Das Strafgericht
Das Strafgericht
oder
Von Richtern und ihren Henkern
Uwe Eichler
Dramatis Personae
Haus Friedwang, Marktfriedwängisch-Gallyser Linie
ALRIK TSALIND VON FRIEDWANG-BAERNFARN-GLIMMERDIECK, BARON ZU FRIEDWANG: eigentlich Identität zweier Personen – des 15 Hal nach Al´Anfa verschleppten, um sein Erbe betrogenen „wahren Alrik“, heute der Golgarit BISHDARIELON, sowie des 27 Hal an seiner Stelle nach Darpatien zurückgekehrten Brabaker Phexgeweihten FRANCESCO DI PALAZZO (sein Zwillingsbruder)
SERWA PHILIBINE VON FRIEDWANG-BAERNFARN-GLIMMERDIECK: Alriks aus Gallys stammende Frau, eine Hexenfreundin und Magiedilettantin
Haus Friedwang, Gießenborner Linie
GERNOT BLASIUS VON FRIEDWANG-GLIMMERDIECK: Alriks Vetter und Vorgänger, 28 Hal als borbaradianischer Verräter gestürzt
GOLO VON FRIEDWANG-GLIMMERDIECK: Gernots Sohn, ein Nachtmahr des Namenlosen
LUDWINA: Gernots Mutter, eine Hexe
OLEANA III. ALARA TRAVIANA VON FRIEDWANG-GLIMMERDIECK: Gernots Tochter, herrscht seit dem „Jahr des Feuers“ als Thronräuberin über Teile der Baronie Friedwang
Geweihte & Ordensleute
BISHDARIELON: Pseudonym des „wahren“ Alrik Tsalind von Friedwang, ein Golgarit
FRANCESCO DI PALAZZO: ein aus Brabak stammender Streuner und Phexgeweihter, der in die Rolle seines Zwillingsbruders Alrik Tsalind von Friedwang geschlüpft ist
GISBERT: ein Lichtbringer des Praiostempels von Markt Friedwang („Sankt-Alborans-Sieges-Basilika“)
GURVANIO HARNISCHER: intriganter Bannstrahler
KHADILION VON GARRENSAND: ein golgaritischer Ritter
LACERTINUS VON ZABERG: ein im Krieg umgekommener Tsageweihter, Francescos und Bishdarielons leiblicher Vater
NEIBHARD GARAFANION EULENKUHL: Prätor des Praiostempels von Friedwang
ORCHAN ERTTELGRIMM: Firungeweihter aus Nordenheim
PRAIODAN BULLENSCHLÄGER: Hoher Kommissar der Friedwängisch-Oppsteinischen Praios-Commission, ein Hauptmann des Bannstrahlordens
PRAIODICTUS TATZINGER: Luminifer der Sankt-Alborans-Siegesbasilika
Magiekundige
HESINDIAN SILPHO YA PHAITOS: Alriks Hofmagus, Edler von Orweiler
MERWAN: ein Erzvampir und Schwarzmagier, knechtete die Südsichel im Jahr des Feuers
VENEFICUS VON BAERNFARN: Serwas Bruder, ins Exil vertriebener Statthalter von Gallys
Barönliche Bedienstete
GRINIGULD DIE GRINDIGE: Kerkermeisterin
GESINE BRETZELBECK: Abgesetzte Konnetabelin in Diensten Baron Alriks
GERRICH BRANDRODER: Söldnerführer in Diensten Baronin Oleanas
JOBDAN KARNSTEYNER: Zehntknecht
LUTINA BURGWART: Korporalin der Baronsgarde
SEVERIN RAMMHÖLZEL: Leuitinger der Barönlichen Steinbockgarde, Gerrichs Stellvertreter
ULFERT GRÜTZ: Rottmeister der Zweiten Rotte der Barönlichen Garde (Goblinsöldner)
ZEKLA BISCHWIND: Rottmeisterin der Ersten Rotte
Sonstige
ABJO VON RAANAS STAMM: ein Nivese
BADILAK HUCKELACKER: ein friedwanger Bauernsohn, genannt „Badi“, ein Freund Malte Hornbachers
GROME: Dorfttrottel von Markt Friedwang
HASSO DAS TRÜFFELSCHWEIN: Abtrünniger Nanduriat und Tasfaralel-Paktierer
HAGEN STOOR: Schultheiß des Marktfleckens Friedwang
MALTE HORNBACHER: friedwanger Bauernbursche, Freund Badilak Huckelackers
Prolog
Die Grottenolme hatten sich längst verzogen. Waren in der lichtlosen Finsternis verschwunden.
Nur ab und an durchdrang ein leises Glucksen die Dunkelheit. Fahles, grünliches Zwielicht flammte auf, enthüllte, erst zaghaft, dann immer klarer, die Kaverne: eine erhabene, buchstäblich steinalte Säulenhalle aus Stalagmiten und Stalaktiten. Wie versteinerte Kerzenstumpen, Drachenzähne oder Eiszapfen ragten sie von der Decke und dem Boden aus in die Weite der Höhle hinein. Die Wände bildeten matt glitzernde Schründe und Buckel.
Immer mehr Flammen züngelten hoch, breiteten sich in schneller Geschwindigkeit aus, wurden rasch größer. Schwebeteilchen trieben im verwaschenen Grüngraublau umher. Schweigen. Glucksen, Gluckern, Poltern. Schattenspiele.
Kleine, bleiche Fische schwammen aufgeregt im Kreis. Es war nicht das widernatürliche Feuer, das sie beunruhigte, denn sie waren völlig blind, und das Flammenmeer kühl. Aber da war noch etwas anderes in dieser einsamen, unterirdischen, völlig überfluteten Welt. Ein ungesundes Brennen ihrer Schuppen. Dazu ein rasch stärker werdendes Vibrieren und Rumoren im Wasser, als wäre die Höhle eine gewaltige Trommel und würde nun geschlagen.
Die Druckwelle, die sie spürten, war gigantisch. Etwas Monströses, Ungeheuerliches näherte sich aus der Finsternis, kam geradewegs auf den Schwarm zu. Etwas, für das es in der Welt kleiner blinder Fische kein passendes Empfinden gab. Vielleicht hätte ein Mensch das Gefühl, das sich nun in der Höhle verbreitete, am ehesten mit V e r z w e i f l u n g umschrieben.
Die Fischlein merkten nicht, wie sich ihnen die ersten Löcher in die Haut brannten. Sie wollten in wilder Panik fliehen, aber dazu war es längst zu spät. Es half kein Zucken, kein Zappeln, kein Schnappen der Mäuler mehr.
Das Gift zerfraß ihre Leiber, bis nur noch Skelette, mit Fleischresten daran, und glitzernde Schuppen nach unten sanken.
Nach und nach verloschen die underischen Flammen. Ihr Licht flackerte gerade noch lange genug auf, um den gewaltigen Schatten zu enthüllen, der sich jetzt aus der ewigen Nacht heran schob.
Weißliche Tentakel ringelten sich um ein kreisrundes Maul, gespickt mit Zähnen, größer, härter und schärfer als die Fresswerkzeuge eines jeden Hais. Der Leib des Wurms, der sich muränengleich aus dem Tunnel schlängelte, schien kein Ende nehmen zu wollen. Er witterte, tastete mit seinen glitschigen Krakenarmen, hob dabei den augenlosen Kopf, schrammte mit einer Art Hörner über das Gestein. Ein gurgelndes Brüllen. Dem Kranz aus Zähnen, zwischen denen gräulichfarbene Fetzen hingen, folgte in dem röhrenartigen Schlund ein weiterer nach, und noch ein weiterer, und viele weitere mehr. Die Kreatur zuckte wie unter einem jähen Schmerz, ihr Blutegelleib donnerte gegen die Felswand, zerbrach die in Jahrtausenden gewachsenen Steinsäulen, als bestünden sie aus Zuckerguss oder Glas. Das aufgewühlte Wasser schien zu brodeln. Die Zähne zermalmten krachend hoch geschleuderte Felstrümmer. Der Wurm schlang wütend die Brocken herunter, schwamm weiter, scharrte über die Wände, wirbelte einige verstümmelte Fischleiber im Schlick auf.
Dann herrschte erneut Finsternis. Nach dem Geräusch dumpf herunterkollernder Steine breitete sich langsam wieder Schweigen aus.
Stille.
Totenstille.
1. Kapitel: Der Bund von Fuchs und Fee
Suche den Feind im Schatten Deiner Jurte.
Orkisches Sprichwort
Was heißt hier Lüge? Die ganze Wahrheit kennt und erträgt ohnehin nur Praios.
Dexter Nemrod
Dichter Nebel wallte über dem nächtlichen Waldensee. Die feinen, milchigen Schwaden tanzten und wehten bedächtig über den Wassern, einem zarten Schleier gleich, der das Antlitz der Welt verhüllt und doch zugleich die Ahnung eines tieferen Geheimnisses gestattet.
Feuchte Kühle stieg aus den dunklen, traumschweren Abgründen des Sees empor. Nur gelegentlich traf der bläulich-silberne Strahl des Mondlichts seine unergründliche schwarze Tiefe und spiegelte sich verschwommen darin wieder.
Das majestätische Gewässer, zwischen den schroffen Loskarner Höhen gen Osten und namenlosen, dicht bewaldeten Anhöhen im Efferd gelegen, hüllte sich jetzt, zur Mitternachtsstunde, in würdevolles Schweigen. Der Atem der schlafenden Natur lag über allem, ging sanft und gleichmäßig. Nur gelegentlich durchdrang ein Glucksen oder der keckernde Ruf eines am Ufer aufgeschreckten Vogels die Stille.
Schließlich wurden in der nebligen Dunkelheit andere, hier draußen nur selten vernommene Geräusche laut.
Ptsch…whmbh, Ptsch…whmbh. Patschende Ruderschläge, das leise Ächzen der Dollen und nasse Schläge von Riemen aufs Wasser waren zu hören. Schließlich durchschnitt die graue Silhouette eines Fischerkahns die Wasserfläche ebenso wie den darüber wabernden Nebel. Irgendein Künstler hatte den Steven in Form eines Stutenkopfs gestaltet, mit schnaubenden Nüstern und gebleckten Zähnen: Die Rahja La´ië, die „Rahja vom Hochwald“, die auf dem Mondpferd ritt, war nach einer uralten schwarzsichler Sage Beschützerin vor den Gefahren der Bergseen. Hemmte die Phexgemahlin doch am Tag Sturm und Wellengang des Wassers, um sich nächtens, im Licht des Madamals, auf dessen spiegelglatten Oberfläche in ihrer ganzen Schönheit betrachten zu können.
Eine Gestalt in graubraunem Kapuzenmantel saß rücklings im Boot, stemmte sich mit den Füßen gegen dessen Boden, streckte die Arme und zog die Riemen schwungvoll durch.
Der See sieht unehrlich aus heute Nacht, dachte Alrik. Man weiß nicht, was ist noch wahr, was wirklich, und wo beginnt das Gespinst. Geheimnis-See, so nannten die Bauern an seinem Ufer den Großen Alten. Was immer man in seine Wellen hinein sprach, blieb auf ewig für menschliche Ohren ungehört. Kein Wunder, bei den bis zu acht Rohalschen Lot Wassertiefe1, die man dem größten und tiefsten See der Baronie nachsagte.
Er hielt im Ruderschlag inne, ließ das taumelnde Boot ruhig ausgleiten. Dann streifte er die Kapuze über den verschwitzten, strohigen Haaren zurück. Das Rudern hatte seinen Körper aufgeheizt, aber nun, an der nebelgeschwängerten Nachtluft, begann er rasch wieder zu frösteln.
Alrik beugte sich vor, griff nach dem Bündel unter dem Sitzbrett am Heck. Der Kahn aus Lärchenholz wackelte bei dieser Bewegung leicht. Der Mondschatten fühlte sich unsicher, so weit draußen in kühler, feuchter Einsamkeit - auf einem See, in dem man leicht den Koloss von Al´Anfa (oder Burg Friedstein?) hätte versenken können. Ohne dass hernach auch nur der Schopf - oder der Wetterhahn des Bergfrieds - noch herausgeragt hätte.
Allein das Phexenswetter hielt ihn davon ab, sich ernsthaft zu fürchten. Der Nebel, der ihn zart und prickelnd einhüllte, hatte etwas Betrügerisches und somit Beruhigendes an sich: Er ließ die unbehagliche Größe des Sees auf scheinbar wieder erträgliche Maße zusammenschrumpfen.
Ein nass knisterndes Geräusch in der Nähe, das er schwer einzuordnen vermochte, schreckte ihn auf. Es klang wie zerreißender Stoff, und wiederholte sich kurz zwei, dreimal. Er hielt in der Bewegung inne, spähte und lauschte angespannt. Dann war es um ihn herum, bis auf das sanfte Schwappen von Wasser, wieder still. Der Kahn drehte sich leicht gen Steuerbord, um dann von irgendeiner Strömung sacht mitgezogen zu werden. Die grau wattierten Nebelschwaden wurden dichter, zogen sich um ihn zusammen.
Alrik seufzte und pflückte eine grünlichbraune Alge von einem der Riemenblätter. Wasser erschien ihm immer als unheimlich, es befolgte ganz eigene Regeln, die außer dem launischen Herrn Efferd selbst niemand verstand. Vor allem spürte er jetzt die waberige Tiefe unter den Füßen und die majestätische Weite um seine kleine Nußschale herum - beinahe schon körperlich.
Einmal war er in Brabak auf dem Fundament des unvollendeten Efferdtempels gestanden und hatte, die Haare vom rauen, salzigen Wind gezaust, auf das Südmeer hinausgeblickt. Eine mächtige, Ehrfurcht gebietende See, die sich in weichem Azurblau, steter Bewegung und samtenen Glitzern bis zum Horizont mit seinen glühenden Wolkengebirgen erstreckte, immer weiter fort, bis sie sich schier in der Unendlichkeit verlor. Dazwischen helle, mäandernde Schlieren, vermutlich Strömungen.
Das Meer…Unter seiner gewaltigen Ausdehnung lag wieder eine eigene Welt voller bunter Fischschwärme, Haie, Kraken, Delphine und Muränen. Ein ewiges Reich der Tiefe, das wiederum keinen Grund und Boden zu kennen schien. Die munter, mit einer kleinen weißen Bugwelle über die Wogen hüpfende Karavelle hatte das gewaltige Blau erst richtig zur Geltung gebracht. Es war faszinierend und Furcht erregend zugleich gewesen. Fast erschien Alrik der nächtliche Sternenhimmel vertrauter als der Ozean mit seinen Myriaden verborgener Geheimnisse.
Das Südmeer vor Kap Brabak …. Die weit offene Grenze seiner früheren Heimat. Dagegen war der Waldensee nun wirklich nur eine trübe, nach nasser Erde riechende Pfütze. Du wirst alt, Francesco, ermahnte er sich bei seinem wahren Namen, alt, spießig und provinziell, wenn du schon vor einem besseren Teich wie diesem hier Bammel hast. Damals, in der Blutigen See, hast du drei Tage lang dem schlimmsten Sturm in die Fratze gelacht und gegen die Geschöpfe der Tiefen Tochter gekämpft. Hier beißt dich höchstens der Haushecht.
Der Streuner griff nach dem Bündel unter der Ruderbank, schlug den grob gewirkten Leinenstoff beiseite. Ein matt schimmernder Helm kam zum Vorschein, aus lauterem Silber gefertigt. Das Visier hatte die Form eines Fuchskopfs, die Seiten zierten zwei große, spitze Ohren. Die mandelförmigen Augenlöcher schienen ihn prüfend zu mustern. Allein der materielle Wert des Artefakts war sicher beträchtlich. Umlaufende verschlungene Runen und Zeichen, darunter die Mondphasen, ließen erahnen, dass Silber nicht sein einziger Wert war.
Alrik enthüllte den Fuchskopf endgültig, fühlte das glatte, kalte und alte Metall in seinen Händen. Seufzend stand er auf, etwas unsicher ob des Geschaukels des Kahns. Er öffnete das Visier, hob den Fuchshelm beidhändig über den Kopf. Nach nur kurzem Zögern warf er ihn über Bord. Ein helles Aufspritzen von Wasser, ein dumpfes Glucksen, dann war das Relikt verschwunden. Unwiederbringlich. Es folgten ein paar kleinere, weißliche, heftig schwabbelnde Wellenkreise, die rasch verebbten. Schließlich lag erneut Dunkelheit über dieser Stelle des Sees.
Er blickte in den Nebel und rief, mit fast so etwas wie Empörung in der Stimme, hinein: „Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Nun erfüllt ihr den euren…“
Das wabernde Grau verschluckte seine Worte ebenso wie das Licht des Madamals.
Alrik runzelte die Stirn. Hatte er einen Fehler begangen? War das Opfer zu groß gewesen? Es gab sicher einen Zauber, mit dessen Hilfe man wieder hinabtauchen und den Helm bergen konnte.
Nein. Abgesehen davon, dass er seinen momentanen Standort nicht genau kannte und die Feneq-Maske bald unauffindbar unter Schlamm und Schlick verborgen sein würde - er hatte Recht gehandelt.
Der Helm durfte und konnte nicht auf dieser Welt existieren. Nicht mehr. Er hatte wieder einmal versucht, zusammen zu zwingen, was nicht zusammenpasste. In diesem Fall gleich die Urkräfte von Los und Sumu, die sich seit Anbeginn der Zeiten feindlich gegenüber standen. Die Mächte des Göttlichen einerseits sowie die des Lebens und der Magie andererseits. Um auch als Mondschatten die schwache Macht Madas in sich zu erhalten. Um Bilder aus künftigen Tagen zu erhaschen, deren Sinn er ohnehin kaum verstand. Es bedeutete, den Zorn Satinavs selbst herauf zu beschwören, wenn er, ein schwacher sterblicher Mensch, ein solches Artefakt bei sich behielt.
Schlussendlich war auch der Waldensee mehr als nur ein sehr tiefes und großes, mit Wasser gefülltes Loch. Auch er führte - zu den Grenzzeiten - in die andere Welt, wie der Schratenwald und die Orkensauffe es sogar unterm Jahr taten. Der schwarzgefiederte Bote hatte es ja gesagt. Nein, der Helm selbst war der Schlüssel zum Reiche Jenseits. Er würde ihm eine Tür öffnen, hatte es geheißen. In Vergangenheit wie Zukunft gleichermaßen.
Der dumpfe, durchdringende Ruf eines Jagdhorns ließ ihn erschauern. Das Boot setzte sich, wie von Geisterhand gezogen, in Bewegung. Das war keine Strömung mehr. Er ertappte sich bei einem Stoßgebet zu Phex, aber sein Gott war ihm in diesem Moment so fern wie die Welt der Menschen. Erneut hallte zeitloser Hörnerklang durch den Nebel und die Dunkelheit.
Schließlich erspähte er das flackernde Licht am Ufer. Ein großes Feuer, das ihm den Weg wies, und sich im dunklen Wasser spiegelte. Obwohl er eigentlich noch zu weit entfernt war, glaubte er bereits das Prasseln der Flammen zu hören und Gluthitze zu spüren. Funken sprühten nach oben. Der rötlich-bronzefarbene, unstete Widerschein erhellte eine Reihe von Weiden, Pappeln und Erlen. Die rauschenden Wipfel selbst verbargen Gesichter, ihr raschelndes Laub flüsterte eine geheimnisvolle Botschaft, die nicht für Augen und Ohren bestimmt war. Alrik spürte ein Prickeln auf der Haut, vor allem im Nacken. Die tanzenden Schatten schienen im Gewirr aus Stämmen, Blättern und Ästen zum Leben zu erwachen.
Vor dem herrlichen Wald, neben dem hoch lodernden Feuer, stand eine übermannsgroße Gestalt, reglos und von Nebel wie Rauch gleichermaßen umflort. Kein Mensch, jedenfalls weit mehr als das. Das Haupt eines weißen Hirschs ruhte auf fellbedeckten Schultern, mit weit ausladendem, zwölfendigem Geweih. Das Wesen hielt in der Linken einen Bogen. In der Rechten hob der Manhirs das Horn eines Auerochsen, als wolle er den Neuankömmling damit begrüßen.
Der Karnmann selbst erwartete ihn.
Alrik stutzte, fasste sich an die Nasenwurzel. Stirnrunzelnd blickte er geradeaus, verstand einen Moment lang überhaupt nichts. Alles wirkte unwirklich, was nicht nur an dem allgegenwärtigen Nebel lag. Wie in einem Traum. Irgendwie unscharf, mehrdeutig. Selbst das Atmen fiel ihm jetzt schwer. Verwirrt rieb er sich über die Stirn. Kein Zweifel: Er überquerte hier gerade eine seltsame Grenze.
Wie bin ich überhaupt hierhergekommen?
Was tue ich hier?
Er war doch eigentlich über den nächtlichen Waldensee gefahren, daran konnte er sich noch erinnern. Von Loskarnossa aus, dem Wasserschloss…
Nein. Du hast gerade auf dem Marktplatz von Friedwang gestanden und zu den Leuten gesprochen. Als Baron. Vor dem Angriff…Ein Rabe, da war ein Rabe gewesen. Oder?
Womöglich lag er zuhause im Bett und träumte das Alles nur. Alrik schüttelte unwillig den Kopf. Er verlor gerade jeden Bezug zur Wirklichkeit. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Ihm schwindelte, als blicke er in einen Abgrund. Du musst dich konzentrieren. Auf deine Aufgabe…Aber was war seine Aufgabe?
Offenbar wurde er gerade Opfer eines De´Ssadnavu. Von Satinavs Kreis. Soetwas passierte ihm öfters in letzter Zeit. Das Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben. In zwei Welten gleichzeitig zu leben – und in keiner. Vermutlich hing es mit dem…Übergang zusammen. Scheu drehte er sich um. Nebel wallte. Die Strömung zog ihn nicht mehr, jetzt, im vermutlich bereits nur noch hüfthohen, schwappenden Wasser des Uferbereichs. Überall stachen und staken Binsen- und Schilfhalme aus der trüben Seeoberfläche empor. In der Nähe glaubte er die Silhouette einer mächtigen Biberburg zu erahnen. Eine erdfarbene Kröte hoppste erschrocken von einem morschen Ast in die Fluten.
Rudern, aus eigener Kraft zum Ufer rudern, das wäre sicher ein guter Anfang…
Nur noch wenige Schritt über das glucksende, schmatzende Wasser…Der Karnmann…er wollte zum Karnmann…Das war sein Ziel.
Nur langsam begriff er, wieder mit einem Stirnrunzeln. Er überquerte hier keine Grenze, betrat nicht die Feenwelt. Der ganze Uferstreifen war wohl eine Art Puffer, ein unstetes Gefilde, das nicht nur an der Grenze zwischen Sumus Element und dem Wasser lag, sondern auch genau zwischen Dere und Feste sowie dem Land Jenseits. Ein Zwischenreich. Oder aber Niemandsland…Zwielicht.
Ein letzter Ruderschlag, dann war es geschafft. Das Boot scharrte über mehrere dunkelgrün bewachsene, nassglitschige Steine hinweg, rumpelte auf den Strand. Ein hohles Poltern, und es lag still. Mit flatternden Knien sprang Alrik aus dem Kahn, zog ihn hinter sich hinauf ans Ufer.
Etwas unsicher ging er auf die Gestalt am wild prasselnden Lagerfeuer zu. Sie schien jetzt, aus der Nähe betrachtet, zu schrumpfen, war nicht mehr gar so groß, wie er sie sich draußen auf dem See vorgestellt hatte. Allein das imposante Geweih des Hirschfells ließ sie so überragend erscheinen.
Verdutzt blieb er stehen. In der flirrenden Hitze des Feuers erschien eine zweite Gestalt, die hinter dem Hirsserker, dem Mannhirsch, aus dem Schratenwald getreten war. Ein weißbärtiger, kräftiger Mann in der ledernen Gewandung des Waldläufers, Langbogen und Köcher über der Schulter.
„Orchan? Orchan Erttelgrimm?“ entfuhr es Alrik in das Knistern der Flammen hinein. Die im Widerschein des Feuers scheinbar rot glühende Hand erhoben, versuchte er sein Gesicht vor der Hitze wie dem Funkenflug zu schützen und dennoch genauer zu sehen. Kein Zweifel, es war der Firungeweihte von Nordenheim, der mit grimmem Blick an die Seite des Karnmanns trat.
Aber, wer war dann…? Alrik kniff die Augen zusammen, musterte die schemenhafte Gestalt des Unbekannten genauer. Einen Herzschlag lang meinte er im Glosen des Feuers zu erkennen, dass dem Mann ein Stück des rechten Ohrs fehlte.
Dem Friedwang stockte der Atem. Jähes Verstehen kämpfte in ihm mit Zweifel. Konnte es sein, dass sein Vater zurückgekehrt war, als Träger des Heiligen Hirschfells? Lacertinus von Zaberg, durch die Gnade der Milden Göttin von den Toten auferstanden? Nach Dere und Feste – oder zumindest in deren Nähe – zurückgekehrt?
Freudiger Taumel befiel ihn. „Vater…!?“ keuchte er, noch immer voller Unglauben, und trat einen Schritt auf die Gestalt zu.
Diese hob das Hirschfell etwas an, zeigte ihr Gesicht.
Enttäuscht prallte Alrik zurück. Es war nicht Lacertinus.
Ein drahtiger, kleiner Mann mit mandelförmigen Augen sah ihn an. Seine Wangenknochen ragten aus dem Gesicht hervor, waren von kleinen Frostnarben bedeckt und bronzefarben, fast wie geräuchert. Ein zugleich sanftes und grausames, durchaus etwas arrogant wirkendes Lächeln, das durch einen roten, herabhängenden Schnauzbart eingerahmt wurde. Der Jäger, der ein ledernes, mit Tiersymbolen besticktes Wams trug, wirkte geschmeidig, wild, raubtierhaft. Dennoch lag ein bemerkenswerter Frieden über seinem von einer markanten Nase gezierten Gesicht, wie bei einem Schläfer – oder zumindest einem Menschen, der vollkommen in sich ruhte, mit sich, der Welt und seiner Seele vollauf im Reinen war. Doch der Fremde ging hellwach durch das Leben wie die Natur, darin ließen die unergründlichen, scheinbar von keinem menschlichen Geist beseelten Augenschlitze keinen Zweifel. Der „Tiermensch“ musterte ihn ausgiebig – lauernd, prüfend, hochmütig?
Hilfe suchend blickte Alrik den Firuni an. Was hatte das zu bedeuten?
Das Knacken des Feuers war einen Moment lang der einzige Laut am Ufer.
„Wer ist das?“ fragte er leise in das Schweigen des Schratenwaldes hinein.
„Alboran Haldorin, der erste Baron dieses Landes“ sagte Orchan gleichmütig und ruhig, als wäre dies die selbstverständlichste Neuigkeit der Welt. „Das heißt, er selbst nennt sich Abjo von Raanas Sippe.“
Alboran Hald…. Hätte der Mann vor ihm nicht eine eigenwillige Würde, einen unbeugsamen Stolz verkörpert, der Mondschatten hätte lauthals aufgelacht. Dieses absonderliche, zierliche Räuchermännchen sollte…. Alboran „der Große“ sein, mythischer Stammvater aller heutigen Friedwangen, Geliebter der legendären Elfe Dian Artema, Baron des Bosparanischen Reiches, Heiliger der Praios-, Travia- und Firunskirche? Dessen Gebeine, haha, bis heute als Reliquien in der nach ihm benannten St.Alborans-Siegesbasilika zu Markt Friedwang verehrt wurden?
Orchan sprach ruhig weiter: „Al´Boran, den Namen haben ihn erst die die Alhanier gegeben, die ihn in der Schwarzen Sichel zu ihrem Hairan erhoben. Haldorinnen, das ist sein Wolfsname. Der mit blitzender Klinge kämpft…“
„Ein Nivese?“ hörte sich Alrik verdutzt fragen.
Erstaunt vernahm er die kehlige, aber durchaus wohlklingende Stimme „Alborans“, verbunden mit einem knappen Nicken. „Äi. Nivauesa.“
Das kurze Fletschen der elfenbeinfarbenen Zähne sollte wohl ein wohlwollendes Lächeln darstellen.
Einen Moment lang wollte Alrik schon durchatmen, als ihn ein scharfes Hecheln erneut erstarren ließ. Es kam von einem Schatten, der aus dem Unterholz heraus auf ihn zusprang und erst nach einem knappen, aber bestimmten Zuruf des Karnmanns in der Bewegung innehielt. Bereits der erste Angriff hätte der Kehle gegolten, daran zweifelte der Friedwang nicht. Der gedrungene Hund mit nachtschwarzem, dichtem Fell, spitzen Ohren und schräg gestellten Augen zog die Lefzen weit auseinander, zeigte drohend das Gebiss, beruhigte sich aber rasch wieder. Gehorsam kauerte sich das Tier nieder. Ein nivesischer Hirtenhund…
„Närdan“ sagte Abjo und wies auf seinen Begleiter. Dann zeigte er auf seine Brust, erneut mit einem wölfischen Lächeln verbunden. „Abjo.“
Der Phexgeweihte deutete auf sich: „Alrik. Alrik Tsalind Halreto von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck. Sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Herr, äh, Eure Heiligkeit, ich meine…“
Nein, so wurde das nichts. Der Karnmann verstand kein Garethi, soviel stand fest.
Alrik versuchte einige Wendungen auf Bosparano, erntete aber erneut nur einen verständnislosen Blick.
„Das habe ich auch schon probiert“, meinte Orchan lapidar. „Er spricht ein höchst altertümliches Garethi, aber ich verstehe es kaum. Wir sollten uns besser auf Nujuuka unterhalten. Nivesisch. Setzen wir uns doch, ich werde versuchen zu dolmetschen.“
Sie ließen sich am Feuer nieder, Abjo bot seinen Gästen so etwas wie Pemmikan an. Alrik aß zaghaft von dem bröseligen Fleisch und versuchte durch begeistertes Nicken Wohlschmecken auszudrücken.
Orchan und der Nivese unterhielten sich in der an Wolfsgeheul erinnernden Sprache der Nivauesä. Alrik hatte einen Moment Zeit am eher faden, trockenen Fleisch zu kauen und mit dem Blick ins Lagerfeuer seinen Gedanken nachzugehen. Er saß neben niemand Geringerem als Alboran Haldorin, dem Heiligen, Alveraniar und Baroniegründer. Außerdem Namensgeber von zwei weiteren friedwängischen Baronen nebst seinem eigenen kleinen Sohn und designierten Baroniererben. Eine Persönlichkeit der schwarzsichler Historie, die seit den Dunklen Zeiten eigentlich Vergangenheit sein sollte. Allein das für sich genommen hätte eher in einen wüsten Traum als in die Wirklichkeit gepasst. Mehr noch, stellte sich der Stammvater der heutigen Friedwangen gerade als nivesischer Jäger heraus.
Warum eigentlich nicht, dachte er dann. Von Dian Artema – Alborans Gefährtin, durch die Gallys aus der Wiege gehoben worden war - wusste man, dass sie sich mit Kratosz einen echten Barbaren zum Mann erwählt hatte, sogar einen Trollzacker. Natur-Burschen schienen ganz nach dem Geschmack der Elfe gewesen zu sein.
Nun, die Gesichtszüge der Traviastatue im Tempel von Marktfriedwang, die nach Alborans Urenkelin (oder Ururenkelin?) Dimiane Haldorin gestaltet worden sein sollten, wiesen unzweifelhaft Mandelaugen auf. Das Bildnis St. Alborans von Baliho in der Praios-Basilika wiederum war zwar einem Weidener Krieger mit Schwert, Rundschild, Kettenhemd und Topfhelm nachempfunden. Allerdings trug selbst dieser praiosgefällige Heilige einen nivesisch anmutenden Schnauzbart sowie zwei sorgfältig geflochtene Zöpfe, die er gerade neben sich und in natura bewundern durfte. Offenbar war im Lauf der Jahrhunderte nicht jede Erinnerung an den wahren Baron … Abjo verloren gegangen.
Ein herzhafter Schlag auf seine Schulter ließ ihn aus diesen Gedanken aufschrecken.
Worte der Begeisterung drangen dabei aus Alborans Mund.
„Er hält Euch für seinen Enkel oder sowas, glaube ich“, sagte der Firunsgeweihte und deutete auf dessen Ohr. „Wegen dem fehlenden Stück des rechten Ohrs.“
„Ah…ja…“ Alrik kämpfte erneut mit der Verwirrung. „Da muss er aber schon ein paar Ur- voranstellen. Vor den Enkel, meine ich. Wenn wir wirklich verwandt sein sollten.“
Der Streuner riss ein Zweiglein mit vergilbten Blatt von einem Ast und warf ihn in das arangefarben glosende, gleichmäßig Hitze abstrahlende Feuer. Glimmende Aschereste und Funken schwebten nach oben. Die Waldluft roch nach See, Harz, Moos, Blumen, Sommer. Irgendwie fühlte er sich wohl, hier draußen in der Wildnis, auch wenn er eigentlich ein Kind der großen Städte war. Selbst der Pemmikan kam ihm nun doch schmack- und nahrhaft vor.
Er blickte auf den blaugrauen, spiegelnden See hinaus. Ein Fisch hatte Wellenkreise im Wasser hinterlassen, die sich nun, wie unter einem Fingertippen, sanft ausbreiteten. Eine Eule rief, im Schilfgürtel raschelte der frische Nachtwind, die Binsen neigten sich sacht darunter. Der unsichtbare, majestätische, unumkehrbare Strom der Zeit. Grausam und groß. In der freien Natur schmerzt er weitaus weniger als in der so genannten Welt der Zivilisation. Merkwürdiger Gedanke…
Der Streuner zog erschauernd den Mantel über die Schulter, hielt seine Hände gegen das wärmespendende Lagerfeuer. Niemand sprach. Das Feuer knackte und prasselte, eine einzelner Tannenzapfen zerbarst krachend. Er musterte den Mann neben sich, in dessen dunkel bronziertem Gesicht sich die Flammen abzeichneten. Die Mandelaugen glänzten. Alrik versuchte, sonst irgendeine Ähnlichkeit mit dem …Fremden herauszufinden, aber das war schwer. Irgendetwas in dessen Ausstrahlung vielleicht, dieses buchstäblich Leichtfüßige, Katzenhafte, Gedrungene kam ihm schon entfernt verwandt vor. Wenn ja, dann aber gleich achtundvierzig Generationen entfernt ….
Der Mondschatten hustete. „Sollte er nicht längst in einem der zwölfgöttlichen Paradiese weilen? Wo hat Du gesteckt, in den letzten ….eintausendzweihundert Jahren, O Heiliger Alboran?“
Der Friedwang betonte, selbst erstaunt, diese unglaubliche Zahl an Götterläufen, die ihn von seinem Vorfahren (?) trennten. Das ihnen beiden fehlende Stück Ohr . . . Wie bei seinem leiblichen Vater. War Lacertinus am Ende ein Nachfahre des Heiligen Alboran gewesen? Der Erbfehler konnte eigentlich kein Zufall sein. Oder?
Orchan blickte hoch zum funkelnden Baldachin der Sterne am azurblauen Himmel, wohin ein wirbelnder Tanz aus Funken und glühenden Fichtennadeln aufstieg. Alriks Blick folgte der Bewegung. Unzählige kleine Lichter, mal flackernd, mal klar. Eine Sternschnuppe verging am Firmament, wie ein milchfarben durch die Nacht gezogener und sofort wieder ausgelöschter Strich. Sicher ein gutes Omen, dachte der Mondschatten. Der Firuni wandte sich dem Baron zu.
„Was meint Ihr, wie viele Sterne hat es da oben?“
„Keine Ahnung.“ Alrik zuckte mit den Schultern. „Es sind sicherlich sehr viele, bei Phex.“
„Seht Ihr? Vergesst es. Eintausendzweihundert…Er kann mit einer derart hohen Zahl einfach nichts anfangen, gleich ob es nun um Karene oder Götterläufe geht. Viele Hände voll, eine höhere Zahl kennt er gar nicht. Abjo hat nur begriffen, dass seine geliebte Dian nicht mehr unter den Lebenden weilt. Jedenfalls nicht mehr auf Dere …“
Bei dem vertrauten Namen hielt der Nivese betroffen inne. Tränen schimmerten in seinen schmalen Augen. „Diän…Diän“ wiederholte er dann, leise und schwermütig.
Die Heilige Dian Artema. Die Gallyser Baronin der Herzen, die sich erst vor kurzem, am Eibsee, offenbart haben sollte. Nur für kurze Zeit – und dennoch hatte die „Alveraniarin“ es geschafft, eine ganze Horde Orken in einen Hain aus Schwarzbuchen zu verwandeln. Und damit ihre von den Mallachai-Wiedergängern gefangenen Nachfahren zu retten. Kaum zu glauben, dass dieser Mann dort Dian Artemas Zeitgenosse gewesen sein sollte…Alrik schüttelte erneut den Kopf.
„Er vermisst sie sehr. Ich habe ihm gerade noch begreiflich machen können, dass wir aus einer fernen Zukunft kommen - und seine Zeit bei uns als ein Dunkles Zeitalter gilt. Außerdem, dass unsere Welt aus großem Reichtum, Frieden und Ordnung ebenfalls wieder ins Chaos zurück gestürzt ist.“
„Und, was hat er dazu gesagt?“
„Nun, er meinte - besser eine dunkle Zeit mit hellem Herzen als eine helle Zeit mit dunklem Sinn.“
Alrik hob erstaunt die Augenbraue. „Unser Abjo scheint ja ein richtiger Philosoph zu sein. Naja, als er verschwand, war dieses Land noch Wildnis an der Schwelle zu einer Baronie. Jetzt ist sie eine Wildermark am Rand des Chaos. Wenn man nur lange genug weg ist, kehrt man irgendwann wieder an die Anfänge zurück.“
„Das habt aber Ihr jetzt schön gesagt. Ja, der Kreis schließt sich wohl gerade wieder“.
Alrik langte sich ans Ohr: „Eintausendzweihundert Götterläufe….“ Der Baron schüttelte den Kopf, blies durch die Lippen. „Glaubt Ihr, Euer Gnaden, ich bin wirklich sein direkter Nachfahre? Haltet Ihr das für möglich? Aber, wie kann das sein?“
„Nun, Eure Familie hat ja immer behauptet, in einer Linie vom Heiligen Alboran abzustammen.“
„Ja, so wie die Baernfarns von Dian Artema. Da musste Friedwang natürlich mithalten können, als Erbfeind unserer werten Nachbarn im Süden. Selbst das Haus Gareth wäre jünger als wir, wenn es danach ginge. Ich hielt diese Geschichte immer für eine fromme Mär. Eine Abstammungslegende, wie sie viele alte Adelshäuser pflegen. Vor allem solche, die gerne noch ein bisschen älter, frömmer und heiliger wären, als sie es wirklich sind…“
„So ist es vermutlich auch“, nickte Orchan. „Lacertinus von Zaberg gilt als der letzte wahre Nachfahre des Hauses Haldorin. Wusstet Ihr das?“
Alrik schluckte. „La….Der Tsageweihte?“
„Ja, ich habe es von ihm selbst erfahren. Sein wirklicher Name war Oswin Herofalk von Eppelein zu beider Prähnskaten. Er wurde durch eine Intrige seines Erbes beraubt, als Sohn der letzten Rittfrau aus diesem Hause. Danach wuchs er im Zaberger Tempel als ein Diener des Lebens auf.“
Alrik runzelte die Stirn. Die Überraschungen nahmen kein Ende.
„Lacertinus war ein Edelmann ?! Er war von …adeliger Abkunft?!“
Hoffnung keimte in ihm auf, Freude, gemischt mit Verwirrung. Immerhin, damit wäre er doch mehr als irgendein Kuckuckskind. Etwas „Besseres“, kein Ausrutscher mit einem hoffärtigen Bauernsohn… Zu seinem Gefühlswirrwarr gesellte sich auch noch die Eitelkeit. Ein Ritterenkel, außerdem Nachfahre eines echten Heiligen und Baroniegründers? Da durfte man sich schon etwas geschmeichelt fühlen.
„Ich verstehe . . . Ein Shadif in einem Stall voller Ackergäule.“ Ohje, das klang nun wirklich arrogant. Aber Alrik hatte die Demütigungen seiner Jugend nie vergessen. Mehr sein als scheinen – als ehemaliger Brabaker Gassenjunge wusste er nur zu gut, was das bedeutete.
Einige Herzschläge lang sah er wieder das fleischige Gesicht des Stadtgardisten vor sich, der hämisch, nein, pervalisch grinsend den Sack mit Diebesgut ausleerte: Ein Laib Brot, ein paar Rüben, etwas Reis… Vor allem spürte er wieder die Hiebe mit der Knute. Der kleine Francesco hatte sich wimmernd darunter weggeduckt, sie sogar in Kauf genommen – um wenigstens eine der Rüben zu retten, mit seiner Beute wegzulaufen und ein paar Ecken weiter, zitternd vor Hunger und Erschöpfung, die Zähne hinein zu schlagen. Kaum, dass er zuvor den triefenden Schlamm abgewischt hätte…
Er hatte buchstäblich Dreck gefressen, damals, selbst schmutzstarrend bis über beide Ohren, während der kalte Regen auf ihn herabgeprasselt war. Rattenmensch, so hatte man Kreaturen wie ihn im Tiefen Süden genannt. Selbstmitleid wechselte sich in ihm ab mit Stolz.
„Ein verkappter Edelmann…“ wiederholte Alrik ergriffen. Fast schon kämpfte er mit den Tränen. „Ein um sein Erbe betrogener Adeliger…?!“
„So ist es. Ein vom Haus Friedwang um sein Erbe betrogener Rittersproß, um genau zu sein. Die Friedwangs haben den Prähnskatenern immer deren wahre Abstammung vom Heiligen Alboran geneidet…“
„Aber…die Ritter von Eppelein waren weitaus jüngeren Geschlechts…“
„Doch konnten sie auf ein untrügliches Merkmal verweisen. Ein fehlendes Stück des rechten Ohrs. Das sie auf St. Alboran Haldorin von Baliho zurückführten. Halfôrlin, so deuteten sie seinen Namen im älteren Garethi.“
„Halfôrlin?“
„Halböhrchen…“ Erttelgrimm klang nicht einmal jetzt verschmitzt.
Der Baron schüttelte erneut den Kopf, langte sich an die Stirn.
„Langsam wird mir einiges klar. Tsalinde. Die Vierlinge. Meine Geschwister. Die Schwangerschaft war kein Zufall. Mutter hat alles so geplant…“ Alrik keuchte. „Jetzt verstehe ich. Der Fruchtbarkeitssegen… Sie wollte unbedingt ein Kind…Mindestens eines…von einem wirklichen, leiblichen Nachfahren des Hauses Haldorin.“ Entsetzt starrte er Orchan an – auch wegen seiner eigenen Worte. Was hatte er da gerade unbesonnen ausgeplaudert?
„Seid unbesorgt – selbst wenn Euer Ohr mir nicht schon vieles sagen würde, wäre ich bereits eingeweiht. Ja, Lacertinus hat mir das Geheimnis anvertraut, gar nicht so weit weg von hier, am Waldensee bei Loskarn. Er und ich, wir waren Freunde, ja, das kann man so sagen. Er schalt sich einen Frevler, wegen dem Segen, der gemeinsamen Liebesnacht mit der Baronin und der Geburt von Vierlingen, von denen drei vermeintlich noch im Kindbett starben. Damals, im Königlichen Palast zu Brabak. Er hielt den frühen Tod eurer Geschwister für eine Strafe der Göttin – und dass Ihr selbst für scheintot auf den Boronanger gebracht wurdet, für sein eigenes Verschulden. Ebenso, dass Ihr in Armut und Unehre in der Stadt Eures Königlichen Verwandten Mizirion aufwachsen musstet.“
„Entfernten Verwandten“, heuchelte Alrik Bescheidenheit. „Da besteht nun wirklich keine gerade Linie…Ein Questador aus Friedwang, Firungaro mit Namen, soll vor fast dreihundert Jahren an der Entstehung des Hauses di Sylphur beteiligt gewesen sein….Sagt man…Deswegen erhielt Mutter weiland, hochschwanger und abgebrannt wie sie war, überhaupt Gastung bei `Onkel´ Mizio…Naja, mag sein…Die Familie Seiner Majestät ist zumindest ähnlich unstet und flatterhaft wie die Unsrige…Und ebenfalls notorisch knapp bei Kasse…“
„Wie auch immer, Lacertinus war diese Geschichte, als er mit Eurer Mutter von der Pilgerfahrt nach Silas zurückkehrte, die ihn zuletzt um die Südspitze des Kontinents geführt hatte, natürlich höchst unangenehm. Darpatien ist nun mal das Land der Göttin Travia, der strengen Hüterin von Sitte und Moral. Tsalinde war zwar damals noch nicht mit Eurem offiziellen Vater verheiratet, aber immerhin bereits verlobt. Ich sollte schweigen bis zu seinem eigenen Ableben, und Euch erst dann einweihen. Nun bindet meine Zunge nichts mehr. Er selbst hatte längst mit seiner Vergangenheit als Adelsspross abgeschlossen – er war ja ein Diener der Tsa. Aber er wollte niemanden kompromittieren, natürlich auch nicht selbst belangt werden – zumal das Haus Friedwang und die Eppeleins erbitterte Rivalen gewesen waren…wenn nicht Todfeinde…“
„Ihr wusstet, dass ich ein Bastard bin?“ Der Baron zog mit bebenden Fingern eine kleine Pfeife hervor, ebenso einen Tabaksbeutel, und stopfte das Rauchwerkzeug.
„Und doch von edler Abkunft. Die Wege des Lebens sind immer auch die der Natur, unergründlich und groß. Oft gerade dort gütig, wo beide uns als besonders grausam erscheinen. Lacertinus hat es ähnlich gesehen. Man ehrt das Leben nicht dadurch, dass man es schont, sagte er einmal. Deswegen mochte ich Euren Vater. Ich teile seine Meinung nicht, was den vermeintlichen Frevel betrifft. Denn wenn Tsa gegen diesen Segen gewesen wäre, hätte sie ihn gar nicht erst gewährt.“
„Und doch starben in Brabak zwei der Vierlinge, kurz nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatten…“
„Und zwei blieben dafür am Leben. Es war wohl ein leichtes Stirnrunzeln der Götter, mehr nicht. Eine Warnung, ihre Gaben nicht aus Eigennutz zu missbrauchen, gewiss. Aber auch ein Zeichen, dass Leben und Tod von Anbeginn zusammengehören wie Tag und Nacht, Mann und Frau, Himmel und Erde, Jugend und Alter, Gut und Böse. . .“
„Mann und Frau, Gut und Böse…diese Gegensätze kenne ich nur zu gut.“ Der Mondschatten lachte, wurde aber rasch wieder ernst. „Klingt fast schon nach maraskanischem Dualismus…“ Alrik zündete die Pfeife an einem brennenden Ast an, paffte hektisch und begann sie hustend zu rauchen.
„Nun, Lacertinus hat auf Maraskan schon viel von der doppelgesichtigen Auslegung des Tsakults dort in sich aufgenommen. Und an Eure Mutter weitergegeben, die, obschon Anbeterin der Jungen Göttin, dennoch nie eine Rohalsjüngerin war, wie Ihr wisst. Ich bin mir keinesfalls sicher, ob Lacertinus auf Maraskan nicht auch Zweibeiner getötet hat, trotz seiner Weihe. Darüber hat er immer geschwiegen. War später den `Wiedergeborenen´ zuzurechnen, eine Richtung innerhalb der Kirche, die in der Jagd keinen Frevel an Tsa sieht. Was ihn mir nur umso sympathischer gemacht hat…“
„Als Nachfahre eines nivesischen Fallenstellers nicht gar so erstaunlich…“ Alrik bot die Pfeife Abjo, der gerade seinen Hund herzte. Der Nivese drehte sich um und nahm sie ebenso erstaunt wie erfreut an sich. Dann sog er paffend einen tiefen Zug ein, hustete und keuchte. Offenbar war er milderes Kraut gewöhnt. Mit dankbarem Nicken, aber auch schmalen Äuglein, gab er die Pfeife zurück. Alrik reichte sie dem Firuni, der allerdings dankend ablehnte.
„Lacertinus. Ich hätte meinen Vater gerne kennen gelernt“, seufzte Alrik. „In einer besseren, glücklicheren Stunde….Nicht der seines Todes.“ Eine einzelne Träne trat in sein Auge. Nein, er konnte nicht um ihn weinen, dafür hatte er ihn einfach zu wenig gekannt. Da war nur dieser rein körperliche Schmerz, tief in ihm. Er würde wieder vergehen, da war sich Alrik sicher.
Sein Blut trauerte um das gleiche Blut, das in Hauckes Zuflucht vergossen worden war, aber seiner Seele blieb dieser Mann fremd. Damit hatte er sich eigentlich schon selbst die Antwort gegeben. Selbst wenn der Tsageweihte noch leben würde – er wäre für ihn niemals ein Mensch geworden, den er im ganzen, schwer wiegenden Sinn des Wortes hätte „Vater“ nennen können. Oder auch nur wollen.
Er durfte nicht hadern, beim Heimlichen. Besondere Freiheit hatte eben ihren besonderen Preis. Vermutlich nahm er sich einfach zu wichtig.
Dankbar tätschelte er den Hund, der seinen Kummer bemerkt hatte und ihm die feuchte Schnauze in die Hände stieß. Gerührt streichelte er ihm das Fell. So sieht´s aus, dachte er wehmütig. Ein über tausend Jahre alter Hund geht dir näher ans Herz als dein eigener Vater. Bist endgültig auf den Hund gekommen, Alrik….
Orchan legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wisst Ihr…Abjo kennt seinen leiblichen Vater auch nicht. Oder aber fast alle, die dafür in Frage kämen, je nachdem.“ Der Firuni deutete fast so etwas wie ein Lächeln an. „Die Jurte seiner Mutter stand für jeden hübschen Jüngling offen, ohne dass dies in seinem Volk unschicklich gewesen wäre….“
„Hexenflickenteppich in der Familie. Verstehe ich…“ Alrik nickte. „Verstehe ich nur zu gut. Abjo…Wie, wie ist es ihm ergangen….seit den Dunklen Zeiten? Warum gibt es ihn überhaupt noch? Warum sitzt er gerade neben mir, statt in den Ewigen Weidegründen der Nivesen zu wandeln? Doch nicht, weil er wirklich ein Alveraniar ist, oder?“
„Nein, auch wenn sein Name auf Alhanisch mit dem Namen der Götterburg verwandt ist. Al´Boran. Etwas freier übersetzt: Das Große Rad.“
„Warum das?“
„Wegen seinem Balihoer Rundschild, der mit Eisen beschlagen war, das aussah wie die Speichen eines Rads. Das Wappen der Grafschaft rührt daher… Haldorn war der Name des Kurzschwertes, das ihm Graf Urzahn auf der Höhe der Schlacht um Baliho verlieh. Helle Klinge, so könnte man das Wort deuten…“
„Das heißt, sein Name – Alboran Haldorin - ist eigentlich der seiner Waffen?“
„Ja. Das Große Rad und die Helle Klinge. Er scheint sehr stolz auf sie gewesen zu sein, kommt er doch aus einer Welt, für die geschmiedetetes Eisen eine Rarität war. Ich verstehe seinen Dialekt des Nujuuka wirklich nur sehr schwer. Aber es scheint so, als wäre seine ganze Sippe von einer Horde Orken erschlagen worden und er der einzige Überlebende gewesen. Irgendwo in Sewerien, denke ich, auch wenn ich die Namen der Orte, die er nennt, nicht recht deuten kann. Als er schwerverwundet durch die Taiga irrte, hätten ihm die Schlangenanbeter übel mitgespielt, sagt er. Ihn betrogen und ausgeraubt. Offenbar meint er eine Sippe von Urnorbarden. In der Wildnis hatte er dann einen Traum von Lieskarän, seinem Himmels- oder Schicksalstier, wie er es nennt: Ein herrlicher Weißhirsch an einem großen See, der auf grausame Weise von Schwarzpelzen erlegt wird. Er beschloss, diesen Frevel entweder zu rächen oder aber zu verhindern. Zusammen mit seinem Gefährten Närdan wanderte er immer weiter nach Südwesten. Bis er nach vielen Tagen und Nächten an den Neunaugensee gelangte, den er in seinem Traum gesehen zu haben glaubte. Der See war aber sehr viel größer als der in seiner Vision, fast ein Meer. An dessen Ufern muss er dann Dian Artema begegnet sein.“
Orchan sprach Alboran auf Nivesisch an, etwas stockend und unsicher.
Ein Redeschwall im hellen Singsang des Nujuuka antwortete ihm.
„Ja, am großen Wasser hat er die Elfe getroffen, am Pandlarin. Bei der Jagd. Er hat sie sofort gemocht, weil sie ihren Stamm ebenfalls verloren hat, wie er selbst. Anfangs habe er Dian Artema nicht besonders hübsch gefunden, mager, mit blasser Haut und spitzen Ohren. Außerdem habe sie seinen Käämi nicht gemocht, seinen Schnaps aus vergorener Karenmilch. Man habe mit ihr aber trotzdem viel lachen können.“
Einige Worte auf Nivesisch, gefolgt von einem Heiterkeitsausbruch.
„Ja. Als er zu ihr gesagt hat, ihre Ohren wären so spitz wie die seines Hundes, habe sie geantwortet, dafür sehe er so aus, als habe Närdan ihm ein Stück von seinem Ohr abgebissen.“
Abjo lachte guttural und konnte sich einen Moment lang gar nicht beruhigen. Dann fuhr er wild gestikulierend in seiner Rede fort, von der Alrik nur das hasserfüllte Wort Nargazz verstand.
„Er sagt, Dian hätte ihm später viele Male das Leben gerettet und er ihr einmal auch. Sie hätten sich nach Ballunginhoîh, also Baliho, begeben, und wären dort in die Dienste Graf Urzahns getreten. Um gegen die überall vordringenden Orken zu kämpfen. Tatsächlich mussten sie bald die Stadt gegen Nargazz´ Horden verteidigen.“
Alrik nickte. Natürlich: Nargazz Blutfaust. Der überraschende Ansturm des Orkherrschers, mitten in den Dunklen Zeiten nach der Zweiten Dämonenschlacht, hatte die Länder der Menschen endgültig ins Chaos gestürzt. Der Phexgeweihte kramte in seinem Gedächtnis nach. 253 vor Bosparans Fall waren die Schwarzröcke vom Ghorinchai-Volk vor Baliho aufgetaucht.
