11. Kapitel
11. Kapitel
Das Unwetter vom Kurgasberg
Sanft knisterten die Flammen der Pechfackel, die Korwid entfacht hatte.
Der Medicus duckte sich und betrat den Stollen. Alte Spinnweben strichen ihm durchs Gesicht, ebenso Wurzelwerk. Grüner Farn hatte den Eingang zur Mine fast zu gewuchert. Ein paar verrottete Bretter mit rostigen Nägeln lagen im hüfthohen Gras: eine Erinnerung daran, dass der Zugang einmal verrammelt gewesen war. Auf einer der durchgemorschten, graubraunen Bohlen war sogar noch die Farbe zu erahnen. Irgendein verirrter Geweihter hatte einmal Bannzeichen hinterlassen, an diesem vermeintlichen Zugang zu den Niederhöllen.
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. Doctor Alfengrund kam das Zitat eines horasischen Poeten in den Sinn. Der Rommilyser lächelte spöttisch. Volkstümlicher Aberglauben, nichts weiter. Ein Pestmännchen sollte tief im Inneren des Berges hausen, und die Bergleute vertrieben haben, aus Zorn, dass sie in ihrer Gier nach Silber immer weiter in sein Reich vorgedrungen waren. Angeblich hatte der Kobold eine große, grüne Wolke aufsteigen lassen, die Sieche und Tod brachte. Vielleicht saß dort unten auch das Pechmanderl, das den Kindern die Augen verklebte, mit Zirbenpech, um sie zum Schlafen zu bringen. Wer wusste das schon?
Einen Moment lang starrte er tatsächlich in vollkommene Schwärze, bis sich seine Augen an das Wechselspiel von flackerndem Fackelschein, Schatten und Dunkelheit gewohnt hatten. Der Gang roch muffig, das Regenwasser war, auf leicht abschüssiger Strecke, tief in den Stollen hineingelaufen. Dahinter war es im Berg angenehm trocken, sogar warm, jedenfalls im Vergleich zur feuchten Höhenluft draußen. Eine Ratte ergriff die Flucht. Rötlich spiegelte sich der Fackelschein an den Wänden.
Im Boden waren verrottete Holzschienen zu erahnen, die nur noch Stolperfallen waren. Vorsichtig und gebeugt folgte Korwid dem Verlauf des nicht ganz mannshohen Tunnels. Die Stützbalken wirkten morsch, waren krumm und hie und da umgestürzt, so dass man sie übersteigen musste. Einsturzgefährdet schien der Stollen aber nicht zu sein. Der Medicus musste nur darauf achten, nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Wann immer er das graubraune Gestein streife, bröckelte sacht Steinstaub herab, manchmal auch das eine oder andere Steinchen.
Er blickte zurück, zum Eingang, wo der wolkenverhangene Bergwald der Trollzacken noch zu erahnen war. Irgendwo in der Ferne heulten Wölfe, gefolgt vom Grollen eines Gewitters. Vielleicht war es auch ein schwerer Steinschlag, der gerade ins Tal donnerte.
Die Silbermine vom Kurgasberg. Alfengrund hätte sich schon unter Tage unwohl gefühlt. Aber das einstige Bergwerk befand sich auch noch inmitten götterverlassener Wildnis. Das Geisterdorf zu Füßen des Kurgas- oder Kurgansbergs, es war kaum mehr als eine armselige Ansammlung von Ruinen und Steinhaufen, überwuchert von Gestrüpp. Die Pecher, die in der Gegend verstreut das Baumharz ernteten - sie waren der Meinung, dass der Berg wie ein geduckter, buntbemalter Trollzacker aussah, auf seinem Reittier: ein Kurga eben, zumindest wenn das Sonnenlicht merkwürdige gezackte Muster auf die Flanken zeichnete. Beilfels wurde der Ausläufer genannt, an dessen Fuß sich der Eingang zur Unterwelt befand.
Niemand wusste mehr zu sagen, ob das Geisterdorf da unten, neben dem Geröllfeld des türkisfarbenen Loderbachs, wirklich einmal Kurgasberg (oder Kurgansberg) geheißen hatte. Die Pechhacker, in ihren abgelegenen Berghütten, waren froh, mit dem einstigen Dorfplatz überhaupt so etwas wie einen Lebensmittelpunkt zu besitzen. Wo sie ihr Pech verkaufen konnten, das sie manchmal in Butten zu Tal trugen, auf dem eigenen Rücken, gelegentlich auch mit einem Schlitten oder auf einen Esel gepackt. Drei bis vier Ernten gab es im Jahr. Ein, zwei Mal kamen die Händler aus Rommilys und füllten die klebrige Ware um. Dann herrschte Festtagsstimmung in der Bergeinsamkeit.
Korwid kannte diese Welt zur Genüge. Eines Tages, er war noch keine zehn Götterläufe alt gewesen, hatten sie ihn nach Rommilys mitgenommen, die Pechhändler. Seinen Eltern abgekauft, um genau zu sein, diesen armen Hungerleidern. Mutter war krank gewesen, der Winter hart und ein Heiler teuer. Sein Opfer war nicht umsonst gewesen, hatte er später erfahren.
Billige Arbeitskräfte waren in der Fürstenstadt begehrt. Niemand war billiger als die schmutzigen, zotteligen, in Lumpen gehüllten "Trollkinder" aus den Bergen. Rommilys war groß und prachtvoll, eine Stadt mit vielen Kaminen.
Als Schornsteinfeger hatte er seine steile Karriere begonnen, gerade klein und schmächtig genug, um für die hohen Herren in den Kamin zu klettern und ihnen aufs Dach zu steigen.
Es gab jede Menge Schläge und Fußtritte vom Meister. Staub und Asche legten sich auf die Lungen, wenn man sich kein Tuch vor Mund und Nase band. Der Blick über die Dächer von Rommilys, bis zum Schloss und zu den Darpatfällen, entschädigte für einiges. Es war ein Anblick, der Ehrgeiz in einem Trollkind wecken konnte, das mit seinem rußverschmierten Gesicht einem kleinen Schwarzpelz fast noch ähnlicher sah als einem jungen Bergschrat.
Korwid konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er seinem Wohltäter begegnet war. Im Adelspalais in der Bockengasse war das gewesen, wo er öfters die Aschekruste von der Innenwand des Kamins kratzte. Der hohe Herr und seine Gemahlin hatten ihn sofort gemocht, aus jenen unerfindlichen Gründen heraus, die vom ersten Augenblick an ein Band der Sympathie zwischen Menschen zu knüpfen vermochte. Eines Tages hatte sich Wolpert, der junge, unerfahrene Teckel des Herrn, in einen Dachsbau verirrt, vor den Toren der Fürstenstadt. War steckengeblieben, jaulte und winselte zum Göttererbarmen. Alles Graben war vergeblich. Seine Wohlgeboren hatte Korwid herbeiholen lassen, wohl wissend, dass der sich vor Schmutz, Dunkelheit und Enge nicht fürchtete. Als er in den Schlund der Erde gekrochen war, Wolpert gerettet und dessen Blessuren verarztet hatte, Dachsbisse gingen tief - da war das Eis zwischen ihm und seinem Wohltäter endgültig gebrochen.
"Wir beide haben vieles gemeinsam", hatte der Edelmann zu ihm gesagt. Einen Moment lang hatte sich Gerrich an seinem Erstaunen geweidet, als er, der hohe Herr, ihm, den armen, erdverschmierten Trollbergbub, begütigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte: eine blasse, vornehme, zarte Hand mit einem silbernen Siegelring, den ein Steinbockwappen geziert hatte. "Du musst wissen, ich beschäftige mich ebenfalls mit der Schwarzen Kunst - zumindest sagen mir übelmeinende Leute das nach. In Wahrheit möchte ich einfach nur hoch hinaus. So wie du. Das sehe ich dir an. Denn ich sehe vieles, was andere Menschen nicht sehen. Auch diese Gabe haben wir gemeinsam."
Gerrich Praionald von Friedwang, Edler zu Rommilys. Ein Magier, der aufgrund von Madas Gabe, die immer auch ein Fluch war in den praiosfürchtigen Landen, auf sämtliche Güter und Lehen hatte verzichten müssen, wie es ein altes Gesetz aus der Rohalszeit verlangte. Niemand wusste so recht, woher Gerrichs glänzenden Golddukaten kamen, nur dass er reichlich davon hatte, im Friedwanger Haus in der Bockengasse.
Eine Ausbildung, ein anständiges Leben, hatte ihm der Herr zur Belohnung versprochen, welchen Beruf - welchen wahren Beruf er auch immer ergreifen wolle. "Medicus" hatte Korwid wie aus der Armbrust geschossen gesagt und sich über sich selbst gewundert.
Korwid ging tiefer ins Dunkle hinein, das im Lichtschein immer mehr zurückwich.
Ganz von ungefähr kam sein Interesse an Körpersäften, am verborgenen Innenleben von Mensch oder Tier nicht.
Er war ja der Sohn eines Pechers, und hatte von Kindesbeinen an erlebt, wie Vater tiefe Wunden in die Stämme von Fichten, Kiefern und Föhren geschlagen hatte, mit seiner Dechsel und anderen Werkzeugen, die mehr an Foltergeräte erinnerten. Von den Scharten aus war das gelbbräunliche Blut der Bäume in die Pechbecher getropft. Gerade so viel, dass der alte Baum am Leben blieb. Als Kind war ihm das ungemein grausam und eigennützig vorgekommen. Fast schon ein wenig perainelästerlich. Aber es hatte ihn auch - fasziniert. Es gab viele Methoden, Pech zu gewinnen: manchmal musste man dazu mit einer Leiter den Stamm hinaufsteigen. Manchmal wurde unten einfach nur ein "Schrott" ins Holz geschlagen, um dort das Harz zu sammeln.
Der spitze Stab, mit dem der aufgehackte Stamm geputzt wurde, er wurde zugleich als Kerbholz genutzt, das anzeigte, aus wie vielen Bäumen das künftige Pech bereits tropfte. Rowisch, nannten die Pechhacker das Werkzeug, eines von vielen. Wie ein mächtiger Zauberstab war ihm dieser Holzstab vorgekommen, damals, in seinen Kindertagen. Gerrichs fein gedrechselter Stab hatte ihn auf Anhieb daran erinnert. Etwas auf dem Kerbholz haben: Das Sprichwort hatte er nie richtig verstanden. Was anderen als Makel erschien, war für ihn ein Maßstab für Erfolg.
Kerbholz, das Wort klang für ihn wie Kerbhold: Der Ketzer, der im Goldenen Wald die Menschen zum Unglauben an den Namenlosen verführt hatte und zur Strafe auf einen Fliegenden Felsen verbannt worden war. Schon als Jüngling hatte er über die Sage eher gelächelt. Kerbhold, der Name wirkte eher trollig als bedrohlich. Kein Wald war golden, außer das klebrige, übelriechende Harz. Aus dem auch der Bernstein entstand, der angeblich PRAios, dem Herrn, heilig sein sollte. Wie konnte Harz dem Götterfürsten heilig sein, wenn es kleine, unschuldige Ameisen, Fliegen und andere Insekten umfloss, erstickte und für immer in einem goldenen Kerker einschloss, wie er es selbst schon gesehen hatte? Ein durch die Lüfte fliegender Fels, die Vorstellung war ohnehin lächerlich gewesen (nun, diesbezüglich war er eines Besseren belehrt worden, damals in Wehrheim).
Wie auch immer. Die Sache mit dem Kerbholz hatte ihn nie ganz losgelassen. Er trug noch immer so einen Rowisch bei sich, auch jetzt, im Gürtel, neben dem Dolch. Eine feste Tradition, vielleicht auch eine Marotte. Nach jeder Sünde, nein, nach jeder vermeintlichen Missetat, hinterließ er dort eine weitere Kerbe, nach jedem echten Frevel ein Sternchen. Es war, als würde damit die Sünde auf das Holz übergehen. Die erste Kerbe hatte er sich erworben, als er seiner dummen, kleinen Schwester beinahe das Auge ausgestochen hatte, beim Ritterspielen. Ein Versehen.
Nun ja, vielleicht nicht ganz ein Versehen.
Die Accademia Magica Curativa, die Anatomische Akademie zu Vinsalt. Dort hatte Korwid seinen "Dottore" erworben, an der "weltlichen" Fakultät, mit Mühsal und Fleiß. Und dabei reichlich Gelegenheit gehabt, Menschen die "Rinde" abzuziehen. Die anders als die Bäume von Kurgasberg nicht mehr der Sphäre der Lebenden angehörten. Getreu dem Wahlspruch des Instituts: Hic gaudet mors succurrere vitae. Hier ist der Ort, wo der Tod dem Leben freudig zur Hilfe eilt.
Es war eine wunderbare Zeit gewesen, vor den Toren des horaskaiserlichen Palasts, in der Tausendtürmigen Stadt. Der Unterschied zur erstickenden Enge und Finsternis, die zuhause, im Raulschen Reich herrschte - nicht nur in den Kaminschächten, sondern auch in den Köpfen ihrer Besitzer - hätte kaum größer sein können. Ganz abgesehen von den vielen anderen Reizen des Lieblichen Feldes: Amore, Vino, Lautenklang und Opernsang. Der laue Sommerwind, das Zirpen der Zikaden, die prachtvollen Gewänder, die vornehme Lebensart. Die Erinnerung an die verschneiten Trollzacken war damals so unwirklich gewesen wie eine Moritat über die Zwölfgöttliche Verdammnis.
Mit Dottore Corvidio Albigundi, pardon, Doctor Alfengrund war ein anderer Mensch nach Darpatien zurückgekehrt, in mehr als nur einer Hinsicht. Eine Zeitlang hatte das einstige Kaminfeger-Kind schon auf Dere wie in Peraines Paradies gelebt.
Auch wenn bei weitem nicht jeder im Spital oder Tempel Verständnis für horasische Heil- und Forschungsmethoden aufbrachte. Heiler, die unter einem Dach mit Magiern Peraines Kunst erlernten? Heiliger Therbûn, steh uns bei! Bücher mit Geheimwissen, aus dem Reich der Rastullah-Anbeter, einschließlich einem tiefen Blick in die Leiber der Sterblichen? Praios bewahre!
Hätten diese Frömmler geahnt, wie oft er selbst zum Seziermesser gegriffen und das aufgeschnittene tote Fleisch mit Haken offen gehalten hatte, damals in Vinsalt - wahrscheinlich hätten sie ihn sofort hinauf zum Greifenplatz gezerrt. Oder gleich lebend beerdigt, drüben auf dem Boronanger.
Doctor Alfengrund hatte sich beizeiten zu verstellen gelernt. Sich mit einem Schutzmantel und einer Storchenmaske umgeben, auch im übertragenen Wortsinn. Hatte sich gewappnet, gegen das Miasma der Krankheit ebenso wie gegen die Ausdünstungen falsch verstandener Götterfürchtigkeit. Dennoch, schon seine niedere Herkunft hatte an ihm geklebt wie unsichtbares Pech. Selbst wenn diese Neidhammel und Ignoranten nicht die ganze Geschichte kannten. Sie ahnten wohl, dass er nur durch einen mächtigen Förderer in die feinsten Kreise der Fürstenstadt aufgestiegen war. Die Großzügigkeit, mit denen er dabei den Armen und Ausgestoßenen half, eingedenk seines eigenen Schicksals, reizte seine Feinde fast noch mehr, als wenn er fürstlicher Leibarzt geworden wäre.
Natürlich hatte Korwids schwindelerregender Aufstieg vom Niemand zum geachteten Bürger seinen Preis gehabt, wie alles im Leben. Gerrich hatte sich die Originalformel des TRANSMUTARE ausbedungen, die damals noch in der Accademia verwahrt worden war - ein profaner Verschönerungszauber, mit dem man die menschliche Gestalt über längere Zeit verändern konnte. Der entsprechende Geschäftszweig der Akademie war damals aufgelöst worden, wegen "mangelnder Ernsthaftigkeit der Forschungen", wie es hieß. Die Beschaffung des Folianten war verblüffend einfach gewesen, in einer Zeit des Chaos, als sich mit der lukrativen Einnahmequelle der "Fakultät" auch deren Ordnung aufgelöst hatte: das erste, wohlverdiente Sternchen auf seinem Rowisch.
