieder im Florett.
"Ich bin nicht gierig", sagte er ruhig. "Du weißt, dass ich das Gold brauche. Nur mit einem Heer von Söldnern kann ich Friedwang befreien. All die Ländereien, die sie unserer Familie gestohlen haben. Die verfluchten Bärenhäuter und dieser dahergelaufene Strolch aus dem Süden, der auch noch frech unseren Namen führt. Von den Mersingens, Oppsteins und den anderen Trittbrettfahrern ganz zu schweigen. Gernot wurde vielleicht zu früh geboren, als Kind wie als Freiherr. Aber er war mein eigen Fleisch und Blut. Erst werden wir uns die Schwarze Sichel zurück holen – und danach einen Fürsten auf den darpatischen Thron setzen, der diesen Namen verdient. Diese Rommilyser Mark ist doch nur ein schlechter Witz. Was hat Schweinchen Rahjandrael in den letzten Jahren schon geleistet – außer ein großes Erbe zu verschleudern?"
"Gewiss. Vor allem brauchst du Gold, damit die Leute ihre Augen und Nasen verschließen. Vor ein paar unangenehmen Eigenschaften ihres künftigen Barons… Wenn nicht sogar Landesherren? Oder gleich Kaiser des Mittelreichs?"
Der Paktierer summte wütend. "Wie viele Darpaten sind in den letzten Jahren elend an Hunger und Krankheiten verreckt - nur weil ihre Herren vor den falschen Göttern gekrochen sind? Dabei wäre es einfach, das Fürstentum vor Seuche, Krankheit und Tod zu schützen."
"Gerrich, der Idealist. Der seinen geliebten Hund geopfert hat. Um seiner Gemahlin eine kräftigende Suppe einflössen zu können, bei der grausamen Belagerung…"
"Als Lorena gestorben ist, habe ich die Götter verflucht. Aber mir wurden in diesem Moment die Augen geöffnet. Ich wollte nicht krepieren...nicht so wie sie. So elend und ruhmlos."
"Lorena, die hast du doch auch hintergangen." Sisa hob die feinen Augenbrauen, in gespielter Empörung. "Sogar doppelt."
"Fängst du schon wieder an? Was verstehst du schon von den Gepflogenheiten des Adels? Eine arrangierte Ehe, mehr nicht. Eine Pflichtübung, ja. Ich habe sie mehr geliebt als Wolpert, das vielleicht. Aber auch nur, weil wir Verwandte waren. Was ist denn schon dabei, eine entfernte Cousine zu heiraten, hat mein Vater zu mir gesagt. Dann empfinden Braut und Bräutigam wenigstens etwas füreinander. Nicht mal annullieren konnte ich diesen Fehler. Selbst dann nicht, als die Erben ausgeblieben sind. Das habe ich den intriganten Gänseanbetern nie verziehen. Du weißt, wie spießig und langweilig Rommilys sein kann. Damals, zu Kaiser Retos Zeiten, war alles noch viel biederer und engstirniger. Ludwina von Gießenborn war schön. So schön und leidenschaftlich, wie du es noch immer bist. Nach all den Jahren. Luda war doch nur ein Spiel. Eine kleine Affäre, neben dir, der großen Liebe meines Lebens… eine Affäre und vielleicht auch eine Dummheit…"
"Die nicht folgenlos geblieben ist. Mal ganz abgesehen davon, dass ihr ebenfalls blutsverwandt seid, Ludwina und du. Immerhin, aus solchen Affären entstehen Kinder, die meiner Herrin Mishkara überaus gefällig sind." Der Hexe war nicht anzumerken, ob ihr dieser Gedanke wirklich gefiel. Klirrend zersplitterte der Glaskelch zwischen ihren Fingern. Sisa schrie auf, als schwarzes Blut auf den Tisch tropfte. Sie schleuderte die Reste in den Kamin, spuckte in die Hand. Das Bluten ließ sofort nach. Gerrich schien es nicht einmal bemerkt zu haben.
"Golo, mein Vetter, hat die Hörner verdient, die ich ihm aufgesetzt habe. Dieser elende Hundsfott. Ein Verräter am Hause Rabenmund. Ach. Wie lange ist das nun her? Fast ein ganzes Menschenleben.…"
Sisa wischte ihre Hand auf dem Tisch sauber. "Dein Verrat liegt noch nicht so lange zurück."
"Wer sonst hätte mir all die verlorenen Jahre wiedergeben können? All diese sinnlos vergeudete Zeit? Wenn nicht Sie? Ich war bereit, ein Opfer zu bringen, für die Gesundung des Fürstentums Darpatiens. Dafür musste ich erst einmal selbst von der Keuche genesen. Die Gebieterin hat mich gelehrt, wie man Menschen heilt, wie man sie wirklich heilt… auch vor der Unwissenheit."
"Welch flammende Thronrede." Die Hexe klatschte gelangweilt. "Mich musst du nicht überzeugen. Genug jetzt, wir haben noch etwas zu erledigen. Du wirst dieses Haus anzünden, um alle Spuren zu verwischen, und die Garde noch ein wenig zu beschäftigen. Aber auch, um dein altes Leben ein für allemal hinter dir zu lassen. Dann verschwindest du zurück in die Kanalisation. Wo ist eigentlich Glibberta?"
Bislang hatte Hesindian dem Gespräch zugehört wie in einem Fiebertraum. Nun kehrte der Schüttelfrost zurück. Der Magier hatte gehört, worüber sich die beiden Eindringlinge unterhalten hatten. Aber irgendwie weigerte sich sein gemartertes Hirn, es in allen Einzelheiten zu begreifen. Patschende Geräusche lenkten ihn ab.
Eine fette, warzenbedeckte Kröte war vor sein stählernes Gefängnis gehüpft. Fing mit einer langen, schleimigen Zunge eine Wanze und starrte ihn an, aus dunklen Augen. Fast schien es, als wolle sie ihn verhöhnen, ihn, den Fliegenfresser.
Sie sah ihn… sie konnte ihn eindeutig sehen? Zumindest seine Anwesenheit spüren. Oder?
"Ah, da bist du ja." Sisa war aufgestanden. "Ab ins Körbchen, meine Hübsche". Tatsächlich bugsierte die Hexe ihr Vertrautentier in einen kleinen Korb, zum Glück ohne aufzublicken. Die Kröte quakte und glotzte in Richtung Hesindian. Es half ihr nichts, sie verschwand zwischen Weidengeflecht und wurde an den Gürtel gehängt, als hätte die Hexe Sumubeeren gesammelt.
"A...anzünden?" Erst jetzt fand Gerrich seine Sprache wieder. "Das ist nicht dein Ernst, Siss?! Das...das kannst du nicht von mir verlangen…"
"Oh, ich vergaß. Du fürchtest dich vor Feuer. Kannst keiner Fliege etwas zuleide tun, wie?" Sisa riss einen Wandteppich herunter, ebenso wie einen Vorhang. Warf einige Holzscheite und Spreißel darauf. "Es wird ein Zeichen sein, für all das, was Rommilys noch bevorsteht. Ein Fanal."
"Es ist das Haus meiner Vorfahren." Gerrich, der zuletzt fast schon menschlich geklungen hatte, begann wieder aufgeregt zu summen.