„Drei Tage und Nächte voller Blut, Kampf und Feuer, wie Abjo sagt. Er hat sehr viele Schwarzpelze getötet, mit Pfeil und Schwert …oh, jetzt prahlt er ein bisschen. Drei mal zwei Hände voll – niemals, Abjo. Am Ende, als schon viele Ur-Weidener unter den Klingen der Ghorinchai gefallen waren, hat ihn der Graf zum Anführer seiner Burgwache ernannt. In der dritten Nacht haben die Orkschamanen dann ein furchtbares, gehörntes Zaubertier, einen dämonischen Stier, beschworen und damit das Tor zur Stadt durchbrochen. Zusammen mit Dian und einigen überlebenden Balihoern ist er nach Süden geflohen, in die Wälder. Nicht vor den Orks, sondern der schwarzen Kunst ihrer Schamanen. Da legt er großen Wert drauf.“
„Nja, die Geschichte kennt man im Grunde ja. Auch wenn ich nie gedacht hätte, sie mal aus…. erster Hand zu hören.“ Alrik grinste schief. Was da erzählt wurde (noch dazu von einem Augenzeugen!), hatte sich 253 Jahre vor dem Fall Bosparans und dem Beginn ihrer eigenen, heutigen Zeitrechnung ereignet. Unglaublich . . .
„Abjo sagt, dass auch Dian eine große Schamanin gewesen wäre. Vor der Stadt habe sie der Sonne selbst befohlen, in ihrem Lauf innezuhalten und so die ganze Welt mitsamt den Orks einfach eingefroren“. Der Nivese blickte ehrfurchtsvoll, Orchan skeptisch. Er hat als Naturkind nun mal eine blühende Phantasie, schien sein entschuldigender Blick sagen zu wollen. „Nur die Flüchtlinge konnten sich noch frei bewegen und so entkommen.“
Alrik war geneigt, dem Waldläufer zu glauben. Auf einem Fenster des Praiostempels von Markt Friedwang wurde dieses „Sonnenwunder des Heiligen Alboran“ ja dargestellt: Praios selbst hielt für seinen getreuen Diener den natürlichen Lauf der Zeit an - und blieb eine geschlagene Stunde lang am Firmament stehen.
Dem Streuner war dieser Teil der friedwangischen Alboran-Legende früher immer als einfältige, grobe Übertreibung vorgekommen. Andererseits wusste er von seinem Schwager Veneficus, dass Dian Artema mächtige, satinavsche Magie beherrscht haben sollte, die erst im Lauf späterer Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war.
„Ja, er schreibt der Heiligen Artema viele Wunderdinge zu“, meinte der Firungeweihte. „In den Wäldern soll die Elfe den Bäumen und Sträuchern befohlen haben, ihre Äste wie Zelte oder Hütten um sie wachsen zu lassen, sie überreich mit Früchten zu nähren, und dergleichen mehr. Vor allem habe sie den verstörten Menschen neue Zuversicht eingeflösst, ihnen gelehrt, zu kämpfen, mit Pfeil und Bogen umzugehen und in der Wildnis zu überleben. Oft habe sie sich in ein Zaubertier verwandelt, mit dem Leib eines Pferdes, und dem Schwingen sowie dem Kopf eines Adlers. In dieser Gestalt sei sie den Balihoern voraus geflogen, um zu jagen und ihnen einen Weg durch den Urwald zu weisen – oder aber, um die Bewegungen der Feinde auszuspähen. Einmal habe er sogar auf ihrem Rücken mitfliegen dürfen.“
„Ein Hippogriff ?!“ Alrik lächelte zynisch. Damit wäre dann wohl auch die Legende vom Greifen Nerdan geklärt, dacht er: Der Name stammte von einem Nivesenhund, die Gestalt von einem Zaubertier aus den Salamandersteinen… Dank des berühmten Nordenheimer Wandteppichs, der mitsamt dem dortigen Praiostempel im Rohalsaufstand zerstört worden war, und die Fenster der St.Alborans-Basilika inspiriert hatte, war auch diese Szene überliefert worden: Der Greif Nerdan, wie er das Heer der Flüchtlinge durch die Wildnis führte. Wenn die Praioten wüssten, dass sie in den Wundertaten ihres Helden Alboran in Wahrheit altelfische Magie verehrten…
„Es hat viele Kämpfe mit Schwarzröcken gegeben. Die Wälder hätten von ihnen gewimmelt wie von Ameisen. Viele Balihoer wären gefallen, vor allem in der Schlacht bei Wehrheim. Dian wäre aber auch eine große Kriegerin gewesen. Bei Nacht und Nebel sei sie ihrer kleinen Schar voran geritten, um Kaiser Usim-Horas und das bei Wehrheim umzingelte Reichsheer zu retten. Auf einem Valdra – einem Einhorn, wenn ich ihn Recht verstehe…Von dessen Rücken aus habe Dian zahllose Orken erschlagen, mit Pfeil, Schwert und Zauberei“.
Abjo nickte eifrig und schlug sich begeistert auf die speckige Lederhose, bevor er seinen Bericht fortsetzte.
„Das reinweiße Unicorn aber traf und vertrieb mit dem goldglänzenden Horn seinen Erzfeind: Karmoth, den sechsgehörnten schwarzen Stier, mit denen die Orks eine Bresche schlagen wollten – wenn auch anders als in Baliho nicht in eine Mauer aus Stein, sondern in die ängstlich, wie Schafe zusammengedrängten Reihen der Bosparanier. Dadurch ermutigt, wagten die Kaiserlichen einen Gegenangriff und trieben zusammen mit der Balihoer Verstärkung ihrerseits die Schwarzpelze zurück. Vor allem die Bögen der Flüchtlinge bewährten sich in der Schlacht. Bis zum Mittag waren Nargazz´ Orken entweder gefallen, versklavt oder zurück gen Norden geflohen. Aber auch viele Balihoer haben ihr Leben lassen müssen. Das Einhorn starb an den vergifteten Wunden, die der Dämon ihm zugefügt hatte. Abjo selbst wurde von mehreren Pfeilen und Arbachhieben getroffen und nur durch Dians Magie geheilt. Dennoch: Die Niederlage von Baliho war gerächt, der Vorstoß der Ghorinchai auf die Mittellande abgewehrt, wenn auch zu einem hohen Preis. Kaum die Hälfte der Flüchtlinge war noch am Leben. Der dankbare Usim hat den Flüchtlingen dann Land gen Sonnenaufgang zugewiesen, rund um einen Berg in der Heide. Auf dem erbaute Artema dann ihren Turm…Nein, er sagt, die Elfe habe ihn einfach aus dem Fels wachsen lassen…“ Orchan lächelte, erneut ungläubig. „Für einen Nivesen scheinen steinerne Bauten wohl ebenfalls an Magie zu grenzen.“
Alrik beugte sich vor. Nun, nach der Gründung von Gallys, würde hoffentlich der für einen Friedwangen spannendere Teil kommen: Das Zerwürfnis zwischen Alboran und Dian Artema.
„Die Balihoer ließen sich also in Gallys nieder – oder Kallêris, wie er es nennt. Weiter nördlich hätte es bereits ein weiteres Dorf gegeben, das von den Bärenleuten bewohnt wurde. Er meint wohl die Barnfanis. Zusammen mit den Barbaren hätten sie sämtliche orkische Marodeure aus der Umgebung vertrieben. Nach diesem Sieg wäre es nicht mehr so schön gewesen, sagt Abjo. Nicht mehr so schön? Ah. . . Offenbar hat er als Nivese das freie Herumstreifen in der Wildnis genossen. In der Stadt sei sein Herz schnell schwer geworden. Dian habe das Lager nicht mehr so oft mit ihm geteilt wie in den Wäldern, und sich die meiste Zeit in ihrem Turm aufgehalten. Die Elfe sei vielen der Weidener unheimlich geworden mit ihrer Zauberei. Aber auch ihn selbst hätten manche schief angesehen, weil er nicht zu den Unsterblichen Zwölfen betete. Im Wald, da hätten die Balihoer einen guten Jäger und Fährtensucher wie ihn gebraucht, aber nun hätten sie Vieh gezüchtet und Korn angebaut. Manchmal habe er an sein Schicksalstier gedacht, den Weißen Hirschen. Die Barnfarnis wussten, dass es oben in den Bergen große Seen gab, wie in seinem Traum. Das schlimmste aber war…“
Der Karnmann stockte kurz, sein Blick wurde etwas merkwürdig. „Kratosz, der Häuptling der Barbaren. Abjo sagt wörtlich, er habe der Elfe den Kopf verdreht. Als Liebesbeweis habe sie sogar darauf verzichtet, einen Finger zu heilen, der ihr in einer entscheidenden Schlacht gegen die Orken abgeschlagen worden war. Kratosz habe das so gewünscht. Naja, Ferkinas lieben ja Verstümmelungen und Martern. Sie hätten dann geheiratet, um ihre beiden Völker miteinander zu verbinden.“
„So was nennt man wohl jemanden um den kleinen Finger wickeln“, brummte Alrik.
Abjo war auch nach 1200 Jahren noch anzusehen, was er von dieser Verbindung hielt. Die Zurückweisung hatte ihn offenbar schwer getroffen…Nein, ihm fast das Herz gebrochen. Kein Zweifel, er hatte die Elfe einmal geliebt, und das nicht nur rein körperlich…
„Gallys wurde zusammen mit den Barnfani aufgebaut. Um deren Bärenkult mit dem Zwölfgötter- Glauben der Siedler zu verbinden, wurde zunächst Firun ein Tempel geweiht. Und seine Verehrung mit den barbarischen Riten der Barnfanis vermischt, was rasch für böses Blut und Streit unter den Urgallysern sorgte. Viele von ihnen wollten sich mit dieser Abkehr vom reinen Zwölfgötterkult nicht abfinden - wie er zu dieser Zeit ja überall im Reich einsetzte. Enttäuscht von seiner einstigen Geliebten, hat sich Alboran dann immer mehr Kara zugewandt.“
„Kara?“
„Eine Unfreie aus Baliho, die Abjo durch den Grafen von Baliho geschenkt worden war. Eine hübsche, überaus götterfürchtige Frau, offenbar ein Sprachrohr der Unzufriedenen in Gallys. Nun, sie hat ihren Herren nach und nach zum Glauben an Praios, Firun, Travia und die übrigen guten Götter bekehrt, wie wir ihn verstehen. Und ihm klar gemacht, dass eine Elfe und ein Barbarenhäuptling als Anführer von Rechtgläubigen untragbar sind. Er schenkte Kara die Freiheit, und eine Tochter, Manesse, die später Baronin von Schratenwald wurde. Hochmütig, abweisend, kühl und grausam sei Dian ihm in diesen Tagen vorgekommen, sagt Alboran, unmenschlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Mehr wie ein böser Geist als eine Geliebte, mit der er noch das Lager teilen wollte. Er habe sie immer mehr gefürchtet, ihre Launen und spitze Zunge, ebenso wie ihre Zauberkunst…“
„Wohl die übliche Eifersuchtsgeschichte…“ Alrik nickte. Kara von Baliho. Er stellte sich gerade eine schöne, eifernde, intrigante Frömmlerin vor, die eine günstige Gelegenheit nutzte, ihren Herrn gegen Dian aufzuhetzen – und darüber selbst die Freiheit zu gewinnen. Nun fiel es ihm wieder ein. Kara von Baliho, die sich später, nach ihrer Priesterweihe, Praiociosa genannt hatte. Die erste Hochgeweihte des jungen Praios-Tempels von Nordenheim. Zusammen mit Manesse, die später fast sämtliche Elfen aus der Baronie verjagt hatte, wurde „die Heilige Praiociosa von Nerdansheim“ in der St.Alboransbasilika in einer kleinen Seitennische verehrt. Beide Statuetten waren regelmäßig mit Blumen und kleinen Opfergaben geschmückt. Vor allem die Familie Karrer verehrte Kara als eine Art „Schutzpatronin“ ihres wohlhabenden Hauses, wohl auch wegen der Namensähnlichkeit.
„Obwohl Firun Alborans Lieblingsgott wurde, wie es sich für einen Jäger und Fährtensucher ja geziemt“, Orchans bärtiges Gesicht zeigte Genugtuung, „ war er bereit, sich auf die Seite derjenigen zu schlagen, die lieber Praios ein Haus errichtet hätten, als Obersten und Fürsten der Götter, wie er zuhause in Baliho verehrt worden war. Diese Traditionalisten verließen Gallys, mit Alboran als Treckführer, und zogen gen Firun, um sich dort niederzulassen. Er sagt, sie wären nicht im Streit geschieden, ganz am Ende nicht mehr – zumindest sein Abschied von Dian wäre versöhnlich gewesen. Sie hätten in der Nacht vor der Abreise noch lange am Lagerfeuer gesessen, wie damals, am Pandlarin, und sich wehmütig über vergangene Zeiten unterhalten. Zum ersten und einzigen Mal habe die Elfe etwas von seinem Käämi getrunken. Anschließend haben sie beide noch einmal das Lager miteinander geteilt, wild und leidenschaftlich. Zum Abschied küsste sie Abjo zart auf die Stirn, mit einem gehauchten Nurd´dhao.“
„Gedeihen sei mit dir“, übersetzte Alrik, halb in Gedanken. „Oder einfach nur: Danke für alles.“
„So ist es. Am nächsten Morgen brachen sie auf, noch vor Sonnenaufgang, am Fuß des Gebirges, wo noch heute ein Pfad verläuft. Zu Fuß, schwerbepackt, mit Ochsenkarren, dem ganzen Vieh und nur wenigen Pferden kamen sie nur langsam voran. Ich denke, es waren wirklich hundertzwanzig bis hundertfünfzig Auswanderer, wie von der Überlieferung berichtet - Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, auch wenn Abjo die genaue Zahl selbst nicht nennen kann. Es gab noch keinen wirklichen Anführer, die Vorsteher der insgesamt vierzehn Familien beschlossen, wichtige Entscheidungen zunächst gemeinsam zu treffen. Das Land war schon zum größten Teil brandgerodet, offenbar von den Barnfanis. Dreißig Meilen zog man gen Norden. Nach ein paar Tagen gelangten sie in einen tiefen Wald, schließlich an den Jargel. An dessen Ufer erbauten sie dann Nordenheim.“
„Was hat es eigentlich mit dem Namen auf sich: Nordenheim?“
„Nun, südlich des Jargel stießen sie auf die Überreste einer niedergebrannten älteren Siedlung: steinerne Fundamente, überwucherte Grundmauern, umgestürzte Säulen, sogar die Ruine eines Praiostempels, was vielen als überaus gutes Omen erschien. Es waren die Überreste des Kastells Belen-Horas, das in den Jahrhunderten zuvor die Nordgrenze des Reiches bewacht hatte, die einstmals hier am Jargel verlaufen war. In den Trümmern des Heiligtums fand man sogar eine Statue des vergöttlichten Kaisers. Erschöpft vom langen Marsch schliefen die Wanderer ein, auch die Wachen. Sie wären wohl alle einer großen Horde Orks zum Opfer gefallen, die dem Trupp unbemerkt schon seit Tagen folgte. Hätte nicht Närdan, der nivesische Hirtenhund, die Annäherung des Feindes rechtzeitig bemerkt, angeschlagen und die Ahnungslosen geweckt, wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre. So aber konnte der Überfall gerade noch abgewehrt werden. Allerdings trieben die Schwarzen fast das gesamte Vieh davon. Man sann auf Vergeltung, Späher fanden heraus, dass die Ghorinchai ganz in der Nähe, im Wald, lagerten. Allerdings fehlte den Auswanderern noch immer ein allgemein und vorbehaltlos anerkannter Befehliger. Alboran war ja eigentlich nur der Fährtensucher und Wegfinder. Die Kämpfer vereinbarten, dass derjenige ihr künftiger Anführer sein sollte, der in der folgenden Schlacht am meisten Schwarzpelze erschlagen würde. Der Nivese brachte es auf zehn, wie ein weiterer Streiter namens Olkin auch. Der elfte hätte Olkin beinahe selbst den Garaus gemacht, wenn Närdan ihn nicht mit einem Kehlbiss getötet hätte, womit sein Besitzer Abjo als Sieger des rondragefälligen Wettstreits feststand.“
Alrik langte sich an den Hals und schluckte. Auch wenn der schwarze Närdan mit roter Zunge hechelnd am Lagerfeuer saß und scheinbar unbeteiligt die Nachtruhe genoss – der drahtige Steppenhund war eine gefährliche Waffe, wie das Blitzen der Fangzähne erahnen ließ.
„Nun, nachdem die Rinder, Schweine und Ziegen gerettet waren, schritt man zur Gründung der Siedlung. Fast hätte es deswegen wieder Streit gegeben. Die eine Hälfte wollte die bereits vorhandenen Mauerreste rund um die Tempelruine nutzen, um hier das Dorf zu errichten, und es Praiosheim nennen. Den Anderen erschien das fast als lästerlich - `Praios Heim´ ist letzten Endes ja nicht auf Dere zu suchen, sondern liegt droben in Alveran. Auch waren beim Orküberfall einige der Aussiedler umgekommen, der Boden zwischen den Trümmern vom Blut der Erschlagenen getränkt. Und die vorherige Ansiedlung war offenkundig gewaltsam zerstört worden. Durch den Bach hätte sich diese andere Hälfte besser geschützt gefühlt, vor den Ghorinchai im Süden, aber auch den Barnfanis. Es lag an Alboran zu entscheiden, und er beschloss kurzerhand, den Jargel zu überqueren. Ich vermute, diese Entscheidung hängt mit seiner Abneigung gegen steinerne Gebäude zusammen. Die weite, unberührte Wildnis gen Firun gefiel ihm einfach besser. Abjo sagt, er sei einfach seinem Freiheitsdrang und Närdan gefolgt, der dort begeistert herumsprang, in der Erde scharrte und frohgemut gegen die Bäume pinkelte. Auf ihn habe es gewirkt, als wolle sein Gefährte solcherart Besitz von dem Land nehmen. Unserer beider Heimat ist eben der freie Norden, scherzte Abjo, als ihn die `Praiosheimer´ nach dem Grund für die Entscheidung fragten. Nordenheim, so wurde die Ansiedlung schlicht genannt, viele sprachen allerdings von Närdanheim: spöttisch, aber durchaus auch ein klein wenig respektvoll – und dankbar ob der Dienste von Abjos Hund an ihrer Gemeinschaft.“
Der Mondschatten grinste. Wenn das die Praioskirche wüsste – dass der Name Nerdanheim sich ebenfalls nicht von einem Greifen, sondern einem nivesischen Hütehund ableitete. Weil dieser auf der mitternächtlichen, statt südlichen Seite des Jargel die Pfote gehoben hatte. . . So konnte man natürlich auch seine Spuren in der Geschichte hinterlassen . . .
Alrik blickte zum befellten Namensgeber des Dorfes. Dieser stellte gerade die Ohren auf, witterte in den Wald.
Orchan schob einen hell brennenden Zweig zurück ins Feuer, der heraus gefallen war. Der weißbärtige Firuni musterte den Baron: „Abjo meinte, er habe dem Namen auch deswegen zugestimmt, weil er ihn an Dians Abschiedsworte erinnerte. Nurd´dhao…Gedeihen sei mit dir…Was ist denn da los?“
Auch Alrik wurde von einem Rascheln im Gebüsch abgelenkt, gefolgt von prasselnden Ästen. Schnaufend brach ein mächtiger dunkler Rücken aus dem Unterholz, blieb erschrocken stehen. Der Vierbeiner richtete sich auf, schnupperte. Mit einem Mal lag ein scharfer Geruch über der Lichtung. Eine Bärin…Einige Momente lang leuchteten ihre Augen im Dunklen. Der Nivesenhund sprang auf, knurrte das Tier drohend an, die schwarzen Nackenhaare gesträubt. Zum Glück trollte sich Meisterin Petz mit Grummeln und Schnaufen wieder.
Orchan schlug den heiligen Firunspfeil, er schien die Begegnung als gutes Zeichen auffassen zu wollen. Der Nivese selbst schien völlig unbeteiligt zu sein, offenbar war für ihn die Begegnung auch mit größeren Wildtieren nichts Ungewöhnliches. Mit einigen kehligen Worten beruhigte er Närdan, der nervös auf und ab strich.
„Wo waren wir stehen geblieben?“ hob der Firuni wieder an. „Ach ja, die Dorfgründung. Nun, ich glaube, es war trotz allem kein Zufall, dass die Nordenheimer einen Außenseiter zu ihrem Vorsteher erhoben. Er selbst nannte sich zunächst Than von Nordenheim. Die vierzehn Gründer-Familien – Ballîn, Dingel, Altenbinger, Valtin, Horner, Fraldein, Edarna, Padir, Missila, Trimdel, Kaldahon, Wilmerich, Pucher und Rodas – waren meist wehrhafte Freibauern, nicht aus der Stadt Baliho selbst, sondern kleinen Dörfern und Höfen aus deren Umgebung. Entsprechend stolz und selbstbewusst, eifersüchtig darauf bedacht, bei aller Zusammenarbeit dem jeweils anderen Clan nicht zuviel Macht und Ehre zukommen zu lassen. Insofern war Abjo ein guter Kompromiss.“
Alrik nickte: Than oder Thegn bedeutete eigentlich „Gefolgsmann“. Serwas Bruder Deggen verdankte seinen Namen wohl diesem alten Adelstitel. Abjo schien recht ehrgeizig an seine Aufgabe herangegangen zu sein, in Erwartung, vom Kaiser in Bosparan bald ebenfalls als „von Stand“ anerkannt zu werden.
„Er ließ im Osten des heutigen Nordenheim einen Hügel aufschütten und errichtete darauf eine Hochmotte, für Versammlungen und als Fluchtburg im Notfall. Um diese herum wurde eine Palisade errichtet und der Jargel in einem Wassergraben herumgeleitet. Auch Nordenheim selbst hat man als eine Art Vorburg durch Wälle und Palisaden geschützt. Der Überfall der Orken hatte die Bewohner doch ziemlich eingeschüchtert. Zwei Jahre lang wuchs und gedieh die junge Siedlung. Allerdings kam es rasch zu Streitereien mit den Gallysern, die ebenfalls gen Firun drängten. Die Nordenheimer versuchten, das Land im Norden zu erschließen, bemerkten aber schnell, dass das Gebiet nicht die leere Wildnis war, für die man es zunächst halten konnte. Es gab Elfen, die mit Pfeil, Bogen und Zauberei die Auen durchstreiften, räuberische Goblins in den Bergen. Vor allem aber die Alhanier, ein Siedlungsrest des einst mächtigen Reiches von Beilunk rund um das Gebiet der Großen Senke. Der Hairan Yussuf ibn Hainif von Suunkdal machte den Neuankömmlingen klar, dass er den Jargel als Grenze betrachtete und die Neuankömmlinge diese zu respektieren hätten. Späher berichteten, dass es im nahen Bir-elek-wallah, also Berchweiler, ein Schlangenheiligtum geben sollte, wo die Urnorbarden Opfer darbrachten – was den Zorn Alborans erregte, der seine schlechten Erfahrungen mit ihnen in der Taiga nicht vergessen hatte. Vor allem zahlten sie an die Orken Tribut – was Alboran ihnen als Bündnis mit dem Erzfeind auslegte. Er sandte eine Botschaft an Kaiser Usim II., der in Rommilys weilte, bat um Waffenknechte und sämtliche Ländereien, die er von den Unglaubigen erobern würde. Der Horas, erfreut, dass offenbar die alte Grenze am Jargel wieder hergestellt war, sandte ihm mehrere Panzerreiter, ein Greifenbanner sowie zwei Praiosgeweihte, Kerung und Griffo mit Namen. Außerdem schenkte er Abjo ein kostbares Kettenhemd, eine Krone sowie einen pelzbesetzten Mantel.“
Orchan blickte in den Wald. Wind kam auf. Die Bäume begannen zu rauschen und ihre Kronen zu neigen.
„Es waren vor allem die Felle, wegen denen sich – aus kaiserlicher Sicht - eine Unterwerfung des Landes zwischen Gernat, Baernfarn und Südsichel lohnte. Neben der Bekämpfung der Orks, versteht sich. Der Schratenwald mit seinen Seen war reich an Rotpüscheln, Eichhörnchen, Bibern, Ottern und Nerzen. Pelze wurden während der Dunklen Zeiten rasch zu einer Art Ersatzwährung in den Nordprovinzen des Reiches. Unter orkischem Einfluss begannen die Menschen zudem, sich immer mehr in Tierfelle zu hüllen, was früher noch als barbarisch gegolten hätte. In einem Blitzfeldzug wurde fast schon das gesamte Gebiet des heutigen Friedwang erobert, die Dörfer der Al´Hani niedergebrannt, die in die Wälder auswichen. Schließlich gelang es, den abtrünnigen Hairan gefangen zu nehmen. Der Rat von Nordenheim verurteilte ihn zum Tod auf den Scheiterhaufen, da er angeblich bereits zu den Orkgötzen Tairach und Brazoragh gebetet haben soll. Alboran aber wurde zum Baron der Länder zwischen Jork im Süden und der späteren Orkensauffe im Norden ernannt. Die Jahre gingen ins Land, die Baronie Sraatenwald wuchs und gedieh. Der Name kommt übrigens vom Altgarethischen Srâto, Waldgeist – teils, weil der größte Wald der Baronie wirklich verwunschen war, teils, weil noch lange Zeit Freischärler der Alhanier in ihm herumstreiften. Die zerstörten Dörfer wurden von den Gefangenen wieder aufgebaut. Zusammen mit den Goblins mussten sie Jassak liefern, den Pelztribut – das Wort stammt aus dem Orkischen. Ein erneuter Angriff der Schwarzpelze scheiterte an der starken Befestigung von Suunkdal. In offener Feldschlacht blieben sie den Menschen aber überlegen, was nicht zuletzt an ihren durchschlagenden Reiterbögen und ausdauernden Ponys lag.
A sagittis Orcorum libera nos, Praione – schütze uns, Praios, vor den Pfeilen der Orks, hieß damals ein weitverbreitetes Stoßgebet. Schließlich erfuhr Alboran, dass die Orken im Könikreisch des Nordens eine große Streitmacht der Ihren zusammenzogen, um die freien Blankhäute der Südsichel nieder zu werfen. Ihr Feldzeichen war ein weißes Hirschfell, wie aus Alborans Traumgesicht. Einmal traf der Baron sich noch mit Dian, am Hängenden Gletscher in der Schwarzen Sichel, um gemeinsame Abwehrmaßnahmen zu besprechen. Zu diesen kam es nicht, die Gallyser hatten selbst genug damit zu tun, sich im Süden ihrer Haut zu erwehren. Allerdings vermittelte Dian ein Bündnis zwischen den Elfen am Waldensee und den Nordenheimern. Außerdem warnte die Herrscherin über den Artemaberg ihren einstigen Geliebten – sie habe ihn in einer Vision im Kampf gegen die Orken untergehen sehen.“
In Orchans Gesicht spiegelten sich unstet die rötlichgelben Flammen: „Bei dieser Gelegenheit hat die Elfenheillige ihm, an einem Lederriemen, einen Ring um den Hals gehängt, mit elbischen Runen. Er solle ihn anstecken, wenn die Not und Gefahr am größten wäre. Außerdem offenbarte sie ihm, dass ihre letzte Begegnung nicht folgenlos geblieben sei: Sie habe ein Mädchen zur Welt gebracht, Solaline mit Namen – und, kaum dass sie der Mutterbrust entwöhnt war, in die Obhut der Feen gegeben. Sie werde nun in Sicherheit in der Anderen Welt aufwachsen. Verwirrt kehrte Abjo zu den Seinen zurück. Nun, alles weitere ist bekannt: Die Orks, weit über hundert an der Zahl, zur Hälfte beritten und gute Schützen, gerieten beim heutigen Efferding in einen Hinterhalt von Elfen und Menschen. Die Alhanier hatten den Schwarzröcken vorgegaukelt, zu ihnen überlaufen zu wollen und sie am achtzehnten Tag des Phex, kurz vor Sonnenuntergang, am Seeufer erwartet. Als die Orkhorde dort eintraf und ihre gefürchteten Reiter absassen, wurde sie von den vermeintlichen Verbündeten angegriffen, während die Elfen sie vom Wald her unter Beschuss nahmen. Der Pfeilhagel kostete den Angreifern einen Großteil der Pferde und bereits viele Khurkach. Etwa die Hälfte der Krieger floh zurück in Richtung des heutigen Wutzenwald. Der Rest wurde von den Panzerreitern und dem Nordenheimer Fußvolk eingekreist und in den See getrieben. Die Schwarzpelze wehrten sich verzweifelt, fast alle bosparanischen Soldaten und viele Schratwaldener starben im wilden Handgemenge. Entgegen der Überlieferung endete die Schlacht an der Orckensauffe eigentlich als verheerende Niederlage der Unsrigen: Die Elfen verfolgten die nach Westen fliehenden Schwarzpelze, die sich zum Nahkampf stellten. Die Dunkelheit brach herein. Im Kampf gegen die Übermacht der Khurkach, mehrere Streitoger, und den von einem Tairachpriester – wie es heißt, einem abtrünnigen Menschenmagier – erhobenen Untoten wendete sich das Blatt rasch. Mit hohem Blutzoll zog sich das lichte Volk in die Wälder zurück. Die Orks fielen ihrerseits den Streitern der Zwölfe in die Flanke: mit Kriegshunden, lebenden Leichen, Arbachs, Gruufhais und Byakkas. Nun wichen wiederum die Blankhäute in wilder Panik. Das gesegnete Greifenbanner ging verloren. Abjo selbst wurde vom Anführer der Ghorinchais, Brûkhlak mit Namen, von seinem Streitross herunter und in einem erbitterten Ringkampf hinab in die Tiefe des Sees gezogen. Ob seines schweren Kettenhemdes, das ihn Kaiser Usim geschenkt hatte, wäre der Nivese beinahe ertrunken, aber Dians Zauberring rettete ihn. Es gelang ihm, unter Wasser zu atmen und sich des Stahls zu entledigen. Nackt, wie die Götter ihn geschaffen hatten, rettete er sich an Land, wickelte sich frierend in die Standarte der Orks – und wurde prompt in den Weißen Hirschen verwandelt. Die Orken jagten ihn mit ihren Kriegshunden durch die Wälder… Sie stellten ihn und hätten ihn wohl zerfleischt, wenn ihm nicht im letzten Moment Närdan zu Hilfe gekommen wäre. Die Schwarzpelze schossen ihre Bögen ab und flohen feige, Alboran verwandelte sich wieder in einen Menschen. … “
Alrik schauderte trotz der sanften, gleichmäßig pulsierenden Wärme, die das Lagerfeuer nun abstrahlte. Einzelne Flammen zischten hell über die Äste. Das Ganze erinnerte ihn vertrackt an die Hatz der Al´Anfaner Sklavenfänger, auf ihn und seinen Bruder, damals im Dschungel…Mit Zornbrechtern. Die Sterblichen waren wohl dazu verurteilt, dass sich gewisse Ereignisse in ihrer (Familien-)Geschichte immer wieder aufs Neue wiederholten . . .
„Nun, die Menschen hatten zwar vom Schlachtfeld weichen müssen, aber die Verluste der Ghorinachi wogen nichtsdestotrotz schwer. Sie hatten ihre eigentliche Schlagkraft eingebüßt, und den Nordenheimern gelang es unter Karas Führung, die herumstreunenden Marodeure nach und nach zurück zu drängen. Dennoch stand die Sache der Menschen in der Sichel Aarmars einen Moment lang auf der Kippe. Manches junge Dorf und Gehöft verbrannte, von dem wir heute nicht einmal mehr den Namen kennen. Nordenheim, wo es kaum noch Kämpfer gab, musste eine schwere Belagerung durch die Goblins erdulden. Wären den Dörflern nicht im letzten Moment die Elfen zu Hilfe geeilt, die Baronie Schratenwald wäre Geschichte gewesen, kaum dass sie gegründet worden war. Zum Glück dezimierten sich Rotgepelz und Schwarzröcke im Streit um die Beute gegenseitig. Erst, als Alborans Tochter Manesse den Baronsthron bestieg, trugen die Menschen einen dauerhaften Sieg davon. Aus Dank wurde in Nordenheim anstelle eines Praiosschreins ein Tempel des Allerhöchsten gebaut, Kara von Baliho, die als Praiociosa die Weihen empfangen hatte, wurde dessen Vorsteherin. Die blutjunge Baronin, nicht minder praioseifernd als ihre Mutter, dankte den Alfen ihre Hilfe schlecht: Manesse verbannte sie, kaum dass sie ihre Herrschaft angetreten hatte, aus der Baronie - unter dem Vorwand, sie wären unzuverlässige, verräterische Verbündete gewesen, schuld am Tod ihres Vaters und noch dazu heimtückische Spione der Dian Artema. Außerdem wollten sie sich nicht zu den Wahren, Unsterblichen Zwölfen bekehren lassen und Manesse auch nicht den Treueid als Baronin leisten. Die Folge war ein erneuter jahrzehntelanger Kleinkrieg, bei dem es in Wahrheit schon mehr um die Jagd und den Holzeinschlag im Schratenwald ging. Aber das ist bereits die bekannte Baroniegeschichte Was nun Abjos wundersame Erlebnisse in der Feenwelt angeht, wären diese viele Abende am Lagerfeuer wert. Er glaubte, er sei in die ewigen Jagdgründe eingegangen, oder aber, in Praios Paradies. Er verliebte sich unsterblich in die Fee, die ihn an Dian erinnerte. Doch ihrer Liebe war ebenfalls kein Glück beschieden. Als er begriff, wo er war, begab er sich auf die Suche nach seiner anderen, elfenblütigen Tochter Solaline. Er gelangte schließlich, durch einen Feenzauber geschützt, nach Mandalya, jener verschollenen Elfenstadt im See ohne Grund und Boden, verborgen hinter einer Wand aus Lohe und Feuer. Er befreite Solaline, die zu einer bildschönen jungen Frau herangewachsen war, aus der Gewalt von zweibeinigen Feuersalamandern und bewältigte mit ihr zahlreiche Abenteuer.“
Wind kam auf und blies die Haare der am Lagerfeuer Versammelten zu Buschen. Draußen auf dem See kräuselte sich das Wasser. Alrik fröstelte und zog sich den Mantel enger über die Schulter. Der Nivese legte noch etwas Holz ins Feuer. „Einige Monde gingen so in der anderen Welt ins Land. Schließlich wuchs in Abjo die Sorge um die Menschen, die er im Kampf gegen die Orks allein gelassen hatte. Also wies ihn seine Tochter den Weg zurück – nicht ohne die Warnung, dass seit seiner Flucht vor den Ghorinchai viele hundert Jahre vergangen waren. Und mehr als das. . .“
Alrik nickte heftig. „Alboran…er hat also wirklich die letzten zwölf Jahrhunderte in der Feenwelt verbracht. So wie wir uns jetzt hier in der Anderwelt befinden, oder zumindest an deren Rand…?“
Der Firungeweihte sah ihn durchdringend – und traurig? – an. Orchan wirkte plötzlich blass, und übernächtigt. „Dass ihr Neuankömmlinge es immer nicht begreifen wollt….Aber Abjo hat es ja auch noch nicht recht verstanden…“
„Was nicht verstanden?“ Alrik war langsam ernsthaft beunruhigt. „Um Alverans Willen, was meint Ihr denn damit…? Nicht begreifen?“
„Nun, Närdan hatte die Feinde in die Flucht geschlagen, aber er wurde schwer verwundet, ebenso wie sein Herr. Sie starben beide, noch am Ort des Kampfes, von schwarzen Pfeilen durchbohrt…Das Hirschfell aber fiel wieder in die Hände der Orks…“
Der Mondschatten sah sein Gegenüber entsetzt an. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Alboran wirkte völlig unbeteiligt.
„Aber…gerade habt Ihr noch gesagt…er hätte Jahrhunderte lang in der Feenwelt zugebracht…“
„Wer im Schratenwald, im Feybân, oder auch nur unter dem Einfluss eines Feenzaubers, stirbt, lebt in der Anderwelt weiter, gewiss“, sagte der Firuni mit trockener Stimme. Eisgrauer, frostiger Dunst drang bei diesen Worten aus seinem Mund. „So erzählt man es sich zumindest in den Bergen Aarmars. Wenn sie etwas von dem opfern, was ihnen im Leben sehr wichtig war, eine kostbare Grabbeigabe, wird ihnen das Tor zum Land jenseits des Regenbogens aufgetan. Es heißt, manche Sterbende gelangen in einem Nachen über den Traumsee Val´Dharon hierher, dem Wahrer der Geheimnisse, wie man ihn in der Sprache der Lichtelfen nennt. Ein Spiegel des Waldensees in Eurer Welt. Das Nirgendmeer der Alten Kulte im Friedwängischen, wenn man so möchte.“
„Nein, ich möchte nicht…Wenn überhaupt, dann will ich zum Sternenhimmel des Phex aufsteigen!“
Alriks Nackenhaare stellten sich auf. Mechanisch schüttelte er den Kopf.
Erst jetzt merkte er, dass mit seiner Stirn etwas nicht stimmte. Eine klaffende Wunde, nicht wirklich schmerzend, aber deutlich spürbar.
Er langte in ein tiefes Loch im Schädel. Getrocknetes Blut klebte an seinen Fingern.
Es war, als würden ihm plötzlich Drachenschuppen von den Augen fallen. Ein überreiztes Lachen drang über die Lippen des Friedwangers. Eine Art von Panik befiel ihn. Jetzt sah er auch die Pfeilwunden in den Leibern Alborans und Orchan Erttelgrimms, blutige Löcher.
„Das…das kann doch nicht wahr sein…“ Er schrie es fast hinaus. „Es kann doch nicht sein, dass ich mich am Ende auch noch selbst über das Nirgendmeer rudern muss…Das ist nicht gerecht.“
„Schon das Leben ist niemals gerecht, Alrik. Warum sollte es beim Sterben anders sein?“
Von einem Augenblick zum nächsten war alles ganz merkwürdig, vollkommen unwirklich, wie in einem schweren Traum. Das Feuer verlosch flackernd, als wäre es nur eine Kerze im Wind. Mit ihm verschwand Licht und Wärme. Die Schatten des Waldes rückten heran, hüllten alles in Dunkelheit. Plötzlich herrschte Kühle auf der Lichtung. Der Streuner begann zu zittern. Weit draußen, auf aschgrauen, unruhigen Wellen, trieb das Boot, das er eigentlich an Land gezogen hatte. Oder gezogen zu haben glaubte. Aus weiter Ferne hörte er Orchans Stimme, der selbst nur noch ein Schatten an einem nächtlichen See war. An einem nachtschwarzen, grausamen Abgrund aus Wasser.
„Wir sind tot, Alrik. Alle, die wir hier sitzen, sind tot. Alboran schon seit über eintausendzweihundert Jahren…Seine Knochen ruhen ja in der Sankt Alborans-Siegesbasilika…“
Alrik verstand die Welt nicht mehr.
Orchan seufzte und sah ihn durchdringend, aber aus irgendwie leeren Augen an.
„Habt Ihr denn wirklich schon vergessen, was geschehen ist?“
Marktfriedwang, 30.PRAios 1029 nach Bosparans Fall. Vormittags.
Ein wuchtiger Hieb ließ den großen Zimmermannsnagel in dem Querholz verschwinden, das die Plattform mit dem Stützbalken verband. Der hier war nicht so krumm eingeschlagen wie sein Vorgänger.
Malte Hornbacher hämmerte noch einmal kurz nach, bevor er zufrieden nickte. Der junge Fronbauer spuckte den Nagel, den er noch im Mundwinkel trug, zurück in die Kiste. Sein Werk konnte sich sehen lassen. Das Schafott war binnen zweier Tage auf dem Marktplatz von Friedwang aus dem Boden gewachsen.
Malte wischte sich über das schweißnasse, schmutzverschmierte Gesicht. Das linnene, grobe Hemd klebte an seinem Körper, die Zehen schmerzten in den aus Stroh geflochtenen Schuhen. Die Beinlinge hatte er bereits bis auf die Knie hinaufgerollt. Lähmende Schwüle lag über dem Dorf wie der Baronie Friedwang. In der Ferne, am Höhenrücken der Sichelberge, braute sich ein Gewitter zusammen. Mücken und Bremsen summten wie kleine Geschosse durch die Luft. Einer der kleinen Plagegeister wollte ihm in die Wange stechen. Aber er war schneller und erschlug ihn mit der Handfläche. Ein Geruch nach Schweiß, Mist, Stroh und Rauch lag in der Luft – nach dem Rauch, in den die Bauern ihre Gewänder hängten, um dem Ungeziefer darin das Schmarotzerdasein darin so schwer wie möglich zu machen. Es ist mein eigener Geruch, dachte Malte, fast schon beschwingt.
Er schlüpfte aus den Strohschuhen und humpelte barfuss hinüber zum Gänsebrunnen, wo sein Freund Badilak stand und aus einer Feldflasche trank. Badilak, den alle Badi nannten. Der Jungbauer vom Huckelackerhof schob die Lodenkappe auf seinem klobigen, rotblonden Schädel zurück. „Gut!“ kommentierte er, während er den Sitz der Hahnenfeder am Hut überprüfte. „Mit der Tribüne sind wir auch schon fast fertig.“ Beiläufig fing er einen Floh, den er in einer Strähne überrascht hatte, und zerknackte ihn gnadenlos mit den Fingern der Linken. Geringschätzig betrachte er den Blutfleck auf den schwarzgrauen Fingerkuppen und verrieb ihn an der Hose.
„Wir? Zum Pesthenker! Hast dich bestimmt nich überschlagen vor Eifer, du Strauchdieb…“ brummte Malte und nahm auch einen Schluck.
„Bäh, das is ja Wein.“ Der Bauernbursche spuckte aus. „Wasser wär mir lieber. Pfui Dämon, is der sauer.“
„Trinkst meinen Wein und maulst auch noch, hä? Sauf doch aus dem Brunnen, wie die Gäule von der letzten Fuhre… Und der Wein, bei Rahjas Titten…Der Wein hierzuland is doch Gülle und Goblinpisse. Drunten in Gallys hab ich mal nen echten Aranienischen getrunken…. Der hatte Feuer.“
„Angeber! Und ein elender Nestbesudler bist auch noch….Bettnässer, furzender Orkarsch.“ Malte grinste neckisch zwischen einige Zahnlücken hindurch. „Im Jahr 34 war halt kein gutes Wetter für den Wein nicht, Frau Peraine sei`s geklagt.“
„Tausendachtundzwanzig heißt das jetzt…“ Badi lachte, ein kurzes, besserwisserisches Lachen, nahm den Schlauch wieder an sich und einen tiefen Schluck. „Jetzt wäre ein zünftiger Happen nicht schlecht. Was zu Beißen, verstehst? …Oder die schöne Ida. Unsere gute Baronin hält uns ziemlich knapp, obwohl wir hier für sie in der Sonne schuften. Nun glotz nicht so. Glaubst du wirklich, die hat das gerade eben gehört? 1029, wir schreiben jetzt den Götterlauf 1029. So hat es unsere neue Kaiserin eben befohlen. Also war letztes Jahr ….1028!“
„Tausenachunzig…“ Malte drehte staunend die Augen heraus. „Das is´ sehr viel, gütige Herrin Peraine, das is ganz schön viel.“ Er kratzte sich den Hinterkopf. „Das is ja mehr als Hundert. Soviel Kühe hat ja nicht mal der Karrerbauer, wenn man alle Viecher auf all seinen Weiden zusammenzählt. Nee. Da müsste man ja schon die Fliegen auf seinen Misthaufen zusammen rechnen, um auf soviel zu kommen.“
„Was denn Kühe? Was denn Fliegen? Wenn, dann hat der Ewald soviel Goldstücke, bei sich in der Kiste. Ja, die Ida, das wär`s“. Badi spielte den Stenz, die Hüfte vorgereckt und das linke Bein gegen den Brunnenrand angewinkelt. „Mit der könnte ich mich glatt anfreunden, und mit Ewalds Goldstücken noch dazu… Da wäre ich auch jemand und könnte sie freien. Am Sonnwendfeuer hat sie mir schon zugelächelt, weißt du…“
Badi zog einen Apfel aus seiner Gürteltasche und schnitt ihn mit dem Essmesser entzwei. Dann wischte er die Klinge an seiner Jacke sauber.
„Auch n Schnitz?“
„Hmm..“ Während Badi bereits kaute, dass ihm der Saft aus dem Mundwinkel troff, griff der junge Hornbacher ebenfalls zu.
„Was soll denn da so gewesen sein, vor über tausend Jahren, was heute noch so wichtig ist?“ Malte war regelrecht erschüttert, während er an dem Apfelstück knabberte. Nicht nur Tausend, sondern mehr als das ! Mit derart alveranisch (oder niederhöllisch?) hohen Zahlen zu rechnen - das kam ihm schon beinahe götterlästerlich vor.
„Wie? Ach so? Naja, die Schlacht von Bossaran, glaub ich…“ Badi merkte, dass sein Essmesser ziemlich stumpf und schartig war. Also zog er den Dengelstein aus dem Kuhhorn am Gürtel und begann die Klinge zu schleifen.
„Und, wer hat die gewonnen…?“
„Na, wir natürlich. Die Garether…“ Badi verstaute sowohl Wetzstein als auch Messer am Gürtel.
„Wir sind Garether?“ Malte war ehrlich erstaunt.
Einige weitere Bauern kamen heran, schleppten in dicken, gebauschten Ballen den Baldachin für die Tribüne, auf der zur Praiosstunde die hohen Herrschaften die Hinrichtung verfolgen wollten.
„He, ihr Faulpelze“, rief der Zehntknecht Karnsteyner gereizt. „Was steht ihr da so unnütz herum. Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als Maulaffen feil zu halten? Stroh muss oben verteilt werden, auf dem Gerüst, aber ein bisschen zackig.“
„Ja, ja, schon gut.“ Betont gelassen löste Badi seinen Rücken vom Brunnenrand, ließ einen krachenden Furz fahren – und zeigte dem hageren Karnsteyner die Faust, kaum dass der ihm sein Hinterteil zuwandte. Dann ließ er auch noch die Widderhörner folgen. Malte schüttelte innerlich den Kopf. O je, sein Freund traute sich was: Erst der Wein (bei dieser Hitze) und dann solche Aufsässigkeiten… Bedenklich blickte er zu dem Schafott hinüber, hinter dem wuchtig die Sankt-Alborans-Basilika mit ihrem güldenen Kuppeldach aufragte.
„Ja, der Sohn eines Freibauern müsste man sein“, knurrte Badi, trat ein herumgackerndes Huhn beiseite, und schlenderte gemächlich zu dem Weidenkorb mit dem Stroh, in dem bereits eine hölzerne Gabel steckte. „Silber müsste man vor allem haben, um sich freikaufen zu können, bei Sokramor. Aber mein alter Herr versäuft ja alles, drüben in der Rohajastub`n.“
„Für was braucht es eigentlich das viele Stroh?“ fragte Malte schnell, um abzulenken. „Wird der arme Sünder auf einem Pferd herbei gebracht?“
„Orksinn!“ Badi lachte herzlich, reichte Malte die Gabel und trug den Weidenkorb in Richtung Treppe. „Hast wohl noch nie bei ner Enthauptung zugeguckt?“
„Nee.“
„Ich schon, in Wehrheim. Das is` für s Blut, wenns herumspritzt. Das schöne Holz soll ja nicht völlig eingesaut werden.“
Malte schauerte – durchaus ein bisschen wollüstig. Die Hinrichtung nachher zur Praiosstunde versprach ja wirklich aufregend zu werden. Auch wenn das Volk bei brütender Hitze auf dem Platz würde stehen müssen, während Ihre Hochgeboren im Schatten sitzen durfte.
„So, das Stroh verteilst du jetzt. Schön dicht, damit nichts durchsuppt…“
Malte kam gerade ein furchtbarer Gedanke.
„Ich soll da rauf? Aufs Schafott? Und wenn ich henkersmäßig werde?“
Erschrocken sah der junge Hornbacher seinen älteren Freund an.
„Selbst wenn du auf dieser schönen Welt Ehre, Gold oder Recht hättest, würdest du davon nicht ehrlos werden, Malte Hornbacher. Machs einfach. Außerdem hast du das verfluchte Ding ja heute und gestern selbst mit zusammen gezimmert.“
„Aber du trägst den Korb mit rauf.“
„Also gut, in der Zwölfe Namen.“ Badi wuchtete zusammen mit Malte die Last nach oben.
„Schöne Aussicht.“ Der Sohn des Bauern Huckelacker grinste aufschneiderisch. „Das heißt, wenn man nicht gerade der Bösewicht ist – und heut einen Kopf kürzer gemacht wird.“
„Wer wird eigentlich geköpft?“ Malte nahm einen Armvoll Stroh an sich und verstreute ihn auf den eichenen Balken. „Dieser phexische Lügenbaron oder? Dieser Alrik Tsalind, der uns all die Jahre weisgemacht hat, er wäre unser rechtmäßiger Herr, nicht wahr? Der Streuner und Praios verspottende Phexpfaffe aus Mengbilla?“
„Wer hat dir denn diesen Bockmist erzählt? Aus Brabak kommt der Alrik Tsalind, und ist längst tot, vor Rommilys erschlagen… Selbst wenn nicht. Was zählt schon ein Mondschatten, von dem jeder weiß, dass er einer ist? Soviel wie `n Fuchs als Bettvorleger. Selbst bei den Phexischen ist so einer doch unten durch. Nee, nicht Lügen-Alrik …der Bischderielon muss heut dran glauben…“
„Der wahre Erbe?“ fragte Malte unschuldig.
Hastig sah sich Badilak um. „Wohl verrückt geworden? Sag das nie wieder, schon gar nicht, wenn ich dabei bin, ist das klar?“
„Aber… Herr Bishdarielon…“ Malte wunderte sich, wie leicht ihm das fremde Wort von den Lippen ging, „Ist er nicht der erstgeborene Sohn der guten Baronin Tsalinde Kalmanderia?“
„Ein Golgarit ist der“, stieß Badi bleich hervor und schlug das Praioszeichen. „Ein wortkarger Finsterling, der in der Pestbeule des Südens zauberische Kräfte erworben hat…Oder…“ Der junge Huckelacker senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „…in Boronia, dem finsteren Rabennest, Herre Praios, steh uns bei. Ein Answinischer, der den Verstand verloren hat, irrsinnig wie seine Mutter. Man murmelt gar, er wäre in Wahrheit ein Bastardkind des Thronräubers Answin.“ Badi nickte bekräftigend. „Hab ich erst gestern im Steinbock gehört“.
„Der – vom Answin?“
„Warum nich? Tsalinde soll ja mal was mit dem Rabenmaul gehabt haben. Überleg nur: Ein Balg des Schandkaisers, in unserem Friedwang! Mit Raben hat der’ s jedenfalls. Und erst der fremdländische Name: Bischderielon. Ein Schurke ist er, ganz wie sein Vater. Seine Entführung damals, durch eine Räuberbande, hat er nur vorgetäuscht, und das Lösegeld in die eigene Tasche gesteckt…“
„Is nich wahr!“ staunte Malte. „All die Jahre haben wir gehofft, der wahre Erbe könnte eines Tages zurückkehren, und nun das….Was für ein schamloser Betrüger. Also ein Kind vom Rabenkaiser ist er?! Na, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
Der Junge spürte, dass die Worte seines Freundes nicht wirklich von Herzen kamen, ebenso wenig wie die seinigen. Badi versuchte sich wohl einreden, dass die Hinrichtung des armen Alrik rechtens war. Wenn man schon nichts dagegen unternehmen konnte – dann sollte man es wenigstens reinen Gewissens ertragen können.
Andererseits: Auch auf ihn hatte der bleiche Kämpfer mit der hohen Stirn und dem dunklen, durchdringenden Blick unheimlich gewirkt. Einmal hatte er diesen Bishdarielon ja aus der Nähe gesehen, bei einem Ausritt in Richtung Nordenheim. Hochmütig und elegant war er ihm vorgekommen, aber auch – tödlich. Den Todesalveraniar, so hatten die Bauern ihn schon vor seiner Einkerkerung genannt.
Gewiss, Malte wusste: Dem Baronet war viel Unrecht wiederfahren, er hatte ein grausames Schicksal zu erdulden gehabt. Aber hieß es nicht: Wem viel Unglück geschieht, dem haftet das Pech nicht nur an - der bringt es über andere Leute? Der Todesalveraniar…Malte schauderte allein bei dem Gedanken. Vielleicht war es doch besser, ihn zu töten, wie man eine schwarze Katze ertränkte oder eine lebende Krähe ans Scheunentor nagelte. Nicht, weil diese Tiere schuldig waren, sondern um das Unheil abzuwehren, das ihnen leise und unbemerkt, auf Schritt und Tritt, oder mit jedem Flügelschlag, folgte.
Sein Freund raschelte im Stroh herum und redete unverdrossen weiter. „Tja, so wird man getäuscht. Aber jetzt ist die Wahrheit ans Licht gekommen. Wenn einer vom Answin gezeugt wird… und dann noch über zwölf Jahre im Al´Anfenischen zubringt! Da muss einer freilich zum Schurken werden, ob der will oder nicht. Zu Sklaven würde der uns machen, hat der Helmbrecht Karrer gesagt, uns alle mit der Peitsche antreiben. Und der Helmbrecht ist in der Welt herum gekommen, im Weidenschen war er schon, bei den Tobriern und einmal fast sogar in Gareth. Die kennens da unten ja nicht anders, bei Mengbäla, Sünden-Elam und wie ihre verfluchten Städte alle heißen. In einen riesigen schwarzen Hund kann er sich verwandeln, Heiliger Alboran, und einen richtigen Schatten hat der auch nicht mehr, sagt man…Und ein blutrünstiger Mörder ist er, heißt es…Girte, die Magd, ist ohnmächtig umgekippt, droben auf der Burg, als er sie nur angeblickt hat mit seinen stechenden, schwarzen Rabenaugen. Hat mir der Alrik aus Schneiß erzählt. Für so einen ist Köppen eigentlich viel zu harmlos…Nicht für Alrik aus Schneiß, sondern den finsteren Ritter, mein ich“. Badi spuckte aus.
„Naja, wenn einer adelig ist, da gelten halt andere Gesetze…“ sagte Malte und zuckte ratlos mit den Schultern.
Lallend, sabbernd und in sich hineinlachend irrte unten Grome vorbei, der Dorfdepp. Ihm folgte Hagen Stoor auf dem Fuße – der Schultheiß, mit einem weißen Stab als Zeichen seines Amtes in Händen.
Der Ilsurer sah nicht unbedingt aus, wie man sich landläufig einen Schultheißen vorstellte – schon gar nicht, wie sich die Marktfriedwanger einen solchen vorstellten. Nicht nur, dass er ein Flüchtling aus dem tobrischen Osten war, mehr als nur „neigschmeckt“ also.
Nein, alles an dem Mann mit dem dunklen Mantel und dem geckenhaften Federbarett wirkte zwielichtig, fast schon phexisch. Ein Geldwechsler war er, und in allerhand neblige Geschäfte verwickelt, soviel stand fest. Man sagte, er hätte im vorletzten, unseligen Peraine zusammen mit dem „Lügenbaron“ Alrik die Baroniekasse gestohlen. Allerdings auch, dass er Ihrer Hochgeborenen Oleana III. das Versteck angezeigt hätte, worauf er wieder in Gnaden aufgenommen worden sein sollte. Die Karrers hassten ihn, hatte er seinen ersten Vorgänger Okdarn doch ins Noionitenkloster und den zwischenzeitlichen Schultheißen Helmbrecht Karrer wieder aus dem Amt gejagt. Allerdings, dem „Weibel“ Helmbrecht wollte das Volk nicht verzeihen, dass er, vor etwa einem halben Jahr, das Tor für die Bande des Answinisten Ronald geöffnet hatte – ein Verrat, dem ein wildes Gemetzel auf dem Marktplatz gefolgt war.