Gerrich, sein Förderer. Erst nach und nach hatte er begriffen, dass ihm nicht nur seine Adelsgüter verweigert worden waren. Vor vielen Jahren hatte er auch sein Zaubersiegel verloren und die sogenannte Expurgico erlitten, den Ausschluss aus der Gilde. Seitdem hatte der "Hexer von Rommilys" neue Wege gefunden, den Inhalt seines Dukatensäckels aufzubessern. Von Glücksspiel war die Rede und all zu guten Kontakten zur Unterwelt von Rommilys. Korwid war es gleich. Wohin moralische Gefallsucht den Menschen bringen konnte, das führten ihm die bornierten, engstirnigen Rommilyser Perainediener jeden Tag aufs Neue vor Augen.
Dann war der fürchterliche Bethanierkrieg über Darpatien und das Reich hereingebrochen. Gerrich hatte sich verändert, Korwid nicht, auch wenn einige das behaupteten. Ein Krieg war im Grunde nichts anderes als ein Skalpell, das alles Morsche, Verrottete und Schwache wegschnitt - und das Innerste des Menschen zeigte, wie er in Wirklichkeit war. Hässlich, stinkend, ekelerregend. In diesem Fall half nur nüchterner, kalter Verstand über die Abgründe hinweg.
Den musste sein Mentor aber irgendwann verloren haben, in den letzten, unseligen Götterläufen. Spätestens als Lorena, seine Gemahlin, umgekommen war, in einem der vielen Hunger- und Pestwinter. Sisa, dieses verruchte Hexenweib, hatte sicherlich ihren Anteil daran gehabt. Sogar von einem finsteren Pakt mit den Mächten der Anti-Peraine war die Rede. Korwid beurteilte selbst solche Dinge nicht moralisch. Wer so verzweifelt war, seine Seele den Niederhöllen zu verpfänden, der hatte seine Gründe. Aber Wahnsinn war noch einmal etwas völlig anderes, auch und gerade da, wo er schleichend in die Herzen der Menschen kroch.
Gerrich und Sisa waren verrückt, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Das Schlimmste war, dass er, Korwid, Ihnen womöglich sogar die Ideen zu ihren wahnwitzigen Plänen eingeflößt hatte. Dieses groteske Fliegende Fass der Hexe: Was war es mehr als eine Nachäffung von Galottas Fliegender Festung, deren Zerstörungswerk er in Wehrheim selbst erlebt hatte? Erlebt und überlebt. Gerrich und seine Mätresse hatten seine Erzählung vom grauenhaften Untergang des "Stählernen Herz des Reiches" einfach nur - interessant gefunden.
Der Schmuggel dieses grünen kriechenden Schleims im Pech aus Kurgasberg: Letzten Endes war es Korwids Leben, sein altes Leben, in das sie sich nun immer mehr einmischten. Das Unheiligtum der Faulenden Monarchin des Ewigen Siechtums, das hatten sie ihm geradewegs vor den Gutshof gestellt. Schlussendlich der TRANSMUTARE: Die Thesis hatte er Gerrich beschafft, der damit vor allem sein Aussehen hatte verjüngen wollen.
Korwid hegte allerdings den Verdacht, dass Gerrichs vermeintlicher Enkel Golo nicht einmal der echte Junker von Gießenborn war. Der sollte schon vor vielen Jahren umgekommen sein, als Jünger des Namenlosen. Womöglich verbarg sich hinter dem Wiedergänger nur ein armer, ehrgeiziger Narr, der als Spielzeug in Gerrichs (oder Sisas) Klauen geraten war. So wie es ihm geschehen war, dem einstigen Pechvogel aus Kurgansberg. Ein neuer Jünger, den sie nun nach Belieben formen konnte, im Wortsinn. Einem Gerücht zufolge sollte es sich dabei um einen von Golos verflossenen Liebhabern handeln. Der wahrscheinlich auch noch stolz darauf war, nun mit schiefen Hals und selemitischer Visage über Dere zu schlurchen.
Das war alles nur noch Wahnwitz und Bosheit, ebenso wie die Räuberbande, die sich unten im Geisterdorf eingenistet hatte, und die armen Pecherdrangsalierte. Aber vielleicht hatte Gerrichs Wahnsinn auch Methode. Heiratsfähige Nachkommen waren das Kapital eines Edelmanns, ebenso wie dessen Güter. Anders als sein Großvater sollte Golo über Ländereien verfügen, irgendwo in der Sichel. Man munkelte, dass der Edle zu Rommilys seinen Enkel partout unter die Haube bringen wollte, natürlich lukrativ.
Korwid erreichte nun die Stelle, wo ein "Hunt" auf den Schienenreste ruhte, ein hölzerner Wagen, dessen eiserne Beschläge völlig verrostet waren. Im Inneren der primitiven Lore befand sich sogar noch etwas Abraumschutt.
Der Medicus zwängte sich vorsichtig durch die Engstelle hindurch. Nach einigen Schritten kam er zu einer Abzweigung, die nach links führte. Erschrocken duckte er sich, als scharrend ein schwarzer Schatten an der Decke entlang flatterte. Eine Fledermaus, nichts weiter. Unten in der Zweiten Sohle hatten sie ihre Kolonie, wo sie kopfüber hingen, als Geschöpfe der ewigen Nacht.
Korwid schluckte und hielt die Fackel höher, seine Waffe im Kampf gegen die Finsternis. Der Nebengang, dem er nun folgte, erinnerte ihn irgendwie an die Kamine von Rommilys, in die er damals hineingekrochen war. Ein kurzes Stück lang musste er sich auf allen Vieren fortbewegen.
Dort vorne war er auch schon: der Aufzug hinab in den Kerker, in den er Selina und die Kinder hinabgelassen hatte. In der unteren Sohle gab es keinen Ausgang. Natürlich hatte er den Gefangenen Talglichter, Wasser, Brot, Schinken und Käse mitgegeben. Sogar Decken. Aber Korwid musste zugeben, dass sein Vorgehen grausam gewesen war.
Die Seilwinde war in einem erstaunlich guten Zustand, ebenso wie das Seil selbst - vermutlich lag es an der trockenen Luft. In der Ecke lag sogar noch ein fast intaktes "Arschleder", mit dem die Bergleute einst in den schrägen Schächten nach unten gerutscht waren. Er griff nach dem kleinen Kerbholz in seinem Gürtel. Die Verschleppung der Familie des Braumeisters war die letzte Kerbe gewesen.
Die Handhaspel sah aus wie eine Brunnenwinde, der kreisrunde Schacht darunter führte senkrecht in die Tiefe. Am Seil war ein schlichter Holzkasten befestigt, der als Aufzug diente.
"Selina". Korwid rief lauter: "Selina!"
I-na. I-na-I-na.
"Selina Krummbacher?!"
Acher, acher, acher, seufzte das Echo. Nichts, keine Antwort. Nicht einmal Kinderweinen, wie beim letzten Mal.
Der Medicus nahm einen kleinen Stein und ließ in die Tiefe fallen. Klackernd prallte er von den Seitenwänden ab. Ein dumpfes Pocken zeigte den Aufschlag an. Besonders tief war der Schacht nicht. Immer noch keine Reaktion, kein Licht, keine Stimmen.
Der Medicus leckte sich über die trockenen Lippen. Was wollte er hier überhaupt?
Nach seinen Gefangenen sehen, sicher... und dann?
"Selina Krummbacher" sagte er halblaut und wartete, bis das matte Echo verklungen war.
"Versteht mich richtig...ich, also mir...es geht mir vor allem um Eure Sicherheit..."
Eit...eit...eit...
Befreien. Vielleicht wollte, sollte er seine Opfer ja befreien. Und dann selbst fliehen?! Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie war er überhaupt so weit gekommen? Er war doch kein schlechter Mensch. Verlor er selber schon den Verstand? "Dottore Corvidio Albigundi" musste zugeben, dass er, der große Heilkundige aus dem Horasreich, sich wenig mit Krankheiten des Geistes auskannte. Die waren nun mal ein Fall für die Noioniten. Oder man schickte sie den Darpat hinunter, zur Halle der Austreibung nach Perricum. Dort wäre ein irrer Magier wie Gerrich sicher gut aufgehoben gewesen.
Sein "Gönner" hatte ihn beauftragt, Mutter und Kinder nach Kurgasberg zu bringen und sicher einzusperren, zu deren eigenen Sicherheit. Vielleicht machte das sogar Sinn. Wenn demnächst das Chaos in Rommilys losbrach, konnten die Krummbachers ihm sogar dankbar sein.
Vielleicht wusste der Magier ja doch noch, was er tat. Ihm verdankte sein Schüler doch alles. Natürlich würde Korwid sich niemals auf einen Pakt einlassen. Im Krieg hatte er oft genug erlebt, was Dämonenbündelei bedeutete. Aber dennoch, er hatte auch miterlebt, über welche Macht die Siebte Sphäre verfügte.
Wer heilt, hat Recht.
Wenn Peraines Macht begrenzt war, und das war sie nun mal, nach allem, was er die letzten Jahre erlebt hatte. Nun, da musste sich der wahre Heiler eben mit Mächten zusammentun, die selbst in ausweglos scheinenden Fällen noch helfen konnten. Ohne ihnen dabei zu verfallen. Wenn diesen Spießbürgern im Spital Borons Gebote wichtiger war als das Wohlergehen ihrer Patienten, wenn sie eine kalte, ausgebuddelte Leiche höher schätzten als das Leben ihrer Schutzbefohlenen, dann verdienten sie ein wenig Chaos und Geschrei.
Noch immer tat sich da unten nichts. Korwid begutachtete die Winde. Den beiden Kurbeln nach zu urteilen war sie wohl mal für zwei Bergleute gedacht gewesen. Der Medicus war sich keinesfalls sicher, ob er es schaffen würde, die stämmige Brauersgemahlin durch den Schacht wieder nach oben zu bekommen. Die Kinder, ja, die schon...
"Heee!" rief er nun nach unten, fast schon etwas zornig. "Wo seid Ihr?"
E-e-e. Ir...irr...irr....
"Ihr braucht keine Angst zu haben."
Aben. Aben. Aben.
Er warf sein Kerbholz hinab. Stille.
Klackernd schlug es auf.
Dann wieder Stille.
So wurde das nichts. Waren seine Schützlinge am Ende geflohen? So gut kannte er das alte Bergwerk auch wieder nicht. Es gab ein paar schräge Schächte, die runter auf die zweite Sohle führten - eben jene, für die die Bergleute ihren Lederschutz gebraucht hatten. Aber sie waren so steil, dass ein Mensch unmöglich wieder hinaufklettern konnte, ohne Hilfe von oben. Oder etwa doch?
Einen Moment lang wurde ihm heiß und kalt. Wenn die Drei fliehen konnten, und es bis nach Rommilys schaffen würden: sein Ruf wäre für immer ruiniert. Niemand würde seine wahren Beweggründe verstehen.
Es gab nur eine Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen: Er musste da runter. Und danach musste er auch wieder hinauf. Nun, er kannte sich aus, mit dem Klettern in engen Schächten und Schlöten, aus der Zeit als Rommilyser Schornsteinfeger. Mit einem Seil und schrundigen Seitenwänden, so wie hier, war eine solche Kletterpartie zu schaffen.
Er stellte die Fackel in den "Aufzug" und kurbelte ihn hinab. Langsam sank das Licht in die Tiefe.
Dann prüfte er noch einmal die Festigkeit des Seils, das einen zuverlässigen Eindruck machte, und schwang sich hinüber, über den Schacht. Einen Moment lang hing er zitternd im Nichts, suchte mit den Füßen Halt. Ein bisschen war er doch aus der Übung. Das morsche Hanf ächzte. Wenn es jetzt riss. Korwid wollte gar nicht daran denken. Ebenso wenig wie an den Wiederaufstieg.
Langsam schwand seine Unsicherheit. Nach und nach hangelte er sich nach unten, auf den Fackelschein zu, und musste dabei nicht einmal seine Füße zu Hilfe nehmen.
Erstaunlich schnell kam er auf der unteren Sohle an und nahm die Fackel an sich. Wieder ein alter Stollen. Auf dem Boden lagen der Brotbeutel, der Wasserschlauch und die Decken. Von den Talglichtern war nichts zu sehen. Also hatten sie sich wirklich auf die Suche nach einem Ausgang begeben.
Im Fackelschein offenbarten sich immer mehr Abzweigungen nach links und rechts. Korwid wurde ein wenig nervös. Das war ein regelrechtes Labyrinth, in dem er sich auf keinen Fall verlaufen durfte. Als Kinder hatten sie öfters in der Mine gespielt, trotz des strengen Verbots, aber das war oben, auf der ersten Sohle gewesen, immer in der Nähe des Eingangs. Naja, gespielt - eigentlich waren es eher Mutproben gewesen. Viel zu sehen gab es oben nicht, der Hauptgang war ein paar Dutzend Schritt hinter dem "Hunt" eingestürzt. Die wenigen Seitengänge endeten an blankem Fels. Nur ein paar Schächte führten hie und da nach unten.
Er war zum ersten Mal so tief unten - und erstaunt wie weiträumig der untere Teil des Bergwerks war, ganz anders, als er es sich damals vorgestellt hatte. Das Licht der Fackel wurde ein wenig schwächer, und Korwid nervös. Ewig konnte er hier unten nicht herumsuchen. Und ja, die Fackel würde er auch nicht mehr den Schacht hinauf bringen. Das bedeutete, dass er sich in vollkommener Dunkelheit würde zurücktasten müssen. Keine besonders erfreuliche Vorstellung.
Noch ein paar Schritt, und der Medicus stellte fest, dass auch dieser Gang eingestürzt war. Felsbrocken und Stützbalken hatten ihn vollkommen verrammelt. Korwid schluckte. Lagen seine Gefangenen am Ende darunter begraben? Irgendwie war schwer abzuschätzen, wie lange der Einsturz her war, zumindest im Flackerlicht seiner Fackel. Besonders staubig wirkte die Luft nicht.
Er wollte erneut nach den Krummbachers rufen, war sich aber keinesfalls sicher, ob dann nicht der Rest der Decke herunterkommen würde. Lawinen konnte man mit Geschrei auslösen. Er leuchtete mal in diesen, mal in jenen Gang. Fast überall lagen schon Felsentrümmer herum, hie und da war ein Stützbalken umgesunken wie eine vorgereckte Hellebarde.
Peraineverflucht, er hatte sich auf die Vernunft der eingekerkerten Krummbachers verlassen. Er blickte nach Markierungen, Pfeilen, Kreuzen oder anderen Orientierungshilfen. Nichts.
Langsam wurde es hier unten gruselig. Fast schon konnte er die Quader an Felsgestein, die über ihm lagen, körperlich spüren. Die Fackel brannte immer mehr herunter. Eine Ahnung von Panik breitete sich in ihm aus.
Er blickte um sich. Die meisten Quergänge sahen wirklich nicht sehr einladend aus. Um nicht zu sagen lebensgefährlich. Das musste doch auch Selina sofort begriffen haben.
Dort, der große Durchgang. Das Tragwerk schien einigermaßen intakt zu sein. Er beschloss, den Gang auf gut Glück zu folgen. Er endete in einer Aufweitung und an einem schrägen Schacht, der in die Tiefe führte.
Es gab noch eine dritte Sohle? Waren diese Narren am Ende da hinunter gerutscht? Noch ehe Korwid einen weiteren Gedanken fassen konnte, flackerte die Fackel kurz auf und verglühte.
Schwer legte sich Schwärze vor seine Augen, so überraschend, dass er nicht einmal Furcht empfand. Die vollkommene Stille und Finsternis hatte fast schon etwas Angenehmes. Nur würde es nicht auf Dauer so sein. Es war, als hätte ihm das Pechmanderl tatsächlich die Augen zugeklebt. Blind. So fühlte es sich also an, blind zu sein.
Was jetzt? Er konnte immer noch zurück, in den unteren Hauptgang, sich zum Seil tasten und wieder hinaufhangeln... wobei Klettern in vollkommener Nacht nun wirklich ein Wagnis war. Ein Absturz, ein Knochenbruch, und sein Ende würde überaus qualvoll sein. Qualvoll und langwierig. Als Futter für die Ratten, noch vor seinem Ableben.