"Nein, es ist jetzt Alriks Haus. Er muss alles verlieren. Seine Diener beginnen bereits zu schwatzen. Sollen die Rommilyser ruhig glauben, dass die Gardisten sogar die Paläste der Reichen niederbrennen, um die Ausbreitung der Seuche zu stoppen. Um so schneller werden sie es ihnen gleichtun. Hahaha..." Eine herrische Geste, und Flammen züngelten aus dem Holz. Gerrich, der die Schwarzhexe noch hatte aufhalten wollen, prallte summend und schnarrend zurück.
"Neinn...sssss..."
"Wie du schon sagtest: Rommilys ist bieder und langweilig. Bringen wir etwas Feuer ins Spiel." Ein wahrhaft hexisches Lachen. "Dir gebührt eine stolze Burg, mein Liebster, nicht dieser... Bauernhof!"
Sisa, die Hexenfürstin, schob sich lustvoll stöhnend den Besen zwischen die Beine. Dann schwebte sie mit niederhöllischen Kreischen aus dem Rittersaal, die Treppe hinauf in Richtung Dach.
Das Feuer loderte hoch. Gerrich hob seine behaarten Pratzen, versuchte mit einem Wappenschild die Flammen auszuschlagen. Wich summend zurück, als der Holzschild ebenfalls zu brennen begann. Qualmend verschwand der Adelige durch die Seitentür.
Rauch drang durch den Visierschlitz. Langsam wurde es taghell – und heiß. Hesindians Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er hatte das alles schon einmal erlebt. Nur mit einer riesigen, aufrecht gehenden Assel statt einer Dämonenbuhle im Raum. Duglum, dem Pestbringer. War das seine endgültige Rache? Einen Moment lang glaubte er den Siechen Schatten des Siebengehörnten in den Flammen schweben zu sehen.
Hastig tastete der Magier in der Rüstung umher. Irgendwo musste es doch eine Feder geben, oder einen Riegel, um ihn zu befreien. Wenn die Rüstung nur nicht so eng gewesen wäre. Er versuchte zu schaukeln, sein Gefängnis umzuwerfen. Doch der Hohle Ritter rührte sich keinen Fingerbreit.
Er hustete, keuchte. Die reine Panik kehrte zurück. Als die Hitze und der Qualm unerträglich wurden, begann er zu brüllen.
"ZU HILFEEEE! HELFT MIR DOCH!"
Welch unrühmliches Ende, für ihn wie das Dossier des Informations-Instituts.
Das war sein letzter Gedanke, bevor ihn gnädige Dunkelheit umhüllte.
Während Haldana sich auf die Suche nach diesem Jodokus gemacht hatte, waren Tuvok und Rovik zum Stadthaus des Friedwangen aufgebrochen. Diesmal kein Einbruch, sondern mit dem Schlüssel einfach rein in das Haus. Eine wirklich leichte Aufgabe, kein Vergleich zu dem, was man von ihnen in früheren Questen verlangt hatte. Zielstrebig und mit strammen Schritten gingen die Gefährten in die Altstadt. Das Haus, das dieser Gerrich von Friedwang bauen ließ, würde nicht schwer zu finden sein. Doch als sie ihre Schritte in die genannte Gasse lenkten, züngelten bereits Flammen aus dem Dachstuhl und Rauch drang aus den Fenstern ins Freie.
Tuvok fasste den Zwerg auf die Schulter und deutete nach vorne. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk sah man jemanden fliegend entschwinden. Rovik konnte kaum etwas erkennen, aber die scharfen Augen des Jägers erkannten eine Hexe auf ihrem Besen in die Lüfte entschwinden. Dann… plötzlich… eine Tür öffnete sich und eine Gestalt huschte in aller Eile heraus.
Ein Schrei tönte aus dem Haus. "ZU HILFEEEE! HELFT MIR DOCH!"
„Du siehst nach, ob noch was zu retten ist“ raunte Tuvok Rovik zu. „Ich verfolge den Schleicher.“ Ohne auf eine Antwort zu warten hastete der Waldläufer dem Fliehenden nach.
Rovik sah sich kurz um. Aus den umstehenden Häusern strömten schon die Anwohner, bildeten eine Schlange, um eine Eimerkette vom nächsten Brunnen zu organisieren. Wenn es nicht gelang, den Brand zu löschen oder zumindest klein zu halten, waren auch die umstehenden Häuser in Gefahr. Rovik stürmte an den Menschen vorbei, ihnen zurufend „Ich sehe nach, wer da drinnen ist.“
Mit einem kräftigen Fußtritt öffnete er die Tür und hastete in das Haus. Qualm biss den Zwerg in die Augen. Als Angroschim war er zwar Hitze und Rauch durchaus gewöhnt von der heimischen Schmiede. Aber ein brennendes Haus war etwas anderes. Rovik konnte kaum etwas sehen in dem allgegenwärtigen Rauch. Er wusste, dass er den Rauch nicht einatmen dürfte, sonst würde er besinnungslos niedersinken. Dann wäre er nicht mehr zu retten.
Rovik warf sich auf den Boden. Heißer Rauch zog nach oben. Wenn man noch atmen konnte, dann unten am Boden.
Richtig. Die untersten drei Spann des Raumes waren noch einigermaßen klar. Rovik wagte einen Atemzug. Noch einen. Dann hielt er wieder die Luft an und kroch weiter vorwärts. So tief gebeugt mochte es gehen. Noch.
Rovik stand kurz auf um sich umzusehen, fiel aber gleich wieder auf die Knie. Sinnlos. Es war nichts zu sehen, nur heiße graue Schwaden. Dann ein zischen. Gut. Die Eimerkette war inzwischen in Betrieb. Vielleicht war noch etwas zu retten von dem Fachwerkbau. Rovik kroch weiter. Er sah nicht viel, es reichte, um sich zu orientieren. Vor ihm erkannte er die Eisenschuhe einer Ritterrüstung, die umgekippt neben einer Treppe nach oben lag. Der Schuh hatte sich von den Beinlingen getrennt und lag auf die Seite gedreht daneben.
Ein Fuß ragte aus dem Eisengewand. Ein echter Fuß. Jemand steckte in der Rüstung!
Ohne Rücksicht auf die Hitze und den Rauch packte Rovik den Eisengewandeten am Fuß, stand auf und zog ihn zur Tür. Die Hitze würde er nicht länger als eine halbe Minute überstehen, und den giftigen Rauch durfte er nicht einatmen. Aber länger, als er die Luft anzuhalten vermochte, würde er auch nicht brauchen zurück zur Tür, mit dem Eisenmann im Schlepptau.
Hesindian hustete und keuchte, als habe er die Blaue Keuche...oder hatte ihm irgendjemand einen Eimer Wasser aufs Gesicht gegossen?
Der Magier spuckte aus. Die Blaue Keuche. Die Keuche...da war doch irgendetwas gewesen....
Er hatte offenbar unruhig geträumt, in seinem Quartier, drüben im Gasthaus zum Fährmann. Wirres Zeug, von sprechenden Fliegen und fliegenden Pestbringerinnen. Nun überlagerte ein anderer Traum den ersten: Geschrei,
Feuer und Qualm über Rommilys. Aus irgendeinem Grund starrte er geradewegs in den Nachthimmel, ins hell leuchtende, wenn auch rauchumflorte Madamal. Funken schwirrten umher wie Glühwürmchen.