Dann doch lieber Hagen, den die Leute zwar nicht wirklich mochten, aber zumindest respektierten.
Nun kam er, das Schwert an der Seite, zum Schafott. Fachmännisch prüfte er die Festigkeit der Balken.
„Gut so, ganz gut soweit!“ nickte er knapp. „Die Herrschaft wird zufrieden sein.“ Hagen winkte knapp mit dem Schultheißenstab. „Ihr beiden, mehr Stroh aufs Holz, dann helft Ihr drüben bei der Tribüne. Wir haben höchstens noch eine Stunde, dann ist hier Schauzeit.“
Badi, an einem Strohhalm herumkauend, nickte pflichtschuldig, und Malte tat es ihm gleich. Mit Hagen legte man sich am besten nicht an, auch wenn er der Herkunft nach ein Tobriacke war: Der führte seinen Amtsstab nicht nur zur Zier.
Kopfschüttelnd ging der Tobrier nach oben und sah den beiden Einfaltspinseln vom Schaffott herab nach. Redliche, wackere Burschen gewiss, aber das Brot, dass die Witwe Hedwige Sockrenmoor jeden Backtag aus dem Ofen zog, drüben in der Neuen Gasse, erschien ihm mehr von Hesinde gesegnet zu sein. Er seufzte und wischte sich mit einem Zipfel seines Mantels den Schweiß von der Stirn. Nicht, dass dies ihm geringsten etwas brachte – sein Gesicht würde bald wieder vor Schweiß triefen, und ohne Umhang wäre ihm nicht gar so heiß gewesen. Aber noch hatte er sein Vorhaben nicht zu Ende gebracht.
Vorsichtig spähte er um sich. Es war einfach noch zu viel Leben auf dem Alboransplatz, trotz der schwülen Hitze, und hinter jedem der Fenster der schmucken Fachwerkhäuser konnte einer stehen - und genau in diesem Moment in seine, Hagen Stoors Richtung blicken. Söldner waren keine zu erblicken, dem Heiligen Assaf sei Dank, denen war es in ihren dicken Lederrüstungen und Plattenharnischen wohl zu heiß.
Der Schultheiß tat, als wolle er sich einen ausführlichen Überblick über das geschäftige Treiben verschaffen. Er legte seinen Amtsstab, dessen Spitze der friedwanger Steinbockkopf zierte, auf einen umgestürzten Weidenkorb, verschränkte die Arme im Rücken und blickte wie ein kleiner Feldherr in die Runde.
Wie sie alle vor Oleana katzbuckeln, dachte er. Sie mögen die Thronräuberin nicht wirklich. Aber sie danken es der Gießenbornerin, dass sie Markt Friedwang aus allen Wirren der Wildermark herausgehalten hat. In dem Residenzort der Baronie herrschte seit vielen Monden Frieden – wenn auch ein fauler, korrupter, ungesunder Frieden. Marbide Boronangerruhe. Die Ruhe vor dem Sturm.
Der Geruch nach Mist, Jauche und Schweiß lag in der Luft. Irgendwo bellte ein Hund. Verächtlich sah der Ilsurer auf den herabbröckelnden Putz der Fachwerkhäuser, die abgeplatzte Farbe, die verrutschten, mit grünlichem Gewucher überzogenen Schieferziegel - oder die schief in den Angeln hängenden, morschen Fensterläden - der einst so schmucken, sauberen Gebäude am Alboransplatz.
Ein Anblick, der den Schultheißen beinahe mehr schmerzte, als es die eine oder andere ausgebrannte Ruine, mit schwarz in den Himmel ragenden Sparren, tat: Überbleibsel der wilden Kämpfe vor einem Götterlauf. Das war vor dem grausigen letzten Winter gewesen. Ein wahrer Dämonenwinter, der, wo er die Menschen nicht körperlich gebrochen, so doch zumindest ihre letzten seelischen Widerstandskräfte aufgezehrt hatte. Schlamperei, Verrohung, Abgestumpfheit und Gleichgültigkeit hatten sich seither wie Wundfäule von den (nie ganz ausgeheilten) „Kriegsverletzungen“ Friedwangs her ausgebreitet. Müde Reizbarkeit war an Stelle von Frohsinn und Entschlossenheit getreten. Nicht die Gewitterschwüle von oben, das Denken, Fühlen und Trachten der Menschen selbst schien Unheil ausbrüten zu wollen. Hagen schluckte, tastete nach der Waffe. Er war ein passabler Fechter, aber alles andere als ein Mann des Krieges. Was sich hier zusammenbraute, Kors Gewitter, beängstigte ihn. Auch wenn er selbst damit plante und rechnete.
Der Schultheiß seufzte schwer und lüpfte sein Barrett, unter dem es ihm doch heiß geworden war. Er sah dem Krüppel im abgewetzten goldroten Soldatenrock der Fürstin nach, der auf zwei Krücken über den Platz humpelte. Der unglückliche Ansgar Schieferbrecher – hatte der sein Bein nun schon vor Rommilys oder erst auf dem Mythraelsfeld verloren…? Für das Endergebnis völlig egal.
Ein großer Schwarm Tauben näherte sich mit Flattergeräuschen von Süden her. Dort drehte die ganze Formation wie auf Kommando über dem Marktplatz ab, als schwante ihr nichts Gutes und zeigte dabei die hellen Bäuche. Der Phexgeweihte tat so, als wolle er hier mit dem Stiefel die Festigkeit der Balken prüfen, dort das Stroh besser verteilen. Unter dem Mantel zog er blank. Eigentlich war nun der Augenblick gekommen, aber er zögerte ihn noch etwas hinaus.
Oleana „die Dritte“. Des verräterischen Gernots Tochter. Das blutjunge Nesthäkchen mit Vorliebe für Naschwerk, das nicht nur wegen ihres keckernden Lachers die „Khoramsbestie“ genannt wurde. Ein gutes Beispiel dafür, wie wetterwendisch und launisch das menschliche Schicksal sein konnte. Vor einigen Jahren war Alara, wie die „Baronin“ eigentlich hieß, schon erledigt gewesen. Dass sie der Praiostempel, nach dem Sturz ihres borbaradianischen Vaters, als Novizin aufgenommen hatte: Ein reiner Gnadenakt, die Möglichkeit zur Läuterung für ein Mädchen aus verkommener Adelsfamilie. Hochwürden Andras Entscheidung war vielerorts mit mehr als nur leichtem Stirnrunzeln bedacht worden.
Dann war mit dem Jahr des Feuers alles über Nacht anders gekommen – der Nacht, die durch die Schwarze Wolke und die Fliegende Festung über das Land gebracht worden war. Baron Alrik, sein Freund (nun ja, Geschäftsfreund) und heimlicher Glaubensbruder hatte sich mit einigen Freischärlern den Warunker Eindringlingen entgegengestellt. Das Häuflein war erschlagen oder versprengt worden, der Herr von Friedwang verschwunden. Später hatte es geheißen, er wäre erst bei Asmodeus’ Sturm auf Rommilys gefallen. An seiner Stelle hatte der Erzvampir Merwan sein grausiges Regiment über Friedwang angetreten, ein namenloser Schwarzkünstler. Zumindest für ihn, Hagen, war es ein offenes Geheimnis, dass es Alara, die „Lichtsucherin“, gewesen war, die durch Verrat den sich bis zuletzt wehrenden Praiostempel zu Fall gebracht hatte. Fast alle Praiosgeweihten waren von den siegreichen Waffenknechten des Schwarzen Drachen erschlagen worden, auch Andras Braniborian, der Tempelvorsteher. Eine Zeitlang hatte die „Khoramsbestie“ Seite an Seite mit dem Blutsauger Merwan, als ihrem „Gemahl“ über Friedwang geherrscht – nicht ganz freiwillig, aber durchaus zum eigenen Vorteil.
Der Trutzbund der Schwarzen Sichel, bereits im Zeichen „Alter Götter“ wie Sumu, Satuaria und Sokramor kämpfend, hatte die Besatzer schließlich in heftigen Scharmützeln vertrieben. Wie es hieß, war das Dorf Nordenheim dabei für ein ganzes Jahr vom Antlitz dieser Welt „entrückt“ worden…Auch Merwan sollte am Ende zu Asche zerfallen sein.
Alriks Gemahlin Serwa, von der es hieß, sie sei eine Hexe, und ihr Oppstein Liebhaber Adran hatten hernach über die Geschicke der Baronie bestimmt. Langst vergessen geglaubte Kulte an verborgenen Orten, rund um heilige Seen, Bäume oder Felsen, waren wieder aufgekommen. Hexenfreunde und Weggelagerer hatten das Leben der am Pantheon des Silem-Horas-Edikts festhaltenden „Zwölfler“ unsicher werden lassen.
Irgendwie hatte es Alara in diesen Wirren geschafft, ihre dunkle Rolle im „Jahr des Feuers“ zu verwischen und erneut an die Macht zu gelangen – mit Hilfe einflussreicher Freunde, die dem „schleichenden sokramorischen Umsturz“ nicht tatenlos zusehen wollten. Die Steinbockgarde hatte Serwa in den Kerker von Burg Friedstein geworfen und die „Khoramsbestie“ zur Nachfolgerin ausgerufen. Zwar hatte die Baernfarn mit ihrem Hofmagus und der wankelmütigen Gardehauptfrau Gesine fliehen können, unter Zurücklassung ihrer Kinder. Allerdings war in dieser Nacht der neue Prätor des Praiostempels, Hergold mit Namen, mitsamt einem Novizen grausam ermordet worden – neben seiner blutigen Leiche hatte sich die Steinbockfibel von Serwas Mantel gefunden…
Seitdem herrschte Alara unter dem Namen Oleana III. als Baronin über das Lehen, als wäre dies das Selbstverständlichste der Welt. Nun gut, „Oberfriedwang“ nördlich des Gießen beugte sich mehr den Bosjäckeln, den Freischärlern der Sokramor. Wirrköpfe, die ihre Toten an verwunschenen Orten verbrannten, auf dass ihre Seele Einzug in die Feenwelt erhalten möge. Lediglich „Niederfriedwang“, streng genommen nur die Umgebung ihres Residenzorts, befand sich fest in Oleanas Hand. Die wurde ihr von der aus Gareth gesandten, ortsfremden Praiosgeweihtenschaft regelrecht geleckt: Seit dem Anschlag auf den alten Hochgeweihten witterten die Pfaffen überall sokramorische Ränke. Praiodan Bullenschläger, Hauptmann des Bannstrahl-Ordens und „Hoher Kommissar der Friedwängischen Praios-Commission“, eine Art Miniatur-Inquisitor, verfolgte die ketzerischen Hexenfreunde, wo er sie antraf, mit Feuer und Schwert. Oben bei Rübenscholl gab es gerade jetzt im Frühjahr wieder viel Kleinkrieg und Geplänkel.
Der Nachfolger Merwans als Ehemann Ihrer Hochgeboren war der answinistische Kriegsherr (oder Räuberhauptmann) Ronald „von Kosch-Eberstamm“ geworden, der mit seinen Marodeuren die Burg im Travia letzten Götterlaufs erstürmt hatte. Allerdings war der Angbarer Hochstapler und Dukatenfälscher selbst in einer Schlacht gegen die Gallyser gefallen - im Peraine, vor dem aus dem Nirgendwo wieder auf Dere erschienen Nordenheim. Phex, was für ein Wirrwarr…
Ronald hatte es zuvor noch geschafft, Oleana ein Kind zu schenken, ein Junge von angeblich „Fürstlich-Koscher“ Blut. Sogar ihr Vater Gernot, der als Einsiedler im Schratenwald gelebt haben sollte, war wieder aufgetaucht - und hatte sofort versucht, sein liebreizendes Töchterlein mit dem nächsten Gatten zu verehelichen: Bishdarielon, dem angeblich wahren, durch Alrik um den Thron betrogenen Baronieerben, einem von der Dreikaiserschlacht bei Gareth hereingeschneiten Golgariten.
Der Versuch, Oleanas Thronraub dauerhaft den Anschein von Legitimität zu verschaffen, war allerdings gründlich schief gegangen. Für beide Seiten…Statt dem Ehebett wartete auf den unglücklichen Friedwang nun das Schaffott: eben jene Plattform aus schweren Eichenholzbalken, auf denen der Schultheiß gerade stand.
Hagen verkniff sarkastisch den Mundwinkel. Oleanas Männerverbrauch innerhalb eines einzigen Jahres war schon beachtlich. Sie vernaschte das „starke Geschlecht“ in einem fort wie ihre Zuckerstangen und Schokoladenkringel. Vermutlich stellte dieses hässliche, bösartige Hermelin das einzige Wesen dar, für das sie tatsächlich so etwas Ähnliches wie Zuneigung empfand…Ein Geschenk Merwans, wie man munkelte…Wie hieß es noch gleich? Rotmäulchen. Ein Blutsäufer mit verflucht spitzen Zähnen wie sein Vorbesitzer. Er schauderte trotz der prallfeuchten Waschküchen-Wärme um ihn herum.
Alle anderen Beziehungen schienen zwangsläufig (und meist auch sehr schnell) tragisch zu enden. Oleanas letzte große Liebe, der ebenso gutaussehende wie hoffärtige Büttel Corelian Lanzenschäfter, hatte Serwa zur Flucht durch den Geheimgang aus der Burg verholfen - und war, unter mysteriösen Umständen, von den Felsen des Friedstein herab zu Tode gestürzt…
Ihm selbst war es gelungen, das Vertrauen der Baronin zu erwerben, als er ihr das Versteck sowohl der Kasse des Markfleckens als auch eines Großteils des Barönlichen „Notgroschens“ angezeigt hatte: Ein Geheimraum im Keller des Schneißer Turms. Natürlich hatte er damals, beim Ansturm der Warunker und Galottaner, das Gold nicht zusammen mit Alrik „gestohlen“, wie gehässige Zeitgenossen meinten. Einen Schatz zu vergraben, sobald ein übermächtiger Feind anrückte, war ja irgendwo das Naheliegendste der Welt. Und er war kein junger Heißsporn mehr, als dass es ihn sonderlich gejuckt hätte, sich die Kohle einfach so unter den Nagel zu reißen und damit auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Phex war ein Gott des Handels und des Diebstahls – das eine schloß das andere keinesfalls aus.
In der einen Truhe lag ohnehin das Geld „seines“ Dorfes, ein nicht allzu üppig, aber andauernd sprudelnder Quell von Moneten - von dem er immer wieder reichlich Wasser auf seine eigene Mühle abzuzweigen verstand. Auf dem anderen, wesentlich umfassenderen Hort lag ein Fluch der Himmlischen Leuin – das konnte er als Mondschatten deutlich spüren. Er würde jeden treffen, der ihn nicht im Sinne der Rondra verwendete, wie es der alte Theaterritter Oswin von Houenwald damals, am Beginn der Priesterkaiserherrschaft, angedroht hatte. Oleana hinderte dies nicht daran, das Schneißer Gold freigiebig unter dem ehrlosen Söldnerpack zu verteilen - als dem eigentlichen Garanten ihrer zweifelhaften Herrschaft wie des „Friedwanger Friedens“.
Auf der anderen Seite war der Ilsurer nicht dämlich. Oleana würde ihn bei erstbester Gelegenheit wieder fallen lassen, nicht aus klugen staatskundlichen Erwägungen, was er irgendwo ja noch verstanden hätte – sondern allein, weil sie selbst für die Verhältnisse des Hauses Friedwang krankhaft launisch und wankelmütig, vermutlich einfach ein Fall für die Noioniten war. Außerdem mit finsteren Mächten im Bunde…Und wer unter ihrer Herrschaft fiel, der stürzte sehr tief und überaus hart, wie das Beispiel dieses Corelian zeigte…An dem war zuletzt kein Knochen heil geblieben. Nein, eins stand fest: Er würde nicht ewig im Duett mit der Khoramsbestie heulen können.
Stoor sah sich verstohlen um. Niemand unten auf dem Platz beachtete ihn. Auch an den Fenstern war alles ruhig…Gut…Sein Herzschlag ging für einen Moment schneller. Nur das Gackern eines Huhns drang an sein Ohr. Nervös leckte er sich über die Lippen.
Unter dem Sichtschutz des Mantels ließ er das Schwert polternd fallen, genau auf die Mitte des Gerüsts. Hastig schaufelte er mit dem Fuß Stroh darüber, bis er sicher sein konnte, dass es vor neugierigen Augen verborgen war.
Hagen atmete aus. Nun war ihm doch etwas wohler zumute.
Dann sah er das Huhn, das auf die Holzplattform geflattert war. Eine unscheinbare, rotbraune Henne, mehr nicht. Das Tier ruckte mit dem Hals und glotzte ihn irgendwie merkwürdig an - als wisse es genau, was die verborgene Klinge bedeutete. Es gackerte einfältig und fing an wie wild im Stroh zu scharren.
Das Wurfmesser aus Hagens Ärmel traf den Vogel ohne jede Vorwarnung, ließ einige Federn aufstäuben. Zeternd und Blut vergiessend, irrte die Henne über die Holzbalken. Hagen packte sie, zog den Stahl heraus und schnitt ihr den Kopf ab. Mit eckigen Bewegungen lief der Körper noch ein wenig umher, nässte das Stroh, das eigentlich erst in einer Stunde befleckt werden sollte, bereits jetzt mit seinem roten Lebenssaft ein. Der enthauptete Rumpf legte ein Ei und fiel zappelnd um.
Vielleicht liegen bei mir die Nerven ja schon blank, dachte der Schultheiß und wischte die unscheinbare Waffe sauber. Aber bei Oleanas Sippschaft wusste man nie – und sicher ist sicher.
Dann sah er Grome, den Narren, der auf der Treppe stand und ihn halb entsetzt, halb empört ob der Bluttat anstarrte. Mörder, schienen seine stumpfen Augen zu flüstern. Es war sicher mehr als nur ein Gerücht, dass der Schwachkopf sich bisweilen mit Federvieh verlustierte.
Hatte der Bursche etwa mehr gesehen? Musste er ihn ebenfalls…? Nein, beruhige dich, Hagen Stoor. Du brauchst hier nicht gleich ein sinnloses Gemetzel zu veranstalten wie ein Maraskaner.
Er nahm den noch schwach zuckenden Balg an einem der Flügel und warf ihn dem Dorftrottel vor die Füsse.
„Hier, ein Geschenk für dich und deine Mutter. Nimm, gibt eine gute Suppe…Das Ei gehört dir auch.“ Mit einem einschmeichelnden Lächeln überreichte er ihm die Perainegabe.
Freudig stammelnd und buckelnd eilte Grome mit seiner Beute davon.
Noch einmal sah der Schultheiß sich um. An der Tribüne wurde noch immer gleichmäßig gehämmert und gesägt – niemand sonst auf dem Platz hatte Notiz von dem Vorgefallenen genommen. Hagen fröstelte, trotz der Schwüle, und blickte auf seine dunkel gesprenkelten Finger. Das erste Blut war geflossen. Aber heute würden nicht nur Hühner sterben. Angeekelt wischte er sich die Hand am Mantel sauber. Dieser Tag würde den Friedwangern sicher lange in Erinnerung bleiben.
Als ein Tag des Zorns…
„Haben wirs dann?“
Ungeduldig tippte Gernot mit dem Finger gegen die Wand – und beäugte misstrauisch eine Spinne, die über den schwarzgrauen, fettig glänzenden Stein huschte. Das Verlies stank zum Göttererbarmen und war finster wie die Sünde, aber er hatte nichts anderes erwartet. Ratten wuselten piepsend im unsteten Fackelschein umher.
„Moment, Herr…“ Die Kerkermeisterin, in der Burg nur als „das Grindkind“ bekannt, nestelte klirrend am Schlüsselbund und begann unter ihrer braunen Gugelkapuze zu schwitzen.
„Der da müsste es eigentlich sein…“
„Mach schon. Und du, halt gefälligst deine Fackel auf Abstand!“ herrschte der Sharif 2 den Büttel in seinem genieteten Lederwams an. „Willst du mir die Haare versengen, zum Namenlosen?“ Der Gescholtene wich jäh zurück und langte mit der freien Hand nervös an seinen Wehrheimer Nasalhelm.
„Kennen wir uns?“
„Nicht das ich wüsste, Herr“, sagte der Mann, ein unscheinbarer Mittdreißiger mit glatt rasiertem Kinn scheu. Er trug außer dem Kurbul eine lederne Hose, hohe Schaftstiefel, und einen zerschlissenen Umhang in den friedwanger Wappenfarben Blau und Silber. Ein schmuckloses Langschwert hing mit hoffnungslos verschliffener Schneide an seiner Seite, steckte mit sichtbarer Fehlschärfe im Gürtel. Aus irgendeinem Grund fehlte es auf der Burg in letzter Zeit an Schwertgehängen und Scheiden.
Nun ja, an letzterem fehlte es ihm aber auch. Den „Alten Bock vom Friedstein“ hatten sie ihn früher mal genannt. Gernot lächelte geschmeichelt in sich hinein. Der Gardist nahm es als gutes Zeichen und lächelte scheu zurück.
„Wohl neu auf der Burg, hm´?“
„Das kann man so nicht sagen…“
„Das kann man so nicht sagen…“ äffte Gernot den Wächter affektiert nach. „Da bin ich ja wohl an einen echten Philosophen geraten. Wie kann man es denn dann sagen? In einem praiosgefälligen Diskurs oder mit einer hesindegefälligen Disputatio? Und was ist mit dir, Weib? Wird das heute noch was oder muss ich extra einen Magier aus Rommilys kommen lassen, damit der mir die Türe aufhext?“
„Das Schloss klemmt. Ich habe Fredo gesagt, er soll es ölen, aber…“
„Wisch es mit deinen Haaren aus, vielleicht hilft das ja“, höhnte Gernot. „Um auf dich zurück zu kommen, Bursche. Wie heißt er eigentlich?“
„Alrik, Herr.“
Gernot zuckte innerlich zusammen.
„Hm. Den Namen kann ich dir schlecht verbieten. Auch wenn ich ihn nicht mag…Alrik wie noch?“
„Schmiedsohn.“
Der Adelige musterte den Wächter noch einmal misstrauisch. Blonde, strähnige Haare, blaue Augen, Schmutz auf den bäuerlich braunen Wangen. Nein, er hatte den Kerl wirklich noch nie zuvor gesehen.
„Zünd die Laterne an“, sagte er nach einer kleinen Pause, die Verachtung und Gleichgültigkeit zugleich ausdrückte.
Der Mann tat, wie ihm geheißen wurde.
Mit einem Knacken sprang die Tür aus dunklen, verwitterten Holzbohlen auf.
Erleichtert drehte sich das Grindkind um.
Gernot nahm seinen Federhut ab und ging geduckt in den lichtlosen Raum, die Lampe vorgereckt.
In der Ecke stand ein bärtiger Mann und wich mit geschlossenen Augen dem Lichtschein aus. Er ruckte an seinen klirrenden Ketten, mit denen er an die Wand geschmiedet war.
„Bei meiner Treu. So habe ich mir die Fesseln der Ehe eigentlich nicht vorgestellt.“
Der Gefangene grinste Gernot schief, aber auch müde an, der mit der Laterne in der Hand in den finsteren, glitschig glänzenden Kerker trat. Einige Mäuse huschten raschelnd durch das Stroh davon.
„Lass uns allein“ sagte der graubärtige Alt-Baron zu der Kerkermeisterin hinter ihm. Die Frau nickte knapp und ging hinaus.
„Du wirst heute Mittag hingerichtet.“ Gernot leuchtete Bishdarielon ins Gesicht, ein seidenes Taschentüchlein vor die Nase gepresst. Dennoch entging er dem Gestank nach fauligem Stroh, verbrauchter Luft und Schlimmerem nicht.
„Liebe Güte, hast du wirklich in die Hose gemacht?“ Tatsächlich war ein dunkler Fleck auf den Beinkleidern des Häftlings zu sehen.
„Hast du schon mal versucht, in einen Eimer zu pinkeln, wenn beide Hände an die Wand gekettet sind?“
„Das geht so nicht. In diesem Zustand können wir dir unmöglich den Kopf abschlagen.“
„Es kommt noch besser. Ich muss schon wieder…Für die Suppe heute Morgen haben sie mich losgebunden“, fügte Bishdarielon erläuternd hinzu. „Fürwahr, eine lausige Henkersmahlzeit, will mir scheinen…“
„Wären dir Koschammernzungen mit Bosparanjer genehm? Wir müssen uns alle einschränken in diesen Zeiten.“ Gernot schob mit dem Fuß den Aborteimer näher, der in der Ecke stand, und öffnete Bishdarielon mit spitzen Fingern den Bund. Die Hand durch das Taschentüchlein geschützt, zog er ihm die Hose ebenso wie die Unterhose herunter. Der Gestank nach Pisse war atemberaubend.
„Soll ich dir auch noch den Pimmel halten?“ Mit angewidertem Gesicht positionierte der Barönliche Ratgeber den Pisspott unter seinem Bestimmungsort.
„Glaubst du, ich bekomme einen Steifen, nur weil ich dich sehe, Vetterherz?“ Bishdarielon hob keck sein bärtiges Kinn. „Ich bin aus einem anderen Holz geschnitzt als dein Sohn, Golo Cecilius…Mein Baum wächst auf dieser Seite des Darpat. Wenn ich bitten darf…“ Der Krieger gluckste hämisch.
Gernot ballte das Tüchlein etwas zusammen, schob es unter das schlaffe Glied, trat einen Schritt beiseite und hob es an.
„Dass ich das noch erleben darf.“ Bishdarielon kicherte und verzog das Gesicht. „Es geht nicht… so einfach…“
„Bedenke, es ist vielleicht das letzte Mal…“
„Guck weg…“
Gernot sah zur Decke des Verlieses, während der Gefangene plätschernd sein Wasser abschlug. Erleichtert atmete Bishdarielon aus. „Danke, Vetter…Könntest du die Hose jetzt wieder hochziehen?“
„Kommt nicht in Frage. Wache!“
Die Kerkermeisterin trat ein, begleitet vom Büttel. „Eine frische Hose, ein sauberes, weißes Hemd und einen Eimer Wasser.“
„Sehr wohl, Euer Hochgeboren.“
„Ich bin nicht mehr euer Hochgeboren. Sorgt dafür, dass der Malefikant nachher auf dem Marktplatz…Na, dass man sich seiner nicht schämen muss…Und nehmt den Pisseimer mit.“
Die Frau legte die Hand an den Kopf, nahm gleichmütig den Pott an sich und ging mit ihren Begleiter wieder hinaus – geduckt, denn die Tür war sehr niedrig.
„Hast du überhaupt keine Angst vor dem Sterben?“ Gernot drehte sich wieder um.
„Ich bin Krieger, Söldner, Soldat, wie immer du es nennen möchtest…Ich habe den Tod oft genug in die hässliche Fratze gesehen. Sein Anblick schreckt mich nicht. Jetzt nicht mehr. Ein Hieb mit dem Beil, nun ja, warum nicht, wenn er sauber ausgeführt wird?“ Bishdarielon schluckte, kurz, trocken und nervös. In Wahrheit war ihm bereits der Gedanke unangenehm, dass das Organ, mit dem er hier schluckte, in ein paar Stunden durchtrennt sein würde.
Merkwürdig, dachte er: Wenn man jeden Tag die Sonne auf und untergehen sieht - und es plötzlich für einen das Selbstverständlichste auf der Welt nicht mehr geben soll. Kein Morgen mehr, kein Zwitschern der Vögel beim Sonnenaufgang, kein Abend. Kein Atmen, kein Lachen…nichts…Eine andere Welt, ja, das vielleicht, Alveran, die zwölfgöttlichen Paradiese…Dennoch würde es ein Abschied für immer werden. Tiefe Traurigkeit befiel ihn, und das Gefühl völliger Hilflosigkeit. Er hatte sich daran gewöhnt, an diesen Leib und sein Leben in den vergangenen fünfunddreißig Götterläufen.
„Hauptsache, wieder frische Luft atmen“, seufzte er, schwerer, als er beabsichtigt hatte. „Und du…Macht es dir nichts aus, mich zu ermorden? Immerhin bin ich dein Vetter…Beinahe dein Schwiegersohn, und der rechtmäßige Erbe der Baronie Friedwang noch dazu.“
Bishdarielon schüttelte verständnislos den Kopf, so dass die verfilzten, langen Haare hin und her schlugen.
„Warum ziehst du mich erst aus dem Sumpf und willst mir jetzt, hier und heute das Haupt vor die Füße legen? Ich habe doch alles getan, was du von mir wolltest. Answin verflucht, und meine Treue zu Rohaja bekundet…Ach, eigentlich ist doch ein Herrscher in Zeiten wie diesen so gut wie der andere. Warum nicht mal zur Abwechslung eine Herrscherin? Hela-Horas, das ist lange her, und so ein altes Gesetz, das eine Frau nicht über die Zwölfgöttlichen Lande bestimmen darf, so ein altes Gesetz kann unmöglich noch gelten…“
Der Gefangene lächelte, verschmitzt und bitter zugleich.
„Ich bin aus dem Golgariten-Orden ausgetreten, mit Brief und Siegel…sonderlich leiden konnte ich diese traurigen Galgenvögel nie, hmja…Dein missratenes Töchterlein hätte ich zur Not auch noch vor den Altar der Travia geführt…und du…du sperrst mich hier ein. Jetzt stehe ich vor dir, mit herunter gelassener Hose, benässe mich selbst und warte auf einen kurzen, kalten Luftzug in meinem Nacken. Besser als dieses Sumpfloch zum Grab, aber…bei meiner Seel´, warum tust du mir das an?“
„Ach, Alrik, wenn ich dich noch ein letztes mal so nennen darf. Warum tust du mir deine Legitimität, rechtschaffene Gesinnung und moralische Überlegenheit an? Mit einem Wort: deine Selbstgerechtigkeit. All die Jahre schon…“
Gernot zog mit einem Ruck dem Mann das fleckige, stockige Hemd über das Gemächt.
„Es ist doch ganz einfach. Bevor man einen weitgehend unbescholtenen Mann leiblich vernichten kann, muss man erst seinen Ruf zerstören, und zwar gründlich. Du bist zu Rohaja übergelaufen…nun, das macht dich bei den Anhängern des Rabenkaisers, von denen es hierzulande noch einige gibt, zu einem Verräter und bei den Anhängern der jungen Kaiserin zu…nun, eben zu einem ehemaligen Answinisten. Mit einem Wort: unmöglich. Du bist aus dem Golgariten-Orden ausgetreten und stehst damit ohne jeglichen Schutz da. Und deine Ankündigung, die Khoramsbestie zu heiraten, die in dieser heruntergekommenen Trümmer-Baronie nicht wirklich beliebt ist… damit hast du auch den letzten Kuhbauern überzeugt, dass es dir bei allem immer nur um die Macht gegangen ist. Niemand wird dir eine Träne nachweinen…“
„Der Prozess war eine einzige Farce. Oleana hatte kein Recht, mich zum Tode durch das Schwert zu verurteilen…“
„Da irrst du dich. Gemäß der Ochsenbluter Urkunde, die von Rohaja vor einigen Wochen gesiegelt wurde, verfügen Barone nun wieder über die Halsgerichtsbarkeit. Wenn ich denke, was das früher immer für einen Aufstand gab, wenn ich einmal einen aufsässigen Freibauern aufgeknüpft habe…Tja, wenn man lange genug lebt, bekommt man vom Leben irgendwann Recht. Du ja dann wohl nicht mehr…“
Gernot lächelte, kalt und überlegen. „Überhaupt, dass du immer noch keine Reue zeigst, ts ts. Ein Kind wolltest du ermorden, eiskalt aus dem Fenster werfen. Ein neugeborenes, unschuldiges Kindlein. Nein so was…Nur, um den Erben dieser Baronie aus dem Weg zu räumen, der nicht deinen Lenden entstammt. Oleanas Söhnchen. Ihre arme Zofe Yasinthe und die Hebamme hast du abgeschlachtet, mit blanker Klinge… Zwei ihrer Leibwächter hast du schwer verwundet, einen weiteren erschlagen. Korgefällig, gewiss, aber zweifelsohne ein todeswürdiges Verbrechen…“
„Verdammt, Gernot. Dieses Balg kam an den Namenlosen Tagen zur Welt, in der Verfluchten Zeit… Die Leibwächter waren nur Rotpelze, mit ziemlichem purpurnem Fell. Und diese Hebamme, wie du sie nennst, war ein Hexenweib, das die Geburt dieses Kindes so lange verzögert hat, bis die Wehen am letzten der Namenlosen Tage eingesetzt haben. Mit dem Blut eines schwarzen Zickleins haben sie den Säugling bespritzt, und ihm abscheuliche Runen auf den Leib geschmiert…Dieser süßlich stinkende Weihrauch, die Schädel…Was habt ihr aus dieser Baronie gemacht? Eine Brutstätte des Bösen...“
Gernot schloss die knarrende Tür hinter sich. „Ich habe dir gesagt, du sollst Oleana in Ruhe lassen. Warum glaubst du, hat sie sich zur Geburt des kleinen Eberleins in den Schneißer Turm zurückgezogen? Für alle Welt, dich inbegriffen, hätte es so ausgesehen, dass ihr Spross am 30. Rahja zur Welt gekommen ist. Übrigens am gleichen Tag wie Serwa und ihr Bruder Veneficus. Aber nein, du musstest ja mitten in den Tagen ohne Namen, bei Sturm und Gewitter, los reiten und den halben Turm abmurksen.“
Wütend zerrte Bishdarielon an den Ketten. „Ich bin nicht alle Welt. Glaubst du, ich hätte die vorangegangenen Zeichen und Omina nicht richtig gedeutet? Oleanas ausgerissene und auf wundersame Weise nachgewachsene Zähne, davon redet doch schon die halbe Burg. Sie ist irrsinnig ….und bösartig. Man muss nur eine Zeitlang mit ihr zusammen leben, um das zu merken. Wenn ein Kind in den Tagen zur Welt kommt, die dem Nicht zu Nennenden gehören, dann ist das, bei Praios Gnade, eine fürchterliche Tragödie, ein Fluch, ein unabwendbares Schicksal. Ihr aber habt dieses Unheil willentlich herbeigeführt. Ihr habt das Kind, ein unschuldiges Kind…noch im Mutterleib zu einem Leben im Dienste des Bösen verflucht.“
„Tja nun, nachdem es damals mit Solalin nicht geklappt hat…Aber das ihr muss ich zurückweisen. Ich habe mit diesen ganzen namenlosen Geschichten nichts am Hut…“
„Ja, das wäre neu, dass du zu jemand anderem betest als zu dir selbst, du selbstherrliches Aas. Oder gar Opfer zu bringen bereit wärst. Doch duldest du all diese gräulichen Ränke.“
„Glaubt du, ich mache das gern? Merwan hat mich aus meiner jämmerlichen Tiergestalt befreit, vor einem Jahr am Karnstein, dafür bin ich ihm und seinem Herrn … dankbar. Jetzt, nachdem Borbarad fort ist, muss ich mich eben nach anderen, zeitgemäßen Verbündeten umsehen. Ohne mich diesmal allzu sehr zu binden, versteht sich. Aber für was hat man Kinder…“
Bishdarielon wollte seinem Gegenüber ins Gesicht spucken, unterließ es aber im letzten Moment und schluckte seinen Zorn herunter. „Du wirst ein grässliches, schändliches Ende nehmen, Vetter.“
„Mag sein. Dir ist es gewiss. Ich habe den Henker angewiesen, die ersten Hiebe nicht ganz so meisterlich auszuführen, und ihm gutes Gold dafür in Aussicht gestellt. Und komm ja nicht auf die Idee, die Geschichte mit den Namenlosen Tagen auf dem Marktplatz herumzuposaunen. Das Volk, das in seiner kindischen, unmündigen Art nun einmal überaus leicht zu rühren ist, hat sich über die Geburt des kleinen Eberhard sehr gefreut. Es würde sich im Falle seiner Schmähung auch über die schlechten Hiebe des Henkers freuen…“ Gernot räusperte sich, als er die Kerkermeisterin zurückkehren hörte. Mit glosendem Fackelbrand und Gewändern unterm Arm trat sie ein, der Büttel folgte mit den beiden Eimern.
„Legt unser unsauberes Kindlein hier trocken“, befahl Gernot spöttisch. „Rasiert ihn und schneidet ihm die Haare. Ich möchte eine hübsche Leiche haben. Wir sehen uns dann nachher, Alrik, auf dem Marktplatz.“
Ein Wispern durchdrang die Schwärze der ewigen Nacht. Er rief ihn erneut zu sich, er, sein alter Meister. Fast schon etwas Ähnliches wie freudige Erregung befiel ihn, während er sich näher schlängelte, durch eine enge Spalte hindurch zwängte. Er stieg auf, immer weiter und höher, in Richtung des Lichts, das sich irisierend auf der Wasseroberfläche brach. Es war nur rötliches Fackellicht, und dennoch verharrte er, keinesfalls furchtsam, aber durchaus respektvoll. Auch wenn er keine richtigen Augen hatte, nahm er bedeutend mehr von seiner Umgebung wahr als die Menschen, die sich genau über seinem monströsen Haupt, in der anderen Welt, versammelt hatte,– und er mochte das Licht ebenso wenig wie das Licht ihn… Die Menschen sprachen, nein, sangen in einer Sprache, die ihm vertraut war. Ihnen wären seine Sinne nur wie ein groteskes Wabern erschienen, als grelles Spiel von Funken und Fehlfarben, ähnlich wie sie es „sahen“, wenn sie sich über die geschlossenen Augen rieben. Oder aber als völlig verzerrte Kaskade aus Geräuschen und Mißtönen, mal eine Brummen oder Knistern, mal eine eher kreischende Kakophonie. Als ein beständiges Schwirren und Sirren im Astralraum, so wie es seine Hörner erspürten. Vor allem aber bestand seine Wahrnehmung aus dem unermüdlichen Tasten der langen, glitschigen Tentakel, die sich in Richtung des gemauerten Brunnenschachts ringelten…
Mit schlurfenden Schritten ging Gernot nach oben, zu den Senioratsgemächern im Palas. Die Hochstimmung von gerade eben war verflogen. Er fühlte sich müde, was nicht nur am Wetter lag. Müde, alt und ausgelaugt.
Selbst die Rolle des Bösewichts fiel ihm bereits schwer. Eigentlich spielte er sie nur noch, weil sie von ihm verlangt wurde. Das Volk war wie ein Tanzbär, das auf den Mann mit der knallenden Peitsche wartete, nur um sich vor ihm täppisch im Kreis zu drehen. Ihm aus der Hand zu fressen. Gaukelspiel, alles nur Gaukelspiel… Und Gewohnheiten, schlechte Gewohnheiten.
Nein, er war Merwan nicht wirklich dankbar dafür, dass der ihn zurückverwandelt hatte – zurückgeschickt in eine Welt, der er schon gar nicht mehr richtig angehörte. Wie ein halbtoter Greis, der mittels eines Heilzaubers noch einmal wieder belebt worden war. Für was? Um mit anzusehen, wie einem die eigene missratene Brut das Lebenswerk verdarb . . .
Er ging in sein Gemach, das sogenannte Rotgüldene Zimmer, weil die Vorhänge, das Himmelbett, die Möbel und Gobelins in den Wappenfarben Darpatiens gehalten waren. Ächzend schloss er die knarrende Tür hinter sich.
„Hast du unseren…Todgeweihten noch einmal besucht?“ Eine rauchig-hohle Stimme ertönte vom Tisch her, unmännlich, aber auch nicht wirklich weiblich.
„Golo…mein Sohn…“ Mit ätzendem Lächeln drehte sich Gernot um. Am Tisch saß allerdings eine blasse Frau mit kurzen, blonden Haaren, die vom Typ her an eine oronische Belkelel-Paktiererin erinnerte – und ansonsten aussah wie Serwa von Friedwang. Die dunklen, eng anliegenden Gewänder betonten ihren bleichen, kränklichen Teint zusätzlich.
„Du siehst schlecht aus, Serwa“, fügte der Alt-Baron süffisant hinzu.
„Ja, meine Anwesenheit scheint nicht sehr gesund für sie zu sein“, entgegnete Golo-Serwa mit Ludenstimme. „Sie verfällt innerlich, hähähä…“
„Kein Wunder, wenn man schon seit Monden von einem derart bösen Geist besessen ist, wie du es bist. Hast du das Richtschwert, den Umhang und die Kapuze?“
„Jaaa.“ Das seltsame „Mannweib“ schlug ein großes Tuch auf dem Tisch beiseite. Ein mächtiger Bihänder ohne Spitze, ein schwarzer Umhang und eine rote Kapuze kamen zum Vorschein.
„Wo hat Merwan das aufbewahrt?“
Fasziniert trat Gernot näher.
„Im Schlangenturm. Vermutlich für irgend so ein Ritual…Ich wusste, dass ich das Zeug schon mal bei ihm gesehen habe.“
„Ausgezeichnet. Es wird mir ein erlesenes Vergnügen sein, damit den letzten verbliebenen Alrik von Friedwang eigenhändig zu zerstückeln. Nachdem ich die Beseitigung seines weitaus schlaueren Brüderchens leider einem Dämon überlassen musste.“ Gernot nahm das mächtige, fein ziselierte Richtschwert in die Hand.
„Nun bist du henkersmäßig, Vater“, zischelte die Frau. Nur die bösen Augen zeigten in diesem Moment, dass es nicht Serwa von Friedwang war, die hier sprach.
„Ehre…ist etwas für Rondrageweihte und andere Idioten, mein lieber Golo. Du bist ja nicht einmal mehr ein Mann. Wenn du denn jemals einer warst.“ Gernot vollführte einige ungelenke Bewegungen mit dem Schwert. „Eine schwere Klinge. Selbst wenn ich es wollte, ich könnte dem armen Bishdarielon damit nicht auf Anhieb den Kopf vom Halse trennen. Sein langsamer Tod wird mein endgültiger Triumph sein.“
„Unser Triumph, Vater…“
„Natürlich.“ Gernot legte die Klinge mit dumpfen Poltern wieder auf den Tisch, in dessen graubraunes Holz edle Zierranken und das Steinbockwappen der Baronie eingeschnitzt waren.
„Der arme Bishdarielon.“ Serwa-Golo fuhr mit dem Finger über die Vertiefungen. „Mir scheint, der Tod ist eine Erlösung für diesen Verlierer. Diesen elenden Dauer-Versager…“
„Und wenn nicht eine Erlösung, dann zumindest eine Lösung. Schlagartig.“ Gernot hieb grinsend mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Pock. „Für alle unsere Probleme.“
Golo wies auf ein gesiegeltes Kuvert, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Was ist das hier eigentlich?“
„Das…?“ Sein Vater nahm den Brief an sich. „Das ist Bishdarielons Austritterklärung aus dem Orden…Mit seinem Siegel darauf. Recht stolze Worte, übrigens…“
„Aber ich dachte, die wären längst der Großmeisterin übersandt worden.“
„Ich bitte dich. Schlafende Raben soll man nicht wecken. Warum die Aufmerksamkeit dieser Totenvögel auf einen Ordensknappen lenken, der in ihren Augen seit der Schlacht von Gareth verschollen ist? Nein, einstweilen genügt es, wenn unser kleiner Alrik sich jetzt für schwach, schutzlos und verräterisch hält und mit den Zähnen klappert. Das Volk mag die Golgariten nicht sonderlich leiden. Soll es ruhig glauben, dass wir nachher einen dieser Unglücksbringer zu seinem düsteren Gott schicken. Die Friedwangen werden es als Zeichen unserer Macht ansehen. Notfalls haben wir einfach einen unverbesserlichen Answinisten enthauptet – der zuvor mehrere seiner Ordensgeschwister im Schratenwald abgeschlachtet hat. Dafür gäbe es sogar Zeugen.“ Gernot lächelte sinister. „Aber ich denke, es wird keine Beschwerden geben…Vorher nicht und nachher auch nicht.“
„Wahrlich, du bist ein Dämon in Menschengestalt…Vater.“ Halb bewundernd, halb schaudernd hob Golo die Henkerskapuze hoch – der grobe, rote Stoff rann ihm wie Blut durch die Finger. „Wie kann jemand wie du ernsthaft behaupten, noch an die Zwölfgötter zu glauben?“ Er ließ die Larve wieder fallen.
Gernot ging ans geöffnete Fenster, das hinaus in den Bergwald zeigte. Irgendein Insekt summte vorbei. Er zerriss den Brief in kleine Fetzen und warf sie hinaus, wo sie wie bräunliche Schmetterlinge davon flatterten. Nach einigen Herzschlägen waren sie zwischen gelblichgrünen, reglosen Wipfeln und schroffen, grobkantigen Felsabbrüchen verschwunden. Die Natur selbst schien Unheil ausbrüten zu wollen. In der Ferne stieg ein Schwarm Tauben auf, erschreckt durch den klagenden Schrei eines Falken.
Der Sharif keuchte. In dem Gemäuer war es kühl, aber sobald man den Kopf hinaus steckte, spürte man klebrige Hitze und eine lähmende, ermüdende Schwüle. Spätestens am Abend würde es gewaltig krachen, da war sich der Friedwang sicher. Seine Tochter ging ein Risiko ein, die Hinrichtung heute stattfinden zu lassen.
Blitze waren das, was Gernot am meisten fürchtete. Schon als kleines Kind am meisten gefürchtet hatte. Blitze und Gewitter. In seiner Phantasie hatte sich Rondras Zorn immer mit dem Fluch verbunden, den die Himmlische Leuin einst über die Barone von Friedwang ausgesprochen haben sollte. In der Person des Theaterritters Aigolf von Ulmenhain, der seinen ungetreuen Ordensbruder, Baron Oswin, mitsamt seiner Burg (und Nachfolgern) verflucht hatte: Weil ihm auf der Flucht vor den Schergen des Priesterkaisers die Tür gewiesen worden war, ja, Oswin sogar die Hunde auf ihn gehetzt hatte. Und tatsächlich: Burg Friedstein war durch ihre Höhenlage seit jeher von Blitzeinschlägen bedroht gewesen – mindestens einmal war die Feste deswegen abgebrannt. Der imposante Bergfried, der sinnigerweise aus der Theaterritterzeit stammte, schien das Himmelsfeuer regelrecht anzuziehen. Genauer der eiserne, vergoldete Praioshahn, der unter Aldec den Famerlordrachen des Ordens als Windweiser abgelöst hatte.
Nun, Gernot vertraute dem alten friedwanger Volksglauben, wonach die Anwesenheit von Goblins vor Blitzeinschlägen – und überhaupt vor Rondras Zorn - schützte. Und natürlich auf Praios, dem Gott der Sonne und der Ordnung, der Gewitter, Chaos und Kriege fernhielt. Morgen, morgen erst würde der Monat der Kriegsgöttin beginnen. Umso wichtiger war es, noch heute mit Alrik kurzen Prozess zu machen. Gemessen drehte sich der alternde Edelmann um.
„Es ist doch ganz einfach, mein Sohn. Die Unsterblichen sind die wahren Verbrecher. Dennoch gelten sie für jedermann als die `Guten Götter´. Sie hetzten ihre Gläubigen aufeinander, wie einst die Anhänger von Praios und Rondra. Führen sie bewusst in die Irre, halten sie und die Welt über ihr Schicksal im Unklaren.“ Gernot strich sich über den Bart und seufzte.
„Die eitlen Herren Alverans lassen sich selbst noch mit dem letzten Heller armer Bauern bestechen, sie vernichten ganze Städte binnen weniger Wimpernschläge, ersäufen Tausende Unschuldiger wie Ratten. Wie einst die Bewohner des alten Havena. Oder denk an die unglückliche Thalionmel. Heldenmütig verteidigt sie ihre Heimatstadt Neetha gegen die Ungläubigen. Und was ist der Dank? Die Zwölfe spülen das tapfere Mädchen mit der gleichen Flutwelle in den Sikram, mit der sie auch die Novadis ertränken. Wie Unrat. Findest du das etwa gerecht? Oh, was für eine verfluchte Hitze…“
Gernot schloss das Fenster wieder und schob das Riegelchen vor. Durch die Butzenscheiben, die eben diese Szene zeigten (den Opfergang der Rondraheiligen) drang nun wieder gedämpftes, buntes Licht. Mit nassem Klatschen hauchte draußen irgendein Käfer sein Leben am Glas aus. Auf dem Fensterbrett selbst lagen tote, vertrocknete Fliegen. Staub schwirrte umher. Die Luft roch modrig, ölig und schwer, nach Burg, Herrschaft und jahrhundertealter Tradition. Wenigstens war das Zimmer, zumindest dort, wo es nicht im Praiosschein lag, angenehm schattig.
„Chabab, Vater. Die Weiße Wacht liegt am Chabab…“
„Sikram oder Chabab, papperlappapp, jedenfalls liegt die gute Thalli jetzt am Grund des Flusses. Dein neuer Gott… Nun, fast bin ich auch geneigt zu glauben, dass er der älteste, zum Herrschen geborene Bruder der Dreizehn war. Tja, diesen wahren Erben des Urgotts, wenn man ihn mal so nennen darf, haben die eigenen Geschwister entmachtet. Nun foltern sie ihr Bruderherz unter ewigen Qualen, Qualen, gegen die selbst die Phantasie eines oronischen Paktierers versagt… Und doch, trotz aller Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit…“ Gernot vollführte lächelnd eine entschuldigende Handbewegung und hob die Stimme. „Sie bleiben für das dumme Volk allzeit die guten Götter. Es ist wie bei uns hier unten auf Dere und Feste. Die Bösen, das sind immer die Rebellen und Entrechteten, niemals die Herrschenden und Mächtigen. Bewundernswert, findest du nicht?“
Er ging wieder hinüber zum Tisch. Die schweren Eichenbohlen knarrten unter seinen Schritten.
„Nein wirklich. Kann es etwas Schöneres geben, als für stete Schläge, Unterdrückung und Demütigungen auch noch geliebt und verehrt zu werden? Ich würde sagen, wahre Macht offenbart sich darin, zu bestimmen, was das Gute ist – nicht darin, es durch heulende Finsternis und tobende Dämonen heraus zu fordern. Das ist doch reine Selbstzerstörung.“
„Deine Worte sind kraftlose Haarspalterei, Vater.“ Golo schnaubte ungehalten und trank aus einem Becher irgendeine kühle Limonade. „Deine Überzeugungen, wenn man schieren Eigennutz so nennen darf, haben dich seinerzeit nicht davon abgehalten, dich mit den Schwarzen Horden des Dämonenmeisters zu verbünden.“
„Der ebenfalls von göttlichem Geblüt war und mit seinen übergeschnappten Nachfolgern überhaupt nicht zu vergleichen. Ein kleiner Familienzwist unter Göttern, sozusagen. Sag nicht, dass du meinen Geboten allzeit gehorchst, obschon ich dein Vater bin. Wenn du auf meinen Pakt mit dem Vielgestaltigen Blender anspielen möchtest…Der war ein Fehler, gewiss. Aber aus Fehlern lernen wir, aus den schweren vielleicht mehr als aus unseren kleinen Missgriffen…“
„Ichor“, sagte der Mann in Frauengestalt lapidar.
„Wwas?“ Zerstreut runzelte Gernot die Stirn.
„Das Blut der Götter. So haben es die alten Bosparanier wenigstens genannt. Wenn der Bethanier göttlichen Geblütes war, dann floss in seinen Adern … Ichor.“
„Nein so was. Was habe ich doch für einen gebildeten Sohn…“ Das spöttische Funkeln in Gernots Augen strafte die Bewunderung in seiner Stimme Lügen.
Ein Klopfen an der Tür.
„Jaa? Was ist denn?“
„Hasso möchte mit Euch sprechen, Herr“, ließ sich die Stimme einer Büttelin vernehmen.
„Das Trüffelschwein?“
„Ja, Herr…“
„Um was geht es denn?“
Eilig schlug Gernot das große Leinentuch über die Scharfrichter-Utensilien.
„Er hat wichtige Neuigkeiten für Euch, Euer Hochgeboren. Es geht um die Hinrichtung heute Mittag. Und um eine angebliche Verschwörung.“
Gernot blickte seinen Sohn bedeutsam, und leicht angespannt, an.
„Soll hereinkommen.“
Hasso trat ein, ein weder alter noch junger Mann mit zernarbter, knolliger Nase und kurzen, silbrigen Stoppelhaaren. Ein grauer Schnurbart wucherte unter einem selbstbewusst verkniffenen Mund, die Augen musterten ihre Umwelt wach, aber ohne besondere Anteilnahme. Die ganze, hoch gewachsene Gestalt in karierter Allerwelts-Tunika wollte gemütliche Überlegenheit signalisieren.
Der Spitzname passt, dachte Gernot. Er sieht tatsächlich aus wie ein vergleichsweise edles, gewissenhaftes und schlaues, aber grobes, allzu selbstzufriedenes und stetig nach seinem Vorteil witterndes Borstenvieh – das letzten Endes doch nur ein Werkzeug für Andere ist.
Hasso, ein Streuner und ehemaliger Nanduriat, der sich einer phexisch gefärbten Söldnerrotte namens Wildgänse angeschlossen hatte, verneigte sich kurz und nicht allzu ehrerbietig.
Gernot winkte die besorgt wirkende Büttelin hinaus. Dann nickte er ungeduldig.
„Was gibt´s?“
Hasso sah misstrauisch zu „Serwa“ hinüber. „Was ich zu sagen habe, sollte vielleicht besser unter vier Augen…“
„Meine Gemahlin genießt mein vollstes Vertrauen“, unterbrach ihn Gernot knapp und mit dezent spöttischem Lächeln. „Also, um was geht es? Und wenn es wirklich wichtig ist: Warum kommt Ihr damit zu mir und nicht der Baronin?“
„Weil es wirklich wichtig ist“, sagte Hasso bedeutsam. „Die Wildgänse spielen ein doppeltes Spiel. Sie kassieren bei Oleana und stecken dennoch mit Alrik unter einer Decke.“
„Dem Gefangenen im Kerker?“ Gernot lachte auf. „Dann werden sie bald sogar ihre Unterkunft mit ihm teilen.“
„Nein, ich rede von dem Phexgeweihten…“
Gernot runzelte die Stirn und auch „Serwa“, die gelangweilt ins Leere gesehen hatte, wirkte plötzlich aufmerksam.
„Francesco – er lebt? Wie, er lebt noch?“
„Ja, er plant die Befreiung seines Bruders. Heute, bei der Hinrichtung…Und mehr als das…“
„Noch mehr?“ Gernot verschränkte die Arme im Rücken und blickte in Richtung Fenster, ganz abwägender Staatsmann.
Dann drehte er sich um, wedelte auffordernd mit der Rechten: „Sprecht!“
„Nuuun… Ein gewisses Risiko ist für mich damit auch verbunden.“
Golo hob eine tulamidische Schmuckschachtel hoch und lächelte maliziös. „Welches denn? Das Risiko, nicht ausreichend bezahlt zu werden – für Euren Verrat?“ Er öffnete den Deckel der Schatulle und blickte hinein. Sie schien leer zu sein, denn er stellte sie eilig wieder zurück.