Er konnte auch in den Schacht hineinrutschen, aber was würde es ihm bringen? Außer dass er irgendwann endgültig in den Tiefen des Kurgasbergs verschwand.
Einen Moment lang bestand die Welt nur noch aus dem Geruch von verbranntem Pech und dem Geräusch seines Atems. Ebenso aus der Angst, die langsam in ihm hochkroch. Luft, er brauchte Luft. Frische Luft, nicht diesen ewigen Gruftodem hier unten.
Boron. Natürlich. Der Herr der rabenschwarzen Finsternis war gekommen, um ihn zu holen. Ihn zu bestrafen, für seine Sünden.
Ein mattes Wimmern entrang sich seiner Kehle.
Lebendig begraben. Die gerechte Strafe für Grabräuber und Leichendiebe. Oder für deren Anstifter.
Nur langsam beruhigte er sich. Feuerstein, Stahl und Zunder. Damit hatte er die Fackel entfacht, am Eingang. Er hatte das Kästchen bei sich, in der Hosentasche. Erst nachdenken, dann handeln, darauf kam es an. Sich gründlich besinnen. Nur keine Panik.
Ratschend schlug Stahl gegen Stein. Funken sprühten in der Schwärze. Nach einigen bangen Augenblicken brannte der Zunderschwamm. Vorsichtig spähte er im Lichtschein nach dem Rückweg. Nichts wie raus hier.
Eine bleiche, hasserfüllte Fratze starrte ihn, sofort gefolgt von einem wütenden Angriff.
Es war Selina, die ihn mit dem spitzen Kerbholz attackierte, mit flackernden Augen. Und sie war kräftig.
Der Zunder fiel zu Boden und erlosch. Auch das Kästchen verschwand in der Finsternis. Schmerzhaft schrammte das Holz über Korwids Gesicht. Er stieß die verrückte Brauersgattin zurück - und taumelte selbst nach hinten. Dann fiel er ins Bodenlose.
Die Rutschfahrt im Schacht wäre schon unter besten Bedingungen unangenehm gewesen. Nun schlitterte er rücklings in vollkommener Dunkelheit in die Tiefe, den Kopf voran. Schrammte mal gegen die Wand, ruckelte mal über einen Höcker im Boden. Irgendwie schaffte er es sich auf den Bauch zu drehen: Bei der Landung wollte er sich wenigstens abfangen können, mit den Händen.
Sein Höllensturz dauerte quälend lange. Dann verschwand die Felsröhre um ihn herum, und er flog hinaus ins Nichts, wie eine Balestrinakugel. Ehe er das durchaus faszinierende Gefühl auskosten konnte, packte in Sumu und warf ihn hart und mitleidlos auf blanken Stein.
Ein paar Steinchen klackerten noch hinterher, dann herrschte wieder Stille.
Stille und Schwärze, durchzuckt von grellen Lichtblitzen. Das war der Schmerz. Sein Kopf dröhnte, die Glieder schmerzten.
Korwid tastete sich ab. Seine Gewänder waren zerfetzt, die Hände zerschrammt, ebenso das Gesicht und die Beine. Gebrochen war nichts. Wo das Kerbholz ihn getroffen hatte, blutete seine Wange. Er hatte sehr viel Glück gehabt, trotz allem.
Langsam beruhigte sich das Lichterspiel vor seinen Augen. Bis auf ein grünliches Zwielicht, das partout nicht weichen wollte.
Einen Moment lang befürchtete Korwid, dass sein Hirn einen dauerhaften Schaden davon getragen hatte, aber da vorne war wirklich Licht. Ein sanftes Gluckern und Plätschern war zu hören.
Der Medicus schöpfte neue Hoffnung und kroch los, wie ein Verdurstender in der Wüste, der eine Oase (oder eine Fata Morgana) entdeckt hatte. Ein muffig riechender, rissiger Balken versperrte ihm den Weg. Vorsichtig ertastete er sich einen Durchgang und stieg über das Hindernis. Steinbrocken kollerten unter seinen Schritten umher und ließen ihn immer wieder straucheln.
Das grüne Licht wurde heller. Korwids Zuversicht kehrte zurück.
Tatsächlich, da vorne war ein Ausgang. Ein Durchbruch.
Der Bergwanderer schwankte hindurch, und stand im nächsten Moment in einer natürlichen Höhle. Eine unregelmäßig geformte Tropfsteinhöhle, durch die ein kleiner Bach floss. Wasser war gut, er hatte wirklich Durst. Korwid trank einige Schluck, wusch seine Schrammen und Kratzer. Das koboldsgrüne Licht war seltsam. War er am Ende in die Höhle des Pestmännchens geraten?
Er folgte dem Wasserlauf. Die Kaverne weitete sich zur Säulenhalle. Der Bach wurde zum Grottensee. Wie Drachenzähne hingen Stalagtiten herab oder ragten Stalagmiten um ihn herum auf. Fledermäuse flatterten die Decke entlang.
Wie merkwürdig die Felsen geformt waren. Der dort drüben sah aus wie ein riesiger Totenschädel, dessen Maul geradewegs ins Nichts zu führen schien. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, nicht Angst. Eher Traurigkeit. Mattigkeit. Unwohlsein. Als wäre der Dumpfschädel oder eine andere Krankheit im Anmarsch. Korwid hustete.
Seltsame Zeichen waren an die Höhlenwände geschmiert. Bilder von bärtigen Riesen, die zu einer Geflügelten Gottheit beteten. Ein Götze mit unzähligen Beinen und Insektenflügeln. Vielbeiner in allen Variationen. Eine Art Kessel, aus dem grüner Rauch dampfte.
Wo kam das Licht her? Der Bach schien hinter dem See weiter zu verlaufen. Vermutlich führte er zu dem Wasserfall, den man vom Geisterdorf aus sehen konnte. Der Loderbachfall. Von dort her drang wirklich etwas Zwielicht in die Höhle.
"Habt Ihr Euch verlaufen, Doctor?" Eine spöttische Stimme, die von überall her gleichzeitig zu hallen schien. Der gewaltige Schatten eines Gehörnten ragte an der Felswand auf. Korwid zuckte zusammen. Ein Schwarm Ratten nahm fiepend Reißaus.
Der Medicus merkte, wie sich ihm endgültig die Nackenhaare aufstellten. Reflexartig griff er zum Dolch.
Ein verschrumpelter Apfel rollte Korwid vor die Füße.
"Alrik und Gritta, verirrten sich im Wald. Es war so finster, und auch so bitter kalt"
Nein, es war kein Dämon, der hier grollte. Sisa Brundel stand neben dem See. Die Hörnerhaube und die dunklen Hexengewänder ließen sie tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen, grausameren Welt aussehen. Sie hatte das Obst mit ihrem Besen geschlagen, als wäre es ein Imman-Korkball.
"Ich habe euch etwas mitgebracht, von einer Hochzeitsfeier. Das Geschenk eines einfältigen Bauern."
Der Anatom hob den Apfel auf. Auf der einen Seite sah er recht lecker aus, rot und saftig. Aber Korwid musste ihn nur ein klein wenig drehen, um die faule, wurmstichige Seite zu entdecken.
"Nun, welche Seite gefällt Euch lieber, Leichenschnippler?" Sisa lachte auf. Ihren grünen Augen leuchteten, fast im selben Farbton wie die Höhle. "Vor allem, was macht Ihr hier? Wolltet Ihr nicht auf eure Gefangenen aufpassen?"
"Ich habe sie oben in der zweiten Sohle eingesperrt."
Sisa hatte ihren Kessel dabei und packte allerhand Zauberutensilien aus: Kreide, Kerzen, übelriechende Kräuter, Pilze, Edelsteine, ein Fläschchen. Ebenso eine große Schriftrolle.
"Eingesperrt? Ihr selbst steht inmitten des Allerunheiligsten. Also erzählt mir nichts von - eingesperrt, Dottore Corvidio Albigundi. Denn ich bin sicher, Ihr seid nicht auf die selbe Weise hierhergelangt wie ich. Könnte ich den Apfel bitte wieder haben? Wenn Ihr ihn nicht verspeisen wollt, benötige ich ihn als Paraphernalium. Bei der Fäulnis von Mishkara, wie seht Ihr denn aus?"
"Selina hat mich einen Schacht heruntergestoßen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, mehr nicht." Korwid rollte den Apfel zurück. Sisa hob ihn auf und ritzte mit dem Fingernagel irgendein finsteres Zeichen hinein.
"Wer? Ach so, das Weib des Braumeisters. Und nun ist sie geflohen, mitsamt ihren Bälgern? Korwid, ich bitte Euch - das war keine Kriegerin oder Geweihte. Nur eine dumme kleine Spießbürgerin aus Rommilys. "
"Ich glaube nicht, dass sie das Seil hinaufkommt, das ich verwendet habe. Man muss schon ein überaus geschickter Kletterer sein."
"Der sich nicht bei erstbester Gelegenheit übertölpeln lässt, gewiss. Es gibt noch einen weiteren Schacht, in dem man nach oben gelangt, mit einer Leiter. Nach ganz oben, hinauf zum zweiten Eingang. Ebenso führt von dort ein Aufzug herab, nach ganz unten."
"Zweiter Eingang? Davon weiß ich nichts. Und ich kenne mich in der Gegend wirklich aus."
"Glaubt mir, ich auch. Immerhin steht mein Haus gleich über dem Loch. Wie sagt man dazu noch gleich? Ich glaube Pinge. Ihr wisst schon, der Trichter, der entsteht, wenn eine Grube teilweise einstürzt. Das Bergwerk ist gewissermaßen mein Keller. Aber ich kann euch beruhigen. Am Riesenfass von Rommilys kommt so schnell niemand vorbei. Es sei denn, ich will es so."
"Diese Krummbacherin ist schlau. Ich muss zugeben, ich habe sie sträflich unterschätzt. "
"Wenn es Euch beruhigt: Ich werde einen Trollberger zum Beilfelsen schicken, der nachsieht und die Drei wieder einfängt. Am Ende verheddern sie sich noch im Netz meines kleinen Haustierchens. Sicherlich ein saftiger Happen für die vielbeinige Tempelwächterin. Wenn sie nicht schon vorher von den Gruftasseln gefressen werden. Es wäre schade um das schöne Blut."
Korwid schluckte. "So wollt Ihr das Ritual also wirklich vollführen? Ich wusste gar nicht, dass man dafür... dass es dafür Menschenopfer braucht."
"Nun, die Zeremonie fordert vor allem astrale Kraft - und dafür benötigen wir Blutmagie. Leider ist Gerrich ein wenig ausgebrannt, nach der letzten Begegnung mit Eurem Patienten. Er hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt seinen Enkel zu verheiraten...ach, das ist eine längere Geschichte. Es gab einen Kampf, am Darpat, mit Müh und Not konnten wir das Schiff retten. Wenn auch kaum mehr. Um ein Haar hätte dieser Jodokus auch noch meine arme Glibberta ertränkt." Sisas Augen loderten vor Hass, als sie die Kröte aus ihrem Körbchen holte, gefolgt von einem liebevollen Blick. Die Hexe drückte ihrem Vertrautentier einen dicken Kuss aufs Maul - ohne sich dabei die eigenen, bläulichen Lippen zu verbrennen.
"Dieser herzlose Schurke. Wenn sich Glibba nicht auf einen vorbeitreibenden Ast gerettet hätte... wer weiß, wie das ausgegangen wäre... das wird mir Jodokus büßen, dafür werde ich sorgen...ich werde ihn persönlich den Loderbachfall hinunterstoßen. Ihm vorher die Haare herausreißen, jedes einzeln, die Fingernägel ziehen, die Zehen zerquetschen, die Augen herauskratzen. Von den Flüchen ganz zu schweigen. Leiden soll er, leiden. Ich werde..."
"Wolltet Ihr nicht sein Bier mit diesen Hektabeloiden vergiften?"
"Sicher, das wäre die sanftere Variante gewesen, um die Rommilyser zur Unterwerfung zu zwingen. Aber der Wind steht heute Nacht günstig, um die Grüne Wolke geradewegs in die Grafenstadt zu treiben. Der Sieche Regen wird der Herrin gefälliger sein als diese umständliche Vergifterei. Ihr wisst, was ich von allzu langen Incubationszeiten halte. Auf diese Art lässt sich am besten Angst und Panik erzeugen: Wenn es aussieht, als ob sie alle gleichzeitig die Zorganpocken bekommen. Zu Tode trampeln wird sich das Pack, es wird ein wundervolles Heulen und Wehklagen geben."
Korwid wich ein wenig zurück. "Die Rede war nur von einer Lektion, nicht dem Untergang von ganz Rommilys, im Schleimregen."
"Oh, das habe ich ganz vergessen, werter Herr Medicus. Euer Haus ist zwischenzeitlich in Flammen aufgegangen, ebenso wie der Schrein der Bienenkönigin. Die Häscher haben sich längst auf Eure Fersen geheftet. Ihr könnt nicht mehr allzu wählerisch sein - und nicht mehr allzu zimperlich."
Alrik hatte den Gefährten nur eine kurze Ruhephase gegönnt. Gerrich hatte einen Vorsprung, und seine Gefangenen waren in Gefahr. Nachdem er von Haldana erfahren hatte, wie diese den Hexer mit ihrer Taktik des Zeitverzugs geschwächt hatte, und nach dem, was er in all den Jahren von Hesindian über das Wirken schwarzer Magie - zumindest theoretisch - erfahren hatte, befürchtete der Friedwange, dass die Gefangenen Wanderprediger in Lebensgefahr sein könnten. Er wusste nicht, ob sein schurkischer Verwandter Blutmagie beherrschte oder gar darauf zurückgriff. Ausschließen konnte er es jedoch nicht, dass ein geschwächter Schwarzhexer in der Not sich auch der Blutmagie bediente, und so sah er, anders als am Vorabend, Grund zur besonderen Eile. Nun, am Vorabend, bei Dunkelheit und erschöpft vom langen Ritt, wäre eine Verfolgung letztlich nicht möglich gewesen, beim besten Willen nicht. Nun aber wollte Alrik keinen längeren Aufschub dulden.
Eine halbe Tagesreise stromabwärts sollte dieses Kurgasberg liegen. Bis dahin würden jedenfalls ihre Kleider nach dem abermaligen Durchreiten der Furt durch den Darpat wieder trocken sein. Immerhin, ausgerüstet war die Schar für eine mehrtägige Unternehmung in den Trollzacken. Proviant, Seile, Decken und einiges mehr hatte Rovik, der emsige Zwerg, am Vorabend trotz der späten Stunde noch aufgetrieben. Und so ritten die Gefährten in den ersten wärmenden Praiosstrahlen am rahjawärtigen Darpatufer entlang.