Er wollte sich bewegen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Als wäre ein PLUMBUMBARUM darauf gesprochen worden, waren sie schwer wie Blei. In der Fortsetzung seines wirren Traums trug er einen Ritterhelm auf den Kopf, dessen Visier zurückgeschoben worden war - von einem...einem Kind in Lederschürze, das seltsamerweise einen Bart trug. Das Haar schien zu qualmen und zu kokeln, als wolle es gleich das brennen anfangen. Wahrlich ein seltsames Traumgespinst. Oder steckte er tatsächlich in einer Ritterrüstung und lag auf dem Pflaster irgendeiner Rommilyser Gasse? Heiß… ihm war heiß, wie in einem Backofen. Sein Rücken schmerzte niederhöllisch.
"Du bist wach? Sehr gut, sehr gut. Mal schaun, ob wir dich da rausbekommen" brummelte das rauschebärtige "Kind", das einen Eimer in Händen hielt. Offenbar hatte er ihn gerade mit dem Inhalt übergossen, der sich teils als Pfütze neben seinem Kopf ausbreitete, teils in die Rüstung geflossen war. Hesindian prustete erneut. Sein Geist wurde klarer.
"Bei Angroschs Esse, welch herrliche Schmiedearbeit". Der Bärtige klopfte begeistert auf den Stahl der Rüstung. Das faltige, ledrige Gesicht mit der mächtigen Knollennase war rußgeschwärzt, wie bei einem Schmied. Natürlich, ein Zwerg. Der kleine Kerl zählte zu Ingerimms Volk. Begeistert fuhr sein kleiner, schwarzer Finger eine Ziselierung entlang. "Ein Gestechharnisch. Nicht schlecht für einen Großling, gar nicht mal sooo schlecht. Eine Wehrheimer Werkstatt, möchte ich wetten? Was haben wir denn hier - ein B....und ein A...bei Angroschs Hammer: Eine Brünne von Baskhan Arvo?!"
Der Zwerg hob Hesindians rechten Arm etwas, der dabei leise rasselte und schepperte.
Ein Klicken war zu hören, und der gesamte Vorderteil des Brustpanzers klappte auf, wie ein Truhendeckel. Der Zwerg blickte empört. Offenbar verschandelte die (nachträglich eingebaute?) Mechanik die wunderschöne Rüstung ungemein, zumindest in seinen Augen.
Jedenfalls konnte Hesindian etwas abdampfen, im Wortsinn. So langsam kehrte die vollständige Erinnerung zurück. Die Schmerzen in seinem Rücken, sie kamen wohl von einem Rüstungshalter. Gütige Herrin Hesinde, wie hatte er es nur geschafft, sich hier hinein zu zwängen? Tatsächlich, der Ständer endete an den Füßen in einer schweren, hölzernen Bodenplatte. An einem Fuß fehlte der Eisenschuh. Offenbar hatte er es noch geschafft, seine Schuhspitze in den Spalt unter den "Bärlatsch" zu zwängen und sich daraus zu befreien. Dann war er umgekippt, im doppelten Wortsinn.
Dieser Zwerg musste ihn, mitsamt Rüstung und Bodenplatte, aus dem brennenden Haus gezerrt haben. Unglaublich...
Verdammt, wie war er hier hereingekommen? So sehr er auch abmühte, er konnte sich kaum einen Fingerbreit bewegen in diesem stählernen Gefängnis. Der Ritter, der sie einmal getragen hatte, musste ein wahrer Berg gewesen sein.
Der Zwerg begann die Rüstung fachkundig zu zerlegen, wobei er den klobigen Kopf schüttelte und irgendetwas auf Rogolan brummte.
Als Hesindian sich endlich aufrappelte, hatte er nur noch den Helm auf dem Kopf - dessen Visier beim Hochrucken runterklappte. Als er es wieder öffnete, sah er die Bescherung in voller Pracht. Das Untergeschoss des "Friedwanger Hauses" stand in Flammen, die wie aus einem Drachenmaul durch den Haupteingang loderten. Glosende Hitze waberte in der Luft.
Die Nachbarn, auch der Bäcker, hatten eine Eimerkette gebildet, von der Feuerschleife her: Eine Art großer Schlitten, auf dem schwere Wasserbottiche standen. Eine Frau mit Hellebarde, Horn und Federhut schien die Maßnahmen zu koordinieren: die Nachtwächterin, die er vorhin gehört hatte? Am Hoftor herrschte ebenfalls Bewegung: Weitere Helfer waren damit beschäftigt, die Pferde zu retten, die wiehernd, scheuend und hufeklappernd nach draußen geführt wurden. Vom Hof her wallte dichter Rauch auf die Straße, was für heftiges Husten und Keuchen sorgte.
Hesindian wurde von unten angeknufft: "Was hattest du da drinnen zu suchen? Hast mehr Glück als Verstand..."
Der Magus nahm den tropfenden Helm ab, setzte seinen völlig zerknüllten Hut auf und sog die tiefe Nachtluft ein. "Haltet mal, Herr Zwerg!" Beiläufig drückte er ihm die Schaller in die Hände. Sein Zauberstab - wo war Nasrûlgin, sein treuer Stab?
Hesindian hüstelte und hob die Hand.
"Nasrûlgin, herbei!"
"Rovik! Mein Name ist Rovik Sohn des Vulkanus" Der Zwerg hielt erstaunt inne. Denn nun sah er den kristallgeschmückten Stab, der wie ein Speer aus dem brennenden "Haus Friedwang" schwirrte. Nur dass ein Speer nicht Hindernissen auswich, wie "Nasrûlgin", der formvollendet an der Nachtwächterin vorbeischwirrte. Die Frau starrte mit weit aufgerissenen Augen erst auf das "Geschoss", dann auf den Zauberer, der den Stab elegant auffing. Hesindian hustete noch einmal und blies dann ein glimmendes Aschestückchen vom Kristall.
"Seid bedankt, dass Ihr mich aus dieser Notlage befreit habt" sagte der Magus und tätschelte, mit leicht herablassendem Lächeln, seinen Lebensretter. War er das wirklich? Hesindian konnte sich dunkel erinnern, noch aus eigener Kraft losgerobbt zu sein. Oder? Aber sicher, er verdankte dem unbekannten Zwerg viel. Wahrscheinlich einer der vielen Hügelzwerge, die in Rommilys lebten. Drolliges Kerlchen. Für einen Moment hätte er beinahe die Nerven verloren, er, der erfahrene, weitgereiste, sturmerprobte Meistermagier. Nicht zu fassen.
"Vielen Dank, Herr, äh..."
"Rovik, Sohn des Vulkanus."
"Was ist denn das?" Erst jetzt merkte Hesindian, dass er etwas in seiner Linken hielt: Eine zusammengeknüllte Schriftrolle, die sich im Arm der Ritterrüstung befunden haben mochte. Er entrollte das leicht angebrannte Papier, konnte aber im Moment nichts entziffern. Mit zusammengekniffenen Augen und noch immer hüstelnd hielt Hesindian das Papier ins Licht des Großbrands. Nein, das Feuer flackerte zu sehr.