„Verrat? Das sagt Ihr, als Francescos Gemahlin? Ich handle mit Informationen, das ist alles…“
„Gewiss, ein Beschwörer gewährt armen, heimatlosen, frierenden Dämonen auch nur Unterschlupf auf unserer Welt. Für eine Nacht…“
Gernot hob seine Hand und bedeutete Golo-Serwa zu schweigen, der (die?) diese Worte in scheinbar mitfühlendem, verständnisvollen Klang gesprochen hatte.
„Sagt an, Hasso. Hasso, das Trüffelschwein. Welche Art von Trüffeln versprecht Ihr Euch für Eure Informationen? Dukaten, nehme ich doch an?“
„Nein. Macht mich zu Oleanas Kämmerer…“
„Also doch Dukaten.“
„Wo sollte ich Dukaten heutzutage noch verprassen? Nein. Eine Lebensstellung, ein festes Dach über den Kopf, Schutz durch eine starke Garde, hin und wieder ein Bauernmädchen und jeden Tag ein Braten reichen mir vollauf in dieser unseligen Zeit. Und rechnen ist meine Stärke, glaubt es mir. Alwine Karrer ist zu alt, und Karjala Usterbinger könnt Ihr nicht trauen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie für die Gallyser spioniert. Außerdem sitzt sie jetzt in Nordenheim …“
„Also gut, den Posten des Kämmerers. Was bringt Euch darauf, dass ich mein Wort auch einhalte, wenn ich erfahren habe, was ich zu wissen begehre?“
„Ich wäre ein sehr guter Kämmerer. Glaubt mir, ich habe ein Händchen für Geld…“ Hasso hob die linke Handfläche, die mit einem münzgroßen, kreisrunden Brandmal verunziert war.
„Verstehe…Es geht Euch darum, einen Mondschatten zu verderben…“
„Und ich möchte wissen, wo Oleana ihren berühmten Schatz versteckt hat.“ Hasso schloss die Hand wieder zur Faust.
„Ein Schatz, der Euch leicht selbst zum Herrn dieser Baronie erheben könnte“, murmelte Serwa.
„Nicht doch. Was hat man heutzutage von Gold, Silber, Edelsteinen, wo es in hundert Meilen Umkreis keine vernünftigen Hurenhäuser und Spielhöllen mehr gibt, um sie zu verprassen?“
„Ihr könntet das Geschmeide nach Mendena bringen, zu Xeraan.“
„Um mit dem unersättlichen Gierschlund zu teilen? Oder es zwischen Überfluss an Reichtum an Wert verlieren zu lassen? Ich bitte Euch…Nein. Geldvermehrung ist meine … besondere Gabe. Nur darf es nicht mein eigenes Vermögen sein, mit dem ich wuchere. Das war Teil des…der Abmachung.“
„Sagt doch gleich, dass Ihr unser Geld in die eigene Tasche wirtschaften wollt“, höhnte Golo. Dann hatte er zwei lederne, dunkle Handschuhe entdeckt, die neben dem Leinentuch lagen. Offenbar gehörten sie zur Ausrüstung des Henkers. Versonnen zog er sie an.
„Genug, ich mache Euch zum Kämmerer.“ Gernot achtete kaum auf den Zwischenruf. „Warum nicht? Es gibt ja ohnehin nur noch Mangel zu verwalten. Und nun sagt, was plant dieser unverwüstliche Fuchs? Wo ist sein Bau?“
„Er hat sich auf Burg Loskarnossa versteckt…Bei Vogt Tiro…“
„Tiro? Welcher Tiro?“
„Euer Sohn.“
„Ach der. Die süße kleine Zuckerbäckerin, die ich mal in Wehrheim vernascht habe, richtig, ich erinnere mich. Rahjana oder so ähnlich. Da vertraut man liebfelder Fischblasen, und dann das…“
„Tobrische Schafsdärme sind robuster“, gab Hasso trocken zu bedenken.
„Gewiss. Wenn nur die verdammten Viecher nicht ständig nach hinten austreten würden.“ Am Tisch gluckste „Serwa“ freudlos auf und öffnete das mit Löchern versehene Schächtelchen. Ein zufriedenes, wölfisches Grinsen huschte über ihr zwittriges Gesicht.
„Go…Serwa, du bist degoutant.“ Gernot wandte sich wieder dem gefallenen Nanduriaten zu.
„Tiro von Loskarnossa zählt also zu den Verschwörern?! Ein Bastard unter vielen, der nicht weiß, wo sein Platz ist. Ich werde den Spuk aus diesem Geisterschloss beizeiten austreiben.“
„Nun, meines Wissens hat er dem Mondschatten nur Unterschlupf gewährt…Traut sich wohl nicht recht, gegen seine Schwester und Euch Partei zu ergreifen…Nein, Francesco weilt schon hier in Marktfriedwang, zieht im Verborgenen seine Fäden. Ist vor ein paar Tagen bei diesem Hagen Stoor untergeschlupft…“
„Dem Schultheißen? Verdammt, ich wusste, dass wir dem Burschen nicht allein deswegen trauen dürfen, weil er zwielichtig ist… Dann werden wir den Fuchsbau mal ausheben.“
„Meines Wissens ist Francesco nicht mehr dort. Hat das Haus heute früh verlassen. Bevor ich in den Plan eingeweiht wurde. Hagen hat uns Wildgänsen nur gesagt, dass wir uns zur Praiosstunde bereithalten sollen, die Söldner auf dem Marktplatz zu überwältigen. Und den Jungs und Mädels gutes Gold versprochen, wenn sie die Seiten wechseln. Die Baronin hat ja angeordnet, dass wir mit Gerrichs Leuten die Hinrichtung absichern. Traut ihren eigenen Bütteln nicht, und das zu Recht.“
„Einzelheiten…“
„Der Brabaker hat was von einem Bund von Fuchs und Fee gefaselt, ich vermute also, dass die Sokramorier in dieser Sache auch mit drin stecken. Gut möglich, dass einige der Ketzer ebenfalls auf dem Alboransplatz dabei sein werden. Das ist übrigens die Parole: Fuchs und Fee. Gleichzeitig mit Bishdarielons Befreiung soll es oben auf der Burg einen Umsturz der Baronsgarde geben. Gesine Bretzelbeck, die ehemalige Befehligerin, hat in der Burgschänke einige ihrer alten Freunde auf ihre Seite gezogen. Die Steinbockgarde ist ziemlich sauer, dass sie nur noch die zweite Geige nach den Söldlingen und den Rotpelzen spielt. Haben Euch diese Blutnacht damals nie wirklich verziehen…..“
„Solange die Orkfressen ihren eigenen Blutzoll nicht vergessen haben…“ Gernot ballte die Faust. „Elende Verräter. Treu wie die Joborner, dieses im Suff gezeugte Pack. Ich habe die Friedwanger Baronsgarde doch überhaupt erst zu einer Garde gemacht, die diesen Namen verdient.“
Serwa stand auf. „Mein lieber Gemahl…nun echauffiert Euch nicht so…“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. „Ich stehe ja jetzt auf Eurer Seite.“
Hasso runzelte die Stirn.
„Stimmt das?“ fragte Gernot gedehnt.
„Nun, Serwas Name ist nicht gefallen…Aber….“
„Kein Aber. Ich weiß, dass meine Frau in letzter Zeit…einen inneren Wandel durchgemacht hat, nicht wahr, mein Liebling? So ist es doch?“
„Aber ja doch…Auf mich kannst du dich jederzeit verlassen, mein Schatz.“ Gurrend kraulte Golo den Hals seines Vaters. Er überlegte sich, ob und wie er ihn soweit bringen konnte, mit ihm einmal „seine ehelichen Pflichten“ zu vollziehen. Eine derartige Freveltat wäre dem Höchsten und All-Einen sicherlich überaus gefällig….Welch erlesener Irrsinn, welch köstliche Verhöhnung jeglicher zwölfgöttlicher Gebote – und vor allem, welch herrlich widernatürliche, wunderbar wollüstige Empfindungen ihn selbst dabei überkommen würden! Es mit seinem eigenen Vater zu treiben. Der Junker keuchte allein bei dem Gedanken erregt.
Gernot wischte die zunehmend fordernde Hand von seiner Schulter. „Hör trotzdem auf, mich anzutatschen. Wo ist nur deine Contenance, Serwa? Und benutz in Zukunft ein weniger ….schwüles Parfüm. Man kann heute auch so schon die Luft kaum atmen …“
„Wie du möchtest, Vater“ rutschte es „Serwa“ heraus. Leicht erschrocken ging sie an Hasso vorbei zur Tür, nicht ohne dabei das Gesicht des „Nanduriaten“ genau zu mustern. Hatte er den Versprecher bemerkt?
Hasso verkniff sich ein Grinsen. Das also war es, was die Baernfarn zu diesem Widerling Gernot zog, mit dem ihr Haus eigentlich in erbitterter Fehde lag. Der Vater-Ersatz…Stimmt, er hatte irgendwo mal aufgeschnappt, dass die blonde Frau im Krieg zur Waise geworden war. Sollte die Tochter eines albernischen Druiden sein. Eines Druiden….! Komische Familie, diese Baernfarns. Elfenfreunde, Zauberer, weltfremde Eigenbrötler. Serwa wirkte schon ziemlich gestört, wie sie da, bleich und mit wirrem Blick, durch den Raum irrte. Irgendwie elfisch, auch wenn dieser anrüchige Begriff auf eine Frau nicht recht zu passen schien. Für eine zum eigenen Geschlecht hingezogene „Amazone“ erschien sie ihm aber wiederum als viel zu weich und unkriegerisch.
Fast war er froh, dass die Gallyserin, das Schmuckkästchen in der Hand, hinter seinen Rücken huschte – auch wenn ihm der Gedanke schon wieder unangenehm war. Frauen waren schwache, vor allem wankelmütige Wesen. Man durfte ihnen nicht trauen, das hatte er aus leidvoller Erfahrung gelernt. Und ja, ihr süßlich-dekadentes Parfüm, das ihm von hinten in die Nase stieg, war wirklich widerlich. Irgendwas mit Rosen und Sandelholz. Aufdringliches Zeug. Benebelte einem rasch die Sinne. Nervös wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
„Also gut“, hörte er wie aus weiter Ferne Gernots Stimme. „Sehr einfallsreich erscheint mir Francescos Plan ja nicht zu sein. Will den Aufstand der Firunsgesellen nachäffen, die damals, am Ende der Priesterkaiserzeit, ihren Anführer Yann Fraldein vom Scheiterhaufen befreit haben. Und Baron Ettel bei dieser Gelegenheit gestürzt…So ein Dummkopf…Warum wartet er nicht ab, bis wir für ihn die Drecksarbeit erledigt haben - und der wahre Erbe einen Kopf kürzer ist? Da merkt man doch, dass er gar nicht das Zeug zum Baron hat…Könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und dann sowas…“
Mit hinter den Rücken verschränkten Armen ging der Sharif im Rotgoldenen Zimmer auf und ab.
„Dieser hinkende, abgehalfterte Ackergaul Gesine steckt also auch mit drin. Mal hü, mal hott, weiß auch nicht recht, was sie will. Na, die hat bei ihrem Lügenbaron schon was gut zu machen. Hm, was wisst Ihr noch? Namen …Wer sind die Rädelsführer? Die übrigen Söldner, was ist mit denen? Namen, ich brauche Namen!“
„Das wären alle, von denen ich weiß. Hagen Stoor, die Bretzelbeck, sowie ich…das heißt, ich natürlich nicht wirklich, haha…An Gerrich trauen die sich nicht ran, glaube ich…Die Goblins warten vermutlich einfach ab, wer als Sieger aus dem Ganzen hervorgeht. Da fällt mir ein, Hagen will eine Klinge auf dem Schafott verstecken, für Bishdarielon. Unterm Stroh, denke ich….“
„Bishdarielon? Der ist doch gefesselt…“ Gernot schüttelte den Kopf. „Was soll mir das? Der Plan ist ja noch dümmer, als ich gedacht habe. Man sollte diese Trottel einfach mal machen und in ihr Verderben rennen lassen. Gegen Gerrichs blutgierige Meute haben sie sowieso keine Chance…“
Verstohlen langte er sich an den Hals. Trotzdem, gut, zumindest von dem Schwert zu wissen. Ein Zweikampf zwischen dem Henker und einem Ordenskrieger auf dem Schafott – dieses Schauspiel wollte er seinen Friedwangen dann doch nicht gönnen…
So wie es aussah, war er in die ganze Schweinerei gerade noch rechtzeitig eingeweiht worden. Oder war das Ganze in Wahrheit eine ganz besonders raffinierte Intrige? Der Umsturzplan wirkte irgendwie zu plump, armselig und schlicht für ein schlaues Füchslein wie Francesco – zumal der wirklich kein Interesse daran haben konnte, seinen Bruder zu retten.
Schien etwas nervös zu sein, dieser Hasso. So wie ich, das heißt, ich natürlich nicht wirklich, haha…Hatte der Phexgeweihte das Trüffelschwein nur vorgeschickt, um ihm einen Köder hinzuwerfen – sollte er am Ende dazu gebracht werden, die Wildgänse und Büttel zu verhaften, um auf der Burg einen Keil zwischen die Herrscher und ihre Häscher zu treiben?
Was, wenn in Wahrheit Gerrichs Halsabschneider die Überläufer waren? Ehrlosem Söldnerpack wie Brandroders Leuten durfte man doch am wenigsten trauen. Was, wenn er auf hinterhältige Weise dazu verführt werden sollte, sich selbst zu entmachten? Seine gute Rechte, die Steinbock-Garde, mit der schlechten Linken, den dahergelaufenen Söldlingen, abzuschlagen, sozusagen. Die ihm dann anschließend selbst den Garaus machen würden…Aus der Wildermark hörte man da so einiges.
Oder war das Streunerlein Francesco wirklich schon derart verzweifelt, das es nach jedem Strohhalm griff – und sei es nur, um eine Waffe für den wahren Baronieerben darunter zu verbergen? Wusste er am Ende, dass Gernot selbst der Scharfrichter sein würde? Wollte der Lügenbaron ihn auf diese Art beseitigen? Aber wenn, dann würde das bedeuten, dass auch Golo in dieser Verschwörung mit drin steckte – und das war eigentlich ausgeschlossen, oder? Niemand sonst wusste, dass er vorhatte, heute eigenhändig den Scharfrichter zu spielen.
„Also gut, fassen wir noch mal zusammen…“ hob er an, unterbrach aber sofort.
Was tat sein missratener Sohn denn jetzt schon wieder? Schlich sich von hinten an Hasso heran. Wollte dieser abscheuliche Selemit statt seinen eigenen Vater nun den abtrünnigen Nanduriaten verführen? Mit gefurchter Stirn sah Gernot, wie Golo-Serwa langsam, ganz langsam in Richtung Nacken des Trüffelschweins griff.
Irritiert zuckte der Mann zusammen, als die behandschuhte Rechte seinen Kragen zurückzog. Mit der Linken schüttete die falsche Serwa blitzschnell etwas aus dem Kästchen hinein: Einen gelbbräunlichen Klumpen, so schien es zumindest.
„Was zum Namen….?“ Hasso wollte sich umdrehen, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als sei er vom Schlagfluss getroffen worden – oder als liefe Eiswasser seinen Rücken hinab. Seine Augen traten hervor, aus dem Mund drang ein lautloser Schrei, die Hände krampften sich zusammen.
„Was ist mit Euch, Hasso?“ säuselte Golo-Serwa mit irrsinnig gut gespielter Besorgnis. „Ist euch nicht wohl?“ Ein prustendes, helles Lachen, wie von einem schüchternden, aber zugleich erheiterten Mädchen, drang über Serwas Lippen.
Dem Trüffelschwein war tatsächlich nicht wohl. Nach Luft schnappend langte er sich erst an den Hals, dann in die Herzgegend. Keuchend, gurgelnd, als stünde er in unsichtbaren Flammen, taumelte der Mann einige Schritt im Kreis, sank in die Knie.
„Ihr seid…die Hölle…“ Der Streuner brach vornüber zusammen, polterte auf die Eichenbohlen.
Ein kurzes Zucken und Verkrampfen, dann lag Hasso still.
„Was hast du jetzt schon wieder angestellt, Golo?“ Mit einem Seufzen verdrehte Gernot die Augen. Auf dem Rücken des Toten, unter der Tunika, wölbte sich der Stoff – eine kriechende Bewegung, die sich fortpflanzte. Nach einigen Augenblicken plumpste ein vierbeiniges, gelbbraun gebändertes Etwas mit Stachel und Scheren auf den Dielenboden. Ein Skorpion, der, durch das plötzliche Licht irritiert, verharrte.
Golo packte den etwa einen halben Spann langen Vierbeiner am Stachel und beförderte ihn, durch den Handschuh geschützt, wieder in die Schachtel.
„Faszinierend, wie schnell Hasso uns gerade verlassen hat, nicht wahr? Schnell, sauber und ohne viel Geschrei. Von diesem Meuchler kann selbst ich noch etwas lernen.“
„Du solltest hier doch nichts anfassen!“ Ungehalten nahm der Sharif dem Junker das Kästchen aus der Hand. „Und schon gar nicht mit meinen Sachen herumspielen…“ Mit Nachdruck verschloss der Altbaron die Schatulle.
„Verdammt, warum hast du ihn getötet? Wir hätten ihn vielleicht noch gebrauchen können. Und sei es nur als Lockvogel.“
„Du weißt, ich liebe den Verrat und hasse die Verräter“ sagte Golo-Serwa sanft und drehte den leblosen Körper mit einem Stiefeltritt auf den Rücken. Die Mannfrau ging in die Hocke und hob dessen Linke mit dem Dämonenzeichen in die Höhe. „Vor allem, wenn sie gar keine echten Verräter sind. Wenn du mich fragst, hat er sich das Brandmal selbst zugefügt…Das ist doch alles nur eine Finte, um uns zu unbesonnenen Handlungen zu verführen. Eine Provokation…“
„Wenn ich dich frage?“ Wütend ging Gernot zu einem Regal und stellte das Schmuckkästchen hinein. Ein scharrendes Geräusch verriet, dass das Spinnentier darin ebenfalls erregt war. „Dich? Ihn hätten wir fragen können, notfalls auf der Streckbank. Du bist es, der sich hier unbesonnen benimmt. Denkst du eigentlich nur mit deinem Arsch?“
„Nun verlierst aber du die Contenance, Vater!“ flötete Golo-Serwa gut gelaunt und zog sich mit lasziver Geste die schwarzen Handschuhe von den Fingern. „Wo hast du dieses possierliche Tierchen eigentlich her?“
„Boronshändchen? Wenn sich meine Tochter ein Haustier hält, warum darf ich dann nicht ebenfalls eines haben? Ich habe ihn vor ein paar Wochen einer Söldnerin abgekauft, und die hat ihn wiederum von so einem Fasarer Händler…Ein kleiner Wüstenskorpion…Noch nicht ganz ausgewachsen, aber schon sehr tödlich für sein Alter.“
„Ja, dieses Gezücht tötet schnell. Wie die Wüste selbst.“
„Ach, was, Omrais, ich weiß nicht. Kukris ist da effizienter…Geht ohne Umwege ins Blut.“ Den Zeigefinger aufs Kinn gelegt, schritt Gernot vor dem Fenster auf und ab.
„Wie sieht es eigentlich aus – dieses Ichor?“
„Was?“
„Ichor, das Blut der Götter, das du vorhin erwähnt hast. Bevor wir unterbrochen wurden…“
„Nun, die einen sagen, es wäre goldfarben, die anderen, durchsichtig. Wie Nektar und Ambrosia, von dem die Unsterblichen sich nähren.“
„Durchsichtig?“ grübelte Gernot.
„Orksch, ja, möglicherweise sieht es glasartig aus. Flüssiges Glas, warum nicht?“ Golo-Serwa warf die Handschuhe auf den Tisch. “Was nun, soll ich Befehl geben, die Verschwörer zu verhaften . . .? “
„Nein. Ich möchte, dass mir Franceso endlich ins Netz geht, und dazu müssen wir uns ruhig verhalten. Wie die Spinne, die eine Fliege sich erst im Netz verheddern lässt, bevor sie ihren Leib fesselt. Sie dürfen keinen Verdacht schöpfen. Verfahren wir einfach erst einmal weiterhin, wie geplant…Verdammt, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen!“
Letztere Worte hatte Gernot beinahe geschrieen. Plötzlich fiel es ihm wie Drachenschuppen von den Augen. Natürlich, nun durchschaute er Francescos Plan. Der Mondschatten wollte seinen Zwillings- Bruder nicht befreien, er wollte in dessen Rolle schlüpfen – und sich von den Verschwörern befreien lassen. Um den Friedwangen anschließend noch einmal vorzugaukeln, dass er der rechtmäßige Erbe sei. Als Lügenbaron nahm ihn ja niemand mehr ernst.
Dieser verschlagene Narr! Er hatte sich bereits in die Burg eingeschlichen. Dreist war er ja, und Eier hatte er auch in der Hose, wie ein Almadaner sagen würde. Flüssiges Glas. Glasartig. Alrik, Alrik Schmiedsohn. Der Büttel im Kerker. Die leuchtend blauen Augen - dadurch hatte er sich täuschen lassen! Bei seinem Vetter waren sie schwarz. Aber es gab horasische Haftschalen, winzige Linsen aus Glas, die auf der Augenflüssigkeit klebten. Mit denen man auch die Farbe der Pupillen verändern konnte. Nun ergab alles einen Sinn.
Aufgeregt ging Gernot auf und ab, strich sich über den bereits ergrauenden Knebelbart.
„Was ist, Vater?“ wollte Golo wissen.
„Nichts, nichts…“ Sollte er die Wachen alarmieren? Nein, er konnte niemandem mehr trauen, am allerwenigsten in einer derart delikaten Angelegenheit. Diese Geschichte musste er selbst zu Ende bringen – es würde ihm ein Vergnügen sein, den Fuchs eigenhändig zu stellen und zur Strecke zur bringen.
Doch immer schön der Reihe nach. Er schnippte mit den Fingern.
„Als erstes müssen wir Hassos sterbliche Überreste beseitigen…“
Gernot ging zum Kamin, neben dem ein Kerzenhalter vor einem kleinen Spiegel aus der Wand ragte. Er legte den Hebel um – rumpelnd schwang ein Regal mit Bücherimitaten nach außen - und öffnete den Blick auf einen Geheimgang in der Mauer.
„Oh, den kenne ich ja noch gar nicht.“
„Halt die Klappe, Golo. Du wirst Hasso jetzt da rein schaffen, und erstmal unten im Keller deponieren. Nimm die Laterne dort mit. Ich veranlasse in der Zwischenzeit alles Weitere.“
„Ich? Aber ich bin eine schwache Frau“, jammerte der Junker.
„Keine Widerrede, du belkelelischer Abschaum. Ich hätte dich schon in der Wiege erdrosseln sollen. Aber nun ist es zu spät. Los, zeig, dass du wenigstens als Leichenträger zu etwas Nutze bist.
Golo-Serwa lächelte seltsam. „Eines Tages werde ich dich töten, Vater…“ sagte er leise und ohne jeden Hass, beinahe beiläufig.
Gernot stutzte kurz. Dann lachte er gehässig auf. „Daran zweifele ich nicht. Aber nimm vorher all deinen Mut zusammen. Und vor allem: Zieh diese lächerlichen Frauenkleider aus… Nun beeil dich, es ist bald Praiosstunde. Ich habe noch jemanden hinzurichten.“
Genauer gesagt zwei, dachte Gernot, während er nach draußen stürmte. Im Vorbeigehen riss er der Büttelin, die in einigem Abstand vor der Tür gestanden hatte, das Kurzschwert aus der Scheide.
„Herr…?!“ rief (und fragte) sie entsetzt.
„Alles in Ordnung, Lutina. Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen. Einstweilen Dienst nach Vorschrift…“
Er stürmte, an einer Magd, der er einen Korb mit Äpfeln aus den Händen riss, hinunter in den Keller – und von dort in den Kerker. Eiserne Feuerkörbe, Fackeln, Handschellen an den Wänden. Foltergeräte: eine eiserne Jungfrau, ein Warunker Helm, Al´Anfaner Stiefel, Daumenschrauben, eine Streckbank (Oronisches Himmelbett, sagte man in Friedwang dazu).
Bishdarielon saß, die Hände mit einem groben Strick hinter dem Rücken gebunden, im linnenen Hemd und mit lederner Hose, auf einem Schemel. Das Grindkind schnippelte ihm die Haare über dem Nacken ab, während „Alrik Schmiedsohn“, der Büttel, ihm mit einem scharfen Rasiermesser über das Kinn strich. Er war also noch nicht zu spät gekommen. Gerade zuckte der Gefangene zusammen – etwas Blut trat aus seiner Wange.
„Ein bisschen Vorsicht, wenn ich bitten darf“, knurrte Bishdarielon, mit sarkastischem Grinsen. „Schneide er mir ja nicht den Hals ab…Dafür ist allein der Henker zuständig.“
„Genug!“ Gernot baute sich im Gewölbekeller auf. „Das Possenspiel ist vorbei, Alrik. Ich glaube, der Scharfrichter bekommt heute doppelte Arbeit…“
Der vermeintliche Gardist blickte hoch und schien ehrlich verwirrt zu sein. Wenn es wirklich Francesco war, spielte er seine Rolle nicht schlecht. „Euer Hochgeboren, es tut mir leid…Ein Versehen. Ich wollte den Gefangenen wirklich nicht schneiden…“
Wie stumpf und stier seine Augen sind, schoss es Gernot durch den Kopf. Haftschalen, garantiert Haftschalen. Dieser Francesco ist ein Meister der Verkleidung, das muss man ihm lassen.
„Kerkermeisterin, nehmt den Mann fest. Sperrt ihn da drüben in die Zelle…“
„Aber…“ Das Grindkind blickte blödig.
„Habe ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt? Du bist enttarnt, Alrik – oder soll ich dich Francesco di Palazzo nennen? Nicht schlecht, dein Mummenschanz. Aber der kleine Maskenball ist jetzt vorüber…“
Bishdarielon sah ähnlich verdutzt drein wie die bucklige, schmuddelige, grindige Kerkermeisterin. Dann trat so etwas wie Erkennen in seine Augen. „Fra…? Francesco! Das ist ja wunderbar, bei meiner Seel! Ich wusste, dass du mich nicht sitzen lassen würdest. Los! Er ist allein…und er hat nur ein Kurzschwert. Mach ihn fertig!“
Der Baronssohn sprang freudestrahlend auf – genau in einen Hieb mit dem Knauf des Kurzschwerts hinein, mit dem ihn Gernot zu Boden schickte. Aus den Augenwinkeln sah der Gießenborn, wie der Büttel zu seinem Schwert griff. Orksch! Es war ein schwerer Fehler gewesen, hier ohne jegliche Leibgarde herunterzustürmen…Zumindest auf die Goblins hätte er sich verlassen können.
Mit heißem Kopf stieß Gernot zu. Die breite, kurze Klinge drang mit schmatzendem Geräusch durch den Hals des Wächters – und spritzte beim Austritt ein eigentümliches Muster aus dunklem Blut an die Wand.
Der Sharif zerrte das Kurzschwert wieder heraus – diesmal sprühte ihm der warme, klebrige Lebenssaft ins Gesicht. Dennoch durchzuckte ihn wilder Triumph: Er hatte gerade Francesco di Palazzo getötet…Seinen Erzrivalen.
Mit kreideweißem Gesicht und einem blutigen Loch im Hals taumelte der Bursche nach hinten, prallte gegen die Wand und verschmierte die Muster dort zu mehreren dicken Schlieren, als er langsam und röchelnd zu Boden rutschte. Der Mann zuckte ein paar Mal kurz auf, wie ein an Land geworfener Fisch, und lag dann still.
Gernot lachte gehässig auf. „Tja, Rotkehlchen, das hast du jetzt nicht erwartet, wie? Dass ich dich einfach absteche wie ein Schwein, haha… Kerkermeisterin, kümmere sie sich um den Gefangenen.“ Der barönliche Ratgeber wies mit dem glitschigen Schwert auf Bishdarielon, der sich stöhnend und benommen über den Boden wälzte.
„Jajaa, weitermachen! Da, da an der linken Wange hat er noch Stoppeln.“
„A…aber Herr…“ stammelte die Frau. Ihr Wortschatz im Allgemeinen schien ebenso begrenzt zu sein wie ihr Verständnis der Situation im Besonderen. „Was, Frau Travia …Warum in aller Welt…?“
Gernot leckte sich über die Lippen, und schmeckte etwas Warmes, Metallisches, Süßlichsalziges – wie ein Raubtier, das gerade Beute gerissen hatte. Er blinzelte, was nicht nur an den schnell gerinnenden Blutspritzern in seinen Augen lag.
Hmmm….Er nahm das Barbiertuch aus der verkrampften Linken des Toten und wischte sich das Gesicht sauber.
Francescos Verkleidung war wirklich gut… Die blonden Haare sahen aus wie echt, und selbst die entsetzten, im Tod weit aufgerissenen Augen strahlten in einem tiefen Blau.
„Der Lügenbaron…Alrik Tsalind…Er hat versucht, sich hier einzuschleichen…“, sagte Gernot, mit einer Stimme, die etwas zu matt klang, um wirklich restlos zu überzeugen. Um ihn selbst restlos zu überzeugen, wohlgemerkt - die Meinung der übelriechenden, aufrecht gehenden Kellerassel in seinem Rücken war ihm ziemlich egal. Bishdarielon zählte sowieso nicht.
„Baron Alrik? Ihr denkt wirklich….das ist Baron Alrik? Aber der hatte doch schwarze Augen, Herr…“ Die Stimme des Grindkinds wurde mit jedem Wort greller, fast schon hysterisch. „Das ist Alrik Schmiedsohn…aus Gießenborn. “
„Jaja. Natürlich…“ Gernot warf das gesprenkelte Handtuch zu Boden und hob von dort das Rasiermesser auf, das der Form nach an einen darpatischen Bullenschläger erinnerte.
„Im Horasreich gibt es kleine gläserne Linsen, mit denen man die Farbe der Pupillen verändern kann…Sieh her.“ Mit etwas merkwürdigem Lächeln wischte Gernot den Rasierschaum am Ärmel ab und kniete sich neben der Leiche nieder. Dann spreizte er ihr mit den Fingern das Lid des rechten Auges und setzte die buchstäblich rasiermesserscharfe Klinge an, mit der Schneide nach unten.
Im nächsten Moment wurde er am Handgelenk gepackt, sehr fest und durchaus grob.
„Ihr werdet Alrik Schmiedsohn nicht die Augen zerschlitzen“, sagte das Grindkind flehentlich, aber bestimmt. „Nicht das auch noch, Euer Hochgeboren!“
Für einen Moment hielt er inne, dicht unter der wabernden Wasseroberfläche. Sacht ließ er sich wieder zurücksinken, glitschte den Brunnenschacht hinab in dunkle Tiefen, hinfort von dem quälend hellen Fackellicht. Der Ruf… Sein alter Meister hatte ihn gerufen, doch von ihm und seiner Gegenwart war nichts zu spüren. `Drüben´ wirkten noch immer die beunruhigenden Kräfte jener, die von den Sterblichen `Zwölfgötter’ genannt wurden. Gewiss, er hatte gelernt, im Wasser des Efferd zu überleben und war nun den Gefilden der anderen Zwölfe so nahe wie seit der Beschwörung nicht mehr. Aber das Ritual, das dort oben abgehalten wurde, reichte nicht aus, um ihn ungestraft jene quälend nahe und zugleich unendlich ferne Welt betreten zu lassen. Auch schmeckte er nicht die Seelenqualen und Furcht sterblicher Opfer, die ihm der Rufer versprochen hatte. Überhaupt sollte in der Welt jenseits des Brunnenrands Hass, Irrsinn, Gewalt, Mord und Tod herrschen und das Ritual stärken. Nichts von alledem war zu spüren.
Er verharrte in der Tiefe, lauernd, missgünstig, aber geduldig. Früher oder später würde man ihm diese Opfer bringen, daran hegte er kein Zweifel. Düstere Hoffnung keimte in ihm, Hoffnung auf blindwütige Vernichtung von allem, was diesen anmaßenden zwölf Wesenheiten heilig war. . .
2. Kapitel: Lichtlos
Alle Wege führen früher oder später zu ihrem Erbauer.
Bosparanische Weisheit
Ich wollte, der Rübenschädel wäre bloß verrückt. Manch schwarze Seele tarnt sich nur mit dunklem Wahnsinn.
Hal, Kaisersprüche
Dumpf polterte Hassos Hinterkopf die Treppe hinunter, auf die er mit jeder neuen Stufe schlug. Dazu klackten seine Zähne gegeneinander. Golo verzog das Gesicht. Er bekam beinahe schon Kopfschmerzen vom Zuhören.
Schließlich kamen sie unten im Gang an, der sich vor ihm im unsteten Licht der Laterne öffnete. Golo hatte sich die Lampe an den Gürtel gehängt. Was für eine Strafarbeit. Der abtrünnige Nanduriat, den er hier, an den Beinen gepackt, mit schleifendem, scharrendem Geräusch, hinter sich herzog, war schwer und sperrig. Fast bereute er es, ihn umgebracht zu haben. Aber nur fast. Serwas Körper war schwächer, als es der seinige gewesen war – er musste sehr viel Willenskraft aufbringen, um sowohl die fremden Glieder als auch die Leiche vorwärts zu zwingen.
Er ließ die Stiefel des Toten zu Boden fallen, taumelte erschöpft gegen die Wand. Für einen Moment drehte sich alles um ihn herum.
All-Einiger Herrscher, gib mir Kraft.
Am Anfang hatte er ja noch eine dunkle, elfische, nun ja, regelrecht dunkelelfische Lust in diesem hübschen Frauenkörper verspürt. Aber irgendwie wurde er ihm langsam lästig – wie die sterblichen Überreste von Hasso.
Seit Merwans Ritual, während der Blutnacht auf dem Friedstein, stand Serwas Seele den Kindern des Namenlosen ebenso offen - wie einst ihr Unterleib den Rahjadienern.
Er, Golo, hatte sich diesen Umstand zunutze gemacht. Damals, vor einem halben Jahr, als die Baernfarn, bei der Rettung ihrer Kinder aus Oleanas Burg, noch einmal zurückgekehrt war. Um ein Spielzeug zu suchen, dass Junker Alboran im Keller vergessen hatte. Golo, durch Merwans Ränke selbst nurmehr ein Geist, hatte Serwas Willen gebrochen – war in ihren Leib geschlüpft. Buchstäblich in ihrer Gestalt war er mit Hesindian und den Bälgern geflohen. Welch herrliche Gelegenheit für Spionage und Sabotage unter den Reihen ihrer Feinde.
Nur, im Laufe der Wochen und Monate hatte er festgestellt, dass seine kleine Geschlechtsumwandlung gewisse Nachteile mit sich brachte. Zum Beispiel, das er jetzt in ihrem Leib feststeckte wie einst sein Kopf unter dieser verfluchten Eisernen Maske. Festgeschnürt wie in dem Korsett, dass er damals bei dieser Lustbarkeit mit Fürst Timoin Firdayon in Neetha getragen hatte…
Er vermochte Serwas Geist zwar zu betäuben und beherrschen, brachte es auch fertig, durch Willeskraft ihren Körper zu bewegen wie ein Gaukler die Handpuppe. Aber dessen feineren Regungen, tieferen Instinkte, Angewohnheiten und Gefühle kontrollierte er nicht. Von der sonstigen Routine eines Frauenkörpers ganz zu schweigen. Ein paar Mal hatte er sich jungen, hübschen Männern hingegeben – Gallyser Gardisten, Freischärlern, oder in jüngster Zeit Diener und Knechten auf Burg Friedstein.
Am Anfang hatte ihm schon der herrlich-widersinnige Frevel allein höchste Erregung bereitet, aber dann… Gerade in den Augenblicken der höchsten Ekstase drohte ihr Leib seiner Kontrolle zu entgleiten.
Wenn sie beide „miteinander“ schliefen, war es besonders gefährlich. Ein paar mal schon war ihr Geist um Haaresbreite früher aufgewacht als der seinige. Geschwächt und benommen von der langen Knechtschaft, aber durchaus (noch oder schon wieder) eigenwillig. Vor ein paar Nächten erst, bei vollem Madamal, war die Baernfarn als vermeintliche Schlafwandlerin durch die Burg getaumelt, hatte wie ein Gespenst laut um Hilfe geseufzt und gestöhnt. Zum Glück so laut, dass er selbst davon erwacht war - und die Widerspenstige zähmen konnte.
Warum nur widersetzte sie sich ihm? Sie würde nicht mehr altern, während er sie beherrschte, das spürte er. Dank seiner eigenen Unsterblichkeit für immer jung und schön bleiben. Er hatte ihr seinen brillanten Verstand geschenkt, seinen unbedingten Willen, zu herrschen und über alle Feinde zu obsiegen. Hatte alles Gute und damit Schwache aus ihr herausgetrieben wie eine Krankheit. Warum nur gab sie ihm nicht endlich nach?
Krankheit…Krankheit…
Aus irgendeinem Grund sah er plötzlich wieder die Jungfer von Gießenborn vor sich, damals, vor vielen Götterläufen. Im Noionitenspital von Perricum, mit der Selemer Jacke an ihr Bett festgezurrt. Der Blick wirr, das Gesicht zu einem viel zu grellen Lachen verzerrt, eine bleiche Larve, kein Mensch mehr, vor allem keine…
Seit damals hatte er Mutter nicht mehr gesehen. Ein herzensguter Mensch, schön wie der lichte Morgen. Eine geborene Bregelsaum-Schnattermoor, und damit aus weitaus edlerem Hause stammend als ihr Gemahl. Wahrlich reinen Herzens. Gernot, sein Vater allein hatte sie soweit gebracht, mit seiner rücksichtlsosen Grausamkeit…Es hieß, der Geist ihrer Vorgängerin Andra wäre der Armen erschienen, in den Stallungen des Junkerguts, hätte ihr Vorhaltungen gemacht, dass sie, die Kinderlose, für eine Jüngere, Schönere, von Tsa Gesegnete den Kopf hatte hinhalten müssen – buchstäblich, vor dem Henker in Wehrheim, unter fadenscheiniger Anklage des Ehebruchs.
Daraufhin hätte das zartbesaitete Jungferlein den Geist zu Boron gesandt. Aber das war eine Lüge. Die Bohlenburger Hexe war wegen ihrer schwarzen Kunst enthauptet und verbrannt worden, mit der sie versucht hatte, ihrem Gemahl doch noch einen Erben zu gebären. Mit der Milch von Wölfinnen hatte es angefangen, dann hatte sie weitaus abscheulichere Tränklein und Rituale folgen lassen. Andra, die Kaufmannstochter, war vielleicht gerade nicht zu Gernots übergroßer Trauer, aber doch ohne sein besonderes Zutun gestorben. Nur der Leuteschinder, der war das blühende Leben selbst bis zum heutigen Tag. Leider. . .
Wer konnte schon sagen, was für ein böser Geist genau da der unglücklichen Jungfer Cecilia da erschienen war – und wer ihn geschickt hatte. Frauen in den Wahnsinn zu treiben war eine Spezialität von Papa. So hatte er sich schließlich auch die Baronswürde von Friedwang erschlichen.
Oh, wie ich ihn hasse…
Friedwang war ein finsterer Abgrund, ein übelriechender Sumpf aus Frevel, Betrug und Verbrechen – seine Bewohner waren zutiefst korrumpiert, heillos verdorben, abgrundtief schlecht. Dennoch taten sie alle, als würden sie die Gebote der Zwölfgötter hochhalten…Sein Vater zuvörderst.
Serwa von Baernfarn. Fast hatte die arglose, hübsche Gallyserin ihm Leid getan, damals vor sieben Jahren, bei ihrer Hochzeit auf Burg Friedstein. Auch wenn er nicht wirklich gewusst hatte, was genau der Plan seines Vaters mit Mutters Nachfolgerin gewesen war – schon damals war in ihm der Wunsch aufgestiegen, Serwa vor seiner Bigotterie und Ruchlosigkeit zu beschützen. Andererseits verdiente sie es natürlich, bestraft zu werden –allein dafür, dass sie es gewagt hatte, an die Stelle seiner über alles geliebten Mutter zu treten.
Gernot, der Mann, den er Vater nannte, dieses bigotte, heuchlerische Schwein…Vermutlich hatte er Serwa, seine dritte Frau, sogar geliebt, auf seine Weise, wie ein Kind ein Spielzeug, das es nach Gutdünken zerbrechen konnte. Ein Grund mehr, sie ihm wegzunehmen.
Es gab nur einen Gott, der keine Lippenbekenntnisse und Scheinheiligkeit duldete, bei dem es keine doppelte Moral gab, weil er gar nicht erst Moral predigte. Der gnadenloser als Praios, kühner als Rondra, wissender als Hesinde, wilkürlicher als Efferd, hinterlistiger als Phex, vernichtender als Boron, wandelbarer als Tsa, großzügiger als Ingerimm, erfüllender als Rahja, beschützender als Travia, fruchtbringender als Peraine und unerbittlicher als Firun war. Der im Grunde alle Eigenschaften seiner schwächeren Nachgeborenen in höchster Vollendung auf sich vereinigte.
Zum wahren Herrn der Götter hatte er im Oppsteiner Kerker gefunden, dank Merwan, durch den er hernach aus der Gefangenschaft befreit worden war. Schwer zu sagen, warum ihn sein intrigante Schwiegervater, Baron Redenhardt, überhaupt ins Verlies hatte werfen und anschließend für tot erklären lassen. Vermutlich, weil Redenhardts Schwesterchen Ismena allein über die Güter Gießenborn, Rübenscholl und Prähnskaten herrschen sollte, ohne ihm, ihren Gemahl. Gerüchte besagten allerdings auch, das der damalige Kanzler Herdmund von Weißenkohl hinter der Intrige gesteckt hatte. Offenbar hatte der seinen eigenen Sohn Berschin mit der Jungfer verehelichen wollen – und den Oppsteiner mit dem Inhalt von Gernots Notizbüchlein erpressen können.
Der ehrenwehrte Redenhardt von Oppstein, heute war er Stadtherr von Rommilys. Dieser Hundsfott…Und Berschin von Weißenkohl, sein geliebter Berschin – der hatte ihn schmählich verraten…Mit diesem Schreiberling Hal herumgetändelt, kaum dass er selbst zum Barönlichen Kanzler aufgestiegen war. Nun, Golo hatte sie beide für diese Anmaßung büßen lassen.
Serwa-Golo lächelte grausam. Wer den Sumpf trocken legen will, darf sich um das Gequake von Fröschen nicht scheren. Er war der Sohn einer Schnattermoor-Bregelsaum, konnte sogar eine flüchtige Affäre mit Herzog Timor Firdayon von Neetha vorweisen. Er hatte dazu gelernt.
Mittlerweile war er mit dem Unaussprechliche selbst im Bunde, sogar Anführer seines bedeutendsten Zirkels in der Südsichel.
Nur in den Augen seines Vaters, da hatte er versagt – auch in Serwas Gestalt. Weder hatte er es fertig gebracht, die Gallyser Fluchtburg Edorlys niederzubrennen noch das Bild zu stehlen, dass Alriks wahre Abstammung bewies, wie sein Vater es ihm aufgetragen hatte. Gut, Zwietracht zwischen Hauptmann Weißentraut und den Firunsanbetern zu säen, das war nun wirklich keine Kunst gewesen. Ebensowenig, dem selbsternannten Baron Weißentraut weiß zumachen, dass Veneficus nach einem erfolgreichen Sturm auf Gallys Verrat üben würde. Der Answinist war dem Baernfarn scheinbar zuvor gekommen und wiederum dem einstigen Gallyser Statthalter in den Rücken gefallen.
Eine kleine Fingerübung, mehr nicht. Gernot brauchte gar nicht zu wissen, was sein Sohn wusste – dass der Herrscher der Herrscher, der Götterkaiser selbst, zwar eine vorübergehende Schwächung, aber ansonsten ein Fortbestehen (und längerfristig sogar die Stärkung) des Hauses Baernfarn wünschte. Weil dessen Oberhaupt Veneficus von Baernfarn ebenfalls ein schreckliches Geheimnis umgab, dass ihm, Golo, in einer Vision zuteil geworden war. Sollte sein Vater ihn ruhig für einen erbärmlichen Dauerversager halten. Wichtiger war, dass Serwa, die wahre Erstgeborene der beiden Geschwister, für immer von der Herrschaft über ihre Familie ausgeschlossen blieb. Und dass Golo in dieser Gestalt Veneficus seiner wahren Bestimmung näher bringen konnte. Wenn der Magier nicht einmal mehr seiner eigenen Zwillingsschwester vertraute, wem dann? Gerade deswegen durfte Golo ihm keinen Anlass zu Misstrauen geben.
Dennoch, er hatte den eigenwilligen Leib dieses Hexenweibs unterschätzt. Er vermochte diesem Gefängnis auch nicht mehr ohne weiteres zu entkommen, dass spürte er. Nicht einmal töten wurde er sie können.
Es würde grauenhaft werden, sollte ihr Geist wieder neben dem seinigen erwachen und mit Macht zurückfordern, was ihr gestohlen worden war.
Einmal, im Lager der Artemareiter, wäre es fast soweit gewesen. Er hätte sie nicht vor dem Feld-Altar des Firun niederknien und stumm beten lassen dürfen. Die Macht des Hausgottes der Familie Baernfarn hatte ihren Geist schlagartig in den Leib zurückehren lassen. Mit der Geschwindigkeit des Schneesturms, der sich draußen in der Heide zusammengebraut hatte.
Zuckend war er zu Boden gefallen, gemartert von Gedanken, die nicht die seinigen gewesen waren.
Veneficus wird dich aus mir austreiben, wie einen Dämon. Du wirst vergehen und nie wiederkehren, Golo.
Nein. I c h selbst werde dich vernichten, wie eine Frau, die ein ungewolltes Kind in sich auslöscht. Oder ein Tier, das Besitz vom Geist eines Zauberers ergreift, der ihm seine Gestalt gestohlen hat.
Du wirst für den Rest m e i n e s Lebens Serwa sein, verstehst Du? Mein Wille ist stärker als der deinige, denn dies ist nach dem Willen der Götter m e i n Körper. Ich werde deine Seele zu einem bloßen Nichts zerfallen lassen. Dich für deinen Frevel strafen, Golo…Firun wird dich strafen. Die guten Götter werden dich strafen!
Dieser Ausbruch eines fremden Willens allein hatte ihm den Rest gegeben. Vor allem das laute, triumphierende Frauenlachen, das erst in „seinem“ Kopf und dann aus ihrem Mund erklungen war. Es gab nichts Schlimmeres, als wenn Frauen einen Mann auslachten und verspotteten. Wenn er sich als Versager fühlen musste.
Nur gut, dass er als „Gardistin Arwes“ ein Schweigegelübde vorgetäuscht hatte. Sollten seine „Gefährten“ ruhig glauben, Firun selbst hätte ihr eine Vision gesandt….oder den Verstand geraubt. Die wirren Laute, die aus Serwas Mund gedrungen waren, hatte nicht einmal er selbst zu deuten vermocht.
Er hatte es gerade noch fertig gebracht einige Fuder Heu und Stroh anzuzünden, Futter für die Pferde. Kein allzu vernichtender Schlag, aber im anbrechenden Winter durchaus schmerzhaft für die Kämpfer der Baernfarn. Um zuhause, auf dem Friedstein, etwas vorweisen zu können. In besinnungsloser Panik war Golo noch in der gleichen Nacht zurück nach Friedwang geritten, auf der Flucht vor Serwa im Leib und dem Gallysard im Rücken.
Erst im Heiligtum des Allerhöchsten hatte er sich, die goldenen Maske in Händen, wieder beruhigt. Nun, der Gedanken-Aufschrei war vielleicht doch nur das jähe, verzweifelte Aufbäumen einer Gefesselten gewesen, er hatte sich von blinder Panik übermannen lassen. Vor allem war der Herrscher der Herrscher mit ihm…Mit ihm in ihr. Die Baernfarn war es, die hier ihre Kräfte überschätzte, nicht er.
Die Schmähungen seines Vaters ob des kümmerlichen Scheiterns in Gallys– nun, so etwas hatte er ein Leben lang zu ertragen gelernt. Auch wenn sie ihn immer noch heftig trafen wie die gleißend schmerzenden Peitschenhiebe, von denen sie begleitet worden waren.
Du solltest Edorlys niederbrennen, nicht irgendein klägliches Strohfeuer entfachen, du Kretin. Das Bild, wo hast du das Bild? Ist das alles, was du mit deiner Anmaßung und Arroganz fertig bringst? Oleana ist blind mehr wert als du, schiefhalsiger Narr. Dann muss eben ein Gestaltwandler die Arbeit in Gallys erledigen, zu der du zu dumm bist. Verkriech dich im untersten Keller der Burg, lass deinen Tuntenleib die nächsten Wochen nicht mehr sehen, vor allem nicht in meiner Gegenwart. Hast du eigentlich nichts als peinlichen Irrwitz und selemische Unzucht im Kopf, du kranker Versager?
Der Junker seufzte. Ein Spielzeug, ein Kuriosum, das war er auch schon in seinem früheren Leib für diesen ergrauten, pervalischen Tyrannen gewesen. Eines Tages würde er sich rächen… Ihn zum Namenlosen schicken, der dem Alten in seinen selbstverliebten Machtspielen kaum mehr als eine bloße Garadanfigur galt. Ihm das Messer in sein schwarzes, kaltes Herz bohren.
Er würde…Nein.
Golo lenkte seine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Das Öl in der Lampe brannte nicht ewig. Er musste sich konzentrieren. Bloß nicht in völliger Dunkelheit hier unten stehen, allein mit einer Leiche. Wie damals, als…
Golo wimmerte bei dem Gedanken wie ein kleines Kind. Erneut ein schwindelerregender Anflug von Panik. Der Mann in Frauengestalt taumelte.
Der Namenlose…der All-Eine…ER allein konnte ihn vor all dem Grauen und Finsternis beschützen. Weil ER das Grauen und die Finsternis war…
Der Junker gluckste zufrieden. Na also. Die Fliege, die nicht erschlagen werden will, muss sich einfach auf die Fliegenklatsche setzen. Er musste lediglich eins werden mit dem Grauen um sich herum, um es zu ertragen. Fürchte dich nicht. Sei Furcht erregend. So hatte es Merwan ihm gelehrt.
Der Friedwang-Glimmerdieck blickte in den sehr grob, völlig ungleichmäßig und irgendwie kantig gehauenen Stollen, der ihn mehr an den Fraßgang irgendeines grotesken Riesenwurms als an Menschenwerk erinnerte.
Das matt glitzernde Schiefergestein verströmte eine trockene Wärme. Wäre es außerhalb des Lichstscheins der Öllaterne nicht derart finster gewesen, und der Gang nicht grabähnlich eng, man hätte sich hier unten eigentlich ganz behaglich fühlen können.
Das musste bereits das chaotische Ganggewirr unterhalb der Burg sein. Nur mit eingezogenem Kopf, nach vorne gebeugt würde er weiter vorwärts gelangen. Einige der Herzschläge Serwas lang kämpfte er mit seiner entsetzlichsten Feindin, der Raumangst. Seitdem er damals im Oppsteiner Kerker geschmachtet hatte, das Gesicht unter einer eisernen Maske verborgen, hasste er Ausflüge unter die Erde. Hasste und fürchtete sie gleichermaßen. Sein Vater musste das wissen, dieser pervalische Tyrann.
Das ständige Hachen des eigenen Atems gegen Metall. Das eingeengte Gesichtsfeld. Dunkelheit, modrige, stinkende Dunkelheit. Luft, das Gefühl, nie genügend Luft zu bekommen. Und immer wieder dieser rasselnde, an rostig riechendem Eisen vorbeiziehende Atem. Der eigene Atem, der einem langsam den Verstand raubte, verrückt werden ließ. Haare, unter dieser stickigen Haube wuchernde, juckende, schwitzende Haare. Allein mit wuselnden, durch fauliges Stroh raschelnden Ratten. Eingesperrt nicht nur in einem Kerker, sondern auch in sich selbst. Lebendig begraben in sich selbst. Glühende Augen, die in die Finsternis starrten. Anfälle von panischer Verzweiflung, mit dem er gegen die Wand rannte, die nichts weiter als dröhnende Qual, lächerliches Scheppern und eine weitere kleine Delle in der Maske bewirkten. Tränen, die niemand mehr sah, heulende Schreie, die keiner mehr hörte. Der hachende, pfeifende Atem, der stetig durch das Mundloch strich…
Einen Moment lang hatte er vergessen zu atmen. Serwa taumelte, sog pfeifend die Luft ein.
Genug, er durfte nicht mehr daran denken, sich dieser Erinnerung nicht mehr hingegeben - sonst würde er wirklich noch wahnsinnig werden. Golo kicherte und gluckste überdreht, führte ein plapperndes, sinnloses Selbstgespräch.
„Das wollen wir nicht, nein, das wollen wir überhaupt nicht. Nicht wahr, Golo? Verrückt werden. Oder was meinst du dazu, Serwa?“
Wie mattes, halb ersticktes Gemurmel hallten die Worte von den Wänden wieder. Serwa…Serwa war jetzt seine Maske. Eine schöne, lebende, warme und weiche Maske aus Fleisch und Blut. Eine Heimstatt für seinen nichtsstofflichen Leib.
Wie war er eigentlich zu dem geworden, was er jetzt war? Ein Nachtmahr, ein wandelnder Alptraum… Golo konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Merwan hatte irgendetwas von einer Initiation erzählt, während der Namenlosen Tage, aber er vermochte sich einfach nicht mehr daran zu erinnern. Vermutlich war es auch besser so. Nur, dass das Ritual unter der Erde stattgefunden haben musste, das ahnte er noch. Merwan, sein wahrer Vater. Er hatte ihn bewundert, den viele Jahrhunderte alten Erzvampir geliebt, wie ein vom Leben gepeinigter Mensch den Tod liebte.
Liebe den Tod. Fürchte ihn nicht – bringe ihn…
Triumphales Gelächter.
Jetzt denk an deine Aufgabe. Sollte er den Toten einfach hier liegen lassen, zum Vermodern und als Fraß für Seine nimmersatten, unermüdlich herum huschenden Lieblinge?
Aber der Gestank würde rasch unerträglich werden und der Kadaver diesen Zugang zu den Geheimgängen blockieren. In irgendeinen Seitengang würde er ihn schon schieben müssen. Schieben, ja, schieben war eine gute Idee. Er zwängte sich an Hasso vorbei, versuchte ihn weiter in den Stollen hinein zu drücken. Nein, so wurde das nichts. Die Füße verkanteten sich, hemmten die Bewegung. Drehen, er musste die Leiche drehen. Mit den Füßen schieben wie einen Schubkarren. Mit einigem Hängen und Würgen gelang Golo-Serwa das Kunststück. Tatsächlich, der Nanduriat glitt und scharrte wie ein schlaffer, schwerer Sack über den Steinboden. Nun ihm noch die Arme auf der Brust verschränken…Das ging besser, als er gedacht hatte, zumal der Boden leicht abschüssig war.