Für Alrik war es immer noch ein seltsames Gefühl, in der jungen Haldana nicht mehr eine abenteuerlustige Bardin, sondern eine angehende Baronin zu sehen. Anfangs hatte er sich gefragt, warum Haldana und ihre Gefährten sich dann für einige Silberlinge Sold der Queste angeschlossen hatten. Aber dass die junge Adelige nach ihrer Abschlussprüfung an der Markgräflichen Knappenschule ein Rohalsjahr eingelegt hatte, nun ja, sicher nicht das Alltäglichste für eine angehende Baronin, aber auch nicht gänzlich ungewöhnlich. Vermutlich wollte Haldana auch einfach ein Jahr lang frei von allen sonstigen Verpflichtungen sein. Wenn er sich da an seine Brabaker Zeit erinnerte - sicher, er hatte sich sein „Rohalsjahr“ nicht freiwillig ausgesucht. Aber er mochte die Erinnerungen daran und vor allem auch die Erfahrungen daraus nicht missen. Sich damals in den Gassen behauptet und durchgesetzt zu haben, dagegen waren manchmal die Verhandlungen mit den Dorfschulzen und Edlen in Friedwang das reinste Ogermethschlecken. Die Erfahrungen damals hatten ihn durchaus fit gemacht für seine Aufgabe als Baron. Warum also sollte eine ähnliche Erfahrung Haldana nicht gleichermaßen nützlich sein? Wobei er, wie er den Erzählungen der Bardin - in Gedanken war sie für ihn immer noch mehr Bardin als Baronin - ihr Rohalsjahr vor allem auch dazu nutzen wollte, ein Jahr lang sie selbst sein zu können. Als Baronin erwartete sie - das wusste er nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - ein Leben, das an den Anforderungen des Amtes und den Erwartungen der Bevölkerung wie auch anderer Adeliger orientiert war. Alles im Leben eines Adeligen war fremdbestimmt und an den Erwartungen anderer ausgerichtet. Eigene Wünsche zu haben war ein Luxus, den sich eine Baronin oft nicht leisten konnte. Zuerst würde Haldana damit konfrontiert werden, einen Mann heiraten zu müssen, den ihre Familie für sie aussuchte und der ihre Hausmachtposition stärkte. Egal, ob dieser Mann ihr nun irgendwie sympathisch war oder auch nicht. Alrik konnte verstehen, dass das für eine Baronieerbin mitunter mehr eine Belastung war. Nicht zuletzt da sie in einer konservativen Umgebung wie dem ländlichen Wehrheimer Land oder dem Sichelhag - die traviagefällige Frömmigkeit einhalten musste. Da hatte er selbst noch Glück gehabt mit der ihm angetrauten Serwa, mit der er sich immerhin gut vertrug und die - auch wenn seine Serwa ebenso wie er mitunter ihre eigenen Wege ging, ihm Respekt und Freundschaft entgegen brachte. Serwa hatte sich nicht daran gestört, dass Alrik Liebschaften nebenher und sogar Bastardkinder hatte. Natürlich hatte er seiner Gemahlin das gleiche Recht eingeräumt und auch nie die Frage gestellt, ob er tatsächlich der Vater von Serwas Kindern war. So gesehen, Serwa und er hatten miteinander durchaus Glück gehabt. Ein Glück, das aber nicht jeder Baron oder jede Baronin hatte. Und wie er wusste war Golo nicht der erste, der Haldana allein des Erbes wegen heiraten wollte, ohne nach ihrem Willen zu fragen. In den Kriegswirren der Wildermark hatte sich schon einmal ein Edler darum bemüht, die damals noch kindliche Haldana als Verlobte zugesprochen zu bekommen. Nichts ungewöhnliches, manche Adelsfamilien verlobten ihre Kinder miteinander, noch ehe sie von der Mutterbrust entwöhnt waren.
Nun, vielleicht war es da irgendwie sogar vom Schicksal nicht schlecht gemeint, dass Haldana nunmehr… Alrik dachte nach. War Golo tot? Oder lebte er noch. Als Witwe würde Haldana jedenfalls bei einer späteren Eheschließung keiner mehr fragen, warum sie nicht unkeusch geblieben war. Der Schicksalsschlag, den die junge Adelige erlitten hatte, konnte sich vielleicht gar als befreiend für sie erweisen. Langfristig jedenfalls.
Und… wenn Golo tatsächlich tot war, und in Gießenborn der Erbfall anstand… Alrik dachte schon wieder strategisch. Würde eine Edle von Schnayttach-Binsböckel zu Gießenborn, in Personalunion Baronin zu Schlotz, ihm etwas nützen? War sie eine wertvolle Verbündete in seiner Hausmachtpolitik gegenüber Bishdarielon, seinem Bruder, der den Norden Friedwangs beherrschte? Nutzte ihm das, um seine Position zwischen den alten Baernfarns in der reichen Stadt Gallys und dem aufstrebenden Haus Oppstein besser behaupten zu können? Oder würde er sich damit nur eine dritte Partei in die Baronie holen, die das fragile Gleichgewicht der Mächtegruppen gefährdete? Ließe sich hier ein Stein im Spiel der Throne setzen, der ihm zum Vorteil gereichen würde? Immerhin war davon auszugehen, dass eine künftige Baronin Haldana zu Schlotz, nach den gemeinsamen Ereignissen, eher seine Verbündete als die Bishdarielons werden würde. Gegenwärtig stand er in Friedwang seinem Bruder Bishdarielon gegenüber, seinerseits gestärkt durch das Bündnis mit den Baernfarns aus dem südlichen Gallys. Bishdarielon hatte seine Position durch die Ehe mit dem einflussreichen Haus Mersingen gestärkt. Wenn nun Alrik auch die Baronie Schlotz auf seine Seite zog und damit das Haus Binsböckel… Dann konnte er sich vielleicht gegenüber seinem Bruder durchsetzen bei der Regelung der Erbfolge in Friedwang. Alrik dachte schon wieder weit in die Zukunft, den möglichen dritten Schritt vor dem tatsächlichen ersten tuend. Aber nur wer klug voraus zu planen und zu denken in der Lage war, konnte sich so lange wie er auf dem Thron halten. Zunächst einmal hatte er hier eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die, erfolgreich beendet, ihm das Wohlwollen der Markgräfin sichern konnte. Und wenn dabei zugleich mit Golo ein Adeliger Friedwangs, der sich nie mit ihm verbünden würde - und den er auch nie als Verbündeten akzeptieren würde - über das Nirgendmeer ziehen würde, dann wäre das sicher von Vorteil. Und das noch nicht einmal allein aus machttaktischen Erwägungen, sondern weil Golos Tod die immer noch bestehende Gefahr von den Anhängern des Namenlosen, sie auch nach dem Ende der Wildermarkära noch nicht gänzlich besiegt waren, nachhaltig schwächen würde.
Nur eines wusste Alrik. Wenn Golo tot war, dann stand es in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die, wenn auch zwangsweise, erfolgte Eheschließung Haldanas und Golos rechtlich Bestand haben würde. Er konnte Haldana damit den Skandal der Unkeuschheit ersparen. Und er konnte sich damit in einem wichtigen Edlengut seiner Baronie eine treue Gefolgsfrau sichern. Wie es unter Phexdienern hieß: eine Hand wäscht die andere. Nun, man würde sehen. Alrik würde das jedenfalls im Blick behalten. Wenn Golo tatsächlich tot war, dann würde er in einem geeigneten Moment unter vier Augen (der einäugige Baron sollte vielleicht besser unter drei Augen sagen) über die Ränke der Politik reden. Aber jetzt galt es erst einmal, Gerrich zu finden und zu besiegen.
Was Alrik unter seinen Gefährten am meisten überraschte war, dass Haldana und Jodokus nunmehr, da Jodokus um Haldanas wahre Identität wusste, miteinander völlig offen und unbefangen umgehen konnten. Wie eben Verwandte, die sich einfach länger nicht mehr gesehen haben, aber die sich ungezwungen über alle Tanten und Onkels, Großkusinen und Oheime und Großmütter und alle anderen Angehörigen der weitläufigen Familien Baernfarn und Binsböckel austauschten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Irgendwie fast - wie Geschwister. Jodokus war nicht mehr der zurückgewiesene Liebhaber, auch nicht mögliche reiche Verehrer einer entlaufenen leibeigenen Musikantin, und Haldana war nicht mehr in der selbst gewählten Verpflichtung, dem Cousin ihre Herkunft zu verschweigen, ständig darauf achtend, nicht zu viel über sich Preis zu geben. Und damit hatte sich jede Spannung zwischen den beiden in Luft aufgelöst. Beide schienen sich in der neuen Rolle zueinander wohler zu fühlen. Der missglückte gemeinsame Abend, der gerade zwei Tage zurück lag, schien völlig vergessen zu sein.
Das ganze schien den „Anstandsnivesen“ Tuvok ein wenig zu verwirren, der ´seine´ Haldana fröhlich und unbefangen mit dem Stadtgeck, wie er das sagen würde, plaudern sah. Vermutlich war der sonst eher schweigsame Waldläufer keiner, der Gefühle bei seinen Mitmenschen verstehen oder deuten konnte. Das wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Tuvok war Jäger, nicht Seelsorger. Aber er schien sich damit zu arrangieren.
Und Rovik, der gesellige Gemütsmensch (nein, Gemütszwerg) war ohnehin eine immer fröhliche Seele, der ungezwungen und optimistisch in die Zukunft blickte. Irgendwie mochte Alrik den kleinen bärtigen Gesellen, der wenig Fragen stellte und immer mit der Hand oder der Axt den Gefährten hilfreich zur Seite stand.
Nun, auch das war für Alrik eine gute Entwicklung. Nichts konnte er weniger gebrauchen als Zwist unter den Leuten, mit denen er vielleicht bald einem gefährlichen Schwarzmagier gegenüber treten würde.
Nach drei Stunden - Alrik hatte während des Rittes so viel über die Angehörigen der Familien Baernfarn und Binsböckel gehört, wie sonst in einem halben Jahr nicht - machte Tuvok, der von allen die schärfsten Augen hatte, ihn aufmerksam auf ein knappes Dutzend Menschen, die ihnen, einige Meilen entfernt, auf der Straße entgegen kamen.
„Ja… Wanderer, Reisende. Das ist eine Handelsstraße. Natürlich werden wir auch anderen Reisenden begegnen. Aber Danke. Siehst du Grund zur Besorgnis?“ Alrik dachte sich nichts dabei, andere Reisende zu sehen. Dass sie bislang noch niemandem begegnet waren, mochte an der frühen Aufbruchszeit liegen, jedoch sicher nicht an der Route. Erst nach dem Abzweig nach Kurgasberg waren weniger Reisende zu erwarten.
„Es… Nun… sie sind noch zu weit weg, als dass ich sie erkennen könnte. Aber… der vorderste hat eine auffällige rote Hose an. So wie einer der Matrosen auf der Flusshexe. Es könnten Matrosen von der Flusshexe sein.“
Alrik zog die Augenbraue hoch. „Könnte sein“ brummte er. „Neun oder zehn, kannst du sie genauer zählen?“
„Neun. Wenn sich keiner versteckt hat“
„Sieht nicht so aus. Sie gehen auf der Straße, in unsere Richtung. Wer einen Hinterhalt vorbereitet, zeigt sich nicht so offen. Aber, du hast Recht. Wir müssen vorsichtig sein.“
„Sollen wir uns vorsichtshalber verstecken?“ hakte Rovik ein.
„Nein“ beschied Alrik. „Wenn sie es sind… dann sind wir immer noch im Auftrag des Grafenhofs unterwegs. Sie haben uns gestern nicht angegriffen. Warum sollten sie es heute tun. Gestern waren es eher Zwanzig gegen uns fünf, mit Hexer und Hexe und Gefangenen, auf ihrem vertrauten Schiff. Heute sind es neun gegen sechs und ohne Hexer im Hintergrund. Überraschen können sie uns ohnehin nicht. Wenn sie sich von der Straße entfernen, kriegen wir das hier im offenen Gelände mit. Und selbst wenn sie jetzt feindlich eingestellt sind… Wenn ein Bogenschütze, ein Axtkämpfer, drei in der Fechtkunst ausgebildete Adelige und ein Magier mit ein paar Matrosen nicht fertig werden, dann weiß ich auch nicht mehr! Wenn es tatsächlich Matrosen von der Flusshexe sind, dann sollten wir ihnen besser auf den Zahn fühlen. Die werden vor der Obrigkeit schon kuschen. Haben sie gestern ja auch getan.“
„Ja, du magst Recht haben“ stimmte Jodokus zu. „Besser, wir bleiben in der Rolle von gestern. Wir sind zudem beritten, selbst im Schlimmsten Fall könnte das Fußvolk uns gar nicht aufhalten.“
Inzwischen waren die wärmenden Strahlen Praios kräftiger geworden, und die Kleidung der Gefährten war getrocknet. Anders als am Vortag war Haldana nicht mehr im Hochzeitsgewand gekleidet - das hatte sie der Besitzerin zurück gegeben, zusammen mit einigen Münzen als Entschädigung für den erheblichen Reinigungsaufwand - sondern hatte wieder die lederne Reisegewandung angelegt, die sich in ihrem Bündel befand, das Tuvok seit der Entführung mitgenommen hatte. Auch das Rapier steckte jetzt wieder in der Schulterscheide.
Tuvok hatte vorsorglich die Sehne auf den Bogen aufgezogen und war die Pfeile in seinem Köcher durchgegangen - einen Teil der Pfeile, die er beim vergangenen Gefecht verschossen hatte, hatte er wieder gefunden. Nur nicht die, die auf dem Schiff oder im Fluss verblieben sind. Allerdings hatte Tuvok zwei Dutzend Pfeile in Hausen erstanden. So war er für kommende Gefechte gut ausgerüstet.
Für Jodokus hatte Rovik in Hausen noch eine lederne Rüstung erstanden. Der Patrizier hatte Rommilys mit standesgemäßer Kleidung verlassen, sich aber nicht auf ein wirkliches Gefecht vorbereitet. Das gerüschte und bestickte Hemd ließ ihn sicher gut aussehen, aber für ein Gefecht war es wohl nicht das Richtige. Da bot der lederne, mit Schnallen und Nieten besetzte Kittel doch deutlich mehr Schutz. Und Jodokus mochte ein Händler sein. Ein wenig Umgang mit der Klinge zu erlernen war dennoch üblich in seiner Familie, selbst wenn er nicht wie seine Schwester als Baronin der Markgräfin Heeresfolge leisten musste.
Im Näherkommen erkannten die Gefährten, dass die zu Fuß auf dem Karrenweg dahin ziehenden Männer und Frauen tatsächlich Matrosen der Flusshexe waren - die ihrerseits aber keine feindselige Haltung zeigten, sondern sich respektvoll ganz auf die rechte Seite der Straße zusammen drückten und im Gänsemarsch hinter einander liefen, um den Reitern keinesfalls in die Quere zu kommen. Aha, dachte Alrik. Hat der Auftritt gestern Abend also Eindruck gemacht. Immerhin. Alrik setzte sich im Sattel aufrecht und mit Respekt heischender Körperhaltung hin und setzte sich mit einem kurzen Galopp an die Spitze der Gefährten. Dann hob er die linke Hand, um seine Gefährten ebenso wie die Matrosen zum Halten zu bewegen, während er lässig die Zügel in der rechten Hand hielt und sein Ross elegant zum Stehen brachte. Selbstsicher und souverän im Auftritt, wie man sich einen gräflichen Abgesandten eben vorstellte.
„Seid gegrüßt in Praios Namen!“ Alrik verwendete die Grußformel mit Praios üblicherweise nicht, aber hier schien der Bezug auf den Götterfürsten ihm angebracht, und blickte dem Vordersten der Flussschiffer in die Augen. „Ihr seid von Bord gegangen? Was ist vorgefallen? Was kann er rapportieren?“ Alriks Stimme klang ruhig und befehlsgewohnt.
Der angesehene Flussschiffer senkte den Blick. Gut, dachte Alrik. Klappt also weiterhin. „Herr“ begann der Angesprochene „Verzeiht, Herr, aber… nach dem wir gestern gesehen haben, wer der Schiffseigner…“ stammelte er.
„Wir sind einfache Flussschiffer“ erklärte ein anderer, etwas weniger eingeschüchtert. „Wir steuern, stakten oder treideln das Schiff, wir beladen und entladen die Ware, aber was gestern geschehen ist… wir halten unseren Kopf nicht hin, wenn der Eigner sich mit… mit schwarzer Magie einlässt. Oder mit Dämo… mit was auch immer.“
„Da habt ihr Recht gehandelt“ stellte Alrik lobend fest. „Ihr habt also die Heuer gekündigt?“
„Ja.“ Raunten einige der Schiffersleute.
„Gut so. Aber gestern waren mehr Matrosen auf der Flusshexe. Also haben nicht alle den Kahn verlassen?“ Alrik nutzte die Gelegenheit, Informationen über die Flusshexe und die verbleibende Besatzung zu erlangen. Fragend und zum Reden auffordernd blickte er in die Runde der Matrosen.