Das erste Butzenglas-Fenster zerbrach, die brennenden Fensterläden stürzten auf die Straße, geschmolzenes Blei tropfte herab. Feuerzungen leckten gierig empor, hinauf zum ersten Stock. Zunehmend verzweifelt schleuderten die Rommilyser den Inhalt der Eimer ins Feuer, wo das meiste zischend verdampfte. Sie kamen einfach nicht ran, an den Brandherd. Auch ihre Wasservorräte schienen zu schwinden. Auf der anderen Seite des Anwesens wäre das Löschen einfacher gewesen, aber der Wind stand ungünstig, wie die Wettergans zeigte: dort war alles eingeräuchert.
"So wird das nichts" stellte Hesindian fest. Der Zauberer drückte dem Zwerg auch noch seinen Stab in die Hand. Roviks Augen wurden gerade größer und größer.
"WEHE, WALLE, NEBULA - trüb die Luft, die vordem klar" sprach (säuselte) der Magus und blies sacht über seine zur Schale geformten Hände. Ein kleines Dampfwölkchen erschien, wurde rasch größer, und größer. Und größer.
Nebel kam auf, buchstäblich aus dem Nichts: Schwerer, feuchter, dicker Küstenebel, der jedem Thorwaler oder Gjalskerländer Fjord zur Ehre gereicht hätte.
"Erfrischend, nicht wahr, Herr Zwerg?!" sagte der Magus mit gedämpfter Stimme: ein Graumagier, eingehüllt in die Farbe seiner Robe.
Mit einem Gedankenbefehl ballte Hesindian die Wolke zusammen, ließ sie in Richtung Haus strömen - durch die zerborstene Tür hinein: eine Art Sturmramme aus kühlem Nebel, die gegen eine heißlodernde Feuerwand traf. Es zischte und brodelte, wie in einem Hexenkessel oder Vulkankrater, als sich die verfeindeten Elemente miteinander vermischten. Mehrere Verpuffungen knallten. Zwei, drei weitere Fenster zerbrachen, Dampfwolken zischten heraus, ebenso aus dem Eingang. Als sich der Nebel wieder legte, waren die meisten Flammen verschwunden. Allerdings hatten sich auch die Nachbarn in Panik auf den Boden geworfen.
"So, jetzt könnt ihr den Rest löschen!" sagte der Magier gönnerhaft in Richtung der Rommilyser. Die schienen mit dem Gesehenen erst mal völlig überfordert zu sein. "Geht weiter, es gibt nichts zu gaffen!" herrschte die Nachtwächterin einige Schaulustige an.
Hesindian nutzte die Verwirrung, den beißenden Rauch und die Reste des Nebels, um den Stab an sich zu nehmen und sich davonzuschleichen (den Zwerg, der ihm kopfschüttelnd folgte, bemerkte er nicht). In einem Laubengang um die Ecke blieb er stehen. Was sollte er nun tun? Nicht, dass er sich sonderlich vor der Garde fürchtete. Aber das Informations-Institut mochte keine komplizierten magierechtlichen Sachverhalte, soviel stand fest. Andererseits, so kompliziert war sein Casus gar nicht: Der Hofmagier des gesuchten Barons von Friedwang war in dessen Stadthaus eingebrochen, und dort Ohrenzeuge der niederhöllischen Verschwörung eines anderen "von Friedwang" geworden. Der sich offenbar für den Vater des Verräterbarons und Borbaradianers Gernot hielt, durch ein wahrlich scheußliches Dämonenmal verunstaltet war und Markgräfin Svantje Rahjandrael absetzen wollte. Mit Hilfe von Hexenmacht und Dämonenwerk. Wenn Hesindian das den Berufs-Paranoikern in der Praiosstadt erzählen würde, konnte er gleich in einer ihrer Bleikammern Platz nehmen.
Nun ja, da hätte er wenigstens ein Dach über dem Kopf. Die letzte Fähre, hinüber nach Neu-Rommilys, hatte er um Stunden verpasst. Dort hatte er sich einquartiert, nachdem er den "Greifenkragen" entdeckt hatte, vor seiner ursprünglichen Herberge, in der Stadtmitte. Vielleicht war es nur Zufall, dass der Magier vom Informations-Institut dort herumgeschlichen war, kurz nach seinem ersten "Vorsprechen" in der Akademie. Aber die rote und weiße Robe war eindeutig gewesen, ebenso der Greif am güldenen Kragen. Oder die frische astrale Signatur des "Foramen" an seiner Tür. Im "Fährmann" hatte sich Hesindian einen Abend lang sicher und unbeobachtet gefühlt - aber im Institut wussten sie schon am Tag darauf über seine Logis Bescheid. Gerne wäre er bei seinem hochgeborenen Freund Alrik untergeschlüpft. Aber selbst dieser Plan hatte sich gerade eben in Feuer und Rauch aufgelöst.
Ach ja, die Schriftrolle, die gab es ja auch noch. Hesindian ließ seinen Stab aufflammen, und hielt das Pergament in den Lichtschein der Zauberfackel. Es war ein Magierbrief, in altertümlicher, verschnörkselter Schrift. Ausgestellt auf den Namen "Gerrich von Friedwang". Allerdings - das magische Siegel fehlte, das der Lehrmeister oder die Akademie für gewöhnlich auf den "Gesellenbrief" des Schülers stempelte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Tuvok huschte leichtfüßig durch die Gassen des nächtlichen Rommilys, froh, dem Rauch, dem Feuer und Geschrei in seinem Rücken entkommen zu sein. Als Waldläufer fühlte er sich in der großen Stadt unwohl, trotz der vielen Parks und Gärten. Die hochragenden Stufengiebel und Fachwerk-Geschosse konnten Eichenkronen und Tannenspitzen einfach nicht ersetzen. Die Jagd auf den Schleicher war schon eher nach seinem Geschmack.
Dessen Verfolgung war eine leichte Aufgabe, im Licht des Madamals. Der Kerl im Kapuzenmantel wirkte verwirrt oder benommen und schien nicht mit einer Beschattung zu rechnen. Er war auch nicht allzu gut bewaffnet: Tuvok entdeckte nur ein Florett. Ein Beilhieb, und es wäre zerbrochen?! Oder ein sauberer Pfeil durch die vornehme Samtweste des Brandstifters, die er einen Moment lang im Mondschein gesehen hatte.
Tuvok drückte sich in den Schatten eines Hauseingangs, als sich der Schleicher nun doch misstrauisch umdrehte. Er hatte ihn wahrscheinlich nicht gesehen. Aber nun hatte der Jäger sein "Wild" ebenfalls aus den Augen verloren. Sein Verfolger lief mal hier hin, mal dorthin, stand plötzlich auf dem Marktplatz. Nichts.
Hallten da drüben Schritte?
Also hinterher. Was war denn das? Eine Steinplatte lag auf dem Straßenpflaster. Der Jäger näherte sich vorsichtig: Ein Kanaldeckel, der beiseite geschoben worden war. Hatte sich seine "Beute" in die Kanalisation geflüchtet, wie eine Ratte? Aus dem Schacht roch es muffig. Ein wenig nach Fuchsbau. Eiserne Krampen führten nach unten, in Richtung eines übelriechenden Rinnsals. Es stank wirklich zum Firunserbarmen. Der Jäger merkte, dass er bis auf Feuerstein, Stahl und Zunder keine Lichtquelle bei sich trug. Sollte er da wirklich hineinkriechen? Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Spur ins Leere führte
Er täuschte sich nicht. Dort drüben stand er: der Schatten, in der Einfahrt irgendeines Kontors - und schwirrte ins Halbdunkel davon. Eine Falle. Der Schleicher hatte ihm eine Falle gestellt. Wohl um zu prüfen, ob er verfolgt wurde. Nicht schlecht. Vielleicht hatte er ihn unterschätzt.