Ein schwaches Wimmern. Der Gedanke an einen Geist ließ ihn den Atem stocken. Nein, das kam von unten, von der „Leiche“.
Was sollte das jetzt schon wieder? Im Schein der Laterne am Gürtel sah Golo, wie Hassos Augenlider flatterten. Nun entrang sich seinen blassen Lippen auch noch ein Stöhnen.
Was zum Namenlosen…Hatte Boronshändchen doch nicht ganze Arbeit geleistet! Der Junker ließ die Stiefel fallen, starrte Hasso ins bleiche Gesicht, fast schon empört ob der Unbotmäßigkeit des Trüffelschweins…Dessen Hände verkrampfen sich gerade, tasteten beunruhigt um sich, fanden die kühl glitzernde Wand aus Schiefergestein.
Hasso lebte also noch?! Na und wenn schon. Dunkel lächelnd griff der Junker zum Zierdolch. Er hatte in Serwas Gestalt noch nie einen Menschen getötet, fiel ihm gerade ein. Zeit, das Versäumnis nachzuholen. Die Ochsenzunge glitt halb aus der Scheide. Wie sollte er dem Opfer den Rest geben? Die Kehle durchschneiden? Wie langweilig…Das kannte er von den Kultfeiern schon zur Genüge.
Kurzentschlossen schob er die Klinge wieder in die Scheide zurück. Er würde…Golo schluckte bei dem Gedanken vor Erregung…er würde Hasso erwürgen.
Irgendetwas wisperte in ihm. Er ließ sich davon nicht irritieren, kostete den Moment ganz aus.
Sanft, fast liebevoll schloss er Serwas Hände um den Hals des Verräters. Genau in dem Moment, als Hasso die Augen aufschlug, drückte er zu. Qualvoll keuchend starrte der Mann ihn an, klammerte sich an ihm fest, war aber zu schwach, um sich zu wehren.
Nein. Neeeeiiiin….
Ein Vibrieren, erst in den Fingern, dann in den Unterarmen.
Diese Hände werden niemanden töten. Sie gehören m i r…
Serwa. Musste das Miststück immer im genau falschen Moment Probleme bereiten?
Er versuchte die Kehle des wimmernden Mannes zu zu pressen, aber ihm fehlte die Kraft dazu. Nein, die Baernfarn verweigerte sie ihm.
Blödes Hexenweib. Früher hattest du doch auch nichts dagegen, wenn ein Mann in dir steckt.
Du wirst ihn nicht erwürgen. Das lasse ich nicht zu, bei Satuaria.
Die Arme zitterten, Zeige- und Mittelfinger beider Hände bogen sich zurück. Auch die Daumen glitten vom Hals ab. Golo wurde ächzend zurückgeschleudert, von einer urtümlichen Kraft, die nicht von außen kam.
Er prallte gegen bröckeliges Schiefergestein. Das Licht der Öllampe verlosch. Schlagartig herrschte Tintenschwärze um ihn herum. Serwas Mund schrie auf, aber es war Golo in ihr, der das Grauen empfand. Es war, als wolle ihn diese Dunkelheit ertränken wie nachtschwarzes Wasser.
Schwärze. Völlige Finsternis. Mit den Händen greifbar.
Fast glaubte er, jeden Quader Felsgestein über sich zu spüren. Auch Serwa, oder besser gesagt ihr Körper schien Furcht zu empfinden. Dessen Atem ging stoßweise und abgehackt. Das Herz schlug bis zum Hals. Ein wimmerndes, panisches Quieken. Schweiß rann über das Gesicht.
Lebendig begraben…
Leises Husten und Stöhnen verriet, dass Hasso immer mehr zu sich kam.
Ruhig, ruhig Blut. Du bist schon ein Geist. Geister kann man nicht lebendig einmauern.
Na also. Er war wieder Herr seiner Gedanken. Nach einer Weile hatte Golo seinen zierlichen Frauenleib unter Kontrolle. Er tastete sich an die Stelle vor, wo er den Nanduriaten vermutete – um sein Werk zu vollenden. Aber da war nichts. Verdammt. War sein Gegner davon gekrochen? Oder lauerte er irgendwo in diesem wabernden Nichts? Er zog die Ochsenzunge hervor, lauschte, witterte, aber da war nichts, nur Schwärze
Licht, er brauchte Licht. Er zog sich etwas Richtung Treppe zurück, steckte die Klinge weg und griff nach dem Beutelchen mit Feuerstein, Stahlring und Zunderdose am Gürtel.
Nervös schlug er mit dem Stahl gegen den Feuerstein. Funken sprühten. Die Finger zitterten. Vor Aufregung ließ er den Stein fallen. Einige bange Momente lang kämpfte er mit Panik, bevor er das Werkzeug wieder ertastet hatte. Noch einige Schläge, dann glimmte der Zunder auf. Er zündete den Docht der Lampe an, eine Scheibe war zersprungen. Gleichmäßiger Lichtschein verbreitete sich um ihn herum. Tatsächlich, Hasso war getürmt. Immerhin, undeutliche Schlieren im Staub wiesen den Weg.
Golo tastete sich die Wände entlang, hin und her gerissen zwischen eisiger, kindlicher Furcht auf der einen und dem Wunsch, sein Opfer zur Strecke zu bringen, auf der anderen Seite. Wie eine zweibeinige Ratte huschte er weiter, spürte den kühlen Luftzug im Gesicht. Dann blieb er stehen, lauschte. Da vorne, schlurfende, sehr unsichere Schritte – und etwas, das wie ein verzweifeltes Seufzen klang. Der arme Hasso, der musste sich ja blind im Dunklen vorwärtstasten…das verschaffte ihm einen Vorteil. Andererseits hieß es, dass der Paktierer schon früher hier unten herumgeschlichen war, auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Außerdem hatte der Gejagte beide Hände frei, während Golo leuchten musste.
Ein Gang zweigte nach links ab, noch niedriger als der erste. Knirschen bewies, dass Hasso dort hinein geflohen war, statt dem krummen Hauptgang zu folgen. Golo bückte sich und quetschte sich hinein, versuchte, einmal nicht an seine Raumangst zu denken. Dennoch, der Gedanke an die vielen Quader Felsgestein über ihn ließ ihm schummrig werden.
Auch die gebückte Haltung wurde langsam unangenehm, schmerzhaft unangenehm. Einzelne Steinbrocken lagen auf dem Boden, die Decke war ziemlich bröckelig. Immer wieder schauerten und klackerten kleine Steinchen herab. Risse in der Wand. Dieser Gang hier schien schon ziemlich alt zu sein. Er hoffte, sein Wild in die Enge zu treiben – vielleicht war das hier ja eine Sackgasse. Aber der stete Luftzug ließ auf das Gegenteil schließen. Er robbte über die Trümmer. Steinsaub rieselte ihm in die Augen. Fluchen. Klackklackerack. Das kam von unten, den Steinen. Die Gelenke schmerzten.
Der Gang mündete dem Namenlosen sei Dank wieder in einen größeren Stollen, der teilweise sogar mit Balken abgestützt war. Golo kannte die alte Geschichte, wonach das offenbar völlig sinnlose Ganggewirr im Friedstein das Werk von Wühlschraten sein sollte.
Wohin jetzt? Nach links ging es nur einige Schritt weiter, dann versperrte ein umgekippter, halb eingeknickter Balken den Weg. Das Ganze sah ziemlich einsturzgefährdet aus, unwahrscheinlich, dass sich ein Mensch auf der Flucht hier hindurch zwängte. Also nach rechts. Eine Nische im Schatten. Mit gezücktem Dolch sprang Golo hinein – kein Hasso.
„Hasso, wo bist du?“ Wie murmelndes Wasser hallten seine Worte von den Wänden wieder. Der Boden war bedeckt mit Schutt. „Mein liebes Hassolein, du entkommst mir nicht. Ich habe Licht, du tappst völlig im Dunklen…Warum also deine Qualen unnötig verlängern?“
Und die meinigen, dachte Golo, während er über eine kleine Steinhalde stieg. Er fühlte sie hier unten wie in einer einzigen grausamen Menschen-Falle. Er blickte zu Boden, um nicht an die Last über der Decke erinnert zu werden, aber das dadurch eingeengte Gesichtsfeld ließ ihn erst recht nervös werden. Also besser stur gerade aus blicken. Obwohl er langsam gegangen war, war sein Gesicht schweißüberströmt, der Atem ging stockend, das Herz raste.
„Hasso, warte auf mich.“ Seine geborgte Frauenstimme klang belegt, fast flehentlich. „Na komm schon, sei ein anständiger Verlierer, du Feigling…“ Eine jähe Biegung. Er sicherte mit dem vorgereckten Dolch. Gut möglich, dass sein Gegner einen Verzweiflungsangriff wagen würde, aber nichts dergleichen geschah. Schließlich sah er ihn. Der Zholvar-Paktierer lehnte vor ihm an der Wand, in nicht einmal drei Schritt Entfernung – totenbleich, körperlich wie nervlich am Ende. Boronshändchen hatte dem Mann tüchtig zugesetzt.
„So ists recht. Sehr schön…“ Golo sprach, als wolle er ein durchgegangenes Pferd beruhigen und wieder einfangen.
Hasso hob seine rechte Hand, zeigte ihm einen schweren Stein, den er wohl als „Waffe“ aufgelesen hatte. Offenbar wollte er sich wirklich zum Kampf stellen.
Golo zwang Serwa zu einem Lächeln.
„Lass den Unsinn. Ich verspreche dir, dass du nicht lange lei….“
Sein Tritt ging ins Leere. Das letzte, was er sah, war Hassos höhnisches Grinsen. Verdammter Hinterhalt.
Er fiel in ein tiefes Loch, in ein verdammt tiefes Loch und ließ schreiend die Lampe fallen, die mit einem Klirren verlosch. Er rempelte hart gegen Gestein, aber es war ja zum Glück Serwas Körper, der hier litt. Dann blieb ihr Leib für einen Moment stecken, bevor unter dem Gewicht weiteres Schiefergestein abbröckelte. Wieder ein langer Sturz. Er versuchte sich an der Wand abzufangen – irgendwo musste hier doch eine sein, riss aber nur Serwas Handflächen auf. Etwas Weiches, Seidiges strich über ihr Gesicht, dann krachte er mit den Stiefeln voran in morsches Holz. Er kippte zur Seite, fiel aber erneut weich, fast schon wie in ein Seidenbett. Steinchen klackerten von oben auf ihn herab, hüpften hörbar neben ihn über den Boden. Hin und wieder klang es auch hohl, als stünden hier überall Holzkisten herum. Der Lärm steigerte sich zu einem Rumpeln und Donnern, bevor er einfach abbrach.
Der Schreck allein ließ ihn für einen Moment benommen liegen bleiben. Die Staubwolke war zu spüren und zu schmecken, aber nicht zu sehen.
Dann rappelte er sich auf, bis er auf alle Viere kam, wieder einmal allein im völligen Dunklen. Immerhin, das „Loch“ schien geräumig zu sein, kein weiterer Gang, eher ein großer Raum. Er tastete über den Boden. Es roch muffig. Etwas Längliches scharrte unter seinem Griff davon.
Dann ertastete er etwas Rundes, Kugelähnliches, Glattes, das sich im ersten Moment wie ein kleiner Tonkrug anfühlte. Aber nein, es hatte Löcher, zwei große oben, einen länglichen Schlitz in der Mitte, war hohl …und, und hatte unten etwas Scharfkantiges, eine unregelmäßige Reihe kleiner Vierecke.
Keine Splitter…eher Zähne…Golo keuchte und zog seine Finger zurück. Erneut griff er nach dem Zunderbeutel. Diesmal ging es mit dem Anzünden etwas schneller. Schon nach wenigen Herzschlägen starrte er in einen vergilbt-bräunlichen Totenschädel.
„Du scheinst beim Fallen weniger weich gelandet zu sein, mein Freund.“ Golo grinste. Dann begriff er.
Ein Grab…das hier unten ist ein Grab…aber nicht mein Grab…das nicht, beim Herrscher der Herrscher… Als Geist hatte er nichts zu befürchten. Im schlimmsten Fall würde eben Serwa hier unten vermodern.
Golo befahl ihren Körper aufzustehen, der bis auf ein paar Schrammen und Kratzer unverletzt zu sein schien. Vorsichtig leuchte der Junker mit dem zart flammenden Zunderschwamm um sich.
Er befand sich in einem Kreuzrippengewölbe. Überall erblickte er in seidig glänzende Spinnweben eingehüllte Sarkophage und morsche Särge. Auf einem war Serwas Leib ganz offenkundig gelandet, der Deckel war zersplittert, der seitliche Rahmen aufgebrochen, einzelne Rippenbögen starrten hervor. Darüber klaffte ein Riss in der Decke, der Boden war bedeckt mit Steinen, teilweise vermutlich schon von einem früheren Einsturz. Vom Dolch fehlte jede Spur. Die Laterne lag neben dem Podest, sämtliches Glas war zersplittert, der metallene Rest zerbeult. Sie leckte etwas, ließ sich aber noch anzünden. Golo fluchte, als der fast völlig abgebrannte Zunder Serwas Finger versengte. Hastig ließ er ihn fallen. Er verglimmte wie ein Glühwürmchen in der Nacht. Das neu hinzugewonnene Licht enthüllte weitere schaurige Einzelheiten.
Hie und da ruhten verwitterte Steinfiguren auf den Grabplatten, Ritter oder Rittfrauen mit altertümlichen Kettenhemden, Wappenröcken und Helmen, die in ihrem ewigen Schlaf Schwerter umklammert hielten. Die Luft roch modrig und abgestanden, vermutlich tat sie das bereits seit dem Ende der Zeit der Klugen Kaiser.... Das hier musste die legendäre, nein, berüchtigte Honaldgruft sein, in denen die Leichname der Baronsfamilie, älteren Hauses, vermoderten. Tief unten im Berg, in Sumus Leib hatte man sie immer vermutet, angeblich aus Gründen der Sokramorverehrung dort angelegt, wahrscheinlich aber, weil man aus Platzmangel weit in die Tiefe graben musste. Das Ganggewirr über seinem Kopf war ja älter als die Burg.
Als der erste Priesterkaiser Aldec an die Macht gekommen war, hatte man angeblich diejenigen unter den Gardisten Baron Oswins, die sich nicht - wie ihr Herr - vom Rondraglauben abwenden wollten, hier unten eingesperrt. Genauer gesagt: Bei lebendigem Leib eingemauert und in der Finsternis verrecken lassen. Verhungern, verdursten, ersticken lassen, was auch immer. Die bräunlichen Knochen und Schädel, die zwischen verrotteten Resten von Kleidung und Stiefeln umher lagen, redeten eine deutliche Sprache. Die uralte Schauermär war wahr…
Ein wohliger Grusel durchfuhr Golos gestohlenen Leib. Manchmal waren ihm die Praioten fast schon wieder sympathisch. Vor allem die blinden, fanatischen Eiferer unter ihnen. Niemand wusste seither, wo sich der verborgene Zugang zur Krypta befand. Es gab Gerüchte, wonach hier unten Sokramur´kra hausen sollte, „Sokramors Tochter“, eine riesige Spinne, denen die Anhänger der Alten, die geheime Wege hierher kannten, regelmäßig Opfer brachten. Menschenopfer….
Auch an diesem Gerücht war wohl etwas daran, wie regelrechte Vorhänge und Tapisserien aus Spinnennetzen bezeugten. Dennoch, sie waren weißlich und filzig, also bereits uralt, was ihn dann doch beruhigte. Vor allem deutete ihr Vorhandensein darauf hin, dass es hier irgendwo noch einen Ausgang gab, den von irgendetwas musste die gute Sokramur´kra ja leben. Golo vermutete sogar, dass es sich bei ihr um keine echte Höhlenspinne handelte, sondern dass sie mit der Waldspinne identisch war, die gelegentlich am Friedstein gesichtet wurde. Auf den Hangweiden und im Bergwald, wo ihren giftigen Kiefern hin und wieder einmal Vieh oder Wildtiere zum Opfer fielen.
Er wandte sich der anderen Hälfte des Gewölbes zu, das ziemlich geräumig wirkte. Sie war leer. Offenbar hatten die Erbauer noch reichlich Platz für weitere Tote gelassen. Golo schritt darauf zu, irritiert, dass die Schwärze auf dem Boden selbst dann nicht weichen wollte, als er die Laterne darüber hielt (während sich ihr Schein im belegten Teil der Krpyta rötlich auf dem Schiefergestein widerspiegelte). Als Steinchen unter seinem Schuh wegbröckelten und ins Nichts klackerten, blieb er erschrocken stehen. Größere Trümmerteile brachen weg, rumpelten, kollerten schwerfällig davon. Hastig wich er zurück. Ihm schwindelte.
Ein Krater…. Er stand erneut vor einem Loch, einem riesigen, kreisrunden Abgrund, der fast den ganzen Hallenboden ausfüllte, umrahmt von hochgedrückten Schieferplatten und kleinerem Auswurf. Regelrecht herausgesprengt, von einer urtümlichen Gewalt, die sich offenbar von unten, aus der Tiefe, in die Gruft gebohrt hatte. Risse führten von dort weg, mäanderten über den Fels, wie Spalten in einer Eisscholle. Das Klackklacklack und Tock-Tock-Tock der herabstürzenden oder rieselnden Steine nahm schier kein Ende. Das Geräusch wurde leiser, vereebte, aber brach nicht ab. Der Schlund unter ihm schien überhaupt keinen Grund und Boden zu haben…
Es war wieder stockfinstere Nacht. Hasso ließ grinsend den nutzlos gewordenen Stein fallen. Dann schlug er sich mit der Faust in die linke Handfläche und spuckte aus. Gut, sehr gut – diese Irre mit dem Skorpion-Tick war er los. Verfluchte Baernfarn-Hexe, hoffentlich hatte sie sich beim Sturz das Genick gebrochen. Er tastete sich vorsichtig weiter, versuchte mit den Fußspitzen jede Unebenheit im Boden auszuloten. Hatte gerade eben wieder unverschämtes Schwein gehabt, bei den Klauenfingern des Gierigen Feilschers – wäre nicht im letzten Moment der Lichtkegel von Serwas Laterne hinter ihm aufgetaucht, er wäre selbst geradwegs in die Fallgrube getappt. So aber hatte er sich vorbeischleichen und als Köder am anderen Ende platzieren können.
Zholvar sei Dank hatte er keine Angst, in lichtlosen Stollen herumzukrauchen. Die Enge hatte auch ihr Gutes, man konnte sich regelrecht an den Wänden entlang hangeln. Er tastete sich leise summend voran, wurde mutiger, brummte schließlich zittrig und heiser die Melodie vom Fetten Balkha´Bul auf vollen Säcken.
„Eine fette Kröte…auf zehntausend Kröten…du hast ein Schwert…doch du kannst sie nicht töten…“ Ebenso leise wie schräg hallte sein Gesang von den Wänden wieder. „Ein Schaaatz, zehntausend Duckern wert…doch sie geh´n ihr nicht flöten. Denn das ist Balkha´Bul, der fette Balkha´bul, auf vollen Säcken. Es glitzert das Gold…an allen Enden und Ecken…doch ist das Glück dir nicht hold…denn dort sitzt Balkha´Bhul, der fette Balkha´Bul…auf vollen Säcken…“
Er brach ab. Nein, es war ein schlechtes Omen, in dieser Finsternis von Unglück und einem gehörnten Wächterdämon zu singen. Hasso kannte sich leidlich aus hier unten, hatte lange genug Hinweise auf den Schatz im Friedstein gesucht – allerdings vergeblich. Es war eine Investition in die Zukunft gewesen, die Wege nicht mit Kreide zu markieren, sondern Kerben in die Wände zu kratzen. Gerade eben ertasteten seine (Dank Tasfaralels Geschenk) äußerst feinfühligen Finger ein solches Zeichen. Führwahr, er hatte nicht nur ein Händchen für Goldmünzen und andere Wertsachen…
Ein Pfeil, darunter zwei Einritzungen mit zwei Querstrichen – das bedeutete, der Gang führte geradewegs in den Barönlichen Kerker. Den Zinken hatte er selbst angebracht. Einen Moment lang war er irritiert, denn als er das letzte Mal hier entlang gekraucht war, hatte es das Loch im Boden noch nicht gegeben.
Im Grunde hätte es des Wegweisers aber gar nicht gebraucht, der Gestank allein wies ihm den Weg. Schließlich ertasteten seine Hände eine kompakte, rostige Gittertür, die sich, halb geöffnet, nicht weiter aufdrücken ließ. Aber man konnte sich gut daran vorbeischlängeln. Das hier war das sogenannte Alte Verlies, in dem schon lange niemand mehr eingesperrt wurde (auch wenn man es offenkundig erst später als den heutigen Kerker angelegt hatte). Aus dem schlichten Grund, dass die Holztreppe, die hier herab führte, verrottet, unter ihrem eigenen Gewicht zusammen gebrochen und seitdem nicht mehr erneuert worden war. Die Luke stand zum Glück offen, unstetetes Fackellicht drang herein. Morsche, von rostigen Eisenbändern zusammengehaltene Türen hingen in den Angeln, fauliges Stroh und Unrat bedeckte den Boden. Überall wucherten fahl leuchtende Schleimpilze.
Es war ein offenes Geheimnis, dass die Kerkerwächter die „Grube“ benutzten, um Müll, aber auch die Notdurft der Gefangenen (einschließlich ihrer eigenen) zu entsorgen. Offenkundig war dies erst vor kurzem geschehen, denn es stank wirklich bestialisch – und die Luke hätte eigentlich nicht geöffnet sein dürfen.
Angewidert schob er ein lidschäftiges Faß, das irgendjemand ebenfalls hier herunter geworfen hatte, in die Mitte des Raums. Vorsichtig balancierend – das Ding wackelte niederhöllisch - trat er auf das mürbe, glitschige Holz und stemmte sich dann durch die Öffnung in der Decke nach oben. Es gelang ihm erst im dritten Versuch. Das verfluchte Gift hatte ihn doch geschwächt.
Er folgte einen kurzen Gang in die Folterkammer, von dem Abzweigungen in die einzelnen Zellen führten. Martergeräte standen herum: Eine Streckbank, Warunker Stiefel, eine Eiserne Jungfrau, rostige Handschellen verzierten die Wände…Fackeln blakten und zischten, malten unruhige Schatten über das schmutzige Mauerwerk.
In ihrem unsteten Licht erkannte er einen puppenhaften Körper, der mit glasigen Augen gegen die Wand lehnte, wie ein Zecher nach einem Dutzend Bier. Aber nicht Gebrautes oder Gebranntes hatte den Mann in Lederrüstung zu Fall gebracht, sondern das hässliche, rötlich verschmierte Loch in seinem Hals. Im Zusammensinken hatte die Leiche eine ekle Blutspur an der Wand hinterlassen. Das Gesicht war weiß wie Schnee, mit bereits grauem Unterton. Auch der weißblaue Mantel war befleckt, mit der kraftlosen Rechten hielt der Büttel noch den Schwertgriff umklammert. Hasso trat mürrisch gegen einen Schemel, der umgestossen auf dem Boden lag.
Ein blutbesprenkeltes Tuch fand sich daneben, umgeben von Haaren. Hier war offenbar vor kurzem ein Barbier am Werk gewesen – mit ziemlich scharfer Klinge. Ratten, die sich an dem Leichnam zu schaffen gemacht hatten, wuselten ob des über den Boden rumpelnden Hockers auseinander. Tatsächlich, die Nase des Toten war angefressen, ebenso sein linkes Ohr.
Zholvar, steh mir bei…Der Paktierer keuchte und kniff die Augen zusammen. Was war hier los? Hatte die Bewohner dieser Burg allesamt der namenlose Wahnsinn ergriffen, dass sie sich gegenseitig abschlachteten? Sich in Rattenfraß verwandelten?
Und wenn schon, beim Gierigen Feilscher. Dann würde er eben auch seinen Anteil als Leichenfledderer einfordern. Er tastete nach der Geldkatze am Gürtel des Büttels und riss sie mit einem Ruck ab. Nicht gerade üppig gefüllt, aber Herr Zholvar freute sich über jeden Kreuzer…Und seine Reisekasse, wenn er ein für allemal diese Baronie von Bekloppten verlassen würde, Richtung Osten. Beiläufig ließ er das Beutelchen in seiner Tasche verschwinden. Dann fiel sein Blick auf die Eiserne Jungfrau, deren Tür fast vollständig geschlossen war, und ihn kühl zu mustern schien. Kühl, mürrisch und spröde. Trotz ihrers Namens bestand ihr Rock größtenteils aus Holz, war allerdings mit eisernen Bändern verstärkt – und eisernen Nägeln.
„Jungfrau? Dass ich nicht lache. Eiserne Schlampe, sollte man dich besser nennen…“ Hasso kicherte ob seiner eigenen Worte, dann sah er das rote Rinnsal, das von unten aus dem Kasten geflossen war und einzutrocknen begann…Eine verkrampfte Hand ragte aus einem Spalt in der Tür, als wolle sie ihm winken. Die Jungfer hatte sich bereits ein Opfer zur Brust genommen.
Hasso langte sich an den Hals. Baron Gernot hatte dieses wohl aus Al´Anfa stammende Mordinstrument angeschafft, wie es hieß, zur Bestrafung von Unfreien, die wiederholt mit der Zahlung der Abgaben in Verzug geraten waren…Burg Friedstein war wahrlich ein Ort des Wahnsinns…Dennoch, vielleicht verfügte auch der unbekannte Liebhaber des liebreizenden Jungferleins über Schmuck oder Bares. Unersättliche Gier besiegte seine Totenangst. Mit zitternden Fingern griff Hasso nach dem Deckel.
Ein herrisches Räuspern hieß ihn sich umdrehen.
„Kein schöner Anblick…“
Hasso ließ von der Eisernen Jungfer ab und wandte sich der verkrümmten, zottelhaarigen Frau in schmutzigen-derbem Kittel zu. Deren Gestank übertraf selbst noch den des Kerkers und die Worte, die sie gesprochen hatte, passten ebenso gut auf sie selbst. Ihre weißliche, von Schmutzschlieren überzogene Haut war schorfig, die Haare starrten vor Dreck, die trüben Augen waren dunkel umrandet. Man hätte sie, gebückt und hässlich, leicht für eine Vagabundin halten können, aber ihr Blick und die Stimme wirkten durchaus befehlsgewohnt. Besser gesagt, wirkte hier das Tretmühlen-Prinzip: Dieser Mensch war es gewohnt, sowohl nach oben zu buckeln und als auch kräftig nach unten zu treten. Der große, rasselnde Schlüssel an ihrer Seite wies die Frau, ebenso wie eine kurzstielige Peitsche im Gürtel, als Kerkermeisterin aus.
„Was ist hier geschehen?“ Hassos Blick fiel auf ein rotgefärbtes Kurzschwert, das neben der Eisernen Jungfrau lag. Eine schnelle Bewegung, und er hätte es an sich genommen. Andererseits wirkte die Frau mit ihrem heruntergekommenen Erscheinungsbild nicht sonderlich gefährlich – auch wenn er nicht etwa einen raschen Peitschenhieb riskieren wollte. Noch weniger, dass die Kerkermeisterin Wachen herbeirief. Erst einmal abwarten.
„Ein Unglück, es war ein Unglück“, jammerte die Alte (nun, eigentlich hätte der Paktierer nicht sagen können, wie alt seine Gegenüber war…wenn die Vettel es überhaupt selbst wusste).
„Wie? Dass du dem armen Kerl dort das Schwert in die Kehle gejagt hast?“ Hasso kicherte geringschätzig. „Er ist bestimmt gestolpert…na klar…Hör zu, das hier geht mich wirklich nichts an…Ich werde jetzt gehen…Einen schönen Tag noch, hehe…“
Er schlenderte einen Schritt Richtung Treppenaufgang, aber die Übelriechende stellte sich ihm in den Weg.
„Ich habe ihn nicht umgebracht. Alrik war ein guter Junge…“
Umwerfender Mundgeruch hachte dem Streuner ins Gesicht. Er verzog dennoch kaum eine Miene.
„Das andere, das war ein Unfall, Praios sei mein Zeuge. Die Eiserne Jungfer…“
„Was ist damit, Himmelherrgötterunddämonen?“
„Hast du hineingesehen? Du hast doch hineingesehen?“
„Gibt’s da denn was zu sehen?“ Aus irgendeinem Grund fühlte sich Hasso beunruhigt. Er hasste Situationen, die er nicht durchschaute, die aber bedrohlich zu sein schienen – so etwas zehrte schnell an den Nerven.
„Hör zu, ich hab keinen Streit mit dir…Ich will nur meines Weges gehen…“
Verdammt, er hätte doch das Schwert an sich nehmen sollen. Nun lag es in seinem Rücken.
„Wer bist du?“
„Griniguld.“ Die Frau mit dem zerstörten Gesicht lächelte, wenn auch etwas bemüht. „Die Grindige.“
„Jaja, ein hübscher Name. Ein schönes Leben noch…“
Er wollte an der Grindigen vorbeieilen, aber diese hielt ihn fest.
„Sprich nicht schlecht von mir. Einst war ich die Zofe Baronin Tsalindes und selbst keinesfalls aus geringem Hause, fürwahr.“
„Eine Rabenmund, oder was?“ Hasso lachte gehässig – auch die Kerkermeisterin schien sich von Aaas zu nähren, so wie sie aus der Gosche stank.
„Erspar mir den hohen Namen zu nennen, den ich durch meine Untaten besudelt habe. Aus ebenso noblem wie verarmten Wehrheimer Geschlecht. Da weiß man jeden Taler zu schätzen…Aber irgendwann schätzte ich das Geld höher als die eigene Abkunft, das war mein Fehler. Gernot bestach mich, die Tochter der Baronin mit einem Liebestrank zu verderben. Die arme Gunelde…Ich glaubte, dem jungen unerfahrenen Ding damit einen Gefallen zu tun, zumindest kein wirkliches Leid zu zu fügen. Um ihr Erbe habe ich sie damit gebracht.“
Hasso schüttelte den Kopf. Er hasste Verrückte, die glaubten, jedem Erstbesten die Geschichte ihres verpfuschten Lebens erzählen zu müssen. Eigentlich hatte er gar nicht zugehört, verstand ohnehin kaum ein Wort. Selber schuld…Als er selbst einmal ganz unten gewesen war, verarmt und völlig abgebrannt, damals in Gareth-Meilersgrund, da hatte er eben ein Bündnis mit dem Gierigen Feilscher geschlossen. Seitdem war es stetig voran gegangen, mit ihm und dem Umfang seines Dukatenbeutels…Jeder war eben seines Glückes Schmied.
„Lass mich endlich in Ruhe“, blaffte er. Es klang gemein und bieder zugleich. „Lass mich los und gib endlich den Weg frei. Ich denke, das ist nicht zuviel verlangt.“ Ungehalten schüttelte er den Kopf.
Die Grindige plapperte unbeeindruckt weiter, als spräche sie gar nicht mit ihm, sondern mit den überall herumhuschenden Ratten.
„Zur Bäuerin hab ich sie herabgewürdigt, zu einem Leben unter gemeinem Volk gezwungen, ein Leben, das ihr nicht vorherbestimmt und ihrer auch nicht würdig war. Es dauerte Jahre, bis ich den Mut fand, der Herrin alles zu gestehen. Ihr Urteil war überaus gerecht und milde, denn wie leicht hätte sie mich mit Schimpf und Schande davonjagen können. So aber wurde ich eine einfache Magd. Dass ich die elendesten Aufgaben übernahm, die Pferdeställe ebenso wie die Latrinen und Schweinekoben reinigte, nun, diese Bürde nahm ich freiwillig auf mich. Dann wurde Gernot Baron… Zu mir sagte er, ich hätte eine meisterliche Aufgabe verdient, nicht dieses entwürdigende Herumrutschen in Schlamm, Mist und Schweinekot. Einen Moment lang glaubte ich wirklich, er könne sich für meine Dienste erkenntlich zeigen. Was war ich doch für eine Närrin. Gernot erhob mich, die einst so stolze Zofe, zur Kerkermeisterin. Wahrlich eine meisterliche Aufgabe. Ein düsteres Dasein ohne Luft, Licht und Liebe, zwischen huschenden Ratten, den Schreien der Gefolterten und dem Stöhnen der lebendig Begrabenen. Gernot…Er hat soviel Unglück über die Menschen gebracht…Soviel Unheil angerichtet…“
Griniguld hielt kurz inne.
„Es war doch ein Unfall…“ sagte sie dann in leicht jammernden, leiernden Tonfall. „Er…er hat Alrik erschlagen, den Büttel…einfach so… Dann wollte er auch noch seine Leiche verstümmeln…Das konnte ich doch nicht zulassen. Alrik, Alrik war doch schwer in Ordnung…Ein guter Junge…Hat immer jedem Befehl gehorcht. Und Gernot hat ihn abgestochen…einfach so….Er wollte mir in seinem Zorn die Klinge ins Gesicht schlagen, aber ich bekam seine Hand im letzten Augenblick zu fassen. Wir rangen miteinander, er beschimpfte mich dabei auf das Unflätigste, dann stieß ich ihn mit aller Kraft zurück. Mit zuviel Kraft. Ja, es war nur ein Unfall, ganz bestimmt…“
Die Kerkermeisterin langte sich an die Stirn.
„Ich hatte erneut Pech. Er fiel rücklings…in die Eiserne Jungfrau. Nicht sehr arg, glaube ich, aber es war wohl sehr schmerzhaft. Er fluchte und schrie wie ein Fall für die Noioniten. Dass er mir die Augen zerschlitzen werde. Mich blenden. Das Rasiermesser hatte er ja noch in der Rechten, ich fürchtete seine Schärfe. Also habe ich den Deckel mit den Stacheln zugeschlagen. Ich schwöre es, ich wollte nur, dass er diese verfluchte Klinge fallen lässt. Stattdessen…“ Grinigulds Stimme klang weinerlich. „Du siehst das Ergebnis ja selbst…“
In beiden Händen hielt sie irgendeinen länglichen Gegenstand und schien ihn auswringen zu wollen, zumindest kam Hasso es so vor. „Ich wollte ihn nicht töten“, brach es unter Tränen aus der Kerkermeisterin hervor. „Er war doch mein Baron…ich habe doch immer gehorcht…“
“Tja nun, ich glaube, die Nachwelt wird ihn nicht sonderlich vermissen“, grinste Hasso, mit Blick auf die Jungfer. Gernot. Den alten Verräter hatte es also zerlöchert wie Warunker Käse? Schade…
„Was verstehts du schon davon?“ schrie das Grindkind unvermittelt. „So viele Jahre war ich Kerkermeisterin, und jetzt das! Hängen werden sie mich, wenn ich nicht flüchte….und wenn ich entkomme, werde ich elend verhungern. Wer hat denn Arbeit, Lohn und Brot für eine alte Vettel wie mich, die ihren Herrn umgebracht hat…?“
„Schade, schade. Das ist aber jetzt wirklich dein Problem, fürchte ich…“ Hasso riss sich los und wandte sich zur Treppe. Es wurde Zeit, aus diesem Noionitenspital, dieser düsteren Gruft hier zu verschwinden. Es gab genug Schleichwege aus der Burg, das wusste er von seinen (vergeblichen) Streifsuchen nach Oleanas Schatz.
„Ist es nicht“, sagte Griniguld hinter ihm leise. Etwas zu leise, um ungefährlich zu klingen. „Wenn es so aussehen würde, als hättest du ihn getötet…“, sagte die schmuddelige Frau, mehr zu sich selbst als zu dem Paktierer, der gerade nach oben entschwinden wollte.
Hasso lachte ungläubig in sich hinein und drehte sich um. „Was schwafelst du da?“
Dann sah er, wie Griniguld vor ihm das große, verflucht große und scharfe Rasiermesser auseinander klappte.
Erbleichend wich er zurück. „He, he…nun mach mal…“
Ein scharfer, schneller, katzenhafter Hieb zerteilte Hassos Hals und die Welt vor seinen Augen.
Neibhard Garafanion Eulenkuhl.
Der Prätor wiederholte in Gedanken feierlich den Amtsnamen, den er sich, gemäß einer freilich noch recht jungen Tradition, gegeben hatte. Andras Braniborian de Lyngwyne, Hergold Daradoriel von Lyngwyn, und nun . . . Neibhard Garafanion Eulenkuhl. Hochgeweihter der St. Alborans- und Gilborns-Siegesbasilika zu Marktfriedwang.
Fast schon ein bisschen stolz blickte er in den kleinen Spiegel an der weißgetünchten Wand der Sakristei. Honigfarbenes Licht glänzte auf dessen silberner, verschwommener Oberfläche, dank wohlriechender Kerzen, die auf mehreren Kandelabern staken. Er hatte wieder ein bisschen zugenommen, nach diesem dämonischen Winter, vor allem die Keuche und die Herzschwäche überlebt, die ihn in dieser schweren Zeit immer wieder aufs Krankenbett geworfen hatten. Versonnen strich er sich über den Gabelbart, die halblangen, weißen Haare. Ein wenig sah er tatsächlich aus wie sein großes, bewundertes Vorbild, der selige Lichtbote Jariel Heliodan. Das durfte er von sich behaupten.
Dennoch, für Stolz oder gar Hochmut war wahrlich kein Anlass. Der Prätor spürte an diesem Tag die Last seines Amtes so schwer wie selten zuvor. Der Göttervater prüfte ihn nicht, nein, er demütigte ihn geradezu, mit schier unlösbaren Aufgaben und Problemen. Geißelte ihn dafür, dass er aus reiner Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Geltungssucht nach dieser Würde gestrebt hatte – statt sie bescheiden, eifrig und duldsam anzunehmen wie ein Schlachtross den Sattel und das Zaumzeug seines Herrn.
Ich glaube, ich verstehe Dich nun, O Himmlischer Richter. Du hast diesen Fluch über uns gebracht, damit wir noch zu Lebzeiten Einblick erhalten in das Chaos der Niederhöllen. Überheblich haben wir Sterbliche geglaubt, dass uns Deine größten Geschenke, Ordnung, Herrschaft, Recht und Gesetz, auf immer zu Eigen sein würden. Welch gefährlicher Irrtum, welch lächerliche Anmaßung! Was Du uns schenkst, das gibst Du nach eigenem Gutdünken, und nimmst es auch wieder, wenn wir es nicht in Deinem heiligen Namen, zu Deinem Lobpreis, gebrauchen.
Ich danke Dir, O Götterfürst, für Deine milden Schläge, mit denen Du uns und das gesamte Reich zu Umkehr und Besinnung rufst. Denn alle derische Wirrnis ist nichts gegen das Grauen und die Qualen, welche jene verstockten Frevler in der Siebenten Sphäre erleiden müssen, die Deiner Herrlichkeit spotten. Fürwahr, die Buße der Reumütigen ist endlich, aber die Strafe der Verworfenen währt fort bis hin in alle Ewigkeit.
Doch halt. Verstand er IHN und seinen Plan wirklich oder verstieg er sich darin nicht bereits in eine erneute Anmaßung? Kam das hohe Amt ihm, dem Efferdinger Großbauernsohn, am Ende gar nicht zu? Ebenso wenig wie seinen Vorgängern - beide Fischersöhne und Ketzerkinder? Waren die beiden Brüder womöglich deswegen in so schneller Folge gen Alveran aufgestiegen, als Märtyrer voll Blut und Wunden? Wünschte der Höchste Richter einen würdigeren Hohepriester in seinem Tempel zu Marktfriedwang? Einen Geweihten adeliger Abkunft vielleicht? Oder zumindest einen Prätor, der nicht von Wankelmut und Selbstzweifeln gepeinigt wurde, wie er gerade?
Seine Finger zitterten, er fühlte sich auch körperlich schwach. Hastig wandt er sich zu dem mit weißen Leinen gedeckten Tisch um, dem Kredenz. Er entkorkte das Fläschchen, das dort neben einem halb gefüllten Zinnbecher stand. Süßer, weihrauchähnlicher Wohlgeruch stieg in seine Nase. Bedächtig tropfte der Hochgeweihte etwas von dem honigfarbenen Inhalt in den Wein. Er wusste, dass der nächste Schwächeanfall nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Es galt ihm beizeiten vorzubeugen. Die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten hatte er wohl von seinem Vater geerbt.
Bodar Eulenkuhl. Ein stiller, frommer Mann, zurückhaltend, nachgiebig, trotz seines Wohl- und Großbauernstandes. So wie sein Sohn es allzu oft im Leben war.
Eulenkuhl. Wie hatte er seinen Familiennamen als junger Geweihter gehasst, wegen des lichtscheuen, hinterlistigen Nachtschwärmers und Hexentiers darin! Aber auch hierin hatte ihn der Herr der Götter geprüft. Eulen gehörten zur Ordnung der Welt wie alle anderen Kreaturen auch, nur eben zu ihrer Nachtseite. Verfluchte Tiere, die zur Ausübung von Magie befähigt waren (allein der widersinnige Gedanke peinigte schon den Verstand!) waren hingegen die große Ausnahme, ein Verstoß bereits gegen das Gesetz der Natur. Wie hatte er sich einbilden können, nur aufgrund eines solchen Zufalles etwas Besonderes zu sein - wenn auch in einem ungünstigen Sinn? Eulenkuhl, so nannte sich ein schöner, alter Wald bei Zaberg, nichts weiter. Schlussendlich verhielten sich Eulen, die sich kuhlten, also nieder duckten, unterwürfig, was nur im Sinne des Allerhöchsten sein konnte. Wenn man „Kuhl“ nicht gleich als „Grab“ nahm: Eulenkuhl - Hexengrab? Letzteres meinte im Friedwängischen den Scheiterhaufen, was durchaus wieder praiosgefällig klang. In PRAios Lichte kam es eben immer auf den richtigen Blickwinkel an.
Nein, Neibhard durfte nicht hadern. Seine Vorgänger waren alle beide mit dem Familien-Namen „Windschiefen“ gestraft worden – und hatten dennoch (oder gerade deswegen) aufrecht und geradlinig dem Ebenmaß der zwölfgöttlichen Ordnung gedient. Womöglich sogar aufrechter und geradliniger als er.
Nur „Nippert“, wie sein Vorname in friedwängischer Mundart lautete, war ihm ein stetes Ärgernis geblieben. Eine bäuerliche Verballhornung, die irgendwie an Nepp und Betrug erinnerte – und die er all zu lange selbst geduldet hatte, weil sie ihm anfänglich als praiovial und volkstümlich erschienen war. Er musste darauf achten, dass der Spitzname zumindest bei offiziellen Anlässen nicht mehr verwendet wurde. „Neibhard“ wirkte erhaben, „Nippert“ klang einfach nur lächerlich. Genug, jetzt galt es sich auf das heutige Tagwerk zu konzentrieren.
Ein weißer Schemen trat in den Spiegel. Kurz entschlossen drehte sich Neibhard Garafanion um, knotete die Schärpe mit den drei Sphärenkugeln fester um den Leib – etwas fahriger, als er beabsichtigt hatte.
„Wie geht es Euch heute, Hochwürden?“ fragte Bruder Gisbert, der gerade in die Sakristei eingetreten war.
Der junge Wehrheimer Geweihte. Seine besorgte Anteilnahme war sicher nicht gespielt, aber irgendwie vermisste er darin den tieferen Respekt vor einem höherrangigen Geweihten. Gisbert schlug des Öfteren über die Stränge, wie damals, als er einfach mir nichts dir nichts das Pferd dieser Meidensteiner Rahjad…beinahe hätte er gedacht Dirne, dabei war Frau Marline von Adel. Nein, als er das Pferd dieser Rahjadienerin aus Meidenstein im Stall von St. Alboran untergestellt hatte. Als ob Seine Heiligen Hallen ein Gasthaus oder eine Art Posthalterei wären.
„Gut, mein Sohn, um nicht zu sagen: hervorragend“, meinte der Prätor dennoch beschwingt. „Die Hinrichtung eines Übeltäters ist immer ein Anlass zu großer Freude. Lehrt sie doch dem Volk Ehrfurcht vor den Geboten unseres Herrn Praios – und überstellt einen Bösewicht dem letzten, unbestechlichen Urteil Alverans.“
„Das Urteil der Götter ist unfehlbar, gewiss.“ Gisbert nahm das Sonnenszepter vom Tisch und reichte es dem Hochgeweihten. „Nicht aber das der Sterblichen…“
Mit leicht hochmütigem Blick, aber noch zu Milde geneigt, steckte Neibhard die Ritualwaffe in die breite Stoffschärpe. Seine Finger bebten bei dieser Bewegung erneut.
„Fängst du schon wieder an, mein Sohn, gegen den Stachel zu löcken? Ich dachte, wir hätten am gestrigen Tage lange und ausgiebig genug darüber gesprochen.“ Er griff nach dem Becher, der auf dem Kredenz stand, zögerte kurz und trank dann entschlossen. Die Medizin schmeckte leicht bitter, verfehlte ihre Wirkung aber nicht. Das Zittern in seiner Hand ließ nach. „Zu lange und ausgiebig, fürchte ich…“ Tatsächlich, er fühlte sich rasch besser. Nein, geradezu leicht und heiter. Fast schien es, als beginne sein Körper und Geist von innen heraus zu leuchten. Er stand Praios näher als andere Menschen, daran gab es keinen Zweifel. Näher jedenfalls als dieser unerfahrene Jungspund von Priester…Gerade in Momenten wie diesen, wenn Andere schwach wurden und an der himmlischen Gerechtigkeit verzweifeln wollten. Neibhard jubilierte innerlich. Wie nur hatte er an seiner Mission, seiner Auserwähltheit, zweifeln können?
„Du erlaubst, Bruder.“ Mit rasselndem Kettenhemd und wehendem weißem Mantel trat ein Bannstrahler hinter Gernot, schob ihn, nicht allzu sanft, beiseite. Der spitzbärtige, brünett gelockte Mann trat sporenklirrend in die Sakristei, die Hand am Schwertgriff. „Wir sollten uns nun beeilen, Hochwürden. Habt Ihr Euren Heiltrunk eingenommen? Euer Ornat angelegt? Der Platz vor dem Tempel beginnt sich bereits zu füllen…“
„Manche scheinen es gar nicht erwarten zu können, heute das Blut eines Unschuldigen fließen zu sehen“, sagte Gisbert heftig.
Gurvanio Harnischer straffte sich, blickte ebenfalls leicht hochfahrend und mit blitzenden Augen geradeaus, als stünde der Wehrheimer dort und nicht in seinem Rücken. Dabei enthüllte er ein bläulichrotes, narbiges Würgemal, das sich um seinen Hals zog.
“Bruder Gisbert, bitte….Man könnte dein Verhalten als grob unbotmäßig auffassen.“
„Ich sage die Wahrheit.“ Gisbert betonte das erste Wort leicht. „Willst du mir das zum Vorwurf machen?“
Der Geißler schüttelte ungehalten den Kopf, dass seine Locken wackelten und atmete kurz durch, erwiderte aber nichts. Mit ungeduldigen Augen forderte er stattdessen den Prätor zu einem abschließenden Machtwort auf.
Neibhard mochte den gebürtigen Kusliker. Harnischer wirkte weltgewandt, gebildet, schlau, zupackend und durchsetzungsfähig – Eigenschaften, die er an sich selbst oft vermisste. Auf sein Urteil war meist Verlass. Nicht umsonst hatte ihn Praiodan Bullenschläger, der gerade auf Ketzerjagd im Wilden Firun der Baronie weilte, zu seinem Coadjutor ernannt. Sowohl der Hohe Commissarius der Friedwängisch-Oppsteinischen Praioskommission (die derzeit eine rein friedwängische war) als auch sein Stellvertreter bewegten sich im weltlichen Gestrüpp zweifelsohne geschickter und schneller vorwärts als er, der Prätor.
Gurvanio war vor einem Götterlauf aus dem Kerker Merwans des Schrecklichen entronnen, ein Martyrium, von dem bis heute die Narbe um seinen Hals kündete. Die eigenen Mitgefangenen hatten ihn zu erdrosseln versucht, weil er - anders als sie - nicht bereit gewesen war, vom rechten Glauben abzufallen. Für tot hatte man ihn auf irgendeinen Haufen voller Unrat geworfen, mit Müh und Not war der Kusliker seinen Peinigern entkommen. Wahrlich, ein Zeichen des Praios, dass er sich noch nicht ganz von den Seinen abgewandt hatte in diesen Tagen. Deswegen (und wohl auch, um eine etwas peinliche Liebesgeschichte mit einer rothaarigen Sokramor-Anbeterin vergessen zu lassen), war Gurvanio wieder ein scharfes Schwert im Dienst der Gemeinschaft des Lichts geworden.
Seitdem der Bannstrahler das verfluchte Amulett des Erzfrevlers Merwan aus Nordenheim in den Tempel und damit in Sicherheit gebracht hatte, vertraute Neibhard ihm rückhaltlos.
Dennoch, er schätzte auch den jungen Gisbert - und sei es nur wegen seiner etwas naiv wirkenden Redlichkeit, seinem feurigen Idealismus. Viel für den Tempel, geschweige denn die Kirche geleistet hatte er allerdings noch nicht, und dann diese ständigen Querelen mit dem Bannstrahler. . . Beide hatten sie wohl ihre Fehler. Gurvanio neigte zu bigotten Winkelzügen, sein Gegenspieler zum hitzköpfigen Aufbegehren. Fast erschien ihm der ständige Zwist der beiden wie das Gerangel zweier verfeindeter Brüder, die doch seine gleichermaßen geliebten Söhne waren. Neibhard räusperte sich.
„Gut. Ich werde es dir noch einmal erklären, Gisbert, ein allerletztes Mal. Das Urteil wurde gesprochen, nun muss es eben vollstreckt werden. Dieser Alrik ist alles andere als ein Unschuldslamm. Sein Orden, wo er als Ordensknappe Bishdarielon gerade einmal die niederen Weihen innehatte, nun, die Golgariten haben ihn aus ihren Reihen verstoßen. Er hat im Dienste des Thronräubers viele der Unsrigen erschlagen. Schlimmer noch, hat Alrik heimtückisch versucht, ein neugeborenes Kind zu ermorden. Das Kind der Baronin von Friedwang, noch dazu in der verfluchten Zeit. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Praios Gerechtigkeit wird Genüge getan. Was hast du daran auszusetzen, Gisbert?“
Gurvanio schnaubte. Nun ließ er sich doch anmerken, dass ihm die Einlassungen des Prätors als bei weitem zu lasch erschienen. „Bruder Gisbert möchte unsere Baronin und ihren Vater an Alriks Stelle sehen, nicht wahr? So ist es doch?“ Langsam und mit vor gerecktem Kinn drehte sich der Liebfelder um. Wie Duellanten standen er und der Lichtbringer sich nun Auge in Auge gegenüber.
„Gernot von Friedwang wurde durch fürstlichen Richtspruch zum Tode verurteilt.“ Gisbert versuchte trotz sichtbarer Anspannung ruhig zu klingen.
„Du bist ungenau, wie so oft. Acht und Aberacht, so lautete damals das Urteil.“
„Der Hausarrest….“
„Wurde wegen unbestreitbar guter Führung soweit gelockert, dass er eben die Baronie nicht mehr verlassen darf…Wohin sollte er auch gehen? Friedwang ist jetzt eine Insel in der Wildermark, abgeschnitten und auf sich allein gestellt wie eine belagerte Festung…“
„Und Oleana? Das Verhalten seiner Tochter gibt zumindest Anlass zu Fragen – ebenso wie gewisse Ungereimtheiten im Fall….“
„Nichts als Ammenmärchen. Latrinengerüchte. Gernot ist ein praiosfürchtiger Mann, er und seine Tochter beschützen Friedwang vor dem Chaos, so gut sie beide es vermögen. Allein deswegen hätte der Sharif eine Wiederaufnahme seines Prozesses verdient, sobald erst einmal wieder Ordnung im Reich und in diesem Fürstentum Einzug hält. Ein dämonischer Gestaltwandler hat das Blutbad auf dem Friedstein angerichtet, Praios steh uns bei. Alle anderen Untaten hat Gernot längst bereut. Er streitet ab, den Bannvogt Binsböckel ermordet zu haben…Vor allem ist er kein Scherge Answins, wie dein Alrik…“
„Willst du mich einschüchtern, Gurvanio?“ Gisbert lächelte dünn. „Ich bin kein Answinist, wenn du das andeuten möchtest…“
„Das habe ich doch gar nicht behauptet. Ich möchte dich nur darauf hinweisen, dass ich diesen Casus ausgiebig untersucht habe, zusammen mit Commisarius Bullenschläger. Es hat sich alles exakt so zugetragen, wie es von Ihrer Hochgeboren Oleana im Urteilsspruch festgestellt worden ist. Alrik hat, in wahnhafter Verblendung, die er offenbar von seiner Mutter geerbt hat, versucht, den Erstgeborenen der Baronin zu beseitigen. Er war frevlerisch genug, sein Attentat während der Unheiligen Zeit zu begehen, wohl, um sein Verbrechen hernach auf finstere Mächte schieben zu können. Nur wurde, Praios sei Dank, sein heimtückischer Plan vereitelt. Oder aus welchem Grund reitet ein Mann in den Namenlosen Tagen von Burg Friedstein zum Schneißer Turm? Bei Nacht und Gewittersturm…?“
„Ein Plan? Ich vermag keinen sinnvollen Plan in seinem Handeln zu erkennen.“
„Das ist dann ja wohl dein Problem. Und das von Alrik - findest du nicht? Du bist jung und kennst die Welt noch nicht so gut wie ich. Dummheit und Verbrechen haben sich noch nie gegenseitig ausgeschlossen, ganz im Gegenteil. Aber wenn du einfach nur etwas gegen unsere Baronin und ihre Familie hast, sag es frei heraus. Gibst du mehr auf Bauerngeschwätz als auf eine gründliche Untersuchung durch zwei Mitglieder der Gemeinschaft des Lichts?“
„Ich schaue lieber dem Volk aufs Maul als auf Oleanas schönen Mund, der mir zuviel Lügen und Blendwerk verkündet. Wenn man das Prinzip des Cui bono…“
Der Bannstrahler wollte Gisbert unterbrechen, aber Neibhard kam ihm mit erneutem scharfem Räuspern zuvor.
„Genug jetzt. Gemach Ihr beiden, haltet inne.“ Die Stimme des Hochgeweihten klang väterlich milde und eher leise, aber bestimmt.
„Cui bono? Wem es nutzt, möchtest du wissen, Gisbert? Die schlechteste Ordnung, der missratene Spross einer altehrwürdigen Familie auf dem Thron ist immer noch besser als das blanke Chaos oder das Recht des Stärkeren, das so viele Menschen außerhalb Friedwangs erleben und erleiden müssen. Du kennst einen der Grundpfeiler unseres Glaubens, Gisbert. Die göttliche Ordnung muss eingehalten werden, und sei der Fürst auch noch so korrupt, brutal und menschenschinderisch. Wenn es Praios Ratschluss sein sollte, wird er seine gerechte Strafe erhalten. Dir obliegt es nicht, den Willen der Götter zu deuten. Wenn es der Himmelskönig beschließt, mag er Alrik von Friedwang heute vor dem Tod erretten – wir aber müssen uns hier und jetzt vor den derischen Gesetzen beugen“.