„Ähm, nein. Wie stellt ihr Euch das vor, Herr. Mit einem Hexer verhandeln? Der hätte uns vielleicht verwandelt, vielleicht verhext. Nein. Wir neun sind… einfach über Bord gesprungen und an Land geschwommen. Getürmt. Den Abgang gemacht. Wir sind einfache Leute Herr. Wir stellen auch keine Fragen an den Kapitän oder Eigner, aber mit den unheiligen… nein, damit haben wir nichts zu tun.“
„Aha. Ja. Ihr habt wohl klug gehandelt. Ihr hättet kaum etwas ausrichten können gegen Gerrich. Aber sprecht, wie viele Matrosen sind noch an Bord? Diese haben wohl keine Probleme mit einem Schurken als Befehliger?“ insistierte Alrik.
„Das weiß ich nicht… nicht jeder kann schwimmen. Vielleicht haben manche der Mannschaft auch einfach Angst?“ stammelte ein rothaariger dicker Mann.
„Noch acht Matrosen waren an Bord. Jedenfalls als wir getürmt sind.“ Ergänzte ein anderer.
„Und die Traviapilger?“ forschte Alrik nach.
„Die hat Gerrich gleich zu Anfang unter Deck gebracht. Gleich nach dem, ähm, Ablegen. Hat sie eingesperrt in einem Lagerraum.“
„Acht Matrosen, sieben Pilger. Und die fünf Barbaren. Sonst noch jemand an Bord der Flusshexe?“
Einhelliges Schulterzucken war die Antwort.
„Hmm. Und jetzt? Seid ihr auf dem Weg nach Rommilys?“
„Ja, Herr. Wir suchen eine neue Heuer, irgend ein Flusskahn braucht uns hoffentlich. Oder vielleicht gibt es im Hafen Arbeit.“
„Recht so. Gut. Wenn ihr nach Rommilys kommt, dann berichtet im Kontor des Hafenmeisters über die Vorfälle an Bord, und alles was ihr sonst über die Flusshexe wisst. Dort soll man erfahren, was für einen finsteren Schurken man hat anlegen lassen.“
Einhelliges Nicken.
„Wo befindet sich die Flusshexe jetzt? Kurgasberg?“
„Ja, vermutlich. Jedenfalls hat Gerrich das Schiff dorthin lenken lassen. Aber natürlich wissen wir das nicht genau.“
Alrik nickte. Viel mehr würde er aus den Matrosen wohl nicht heraus holen können an Informationen.
„Gut. Dann soll es das jetzt sein. Wie schon gesagt, man weiß Bescheid und kann sehr gut unterscheiden zwischen einem Schurken und einem einfachen Flussschiffer. Ihr habt also nichts zu befürchten. Dass der eine oder andere seine Seele in einem Tempel der Zwölf erleichtert, kann aber dennoch nicht schaden.“ Die richtige Mischung von herrschaftlicher Strenge und verständnisvoller Milde in der Stimme des Friedwangers war beabsichtigt. „Ich werde mich aber erkundigen, ob ihr in Rommilys beim Hafenmeister vorgesprochen habt.“ Alrik wollte sicher gehen, dass die Matrosen tatsächlich in die Markgrafenstadt weiter zogen.
"Wie, Knoppsberg? Was hat sie da gerade gesagt?"
Alriks Kopf tauchte hinter dem mächtigen Rad des Fuhrwerks auf. Gerade eben hatte er mit Hilfe seiner Gefährten den Wagen zurück auf die Landstraße gewuchtet. Zusammen mit der Fuhrfrau und ihrem Begleiter, die vom Weg abgekommen und in einem tückischen Schlammloch gelandet waren. Die beiden mächtigen Darpatrinder, die den Karren zogen, wären sicherlich kräftig genug gewesen, ihn aus der Falle zu befreien - aber das Rad hatte sich immer tiefer eingewühlt.
Sattgrün ragten Bäume und Hecken auf beiden Seiten des Weges auf.
Die Fuhrfrau, eine kräftige, bäuerlich wirkende Frau mit struppigen braunen Haaren, Sommersprossen und wettergegerbten Gesicht, tippte sich mit der Peitsche an den Hut.
"Ich sagte: Seid bedankt für Eure Hilfe. Mögen Euch die Götter dafür entlohnen."
"Keine Umstände" Der Friedwanger zückte wieder mal seine Pfeife und begann sie zu stopfen.
"Aber ich meinte etwas anderes. Sie sagte gerade, sie käme von Knoppsberg rauf?!"
"Jau, is nicht mehr weit bis dorthin. In zwei, drei Stunden seid Ihr dort. "
Alrik zündete einen Span an, versenkte die Flamme im Fuchskopf und begann zu paffen. Knoppsberg, lag bereits in der Markgrafschaft Perricum.
"Wir wollten eigentlich nach Kurgasberg." Jodokus wischte sich die schlammigen Hände mit einem Büschel Gras sauber.
Die Fuhrfrau zuckte mit den breiten Schultern. "Nie gehört...Komm aber auch ausm Süden. Gluckenhang. Muss wieder weiter, tutmirleid. Kurgasberg, nee, nie gehört. Fahr aber auch meistens die Südroute, Richtung Dergelmund und Perricum."
"Was habt Ihr denn geladen?" fragte der Baron, um das Gespräch am Laufen zu halten.
"Wolle. Nachschub für die Spinnräder in Rommilys."
"Aber der Efferdgeweihte hat doch gesagt..." Der Einwand kam von Haldana. "Es hieß doch, bis nach Kurgasberg sei es eine halbe Tagesreise die Handelstraße runter. Und dann gibt es eine Abzweigung in die Berge. Ein alter, verlassener Bergwerksort… Ein Geisterdorf..."
Die Fuhrfrau schüttelte ratlos den Kopf: "Markt Knoppsberg, da gibts eine Burg, wo der Herr Leomir residiert, der Vogt. Aber von nem Bergwerk hab ich noch nie gehört...Und verlassen ist Knoppsberg auch nicht. Netter Marktflecken...Die ham dort die allerbeste Räucherwurst."
"Falswegen, ein sprechender Name..." Alrik tätschelte eines der braune Rinder und ließ einige Rauchkringel aufsteigen.
Hatte der Efferdgeweihte am Ende Kurgasberg mit Knoppsberg verwechselt? Sah fast so aus.
Ritten sie hier die ganze Zeit in die Irre? Der Darpat zur Rechten war in weite Ferne gerückt, stattdessen schimmerten dort Sümpfe, Tümpel und die Altarme des Hauptstroms, zwischen lockerem Auenwald. Zur Linken ragten steile Felsenhänge auf: die erstaunlich hohen Ausläufer der Trollzacken. Vor etwa einer halben Stunde hatten sie einen dichten Wald hinter sich gelassen. Dann waren sie den Flussschiffern begegnet, und kurz darauf dem "gestrandeten" Fuhrwerk. Die Gegend sah eigentlich ganz manierlich aus: eine Landstraße, begrenzt mit Hecken, Bäumen, Steinmäuerchen. Dahinter erstreckten sich Äcker und Hangweiden. Ab und zu läutete eine Kuhglocke. Wäre das Felsgestein, das hie und da emprragte, schwarzgrau gewesen und nicht grauweiß, man sich leicht in der Sichel wähnen können.
Waren sie auf dem richtigen Weg? Auch Flarion war keine Hilfe gewesen: Angeblich war der Käpt´n noch nie selbst in Kurgasberg gewesen. Er wusste nur, dass das Geisterdorf in den Bergen auf der Ostseite des Darpat lag, und es zumindest zwei Wege dorthin gab. Ein Karrenweg, irgendwo von Neuborn aus, und eine Abzweigung weiter südlich, wo der Weg schlechter wäre. Die einzige Abzweigung, an der sie vorbeigeritten waren, hatte in Richtung Darpat geführt - wo es sicherlich niemals ein Bergwerk gegeben hatte.
"Nun, edle Herren und Dame" Der Begleiter der Fuhrfrau, ein bärtiger, drahtiger Zackenländer deutete eine Verbeugung an. "Wenn Ihr uns vielleicht sagen könntet, was Ihr in diesem Krugsberg..."
"Kurgasberg..."
"....an diesem Ort anzutreffen erhofft."
Alrik wechselte einen Blick mit Jodokus und nickte.
"Wir sind einer Räuberbande auf den Fersen", sagte der junge Baernfarn. "Die im Geisterdorf ihr Versteck haben sollen. Ein Haufen buntbemalter Trollberger..."
Der Bärtige blickte versonnen: "Trollzacker? Klingt eher nach Gorbingen...ebenso wie dieses...Kurgasberg."
Seine Begleiterin kicherte, ein wenig verschroben. "Gorbingen? Jau, das passt. Das gibt es nämlich auch nicht."
Alrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Von dem augenzwinkernden Sprichwort hatte er mal gehört. Die Baronie Gorbingen galt als derart abgelegen, dass sie angeblich gar nicht existierte. "Es sind Trollberger, keine Wilden, auch wenn sie offenbar diesen Eindruck erwecken wollen. Sie sind wohl beritten, und..."
Dumpfes Pferdegetrappel lenkte ihn ab. Die Hand des Einäugigen ging zum Rapier: Wenn man vom Namenlosen sprach !? Auch die Darpatbullen schnaubten und blicken mit großen, dunklen Augen über ihre höckrige Schulter.
Alriks Gefährten gingen links und recht des Weges in Kampfstellung. Tuvok stellte sich hinter eine halb eingesunkene Steinmauer und legte einen Pfeil auf die Sehne. Der Mondschatten warf einen Blick auf die Ladefläche, mit den wollgefüllten Säcken. Das Fuhrwerk auf der Straße würde den Ansturm von Reitern sofort bremsen, als Wellenbrecher. Notfalls konnten sie sich hinter die hohe Ladefläche zurückziehen - auch wenn die Wollladung und die hohe Plane sicherlich lichterloh brennen würden, bei einem Angriff mit Feuer. Aber momentan waren sie im Vorteil.
Ihre eigenen Pferde, die an einem Gatter festgebunden waren, stampften nervös auf und hoben bockend die Köpfe.
Der Bärtige zog eine Armbrust aus dem Fuhrwerk, die Fuhrfrau griff zum Kurzschwert und entrollte ihre Peitsche (was sie ein wenig wie ein weiblicher Heshthoth aussehen ließ).
Dann trabten die Reiter auch schon heran. Es war fast eine ganze Lanze, acht Männer und Frauen, in blauen und roten Waffenröcken, wippende Federbüsche auf den Helmen. Erdbrocken flogen von den Hufen ihrer Rösser: edle Reittiere, die Alrik schmerzhaft an Ruß erinnerten, sein schwarzes Shadif, das in der Schlacht am Arvepass geblieben war.
Der spitzbärtige Anführer hob die behandschuhte Rechte, und die Kavalkade stoppte. Wie Strauchdiebe oder Marodeure sahen die Neuankömmlinge nicht aus: Die Haltung war tadellos und kerzengerade, die rondrianischen Blicke hätten jedem Schlachtengemälde Ehre bereitet. Alrik stellte fest, dass er den Anblick disziplinierter, regulärer Soldaten irgendwie nicht mehr gewohnt war.
Streng genommen sah eher seine, nun ja, Halblanze aus wie eine Rudel heruntergekommener Strolche. Alrik klopfte die Pfeife aus und verstaute sie an seinem Gürtel.
Der Befehliger lenkte sein Pferd zur Seite, seine Hand ging zum Säbel. "Was ist hier los, in Rondras Namen?"
Es schien einige Herzschläge zu dauern, bis der junge Spitzbart merkte, dass er nicht Zeuge eines Überfalls auf der Zackenberger Landstraße wurde
Der Phexgeweihte lüpfte formvollendet seinen Federhut. "Alrik Tsalind von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, Baron zu Friedwang", sagte er freundlich, buchstäblich entgegenkommend. "Das Fuhrwerk hier ist vom Weg abgekommen, wir haben geholfen."
Einen Moment lang kämpfte Misstrauen mit Verstehen, im Gesicht des Unteroffiziers. Als die beiden Fuhrleute die Geschichte bestätigten, nickte er knapp.
"Serdan Noris Burgschall, Weibel II. Lanze, 6.Schwadron Markgräflich Perricumer Grenzreiter" schnarrte er formvollendet, schlug mit der Faust gegen seine Brust und verneigte sich. "Euer Hochgeboren…"
Nun vermochte Alrik das Wappen auf dem Waffenrock zu erkennen: Auf der Herzseite zeigte es ein steigendes silbernes Pferd auf rotem Grund. Die heraldisch linke Seite zierte der gekrönte, silberne Delphinkopf über gekreuzten Säbeln, auf meerblauem Grund. Das Wappen der Markgrafschaft Perricum.
Einen Moment lang verzog Alrik das Gesicht. Immerhin war er der Enkel Sangive von Gluckenhangs. Somit Abkömmling einer Baronie, die mal tiefstes Süddarpatien gewesen war, und nun den Besitz Markgraf Rondrigan Paligans mehrte: Kaiserlicher Gemahl, Nachfahre Al´Anfanischer Granden, Reichsgroßgeheimrat. Alle drei Punkte schmerzten den altdarpatischen Edelmann: Primo, dass ein Herzstück des stolzen, Jahrhunderte alten Fürstentums wie eine Morgengabe den Besitzer gewechselt hatte. Secundo, dass es nun zu den Ländereien eines "Paligan" zählte - ein Name, den er, der in die Sklaverei verkaufte "Nachtfuchs" aus Brabak, kennen und fürchten gelernt hatte. Tertio, dass Rondrigan als Reichsgroßgeheimrat in die Fußstapfen eines Dexter Nemrod getreten war, seines einstigen Grafen und stillschweigenden, überaus stillschweigenden Gönners.
"Perricumer Grenzreiter? Seid Ihr nicht ein wenig arg weit nach Norden geraten?" entschlüpfte es dem Schwarzsichler Baron.
Wenn Burgschall die Stichelei erahnte, ließ er es sich nicht anmerken. "Serdan Noris Burgschall" sah wirklich aus, wie Alrik sich einen Perricumer "Fischkopp" vorstellte: Glatt und stromlinienförmig wie ein Delphin, schneidig wie die Klingen im Markgräflichen Wappen. Zugleich aber gutherzig, aufrecht, edel und idealistisch. Ein Fischkopp war der Weibel eigentlich auch nicht, sondern ziemlich gutaussehend, zumindest für einen Unteroffizier. Außerdem schien er zwei Vornamen zu haben, womit er sicher ebenfalls Eindruck schinden konnte, bei den Damen.
"Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass die Grenzreiter tief im Süden stationiert sind, um unsere Grenze nach Aranien zu behüten", fügte Alrik mit charmanten Lächeln hinzu, nicht ohne seinen Siegelring in der Sonne blinken zu lassen. Nein, er hegte keinen echten Groll gegen die Perricumer. Rondrigan Paligan hatte kaum mehr als den Namen mit der verruchten Al´Anfaner Grandensippe gemein, nach allem, was man vom Gemahl der Kaiserin Rohaja so hörte.
Weibel Burgschall schien nun überzeugt zu sein, dass er es hier mit einem echten Adeligen zu tun hatte.
"Friedwang? Liegt das nicht weit oben in der Rommilyser Mark?"
"So ist es. Ich hoffe, wir haben keine Grenzstation und keinen Schlagbaum verpasst", meinte Alrik, und klang schon wieder spitz. "Besondere Umstände haben uns dazu gezwungen, durch den Darpat zu reiten. Wir haben jedenfalls nichts zu verzollen, werter Herr Grenzreiter."
"Ihr missversteht uns, Euer Hochgeboren. Wie Ihr schon sagtet, eigentlich obliegt uns die Grenzwacht am Barun-Ulah, rund um Burg Ferkina. Wir sind auf der Suche nach einem Deserteur, der einen guten Kamerade gemeuchelt hat. Feige von hinten erschlagen, am hellichten Tag in Darrenfurt. Ein Halbblut, das uns eigentlich im Kampf gegen die Barbaren des Raschtullswalls beistehen sollte, als Späher. Vor kurzem haben wir erfahren, dass er sich einer Räuberbande in den Trollzacken angeschlossen haben soll, seiner alten Heimat. Obristin Doranthe von Zwickenfell war so großzügig, uns die Jagd auf den Verräter zu gestatten, fern der aranischen Grenze. Eine Frage der Regimentsehre - die Geschichte hat sich schon etwas herumgesprochen. Diese Wilden respektieren einen nur, wenn man bereit ist, die Bestrafung für ein Verbrechen selbst zu vollziehen. Die Barbaren würden es Blutrache nennen. Wir nennen es Genugtuung."