Tuvok lief zum Kontor, lauschte. Ein leises Quietschen, gefolgt von einem Flattern und empörtem Gurren. Tauben?
Das kam von halblinks. Dazu ein zarter, süßlicher Geruch, der nicht der Überrest des Kanalgestanks in seiner Nase war. Eine Mischung aus Brandgeruch - und etwas Schlimmerem. Der Waldläufer legte einen Pfeil auf die Bogensehne, verließ sich jetzt mehr auf sein Gespür als seine Sinne. Tatsächlich, da vorne war ein schmiedeeisernes Tor, dass in einen kleinen Park führte, oder auch nur in einen Garten. Es stand halboffen...wieder ein Trick? Da vorne, ein Schemen, im Licht des Madamals. Tuvok legte an. Nein, es war nur eine Statue, auf einem Podest: Ein Traviageweihter, der einem Kind eine Birne reichte, im Schatten eines mächtigen, sicher uralten, aber gleichmäßig gewachsenen Birnbaums.
War er in die Irre gelaufen? Tuvok drehte sich um, Richtung Eingang...und erstarrte.
Dort stand er, der Kapuzenmann.
Tuvok hob den Bogen.
"Nicht so hastig" zischelte "Schleicher". Nun roch er ihn wieder: den Pesthauch. Irgendetwas glitzerte in der behandschuhten Rechten des Fremden. Eine Phiole.
Täuschte er sich, oder schlängelte sich gerade grünlicher Dunst aus dem Glas, wie eine Schlange oder Rauchfahne? Einen Moment lang fühlte er sich unwohl, zitterte, hustete.
Ließ den Bogen sinken.
"Wer bist… du?" röchelte Tuvok, der alles verschwommen sah. Als hätte er sich in der Schänke heillos betrunken.
Der Unbekannte trat einen Schritt näher, zog das Florett und zeigte sein Gesicht. Schwarzgelockte, stellenweise ergraute Haare, das rechte Auge war von einer Samtklappe verdeckt. Ein spöttisch verzogener Mund, der von einem Spitzbart geziert wurde.
"Mein Name ist Baron Alrik Tsalind von Friedwang", sagte er, mit merkwürdig schnarrender, summender Stimme. "Ich kann mich nicht erinnern, Euch das Du angeboten zu haben. Wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?"
Einen Moment lang war Tuvok viel zu verwirrt, um antworten zu können. Zumal er ohnehin kein Mann vieler Worte war. Eins war allerdings sicher: Dieser Kerl war nicht sein Auftraggeber - und das Stinkzeug alles andere als firunsgefällig. Immerhin, ein sanfter Wind kam auf, zauste die Äste des Birnbaums und verwehte den Pestgestank etwas. Tuvok hob den Bogen wieder.
"Das würde ich besser nicht tun!" knurrte eine befehlsgewohnte Frauenstimme . Vier Stadtwachen marschierten in den Garten. Geblendet vom Laternenlicht, sah Tuvok nur grobe Schemen. "He, he, mal langsam. Runter mit der Waffe! Wir sind hier nicht in den Trollzacken!"
"Ein Beil? Ein Jagdbogen?" lachte einer der Gardisten."Was hat der denn vor? Auf Wildschweinjagd gehen? Mitten in der Nacht, in Rommilys?"
"Und Ihr seid?" Die Anführerin, eine blonde Frau mit Wehrheimer Bürstenhaarschnitt, wandte sich"Alrik" zu.
"Wie ich diesem...Subjekt da schon sagte: Baron Alrik Tsalind von Friedwang."
"Was macht Ihr hier in der Nacht - am Heiligen Birnbaum von Vater Ribek?"
"Heiliger Birnbaum ?!" Der Spitzbärtige wich erschrocken zurück, Richtung Eingang. Wo ihm allerdings die Blonde den Weg versperrte, mit der Laterne. "Ah, höre sie doch auf mir ständig ins Gesicht zu leuchten. Der da ist der Verbrecher..."
"Nun ja, Euer Hochgeboren. Es gibt einige Bankhäuser und Wechselstuben am Markt. Ihr werdet verstehen, dass wir da öfters aus unserer Wachstube schauen. Wenn wir jemand Verdächtiges herumschleichen sehen, fragen wir gerne mal nach."
"Was erlaubt sie sich? Wie ich schon sagte..."
"Ihr seid Alrik Tsalind von Friedwang, gewiss, das habe ich verstanden. Ihr werdet gesucht, in der ganzen Stadt."
"Unerhört, was wirft man mir vor?"
"Ihr sollt an, äh, einer äußerst ansteckenden Krankheit leiden..." Die Gardistin spähte misstrauisch (und etwas nervös) über ihre Laterne.
"Kann allerdings...kann nichts Ungewöhnliches entdecken...Euer Auge, was ist damit?"
"Eine alte Kriegsverletzung, im Kampf für das freie Fürstentum Darpatien! Was hat dieses Possenspiel zu bedeuten? Wie ist ihr Name, damit ich mich über sie beschweren kann?"
"Mit Verlaub, Euer Hochgeboren. Aber ich tue nur meine Pflicht. Ihr habt heute… also… Ihr habt schon für einige Aufregung gesorgt. Nein… keine Beulen, nichts… erstaunlich..."
"Ach, diese leidige Geschichte? Lächerlich. Ridikül. Das waren doch nicht mal Gänsepusteln. Ein Gebet im Tempel, und dieser hässliche Ausschlag war verschwunden..."
"Ihr allerdings auch, aus dieser Kutsche. Nach dem Unfall im Katzloch."
"Sehe ich aus, als würde ich mich im Elendsviertel herumkarren lassen?" Ein affektiertes Lachen. "Selbstverständlich habe ich mir eine derart...impertinente Behandlung nicht gefallen lassen. Was denkt sie denn? Das grenzt ja schon an Aufruhr gegen die göttergebene Ordnung und die Herrschaft des Adels. Nun komme ich zurück zu meinem Haus, und was sehe ich? Der Rote Hahn auf dem Dach! Angezündet, von diesem Strolch da. Ich habe ihn durch halb Rommilys verfolgt - und hier gestellt. Ihr solltet endlich diesen Brandstifter verhören, nicht mich..."
Die Gardistin war für einen Moment unschlüssig. Sie hatte Respekt vor dem vermeintlichen "Hochgeboren", das merkte Tuvok. Ärgerte sich aber zugleich über dessen Hochnäsigkeit.
Sie wandte sich dem Jäger zu: "Ist das wahr? Wie ist Euer Name?"
"Tuvok."
"Habt Ihr das Haus des Barons in Brand gesteckt?"
"Nein. Bei Firun."
"Ein Waidmann?"
"Hmm."
"Warum haben Seine Hochgeboren Euch dann verfolgt?"
"Weiß nicht. Kenn den nicht."
"Was macht Ihr mitten in der Nacht in Ribeks Garten?"