„Den derischen Gesetzen oder aber Machtmissbrauch und Willkür? Gernot von Friedwang und seine Tochter haben die weltlichen Gesetze selbst mehr als einmal gebrochen. Es gibt Grund zur Vermutung, dass sie sogar im Gegensatz zur Lehre der Zwölfgötter stehen.“
Der junge Praiosgeweihte spürte, wie sich seine Zunge verselbstständigte. Vorsicht, ermahnte er sich, du bewegst dich hier auf dünnem Eis. Es war ein offenes Geheimnis, dass Eulenkuhl nicht nur Loyalität, sondern regelrechte Sympathien gegenüber dem ehemaligen Baron von Friedwang hegte. War Gernot doch ein Feind Answin von Rabenmunds und einer der Stifter der Sankt-Alborans-Siegesbasilika gewesen.
Mit Baronin Tsalinde, Alriks Mutter, hatte sich der einstige Burggeweihte Neibhard hingegen zerstritten - aufgrund ihrer Kungelei mit dem hochverräterischen Grafen von Wehrheim, aber auch wohlwollender Untätigkeit gegenüber den Umtrieben der Sokramorier in ihrem Lehen. Vor allem hatte sie wenig dazu getan, Neibhards Lebenstraum zu erfüllen: den Bau eines Praiostempels in Marktfriedwang, mit ihm als Hochgeweihten.
Als die Friedwangerin dann auch noch mit Lacertinus von Zaberg (ausgerechnet) einen Diener der geschuppten Tsa zum „Seelsorger“ auf der Burg erhoben hatte, war das Band zwischen ihr und dem Praioten endgültig zerrissen.
Junker Golo der Ältere von Gießenborn hatte Neibhard einen gut dotierten Posten als Hofkaplan verschafft, ja, Gernots Vater sollte sogar sein Duzfreund gewesen sein. Wie es hieß, war Neibhard mit der zwölfgöttlichen Unterweisung der Abkömmlinge sowohl der Gießenborner als auch Zaberger Linie des Baronshauses betraut gewesen – darunter der spätere Praiosgeweihte Falko von Zaberg-Glimmerdieck sowie dessen nicht minder bigotter Vetter, Gernot von Gießenborn. Offenbar wollte es Neibhard nicht einsehen, das ihm mit dem Junker einer seiner eigenen Schüler vollkommen missraten sein sollte. Zumal der Erzschurke bis zum heutigen Tage eine verquere, geradezu groteske Praiosgläubigkeit zur Schau stellte. Als Großgreif der obskuren Societas Honestas Sanctis Alboranis hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die „Sokramorierfreundin“ Tsalinde zu stürzen, angeblich zum Wohl des Praiosglaubens in der Baronie – und Neibhard hatte ihm dabei, wenn auch nicht gerade Unterstützung angedeihen lassen, so doch zumindest keine Steine in den Weg gelegt.
Die „Ehrbare Sankt Alborans-Gesellschaft“ war bis heute ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor in der Baronie. Trotz ihrer keinesfalls praiosgefälligen Verschwiegenheit, ihres intriganten Wirkens im Dunklen hielten die Prätoren traditionell ihre schützende Hand über den Honoratioren-Zirkel. Nippert ganz sicher auch.
Es waren letztendlich die Alboraniter gewesen, zu denen auch der „Rinderedle“ Ewald Karrer und der Manufakteur Darpinian Butzenbinder zählten, die Nazir Al´Runahand mit einer üblen Rufmordkampagne aus der Baronie vertrieben hatten: einen tulamidischen Viehhändler und Geldwechsler, der an Stelle des heutigen Praiostempels seinen Kaufmannshof unterhalten hatte. Unter tätiger Mithilfe Vogt Gernots von Gießenborn, zum Wohle der mit ihm verbündeten Finanzmagnaten… Angeblich sollte Nazir ein Rastullahgläubiger gewesen sein, oder gar Anhänger des Nicht zu Nennenden, was für die meisten Bauern ohnehin keinen Unterschied bedeutete…
Nach dem ein wütender Mob über Nazirs Anwesen hergefallen war, die Möbel zerschlagen, die Truhen geplündert und die Schuldscheine verbrannt hatte, war Nazir nach Punin geflohen, unter Zurücklassung seines Vermögens…Seither zählten sowohl die Butzenbinders als auch die Karrers zu den eifrigsten, großzügigsten Spendern für die Sankt Alborans-Siegesbasilika. Wie oft hatten die Patriarchen beider Familien darauf hingewiesen, dass es sich bei Gordianus Al´Runahand, dem KGIA-Obersten, durch den Gernot in der „Blutnacht“ gestürzt worden war, ausgerechnet um einen Vetter Nazirs gehandelt hatte? Außerdem war der Magier ein enger Freund Baronin Tsalindes gewesen… Für manche Friedwanger galten die Ereignisse vom Rondra 28 Hal kaum mehr als ein schnöder Racheakt, als eine perfide Verschwörung von „Sokramoriern“ und anderen Ungläubigen gegen den „praiosgefälligen“ Junker aus Gießenborn.
Nein, als Bringer des Lichts durfte Gisbert zu solchen ungeheuerlichen Vorgängen nicht schweigen. Er merkte, dass ihn sein Prätor prüfend, Gurvanio hingegen verächtlich anblickte.
„Sich beugen ist eine Ehre, sich beugen lassen eine Schande. Ist das nicht ebenfalls ein Grundsatz unseres Glaubens?“ sagte Gisbert mit fester Stimme, schluckte dann aber nervös.
Der Geißler schüttelte lange und scheinbar bedächtig, nicht ohne eine Spur von Traurigkeit, den Kopf.
„Deine Anschuldigungen, magst du sie auch nur feige als Andeutungen vorbringen, sind unerhört. Anmaßend und arrogant. Oder sogar verrückt. Der selige Prätor Hergold hatte völlig Recht, das Gerücht ist nicht minder praioslästerlich als die Lüge, verwischt es doch die klare Grenze zwischen wahr und falsch. In den Adern aller Mitglieder des Hauses Friedwang fließt das Blut des Heiligen Alboran selbst. Es ist undenkbar, dass sie Feinde der Zwölfgötter sind...Mögen einzelne von ihnen, wie dieser Alrik von Friedwang, auch schwer gefehlt haben.“
Gisbert sah demonstrativ an seinem Kontrahenten vorbei in Richtung des Prätors. „Bei allem Respekt, Hochwürden. Aber diese Sophistereien sind unerträglich. Gernot von Friedwang ist der wahre Verbrecher. Seine Tochter, die…“
„Es ist ja verständlich, dass du etwas gegen das Chaos in diesem Land unternehmen möchtest“, unterbrach ihn Gurvanio barsch. „Aber zuvor solltest du endlich einmal die Ordnung in diesem Tempel wahren. Gehorsam ist ebenfalls eine praiosgefällige Tugend, Gisbert.“
„Dann unterbrich mich gefälligst nicht, Bannstrahler“, fauchte Gisbert wütend. „Ich bin geweiht, du nicht. Also gebührt mir das Ihr und Euer Gnaden. Zumal man mir bislang noch keine Liebelei mit einer rothaarigen Sokramorierin nachsagen konnte. Und ich auch nicht auf wundersame Weise aus Merwans Kerker entkommen bin…“
Verdutzt hielt Gurvanio inne, langte sich an die vernarbte Kehle. Dann huschte ihm ein fast schon triumphierendes Lächeln über die Lippen. Sein Gegner zeigte Nerven.
„Bruder Gisbert scheint wahrhaft ein Freund wilder Gerüchte zu sein, dünkt mir. Also gut, Euer Gnaden. Wen würdet Ihr denn dem Stifter dieses Tempels und seiner ehemaligen Novizin Alara vorziehen? Den Lügenbaron und Brabaker Streuner Francesco mit seinem illegitimen Hurenbalg? Oder Alrik, den Answinisten? Wäre Zucker-Tiro recht, ein weiterer Bastard, womöglich der flatterhafteste und verrückteste Geck von allen? Oder Adran von Oppstein, dieser finstere Hexenmeister?“
„Das ist nun wirklich üble Nachrede. Nein: Rufmord!“
„Ach, ist Tiro etwa kein Bastard und Adran nicht der Anführer der Oppsteiner Ketzer? Ketzer, die Hexen, Götzenanbetern und Schwarzkünstlern zur Herrschaft über die ganze Sichel verhelfen wollen? Die bereits davon träumen, sämtliche Praiosgläubige, Bannstrahler und Geweihte der Gegend auf Scheiterhaufen zu verbrennen? Also auch dich, Verzeihung, Euch, Gisbert!“
„Ich rede hier von Alrik…und…und Francesco…“
„Wo ist da der Unterschied? Wenn selbst Serwa von Baernfarn Oleanas Herrschaft als rechtens anerkennt, warum wollt dann ausgerechnet Ihr es besser wissen? Besser als des Hochstaplers ehemalige Gemahlin? Mit Euren gerade mal dreiundzwanzig Sommern, Euer Gnaden? “
Hämisch sah er über seinen Rücken, wo der Prätor beschwörend die Handflächen hob.
„Es reicht!“ Neibhard klang nun wirklich scharf. „Der sinnlose Streit, der dieses Reich peinigt, darf in der Stunde der Not nicht auch noch die Herde des Herrn entzweien und verstreuen. Lass die spitzen Bemerkungen, Gurvanio, sie sind wenig hilfreich. Und du, Gisbert. Sieh dir Bruder Gurvanio an, er hat wahrlich genug für unseren Glauben gelitten, und leistet als Akoluth gewiss nicht weniger als du. Also mäßige dich. Mäßigt euch alle beide. Das hier ist kein Stammtisch drüben im Springenden Steinbock, wo jeder tratschen, schwatzen und schimpfen mag, wie es ihm gerade in den Sinn kommt“. Neibhard atmete tief durch und zwinkerte irritiert. Gerade weil Gisbert den Bannstrahler als Rangniedrigeren abgekanzelt hatte, im Grunde zur Recht, war es ärgerlich, dass der Geweihte ihn als Prätor herauszufordern wagte.
„Es sind äußerst schwerwiegende Anschuldigungen, die ich aus deinen Worten herauszuhören glaube, Gisbert. Noch dazu gegen hochgestellte Persönlichkeiten. Doch vermisse ich die Offenheit darin, wie sie einem Praiosgeweihten gebührt. Sag klar heraus, wenn du jemandem etwas vorzuwerfen hast, und lege vor allem Beweise dafür vor. Oder schweige und übe dich gefälligst in Demut, Donator Lumini.“ Neibhards Tonfall ließ keinen Zweifel daran zu, dass er aufgebracht war.
Der Lichtbringer schluckte. Er spürte, wie sich Verzweiflung in ihm ausbreitete.
„Es geht hier nicht um mich, Hochwürden. Aber lasst nicht zu, dass Alrik hingerichtet wird. Der Baronieerbe. Bitte. Er ist gewiss unschuldig, das spüre ich. Man kann einem Menschen den Kopf abschlagen, aber den Kopf hernach nicht mehr auf die Schultern pflanzen…Wollt Ihr Euch mitschuldig machen am Tod eines Unschuldigen?“
Neibhard musterte den Wehrheimer kalt. „Ich bin entsetzt“, sagte er nach einer Weile eisigen Schweigens. „Entsetzt und enttäuscht. Deine Verstocktheit ist unglaublich. Du hast gehört, was Bruder Gurvanio gesagt hat: Der Fall ist sonnenklar, das Urteil längst gesprochen. Nach bloßem Gespür – oder irgendwelchen Mutmaßungen - zu urteilen, hieße in Wahrheit eben jener Willkür Tür und Tor zu öffnen, die du Oleana, dem Koadjutor…nein, die du mir vorwirfst.“
„Gewiss nicht, Hochwürden, ich…“
„Schweig, Gisbert. Du hast heute sehr viel von dem Vertrauen und der Wertschätzung aufgebraucht, die ich dir bislang entgegengebracht habe. Du bist es, der aufpassen muss, sich nicht gegen die Gebote seiner Kirche zu stellen. Es fängt mit der Vergötzung von Gefühlen und irgendwelchen Eingebungen an - und endet so oft, allzu oft, in Hexentanz, Dämonenpakt und namenlosem Wahnsinn“. Neibhard schauderte selbst bei dem Gedanken. Es half nichts, er musste den jungen Geweihten wachrütteln. Jede Milde war hier fehl am Platze. Gerade weil er ihn mochte, durfte er ihm seine ständige Insubordination nicht durchgehen lassen.
Gurvanio konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es fehlte nicht viel, und Gisbert, der gerade wirklich wie ein zusammengestauchter Halbstarker aussah, würde in Tränen ausbrechen. Der Ordensmann spürte Freude in sich aufsteigen. So was nannte man wohl einen Sieg auf der ganzen Linie.
„Lasst gut sein, Hochwürden. Ich denke, Gisbert weiß längst, dass er heute zu weit gegangen ist. Wenn nicht, dann wird er in ein, zwei Götterläufen so weit sein, dass er auch das größere Ganze sieht. Verantwortung. Ich gebe zu, das Wort in seiner ganzen Bedeutung habe ich in dem Alter auch noch nicht begriffen.“
„Dann muss er es begreifen lernen. Jetzt. “ Neibhard dachte kurz nach. „Er lässt sich von Gefühlen beugen – ehrenhaft ist es, sich vor der Ordnung des praiosgefälligen Ganzen zu beugen! Das nenne ich Bereitschaft zur Verantwortung.“
Etwas milder gestimmt wandte er sich wieder Gisbert zu.
„Willst du wie Albuin enden, der einstige Iluminatus des Wehrheimer Tempels, dem Ort deiner Weihe - nun ein größenwahnsinniger Ketzer, der sich einredet, den Willen des Allerhöchsten zu kennen? Sich in seiner Verirrung gar für den leiblichen Sohn des Götterfürsten hält? Ich selbst habe ihn gut gekannt, in besseren Tagen… Ein Trauerspiel. Praios Reich auf Deren will der Bregelsaum schaffen, ein Land Nirgendwo, das kein Fehl, kein Unrecht mehr kennt. Dieser Wahnsinnige…Wenn sogar ein Erleuchteter zu fallen vermag, glaubst Du, ausgerechnet ein kleiner Lichtbringer wäre davor gefeit, zu straucheln?“
Der Prätor blickte dem jungen Priester streng in die Augen.
„Nein, soweit ist es mit deiner Verirrung noch nicht. Noch siehst du den rechten Weg, auch wenn es dir widerstrebt, ihn zu beschreiten. Er muss dich und deine unsterbliche Seele nach oben führen, hinan, hinauf ins Reich der Götter, über alle niedrigen, flüchtigen, menschlichen Belange hinweg. Diese Welt ist nicht Praios Paradies, sie war es nie, und es kann nicht unsere Aufgabe sein, sie auch nur einen Fingerbreit, einen Herzschlag lang in die Nähe Alverans rücken zu wollen. Mühe dich nicht mit derischem Schlamm und Kot ab, Gisbert. Es wird deinen Lebtag lang kein fruchtbarer Acker oder lauteres Gold daraus werden, sondern nur dich selbst wirst du daran beschmutzen, verderben und erniedrigen. Und selbst wenn es ein Acker wäre, du wärest nicht der Bauer, ihn zu bestellen. Auf das Seelenheil, auf das Weiterleben in den Zwölfgöttlichen Paradiesen kommt es an, sonst auf nichts. Jeder Tag, an dem die Welt mit uns, ihren Bewohner, nicht ein Stück tiefer hinab in Richtung der Niederhöllen gezogen wird, ist der wahre Gewinn.“
Gisbert schwieg, eher verstockt, aber auch ein klein wenig schuldbewusst.
„Du weißt, dass ich deinen Gehorsam jederzeit einfordern könnte, mein Sohn. Aber ich möchte, dass du meine Beweggründe verstehst, wenn wir nachher der Exekution beiwohnen. Folgt mir in die Schatzkammer…“ Der Prätor nestelte einen Schlüssel hervor, den er an einer Kette um den Hals trug.
Gurvanio hob erschrocken die Augenbrauen. „In die Schatzkammer? Jetzt? Und die Hinrichtung?“
„Noch ist Zeit. Er soll begreifen, um was es hier geht. Was auf dem Spiel steht, wenn das Chaos auch Marktfriedwang und die Sankt Alborans-Basilika verschlingt.“
„Er ist einfach noch zu jung dafür“ sagte Harnischer gedehnt. „Zu jung und viel zu keck für ein derartig verantwortungsvolles Wissen. Dass haben wir doch gerade erlebt…“
„Mag sein. Dein Auftreten war jedenfalls auch schon einmal bescheidener, Bruder Gurvanio. An Jahren bist du wenig älter als er. Ein scharfer, beweglicher Verstand vergaloppiert sich leicht, wenn er nicht von Geduld und Demut gezügelt wird. Kommt mit. Folgt mir…“
Sie gingen hinüber in die Lichthalle des Tempels, die trotz des heraufziehenden Gewitters hell erleuchtet war. Praios Sonnenstrahlen fielen von der Kuppel auf den zwölfseitigen Altar in der Mitte, buntes Licht drang von den großen Fenstern der Seitenschiffe herein, die Szenen aus dem Leben des Heiligen Alboran von Baliho, dem Gründer der Baronie Friedwang zeigten.
Neibhard verneigte sich kurz vor der Greifenstatue mit dem Ewigen Licht in der Apsis, dann ging er hinüber zum Westschiff. Eine unscheinbare Pforte. Die eisenbeschlagene Tür hätte auch einer Sturmramme einer Zeitlang standgehalten – selbst wenn man den göttlichen Schutz einmal außer Acht ließ, der über diesem Ort lag. Der Hochgeweihte führte den Schlüssel in das fein gearbeitete und doch solide Schloss ein. Er öffnete es und sie betraten mit gesenkten Häuptern die Schatzkammer.
Fein gerabeitete Reliquienschreine, ein wuchtiger, mit einem schweren Vorhängeschloss gesicherter Schrank, ein Zähltisch, ein Schreibpult mit Inventarbuch, die große Tempelkasse und kleinere, klobige, Truhen standen im Raum. Mit Gold und Edelsteine besetzte Folianten wurden in einem Regal verwahrt und durch Ketten vor Diebstählen gesichert. Der Geweihte zählte sicherlich ein halbes Dutzend eisenbebänderter Geldkisten, teilweise mit mehreren Schlössern gesichert. Es war kein Geheimnis, das viele reiche Friedwangen ihr Gold im Schutz des Praios hinterlegten (gegen regelmäßige Spenden, verstand sich). An der Wand hing, angesengt und verbrannt, der berühmte Wandtteppich des untergegangenen Tempels Sancta Praiociosa von Nordenheim. Der Gobelin zeigte fromme Szenen aus dem Leben des Heiligen Alboran. Tatsächlich war er von den rotpelzigen Sklaven der ersten Friedwangen gewebt worden, vermutlich schon zur Zeit der Herrschaft von Alborans Tochter Manesse.
Gisberts Blick fiel auf das zertrümmerte frühere Götterbild des Tempels und ein zerrissenes rot-schwarzes Banner an der Wand. Auch wenn der Geweihte schon das eine oder andere Mal hier gewesen war, empfand er noch immer Ehrfurcht – mehr ob der alveranischen denn derischen Schätze, die in der Kammer versammelt waren. Die Reliquare enthielten immerhin Greyffenclaw, das Schwert Alborans, die eiserne Handprothese des ersten Prätors und Blutzeugen Andras Braniborian, die güldenen Federn des Märtyrer-Greifen Malachan, die wahren Ketten des Erzheiligen Gilborn von Punin und dergleichen Kostbarkeiten mehr. Von der Decke hing die Nieverlöschende Lampe des seligen Inquisitionsrats Parinor Rukus von Oppstein, die auf der Walstatt von Wehrheim gefunden worden war – und, von neuem entzündet, die Kammer in güldenes Licht tauchte. Eine fast mannsgroße hölzerne Statue des Heiligen Arras de Mott stand auf einem Podest an der Wand, die rote Farbe seiner Mönchskutte war verblichen und teilweise abgeblättert. In der Rechten hielt der Hochheilige der Erleuchtung einen fein gedrechselten Stab aus Bosparanienholz, dessen Spitze ein sanft glimmender Bernstein zierte. Den Zeigefinger der Linken hatte der Ordensgründer vor die Lippen gelegt, als wolle er zur Verschwiegenheit mahnen.
Neibhard legte den Stab des Hüters wie einen Hebel um. Ein metallisches Klicken, dann ein Scharren. Zu Gisberts Erstaunen schwenkte der Podest zur Seite und enthüllte eine Treppe, die in die Tiefe führte.
Der Lichtbringer staunte. Es gab ihn also doch, den berühmt-berüchtigten Geheimgang aus der Basilika, dessen Beginn er eigentlich in der Krypta vermutet hätte. Luminifer Tatzinger hatte unlängst das Gegenteil behauptet. Es war natürlich ausgeschlossen, dass der stellvertretende Hochgeweihte log – offenbar war dieses Geheimnis wirklich auf einen ganz kleinen Kreis von Eingeweihten beschränkt. In diesem Fall war der Heilige Arras wirklich wieder einmal der Hüter verborgenen (weil gefährlichen?) Wissens.
„Wappnet Euch mit Licht aus dem Tempel“, ordnete Neibhard an. Gisbert und der Bannstrahler nahmen jeweils einen silbernen, sechsarmigen Kerzenhalter an sich und steckten brennende Kerzen aus dem Allerheiligsten hinein. Der Hochgeweihte verschloss die Tür zur Schatzkammer und sperrte sie ab. Dann schritten sie feierlich in die Tiefe.
Die abgetretenen Stufen der Wendeltreppe wollten schier kein Ende nehmen. Es roch muffig, Spinnenweben hingen von der Decke. Das Licht spiegelte sich matt an den gemauerten Wänden.
Schließlich konnte Gisbert, der hinter Neibhard ging, nicht länger an sich halten: „Bitte, Hochwürden, gestattet Ihr mir eine Frage?“
„Sprich.“
„Es gibt den Geheimgang also wirklich, der zur Burg führt?“ Der Lichtbringer lächelte. „Ich wusste doch, dass ich Recht hatte mit der alten Karte.“
„Was für eine Karte?“
„Aus der Bibliothek, als Lesezeichen in eine Offenbarung der Sonne gesteckt. Der Luminifer hat sie mir abgenommen und vor meinen Augen verbrannt. Er sagte, es wäre Unsinn, dass ein von Menschen geschaffener Gang vier oder fünf Meilen lang sein könne. Jedenfalls nicht in Friedwang. In einer Zwergenbinge vielleicht, oder…“
„Der Gang ist nicht von Menschen geschaffen“, hörte er Gurvanio hinter sich sagen, mit dumpf hallender Stimme. „Und auch nicht vom Kleinen Volk ...“ Von wem dann, wollte Gisbert fragen, wagte in diesem Moment aber kein weiteres Wort.
Sie gelangten in ein großes Kreuzgewölbe – was die Abmessungen anbelangte, ein fast exaktes Gegenstück zur Tempelhalle. Der Hauch berauschender, süßlicher Dämpfe lag in der Luft. Ansonsten roch es muffig, stickig. Ein großer rötlicher Steinkasten in der Mitte und ein rechteckiges Podest an der Stirnseite waren das einzige, was Gisbert sofort auffiel, sowie das Schimmern von Wasser in einer der Ecken. Dann zählte er die schlanken Säulen, stutzte, zählte erneut. Er hatte sich nicht geirrt: Es waren wirklich jeweils dreizehn zur Linken wie zur Rechten. Ihm schauderte. Die unheilige Zahl des Namenlosen. Dumpf hallten ihre Schritte und Stimmen von den Wänden wieder. Es war, als ob noch jemand – noch etwas – anderes in den Schatten mit anwesend war.
Gurvanio stellte die Kerzen auf den mutmaßlichen Altar.
„Was hat das alles zu bedeuten?“ Gisbert kam sich verloren vor, so tief unten in Sumus Leib. Immerhin, nach der Schwüle des Tages war die Kühle fast schon wieder angenehm. Wie filigran und doch machtvoll die Säulen auf das Kreuzrippengewölbe zuliefen. Er empfand Furcht, aber beinahe auch Ehrfurcht, vor dem Baumeister, der diese Halle geschaffen hatte – oder gar vor dem, was hier verehrt worden war? Gisbert erschrak bei dem Gedanken.
„Du weißt, dass an der Stelle der Basilika früher ein Boronanger lag. Baron Adran von Honald hat zu Beginn des Neuen Reiches einen Alboransschrein in dessen Mitte errichtet, seine Nachfahren die Gadenanlage.“ Der Bannstrahler schien sich in der Rolle des Fremdenführers zu gefallen, er schritt die Halle nach und nach ab. „Merwan… Als der Baron von Schratenwald und verfluchte Erzvampir auf dem Dorfplatz hingerichtet wurde, vernichteten die Flammen seines Scheiterhaufens fast das gesamte Dorf – so auch den Schrein und die ihn umgebenden Gaden. Merwan entkam in dieser Feuersbrunst, die wohl von ihm selbst entfesselt worden war. Viele Jahre später, unter dem Namen Ettel Honald, ließ das Kind der Finsternis dann an gleicher Stelle einen gewaltigen Tempel des Praios bauen. Ein wahrhaftes monströses Unterfangen, denn in Wahrheit war die Arbeit nur Tarnung für die Erschaffung dieses unterirdischen Gewölbes. Eine Kultstätte des Namenlosen, doch nicht zuletzt auch eine Schatzkammer. Hier wäre das Silber und Arkanium gehortet worden, das der Weiße Wurm für den Vampirmagier in den Tiefen der Berge gewann. Oder besser gesagt, gewinnen sollte…“
„Der Weiße Wurm?“ Gisbert blickte auf die Figuren, die, durchaus fein gemeißelt, die Kapitelle verunzierten: Karikaturen der heiligen Tiere der Zwölfe, eher Daimoniden ähnlich, die sich im Wahn gegenseitig zerfleischten oder anderweitig umbrachten – teilweise sogar sich selbst. Hier wurde ein dicker, dümmlich blickender Delphin vom Feuer des Ingerimm verzehrt, dort nagte ein gerupfter Greif an der eigenen Leber, während eine Giftnatter ihm ins Bein biss, ein vorwitzig grinsender Fuchs schnappte nach der Kehle einer brüllenden, eitlen Leuin, die wiederum ihre Pranken in das Praiostier schlug. Hier zertrat die Stute der Rahja, zur dürren Schindmähre verunstaltet, eine feiste Gans, dort fraß ein fetter Bär einen dürren Storch. Eine schuppichte Eidechse schließlich wurde von einem hässlichen, krähenähnlichen Boronsraben zerstückelt. Gisbert verstand die Perfidie der Aussage: Nicht etwa der Dreizehnte oder die Niederhöllen würden am Ende das Pantheon der Zwölfgötter besiegen, sondern dieses, durch seine inneren Widersprüche, sich selbst.
„Ja, Achorhobai, der Große Alchimist“, murmelte Gurvanio. Im Schein der Kerzen glänzte die eine Hälfte seines Gesichts gelblichrot, die andere lag im Schatten. Die Kerzenflammen zuckten nervös auf, als peinige sie allein der unheilige Name.
„Achorhobai…Ein Dämon, ja, ein Wesen aus der Sphäre des Schänders der Elemente. Merwan hat dieser erzdämonischen Entität immer ein besonderes Interesse entgegen gebracht. Der Wurm, er schuf viele der Gänge tief unterhalb des Burgberges, wühlte sich unermüdlich durch den Fels, Tag und Nacht, fressend, nagend, mit Speichel aus Vitriol und furchtbaren Hauern alles zermalmend, was sich ihm in den Weg stellte. Bis hierher, ins Unheiligtum des Namenlosen. Es waren grausame Zeiten, ohne Gnade, ohne jede Götterfurcht, ohne Maß und Ziel…“ Der Bannstrahler versicherte sich der Gegenwart eines Greifenamuletts um seinen Hals. Eine Zeitlang herrschte Stille.
„Doch Merwans Pläne waren nicht von Erfolg gekrönt. Es heißt, der Dämon habe in seiner Gier viel zu tief gegraben - und ihn irgendwann eindringendes Grundwasser mit sich fort gerissen. In vollkommener Finsternis soll er seitdem in unterirdischen, überschwemmten Höhlen umherirren. Aber ich denke eher, der Dämon wollte aus dem Dienst seines Herrn entwischen. Denn der Anti-Ingerimm beherrscht das Wasser nicht, von dem es in seinem Reich keinen einzigen Tropfen geben soll. Wie auch immer, seit dieser Zeit haust tief unter der Schwarzen Sichel der Weiße Wurm. Den Brunnenvergifter nennen ihn die Menschen, den er verseucht das Trinkwasser, sobald er aus den lichtlosen Abgründen aufsteigt. Mal hier, mal dort taucht er auf, dann wohl als das sagenhafte Ungeheuer von der Orckensauffe oder der Wyrm vom Waldensee. Glücklicherweise ist das nur einmal in vielen Götterläufen der Fall, meist in den Namenlosen Tagen. Denn der Viergehörnte fürchtet das Licht der Oberwelt und nährt sich von der Essenz edler Metalle, von funkelnden Kristallen und Steinen. Die findet er nur in Tiefen, die weder eines Zwergen noch Menschen Auge je gesehen haben. Unheiliges aber zieht den Alchimisten ebenso an wie die Schwarze Magie. Möglich, dass er die Verbindungen zwischen dem Blauen Topf an der Gießenquelle, unseren großen Seen und dem Friedstein geschaffen hat, von denen der Volksmund spricht. Wenn es sie denn gibt. Wir können es nur vermuten, denn nicht einmal Praios blickt hinab in sein Reich…“
Während die Stimme des Bannstrahlers verhallte, sah Gisbert nachdenklich zu dem zweieinhalb Schritt durchmessenden Gang, der knöchelhoch überschwemmt war und sich rasch zu verengen schien.
„Das alles sind nur Legenden, nicht wahr?“ hörte sich der Geweihte fragen.
„Leider nein. Ich habe ihn selbst einmal gesehen…in einer Vision. Doch sei unbesorgt, dies Heiligtum fürchtet der Daimon sicher, und auch das Karma der übrigen Tempel Friedwangs hält ihn auf Abstand“, meinte Neibhard beschwichtigend.
„Sieh dort!“ Gurvanio ging zu dem Sarkophag aus rotbläulichem Porphyr, der in der Mitte des Gewölbes stand. Wolfsköpfe ragten seitlich, auf Höhe des Bodens, heraus, fletschten Zähne und reckten Zungen in Richtung kleiner Rinnen, die aus zwölf Richtungen her auf den Kasten zuliefen. Der junge Geweihte sah auf den Deckel, der mit goldenen Intarsien geschmückt war. Es zeigte einen prächtigen goldfarbenen Reiher, der in hell lodernden Flammen verbrannte.
„Ein Phoenix…“ murmelte Gisbert. Seine Finger glitten über den glatten, kühlen Porphyr.
„Ja, der Vogel, der am Ende seines Lebens verbrennt und aus seiner eigenen Asche neu ersteht.“ Neibhard leuchtete mit dem Kandelaber über die Platte. „Ein Fabelwesen, das seine Brut mit dem eigenen Blut nährt. In diesem Fall nur eine weitere hübsche Maske, hinter dem sich die hässliche Fratze des Nicht zu Nennenden verbirgt…“
„Was ist das?“ fragte der Lichtbringer scheu.
„Die alten Schriften nennen diesen Sarkophag die Wiege des Bösen. Man sagt, der Sarg stamme aus dem Tulamidenland, wo man den Phoenix auch als Benu kennt, einen Reiher, der jeden Morgen aufs Neue im Licht der Sonne verbrennt - und nach ihrem Untergang wieder zu neuem Leben ersteht. Der Sarkophag diente in den Dunklen Zeiten einem Kult von Vampiren, die ihren finsteren Herrn in Gestalt eben dieses Benu huldigten. Es heißt, er sei von Bosparan aus auf die Insel Loskarnossa im Waldensee gebracht worden, Viele Jahrhunderte später soll der Mensch Merwan in ihm gestorben und als Kind der Finsternis neu erstanden sein…“
Gisberts Hand zuckte von dem Gestein zurück. Er wischte sich hastig über die Robe, schlug das Praioszeichen. „Heilige Lechmin, steh uns bei! Behüt uns vor den Ränken des Bösen!“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Gewölbe genau unter der Krypta verlief, und die „Wiege des Bösen“ eben dort stand, wo sich oben die sterblichen Überreste des Heiligen befanden.
Der Bannstrahler sah ihn prüfend und fast schon neckisch an. Mit seinem Zeigefinger kreiste er um das Loch, das sich in der Brust des Benu befand. In dessen Herzgegend.
„Er ist alt, uralt….Zweitausend, vielleicht sogar dreitausend Jahre. Faszinierend, nicht wahr? Hier oben haben sie das Blut ihrer Opfer hinein gegossen, und dort unten floss es dann wieder hinaus. Ihm zu Ehren…Das Blut des Phoenix, das seine Kinder nährt. Der eines Tages zu neuem Glanz wiederauferstehen wird…“
„Für mich sieht es eher so aus, als würden die Wölfe das Blut aufflecken…“ widersprach Gisbert. Tatsächlich vermeinte er dunkle Flecken rund um die Rillen auszumachen. „Als wäre das Blut in den Sarkophag hinein geflossen. Zusammen mit dem Loch im Herz des Reihers sind es dreizehn Öffnungen…Kein Zweifel, das Blut nährte etwas, was sich in dem Sarkophag befand…“
„Schakale. Es sind Schakale…“ Der Bannstrahler lächelte versonnen. „Keine Wölfe.“
„Wie auch immer“, beeilte sich Neibhard zu sagen. „Wir sollten nicht über Gebühr über solche Dinge sprechen. Schon gar nicht an einem Ort wie diesen. Die Wiege des Bösen stellt jedenfalls keine Gefahr mehr da. Dank unseres Tempels, der sich nun darüber wölbt und die Zwölfgöttergefälligen vor dem Pesthauch des Namenlosen bewahrt. Ahnst du nun, wie wichtig die Sankt Alborans-Siegesbasilika ist, Gisbert? Würde das Chaos ein weiteres mal über Friedwang hereinbrechen und der Tempel zerstört werden – was der Himmelskönig in seiner Güte verhindern möge …“ Der Prätor stockte für einen Moment bei dem Gedanken, und keuchte.
„Von neuem würden hier unten gräuliche, unaussprechliche Rituale abgehalten werden“, vervollständigte Gurvanio scheinbar gelassen den Satz. „Das Heiligtum würde zu einem Insanctum werden, zu einer Brutstätte des Bösen, des ungeahnten Frevels und der vielfachen Verderbnis. Der Wurm würde wiederkehren und die Wasser Friedwangs vergiften, und dort auf dem Podest wieder eine goldene Statue des Dreizehnten verehrt werden. Bleiche Vampire, die das Blut der Sterblichen trinken, namenloses Gezücht, das über dieses Land herrscht. Vor einem Jahr, vor der Rückkehr des Lichts in diesen Tempel, war es fast schon so weit. Möchtest du das, Gisbert? Die Rückkehr des Bösen?“
Ein durchdringendes Summen und Brummen. Das Summen einer fetten Schmeißfliege war plötzlich in dem Gewölbe zu vernehmen.
„Die Rückkehr des Bösen. Sie würde damit beginnen, dass oben auf dem Richtplatz das Blut eines Unschuldigen vergossen wird…“, sagte Gisbert trotzig.
Der Bannstrahler sah hinüber zum Prätor. „Ich sagte es ja, er war noch nicht reif für das Geheimnis…“
„Er kennt es noch nicht zur Gänze“, erwiderte Neibhard. „Nehmt den Deckel ab.“
„Das ist nicht Euer Ernst, Hochwürden!“
„Sehe ich so aus, als wäre ich an einem Ort wie diesen zu Scherzen aufgelegt? Mein Befehl ist eindeutig. Hilf ihm dabei, Gisbert…“
Zitternd legte der Lichtbringer Hand an die Platte, wuchtete sie zusammen mit dem Bannstrahler hoch. Mit scharrendem Geräusch glitt der Verschluss zur Seite, erstaunlich leicht. Sie hoben ihn neben den Sarkophag.
Eingeschüchtert blickte Gisbert in das Innere. Ein totenblasser, schöner junger Mann in purpurner, goldbestickter Robe lag in dem steinernen Sarg, ein dunkles Amulett hing um seinen Hals. Eine Leiche ?!
Gisberts Herzschlag ging ihm bis zur eigenen Kehle. „Wer ist das?“
„Golo von Friedwang-Glimmerdieck“, antwortete der Geißler. „Wir fanden den Junker nach dem Ende der Schreckensherrrschaft hier so vor.“
„Ist er tot?“
„Eine gute Frage. Er verwest nicht, noch zeigt er sonstige Anzeichen des Todes, auch wenn andererseits kein Odem oder Herzschlag mehr in ihm zu verspüren ist. Man könnte meinen, er schläft nur…Solange wir nicht genau wissen, was sein Zustand zu bedeuten hat, hielten wir es für angebracht, nichts daran zu ändern.“
Das Fliegengesumm wurde stärker.
Ungläubig und von instinktivem Widerwillen ergriffen, blickte Gisbert auf das ölig schimmernde Stück Metall auf der Brust des Junkers. Ein schwarzer Stern mit dreizehn Strahlen und einem zerrissenen purpurfarbenen Band.
Der junge Geweihte kniff die Augen zusammen. Das Metall funkelte kalt, in einem ungesunden, fahlpurpurnen Licht. Eine Stimme flüsterte in seiner Seele, grausam, hart und lieblos, zog und zerrte an ihr wie ein unsichtbarer Mahlstrom. Ein schemenhaftes, gebrochenes Auge starrte in sein Innerstes, suchte nach dem geringsten Anzeichen von Schwäche und Bosheit. Zugleich kroch etwas Rattisches aus dem finsteren Fleck auf dem „Toten“ heraus, sickerte in die Kammer, wuselte, witterte, zischte in Gisberts Kopf.
Hasssss. Neid. Giiieer. Irrsssinnn.
Er schluckte, wich zurück und schlug das Praioszeichen. Die Präsenz wich aus seinem Innersten zurück – zumindest hoffte er das. Er fühlt sich kalt, hart, leer, als hätte ihm das Relikt etwas gestohlen. Wahrscheinlich hatte es das auch. Etwas von seinem Mut, der Zuversicht, dem Glauben an den Götterfürsten und seinem ewigen Licht in ihm…
„Herre Alverans, steh mir bei. Ich habe von dem Amulett gehört, mehr als genug. Es ist die Schwarze Sonne Merwans! Seid Ihr von Sinnen, Hochwürden, dieses verfluchte Artefakt hier unten aufzubewahren? Es entweiht schleichend den Tempel! Saugt die göttliche Kraft aus ihm heraus! Aus uns allen . . .“ Gernots Augen irrten herum: „Wer hat das hierher gebracht? Du, Gurvanio? Man sagt, du hättest es in Nordenheim gefunden…“
„Ich kann deine Bedenken zerstreuen, Gernot“, sagte der Bannstrahler kühl. „Das Amulett ist schwach, äußerst schwach, nun da sein bleicher Herr ein für alle Mal vernichtet worden ist…“
„Es mästet sich an unserer Seelenkraft! An diesem Ort wird es wieder stark und das Heiligtum schwach! Ihr müsst es fortschaffen, Prätor!“ Flehentlich sah Gernot in Neibhards Richtung. „Sofort!“
„Jetzt werd mal nicht gleich wieder hysterisch, Gisbert“, meinte der Geißler. „Warum denkst du immer, du wärst in diesem Tempel der einzige, der weiß, was zu tun ist, und alle anderen Dummköpfe? Ja, dieses Amulett entzieht der Umgebung karmale Kraft, um sie sich selbst anzueignen – auch die des Namenlosen, wie wir vermuten. Egoistisch, aber für uns sicher von Vorteil. Wenn wir das Ding an einem Ort wie diesen verwahren, treiben wir gewissermaßen den Namenlosen mit dem Dämonensultan aus. Hier unten, wo gewiss noch eine unheilige, wenn auch nicht mehr allzu starke feindliche Macht wirkt…“
„Und, wenn es damit fertig ist, was dann? Dieses Amulett ist ein Mahlstrom, der alles verschlingt…“
Gisbert schien es, als würde sich das Gewölbe um ihn zu drehen beginnen. Das hier war alles grotesk, nein, Irrwitz. So etwas durfte es unter einem Heiligtum des Praios nicht geben, nicht einmal in einer Meile Tiefe.
Plötzlich fiel es ihm wie Drachenschuppen von den Augen. Bislang war ihm der Prätor nur als überfordert erschienen, verwirrt vom allgegenwärtigen Chaos im Reich, wie sie es im Grunde alle waren. Nun sah er, dass Neibhard verblendet war, wahnhaft verblendet und in die Irre geführt. Deswegen nahm er die skandalöse Herrschaft Oleanas und ihres Vaters als selbstverständlich hin. Weil diesem Tempel Praios volle Gegenwart fehlte, seine göttliche Kraft gestohlen, regelrecht aus ihm herausgesogen wurde…Im Herz der Finsternis versickerte wie einst das Blut im Sarkophag. Gurvanio… Der vermeintliche Bannstrahler steckte mit dem Namenlosen im Bunde, daran hegte Gisbert jetzt keinen Zweifel mehr. Er hatte das Böse ins Haus der Sonne geschleppt. Sein hämischer Gesichtsausdruck sprach Bände. Panik und Grauen überkam den jungen Lichtbringer. Verrat, ein Abgrund aus Verrat…
„Gurvanio…Du bist einer von Ihnen, nicht wahr? Ein Diener des Rattenkinds…“
Plötzlich wusste er, was zu tun war. Gisbert riss mit einem Aufschrei und kurzem Ruck das Amulett an sich, durchtrennte das purpurne Band um Golos Hals. Er musste das Ding aus diesem Heiligtum heraus bringen, oder es würde bald keines mehr sein. Verblüfft stellte er fest, wie schwer das Metall war, es zog ihn fast zu Boden. Der Geweihte strauchelte, fasste sich wieder, versuchte in Richtung der Treppe zu gelangen. Aber dort stand bereits Neibhard und zog breitbeinig das Sonnenszepter aus der Schärpe.
„Leg es sofort wieder zurück“, sagte der Prätor, eisig und drohend. Zweifel überkamen den jungen Priester. Wie ein Mühlstein hing die Schwarze Sonne in seiner Rechten, irgendetwas…Ungesundes sickerte von dort aus in seinen Geist. Vielleicht hätte Gisbert sogar gehorcht, wenn er auch nur einen Funken Verständnis in der Stimme seines Gegenübers gehört hätte. Aber da war nur Ablehnung und närrischer Hochmut…
„Gurvanio! Er dient Oleana und damit dem Dreizehnten! Das müsst Ihr doch sehen!“ Schrill hallte Gisberts Stimme von den Wänden wieder. War Neibhard am Ende auch schon übergelaufen?
„Leg die Schwarze Sonne wieder in den Sarg!“ Neibhard hob seinen geweihten Streitkolben. „Hast du den Verstand verloren? Ich sage es nicht noch…“
Die gerade Linke, die den Hochgeweihten am Kinn traf, hätte einem thorwalschen Faustkämpfer alle Ehre bereitet. Das Szepter fiel dem Prätor aus der Hand, der Mann wurde mit dem Hinterkopf gegen die Wand geschleudert, fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Entsetzt sah Gisbert in die geöffneten Augen des Tempelvorstehers, der nun reglos und merkwürdig verrenkt vor ihm lag.
Gehässig grinsend schnitt ihm nun Gurvanio den Fluchtweg ab. Sehr schön. Das hier war nicht nur ein Sieg über einen Gegner, sondern dessen regelrechte Vernichtung.
„Danke, Gisbert. Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde…“
„Was soll das, Gurvanio? War das dein Überleben in Merwans Kerker wert? Ewige Qualen in der Sternenbresche? Warum hast du das getan? Den Tempel geschändet?“
„Selbst wenn es so wäre. Du hast gerade deinen Hochgeweihten erschlagen, Dummkopf. So hat es bei Oleana auch angefangen…“ Gurvanio zog mit scharrendem Geräusch sein Schwert, drängte sein Opfer kalt lächelnd in die Halle zurück. Gisbert beugte sich nach dem Sonnenszepter, riss es hoch. Im nächsten Moment wurde es ihm mit erbarmungsloser Wucht aus der Hand geschlagen. Ein Hieb mit dem Schwertknauf auf den Kopf ließ ihn zu Boden taumeln. Blut floss heiß und klebrig aus seiner Stirn.
Er tastete benommen nach dem Amulett, sah verschwommen, wie Gurvanio es mit der Schwertspitze aufnahm und von dort in seine eigene Linke gleiten ließ.
„Weißt du, ich hasse euch Idealisten.“ Mit verkniffenem Gesicht wog der Geißler das Metall in der Hand. „Ihr habt immer so etwas Schlampiges an euch…Der Knoten in deiner Schärpe zum Beispiel. Völlig falsch gewickelt, wie der ganze Kerl.“
„Verräter! Ratte…“
„Verräter? Nein. Wir sind schon von Geburt an allein, Gisbert.“ Geringschätzig lächelnd wendete Gurvanio die Klinge gegen den jungen Geweihten. Dann hob er sie gönnerhaft an. „Möchtest du nicht fliehen? Ich lasse dir sogar einen kleinen Vorsprung…“
Gisbert sprang auf, versuchte verzweifelt, den Bannstrahler zu packen und ihm das Amulett zu entreißen. Ein weiterer Hieb mit dem Griff gegen seinen Brustkorb warf ihn gegen eine Säule. Neckisch tippte der Verräter mit seinem Stahl gegen den schwarzen Granit. Ein singendes Klirren erklang.
„Ich fürchte, für solche Heldentaten bist du einfach ein zu schlechter Kämpfer, Gisbert. Aber gut, dass du so dumm bist. Man soll lästige Mitwisser beseitigen, solange man noch Gelegenheit dazu hat.“
Die Schmeißfliege brummte im Zweiklang mit Gisberts Schädel, während ihm der Geißler das Schwert an die Kehle hielt. Merkwürdigerweise hatte er kaum Angst, nur ein lähmendes Unwohlsein befiel ihn. Es war sowieso alles sinnlos…Was hatte er getan? Neibhard niedergeschlagen, nein, getötet. Die Finsternis hatte gesiegt. Auch über seine Seele. Wenn es nur schnell ging…Er schloss die Augen, spürte den nadelspitzen Stahl in seiner Haut.
„Praios sei mir …“
Der Druck des Schwerts ließ nach. Gisbert blinzelte. Der Bannstrahler war erstarrt, denn jemand hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Von oben…
Dieser Jemand war Golo, der bleich und schön aus seinem Sarkophag gestiegen und kopfüber, der Macht Sumus spottend, die Decke entlang gelaufen war. Dort hing er nun wie eine Fledermaus - oder ein Antipode, ein Wesen von der Unterseite der Derescheibe. Es war ein grotesker Anblick. Kein Schatten zeichnete sich auf der gegenüberliegenden Wand ab.
„Wer wagt es meinen Schlaf zu stören?“ Golos lockige Haare wiesen nach unten. Die Stimme wie der Körper hatten eine Aura von Grabeskälte.
Der Bannstrahler sank ehrfürchtig in die Knie. „Meister….“
Golo lächelte – und enthüllte dabei zwei spitze Vampirzähne. „Noch nicht“, sagte er mit trockener, eisiger Stimme. Er huschte spinnengleich zu einer Säule. Völlig lautlos stieß er sich von dort ab, landete nach einer eleganten Rolle vorwärts durch die Luft wieder auf dem Boden.
„Er weiß bereits zu viel, Herr….“
„Dann macht es auch nichts, wenn er weiß, dass der Herr der Schwarzen Sichel zurückgekehrt ist.“ Der Junker erhob sich endgültig und blickte mit glasigen Augen auf Gisbert, der ängstlich zurück rutschte.
„Ist in der Zwischenzeit etwas – von Bedeutung geschehen…?“
„Nicht wirklich. Das von der Hinrichtung wisst Ihr ja bereits. Aber ich muss Euch nochmals warnen. Unsere Tarnung wird nicht ewig halten, Herr“. Besorgnis schwang in der Stimme des Bannstrahlers mit. „Nippert, den alten Narren, habe ich dank des Rauschkrauts einigermaßen im Griff. Praiodan denkt nur daran, Ketzer zu verbrennen, die er überall wittert, nur nicht in und unter seinem eigenen Tempel. So erledigt er unsere Arbeit…Aber leider ist die Wildermark noch nicht so wild, dass wir bereits schalten können wie wir wollen. Zerline, Eure…Schülerin, muss in Gallys einigen Staub aufgewirbelt haben…“
„Zerline.“ Golo sprach mit seufzender Stimme. „Ich hätte ihrer Bitte um Erhebung nicht entsprechen dürfen. Aber wenn ich Euch Recht versanden habe, hat sie am Ende ihren eigenen Staub hinterlassen?! Das weiß ich doch alles schon.“ Der schöne junge Adelige lächelte.
„Nun, dieser Pfaffe hier“, ein verächtlicher Blick auf Gisbert. „Er ist nicht der einzige unter den Praioten, der bereits Misstrauen geschöpft hat.“
„Menschen gehen sehr weit, wenn sie glauben, ihr gewohntes Leben, ihre Sicherheit, das was sie für das Normale halten, verteidigen zu müssen. `Ihr gutes Recht´…Buuh…“ Letzteres galt dem jungen Praioten, der nach dem Sonnenszepter blickte, aber nun wieder regelrecht vereiste. „Die Unberufenen da draußen wollen nicht wahrhaben, dass die Welt, wie ihresgleichen sie einmal gekannt hat – oder wie sie einmal geglaubt haben, die Welt zu kennen – nicht mehr existiert. Das, lieber Gurvanio, ist das eigentliche Rauschkraut, das ihren Gehorsam erzwingt: Ignoranz gegenüber dem Ungeheuerlichen. Das Kaninchen will die Gegenwart der Schlange einfach nicht wahrhaben, es erstarrt vor ihren Zähnen in grenzenloser Furcht. So wie der da von dem meinigen. In den Abgrund, den man nicht sieht, tappt man am bereitwilligsten herein.“ Die leblosen Augen sahen für einen Moment gerade aus.
„Gelüstet es Euch nach seinem Blut…?“ Der Bannstrahler klang servil.
Gisbert keuchte, langte sich an den Hals und wimmerte. Das alles war so unwirklich, ein Alptraum, der gerade jemand anderem geschah, nicht ihm. Vor kurzem war er doch noch oben gewesen, im Tempel, in einem Praiosheiligtum. In nahezu vollkommener Sicherheit. Kein Viertel Wassermaß war das her. Konnten sich Dinge wirklich so schnell ändern?
„Natürlich können sie das“, sagte Golo – dessen Gesicht er nur unscharf wahrnahm – in sanftem Tonfall. Ohne die Lippen zu bewegen. Der …Vampir las in seinen Gedanken?
„Bitte…“ hörte sich Gisbert sagen. „Ich…“ Er hätte selbst nicht gewusst, um was er eigentlich bitten wollte. Um Gnade? Einen Moment lang reute ihn seine Schwäche. Er verstummte sofort, wie ein kleines Kind, das in die Unterhaltung von Erwachsenen hinein geplappert hatte und sich dafür schämte.
„Ach, Gurvanio, Du weißt doch, auf Geweihtenblut greife ich nur höchst ungern zurück. Außerdem….Anders als der edle Spender dieses Körpers gelüstet es mir nicht nach hübschen Knaben. Hast Du keine zarte, langhalsige Jungfrau für mich, meine Leibspeise…?“
„Verzeiht, nein. Sie sind rar geworden, seitdem Eure Söldner durch dieses Land gezogen sind, Meister.“
Ein lautloses, unwilliges Fauchen. Zwei spitze Fangzähne blinkten Gisbert an. Kaninchen vor der Schlange…Kaninchen vor der Schlange…Was hatte sein Gegenüber darüber gesagt?
Der Bannstrahler, der zunächst amüsiert geblickt hatte, verneigte sich eifrig wieder. „Verzeiht, Herr. Ich wollte Euch nicht…“
„Schon gut.“ Eine beiläufige Handbewegung verscheuchte die Worte von Gurvanios Mund. „Auch wenn Du nicht gerade zu meinem Mundschenk taugst, alles in allem sind deine Dienste zufrieden stellend. Es war eine gute Idee, mir beizeiten den schönen Leib dieses jungen, törichten Friedwang, sagen wir, für Notzeiten zurück zu legen. Und das Junkerlein in einen Nachtschatten seines selbst zu verwandeln, in ein bloßes Gespenst. Ich danke dir, Gurvanio. Ohne deine Hilfe wäre das nicht möglich gewesen. Du hast nicht nur diesen Tempel geschändet, meine Asche wiederbeschafft, und damit die verbliebene Essenz meiner Persönlichkeit, sondern auch die Schwarze Sonne zurück erobert.“
Der Bannstrahler verneigte sich noch tiefer und bot sie dem Blutsauger dar. Diese hob abwehrend die langfingrige, weiße Hand.
„Nein. Behalte du sie, als der Lohn für deine Taten. Ich habe versagt, was diese Geschenk des All-Einen anbelangt. Seine Macht leichtfertig vertändelt…“
„Ihr versagt? Nein. Ich bewundere Eure Macht. Das Amulett vermag ich nicht zu tragen. Diese Ehre ist zu groß, Merwan.“
„Golo, bitte. Ich heiße jetzt Golo. Wenn auch mit geradem Hals.“ Tatsächlich war der junge Mann wohlgeformt und ohne jeden Makel. „Ich möchte offen mit dir sprechen. Auch wenn ich sehr zufrieden mit dir bin, vollständig hast du den Weg zu IHM noch nicht zurückgelegt. Da ist noch…sehr viel Opportunismus in dir, Geschmeidigkeit statt Glaube….“
„Mit Verlaub. Da schätzt Ihr mich erneut falsch ein, Meister. Ich diene dem All-Einen von ganzem Herzen…“
„Aber noch nicht von ganzer Seele. Das Amulett mag dir helfen, den Weg zum Geweihten zu vollenden.“
„Geweihter, Herr?“
„Gewiss, Handlanger ist zuwenig. Fangen wir damit an, dass du IHM dein erstes Opfer darbringst.“
Grinsend blickte Gurvanio in Richtung Gisbert.
Der Vampir hob erneut die zarte, blutleere Aristokraten-Hand. „Nicht hier…Der Wurm ist hungrig.“ Er ließ die Handfläche über Gisberts Gesichtsfeld kreisen und schloss dann die Finger, als wolle er nach dem Verstand des Praioten greifen. Vermutlich war es auch so. Der Lichtbringer hob an, um zu widersprechen, um überhaupt etwas sagen, aber er brachte lediglich ein mattes Lallen zustande. Es schien auf dieser Welt nur noch diese starren, leblosen Augen zu geben - und sein Geist in der Hand des bleichen Mannes.