"Natürlich" Alrik nickte verständnisvoll.
Jodokus war der Erste, bei dem der Heller fiel. "Es könnte sein, dass Ihr zu spät gekommen seid, Weibel Burgschall. Wir hatten gestern eine Begegnung mit einem riesigen Räuber, auf dem Eure Beschreibung ganz gut passen würde. Eine Begegnung, die für den verrückten Burschen tödlich geendet ist." Ein stolzer Blick zu Haldana, die eher melancholisch als stolz drein sah.
Weibel Burgschall wirkte regelrecht enttäuscht. "Drüben auf der garetischen Seite?"
"Ja. Die Bande hat einen Flusskahn überfallen und der Trollzacker dabei unsere Gefährtin in seine Gewalt gebracht. Sie hat sich mit dem Messer gewehrt. Erfolgreich, würde ich sagen"
"Nun, sie sind alle so riesig, wie sie verrückt sind, diese Barbaren. Hoffen wir, dass es den Richtigen erwischt hat. Der Tod durch die Klinge einer Gefangenen, noch dazu einer Blutlosen, wie sie sagen. Nun, das wäre ein überaus schimpfliches Ende, wie es dieser götterlose Schurke verdient hätte. Nicht in meinen Augen, versteht mich recht, da sei Frau Rondra vor. Aber in den Augen der Wilden zählt eine Frau weniger als ein Lastpony. Mein Kompliment, Frau, äh…"
Eine angedeutete Verbeugung in Richtung Haldana, die halblaut ihren Namen nannte.
"Wie es scheint, suchen wir alle die gleiche Bande?!" hakte Alrik ein.
"Gut möglich. Der Landvogt bat uns heute morgen um Amtshilfe. Vor ein paar Stunden hat ihn die Nachricht erreicht, dass ein Schiff am Perricumer Ufer des Darpat gestrandet ist. Menschenleer und geplündert."
"Ja, der Rest der Bande konnte mit dem Treidelkahn entkommen", sagte Alrik. "Eine etwas komplizierte Geschichte. Ich fürchte, dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Strauchdiebe handelt. Ein abtrünniger Edler aus Rommilys führt sie an, namens Gerrich, und sein verkommener Sohn. Wir haben außerdem Grund zu der Annahme, dass sie mit einem Hexenweib unter einer Decke stecken. Sie haben sieben Traviapilger verschleppt, ich glaube sogar aus Knoppsberg. Vermutlich zu unheiligen Zwecken."
Weibel Burgschall wurde doch etwas blass um den Schnurrbart. "Eine Hexe? Praios steh uns bei!" Hastig schlug der Grenzreiter das Sonnenzeichen, und seine Fast-Lanze tat es ihm gleich.
"Ich denke, wir sollten in dieser Angelegenheit zusammenarbeiten. Selbst wenn der Verräter schon gerichtet sein sollte, harren die unglücklichen Gefangenen immer noch der Befreiung. Mein Hofmagier Hesindian kennt sich mit schwarzmagischen Ränken aus...des Gegners, meine ich. Sagt Euch der Name Kurgasberg etwas?"
"Wie? Nein...Das heißt, Kurgas, so nennen sich die Wilden der Trollzacken selbst, in ihrer fürchterlichen Sprache, oder?"
"Offenbar handelt es sich um ein lange verlassenes Dorf in den Bergen, wo die Bande ihr Versteck hat."
"Ich denke, es wird Zeit für eine ausführliche Lagebesprechung." Der Weibel drehte sich im Sattel um. "Absitzen. Korporal Flux, zwei Wachposten einteilen. Der Rest darf sich einen Moment die Beine vertreten." Dann glitt er selbst aus den Steigbügeln und zog eine Karte aus der Satteltasche hervor.
"Wir befinden uns einige Meilen vor der Grenze zur Rommilyser Mark, also Neuborn, denke ich. Wie gesagt. Heute früh kam ein Bote aus dem Hartsteenschen nach Knoppsberg und hat von dem gestrandeten Flusschiff berichtet. Es liegt ungefähr auf der Höhe dieses Sees dort, kurz vor der Flussbiegung. Die kaiserliche Feste Darpatwacht hat sofort ein Boot dorthin geschickt, zwecks Erkundung der Lage. Das Schiff, die Flusshexe, war allerdings schon verlassen. Die Patrouille hat sofort die Verfolgung aufgenommen, es gab Feindberührung. Angesichts der Gegenwehr und des sumpfigen Geländes, noch dazu auf Perricumer Gebiet, hat sich Burgvogt Brinidan darauf beschränkt, Vogt Leomir auf Burg Knoppsberg zu benachrichtigen. Wir vermuten, dass die Räuber zur Landstraße nach Neuborn unterwegs sind. Die Schurken wissen genau, dass es die Rabenmünd...die Rommilyser nicht gerne sehen, wenn wir die Grenze überschreiten, ungefragt und mit Waffen. Unsere Hoffnung ist, dass wir ihnen rechtzeitig den Weg abschneiden können. Das Spiel hat das Pack wohl schon ein paar Mal gespielt - aber nun verfügt Leomir über schlagkräftige Reiter. Meine tapferen Jungs und Mädels."
Alrik musterte die Karte. "Nun, was den Grenzübergang angeht, mag ich Euch Hilfe leisten. Immerhin bin ich Baron der Rommilyser Mark, und Herr von Baernfarn hier" - ein Blick zu Jodokus - "verfügt dort auch über einen guten Namen. Allerdings fürchte ich, dass es der Bande diesmal nicht ums Rauben und Plündern nebst anschließender Flucht geht. Jedenfalls nicht nur. Eine etwas komplizierte Geschichte, die mehr mit Schmuggel als mit Flusspiraterie zu tun hat. Sie wollen in dieses Kurgasberg, da bin ich mir sicher, und das liegt irgendwo in den Bergen. Die Betonung liegt auf irgendwo. Wir müssen sie unter allem Umständen aufhalten, denn sie planen ein finsteres Ritual, bei dem die Gefangenen geopfert werden sollen. Was nichts daran ändert, dass ich nicht weiß, wo dieses Geisterdorf liegt - und die Trollzacken groß sind." Der Mondschatten strich mit dem Pfeifenstil über die eingezeichneten Bergketten. "Vielleicht wollen sie wirklich über die Grenze nach Norden. Womöglich steuern sie geradewegs die Berge im Osten an, Richtung Hendweiler. Oder sie haben still und heimlich umgedreht, und sind schon wieder auf dem Weg nach Südosten. Wir könnten die Himmelsrichtung genauso gut auswürfeln."
Hesindian schlug sich an die Stirn, so dass sein spitzer Zauberhut verrutschte. "Natürlich, das ist die Lösung."
Der Magier strahlte in die Runde, und schob mit dem Stab die Kopfbedeckung wieder zurecht.
"Wir haben ja noch die gezinkten Glücksspiele des Hexers. Die Boltankarten, die Würfel, und das Chorhoper Glücksrad. Die deuten doch geradewegs in die Richtung, wo sich Gerrich aufhält?! Wie dumm von mir, dass ich da nicht früher dran gedacht habe. Oder besser gesagt, dass ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe."
"Mein Hofmagus und arkaner Berater Hesindian von Orweiler - hesindial wie immer", brummte Alrik mehrdeutig.
"Ich verstehe nicht ganz?" Weibel Burgschall faltete die Karte wieder zusammen.
"Wir haben die Möglichkeit, den Hexer von Rommilys magisch aufzuspüren, den Anführer der Bande."
Der Edle von Orweiler eilte zu seinem Packpferd, und holte einen in Tuch eingeschlagenen Kasten heraus.
Einige neugierige Blicke der Grenzreiter trafen den Magier, über geöffnete Feldflaschen oder angezündete Pfeifen hinweg.
Selbst die Darpatbullen schienen beeindruckt zu sein - ebenso wie die Fuhrleute.
Hesindian achtete nicht darauf, sondern enthüllte das Glücksrad. Es bestand aus einer Drehscheibe, das kesselartig in ein rundes Ebenholztischchen eingelassen war, das wiederum auf sechs kleinen Füßen stand. Die Scheibe war in zwölf Fächer unterteilt, die jeweils die Symbole der Götter zeigte, wie bei einer Sonnenuhr. Hesindian platzierte das Glücksrad so, dass der Praiosgreif nach Norden zeigte, ungefähr dem Verlauf des Weges entsprechend.
Nun "zauberte" der Arkane Berater eine kleine Elfenbeinkugel hervor: "Noch werden Wetten angenommen, meine Herren und Damen. Nein? Na gut..." Hesindian betätigte das Drehkreuz und warf die Kugel ins rotierende Rad. "Nichts geht mehr."
Ein kullerndes Geräusch wetteiferte mit dem Zwitschern der Vögel. Am Ende lag die Kugel im Fach mit der Löwin, Rondras Zeichen. Der "Hexer von Rommilys" trieb sich demnach nordöstlich von ihnen herum.
Weibel Burgschall zwirbelte sich verlegen den Spitzbart. "Wie zuverlässig, sagtet Ihr, ist diese Methode?"
"Nun, wir können das ganze nochmal überprüfen", sagte Hesindian und warf drei knöcherne Würfel.
"Ne 6, ne 2 und ne 1" stellte die Fuhrfrau fest. "Hat das jetzt was zu bedeuten?"
"Ja, das ergibt 9" Der Magier deutete auf die Würfel, die vor die Glücksrad-Kugel gerollt waren, mit merkwürdig eckigen, unnatürlichen Bewegungen. "Ebenfalls Nordost, würde ich sagen. Die Würfel zeigen fast in die gleiche Richtung wie die Elfenbeinkugel "
"Ist die Kugel magisch, weil die aus Elfenknochen geschnitzt ist?", wollte der bärtige Ochsentreiber wissen.
"Elfenbein besteht nicht aus Elfenknochen" murmelte der Magier. "Sondern aus den Zähnen eines Tieres, das im Tulamidenland lebt...fern im Süden. Egal. Allzuviel Vorsprung kann Gerrich nicht haben, mit seinen Gefangenen. Zu Pferde holen wir ihn schnell ein. "
Fluchend brach Alrik durch das dichte Unterholz, hackte einen Farn beiseite und führte Flocke um einen umgestürzten Baumstamm herum. Irgendwie erinnerte ihn der Knoppsberger (oder war es der Neuborner) Hangwald an unschöne Erlebnisse im dampfenden Dschungel Meridianas.
Irgendwo schnarrte ein Specht. Ein Eichhörnchen protestierte zirpend gegen die Störenfriede. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Walddecke.
"Es ist ja schön, dass wir jetzt wissen, wo sich Gerrich befindet...oder er sich vielleicht befinden könnte." Auch Jodokus prallte zurück, in diesem Fall vor einem Netz, von dem sich gerade ein kleines Spinnchen abseilte. "Wenn diese kleine Kugel Recht hat. Aber ein richtiger Weg nach Kurgasberg wäre auch nicht schlecht."
Schon seit geraumer Zeit führten sie ihre Pferde am Halfter, und stolperten zwischen Bergwald und felsigen Abhängen umher. "Wo ist überhaupt Nordost?" Der Baernfarn pflückte einige Kletten aus seinem Umhang - ebenso wie eine Dornenranke aus seiner Rüstung, die sich tief ins Leder gebohrt hatte. Auch Haldana fluchte, als sie zum hundertsten Mal stolperte und ihr Pferd beruhigen musste.
"Tuvok würde es wissen" brummte der Zwerg und starrte geradewegs auf einen dicht bemoosten Baumstamm. "Wo ist nochmal diese Wetterseite?"
"Da wos Miesch wächst" keuchte Haldana.
"Das Zeug wächst auf allen Seiten prächtig", stellte Rovik fest. Er blinzelte nach der Sonne, aber die schien sich gerade zu bewölken
Alrik hielt nach dem Jäger Ausschau, der ihrem stattlichen Trupp tatsächlich vorausgeeilt war, als Kundschafter.
Die Grenzreiter sahen ebenfalls schon aus wie eine geschlagene Armee auf dem Rückzug.
"Es sollte doch eine Abzweigung nach Kurgasberg geben" schimpfte Jodokus.
"Such dir einen Zweig aus" Alrik verschnaufte für einen Moment und erschlug eine lästige Mücke. "Ich glaub langsam wirklich, dieser Efferdi Falswegen hat irgendwie Knoppsberg und Kurgasberg durcheinander gebracht."
"Kein Wunder, dass sie ihn vom offenen Perlenmeer an den Arsch von Väterchen Darpat versetzt haben" lästerte Jodokus.
Alrik sah den Patrizier erstaunt an. Der "Schnösel" konnte in der Wildnis ja ein richtiger Kumpeltyp sein. Firun war halt doch der Schutzgott des Hauses Baernfarn. Der Friedwanger bot ihm einen Schluck aus seinem "Flachen Valpo" an. Dankbar nahm der Rommilyser einen tiefen Schluck. "Ah, Trollbirne."
"Unser Tuvok kehrt wieder heim" stellte Alrik fest, nachdem er sich ebenfalls etwas aufgemuntert hatte. "Mal sehn, ob er Jagdbeute dabei hat".
Der Jäger eilte leichtfüßig herbei, und schien nicht im mindesten müde oder abgespannt zu sein. Der kleine Ausflug in den Wald bereitete ihm offenkundig Spaß.
"Da vorne sind jede Menge Fußspuren" berichtete Tuvok. "Eine alte Waldlöwenfährte gäbe es auch noch. Und das hier habe ich auch gefunden, neben einem Ameisenhaufen."
Der Waidmann öffnete seine Handfläche, in der eine kleine Bronzebrosche lag, in Gänseform.
"Domarian, der Travialieb", sagte Haldana sofort.
Mit der Hand wies Tuvok die Richtung. "Da vorne ist ein kleiner Bach. Den sind sie entlang gezogen."
Tatsächlich erreichten sie nach einigen Mühen den Bachlauf, der durch eine tief eingekerbte Schlucht plätscherte. Das Wasser war durch die Trockenheit ziemlich geschwunden, so dass sie am breiten Ufer gut vorankamen. Auch die Spuren waren auf feuchtem Grund leicht zu verfolgen. Der Trupp ihrer Gegner hatte hier wohl kurz gerastet. Auch die Verfolger erfrischten sich und tränkten die Pferde.
Etwa eine Stunde lang verlief der Weg äußerst windungsreich, aber ohne größeres Hindernis. Nur der zunehmend bewölkte Himmel erschwerte die Orientierung. So langsam hatten die Wanderer das Gefühl, in eine andere Welt einzudringen.
Immer höher ragten die Felsen zur Linken und zur Rechten auf, deren Abhänge nur noch von Nadelbäumen bewachsen waren.
Der Gedanke, dass diese Einöde hier nur das Vorgebirge der "Zacken" sein sollten, war fast beunruhigender, als wenn sie sich schon ins Hochgebirge begeben hätten. Das Bächlein mündete in einen weiteren, laut plätschernden Wasserlauf, der schon deutlich mehr Wasser führte. Die Felswände erhoben sich zu einer großen, von windschiefen Tannen und Fichten bewachsenen Schlucht.
"Ist der Gipfel da hinten der Wolfenkopf?" wollte Jodokus wissen.
Alrik musste passen. Hatte er vorhin noch das Gefühl gehabt, nicht voranzukommen, stießen sie nun erschreckend schnell ins Reich der "Königin der Berge" vor. Die Sichel wuchs nicht derart steil aus dem Flachland empor wie die Trollzacken. "Ist der Wolfenkopf überhaupt ein Berg? Ich dachte, das wäre ein Kloster. Wo ist Tuvok schon wieder?"
Der Jäger war tatsächlich mit Spurenlesen beschäftigt, ebenso wie einige der Grenzreiter. Aus irgendeinem Grund schienen sie damit nicht voranzukommen.
"Die Räuber sind womöglich durchs Wasser gewatet" vermutete Jodokus. "Unsere Spürhunde scheinen die Fährte jedenfalls verloren zu haben. Was für eine Wildnis..."
"Das? Das ist noch keine Wildnis", flachste Alrik. "Das ist gerade mal Firuns Vorgarten. Hesindian, die Karten?"