Tuvok bemühte sich, möglichst einfältig und unbedarft zu schauen. Eifrig pflückte er eine Birne vom Baum, biss herzhaft hinein und nickte begeistert. Was nicht mal gespielt war: die große, saftige Rabenmundbirne war wirklich köstlich. Die Gardistin rümpfte die Nase. Wahrscheinlich dachte sie, der üble Geruch im Garten ging von ihm aus. Tuvok ärgerte zwar, dass sie ihn für einen ungewaschenen Einfaltspinsel hielt, der zum ersten Mal seit Jahren wieder aus dem Wald in die große Stadt gestapft war. Aber im Moment schien das sogar seine beste Verteidigung zu sein.
"Es könnte alles nur ein Missverständnis sein", sagte die Stadtwächterin in Richtung Baron gewandt. "Nachts sind alle Katzen grau."
"Ich habe gesehen, wie der da aus meinem Haus geflohen ist".
"Das Friedwanger Haus in der Bockengasse?"
"Gewiss."
"Das ist aber schon ein paar Ecken von hier entfernt. Ihr habt den Unbekannten die ganze Zeit verfolgt - und kein einziges Mal aus den Augen verloren?"
"Wollt Ihr mich der Lüge bezichtigen? Ihr müsst diesen Feuerteufel sofort verhaften."
"Rund um den Birnbaum von Vater Ribek herrscht Traviafriede, nach altem Brauch. Wir können den Jäger erst verhaften, wenn er den Garten wieder verlässt. Aber dann müssten wir Euch ebenfalls zur Wache eskortieren, Euer Hochgeboren."
"Ich höre wohl nicht recht. Das ist ein Scherz, oder? Bin ich jetzt der Täter?"
"Nun, es gäbe da schon noch ein paar offene Fragen…"
"Ich kann Euch unmöglich begleiten. Ihr werdet verstehen, dass ich mich gerade um wichtigere Dinge kümmern muss...mein Haus steht lichterloh in Flammen!"
Die Gardistin überlegte und hielt ihrem Gegenüber noch einmal die Lampe ins Gesicht. Das Gesagte schien für sie buchstäblich einleuchtend zu sein. Sie nickte knapp.
"Habe ich Euer Wort als Baron und Ehrenmann, dass Ihr Euch morgen bei der Stadtwache melden werdet? Damit wir Eure Aussage zur Protokoll nehmen können?"
"Ja, gewiss...wenn Ihr darauf insistiert. Ich gebe Euch mein Ehrenwort, so wahr ich Baron Alrik Tsalind von Friedwang heiße."
"Nun gut. Dann Praios befohlen." Die blonde Frau gab den Ausgang frei. Seine Hochgeboren murmelte etwas, deutete hasserfüllt in Richtung seines Gegners. Wütend schüttelte er den Kopf und verschwand in der Dunkelheit. Irritiert schnupperte die Gardistin ihm hinterher. Jetzt schien sie zu merken, dass der Gestank vom Adeligen ausging, nicht vom Jäger. "Puuh", entschlüpfte es ihr, gefolgt von einem verlegenen Räuspern.
"Nun zu Euch, Jägersmann! Wie mir scheint, habt Ihr Euch verlaufen. Marvin und Travis, ihr werdet ihn zu seiner Unterkunft begleiten. Stellt fest, ob der Firunsgeselle wirklich harmlos ist oder nicht. Natürlich nur, falls Ihr den Garten freiwillig verlasst, Herr Tuvok."
Der Jäger hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Birne war überaus lecker gewesen, gerade wollte er noch einmal hinein beißen. Nun stellte er fest, dass der Rest vollkommen verfault war, und von Maden nur so wimmelte. Angeekelt ließ er das matschige Obst fallen. Über ihm rauschte der Birnbaum. Es klang wie ein Seufzen.
Oder eine Warnung.
Haldana lenkte ihre Schritte nach Aldeburg, dem Rommilyser Stadtteil der Altvorderen und Patrizier. Hier, so hatte Alrik mitteilen können, befand sich das Stadthaus der Familie Baernfarn, dem auch das Handelshaus Romerzi angeschlossen war. Es war wohl schon etwa die achte Stunde. Bis wann, so überlegte sie, kann man in einem Adelshaus eigentlich vorsprechen, wenn man Aussicht darauf haben wollte, sofort vorgelassen zu werden. Aber sie brachte ja Kunde von einem anderen Adeligen. Da würde man schon auch am Abend noch Einlass bekommen. Wenn noch Licht brannte im Haus.
Haldana betrachtete das zweistöckige Fachwerkhaus, das schlicht und ohne unnötigen Zierrat am Marktplatz aufragte. Haldana lächelte. Wie hieß es doch allseits beim Hauskauf: Es kommt auf drei Dinge an, wenn man das richtige Haus finden möchte: Erstens die Lage, zweitens die Lage und drittens die Lage. So gesehen hatte man für das Handelshaus das richtige Objekt gefunden. Ein nicht zu großes Haus, in dem sich, wie Haldana mutmaßte, im Erdgeschoss das Büro des Handelskontors befand und darüber Wohnräume. Ein Repräsentativbau sieht aber anders aus, dachte Haldana. Vermutlich gehörte das Lagerhaus daneben dazu. Über der Tür hing ein an Ketten befestigtes, leicht im Wind schwingendes Schild. Handelskontor Romerzi stand darauf geschrieben, darunter ein schmiedeeisernes Abbild eines Planwagen. Das Wappen des Hauses Baernfarn suchte man vergeblich. Wenn man nicht um darum wusste, dass das Handelshaus Romerzi dem Gallyser Adelsgeschlecht gehörte, man wurde jedenfalls nicht anhand Beschilderung oder Dekoration darauf hingewiesen.
Haldana nahm den Eisenring mit dem Bärenkopf darauf in die Hand und klopfte an. Ein ergrauter Herr in der Kleidung eines Hausdieners öffnete nach kurzem Warten die Tür und sah die Besucherin mit fragendem Blick an.
„Die Zwölf zum Gruße, Haldana ist mein Name.“ Haldana konnte auch im reinsten Garethi sprechen. Sie hatte oft genug erfahren, dass ihr Dialekt außerhalb der Heimat bei weitem nicht jedem verständlich war. Am Vorabend, als mit Alrik ein Schwarzsichler an ihrem Tisch saß – ihre beiden Gefährten hatten sich ohnehin an ihren Dialekt gewöhnt – war das etwas anderes. Haldana war von Stolz auf ihre Heimat erfüllt, und konnte es daher nicht nachvollziehen, dass der Streunerbaron sich offenbar nicht wirklich zu seiner Heimat bekannte. Jedenfalls schien dieser, den Dialekt der Sichel zwar zu verstehen, nicht aber zu sprechen. Aber hier in Rommilys konnte sie nicht erwarten, dass ein jeder ihre schwer eingefärbte Aussprache verstand. Also wechselte sie in Hochgarethi.