Dessen Stimme klang ruhig, fast schon belustigt. „Folge uns in den Burgberg, Knecht des himmlischen Blenders…“
Plötzlich war alles ganz seltsam.
Verstört blickte der andere Golo, sein Geist in Serwas Körper, im Schein der Laterne über den Kraterrand hinweg. Auf der anderen Seite war so etwas wie ein Durchbruch, übermannsgroß, zu sehen. Etwas…etwas Gigantisches war aus den Tiefen der Erde gekrochen und hatte sich dort den Weg gebahnt. Er hangelte sich den schmalen Sims entlang, die halbzerstörte Lampe vorgereckt. Tatsächlich, dort war… Es herausgekrochen, hatte den Boden regelrecht verbrannt oder verätzt. Eine breite Furche wie aus geschmolzenen Gestein führte geradewegs auf das Loch zu.
Was sich hier wohl über den Boden geschlängelt hatte? Ein Drache?
Golo trat auf etwas Hartes. Eine blutrote Kerze.Sie wirkte vollkommen neu und heil, obwohl die sonstige Gruft aussah, als hätte sie seit Jahrhunderten niemand mehr betreten. Nicht einmal sein roher Fußtritt hatte auf ihr eine Spur hinterlassen, keinen einzigen Abdruck oder Kratzer. Golo hob den Kerzenstumpen auf, dessen überperlendes Wachs sich zu einer Fratze verformte. Genau in diesem Moment…
Golo stutzte, glotzte. Kein Zweifel…Es war Serwas Gesicht, das ihn hier musterte! Sie lächelte ihn an, als blicke er in einen Spiegel. Höhnisch, süffisant, unnahbar. Nein – Er lächelte sich an! Nein… Sie…sich…selbst. Nein, es war nur eine Kerze, die hier grinste…Golos Gedanken gingen stoßweise, bevor sie sich dann in hektischen Lachen Bahn brachen. Dessen verzerrtes Echo hallte von den Wänden wieder.
„Ich will hier raus!“ brüllte er. „Das ist doch alles Irrsinn…Ich will hier weg!“
Schreiend ließ er das magische Ding in den lichtlosen Abgrund unter seinen Füßen fallen. Er brüllte, wimmerte. Am liebsten wäre er einfach hinterher gesprungen.
„Ich hasse mich…ich hasse mich…Ich hasse dich, Serwa!“
Aber niemand hörte ihn. Nur die Steine und die Toten lauschten weiter ins Nichts, wie sie es schon seit Jahrhunderten taten. Die Steine sogar schon seit Äonen.
Der Namenlose…er war überall…er musterte ihn…aus tausend Augen. Hier unten konnte er überall seine Gegenwart spüren. Der Zerstörer der Welten, der Vernichter allen Lebens, jeden Seins und Sinns. Meister der Verzweiflung. Der, der den Trost nimmt, keinen Funken Hoffnung lässt und dafür unvorstellbare Macht gibt…Herr der Herrscher…Vielleibig…Gewaltig…Groß… Unbegreiflich…Unfassbar… Unbesiegbar.
Furchteinflössend.
Wimmernd stopfte er die Faust in Serwas Mund.
Grauen erregend…
Er blickte um sich, sah überall in Sein verlarvtes, verschattetes Antlitz… Ihm schwindelte. Er wankte, schwankte und keuchte. Beinahe wäre er doch noch in den Schlund gefallen. Aber nicht von dort vernahm er seinen wispernden, fordernden Ruf.
„Herr, Herr, verzeih meine Schwäche, meinen Wankelmut…“ Golo stierte in den Durchbruch, der aussah wie ein Maul, ein Drachenmaul, tastete über die zerschorfte, splitternde Wand. „Ich gehorche…ich komme…befiehl, ich folge dir…“
Gernot schlug die Augen auf. Sein arg zerschrammter „Leichnam“ öffnete den Deckel der Eisernen Jungfrau, wankte und taumelte auf Griniguld zu.
„Applaus, meine grindige Freundin, Applaus. Wirklich hervorragend…“
Tatsächlich klatschte der Friedwang schwerfällig mit den Händen.
Die Kerkermeisterin stand noch immer breitbeinig über ihrem Opfer, dass sich mit bluttriefender Hand die grässliche Halswunde zu bedecken versuchte. Hasso, dessen Gesicht schneeweiß war, röchelte nur schwach. Seine Mörderin ließ die rotbesprühte Klinge fallen. Auch ihr eigenes Antlitz glänzte vor roten Blutflecken.
„Du bist sogar noch dümmer, als ich gedacht habe…“ Der Altbaron grinste. Sein Gesicht zierte das eine oder andere Loch, ebenso wie sein Wams durchlöchert war wie ein Warunker Käser. Auch die Stirn blutete stark. Die Kerkermeisterin schrie entsetzt auf und schlug das Sonnenzeichen. Ein Wiedergänger?!!
„Bitte, nein…tut mir nichts…das war doch nur ein Versehen…“
„Natürlich…Kann ja mal passieren. Nun glotz nicht so…Ich habe mich nur tot gestellt…Wollte einmal sehen, wie du auf so etwas reagieren würdest, meine ungetreue Dienerin. Dass du deinen rechtmäßigen Herrn auf dem Gewissen hast…“
„Aber…die Jungfer?“
„Hat dir niemand gesagt, dass die Dornen ganz und gar eingeschoben sein müssen, um einen Menschen zu töten?“ Dröhnend hieb der Sharif gegen einen der Nägel, der nun tatsächlich, wie unter einem Hammerhieb, im Holz der Jungfrau verschwand. „Ich meine…das ist doch der Reiz an der Sache…Dass man…den Druck…“ – er schob die geballte Rechte langsam in seine linke Handfläche „ganz langsam… steigern kann. Das solltest du doch wissen…als Kerkermeisterin…Ich meine, wo wäre sonst der Reiz, frage ich mich?“
„Ihr, Ihr lebt Herr?“ Erschrecken wechselte sich in Grinigulds entstelltem Gesicht ab mit ehrlicher Freude. „Aber das ist ja wunderbar…Das ist ein Wunder…“
„Nnnein…das ist Wehrheimer Wertarbeit…“ Gernot zerriss ratschend den bereits perforierten Stoff seines samtenen Jäckchens. Eisernes Kettenzeug kam darunter zum Vorschein. „In den heutigen Zeiten unverzichtbar. Vor allem bei einer Begegnung mit zwei Damen, die ein bisschen…spitz zu mir waren.“ Er tastete nach dem Loch in seiner Wange. Wären auch die hinteren Dornen der Jungfrau eingeschoben gewesen, er hätte sich schwerer verletzt. Auch seine Rechte war nicht gebrochen, wie er zunächt geglaubt hatte. Er massierte das Handgelenk.
„Bitte, gnädiger Herr.“ Die Frau sank in die Knie. „Es war ein Versehen, glaubt mir…Ein Missgeschick…“
„Natürlich war es das. Versehentlich wolltest Du Deinen Herrn umbringen. Das kann schon einmal passieren…“
„Lasst mich Euch verarzten…das Gesicht schaut übel aus…“
„Mein Gesicht schaut also übel aus?“
„Nein, Herr, ich meine…in der Tasche ist noch Alaunsalz…damit das Blut gestillt wird…Schnaps zum Wundreinigen…und ein paar Pflaster…“
„Verarzten willst du mich als? Mir helfen? Nachdem ich mich wegen dir gerade mit einem eisernen Igel ins Bett legen musste? Vielen herzlichen Dank…“
Kalt lächelnd hob Gernot das Schwert vom Boden auf. Zu seiner Enttäuschung zeigte seine oberste Kerkerwächterin kaum Anzeichen von Furcht. Sie schien sogar überzeugt zu sein, dass sie die härteste Bestrafung verdiente.
Der Sharif hob mit der Schwertspitze Grinigulds schmutziges Kinn etwas an. Dann tätschelte er ihre Wange leicht mit der Breitseite. Irgendwie imponierte ihm der Mut dieses hässlichen Weibstücks sogar, mit ihren wirren, ungewaschenen Haaren, in denen es vor Flöhen nur so wimmelte, ihren bräunlichen Zähnen und der unreinen Haut, deren Farbe sich den schmutzigen Kerkerwänden angeglichen hatte. Rattenmenschen nannte man solche Kreaturen im Tiefen Süden.
„Was denn? Kein Flehen, kein Zittern? Bist du derart erpicht darauf, aus dieser Gruft hier unten rauszukommen? Hinauf in die Zwölfgöttliche Verdammnis…? Vergiss es. Dein Weiterleben, oder sollte ich besser sagen, langsames Verrotten und Dahinvegetieren in diesem stinkenden Asselnest erscheint mir Strafe genug. Aber tu…das…nie…wieder.“
Er ließ die Waffe sinken. Es lohnte sich nicht, den schönen Stahl zu beschmutzen…Jedenfalls nicht an Griniguld. Die Klinge sauste durch die Luft und glitt mit nassem Geräusch in Hassos Brustkorb, der regelrecht am Boden festgenagelt wurde. Ein letztes mattes Seufzen und Verkrampfen, dann lag der Mann still.
„Du hast diese Kakerlake also zur Strecke gebracht? Sehr schön…“ Gernot stellte seinen Stiefel auf den Leib des Toten und riss das Schwert in Siegerpose heraus. „Ein weiterer Grund, dich leben zu lassen. Nein, ich denke, ich habe genüg geübt, für die Hinrichtung nachher. Na komm schon, steh auf. Wo ist Bishdarielon?“
Griniguld erhob sich und sah ihn verlegen an.
Der Sharif kniff die Augen zu Schießscharten zusammen und hob doch wieder die Klinge: „Sag ja nicht, dass er entkommen ist…“
„Nein…nein…Der Bursche wollte zwar fliehen…Aber ich konnte ihn noch einholen…und niederschlagen...Ich hab ihn wieder in seine Zelle gebracht und festgekettet…Der türmt nicht noch ein weiteres mal, das verspreche ich Euch…“
„Gut…Sehr gut sogar…“ Gernot nestelte aus seiner Gürteltasche ein seidenes Taschentüchlein mit Monogramm und Steinbockwappen hervor, tupfte sich die Wangen sauber und nickte. „Hervorragend. Vergessen wir den dummen Vorfall einfach. Räum den Unrat hier weg und dann Schwamm drüber. Nun schau nicht so wie ein Huhn, wenns donnert. Wir alle verlieren im Leben einmal den Kopf, nicht wahr?“ Der Friedwang stockte kurz und stieß dann ein meckerndes Lächeln hervor.
Es war heiß, stickig, und ging irgendwie gerade überhaupt nicht voran.
Malte reckte seinen kurzen Bauernhals. Warum stockte die Schlange vor den Aranischen Reitern denn schon wieder? Dann sah er es. Die beiden Söldner, die zwischen den Sperren den Zugang zum Marktplatz bewachten, filzten gerade die junge Travida Sockrenmoor, nahmen ihr das Essmesser ab, warfen es beiläufig in einen großen Weidenkorb. Ein leises Klirren zeigte an, dass bereits schon andere Marktfriedwanger entwaffnet worden waren. Anzüglich grinsend tastete einer der Spitzbärte die dralle Bäuerin ab, verharrte kurz beim Mieder. „Durchgehen!“ Die Feder am Morion wippte leicht, als der Mietling ihr mit dem Kopf den Weg wies. Das Mädchen huschte, mit hochrotem Kopf unter der Haube, durch die Barriere, die von den Aranischen Reitern gebildet wurde: Gekreuzte Rechen aus angespitzten, unentrindeten Eichenpfählen, die auf den ersten Blick aussahen wie stachelige Untiere.
„Hast du dein Messer dabei?“ wollte Malte von seinem Freund wissen. Badilak schüttelte den Kopf: „Keine Waffen auf dem Alboransplatz. Hagen Stoor hat es ja gesagt…“
Immerhin, sie hatten Glück. Eine Traube älterer, biederer Bauern, von denen er auf Anhieb nur die Familie Gantenklein erkannte, wurde ohne Beanstandung durchgelassen. Der Gefährte des Wachtpostens stellte sich ihm in den Weg, die Hellebarde schräg vorgereckt. Hakennase, Narbe über dem linken Auge, struppiger Backenbart. Sein Blick verriet Misstrauen, was Malte ein wenig schmeichelte: Gewiss, sie waren beide jung und kräftig. Ein verächtliches Naserümpfen des zweiten Reisläufers zeigte, was sie von „stinkenden Bauernlümmeln“ hielten. Malte ärgerte sich nur leicht. Schweißgeruch lag so oder so in der Luft. Die beiden Waffenknechte rochen außerdem auch nach Leder, Stiefelfett und Metall.
„Habt ihr Klingen dabei?“ fragte der Vollbärtige. Malte und Badilak schüttelten im gleichen Moment den Kopf.
Dann wurde Malte auch schon abgetastet. Irgendwie empfand er es als lächerlich, fast schon demütigend…
„Lass den, Moribert, sonst handelst du dir nur Läuse ein“, meinte der Andere. „Sind bloß dumme Bauerntölpel, alle beide. Durchgehen, ihr Wühlmäuse, los, zackig!“
Sie schlängelten sich durch die Absperrung und standen dann auf dem bereits gut gefüllten Alboransplatz. Herr Praios schien heiß und sengend herab, als wolle er bereits vor der Hinrichtung Erbarmungslosigkeit demonstrieren. Natürlich, für die feinen Altdörfler auf der anderen, burgwärts gelegenen Seite hatte man große Planen und Sonnensegel aufgebaut, gleich neben der (noch leeren) Tribüne, auf der die feinen Herrschaften Platz nehmen würden. Der Burgweg war nicht mal gesperrt, ganz so, als wolle sich die Frau Baronin einen Fluchtweg offen halten…
Dafür standen an sämtlichen weiteren Zugängen Posten und Aranische Reiter. Die Fenster in den Obergeschossen und Mansarden rund um den Platz waren geöffnet. Schaulustige blickten heraus. Auf den Dächern der Fachwerkhäuser selbst, wo die schiefergedeckten Giebel es zuließen, hatten Armbrustschützen Aufstellung genommen. Der Marktplatz war umstellt, und vor dem Schafott zogen gerade weitere Wachen auf. Sicher ein ganzes Banner war hier gerade im Begriff, Aufstellung zu nehmen: Nur Söldlinge, keine Baronsgarde.
Malte runzelte die Stirn. Einige der Bewaffneten waren eindeutig Answinisten, die gerade an diesem Ort, im letzten Travia, übel gehaust hatten: bei der Besetzung des Marktfleckens durch den Kriegsherren Ronald von Kosch-Eberstamm. Auch wenn ihm der Gedanke närrisch vorkam: Irgendwie sah die Szenerie so aus, als sollte heute nicht nur dieser Bishdarielon, sondern auch noch das Volk zum Henker geführt werden. Das war natürlich Unsinn. Aber Oleana misstraute den Friedwangen, soviel stand fest, schien das Volk aber auch zu fürchten…
Badilak drängelte sich durch die ratschende Menge in Richtung des Gänsebrunnens. Der war wirklich des beste Platz, um das grausige Geschehen zu beobachten. Das plätschernde Nass spendete Kühle, das Schafott war gut zu sehen. Malte musterte den vertrauten Anblick des Heiligen Alboran von Baliho, mit Schwert und Wappenschild in den Händen. Zu Füßen der bemalten Steinfigur saß die Gans Weißdaunen, der ein Rohr aus dem Schnabel wuchs: Durch das wurde Wasser in den kreisrunden Trog geleitet, aus dem gerade mehrere Söldnerpferde soffen. Natürlich, die Soldateska nahm den ganzen Brunnen in Beschlag, lungerte herum, fluchte und führte zotige Reden übers Köpfen, Foltern und Hinrichten.
„Da müssen noch viele Köpfe rollen, bis in der Wildermark endlich Ruhe herrscht!“ raunzte ein grobes, breitschultriges Weib unter einem schmucken Federbarett. „He du da. Troll dich, du störst meinen Gaul beim Saufen. Oder ich mach dir Beine!“
Das galt Badilak, der sich gerade auf den Brunnenrand setzen wollte. Der junge Bauer gönnte sich ein paar Herzschläge, um den Befehl zu ignorieren, sein Gesicht zu wahren. Dann trottete er zu Malte. Sie gingen hinüber zum Löschweiher, an der Burggasse. Die vornehmen Schieferviertler sahen es zwar nicht gerne, wenn sich Neudörfer unter sie gesellten, aber hier war es wenigstens schattig und kühl. Nur jede Menge Fliegen schwirrten aufgeregt um den trüben, mit grünem Schaum bedeckten Teich.
Von einem der Treppentürme des Praiostempels her ertönte ein vertrauter Wohlklang: Zwölf durchdringende Schläge des Heliodansgong. Mittagsstunde. Nun musste es doch bald losgehen.
Erneut Unruhe unter den Wachen. Die Reiter saßen auf, ritten gemächlich Richtung Burggasse und drängten dabei die Gaffer beiseite – wie eine Schafherde. Auch Malte und Badilak wurden zurück geschoben. Weiteres Waffengesinde schwärmte aus, sperrte die entstandene Gasse in Richtung Schafott ab. Hunde schüchterten die Menge zusätzlich ein: massige Wehrheimer Doggen mit Stachelhalsbändern. Körbe wurden verteilt: Mit faulem Obst und Gemüse…Die Herrschaft überließ nichts dem Zufall. „Also, wenn der Delinquent auf dem Karren hergebracht wird, bewerft ihr ihn damit!“ verkündete die Soldfrau, die Badilak vom Brunnen vertrieben hatte, hoch zu Ross: „Verstanden? Aber es wird natürlich nur der arme Sünder beworfen, nicht die Begleiteskorte. Schon gar nicht unsere werte Frau Baronin. Wenn auch nur ein Apfel oder Birnchen in die Nähe ihrer Hochgeboren landet, hacke ich dem Trottel, der das verbrochen hat, die Hand ab, beim gnadenlosen Kor.“ Begeistert stürzten sich die Kinder auf die stinkenden Kohlköpfe, faulen Eier und verdorbenen Früchte. Die Erwachsenen blickten skeptischer drein.
„Wie? Seid ihr euch etwa zu fein, um euch die Hände schmutzig zu machen?“, bellte die Reiterin. „Dieses miese Schwein hat versucht, den Thronerben eurer Herrin zu ermorden. Zeigt ihm euren Zorn – und uns etwas mehr von eurer Liebe zur Obrigkeit.“ Ein zynisches Grinsen, dann lenkte die Frau ihren feurigen Rappen herum. Mit klappernden Hufen ritt die Kavalkade, sicher ein Dutzend Leute, durchs Altdorf in Richtung Burgberg.
„Die postieren sich oben am Ochsentor“, meinte Badilak, schob seinen Lodenhut in die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf. „Da können sie jederzeit hangabwärts angreifen…“
„Aber wen wollen die denn auf dem Platz angreifen, beim Heiligen Alboran?“ fragte Malte.
„Na uns, wenn wir nicht parieren…“
Eine der Wachen, die den Weg offen hielt, stieß Badi grob mit dem Pikenschaft zurück, so dass er beinahe in den Löschteich gefallen wäre. „Du schwatzt zuviel, Bauer…Na, eigentlich hast du ja recht…“
Eine Zeitlang standen sie einfach nur in der glühenden Sonne, umschwirrt von Fliegen. Malte war froh, dass er an seine Wasserflasche gedacht hatte, wie die meisten der Umstehenden. Er starrte einer kleinen Libelle hinterher, die im Zickzack über den Teich irrte und wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. Er trank einen Schluck und bot Badilak den Schlauch an. Der nickte dankbar und stürzte fast den halben Inhalt herunter.
„He, langsam…“
„Was ist, heute früh hast du meinen Wein gesoffen!“
„Ich meine nur, wer weiß, wie lange wir hier noch herum stehen müssen in der Gluthitze.“
Es wurde langsam wirklich zur Tortur. Auf dem Marktplatz selbst gab es Unruhe, weil eine junge Frau zusammen gebrochen war und weggetragen werden musste. Kinder weinten, Säuglinge schrieen, es wurde geschimpft und gezetert. Das Gerücht machte die Runde, ein Schwächeanfall des Prätors Eulenkuhl sei der Grund für die Verzögerung.
„Wen wollt ihr eigentlich hinrichten? Diesen Alrik oder uns?“ maulte eine Altdörflerin einen Soldaten an. Der hatte selbst seine Beckenhaube abgenommen und sich wie ein Pirat ein Tuch um den hochroten Kopf gebunden.
„Gönn dem armen Mann noch diese Galgenfrist, Weib!“ grunzte der Schwerträger in Nordmärker Mundart. „Glaubst du, ihm ist gerade wohler zumute als dir? Oder mir in meinem Feldkürass?“
„Menschenschinder!“
„Hüte deine Zunge, alte Hex!“
Dumpf rührender Trommelschlag vom Burgweg her lenkte sie ab.
Kein Zweifel, das waren sie – die Baronin und der zum Tode Verurteilte.
„Da, da kommen sie!“
Tatsächlich, zwischen den Häusern tauchten das friedwanger Steinbockbanner, weitere Söldlinge, die Barönliche Roßbahre und ein Ochsenkarren auf.
Mit Boronsmiene rückte die Trommlerin an, gefolgt vom Bannerträger. Dann folgte die Sänfte, getragen von zwei Pferden. Der offene Einspänner mit Scheibenrädern, auf dem der „Wahre Alrik“ bleich, aber gefasst, mit auf den Rücken gebundenen Händen stand, wurde von jeweils zwei Goblins und Menschen-Söldnern begleitet, das Gespann aus Darpatochsen von einem Knecht geführt. Den Schluss bildete der Henker, in schwarzledernem Gewand, das Gesicht unter einer blutroten Kapuze verborgen, das mächtige Richtschwert hatte er sich lässig über die Schulter gelegt. Betroffenes Schweigen breitete sich aus. Einen Augenblick lang waren nur das dumpfe Tamtam der Trommel und die Geräusche des Wagens zu hören.
Ein sommersprossiger, rothaariger Racker, der johlend eine Matschbirne gegen den Kasten des Ochsenkarrens knallte, brach als erster den Bann. „Kopf ab, Kopf ab!“ schrie einer in der Menge. Es klang betrunken. Richtige Begeisterung kam nicht auf, einige Rufe wirkten eher mitleidig
Weitere Obst- und Gemüsespenden hagelten auf den Delinquenten, der sich mit verkniffenem Mund duckte, aber schwieg. Die Hunde bäumten sich bellend, schnappend und geifernd im Griff der Söldner auf, die Ochsen rollten ängstlich schnaufend die Augen. Ein wurmstichiger Apfel traf den klobigen, hauerbewehrten Schädel eines Rotpelzes. Der Goblin griff wütend die Hellebarde fester und sah sich grimmig nach dem Werfer um, entdeckte ihn aber nicht. Badilak feixte neben Malte. Langsam geriet die Meute doch in Stimmung, schrie und zeigte drohend die Fäuste – wem auch immer. Ein Speichelspritzer traf den Mann auf dem Karren ins Gesicht, der ihn sich fluchend mit der Schulter abwischte. Dann war der düstere Zug auch schon vorbei.
Die Sänfte und der Bannerträger scherten aus. Während der Wagen aufs Schafott zuhielt, stiegen zwei Frauen aus der Roßbahre: Oleana mit der Zofe, die ihre blinde Baronin in Richtung Tribüne führte.
Vom Priaos-Tempel her traf nun auch noch der Hochgeweihte ein, nicht minder bleich als der Verurteilte, in Begleitung des Luminifer, einer Novizin und zweier Leibwachen von der Lichtwehr. Die Honoratioren nahmen auf der Tribüne Platz.
Golo folgte einer Ahnung von Gesang, die durch den großen, stark abschüssigen Tunnel wehte wie ein dunkler Wind. Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht. Er selbst rief ihn zu sich, kein Zweifel. Welche Freude…Namenloser Jubel brandete durch sein Innerstes, das zugleich Serwas Innerstes war. Irgendetwas hatte sich hier regelrecht hindurch gefressen, das Gestein wirkte stellenweise wie weggeschmolzen.
Patsch… Plitsch…Platsch…Plitsch…Pitsch.
Grundwasser tröpfelte von oben herab. Er stolperte über kleinere Geröllhaufen, trat fluchend in große, dunkle Pfützen. Ein weiterer übermannshoher Gang zweigte nach rechts ab, der Boden war aber nach wenigen Schritten mit brackigem Wasser überschwemmt. Linkerhand hatte ein Steinschlag einen weiteren Tunnel verschüttet. Also setzte er seinen Weg beharrlich fort.
Seine Intuition und ein schwacher Lufthauch von der Seite her führten ihn zu einem kleineren Seitenstollen. Von dort kamen die dumpfen Laute des Chorals. Die Laterne flackerte bereits unruhig. Das Licht der halbzerstörten Öllampe würde nicht mehr lange durchhalten.
Treppenstufen führten nach oben. Viele Stufen… Serwas Körper schwitzte bald aus allen Poren. Mehrmals musste er eine Rast einlegen. Nach einer halben Ewigkeit erreichte er einen geduckten Gang, der nach einigen Schritt auf einen Quergang stieß. Ächzend kroch er vorwärts, nach links, dorthin von wo der Singsang erschallte. Er wagte kaum gekrümmt zu stehen. Serwas Kopf stieß immer wieder gegen die Decke, die vielleicht anderthalb Schritt aufragte. Der kleine Ausflug in die Tiefe des Burgbergs bereitete ihm langsam keine Freude mehr…
Es wurde vorne feucht, der Gesang lauter. Schließlich stand er vor einer mürben, erdfarbenen Decke. Er schlug sie beiseite. Glucksendes Wasser und sich unruhig kräuselnde Schatten. Ein breiter Brunnenschacht. Rostige Krampen führten nach oben, wo Fackelschein züngelte und der Choral gesungen wurde. Säuregeruch lag in der Luft.
Kein Zweifel, hier kannte er sich wieder aus: Der Brunnen im Keller des Bergfrieds. Er kletterte den krummen Steigeisen entlang nach oben. Das Licht verlosch, also ließ er die Lampe einfach fallen, die pflatschend in der Tiefe verschwand.
„Hallo? Hallo?“
Dumpf hallte seine Stimme von den grünlich veralgten Wänden wieder. Er setzte seinen Aufstieg fort. Gesichter tauchten über ihm auf, Gestalten unter purpurnen Kapuzen. Ein vertrauter Anblick. . .
Man half Golo-Serwa über den gemauerten Brunnenrand, an der Schöpfanlage vorbei: Ließ man an der Winde einen Eimer in die Tiefe, kurbelte man zugleich einen zweiten, vollen nach oben.
Im Keller standen Fünf aus dem Zirkel. Zwei Gefangene waren an der Verlieswand angekettet, die Gesichter unter schwarzen Kapuzen verborgen. Opfertiere, dachte Golo verächtlich.
Der Mann, der sich nach dem Neuankömmling umdrehte war ohne jeden Zweifel der Anführer dieses merkwürdigen Rituals, auch wenn er keine Robe trug, sondern horasische Tracht mit Rüschenhemd und Spitzenkragen. Ein schwarzgelocktes, blasses, vornehmes Gesicht musterte ihn arrogant.
Sein eigenes.
Verblüfft starrte Golo in Serwas Gestalt den Fremden in seinem eigenen Leib an.
„Ah, Serwa. Schön, dass du kommst.“ Der Jüngling goß aus einer goldenen Schale beiläufig eine purpurne Substanz auf den Boden, fuhr mit den Fingern durch die Luft. Wie von Geisterhand berührt, folgte die Farbe den Bewegungen und zeichnete ein Pentagramm auf den Stein. „Eigentlich warten wir auf die Ankunft des Weißen Wurms. Was suchst du da unten?“
„Ich bin nicht Serwa…und du…du bist nicht Golo…“ Entrüstet stemmte die „Baernfarn“ ihre Fäuste in die Seite.
Ein belustigtes Lächeln.
„Wir sind selten der, der wir zu sein vorgeben.“ Der „Andere“ reichte die mit kostbaren Gemmen verzierte Schale einer der Wachen. Zitternd und mit einer unterwürfigen Verbeugung entfernte sich die Gestalt. Die uralten Mauern des Gewölbes atmeten ein Grauen, das kaum jünger zu sein schien als die Steine selbst. Aber derartige Dinge war der Junker gewohnt.
„Wer bist du?“ fragte Golo.
„Das sollte man immer zunächst sich selbst fragen…“
Ein überraschend derber, rücksichtlos harter Stoß in den Rücken ließ Golo-Serwa in die Knie sinken. Er blickte sich um…und in das spitzbärtige Intrigantengesicht von Gurvanio Harnischer, dem verräterischen Bannstrahler. Die Schwarze Sonne baumelte ihm um den Hals. Ein Zeichen der Hohepriesterwürde…Was fiel dem Burschen ein? Welch unglaubliche Insubordination. Der Geißler trug außerdem ein klirrendes Kettenhemd. Sein Schwert wies nun genau auf Serwas Kehle.
„Was soll das…?“ Golo schüttelte erbost den Kopf. „Was für ein Wurm? Und warum weiß ich von diesem Ritual nichts? Ich bin der Anführer der Hüter des Benû. Niemand sonst. Das ist Rebellion…“
„Du bist nicht unsere Hochgeweihte, Serwa…“
„Ich bin nicht Serwa….Ich bin Golo…in ihrer Gestalt. Das weißt du doch, Gurvanio, verflucht…und das da, das bin auch nicht ich…“ Er wies auf seinen „Doppelgänger“.
Ein spöttisches Lachen antwortete ihm von dort.
„Gewiss nicht.“
„Geh raus aus meinem Körper!“ brüllte Golo-Serwa.
„Ich will ja nicht leuchtender sein als der Bote des Lichts, aber…“ Zwei kalte, leblose Augen musterten ihn. „Aus deinem Munde hört sich das schon etwas seltsam an…“
„Was zum Namenlosen…?“
„Ich bin dir wirklich überaus dankbar für deinen elfengleichen Körper, Golo. Aber du fängst langsam an, lästig zu werden. Lästig und überflüssig. Nicht nur, dass du dich hier als Hoch-Geweihter aufspielst, obwohl du Ihm gerade einmal ein lausiges Zehlein geopfert hast. Nein, du lässt es noch dazu deutlich an Respekt vor dem wahren Herrn und Meister des Zirkels vermissen.“
Golo-Serwa blickte völlig verwirrt.
„Wärst du wirklich würdig, Seine Jünger in der Sichel zu führen, hättest du das kleine unbedeutende Faktum meiner Wiedererweckung sicherlich mitbekommen. Stattdessen gibst du dich lieber selemitischen Spielchen hin…Ein Transvestit, nein so was. Wie sagt man bei Euch im Horasreich zu so einer erbärmlichen Kreatur, Gurvanio…?“
„Tunte“, antwortete der Bannstrahler trocken.
„Es naht eine Zeit für Männer…nicht für Tunten. Oder Gespenster.“
Golo in Serwas Gestalt blinzelte. „Merwan?“ fragte er dann schüchtern.
„Namen sind wie Schall und Rauch. Genug geschwatzt…“ Der andere „Golo“ reckte gebietend die Hand vor.
„Beim Wahren Namen des Namenlosen befehle ich dir, schwacher Geist, verlasse diesen Körper, der nicht der deinige ist…“
Die Stimme klang grausam, hart und peitschend. Sie duldete keinen Widerspruch.
Golo wollte noch etwas sagen, aber irgendetwas zehrte, zerrte, riss an ihm mit underischer, urtümlicher, übersphärischer Gewalt. Serwa schrie, obwohl er ihr nicht den Befehl dazu gegeben hatte. Irgendetwas geriet in Bewegung. Er wurde gestreckt, gedehnt, brutal gegen die Wände seines Gefängnisses geschleudert, Wände aus Fleisch und Blut.
„Nein“, heulte Golos Geist, gefolgt von einem langgezogenen Wimmern. Serwa wandt sich in Krämpfen, während er sich verzweifelt an ihren Leib klammerte wie ein verängstigtes Kind an die Mutter. Oder war es eher die grausige Parodie einer Geburt?
Dann musste er loslassen. Sie spuckte, würgte und quetschte ihn heraus wie giftigen Nebel, aus allen Körperöffnungen gleichzeitig, ja, sie schwitzte ihn regelrecht durch die Haut ins Freie. Alles drehte sich wirbelnd im Kreis, das Verlies, die Gesichter der Kultisten, Merwan, Gurvanio…Das Pentagramm raste in wahnsinniger Geschwindigkeit auf ihn zu, die Schwärze zwischen den purpurnen Linien sog ihn an gleich einem Mahlstrom.
„Neeeeeeiiiiinnnnn“, schrie Golo noch. Dann war er durch.
Neibhard ließ sich ächzend zur Rechten der Baronin nieder, nahm mit dankbarem Nicken ein kühles Tuch entgegen und presste es gegen den von einer Beule verunzierten Hinterkopf. Sein Schädel schmerzte noch immer niederhöllisch, ebenso das Kinn. Aber schlimmer war die menschliche Enttäuschung, die er erlitten hatte. Gisbert…Ausgerechnet Gisbert. Hatte der Wehrheimer „nur“ den Verstand verloren, wie sein einstiger Hochgeweihter? Oder war wirklich der Praiosseibeiuns über den Zögling Albuins gekommen?
Heilige Lechmin, er hätte dem in solchen Dingen völlig unerfahrenen, vor allem charakterlich unreifen Lichtbringer das verfluchte Amulett niemals zeigen dürfen. Der Kusliker hatte wieder einmal Recht gehabt. Gisbert war einfach nicht stark genug gewesen, um den namenlosen Einflüsterungen zu widerstehen. Oder war dieser aufsässige Wehrheimer schon seit längerem auf die Seite des Nicht zu Nennenden übergewechselt?
Wie auch immer. Es war schon viel zu spät, sich noch Vorwürfe zu machen. Hunderte Augenpaare blickten gerade auf ihn, er durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Harnischer, die treue Seele, hatte die Verfolgung aufgenommen, nachdem Gisbert mit seiner Beute in diesen Tunnel geflohen war. Der Prätor hätte ihm gerne noch ein paar Bewaffnete mitgeschickt. Gurvanio hatte abgelehnt: Es wäre besser, kein Aufsehen im Dorf zu erregen, die Hinrichtung habe Vorrang und das Achorhobarium müsse weiterhin geheim bleiben. Ihm selbst könne die Schwarze Sonne wenig anhaben, aber einfache Praiosbüttel könnten womöglich in dessen Bann gezogen werden. Desweiteren dürfe man dem gefährlichen Renegaten keinen weiteren Vorsprung bei seiner Flucht lassen. Weit käme der ohnehin nicht, der Gang ende unter der Burg. Es wäre aber sinnvoll, Oleana diskret zu informieren, die Baronin würde dann von der anderen Seite her alles Weitere veranlassen.
So war es auch geschehen, ja, genau so. Logisch, alles ging seinen logischen, geordneten Gang. Ihre Hochgeboren… Schlank und blass, mit getrübten Augen, saß Oleana neben dem Prätor, ihr schneeweißes Hermelin auf dem Schoß. Hübsch angezogen war sie, mit goldbestickter, grüner Tunika. Sie wirkte ganz wie eine charismatische Herrscherin, vornehm blass, feingliedrig, mit zierlichen, elfenbeinfarbenen Händen, beherrschter und selbstsicherer Körperhaltung. Endlich einmal eine Baronin, die diesen Namen verdiente - nach dem zwielichtigen Alrik und seiner geradezu satuarisch verlotterten Gemahlin.
Neibhard hustete jäh, rang nach Luft. Schwäche, würdelose körperliche Schwäche drohte ihn zu übermannen. Sein alter Dämon. Er nestelte mit zitternden Händen eine Phiole an einem zweiten, silbernen Kettchen um seinen Hals hervor. Gurvanios Wundermedizin, in der Stadt des Lichts hergestellt und vom Heliodan höchst selbst geweiht, wie der Kusliker ihm gesagt hatte. Hastig trank er die bernsteinfarbene Mixtur, lehnt sich seufzend zurück und fühlte sich fast sofort besser. Nein, Praios selbst schien in diesem Moment vom Himmel zu steigen und ihn in warmes, freundliches Licht zu tauchen. Keine brütende Schwüle mehr, keine innere Auszehrung. Eine wahre Entrückung vom Elend dieser Welt. Neibhard lächelte beglückt, wie ein Novize, dem zum ersten Mal die Erfahrung der Gottesnähe zuteil geworden war. Dann wandte er sich regelrecht verzückt nach links.
Oleana III. Alara Traviana von Friedwang-Glimmerdieck. Die junge, blinde Adelige, Opfer eines grausamen Hexenfluchs, hätte sicher in vielen Männern Beschützerinstinkte geweckt. Aber der Prätor fühlte sich für die ehemalige Lichtsuchende im besonderen Maße verantwortlich. Vor allem in geistigen Dingen. Ihr Handstreich gegen Serwa und Adran war…überaus gewagt gewesen, in jeder Hinsicht. Aber die spätere Entwicklung hatte ihr doch Recht gegeben. Nicht zuletzt sein Vorgänger Hergold, der Alara noch posthum zur rechtmäßigen Herrin von Friedwang erhoben hatte, in Vertretung des Grafen von Wehrheim. Nach der grausamen Ermordung des Hochgeweihten in der Basilika hatte man das Privilegium Hergoldis in dessen Nachlass gefunden.
Das Hermelin sah ihn mit unergründlichen, roten Raubtieraugen an, während Oleanas Finger durch seinen herrlichen Pelz kraulten. Nein, Neibhard konnte Rotmäulchen irgendwie nicht leiden - und umgekehrt galt dasselbe, wie ein böses Zischen aus dem Maul des Räubers verriet. Aber es kam ihm nicht an, über das Spielzeug von Edeldamen zu schelten. Er hatte wahrlich andere Sorgen.
„Unsere Botschaft bezüglich …des Artefakts hat Euch erreicht?“ Neibhards Stimme klang unwürdig lahm und nuschelnd, was am noch immer geschwollenen Kiefer lag. Oder an der sanften Mattigkeit, die Gurvanios Tränklein ihm bereitete?
„Ich habe alles Notwendige veranlasst“, sagte Oleana mild. „Seid unbesorgt, Hochwürden.“
„Das bin ich. Mag der Unwürdige auch aus meiner Obhut entflohen sein, Praios Strafe wird er nicht entkommen. Was wisst Ihr eigentlich über die Gänge?“
„Man sagt seit geraumer Zeit, es gebe eine Verbindung zwischen Burg und Tempel. Gesehen habe ich sie allerdings noch nicht.“ Die Blinde lächelte geheimnisvoll.
Gut so, dachte Neibhard.
„Wie ist eigentlich Euer Befinden? Ich habe gehört, der Abtrünnige hätte Euch niedergeschlagen. Doch nicht im Allerheiligsten?“
„Nun, der Heilige Alboran stand mir bei“, antwortete Neibhard ausweichend. „Es geht mir schon wieder besser, Danke der Nachfrage.“ Stirnrunzelnd blickte er zum Schafott. „Nanu, kein geistiger Beistand für den Delinquenten?“
„Der verbannte Golgarit bestand ausdrücklich darauf, im Augenblick des Todes allein mit seinem Gott zu sein.“
„Dann büßt er zur Recht. Doch hätte der Rahmen des Ganzen ruhig noch etwas würdiger sein können. Was ist mit dem Sharif? Euer Vater und seine Gemahlin werden der Hinrichtung nicht beiwohnen?“
„Mein Vater hielt es für besser, keinen unnötigen Anlass für Gerede zu geben. Was Serwa gerade treibt, dass müsst Ihr sie schon selbst fragen.“
Fast schon ein oronisches Sklavengeschirr, dachte Serwa mühsam. Langsam wich die Dunkelheit aus ihrem Geist, nicht aber von ihren Augen. Sie spürte etwas Hartes, metallisch Schmeckendes in der schmerzenden Mundhöhle. Schmeckte nach Eisen und beginnendem Rost. Ihr Mund war barbarisch weit aufgehebelt, Speichel troff ihr von den Lippen. Ein samtenes Tuch verschloss ihre Augen, die Hände waren an die Wand gekettet, die eisernen Ränder der Schellen schnitten schmerzhaft ins Fleisch der Handgelenke. Ihr Rücken lehnte gegen eine kühle, aus Naturbruchsteinen geformte Wand. Irgendwo knisterten Fackeln, sie konnte den harzigen Geruch von brennendem Pech wahrnehmen.
Sie versuchte sich zu erinnern…Aber da war lange Zeit nichts…nur eine Abfolge wirrer Träume…Als wäre sie eine Zeitlang nicht sie selbst gewesen.
Das letzte, woran sie sich zu erinnern glaubte, war, dass sie in den alten Keller zurückgegangen sein musste, um Alborans Stoffbären zu holen. Und dann Gernot und seinem missratenen Sohn begegnet war?! Ja, das hier war noch der Friedstein, das erkannte sie bereits am Geruch. Offenbar hatten die beiden, Vater und Sohn, sie gefangengenommen.
Eine Beilunker Birne. Sie hatte wohl dieses pervalische Folterinstrument im Mund, mit dem man vor allem Hexen zur Räson brachte. Ein Gewinde, mit dem man vier löffelähnliche Spangen aufschrauben konnte – so lange bis irgendwann Zähne wie Kiefer brachen. Sie ruckte verzweifelt an den klirrenden Ketten. Es war eine lächerliche, peinigende Pose. Die Schmerzen in der Mundhöhle waren kaum auszuhalten, sie sabberte wie eine Idiotin, das Atmen war eine einzige Qual. Nicht einmal die Zunge vermochte sie zu bewegen.
Reflexartig warf sie den Kopf hin und her.
Hnngggchh…..chnnghhh….
Wie nicht anders zu erwarten, war an Sprechen nicht zu denken, nur an einen erstickten Protest. Erst jetzt spürte sie, dass ihre Haare kurzgeschnitten waren. Was hatte das zu bedeuten?
Sie fühlte sich matt und elend. Genauer genommen war ihr schlecht. Würde sie sich jetzt erbrechen, sie müsste qualvoll ersticken…Ein erschrockenes Stöhnen. Besser nicht daran denken.
Eigentlich mochte sie levthansgefällige Fesselspiele ganz gern – ein heiliges Artefakt der Rahja war ja das sogenannte Levthansband. Zumindest Spiele der sanften Art. Aber sie musste zugeben, dass sie ihre Lage alles andere als lustvoll empfand. Sondern als demütigend, und vor allem überaus unangenehm. Das Atmen durch die Nase fiel ihr schwer. Einen Moment lang kämpfte sie mit Panik. Ruhig atmen, sie musste einfach nur ruhig atmen, durfte nicht an die Schmerzen in ihren Handgelenken, den ekligen Speichelfluss, das gequälte Gebiss, die überlastete Kiefermuskulatur denken. Nein, das hier war alles andere als rahjagefällig. Eher wie ein Besuch beim Zahnreißer.
Schlurfende Geräusche. Irgendjemand machte sich am Knoten ihrer Augenbinde zu schaffen, die einen Moment später verrutschte, und den Blick auf einen spitzbärtigen, gelockten Mann freigab, der sie mit pervalischer Anteilnahme musterte. Serwa kannte ihn vom Sehen. Das war Gurvanio, Gurvanio Harnischer – eigentlich ein Bannstrahler.
Sie befand sich in einem von unstetem Fackelschein erhellten Verlies. In der Mitte des Gewölbes entdeckte sie einen Brunnen, umstanden von Gestalten in purpurnen Gewändern. Die meisten hatten ihre Gesichter verlarvt, nur Golo konnte sie erkennen, der bleich und hochmütig in ihrer Mitte stand und ihr vertraulich zulächelte.
Hnnghh…Hnnngh….
„Schttt…“ Der Geißler legte den Finger auf die Mundbirne. Diese stammte vermutlich wirklich aus der Folterkammer der Bannstrahler, wie Greifenverzierungen und eine eiserne Sonne auf dem Schraubenblatt vermuten ließen. Dann streichelte er ihr scheinbar liebevoll durchs Gesicht. Aber seine Augen zeigten keinerlei Anteilnahme. Belkelelische Lust, das vielleicht. Frauen gequält, wehrlos und gedemütigt zu sehen, das bereitete ihm sicher schwarzfaule Freude.
Nein. Er mustert dich wie der Schlachter ein Opfertier. Verrat…
Serwa ruckte schauernd hoch, versuchte an ihrem Gegenüber vorbeizublicken. Mühsam sah sie, dass zu ihrer Linken wie Rechten zwei Leidensgefährten festgekettet waren, ein Mann in der weißen Robe eines Praioten, und ein weiterer mit Leinenhemd und Lederhose. Man hatte ihnen schwarze Säcke über den Kopf gestülpt, deren Stoff im hektischen Takt ihres Atems vibrierte.
Gurvanio wischte ihr mit der roten Augenbinde das nasse Kinn sauber.
„Ihr sabbert…“
Serwas Augen funkelten vor Zorn.
„Versucht nicht den bösen Blick…“ Nun klang der Abtrünnige eher einfältig als gefährlich. „Ich kann Euch die Augen jederzeit wieder verbinden…Und die Birne soweit aufdrehen, bis der Kiefer bricht.“
Die Baronin stöhnte demonstrativ. Frische Luft, sie brauchte hier unten frische Luft. Und die Schmerzen sollten aufhören.
„Darf sie sprechen?“ fragte Gurvanio.
Eine Handbewegung Golos, die wohl Zustimmung bedeutete.
„Vergesst nicht, sie ist eine Tochter Satuarias…“
„Eine Magiedilettantin“, sagte der Jüngling gleichmütig. „Sie ist keine Gefahr, nicht einmal für Euch. Ich möchte sie schreien hören, wenn sie stirbt…“
Der Bannstrahler drehte mit enttäuschtem Gesichtsausdruck am Schraubengewinde. Ein leises Quietschen und hartes Rucken im Mund. Die Zangen der Beilunker Birne begannen sich zu schließen. Er zog das Ding heraus.
Endlich…
Die Baernfarn atmete tief ein, bewegte mahlend ihre Kiefer. Dann versuchte sie mitsamt dem Speichel den schlechten Geschmack nach Metall und Rost herunterzuschlucken. Wie gut es tat, die Zunge wieder frei bewegen zu können. Die Zähne waren hier und da etwas schartig geworden, aber ansonsten heil.
Der Geißler betrachtete versonnen den eisernen Knebel. „Man kann ihn einer Frau auch woanders reinstecken“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Und dann langsam…ganz langsam aufdrehen.“ Ein Glucksen.
„Steckt ihn Euch hinten rein…“ fauchte es zurück. Speichelschaum traf Gurvanios Wange.
Unbeeindruckt, fast schon etwas genießerisch säuberte der Bespuckte sich die Haut.
„Nana…Da ist wohl jemandem schon das Wasser im Mund zusammen gelaufen…“ Gurvanios Locken rochen so wiederlich muffig wie sein Atem.
„Diese andere Variante. Ich habe Hexenweibchen gesehen, denen hat das sogar gefallen…also ich meine, am Anfang. Bis zu einem gewissen Punkt…Versteht Ihr?“
„Was soll das?“ fragte Serwa leise. „Was tut ihr hier, Gurvanio?“ Sie wandt sich in den Ketten. „Vor allem, wo sind wir hier…? Gurvanio…Gurvanio Harnischer? Das seid Ihr doch, oder?“
Gurvanio lächelte arrogant. „Überrascht?“
„Was soll dieser Aufzug? Müssen wir uns wirklich über selemitische Quälereien unterhalten?“
„Man hätte Euch den Mund gestopft lassen sollen…Ihr redet zuviel…“
„Bringt sie her…“ sagte Golo, ungeduldig und sichtlich ungehalten ob des Geflüsters.
Eine …düstere Präsenz ging von ihm aus, vor allem wirkte er im Vergleich zum letzten Mal überraschend stofflich. Auch wenn er sehr blass war…Er hatte etwas an sich, was einer hilflosen Gefangenen die Haare zu Berge stehen lassen konnte.
Der Bannstrahler schloss ihre Fesseln auf. Zwei Schergen in purpurnen Gewändern zerrten sie auf den Junker zu.
Knechte des Nicht zu Nennenden….Golo hatte ja etwas darüber gesagt…Oder war es Gernot gewesen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Man führte sie in Richtung des Brunnens. Zwei Eimer hingen an einer Winde – kurbelte man den einen hoch, ging der andere nach unten. Natürlich, sie befand sich im Bergfried von Burg Friedstein, genauer in dessen Keller. Sie war schon einmal hier unten gefangen gewesen, während der Blutnacht auf dem Friedstein, im Rondra 28 Hal. Eine Treppe führte nach oben und endete an einer Luke. Die Luft roch scharf, wie nach Pferdepisse. Rauch schien aus dem Brunnen auszusteigen.
„Auf meiner Burg haben sich wohl Ratten breitgemacht…“ Serwa klang müde und erschöpft. Vor allem das Zeitgefühl hatte sie völlig verlassen.
Leise murmelte das Echo ihrer Stimme von den Wänden wieder. „Ihr habt eine schnelle Auffassungsgabe. Ein kluges Köpfchen…und einen schönen, üppig geformten Körper.“ Gurvanio strich ihr versonnen über die Brust, hielt dann aber, entäuscht, dass sich nichts regte, in der Bewegung inne.
„Ihr werdet staunen: Sogar meine Seele ist schöner geformt als die Eurige“, sagte Serwa ruhig. „Was soll das ganze Brimborium? Habt Ihr mich nur hier her gebracht, um mich zu betatschen?“ Sie wich zurück, insoweit der Griff der Wachen dies zuließ.
„Viel besser…Ihr werdet an eine große Kröte verfüttert…wie eine kleine, aufmüpfige summende und brummende Fliege…“ Gurvanios Zunge schnellte vor, traf feucht ihre Nasenspitze und zuckte dann wieder zurück. Es folgte ein halb irres, halb jungenhaftes Lachen.
„Lasst mich raten. Die Kröte seid Ihr?“
Eine Ohrfeige ließ ihren Kopf beiseite fliegen.
„Nicht so frech…Nicht so frech…“ Der Bannstrahler ging hinüber zu den anderen beiden Gefesselten. Er zog dem Praioten die Kapuze vom Kopf. Ein junger Bursche blinzelte verstört (oder benommen) ins unstete Fackellicht. Gurvanio packte ihn am Haarschopf, so dass man das Gesicht sehen konnte– Serwa kannte den Lichtbringer nicht, es war offenbar einer der Geweihten, die erst vor kurzem nach Marktfriedwang gekommen waren.
„Sehe ich so aus, als könnte ich drei Menschen auf Anhieb verschlingen…Ich werde dir Respekt beibringen, verwöhnte Baernfarnhure. Du wirst das Zittern noch lernen, Gallyser Metzweib…“
Serwa runzelte die Stirn. Auf der Kehle des Bannstrahlers zeichnete sich eine wulstige Narbe ab.
„Warum, Gurvanio? Warum dieser ungeheuerliche Verrat?“ fragte sie leise. „Man sagt, du wärest schon immer wankelmütig gewesen. Hättest eine Zeitlang sogar den Sokramorieren nahegestanden. Wärst mit einem zahmen Wolf durch die Lande gezogen…Warum der erneute Sinneswandel?“
„Ganz einfach. Weil ich nicht mehr zahm bin. Ich heule nicht mehr mit anderen Wölfen…Ich beiße, wann, wenn und wo es mir beliebt…“
„Das sollte Golo aber wissen…Dass sein Schosshündchen nicht zahm ist.“
Ein affektiertes Lachen hinter ihr, vom Junker.
„Serwa…Serwa…Die Dienerin, heißt das doch auf Bosparano. Komm, Serwa. Hör auf, mir meine Diener abspenstig zu machen.“
„Lass mich raten. Gurvanio beißt dir ab und zu in den Arsch, als dein neuer Gespiele…“
„Serwa, Serwa…Was für eine derbe Sprache. Tss, tss. Wie unflätig. Geradezu bäuerisch. Du hast dich sehr verändert im letzten Götterlauf...“
„Wir alle haben uns verändert im Jahr des Feuers.“
Sie spürte Golos Kühle hinter sich, außerdem die Präsenz seines Körpers. Irgendetwas beunruhigte sie, über ihre ohnehin heikle Lage hinaus.
„Ich rede von der Zeit, während du schliefst…Während du nicht ganz…du selbst warst…“
„Das waren wir alle nicht während der Umwälzung…Du natülich schon vorher…“
„Ich rede vom Jahr danach…Du warst fast ein ganzes Jahr von Sinnen…“
„Einen ganzen Götterlauf? Du redest, als ob du von Sinnen wärst….“
Eine kalte Hand strich ihr über die Haare, mit starren, wächsernen Fingern.
„Woher willst du das wissen?“
Serwa erschauerte. Kein Atemzug traf bei diesen Worten ihren Nacken…Kein Lebenshauch…Nichts…Stöhnend rieb sie sich die aufgeriebenen Gelenke.
„Was weißt du überhaupt?“
Erneut spielten lange, dürre Finger in ihren Haaren, wickelten sich in Locken, ließen sie wieder fallen.
„Über das Leben…die endlos dahinfließenden Jahre…über die Jahrhunderte…diese Welt…und die vielen anderen Welten…“ Das Flüstern wurde zu einem leisen Wispern, erstarb beinahe auf dem Weg zu ihrem Ohr. „Leben…und Tod…“
Eisnebel breitete sich in ihrem Innersten aus, und wie ein Schatten die Erkenntnis, mit wem sie es hier zu tun hatte – in Wahrheit zu tun hatte.
„Du…bist nicht…Golo…“ hörte sich Serwa leise sagen.
„Wer bin ich dann?“ Es klang beinahe erheitert.
„Der Tod…“ stöhnte sie mit geschlossenen Augen. Wer auch immer es ist, er ist stark, dachte sie. Eigentlich bewundere ich ihn.
Er ließ sie los. Eine kleine Kunstpause folgte.
„Wir wollen nicht gleich melodramatisch werden. Der Tod, Serwa, also, dein Tod…das bin nicht ich…Das wäre zuviel der Ehre. Nein, er wartet dort unten im Brunnen…Auf dich und deine Schicksalgefährten dort an der Wand…“
Stille.
„Ihr tut mir leid, ihr Menschen dieser Zeit. Ich habe wenigstens noch meinen Hass, meinen unsterblichen Hass. Und ihr…nur noch Lieblosigkeit. Trägheit. Maßlosigkeit. Das ist schlimmer als Haß. Ebenso wie der Untod schlimmer ist als jeder Tod.“
„Auch das Böse ist schlimmer als der Tod“, seufzte Serwa, in einem letzten Versuch sich aufzubäumen.
Ein buchstäblich atemloses Lachen antwortete ihr.
„Das Böse ist der Misthaufen, auf dem jeder sitzt, und den Misthaufen unter dem Hintern des anderen beklagt. Genug. Ruft ihn herbei…Ruft meinen Diener aus der Tiefe…“
Ein Fingerschnippen. Dunkle, getragene Gesänge setzten ein, in einer äonenalten Sprache, die Serwa nicht verstand, die sie nicht verstehen wollte…Dennoch wog sie sich im Rhythmus der traurigen, aber ungemein kraftvollen Melodie, wurde eins mit Ihr, mit IHM und seinem Diener, der hinter ihr stand, keinen Fingerbreit von ihrer zitternden Haut entfernt.