Der Magier hatte die magischen Boltankarten bereits ausgepackt und warf sie auf eine Felsplatte. Wie von Geisterhand bewegt, schienen sich die bunten Karten selbst auf dem steinernen Tisch auszurichten. Sie wiesen eindeutig"fluss"aufwärts.
Nun war es an Haldana, Tuvok die Richtung anzuzeigen.
"Laut unserem Magier gehts da lang" verkündete auch Rovik. "Keine Spur gefunden?"
"Zu viele Spuren" sagte Tuvok, etwas einsilbig. "In beide Richtungen. Und dazu noch schlechtes Licht."
"Die haben sich geteilt?" wollte Jodokus wissen.
"Ich denke eher, der Pfad hier wird öfters benutzt. Manche Fährten sind schon älter. Da hinten liegt ein völlig verrostetes Hufeisen."
"Ah, unsere Abzweigung", sagte Alrik, ein wenig sarkastisch.
Der Weg entfernte sich etwas vom Bachlauf, wurde steiler und folgte der Anhöhe. Unten, im Tal, weitete sich das Flüsschen zum blauschimmernden See, hinter einem Biberdamm, halb verborgen hinter Fichten, Tannen, Lärchen und Zirbelkiefern. Jodokus nutzte die Gelegenheit für einen Rundblick mit seinem "Zauberglas".
"Und?" wollte Rovik wissen.
"Ich glaube, das da hinten sind schon Gemsen" sagte der Patrizier fasziniert. "Was ist denn das? Das gibt´s doch nicht. Ein Troll? Nein, nur ein Felsen. Schade. Oh, putzig, auf der Alm sitzen Biber und grasen."
"Grasende Biber?" fragte Alrik erstaunt.
"Des sin Mistbellerli" meinte Haldana, leicht genervt.
"Mistwas?"
"Murmeltiere" grinste Tuvok.
Sie ritten den Pfad weiter, der eine hohe, dicht bewaldete Bergflanke entlang führte. Auf einer Hochebene ragte ein Turm aus Felsbrocken auf, jeder größer, als dass sie ein Mensch hätte umfassen können. Aufgetürmt von Trollen?
Selbst im Dämmerlicht war die Aussicht gigantisch, über die schattenverhüllten Täler und Schluchten hinweg. Die Luft war frisch, klar und duftete nach Blumen und Frühlingskräutern. Tuvok erspähte einen Bergadler, der über ihm seine Kreise zog, im Reich der Wolken.
Der gleiche Adler wie er ihn am Darpat gesichtet hatte? Einen Moment lang gab sich der Jäger dem Gefühl hin, einen treuen Begleiter und ein gutes Omen gefunden zu haben. Es war unglaublich, wie abrupt die Berge begannen, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt: Zerklüftete, bizarre, gezackte Felsformationen. Womöglich stimmten die alten Legenden, dass die Trollzacken aus ihren versteinerten Namensgebern entstanden waren. Hier und dort schienen bärtige Gesichter und klobige Nasen aus den Felswänden zu starren.
Der Weg führte nun wieder nach unten, tiefer in den Nadelwald hinein. Wie ein Tor ragte der Überrest eines alten Gefluders vor ihnen auf: eine Wasserrinne für die Holzschwemme, die auf Pfeilern über den Pfad geführt hatte, und nun größtenteils eingestürzt war. Die Gegend schien früher einmal dichter besiedelt gewesen zu sein. Oder überhaupt einmal besiedelt gewesen zu sein.
Nach einer Weile ritten sie wieder durchs Tal, den Bach entlang, der an dieser Stelle bereits ein rauschendes Wildwasser war, zu Füßen der Pferde. Die Felsen rückten näher und näher an den Gebirgspfad heran. In der Ferne grollte ein Gewitter.
Die Reiter erblickten eine Höhle, deren finsterer Eingang sich zur Rechten öffnete, groß wie ein Burgtor, unter einem vorkragenden Felsen.
Der Himmel wurde dunkler und dunkler. Dann, ohne weitere Vorwarnung, zischte ein Blitz herab und setzte mit funkensprühender Flamme eine alte Kiefer in Brand, hoch über ihren Köpfen. Die Pferde wieherten, scheuten, wichen zur Seite aus oder stiegen. Ein Grenzreiter stürzte fluchend aus dem Sattel.
Toktoktok. Nun prasselte Hagel herunter, erst in der Größe von Kies, dann nussgroß, hart und schmerzhaft. Firuns Gruß knallte laut gegen die Helme und Rüstungen.
"Zurück zur Höhle", brüllte Weibel Burgschall gegen das Toben der Elemente an. Es wurde stockfinstere, eiskalte Nacht, durchzuckt vom grellen Lichtschein der Blitze, in dem schneeweißer Hagel und grauer Regen flirrte. Das erste Pferd ging durch, in Richtung Höhle, ein weiteres stürzte, mitsamt Reiterin. Ihre Gefährten halfen ihr auf.
Alrik fluchte, wie ein Brabaker Gassenjunge, der er ja auch mal gewesen war. Sein Federhut flog einfach davon, und damit der letzte Schutz gegen den Hagelschlag. War das Hexenwerk? Die eisigen Geschosse wurden immer größer. Es half alles nichts, der Weibel hatte Recht. Nur in der Höhle waren sie einigermaßen sicher. Insofern dort kein Höhlenbär saß...
Durch die Nachtschwärze kämpften sie sich zurück, trafen nach und nach an der Höhle ein, wo sie Hesindian schon erwartete, im orangefarbenen Schein einer magischen Lichtkugel. Erschöpft stolperten sie hinein, vor Regen und teilweise auch vor Blut triefend. Immerhin, die Grotte war groß genug, um ein Dutzend Reiter mit Pferden aufzunehmen.
Drei Gefährten fehlten beim Durchzählen - zwei Grenzreiter. Und Haldana.
Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle.
Die alte Söldnerweisheit echote in Haldanas Kopf, während sie mit dem Rest ihres Bewusstseins versuchte, dass durchgehende Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Es konnte einfach nicht sein, dass sie nach so kurzer Zeit schon wieder entführt wurde. Diesmal von ihrem eigenen Pferd. Ein Missverständnis. Die Götter mussten doch endlich mal ein Einsehen mit ihr haben.
Es war alles wie in einem verrückten Traum. Ihr Warunker flog über den Pfad hinweg, der längst rutschig war von den unzähligen Eiskörnern. Dass sie nicht schon längst gestürzt war, ins Wildwasser, das im Licht der zuckenden Blitze neben ihr, nein, unter ihr schäumte, war das eigentlich Verrückte.
Die guten Götter waren gnädig. Die Schlucht weitete sich wieder. Als Haldana im prasselnden Hagelschauer die Zügel aus der Hand glitten, fiel sie nur auf eine nasskalte Bergwiese. Eine junge Tanne bremste ihren Sturz ebenfalls.
Sie rollte sich einigermaßen geschickt ab und stand wenig später schon wieder auf beiden Beinen. So dass sie ihrem Reittier hinterher blicken konnte, das mit schleifenden Zügeln und wehenden Steigbügeln im Unwetter verschwand - hinaus in dunkelste Nacht, die gerade eben noch ein freundlicher Frühlingstag gewesen war.
Der majestätische Hangrutsch, der polternd und krachend einsetzte, sah im ersten Moment sogar faszinierend aus, im Flackern der Blitze.
Dann rannte sie auch schon um ihr Leben, als sich Unmengen von Geröll, Erde, Baumstämmchen und Gestein in eine Lawine verwandelten. Die Mure landete im Bach, verstopfte die Engstelle, staute das Wasser in wahnsinniger Geschwindigkeit auf und schleuderte allerhand Trümmer in die Umgebung. Wieder hatte sie Glück, keines der Geschosse traf sie. Zumindest nicht diese Geschosse.
Was aus den Wolken prasselte, verfehlte sein Ziel nicht. Einige Hagelkörner waren nun fast taubeneigroß. Schläge, Schläge, Schläge. Instinktgetrieben taumelte sie auf einen großen, viereckigen Schatten zu. Eine alte Hütte, im Blockhausstil. Die Tür war offen oder besser gesagt, sie fehlte ganz.
Haldana taumelte hinein, kroch unter dem Teil des Holzschindeldachs in Deckung, das (gerade noch so) vorhanden war.
Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Blitz auf Blitz leuchtete ins Innere der Hütte, gefolgt vom Brüllen des Donners. Aus Hagel wurde prasselnder Regen und fauchender Sturmwind.
Sie fröstelte, bibberte, lag in einer immer größer werdenden Eiswasser-Lache, die mit hereingerollten Hagelkörnern angefüllt war. Stimmen umwisperten sie. Geisterhafte Fratzen starrten sie an, eine kalte Hand griff nach ihrem Herz.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ das dämonische Toben nach. Es wurde sogar heller. Der Regen verrebbte zu einem sanften Plätschern. Hörte schließlich ganz auf. Nur in der Ferne rollte noch Donner.
Sie kroch aus ihrer Hütte, rappelte sich auf. Freundliche Abendstimmung lag in der Luft, fast so, als wäre nichts gewesen.
Verstört sah sie sich um. Der Erdrutsch war fast an der engsten Stelle des Tals herunter gegangen, und hatte den Wildbach völlig verstopft. Immerhin, das Gewässer war stark genug, um sich einen Weg hindurchzubahnen, staute sich dabei allerdings mächtig auf. Über das Geröll und die zersplitterten Nadelbäume konnte man vielleicht noch hinüberklettern. Aber der aufgewühlte Stausee sah wenig vertrauenswürdig aus. Ganz so, als würde der Wasserdruck den Damm jeden Moment einreißen - und alles mit sich fegen, was sich ihm sonst noch in den Weg stellte. Immer wieder kollerten neue Steine die Schneiße herunter, die von der Mure in den Bergwald geschlagen worden war. Vielleicht würde es noch einen weiteren Bergrutsch geben? Alles am Ort der Katastrophe schien sie warnen, nein, anschreien zu wollen: Bleib fern von hier.
Abgeschnitten. Sie war von ihren Freunden abgeschnitten.
Als Kind der Sichel wusste Haldana nur zu gut, wie launisch das Wetter in den Bergen sein konnte. Aber dieses Unwetter war irgendwie zu heftig und plötzlich über sie und ihre Gefährten hereingebrochen. War das Sisa Brundels Werk? Wieder mal ein Hexenfluch?
Sie sah nach ihrem Pferd, aber nicht einmal Hufgetrappel war zu hören. Die umliegenden Gipfel schimmerten sanft im Abendrot, fast schon wie beim Sichelglühen. Irgendwo in den Wäldern heulten Wölfe. Witterten sie Frischfleisch?
Der Rapier hing noch über ihrem Rücken, wie sich das gehörte. Zumindest spürte sie die Klinge dort.
Was nun? In den Packtaschen befanden sich ihr Proviant, eine warme Decke und einige andere Dinge, auf die sie hier draußen ungern verzichten wollte.
Nur war ihr Hab und Gut mit dem Braunen gerade Praiosweißwohin galoppiert. Also erst mal hinterher.
Das Tal hier sah eigentlich recht freundlich aus. Einige hundert Schritt vom Felssturz entfernt wirkte der Bach fast normal. Türkisfarben plätscherte er in einem großen Geröllfeld dahin. Keine Spur vom Pferd.
Sie folgte dem gut ausgetretenen, regennassen Pfad. Hagelkörner knirschten unter ihren Füßen. Ein besonders markanter Berg fiel ihr ins Auge, der ein wenig wie ein geduckter Reiter aussah, der von oben in das kleine Tal blickte. Wie ein Ferkina – oder ein Kurga? War das der berühmte Kurgasberg?
Die Schlucht beschrieb eine sanfte Biegung. Rasch wurde es dunkler. Die Nacht brach herein, diesmal die echte. Der eine oder andere Stern blinkte zwischen Wolkenresten. Das Madamal stieg auf und hüllte alles in silbriges Licht. Rauchfarbener Nebel wallte aus dem Schatten der Wälder.
Erstaunt sah Haldana weitere Lichter im Halbdunkel flackern. Schindeldächer, Natursteinmauern und Holzwände tauchten im Mondlicht auf, hinter einem Palisadenwall. Ein hölzerner Wachtturm ragte empor. Am Bach klapperte ein Mühlrad. Lautes Stimmengewirr war zu hören, vielleicht aus einer Taverne. Ein, nein, eher zwei Dutzend Häuser. Die meisten bestanden wohl aus Holz, einige wenige aus Stein. Ein kleiner Tempel stand in der Mitte der Siedlung, am Dorfplatz. Rauch stieg über den Kaminen auf. Einige hundert Schritt hinter dem Dorf rauschte ein Wasserfall einen steilen Felsen hinab, nicht weit vom "Reiterberg" entfernt.
Alles war unwirklich, wie in einem Traum, der noch kein Alptraum war - aber doch bedrückend. Das Dorf schien irgendwie aus Nacht und Nebel zu bestehen, nicht aus echten Holzbalken oder Steinblöcken. Angst stieg in Haldana auf, aber noch etwas anderes: Eine Art gespannte Erwartung lag in der Luft, wie auf einer nächtlichen Jagd, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Dinge sahen, die bislang im Verborgenen geblieben waren. Ihre ungemein geschärften Sinne sahen beides: Ein trostloses Ruinenfeld - und das Dorf. Beide Szenen schienen einen Moment lang ineinander zu verschwimmen, wie bei einer Fata Morgana in der Khomwüste (eine Luftspiegelung, von der ihr einmal ein reisender Händler erzählt hatte).
"Willkommen in Kurgasberg". Obwohl die Stimme vertraut war, zuckte Haldana innerlich zusammen. Ein zarter Geruch nach Bienenwachs drang in ihre Nase.
Sie drehte sich um und sah in das gütige, pummelige Gesicht von Nasdja, ihrer Ahnin. Ein himmelblaues Gewand, die Bienenkorb-Zöpfe, der kahl rasierte Schädel. Kein Zweifel, das war ihre Ururur… Großmutter.
"Nasdja, was machst du denn hier?"
"Geister heften sich gerne an, eine alte Untugend. " Die Zibilja hob ihr Pendel. "Entschuldige, ich musste dich schon wieder von deinem Körper trennen, in der Hütte. Dieses Tal ist bösartig. Verflucht. In deiner jetzigen Gestalt bist du sicher. Naja, etwas sicherer. Ich will nicht übertreiben."
"Du hast was?" Entsetzt sah Haldana auf ihre Hand, die tatsächlich durchsichtig wirkte. Das Mondlicht schien regelrecht hindurch zu scheinen. Da war wieder dieses schaurig-schöne Gefühl des Schwebens, des schwerelos Dahingleitens zwischen den Welten.
"Schau nicht auf die Ruinen, aus denen Kurgasberg heute besteht. Konzentriere dich auf die Häuser, wie sie früher einmal ausgesehen haben."
Verwirrt blickte Haldana zum Dorf. Runzelte die Stirn. Die Häuser gewannen tatsächlich wieder an Konturen, wurden "diesseitiger". Oder war sie es, Haldana von Schlotz, die tiefer ins Jenseits blickte? Tatsächlich schien das Tal mit einem mal ins Dunkle entrückt zu sein, während das Dorf klar und deutlich vor ihr aufragte.
"Was hat das alles zu bedeuten?"
"Kurgasberg ist ein Geisterdorf. Was glaubst du, könnte es mit diesem Namen auf sich haben, Kindchen?" Die Norbardin verstaute ihr Pendel wieder. "Du hast schon ein wenig über die Zwischenwelt gelernt, bei unserer letzten Begegnung. Aber ein ganzes Dorf voller Geister, das ist noch einmal etwas anderes. Heute ist der Jahrestag, musst du wissen."
"Der Jahreswas? Du sprichst in Rätseln."