„Ich suche einen Herrn Jodokus von Baernfarn. Ich bin geschickt worden, ihm eine Nachricht zu überbringen.“
„Aha. Da ist sie hier falsch.“ antwortete der Hausdiener mit gestelztem Tonfall. „Das Handelskontor dient dem Hause Baernfarn zwar auch als Unterkunft, sollte die Hochgeborene Familie in Rommilys weilen. Aber der Herr Jodokus, der nicht nur vorübergehend in der Capitale weilt, bewohnt natürlich mit seiner Gemahlin ein eigenes Domizil.“
Haldana neigte mitunter dazu, aufbrausend zu sein, aber sie hielt ihr Temperament in Zaum, obwohl es einem Diener nicht zustand, in der dritten Person mit ihr zu reden. Das durfte sich nur jemand erlauben, der vom höherem Stand als sein Gegenüber war. Und in einem adeligen Haushalt zu dienen reichte hierzu nicht aus. Aber offenbar bildete sich der Hausdiener etwas darauf ein, nicht in einem bürgerlichen Haus angestellt zu sein.
„Oh, verzeiht mir. Könnt ihr dann sagen, wo ich das Haus des Herrn Jodokus finde?“
„In der Svelinjagasse wird sie fündig werden. Sie kennt das Familienwappen? Dann wird sie das Haus auch erkennen. Gute Nacht.“
Der Hausdiener wartete keine Antwort ab, sondern schloss die Tür. Haldana überlegte sich kurz, ob sie über den unfreundlichen Diener zürnen sollte. Aber sie entschied sich dagegen. Der Mann war es nicht wert, und sie hatte die Auskunft erhalten, die sie brauchte. Und wo die Svelinjagasse war, wusste sie. Im Sturmschritt eilte sie weiter, bevor es zu spät war für einen Besuch im Haushalt dieses jungen Adeligen. Es durfte schon auf die neunte Stunde zugehen.
Haldana bog nach links in eine Gasse ein. Dann rechts. Am Brunnen vorbei und dann über den Gänsemarkt zur Svelinjagasse. Ein vierstöckige Gebäude – das höchste in dieser Gasse – war mit dem einem Wappenschild mit dem ihr bekannten Bärenwappen gekennzeichnet. Zum zweiten mal innerhalb einer Viertelstunde griff sie nach dem Türring – ebenfalls mit dem Familienwappen gekennzeichnet - und klopfte an die Tür. Eine über einen Schritt breite, eisenbeschlagene und mit Schnitzereien verzierte Tür. Haldana hatte ein wenig Zeit, das Gebäude von außen zu betrachten, bis man sie einließ. Ein Patrizierhaus, mit aufgesetzten Säulen und kunstvoll aufgemalten Fensterrahmen an der Außenmauer. Ein Haus, dem man ansah, dass es von einem reichen Bürger gebaut worden war, der seinen Wohlstand zur Schau tragen wollte. Nicht unbedingt passend zu einem Adeligen aus der Sichel, die mehrheitlich Wert auf Zweckmäßigkeit und Verteidigungsbereitschaft legten. Aber gut. Sie war hier in Rommilys, nicht im Gebirge.
Endlich hörte sie Schritte hinter der Haustür und das scharrende Geräusch, das ein zurück geschoben werdender Riegel verursachte. Eine Magd öffnete eine kleine Luke in der Tür und spähte nach draußen. „Ja?“
„Gestatten, Haldana, die Herrin Travia zum Gruß!“ begann Haldana. „Ich bringe Botschaft für den Herrn Jodokus von Baernfarn. Dringende Botschaft, die ich persönlich überbringen soll. Aus der Baronie Friedwang.“ begann Haldana. Es war noch nicht zu spät. Aus dem Salon war noch Licht zu erkennen.
„Bitte wartet einen Moment. Ich werde es der Herrschaft melden.“
Das war schon mal eine andere Anrede als zu vor im Handelshaus, dachte Haldana und sah durch die Luke, wie die Magd zum Salon eilte. Leise hörte sie, wie sie berichtete.
„Herrin Irmelinde, Herr Jodokus. Ein Mädchen mit seltsamer Frisur erbittet Einlass. Sie sagt, sie bringt Kunde aus Friedwang.“
„Dann bringe sie herein, Cella“ hörte Haldana die würdevoll klingende Stimme einer älteren Dame. „Wir haben ohnehin zu Ende gespeist. Führe sie in das kleine Kontor. Wir kommen dann gleich.“
Haldana warf einen Blick in das Innere des Hauses, nachdem die Magd Cella die Tür geöffnet hatte. Der Hausflur war für sich schon beeindruckend. Gegenüber der Eingangstür war, zwischen der Treppe nach oben und der Tür zum Salon, ein großes Wandgemälde angebracht. Ein verästelter Baum war dort gemalt. Mit Namensschildern und Jahreszahlen verziert. Ein Stammbaum. Allerdings nicht, wie sie rasch erkannte, der Stammbaum des Hauses Baernfarn. Wäre dem so, sie hätte ihr bekannte Namen entziffern können. Die Namen auf dem Stammbaum klangen bürgerlich. Richtig, erinnerte sich Haldana. Dass dieser Baernfarnspross eine reiche Bürgerliche geheiratet hat, war auch bis in die Täler der Sichelberge durchgedrungen. Und zu Geld gekommene Bürgerliche legten, wie sie wusste, weit mehr Wert auf Status und zur Schau gestellter Abstammung als die meisten Sichelbarone, die sich nichts beweisen mussten.
Haldana folgte der Magd nach links durch eine Tür. Ein Schreibzimmer, zahlreiche Bücher und Schriftrollen befanden sich in den Regalen an der Wand. Ein Schreibpult, mit Feder und Tinte stand in der Mitte des Zimmers. An der Wand unter dem Fenster war ein kleiner, mit Intarsien belegter Schreibtisch. Die Magd hieß Haldana auf einem Stuhl Platz zu nehmen und zu warten. Interessiert blickte Haldana über die Bücher, die auf dem Wandbord über dem Tisch standen. Bücher waren unter dem gehobenen Bürgertum immer auch eine Visitenkarte, das wusste sie. Nicht nur als Nachschlagewerk, auch als Zurschaustellung von Wissen und Wohlstand diente das gut sortierte Bücherbord gerade in Kaufmannsfamilien. Prems Tierleben, las Haldana. Daneben das Kompendium Sanins, eine Sammlung zahlreicher Landkarten und Wegbeschreibungen, die nach dem berühmten Entdecker und Seefahrer benannt waren. Einige Kompendien über Recht, Handel und Steuer. Trockene Materie, wie Haldana einschätzte. Dazu die Enzyklopedia Historica, die Niederschrift der Geschichte des Raulschen Reiches. Letzteres war durch den Buchdruck in größerer Auflage vorhanden und damit keine völlige Kostbarkeit mehr im Vergleich zu handschriftlich gefertigten Büchern, aber durchaus wertvoll zu nennen.
Haldana stand auf, als die Tür sich erneut öffnete und ein junger, edel gekleideter Mann und eine ältere Dame ins Kontor eintraten.
„Du bist also die Haldana, die mich sprechen wollte?“ eröffnete der junge Mann. „Den Herren Firun zum Gruß. Was also kannst du uns berichten?“
Haldana verneigte sich. „Die Zwölf zum Gruß, Hochgeboren, Die Zwölf zum Gruß, edle Dame. Der Herr von Friedwang schickt mich mit einer Nachricht zu Euch. Zu Euch persönlich, Herr von Baernfarn.“
„Sprecht ohne Bedenken. Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Gemahlin.“
Beinahe hätte Haldana aufgelacht. Ihr Mundwinkel zuckte leicht, aber sie konnte sich beherrschen. Sie hätte statt `Gemahlin` eher die Bezeichnung `Großmutter` erwartet. Aber sie fing sich rasch wieder und ließ sich nichts anmerken. Jodokus seinerseits war fasziniert von dem hälftig kahlgeschorenen Kopf der Besucherin.
„G… gewiss. Ich wurde geschickt von Seiner Hochgeboren, Baron Alrik von Friedwang. Der Baron bittet um eine dringende Unterredung.“ begann Haldana, die sich wieder gefangen hatte.
„Ah, ja, natürlich.“ Jodokus brauchte einen Augenblick, um seine Gedanken von der Botin auf den Friedwanger zurück zu lenken. Er kannte den Baron vom Steinbockthron nicht persönlich, aber er hatte im Familienkreis über ihn gehört. Im allgemeinen wurde der Friedwanger als Freund und Verbündeter unter den Sichelbaronen betrachtet. Der alte Odilon brachte ihm Vertrauen entgegen, auch wenn er, insbesondere wenn es ums finanzielle ging, dennoch zu Vorsicht riet. Aber das sprach schon einmal für Alrik. „Was hindert den Baron, selbst zu mir zu kommen?“ hakte Jodokus nach.
„Ich habe im Stadtrat heute Nachmittag davon gehört.“ warf Irmelinde ein. „Delikate Angelegenheit. Offenbar ist der Baron… erkrankt. Eine üble Seuche. Vermutlich ansteckend. Er hat gegen die ärztlich angeordnete Quarantäne verstoßen. Daher fahndet die Stadtgarde nach ihm. Ehrlich gesagt, Jodokus, du solltest ihn nicht empfangen. Jedenfalls nicht, solange die Stadtgarde nach ihm fahndet. Die Freundschaft zwischen Euren Häusern in Ehren, mein Guter. Aber wenn er gegen hiesige Vorschriften verstoßen hat und die Büttel auf der Jagd nach ihm sind… Das kann Deinen Ruf nachhaltig schädigen, wenn du ihn heimlich hier empfängst. Wenn irgend eine geschwätzige Seele ihn sieht. Nein, Haldana. Das geht nicht. Wir können Euren Herrn im Augenblick nicht empfangen.“
Jodokus nickte. Was Irmelinde sagte, war stichhaltig. Und er konnte auch nicht gegen den Willen seiner Gemahlin hier im Haus Besuch empfangen. Zudem, wenn es stimmte, dass der Baron eine ansteckende Krankheit hatte… Nicht auszudenken.
Haldana warf einen Blick von Jodokus zu Irmelinde. Besonders traviagefällig schien die Ehe ja nicht zu sein. Wohl eher phexgefällig. Innerlich spürte Haldana Abscheu, bei dem Gedanken daran, jemanden aus rein finanzieller Absicht zu ehelichen. Die Ehe war heilig, insbesondere in der traviagefälligen Rommilyser Mark sollte das Beachtung finden. Und auch in der Sichel, wo man vielerorts eher Firun als Travia in Ehren hielt, oder mancherorts sogar die Alten Kulte, war die Ehe dennoch etwas Heiliges und Geachtetes. Aber diesem Jodokus schien das nicht wichtig zu sein. `Schnösel`, dachte sie, zu Jodokus gerichtet.
„Ja, die Sache ist heikel. Der Baron hat einen Ausschlag, aber er geht nicht von einer Erkrankung aus, sondern von einer Vergiftung. Eine Vergiftung, die krankheitsähnliche Symptome hervorruft. Deswegen aber möchte er Euch nicht sprechen. Jedenfalls nicht allein deswegen. Der Herr Baron hat Grund zu der Annahme, dass derjenige, der ihn vergiftet hat, auch Euch übel mitspielen will. Er möchte Euch daher warnen und gerne gemeinsam überlegen, wie man die Häuser Friedwang und Baernfarn vor Schaden bewahren kann.“
„Hmm“ Jodokus setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Ich hatte noch nie selbst das Vergnügen mit Seiner Hochgeboren zu parlieren. Im Normalfall wäre es mir ein außerordentliches Vergnügen.“
„Der Herr Baron ist sich dessen bewusst.“ so leicht wollte Haldana nicht aufgeben. „Es muss ja auch kein Treffen hier in Eurem Haus sein. Sagt mir, wo er Euch morgen unauffällig treffen kann.“
Jodokus blickte die junge Frau an. Er konnte seine Augen schwer von der kahlen linken Kopfhälfte lösen. Wer ein so schönes Haar hat, sollte seine Frisur nicht derart zuschanden richten, dachte er. Trotzdem, nett anzusehen war sie durchaus, trotz, vielleicht sogar wegen der ungewöhnlichen Haartracht. Den Friedwanger Baron zu empfangen würde auch eine Gelegenheit mit sich bringen, die junge Frau wieder zu treffen. Das wäre sicher reizvoll. Seine Ehe mit Irmelinde war schließlich eine rein geschäftliche Vereinbarung.
„Ihr sagt, auch der Name meiner Familie wäre in Gefahr?“ hakte Jodokus nach.
„Ja. Offenbar hat derjenige, der das Gift in Umlauf brachte, dies unter Eurem Namen getan. Er verwendet jedenfalls Euer Familienwappen, wenn er damit Handlanger bezahlt. Was immer dieser jemand vor hat, es wird Euch nicht zum Vorteil gereichen.“
Irmelinde öffnete erschrocken den Mund. „Deine Börse, Jodokus. Die dieser Raberto gestohlen hat. Trug die nicht das Familienwappen?“
Jodokus nickte. Nunmehr brauchte er keine geschickte Ausrede mehr vor seiner Frau, um Alrik – und damit diese Haldana – wieder zu treffen.
„Gut. Ich sehe schon, ich werde mich mit Alrik treffen müssen. Das ist doch zu heikel, um nicht beachtet zu werden. Du kannst den Baron zu mir bringen… aber nicht hierher in unser Haus. Kann Alrik sich frei in der Stadt bewegen? Unauffällig meine ich? Man nennt ihn ja als den Streunerbaron, ich nehme an, er schafft das.“
Haldana nickte. „Ich denke schon. Ich werde ihn hinbringen, wo Ihr es vorschlagt.“
„Dann soll er morgen in die Brauerei kommen. Unauffällig gekleidet und nicht als er selbst zu erkennen, versteht sich. Gekleidet wie ein einfacher Mann. Ich bin tagsüber meist in der Brauerei. Es ist nichts ungewöhnliches, dass immer wieder jemand auf der Suche nach Arbeit in der Brauerei vorspricht. Ich pflege, mein Personal immer selbst einzustellen. Man wird ihn also zu mir bringen, wenn er um Arbeit nachfragt. Keiner meiner Angestellten wird irgend einen Verdacht schöpfen, also wird auch keiner zum Tratschen anfangen.“ Innerlich war Jodokus stolz auf seinen Einfall. Die Brauerei war tatsächlich ein idealer Ort. Und so würde er morgen mehr erfahren über das, was dem alten Friedwangen widerfahren war. Und er würde die blonde halbhaarige wieder treffen. Ohne seine Gemahlin.
Haldana nickte. „Ich werde es dem Baron so bestellen. Eine gute Idee.“ Die Musikantin verabschiedete sich.