"Natürlich tue ich das. Wir Norbarden sind schließlich ein hesindegefälliges Volk. Das Leben ist voller Rätsel. Eines davon ist der Tod. Während du in der Hütte gezittert hast, habe ich schon ein wenig von den Dingen erspürt, die in diesem Tal vor sich gehen. Es ist, als ob die Steine selbst zu einem sprechen würden, das Wasser, der Himmel und die Erde. Jedes Jahr im Frühling durchleben die Geister noch einmal das Ende von Kurgasberg. Das Ende im Giftregen einer Grünen Wolke, die um Mitternacht aus dem Bergwerk aufsteigen wird. Tief im Berg haben die Hauer etwas entdeckt, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ungefähr dort, wo der Wasserfall entspringt. Vor etwas mehr als hundert Wintern muss an diesem Ort etwas Fürchterliches geschehen sein. Ich hatte leider nur eine kurze Vision davon. Leider, und Hesinde sei Dank. Der Regen, der aus der Grünen Wolke fällt, bringt Unheil. Rote Beulen und Pocken, die die Menschen in Windeseile in den Wahnsinn treiben. Sie müssen sich gegenseitig erschlagen haben: die einen, um sich vor dem Roten Tod zu schützen, die anderen, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie haben manche der Kranken sogar in ihre Häuser gesperrt und diese angezündet. Die Gier nach dem Silber der Opfer hat wohl ebenfalls eine Rolle gespielt. Ein Teil hat sich gewehrt und wiederum die Angreifer erschlagen. Ein fürchterlicher Ort."
"Die Zorganpocken, ich verstehe." Haldana nickte. Hundert Götterläufe sollte das etwa her gewesen sein? Nun, dann war das wohl in der unseligen Kaiserlosen Zeit gewesen. Die Ära der Erbfolgekriege, als die grausamste aller derischen Pestilenzen ins Reich eingeschleppt worden war, durch aranische Kornschiffe.
"Gut zu wissen. Aber ich würde nun gerne wieder in meinen Körper zurückkehren. Die Trennung war das letzte Mal… nun ja, ziemlich gespenstisch."
"Nun, ich fand die Welt der Toten schon immer interessant. Schon zu Lebzeiten. Geister können überaus nützlich sein, nicht nur die irrlichternden Seelen der Menschen. Ich habe die Kurgasberger ein wenig belauscht. Wenn ich ihre Gespräche richtig deute, haben die Dorfbewohner damals einen mächtigen Luftgeist in ihre Dienste gezwungen."
"Einen Luftgeist?"
"Ja, ich glaube, es war Sisas Werk. Die Kurgasberger haben geglaubt, dass die Zorganpocken durch schlechte Luft zu ihnen heran geweht werden könnte. Also haben sie einen Luftelementar gebannt, der sie vor den Ausdünstungen der Welt da draußen beschützen sollte. In dem er einen ständigen leichten Ostwind über das Tal wehen ließ, weg vom Dorf."
"Moment. Sisa stammt aus Kurgasberg? Und sie ist… über hundert Jahre alt?"
"Ich glaube schon, auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen sein muss. Allerdings ein Kind, das mit Geistern gesprochen hat, so wie du" Nasdja lächelte, ein wenig stolz. "Die Tochter des Dorfschulzen, Wim Brundel. Er hat durch sie den Wahren Namen des Sylphen oder Luftelfen erfahren, wie sie ihn nennen. Wie auch immer, das ständige Lüften hat den Kurgasbergern wenig genutzt. Die Sieche, oder auch nur der Wahnsinn, kam aus dem Innersten ihren kleinen, abgeschotteten Welt. Nicht von außen. Wie so oft. Aber all das ist längst geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Geister ändern sich nicht mehr, das ist der Unterschied zur Welt der Lebenden. Ihr könnt euch noch ändern, eure Seele weiterentwickeln, vielleicht sogar vervollkommnen. Aber ich schweife ab. Es ist der Sylph, der jetzt Sisas Hexenhütte durch die Lüfte tragen muss. Das Riesenfass von Rommilys, auf dem du an den Darpat verschleppt worden bist. Das Fass verschließt gerade den einzigen Eingang ins Bergwerk, der bis ganz nach unten führt. Die Räuber sind in diesem Moment dabei, die Gefangenen dorthin zu bringen, in der Gegenwart. Wenn deine Gefährten das Ritual verhindern wollen, musst du den Luftgeist aus Sisas Knechtschaft befreien, damit er das Fass für euch beiseite heben kann."
"Moment, ich soll jetzt in dieses Geisterdorf hinein schweben, das offenbar immer noch in der Zeit Pervals lebt...?"
"Lebt ist vielleicht der falsche Ausdruck."
"Egal. Ich soll also mir nichts, dir nichts hinein spazieren und diesen...untoten Dorfschulzen nach dem Namen des Sylphen fragen?"
"Du lernst schnell. Aber keine Angst, ich werde dich begleiten."
"Warum habe ich den Verdacht, dass sie uns selber für Spukgestalten aus einer anderen Welt halten werden? Was wir ja auch sind - Leute, die Gespenster sehen? Also zumindest ich...du bist ja schon tot."
"Nun, die meisten Geister wollen im Grunde ihrer Seele erlöst werden. Um dann ins wahre Jenseits zu gehen. Auch wenn sie anfangs oft nicht wahrhaben wollen, dass sie Geister sind. Du hast es ja selbst schon erlebt, bei der armen Mia. Kurgasberg ist noch immer restlos überzeugt, ein Ort der Lebenden zu sein, kein Geisterdorf. So kann man sich irren."
"Sie werden uns niemals glauben...die denken doch, wir sind Verrückte. Fremde, die ihnen die Pest ins Dorf bringen. Wenn sie sich am Ende sogar gegenseitig abgeschlachtet und verbrannt haben, aus Angst vor den Zorganpocken."
"Mag sein, aber der eine oder andere Umstand könnte uns nützlich sein. Am letzten Tag von Kurgasberg - ein Tag, der seit über hundert Jahren wiederkehrt - ist die kleine Sisa spurlos verschwunden. Da sie ja immer noch unter den Lebenden weilt, kann sie nicht in ihrem Heimatdorf herumspuken. Wim Brundel und seine Frau Kiara vermissen ihre Tochter, und wären dankbar für jeden Hinweis auf ihren Verbleib. Natürlich müssen wir vorsichtig sein und behutsam vorgehen. Auf keinen Fall dürfen wir zugeben, dass wir aus dem Tiefland oder gar Rommilys zu ihnen gekommen sind. Letztlich müssen wir erreichen, dass Brundel uns vertraut und den Namen des Luftgeists nennt".
"Da würde ich aber gerne noch ein paar andere Umstände hören, die uns nützen könnten."
"Nun, die Kurgasberger nehmen Lebende wahr, sobald sie in ihr Dorf kommen, wenn auch nur äußerst schemenhaft. Ähnlich wie Geister. Die Räuber haben sich im einzigen unzerstörten Gebäude niedergelassen, dem Tempel des Ingerimm, in der Dorfmitte. Für die Kurgasberger spukt es in ihrem Tempel, was sie natürlich außerordentlich beunruhigt. Vor allem ihren Schamanen, wie sagt ihr: Geweihten? Sein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Er ist zugleich der Schmied. Für ihn ist es vollkommen unerklärlich, das in seinem Tempel, also auf heiligem Grund, Gespenster umgehen sollen". Nasdja lächelte erneut.
"Schließlich gibt es noch diese Entdeckung im Bergwerk. Die Kurgasberger sind heute auf eine Höhle gestoßen, mit merkwürdigen Zeichnungen, die sie ebenfalls ängstigen. Nun sitzen sie im Wirtshaus und beratschlagen, ob sie den Zugang verschließen oder den Abgrund weiter erkunden sollen, auf der Suche nach Erz. Die Wirtin heißt übrigens Raulinde Alfengrund. Sie ist böse, soviel kann ich spüren. Ich glaube, sie heckt schon seit längerem einen Plan aus, um an das Silber der Bergleute zu kommen - und mit der Beute anderswo noch einmal neu anzufangen, fernab von diesem finsteren Tal. Sie scheint einige der Bauern und Handwerker, die in Kurgasberg wohnen, auf ihre Seite gebracht zu haben. Das war dann wohl der Hauptgrund für das Gemetzel, neben der Furcht vor der Seuche: Nackte Gier. Die Pocken waren auch ein Vorwand, um ungestraft zu stehlen, zu morden und zu plündern."
"Raulinde Alfengrund? Doch nicht etwa eine Vorfahrin unseres Medicus?"
"Gut möglich. In diesem Dorf herrscht sehr viel Neid - und Hass auf den Schulzen, der offenbar selbstherrlich bestimmt, wer nach Silber schürfen darf und wer nicht. Wobei es sich nicht wirklich um einen Schatz handelt, auf den diese Alfengrund aus ist. Das Bergwerk scheint ziemlich erschöpft zu sein. Deswegen haben sie tiefer und tiefer gegraben...irgendwann zu tief."
Tuvok brummte etwas unverständliches vor sich hin, während er in mit seinem Bogen und etwas Holz ein Feuer bohrte. Der Nivese verwendete, anders als die meisten anderen Jäger, keinen Feuerstein, um Feuer zu machen. Seinen Bogen hatte er ohnehin immer dabei. Und da er im Feuerbohren geübt war, war der Jäger dabei nicht langsamer als andere mit dem Feuerstein. Bald prasselte ein kleines Feuer in der Höhle, das den durchnässten und durchfrorenen Männern gut tat. Auch Serdan und seine verbliebenen Männer und Frauen drängten sich um das Feuer.
„Auf ein Wort, Magier“ brummte Tuvok.
Hesindian zog die Augenbraue hoch. „Wie kann ich dir helfen. Das Feuer brennt schon, eine Feuerlanze wäre nun verschwendete Kraft“ Hesindian bemühte sich, mit einer humorvollen Bemerkung die gedrückte Stimmung – ob des Verschwindens von Haldana und zweier Soldaten – zu heben.
„Hmm“ brummte Tuvok in seinem gewohnten Ernst. „Ich glaube nicht, dass der Hagelschauer zufällig kam. Was meinst du, Magier?“
„Er kam schon sehr plötzlich. Und Sisa ist eine Hexe. Ja, ich hatte auch schon den Gedanken, dass da ein fauler Hexenzauber dahinter steckt. Wettermeisterschaft ist zwar allgemein eher druidisches Metier. Aber jedenfalls gibt es eine Formel, die den Hagelschauer verursacht haben könnte. Ich kann das aber nicht sicher feststellen.“ antwortete Hesindian sachlich.
„Ich hatte auch schon an Magie gedacht.“ warf Jodokus ein. „Mein Großvater war Druide, das ist bekannt. Bei den Drudnern in der Sichel ist der Zauber nichts Ungewöhnliches. Und auch Gerrich beherrscht Magie. Er kann etwas von Druiden gelernt haben.“
Alrik nickte. „Denkbar. Es gibt genug schwarzmagische Umtriebe, auch in der Sichel. Wir wissen es nicht.“
„Aber wenn das Unwetter von Sisa oder Gerrich gehext wurde,“ begann Tuvok, „dann wissen sie, wo wir sind. Mindestens ungefähr.“
Der Jäger sah ernst in die Runde, keiner der Mitstreiter wusste eine Antwort.
„Dann bleibt die Frage, woher sie das wissen“ setzte Tuvok seine Analyse fort. Die Stimme des Jägers hörte sich jetzt fast an wie Hesindian, wenn er einen Fachvortrag rezitierte. „Von Kurgasberg aus hätten sie uns nicht beobachten können. Nicht mal mit so einem Zauberglas, wie du eines hast.“ Tuvok nickte in Richtung Jodokus. „Keine Sichtverbindung. Dann müsste ein Späher wo anders gewesen sein. In dem dichten Wald ist das aber kaum möglich, so weit zu schauen. Auch nicht an diesem Flusslauf. Und ein Späher wäre kaum so schnell wieder zurück nach Kurgasberg gelangt, um dort Meldung zu erstatten und die Hexe auf den Plan zu rufen.“
„Was meinst du damit?“ wollte Jodokus wissen. „Und woher willst du wissen, dass Sisa und Gerrich in Kurgasberg sind? Sie könnten überall sein.“ Alrik hörte aus Jodokus Stimme dessen Unbehagen heraus. Sich mit Magie anzulegen war sicher nicht die Sache des Händlers.
„Weiß ich auch nicht, wo sie sind.“ brummte Tuvok. „Aber ich meine, sie haben uns aus der Luft beobachtet.“
„Nun, eine Hexe auf ihrem Besen hätten wir wohl gesehen“ warf Rovik ein. „Erst recht eine Hexe in einem großen Flugfass.“
„Nein, kein Besen. Kein Fass.“ Tuvok flüsterte. „Adler sind scheue Tiere. Sie spähen nicht da nach Beute, wo ein Jäger pirscht. Und erst recht nicht dort, wo eine Horde gepanzerter durch den Wald zieht. Überdies, Adler jagen viel lieber über offenem Gelände. Im dichten Wald tun Adler sich viel schwerer, Beute zu greifen.“
„Was meinst du mit Adler?“ wollte Jodokus wissen. „Welcher Adler?“
„Hat ihn keiner gesehen? Keiner von Euch hat den Adler gesehen, der über uns gekreist ist, als wir durch den Bergwald geritten sind?“ Tuvok sah in die Runde, alle Gefährten schüttelten den Kopf. Niemand war der Adler aufgefallen. „Der gleiche Adler ist übrigens schon über dem Rabenkopf gekreist, als ich den Berg bestiegen habe und mit diesem Zauberglas die Flusshexe gesehen habe.“
„Woher weißt du, dass das der gleiche Adler war?“ hakte Jodokus nach.
„Stadtmensch. Kannst du einen Hund wieder erkennen, der durch die Gassen stromert, oder schauen für dich alle Hunde gleich aus. Ich erkenne einen Adler wieder, wenn ich ihn sehe. Es war der gleiche. Aber für den gleichen Adler wäre die Entfernung doch recht groß vom Rabenberg bis hier her. So große Jagdreviere haben Adler üblicherweise nicht. Außerdem… woher haben die Räuber gewusst, dass sie zur Flusshexe kommen sollen und dass wir sie mit dem Steig um den Rabenberg umgangen haben? Hast du vergessen, was Haldana an Bord belauscht hatte? Die Räuber hätten uns abfangen sollen. Woher hätten sie denn sonst wissen sollen, dass wir sie umgangen haben, wenn uns nicht irgendwer beobachtet hätte? Es war kein Adler, was ich sah. Es war ein Späher. Magier, was sagst du dazu?“
Hesindian legte den Finger an die Wange. „Es gibt da natürlich Zauber, mit denen man Tiergestalt annehmen kann. Ein Zauber der Elfen. Die Thesis kenne ich, ich habe sie damals von Jirka gelernt. Der Zauber ist aber auch unter Magiern, Druiden und Hexen durchaus verbreitet. Es kann also durchaus sein. Aber es bleibt eine Theorie. Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, dann könnte ich das überprüfen...“
„Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, überprüfe ich das selbst“ unterbrach Tuvok und fasste nach seinem Bogen. „Ich schieße ihn einfach von Himmel. Einerlei ob das Sisa oder Gerrich ist.“
„So kann man es natürlich auch überprüfen“ stimmte Hesindian lapidar zu. „Mit dem Tod würde ein verwandelter Magier seine ursprüngliche Gestalt annehmen. Ich erinnere mich da an einen Pfeilschuss von Odilon Wildgrimm, damals, Alrik, auf unserer Maraskanreise, du erinnerst Dich? Da hatte der feindliche Magier auch in Vogelgestalt versucht, uns auszukundschaften. Ist über der alten Kapelle gekreist, in der wir uns verschanzt hatten. Aber wenn die Ausgekundschafteten über einen guten Schützen verfügt, wie wir damals, ist das… ja, riskant für den Zauberer.“
„Ja, ich erinnere mich.“ Alrik nickte. „Das ist eine Weile her, damals in Mylendijians Klause. Hat einen mächtigen Rumms gemacht, als statt eines Federviehs ein ausgewachsener Mann auf das Dach gefallen ist. Der Schuss von Odilon war nicht schlecht. Aus dem Liegen heraus geschossen, hinter einer Sanddüne in Deckung liegend. Damit hatte der Magier nicht gerechnet. Nun, Tuvok, wenn uns wirklich dieser Gerrich aus Adler auskundschaftet, ich kann mich mit deiner Methode zur Überprüfung wirklich anfreunden.“