„Ruft jetzt den Achorhobai!“ zischte Golos hasserfüllte Stimme.
Sie stöhnte, stöhnte laut, vor Grauen und Wollust….
3. Kapitel: Das Strafgericht
Sprecht nicht von Gesetzen zu denen, die Schwerter am Gürtel tragen.
Kaiser Perval
Du schuldest Boron noch einen Tod. Ich bin großzügig und werde dir heute helfen, deine Schuld zu begleichen.
Amir Honak, Patriarch von Al´Anfa
Rasselnd drehte sich der Schlüssel in dem feinen, leicht angerosteten Schloss, das als gefletschtes Löwenmaul gestaltet war. Pacem Traviae volo, bellum Rondrae paro verkündete eine Inschrift über dem Torbogen, unter dem Steinbock-Wappen der Barone von Friedwang: Den Frieden Travias will ich, daher rüste ich mich zum Krieg der Rondra.Gesine Bretzelbeck konnte weder Lesen noch Bosparano, aber niemand Geringeres als Baron Alrik hatte ihr den Spruch einmal übersetzt.
Die Frau drückte gegen die schweren Holzbalken aus Steineiche. Knarrend schwang die eisenbeschlagene Tür zur Waffenkammer auf, enthüllte einen langgestreckten Raum, nur durch ein einziges Fenster erhellt. Es fehlte hier, im Obergeschoss des Gardehauses, nicht an Rüstzeug für das rondragefällige Kriegshandwerk. In Halterungen gelegt oder zu Pyramiden gestellt warteten, matt glänzende Hellebarden und Glefen darauf, durch den Ruf der Himmlischen Leuin erweckt zu werden. Kurzschwerter und Ochsenzungen ruhten wohlverwahrt in Kisten, mitsamt Scheiden, Gürteln und Gehängen – das wusste Gesine. Außerdem ein Dutzend Ogerfänger: nach den schrecklichen Verlusten in der Schlacht gegen die Menschenfresser hatte Baronin Tsalinde eine eigentümliche Obsession für diese Waffe entwickelt.
Schon etwas betagte Gambesons, Kurbule, Wehrheimer Nasalhelme und Beckenhauben hingen gut sichtbar an Gestellen, denen irgendjemand den Namen „Goblins“ gegeben hatte: Außer wegen der gedrungenen Form wohl auch aufgrund des Umstandes, dass sie zu dem Wenigen in der Kammer gehörten, das nicht zum Kampf zu gebrauchen war. Sokramorische Eisenhüte, darpatische Birnhelme, garetische Sturmhauben, Halbharnische, Pavesen und tropfenförmige Schilde schmückten die Wände aus Naturstein oder die Deckenbalken, wenn sie nicht in Regale eingelagert waren. Ebenso elegant geschwungene Armbrüste mit eingebranntem Steinbockkopf und einige Bögen. Große Weidenkörbe enthielten Bolzen oder Pfeile, zu Zwanziger-Bündeln gerafft, andere Friedwangiskas, gekrümmte Wurfbeile - außerdem Streitkölben, Streitäxte, Morgensterne. Es roch nach Eisen und gefettetem Leder. Durch eine weitere Tür würde man, über knarrende Holzbohlen hinweg, hinaus zum Wehrgang gelangen.
Sie konnte nur von der Waffenkammer aus geöffnet werden, dafür sorgten zwei eingelegte Balken. Der Blick der Schneißerin glitt über Gabeln zum Umstossen von Sturmleitern, kleine Kesseln zum Verschütten von heißem Pech, einen säuberlich aufgeschichten Vorrat an Wurfsteinen - für die erste Notwehr an der Mauer - sowie Gussformen für Pfeilspitzen.
Die Konnetablin der Steinbockgarde – Gesine empfand sich in diesem Moment wieder als solche – lächelte grimmig und drehte ein in eine Kurbelmaschine eingespannten Schleifstein. Bei der Himmlischen Leuin…Es war gut, wenn sich Menschen in der Herrin Rondras Namen zur Schlacht rüsteten.
Hart und schwer legte sich von hinten eine behandschuhte Rechte auf ihre Schulter.
„Überlegs dir nochmal“, wiederholte der Leutinger. Severin Rammhölzels Stimme klang so kratzig wie es sein Kinn nach mehreren Tagen ohne Rasur war. Er roch nach Kohl und Bier.
„Überlegs dir noch mal gut. Was wir hier tun, das ist Verrat.“
Gesine streifte die Hand ab und drehte sich um, wobei sie darauf achtete, sich nicht das Hirn an einem der Deckenbalken zu zerrennen. Weitere Steinbockgardisten standen vor der Tür, darunter Korporalin Lutina Burgwart, und der junge Rottmeister Ulfert Grütz, der die Rotpelze befehligte. Wenn es hart auf hart kam, würde sie zumindest den Grützer und seine Goblins auf ihrer Seite haben. Serwa war bei den Njakuul beliebt.
Lutina hielt sich mit ihrem kleinen Anhang aus allem heraus – sie waren einfach zu schlicht gestrickt, um mehr als nur Mitläufer zu sein. Severin und Zekla, die Anführerin der ersten Rotte. Bei ihnen handelte es sich um die Wortführer der Schwankenden. Wie der Leutinger, empfanden aber die meisten Büttel zumindest Widerwillen gegen einen erneuten Aufstand.
„Gestern, im Ogerlöffel, da warst du noch meiner Meinung, Leutinger“, sagte sie ruhig.
„Vor nicht mal einem Götterlauf warst du ebenfalls noch anderer Meinung“, erwiderte Gerrichs offizieller Stellvertreter und schob sein verrutschtes Barett gerade. „Da hast nämlich Du Baron Alrik verraten…“
„Mag sein, dass das nicht meine Sternstunde war. Ich versuche meine Fehler von damals wieder gut zu machen.“
Ein abgehacktes Lachen. Severin nahm den Hut herunter, enthüllte einen weitgehend kahlen Schädel.
„Nicht deine…Sternstunde? Sternhagelvoll warst du damals, als wir auf deinen Befehl hin Serwa in den Kerker geworfen haben. Und jetzt ist plötzlich das Gegenteil richtig? Gestern so, heute so. Man könnte meinen, du wärst mit dem Rastlosen im Bunde, Gesche…Gütige Mutter Darpatiens, steh uns gegen das Böse bei…“ Hastig schlug der grobschlächtige Mann im wattierten Waffenrock das Zeichen der Gans und riss dabei die Augen auf, als wäre er des Erzdämonens bereits ansichtig geworden.
Gesine reckte ihr Kinn. „Wenn du mich daran hindern willst, das zu tun, was ich vorhabe...“ Sie senkte ihre Stimme, die zu einem wütenden Zischen wurde. „…dann solltest du es jetzt tun. Das gilt übrigens für jeden von euch. Alara ist doch schon lange von Hesinde verlassen. Ich habe sie auf den Thron gebracht, im guten Glauben, dass es unter ihr besser werden könnte. Zum Dank wirft sie mich gleich mit ins Angstloch…Und warum? Weil ich es nicht dulden wollte, dass sie einen Wehrlosen niederschießt wie einen Hund…Nur um jedermann ihre Macht zu zeigen.“
„Noch haben wir keine Beweise, dass du nicht in den Mord an Prätor Hergold verwickelt bist. Überhaupt…Auf deinen Kopf ist ein hübsches Sümmchen ausgesetzt, Gesine…“
Severin blickte merkwürdig. „Fünfundzwanzig Goldstücke sind viel in der heutigen, unseligen Zeit. Werden wohl nicht umsonst ausgelobt worden sein…Eigentlich müssten wir dich verhaften, nicht den Konnetabel Gerrich…“
„Red keinen Unsinn. Wir kennen uns, seitdem wir noch so klein waren, Leutinger.“ Sie zeigte es mit der Hand an. „Haben zusammen gespielt, Elf und Zwerg, Alveran und Niederhöllen. Und jetzt soll ich im wahren Leben bei den Niederhöllen sein und du bei den Alveranischen? Du bist ein Schneißer wie ich, Severin. Nachbarskinder warn wir, drei Höfe weiter hast du gewohnt. Was sind dagegen schon fünfundzwanzig Goldstücke? Ein treuer Freund…das ist mehr wert, soviel mehr…Severin Rammhölzel…Wie oft haben wir gemeinsam den Becher gehoben…früher? Schau mich an. Traust du mir zu, seine Hochwürden zu erschlagen, drunten in der Sankt Alborans-Basilika…Aus Bosheit und Mordlust?“
Der Schneißer zuckte mit den Schultern.
„Neinnein…Aber Serwa, der Gallyser Hex´ trau ichs zu, und dem weißhaarigen Zauberer…Auf dem Scheiterhaufen sollte man die verbrennen…Sagt man“, fügte er hastig hinzu.
„Nein. Da leg ich zuvor noch meine Hand ins Feuer…Für beide, Hesindian wie die Baronin. War ja dabei in der Nacht, als sie aus der Burg geflohen ist. Wie könnt ihr nur so schlimme Gerüchte glauben? Von Leuten, die weitaus Schlimmeres getan haben - vor euren eigenen Augen? Die euch die Würde genommen haben, das Vertrauen in die rechtmäßige Herrschaft. Das sie selbst nicht verdienen - und die ihren Untergebenen ebenfalls nicht mehr trauen…“
Betretenes Schweigen, also hakte die Befehligerin nach.
„Schaut doch nur mal an dir selber runter, Severin. Einen armseligen Dolch und den Kampfstab, mehr haben sie dir nicht gelassen. Ordentliche Waffen bekommt nur, wer gerade zur Wache eingeteilt ist. Und das ist nur eine Handvoll. Von den Kampfstäben haben sie sogar die eisernen Bänder heruntergerissen, so sehr misstraut Gerrich euch. Ach nein, es war ja nur, um Pfeilspitzen daraus zu gießen, ich vergass…“
Gesine musste zugeben, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Die Entwaffnung des einst so stolzen Banners „Friedwanger Gebirgsschützen“ hatte schon unter Alrik eingesetzt, der in den Jahren der Not einen Großteil ihrer Waffen verramscht hatte...ebenso wie der Baron das Marktfriedwanger Zeughaus leergeräumt hatte. Zuletzt hatte sich die Befehligerin mit der rondraeifernden Burgkaplanin Yandrade herumschlagen müssen: Nur knapp hatte sie die Firunslicht daran gehindert, das „rondralästerliche Schießzeug“ der „Steinböcke“ einfach zu zerschlagen oder in den Scheiterhaufen zu werfen. Nun hingen die Armbrüste in der Rüstkammer, die unter Oleana so gut gefüllt war wie schon lange nicht mehr – offenbar mit Beutestücken von Gerrichs Haufen.
Die Schneißerin hinkte einen Schritt auf Severin zu, tippte ihm gegen den blau-silbernen Waffenrock.
„Fremde, Söldner haben jetzt das Sagen auf dieser Burg. Söldnergeschmeiß wie der Abschaum, der in der Blutnacht eure Vorgänger erschlagen hat. Es waren meine Gefährten, die damals gestorben sind. Ich bin fast die letzte der Alten Garde, die noch lebt. Glaubt ihr, diese Korgesellen da draußen sind besser als die Mörder von damals? Nur weil ihr jetzt vor ihnen katzbuckelt, statt gegen sie zu kämpfen? Sie sind schlimmer als die Augrimmer. Lungern im Gardehaus herum, fressen, saufen, huren. Hingegen müsst ihr beim Gesinde übernachten, als wärd ihr einfache Knechte oder Mägde. Hätte ich nicht gewusst, dass der Burgschmied Fredo einen zweiten Schlüssel zur Waffenkammer hat, ihr wärd niemals mehr hier herein gekommen. Wenn ich mir euch so anschaue…Ihr wollt noch die legendäre Friedwanger Steinbockgarde sein? Das ich nicht lache…Die Rotpelze haben mehr Schneid und Ehre im Leib als ihr…“
Tatsächlich hatten die Njakuul sofort und ohne Umschweife die Seiten gewechselt. Sie huschten (hoffentlich) bereits eifrig in der Burg herum, besetzten die Türme und Wehrgänge. Das war beinahe unnötig: Gerrichs Leute hielten sich in der Vorburg auf – in der närrischen Hoffnung, etwas von der Hinrichtung auf dem Friedwanger Marktplatz mit zu bekommen.
„Ich habe Oleana den Treueid geschworen. Wir alle hier haben das.“ Severin setzte die Kappe wieder auf. „Also komm uns nicht mit Goblin-Ehre…“
„Du hast auch mal Alrik den Eid geschworen, und Serwa…“
„Der Hexe und dem Phexischen?“
„Wacht endlich auf. Oleana ist die wahre Verbrecherin, das wisst ihr genau…Sie ist mit der Finsternis im Bunde, Praios sei mein Zeuge. Sie und ihr schurkischer Vater, der bereits von einem fürstlichen Gericht zum Tode verurteilt worden ist. Spätestens seit Gernots Rückkehr seid ihr nicht mehr an den Treueid gebunden. Das muss doch jedem klar sein…“
Etwas verlegen trat der Leutnant von einem Bein auf das Andere.
In gutmütigerem Tonfall fügte die Bretzelbeck hinzu: „Wir alle haben einen Fehler gemacht, damals, an diesem unseligen Tag im Efferd, als wir Oleana auf den Steinbockthron gehoben haben. Mit den besten Absichten, mag sein, aber unsere Hoffnungen wurden grausam enttäuscht. Nun kommt…stoßen wir die Frevlerin wieder hinunter…Der Aufstand beginnt so oder so. Auch ohne eure Mithilfe, wenn es sein muss. Versäumt es nicht, euch wenigstens diesmal auf die richtige Seite zu stellen.“
Gesines Hände ruckten zu einer Hellebarde mit darpatischem Axtblatt. Sie nahm die waagrecht liegende Waffe von ihrer Halterung herunter, reichte sie Severin und blickte ihm dabei fest in die von buschigen Brauen verzierten Augen.
Er zögerte, verkniff den Mund.
„Für Friedwang“, flüsterte Gesine. „Für die Schwarzsychler Fryheyt.“
Ein verächtliches Schnauben.
„Wieder mal schöne Worte, mehr nicht…“, kam es zurück.
Die Schneißerin griff ihrem Gegenüber ohne Vorwarnung ans stoppelbärtige Kinn, hob es hoch, drückte ihm einen heißen Kuss auf die Lippen, lang und innig.
Erstaunt sah der Korporal seine Befehligerin an, die ihn, breitbeinig, mit glühenden Augen und einer Hellebarde in der Rechten, eher an ein Räuberliebchen erinnerte. Ein süßer, lieblicher Geschmack brannte auf seinen Lippen, die feucht von Gesines Spucke waren. Ob er wollte oder nicht, ihm entrang sich ein Lächeln.
Zwei kräftige Hände schlossen sich um den achtseitigen Schaft aus Eschenholz, reichten sie kurzentschlossen weiter.
„Eins sag ich dir, Gesche. Das ist mein letzter Umsturz…“ Severin grinste wölfisch. Ein raues Glücksgefühl breitete sich in ihm aus.
Gerrich klirrte durch die Gänge von Burg Friedstein. Irgendetwas stimmte gerade ganz und gar nicht. Die Büttel hatten den Auftrag, auf der Veste in Oleanas Abwesenheit weiterhin Wachdienst zu schieben, und er sollte sie beaufsichtigen. Aber keiner von den Burschen und Mädels war zu sehen – im Palas nicht und auf dem Hof auch nicht. Eigentlich konnten sie sich nur im Gardehaus aufhalten.
Er hasste das Gefühl, von seinen Söldnern getrennt zu sein. Etwas war oberfaul, das sagte ihm sein Instinkt. Noch dazu braute sich ein Gewitter über den Bergen zusammen, im Haus wurde es immer dunkler und finsterer. Der Kondottiere lockerte das Schwert an der Seite und stürmte die Wendeltreppe in den Thronsaal hinunter. Dann stutzte er. Ein Mann saß im Steinbockthron, einen Federhut lässig ins Gesicht geschoben, die ungeputzten Stiefel lagen noch lässiger auf der großen Festtafel. Pfeifenqualm stieg von dem halb verdeckten Gesicht auf.
„Was tut Ihr hier?“ Mehr verblüfft als verärgert blieb der Söldner stehen.
„Ich wohne hier“, ließ sich der Fremde mit kehliger Stimme vernehmen. Der Mann schob den Hut hoch. Eine Pfeife wippte in seinem Mundwinkel. Ein Spitzbart zierte sein hinterhältig aussehendes Gesicht, der ganze Bursche wirkte etwas ungepflegt. „Wenn`s pläsiert.“
„Es pläsiert durchaus nicht. Wer seid Ihr?“
„Alrik Tsalind von Friedwang.“
Gerrich lachte auf, aber es klang bereits alarmiert.
„Der wird unten im Dorf gerade einen Kopf kürzer gemacht…“
„Natürlich der andere…“
„Der Lügenbaron?“
„Oh, führe ich jetzt auch noch diesen Titel?“ Alrik nahm die gespornten Stiefel herunter. „Bleiben wir doch einfach bei – Euer Hochgeboren… Probiert es einfach einmal aus, Ihr werdet Euch wundern, wie leicht es einem über die Lippen geht…“
„Ihr seid ein Phexgeweihter und Lügner…“
„Ich lüge nur in Notfällen und nicht häufiger, aber vielleicht besser als andere.“
„Ein schmutziges Geheimnis zählt bereits soviel wie eine Lüge, Mondschatten. Ihr habt kein Recht, über dieses Lehen zu herrschen.“
„Sagt wer?“
„Oleana…“
„Oleana? Besser ein Lügner beherrscht dieses Land als die Lüge selbst.“ Locker, aus dem Handgelenk, warf Alrik einen leise klirrenden Beutel auf den Tisch, und stieß ihn dann in Gerrichs Richtung. „Wenn Ihr Euer Schwert loslasst, könnt ihr den Inhalt nachzählen. Vielleicht überzeugt er Euch von der Rechtmäßigkeit meiner Ansprüche…“
„Was ist das?“
Abschätzend blickte Gerrich auf das pralle Stoffsäckchen.
„Xeraanische Blutdiamanten…Der Gegenwert dürfte ausreichen, um Euch, Eure Leute mitsamt Pferden, Waffen und ihren Heimatdörfern zu kaufen. Fragt die Feilscher von Zaberg…“
Gerrich wollte seine Hand bereits auf den Beutel legen, zog sie aber zurück.
„So einfach ist das nicht. Beim Donnernden Himmelreiter!“
„Soll ich noch die Al´Anfanischen Dublonen in meinem anderen Beutel drauflegen?“ Alrik stieß ein Qualmwölkchen aus. „Gerrich, hört sich ja schon an wie gierig. Ach, wo habe ich ihn denn…?“
„Ich habe auf den Khunchomer Kontrakt geschworen, Ihrer Hochgeboren treu zu dienen. Habt Ihr noch nie etwas von Söldnerehre gehört?“
„Nein, das Wort wäre mir neu.“ Alrik paffte erneut.
„Ganz einfach.“ Mit scharrendem Geräusch glitt die Klinge des Burghauptmanns aus der Scheide. „Meine Söldnerehre besagt: Warum soll man für Gold zum Feind überlaufen, wenn man den Feind erschlagen und das Gold auch so einstecken kann?“
„Ach das meint Ihr. Meine Weisheit dazu lautet: Warum soll man einen Feind zum Überlaufen bewegen, wenn man eh schon in der Überzahl ist?“ Alrik stand auf, legte die bereits erkaltete Pfeife auf den Tisch und pfiff laut. Die Türen zum Thronsaal flogen auf, und ein Dutzend Büttel drängte mit Glefen, Hellebarden, Armbrüsten und gezückten Kurzschwertern herein. Vorneweg hinkte eine nicht mehr ganz junge Frau im Lederharnisch, ein Schwert drohend erhoben.
„Gesine Bretzelbeck…“ Gerrich hob die ergrauten Augenbrauen. „Heute nüchtern?“
„Ich werde meinen Fehler ausbügeln“, knurrte die Gardistin. „Ihr seid nicht länger Burghauptmann. Nun macht schon. Nehmt Euren Lohn und verschwindet, oder wir…“
„Oder was? Nun fühlst du dich, stark, was, Füchslein?“ Verächtlich nahm Gerrich den Beutel, wog ihn geringschätzig – und warf ihn zurück über den Tisch. „Ich werde bis zum Ende für die Herrin kämpfen, die mich gemäß Vertrag bezahlt. Greift mich ruhig an, die Hälfte von euch traurigen Gestalten nehme ich mit über den Yaquir, dass schwöre ich euch beim grimmen Schnitter. Mindestens…“
Tatsächlich sahen die Wachen doch recht zaghaft drein.
„Oleana ist eine Dienerin des Namenlosen…“ sagte der Baron beschwichtigend. „Hat sie das auch in den Vetrag geschrieben?“
„Das sagt ihr feinen Herren doch immer über eure Feinde.“
„In diesem Fall stimmt es sogar.“
„Genug. Komm her, Alrik, wenn du blanken Stahl verträgst. Oder kämpfst du nur mit Täuschung, Lüge, Geld und Verleumdung, du blutleerer Feigling?“
Die Büttel drangen wütend näher, aber Alrik hob die Hand und umrundete den Tisch. „Lasst ihn, wenn, dann gehört er mir…Euer letztes Wort, Gerrich?“
„Nein, Euer letztes Wort, Alrik!“ brüllte der Söldner und warf sich mit erhobenen Schwert auf seinen Gegner. Pfeifend surrte die schwere Klinge herab. Alrik wich aus, der feindliche Stahl trennte eine Feder seines Huts entzwei und klirrte über den Steinboden. Der Streuner zog sein Rapier.
Wütend prallten sie gegeneinander. Fauchend zischte Alriks Klinge in Richtung seines Gegners, aber Brandroder parierte. Metallisches Scharren, als Stahl über Stahl fuhr. Einen Herzschlag lang hatte Alrik Gelegenheit, die lange, gefurchte Narbe auf der Stirn seines Gegenübers zu begutachten.
Der Hauptmann warf den Phexgeweihten aus der Bindung zurück. Der falsche Alrik taumelte durch die Reihen seiner Büttel. Einen Augenblick lang verlor der schwer gerüstete, nicht mehr ganz junge Angreifer das Gleichgewicht, ließ die Klinge keuchend zu Boden sinken. Ein schneller Gegenstoß. Blitzendes Metall. Ächzend wich Gerrich zur Seite aus, spürte die Tischplatte am Harnisch, griff aus der Rückhand aus an. Schlag, Gegenschlag. Stiefel stolperten und rutschten unsicher über den strohgedeckten Boden. Ein mörderischer Hieb Brandroders traf eine Wehrheimer Gestechrüstung, die zur Zierde an der Tür stand, köpfte sie und ließ auch den eisernen Leib scheppernd in sich zusammenbrechen.
Die Söldnerin rührte dröhnend das Kalbsfell der Trommel. Das Stimmengewirr auf dem Marktplatz verstummte, alle Blicke hefteten sich aufs Schafott. Der Delinquent wurde mit einem Hellebardenschaft hinauf gestoßen, im weißen, an der behaarten Brust geöffneten Leinenhemd, die Hände auf den Rücken gebunden. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, was nicht nur am Henker mit blutroter Kapuze lag, der ihn oben erwartete: beide Hände auf den Griff des Richtschwerts gestützt, als wolle er für irgendein finsteres Porträt posieren. Tatsächlich schoben sich erste dunkle Wolken vor die Mittagsonne. Die Welt begann sich zu verdüstern. Irgendwo in der Ferne grollte der Donner.
„Wollt Ihr noch etwas sagen?“ Dumpf und lieblos drang die Stimme des Scharfrichters unter dem Stoff seiner Verlarvung hervor.
Noch eher der arme Sünder antworten konnte, packten ihn zwei Söldner – ein blonder Tobrier sowie ein Rotpelz - und stießen ihn zum Richtblock. Das Opfer wirkte benommen, ließ alles mit sich geschehen.
„Halten wir uns nicht lange mit Gequatsche auf, es wird gleich regnen“, knurrte die eine Wache und trat seinem Opfer in die Kniekehlen, so dass es stöhnend in sich zusammensackte.
„Ja, unsswar Blut“, lispelte der Goblin und kicherte.
Grob drückten sie den rasierten Kopf des Friedwangers nach vorne.
„Tu deine Pflicht, Henker!“
Der Vermummte nickte und hob, mit Blick zur Tribüne, beidhändig das mächtige Schwert über die Schulter.
Überheblich grinsend schüttelte Alrik sein Handgelenk, entspannte für einen Moment die schweißige Hand, die den Griff des Rapiers umklammert hielt. „Nun kommt schon, Meister Gerrich, lasst das plumpe Herumgekrebse. Wir haben nicht ewig Zeit. Ich muss ja noch meinen Bruder gleichen Namens befreien, fällt mir ein…“
Statt zu antworten, griff Gerrich mit hoch über dem Kopf erhobenem Schwert an. Alrik pendelte zur Seite, und die Schneide fuhr in die Tischplatte. Krachend brach das Möbel in sich zusammen.
„Den Schaden zahlt ihr mir“ rief der Streuner, während sein Rapier funkensprühend über Gerrichs Schenkel und den eisernen Diechling darauf klirrte.
„Wenn…dann zahl ich ihn…Oleana.“ Das Schwert des Korgesellen ratschte über Alriks Wange, blendete ihn für einen Moment mit dem eigenen Blut. Gerrich fintete, der Streuner schlug in die Luft, der nächste Schlag riss ihm das Wams am rechten Oberarm auf. Schreiend ob des scharfen, schneidenden Schmerzes sackte der Baron in sich zusammen. Er versuchte sein Rapier zu heben, gab den Versuch nach einem halben Spann, einem Schwall triefenden Bluts und erneutem Schrei auf.
„Nun, was ist jetzt Großmaul?“ knarzte Gerrich. „Hast du schon genug?“
Alriks Linke schloss sich um das vorschießende Schwert, um die Schneiden herum, stoppte die Spitze ein paar Fingerbreit vor seinem Unterleib. Blut suppte zwischen den Fingern hervor, aber das Gesicht des Mondschatten zuckte kaum. Nur seine Lippen bebten, als er heiser keuchte: „Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, Arschloch!“
Der Rapierkorb krachte in Gerrichs Gesicht, zertrümmerte mit leisem Knacken das Nasenbein. Alrik brüllte bei der Bewegung vor Schmerz. Dann ließ die zerschnittene, blutige Linke das Schwert los. Die Rechte zog das Rapier durch Gerrichs Gesicht, schließlich warf sich Alrik brüllend auf ihn, bis beide gegen die Wand krachten.
„Du Dreckschwein bist tot.“
Erneut ein Hieb mit dem Rapiergriff auf Gerrichs Stirn. Zerbeult rutschte ihm die Beckenhaube vom Kopf. Nach einem Herzschlag fasste der Söldner sich wieder, griff an, mit blutverschmiertem Bart, hieb aber zu kurz. Alrik wechselt den Rapier von der blutroten Rechten in die Linke, wehrte ungelenk einen Spalthieb ab, fintete, hieb dem Mann in die Seite, aber zu schwach, um den Wehrheimer Platte zu durchdringen. Ein klirrender Gegenstoß. Seine Handgelenke schmerzten unter der Wucht des Aufpralls.
Der Hauptmann torkelte für einen Moment, zeigte Trefferwirkung. Eine Rippenprellung oder so etwas in der Art war wohl drin gewesen, die zerschlagene Nase hinderte ihn wohl am Atmen. Die Spitze seines Schwerts schleifte bereits über den Boden. Dennoch war er erstaunlich gelenkig. Ein Hieb des Brabakers ging nur in eine Kerze, spaltete sie der Länge nach. Der nächste Schlag rasierte zwei weitere seitlich ab. Der schmeideiserne Kerzenhalter wackelte.
Er drängte den Kondottiere mit einem Schlag zurück, nahm ihn über Kopf in den Block. Keuchend rangen sie miteinander. Wütende Augen blitzten ihn aus einer roten, verschwitzten Maske heraus an, einem zornig geöffneten Mund entrang sich vor Überanstrengung ein Stöhnen. Nun machte sich doch Alriks Jugend bemerkbar. Aber sein Feind war für seine vielen Götterläufe wendiger, als er gedacht hatte. Brandroder ging zwar für einen Moment in die Knie, löste sich dann aber mit einem Aufschrei aus der Parade, hieb von unten nach den Beinen des Friedwangers.
Reflexartig sprang der Streuner hoch. Die Klinge zischte unter seinen Füßen vorbei, gleich der Sense des Schnitters beim Kornschneiden. Er nutzte den Sprung zu einem Tritt gegen die Brustplatte seines Feindes, der einen Schritt zurücktaumelte. Aber auch Alrik strauchelte, prallte gegen die Mauer, versuchte sich mit der Rechten abzufangen, hinterließ einen scharlachroten Handabdruck auf dem Verputz. Die Handfläche brannte. Hastig wich er einem erneuten Angriff aus wie den Hörnern eines wütenden Stiers. Stahl ratschte funkensprühend über die Wand. Da würden einige Scharten bleiben.
Gerrich schepperte mit dem Rückenteil seines Harnischs dagegen, setzte dem zurückweichenden Gegner aber sofort nach. Der noch immer wackelnde Kandelaber stürzte mit Höllenlärm um. Ein weiterer, kraftvoller, aber wenig origineller Hieb des Kordieners. Bevor der ihn in den Bauch hacken konnte, parierte Alrik. Singendes, gequältes Metall. Ein wütender Stoß, wiederum von Gerrich elegant aufgefangen. Das Spiel konnte noch lange so weitergehen.
Das Volk stöhnte auf, als der schwere Zweihänder hernieder sauste. Ein kurzer Lichtblitz in der Luft, dann duckte sich der Gefangene wieselflink unter dem Enthauptungsschlag hinweg. Sich nestelnd aus den Fesseln zu befreien und zu einer schmalen Wölbung unter dem Stroh zu rollen war beinahe eine Bewegung. Bishdarielon zog das Schwert hervor, sprang auf – und sah erst jetzt, dass er nur einen Griff mit einer knapp darüber abgebrochenen Klinge in der Hand hielt.
„Sieht so aus, als hätte da jemand den Kürzeren gezogen“, klang es dumpf und höhnisch unter der Kapuze hervor, deren schwarzer, schweißgetränkter Stoff bei jedem Wort in der Mundgegend vibrierte.
Aus der Rückhand hob der Henker die tödliche Waffe, hieb erneut zu. Der Stahl durchtrennte wuchtig den rechten Arm des Delinquenten, knapp unter der Schulter. Eine pralle Blutfontäne spritzte und sprühte hervor, der halbierte Knochen war noch zu erahnen. Mit entsetztem, vor Schmerz und Panik verzerrtem Gesicht sank der Mann in die Knie.
Hämisch grinsend unternahm Gernot einen weiteren Hieb, diesmal von der Seite, aus der Hüfte heraus. Ein knirschendes Geräusch. Der Zweihänder trennte den Kopf glatt von Bishdarielons Rumpf, der dumpf aufs strohgedeckte Holz polterte. Einen Augenblick lang schwappte der rote Lebenssaft aus Hals- und Schulterwunde dunkel ineinander, wie ein famoses horasisches Wasserspiel. Dann kippte der Torso langsam und bedächtig nach vorne, zuckte mit den Beinen noch einmal kurz hoch und blieb dann starr und steif liegen. Wie ein umgekippter Weinschlauch, entleerte er nun schankweise Blut aufs Schafott.
Freudig verblüfft, dass ihm die Hinrichtung so leicht von der Hand gegangen war, aber auch enttäuscht ob der Schnelligkeit von Bishdarielons Ableben, hob der Henker das Richtschwert in die Höhe, genoss die verstörte, atemlose Befriedigung des Volkes, die in der schwülen Mittagssonne wie ein Sog an ihm zerrte.
Er schloss die Augen unter dem schwarzen, mit einzelnen Blutflecken bespritzten Mummenschanz. Dieser Augenblick durfte nie vergehen. Triumph…so also fühlte sich der Triumph an. Vollkommener Sieg…Seine Feinde vernichtet. Und dennoch, ausgerechnet jetzt stahl sich ein schaler Beigeschmack dazwischen. Ein Misston. Irgendetwas stimmte hier nicht ganz zum vollkommenen Glück. Er öffnete die Augen wieder. Dann sah er es.
Mit nassem, schmatzendem Geräusch begann das Blut in den Leib zurück zu fließen, als habe Satinav den Verlauf der Zeit selbst umgekehrt. Wie Meereswasser bei einsetzender Ebbe den Strand hinauf, kroch der Lebenssaft langsam aber stetig in den bleichen Leib des Geköpften zurück. Selbst dort, wo das Blut bereits das Stroh getränkt hatte, wich es scheinbar vollkommen aus den Halmen.
Schreie wurden im Volk laut. Das durfte…einfach nicht wahr sein. Das war Hexenwerk! Schwarze Magie!
Der niedergeworfene Körper stand wieder auf, etwas schwerfällig und steif vielleicht, aber zielstrebig, packte den abgetrennten rechten Arm und stopfte ihn sich einfach an die Schulter, wo er sang- und klanglos wieder anwuchs, als bestünde er aus heißem Wachs. Dann streckte er die Rechte gebieterisch aus, und der abgetrennte, bleichlippige Kopf rollte eckig hinauf, wie ein Hut bei irgendeinem Zaubertrick.
„Hoppla.“ Das Haupt saß verkehrt herum auf den Schultern, also rückte „Bishdarielon“ es kurzerhand mit beiden Händen in die richtige, nach vorne gewandte Position.
Was auch immer sich das Volk von dieser Hinrichtung versprochen hatte, seine Erwartungen wurden gerade bei weitem übertroffen. Aufruhr und Tumult brachen los. Die Wachen hatten Mühe, mit vorgehaltenen Hellebarden- und Pikenschäften die Gaffer im Zaum zu halten und selbst genügend von dem Schauspiel auf dem Schafott mit zu bekommen.
„Gernot, Gernot.“ Der falsche Bishdarielon schüttelte den gerade noch abgehackten und jetzt wieder angewachsenen Kopf. „Wie soll das mit dir noch enden? Erst schließt du einen Pakt mit meinem Herrn, den Vielgestaltigen Blender, und dann schleichst du dich einfach durch ein Hintertürchen aus ihm hinaus. Nein so was. So können wir aber nun wirklich nicht miteinander umgehen. Die Niederhöllen und Du…“
Der dämonische Doppelgänger unternahm einen Schritt auf den Henker zu, der zurückwich – und merkte, dass er bereits am äußersten Rand des Schafotts stand.
„Ich frage mich gerade, wie ich deine Missetat angemessen bestrafen soll. Mal überlegen. Wenn es etwas gibt, was ihr Tyrannen fürchtet, so ist es das Volk, nicht wahr? Vielleicht sollte ich dich seiner Rache ausliefern. Doch halt. Da fällt mir gerade etwas Besseres ein.“ Er unternahm einen Schritt auf den Scharfrichter zu.
Ein Pfeil zischte aus dem Nichts an der schwarzen Kapuze des Henkers vorbei. Keuchend riss sich Gernot die Maske vom Gesicht. Erneut ging ein Raunen durchs Volk. Gernot war der Henker?! Das bedeutete, er hatte mit einem Schlag sämtliche Ehre verloren, die ihm trotz allem noch geblieben war.
Der Hochgeweihte Neibhard Garafanion von Eulenkuhl sprang auf seinem Sitz auf, reckte das Sonnenszepter vor und schlug das Zeichen des Auges: „Herr Praios, Ewige Sonne, Trenner von Recht und Unrecht! Gepriesen sei Deine Macht. Dein strafender Blick falle auf diesen Frevler. Dein Blick zerschmettere den Frevler. Dein Blick zermalme den Übeltäter! Gelobt sei das strafende Licht. Es sei!“
Aus dem bereits dunkel bewölkten Himmel löste sich ein gleißender Bannstrahl, der den falschen Bishdarielon traf und ihn innerhalb eines Herzschlags in ein dampfendes Aschehäufchen verwandelte. Ein Haufen Asche, der rasch im Wind verwehte.
Aber Gernot hatte kaum einen Blick für dieses Zeichen göttlicher Macht. Den blutverschmierten Zweihänder vorgereckt, suchte er nach dem Schützen in der Menge. Dieser eilte in Form eines in Leder und Fell gekleideten Waldläufers auf ihn zu, den Bogen in den Händen gespannt. Fluchend ließ der einstige Baron von Friedwang die Klinge fallen, sprang hinunter zu den Wachen. Er riss die schwere Armbrust eines Söldners an sich.
Orchan Erttelgrimm drang durch die auseinanderweichende Menge immer weiter in Richtung Schafott vor. Er griff über den Rücken zu seinen verbliebenen Pfeilen, zog einen davon heraus, legte ihn auf die Sehne, riss den Bogen hoch, zielte und schoss. Das Geschoss traf den Henker klatschend ins Bein. Gernot schrie auf, strauchelte, knickte ein. Dann legte er mit der Armbrust an, drückte den Spanner. Der Bolzen klatschte geradewegs in den Brustkorb des Firunis.
Seltsamerweise tut es nicht weh, dachte Orchan. Es ist nur…beschwerlich. Vor allem, was das Atmen betrifft. Er taumelte kurz, tastete rücklings nach einem weiteren Pfeil. Sein Ziel war im Begriff, einem weiteren Wächter die Armbrust zu entreißen. Er musste einfach schneller sein…
Schwerfällig und Blut hustend taumelte er auf sein Opfer zu. Erneut riss er den Bogen hoch, spannte ihn. Sie schossen beide beinahe gleichzeitig. Das Geschoss durchdrang Gernots Schulter, ließ ihn zu Boden stürzen. Orchan starrte auf seine Seite, die überaus schmerzhaft ein schwerer Armbrustbolzen zierte. Ein dritter Pfeil legte sich unter seinen Fingern auf die bereits verschwommene Sehne. Der Firuni hob mühsam den Bogen. Er würde kämpfend sterben. Seltsam, auf welch schlichte Zusammenhänge sich das Leben an seinem Ende reduziert.
Der ehemalige Baron von Friedwang ruckte ebenfalls noch einmal kurz auf, eher vom nackten Instinkt als vom eigenen Willen getrieben. Der heranzischende Pfeil durchschlug seinen Hals, hinterließ auf der anderen Seite eine kurz aufstäubende Blutwolke. Keuchend und würgend langte der tödlich Getroffene an seine Kehle, hielt kurz inne. Einen Moment lang schien er zu überlegen, welche Geste, welche Worte wohl dem Ende eines derartigen Lebens angemessen wären, dann kippte er kraftlos nach hinten, rollte zuckend zur Seite. Hauchte das Leben einfach so auf dem Alboransplatz von Marktfriedwang aus, in einer großen, dunklen, sich schnell unter ihm ausbreitenden Pfütze.
Orchan Erttelgrimm lächelte, schwankend, triumphierend und selbst bluttriefend. Erst jetzt bemerkte er mit vollem Bewusstsein den Bolzen, der aus seiner Brust ragte. Der Atem des Firungeweihten ging plötzlich rasselnd und stockend. Blut, immer mehr schwarzes Blut drang über seine Lippen.
So also sieht das eigene Ende aus, dachte der Nordenheimer ergriffen. Fast schon taten ihm die herumstehenden, entsetzten Dörfler leid, die diese Erkenntnis nicht zu teilen vermochten. Ein furchtbarer, einschneidender Moment – und doch so nichts sagend. Gar nicht schlimm, und dennoch an Grausamkeit nicht zu überbieten. Das Leben ging einfach über den Moment des eigenen Todes hinweg. So auch bei ihm. Und das war gut so. Dutzende Gesichter, die ihn verstört anstarrten. Dächer. Ein schwarzer Himmel, aus dem bald mit Blitz und Donner die Niederhöllen losbrechen würden. Er stürzte, fiel in eine endlose Dunkelheit.
Alrik griff erneut an, die beiden Klingen forkelten ineinander, verhakten sich. Erneut starrten sie sich an, mehr von Erschöpfung als Wut und Hass gezeichnet.
Der Söldner rammte mit Wucht seinen gepanzerten Ellenbogen in den verwundeten rechten Oberarm des Mondschatten. Ein schlichter, schmutziger einfacher Trick, aber er verfehlte seine Wirkung nicht.
Die Welt vor Alriks Augen ging in loderndem Schmerz unter. Schreiend brach er in die Knie. Ein weiterer Schlag riss ihm die Waffe aus der Linken. Einen Augenblick lang musste er das Bewusstsein verloren haben, denn als er wieder zu sich kam, lag er bereits hilflos auf dem Rücken.
„Selbstüberschätzung ist ein, p´h…ein übler Charakterfehler, p´h…. findet Ihr nicht, bei Kors Gnadenlosigkeit? P´h…“ Gerrich sprach näselnd, schwerfällig und spuckte immer wieder Blut, das ihm über das Gesicht und aus der eingedellten Nase in den Mund drang. Schwankend schob mit dem Fuß das Rapier in weite Fernen und setzte ihn dann Alrik auf die schweratmende Brust.
„Hee…? Was ist jetzt?“ Der Söldnerhauptmann spie ihm eine Mischung aus Blut und Speichel ins Gesicht. Als er sah, wie die Büttel näher drangen, setzte er dem Mondschatten beidhändig das Schwert auf die Kehle: „Ruft diesen armseligen Rebellenhaufen zur Räson, oder…. Eure Hinrichtung findet ebenfalls ….hier und heute statt! Das Spiel…. ist aus!“
Der Angriff kam ohne jede Vorwarnung, fand anfangs nicht einmal Widerstand. Die Fremden waren plötzlich überall. Immer mehr Sokramorier krochen aus dem Loch im Boden des Marktplatzes, den Tunnel nutzend, den sie in tagelanger Vorarbeit gegraben hatten. Vom nahen „Springenden Steinbock“ bis unter das Schafott. Die verstörte Menge schrie auf. Armbrustbolzen zischten von den umliegenden Dächern herab. Eine junge Frau stürzte mit einem Geschoss im Rücken zu Boden. Ein Rebell brach jammernd mit einem Pfeil im Oberarm zusammen. Die verstörte Meute verwandelte sich in eine panische Herde. Schreie, abgehackte Rufe, wildes Geschiebe und Gedrängel. Malte Hornbacher, der etwas abseits, an der Burggasse stand, reckte den Hals. Was war da los? Auch die Söldner in seiner Nähe wurden unruhig. Ein Mann in dunklem Kapuzenmantel trat neben Malte und Badilak, stürzte einen der Körbe mit faulem Obst um. Ein kreisrunder Fassdeckel kam zum Vorschein, der wiederum blitzende Kurzschwerter und Dolche verbarg.
„Was bei allen geifernden Dämonen?“ Ein Pikenier trat aus dem Absperrkordon auf den Unbekannten zu, blickte in den Korb. Der Nebenmann des Sokramoranbeters griff nach der Wasserflasche, die schlaff an seiner Seite hing. Ein ruckartiger Stoß dagegen, und von innen kam eine Messerspitze zum Vorschein. Der Kapuzenmann riss das entstandene Loch weiter auf, und zog die Waffe hervor.
„Du verfluchter Hund…“ Der Lanzenträger wollte wieder Abstand zwischen sich und den beiden Rebellen bringen, aber es war zu spät. Mit der Linken hielt der Kapuzenmann die Pike fest, mit der Rechten rammte er dem Söldner das Messer in den Hals. Blutspuckend ging der stoppelhaarige Hüne in die Knie.
„Bewaffnet euch!“ rief der Sokramorier den Umstehenden zu. „Für Baron Alrik Tsalind! Für die Freiheit!“
Er selbst riss das Kurzschwert aus dem Bandelier des sterbenden Mietlings.
Eine Wehrheimer Dogge sprang mit geiferndem Knurren auf den Mann zu, verbiss sich in seinen Arm. Kurz und heftig fauchte von der Seite ein Schwerthieb herab, zerteilte dem Tier die Flanke. Einen Augenblick lang grinste blankes Hundefleisch, dann spritzte dunkles Blut. Badilak…Der junge Unfreie zertrümmerte der grauschwarzen Bestie den gedrungenen Schädel. Der rote Balg stürzte klatschend in den Löschteich.
Malte war für mehr als einen Moment fassungslos. Was tat sein verrückter Freund jetzt schon wieder?
„Für die Freiheit! Für Sokramor!“ rief der unbekannte Rebell, vielleicht eine Spur zu grell, und hieb sein Kurzschwert einer Waffenmagd über den Eisenhut. Metall knallte auf Metall. Benommen taumelte die Frau zurück. Der Angreifer nutzte die Lücke in der Absperrung, drang auf die Gasse vor, wurde erneut von einem Hund attackiert.
Der junge Hornbacher sah, wie ein weiterer Korb umgestoßen wurde. Eine Armbrust, Bolzen, Wurfäxte, Schleudern, Steine und Klingen kamen zum Vorschein. Zwei, drei Schatten huschten umher, riefen Worte wie „Aufstand!“ oder „Für die Schwarzsichler Freiheit!“. Ein weiterer Büttel wurde in Richtung Weiher gezerrt und mit dem Gesicht voran ins Wasser gedrückt. Die Flamme des Aufstands griff bereits hell lodernd um sich.
Auch auf dem Marktplatz herrschte nun offener Tumult. Malte blickte in Richtung der Dächer, wo er rasche Bewegungen wahrnahm. Wie Fallobst purzelten einzelne Armbrustschützen die Giebel herab, getroffen von Pfeilen, die offenbar von der anderen Seite her abgeschossen worden waren.
Er sah mit glühenden Schläfen wieder nach vorn, zu seinem Freund. Ein Schwerthieb hackte Badilaks Hand ab, der zusammen mit dem Kurzschwert zu Boden fiel. Der nächste Stoß durchbohrte sein derbes, schmutziges Leinenhemd. Ein rohes Söldnergesicht unter einer Sturmhaube. Mit einem Stiefeltritt in Badilaks Unterleib brachte er sein Rapier wieder frei. Badilak schrie. Wie eine Strohpuppe brach er zusammen, verteilte sein Blut im Staub der Gasse. Malte runzelte verwirrt die Stirn. Der Todesstoß in Badis Kehle kam beinahe beiläufig. Ein Missverständnis…Das alles war nur ein grandioses Missverständnis… Der Mann, der dort gerade starb, das war doch Badilak Huckelacker, sein bester Freund, der alles besser wusste und die schöne Ida freien wollte…
Dann kam Badilaks Mörder auf ihn zu, klirrend, übermächtig, das bluttriefende Rapier erhoben. Die Klinge zischte herab. Malte ließ sich fallen. Scharfes, schneidendes, singendes Metall strich an seiner Wange vorbei. Er rollte sich über den Boden, griff nach einer faulen Birne, warf sie dem Angreifer gegen den Harnisch, wo sie wirkungslos zerplatzte. Ein Dolch, seine zitternden Hände ertasteten einen Dolch.
Angst. Er sprang auf, stand dem übermächtigen Kerl von Söldner jetzt fast Aug in Auge gegenüber. Ein erst abschätzendes, dann geringschätziges Grinsen. Der nächste Stoß fuhr heiß an seiner linken Taille vorbei, hinterließ einen klaffenden Spalt, der sofort mit warmem Blut gefüllt wurde. Ein harter Hieb mit dem Rapierkorb traf seine Stirn. Er erwachte neben dem Löschweiher, ein Stiefelabsatz bohrte sich gerade in seinen Brustkorb, spitzig suchte das Rapier seine Kehle. Ich habe doch gar nichts gemacht, dachte Malte mit einem Seufzen. Ich sterbe für nichts. Nichts.
Er schrie, ein wildes, panisches Tier, ein zuckendes Bündel Angst.
Dann prasselten die Geschosse herab, schlugen hart und unterschiedslos auf die Menschen am Platz ein. Hagelkörner, reinweiße, glitzernde, taubeneigroße Hagelkörner. Instinktiv riss der Söldner seine behandschuhte Linke hoch, um sein Gesicht zu schützen. Eine der Eiskugeln prallte gegen seine Stirn, blendete ihn mit Blut. Malte wand sich frei, stöhnte unter einem Treffer, dann wegen einem weiteren hellweißen Ball, der vom Boden abgeprallt war und gegen seinen Kopf schrammte.
Nur weg, weg von hier. Nicht sterben. Er hatte nichts mit alldem zu tun. Er war ein Bauer, kein Kämpfer. Nicht sterben…Badilak. Was sollte er dessen Mutter sagen?
„Kein Schritt zurück!“ Eine grobe Hand hielt ihn zurück. Hagen Stoors dunkle Augen sahen in sein Innerstes. „Ihr müsst jetzt kämpfen. Für Alrik…Für die Freiheit…“
Der Schultheiß ließ ihn los, zog blank, trat dem Söldner in seinem Lederharnisch entgegen. Stahl scharrte über Stahl, rutschte ab. Die beiden Kämpfer umrundeten sich, testeten gegenseitig ihre Schwächen, achteten nicht auf den sommerlichen Firunsgruß, der nach und nach die Erde bedeckte. Stiefel knirschten durch das blanke Eis, Waffen wurden gekreuzt. Der Tobrier fintete, stieß nach, zerfetzte den ungeschützten linken Oberarm des Gegners.
Der nächste Schlag traf den Mann auf der Stirn, ließ ihn in die Knie sinken. Es war, als wolle er sich bei Malte für sein Verbrechen entschuldigen. Entsetzt sahen sich beide an, ihre Augen flehten um Gnade. Dann schlitzte Hagen Stoor dem Söldling den Bauch auf.
Eingeweide glitschten hervor, die aussahen wie Fleischabfälle des Metzgers Wullenweber. Dieses Gewirr und Gekröse boten einen Anblick, von dem Malte immer gedacht hatte, Praios hätte ihn den Menschen verboten. Allein der Geruch war bestialisch.
„O…Ihr Götter…Ihr guten Götter…Nein! Nein! Nein!“ jammerte der Mann und presste seine blutbenetzten Hände gegen den Unterleib. „Marbo steh mir bei! Marbo…Marbo… O Ihr gütigen Götter! Aaaaahh….Aaaaah….AAAAAAAAAAHHHH!“
„Nun musst du ihm den Rest geben!“ Wie ein Vater, der sein Kind anleitete, legte der Schultheiß Malte die Hand auf die Schulter. „Gib ihm jetzt den Gnadenstoß!“
Der junge Friedwanger sah erst den brüllenden Mann an, dann den Dolch in seiner Rechten. Hatte der Perainegeweihte nicht gesagt, man dürfe einen anderen Menschen nicht töten? Metallisch-süßlicher Blutgeruch betäubte Maltes Sinne, stachelte sie aber auch an.
Heiße Schauder, wie eine Art Fieber, tobten hinter seiner Stirn. Aus den Augenwinkeln sah er Badilak verkrümmt daliegen. Der neunmalkluge Huckelacker, der immer als besser gewusst hatte, wirkte jetzt unwichtig und unscheinbar neben den anderen Toten, wie ein zweibeiniges Wildbret. Das Bild war seltsam unscharf und verzerrt, als wäre Malte heillos betrunken.
Er dachte an den ersten Hasen, den er damals geschlachtet hatte, und stieß zu. Schnell und weich, als stäche er in Grütze, drang der Dolch in die haarige Halswamme seines Feindes. Schwerfällig kippte der Söldner zur Seite, gab durch die Bewegung den Dolch wieder frei. Eine warme Fontäne sprudelte seinem Mörder ins Gesicht. Mit brechenden Augen blieb der Mann liegen, zitterte, zuckte, wurde stiller, starb. Malte spürte nichts, nicht einmal Genugtuung. Es ist irgendwie zu einfach, dachte er mühsam. Dennoch wusste er, dass ihn dieser Augenblick niemals mehr loslassen würde.
„Der Erste ist immer der schwierigste“, hörte er Hagen hinter sich sagen. „Nimm das Rapier…“. Der Tobrier blickte hinüber zu Badilak. „…und räche deinen toten Freund.“
Dann verschwand der Schultheiß, so plötzlich, wie er aus der wogenden Menge aufgetaucht war. Ließ ihn allein zwischen rennenden, schreienden, miteinander kämpfenden Gestalten.
Langsam stand Malte auf, merkte erst jetzt, dass er über und über mit dickem, süßlich riechendem Blut verschmiert war. Eine Decke aus Hagelkörnern bedeckte den Boden, vermischte sich mit den rötlichen Lachen. Regen setzte ein, und Gewittersturm. Alles erschien ihm als so unwirklich. Das hier war der Alboransplatz, Mittelpunkt der ruhigen, friedlichen Welt, wie er sie einmal gekannt hatte – und nun ein gurgelnder Mahlstrom aus Grausamkeit, Hass, Tod und Gewalt.
Malte schob sich den Dolch in den Gürtel, griff nach dem Rapier. Die Waffe lag schwer und tödlich in seiner Faust. Plötzlich fühlte er sich stark, wie ein junger Wolf, der zum ersten Mal Beute gerissen hatte. Der Wolkenbruch wusch ihn einigermaßen sauber, mit Ausnahme seiner Seele. „Rondra!“, dachte er. „Steh mir bei!“
Fühlte er sich unbesiegbar, oder war ihm einfach alles gleichgültig? In der Welt jenseits der Schreie und Schmerzen: Was hatte das alles hier zu bedeuten? Ein Befreiungsversuch? Aber der hätte auch weniger gewaltsam und blutig ablaufen können. Baron Alrik kehrte also zurück – aber welcher? Dennoch, es war gut und richtig, sich endlich gegen Oleana und ihre Schergen zu wehren.
Tief in seinem Inneren wusste er das. Die Söldner beachteten ihn nicht mehr, drängten in Richtung Marktplatz, vermutlich um ihre Herrin zu schützen. Es regnete, die Luft hatte stark abgekühlt. Malte fühlte sich nass und klamm, er triefte, zitterte. Die Reste des Hagelschauers knirschten unter seinen Füßen, durch das viele Blut rosig gefärbt. Zwei tote Hunde lagen in der Gasse, ein paar Bauern, hier und da ein Söldner, einer hing schlaff und kopfüber im Löschteich. Ertränkt.
Er beugte sich über Badilak, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. In den Augen fand sich keine Spur von Leben mehr. Sein Freund war ihm nun so weit entrückt, wie ein Mensch nur sein konnte. Tränen traten Malte in die ohnehin regenfeuchten Augen, ebenso wie Rotz in die Nase und sein Mageninhalt in die Kehle, aber er meisterte den Weinkrampf ebenso wie die Übelkeit und den Brechreiz. Hufgetrappel lenkte ihn ab. Die Reiter galoppierten die Burggasse hinunter, durch ein paar verwirrte Flüchtlinge hindurch, oder über sie hinweg. Wasser spritzte von den Hufen nach allen Seiten.
Er warf sich gegen eine Häuserwand, fest entschlossen, mindestens einen der Besatzer vom Gaul zu stoßen. Oder sollte er dessen Pferd angreifen? Die Entscheidung wurde ihm von einem Seil abgenommen, dass zwischen zwei Häusern hochschnellte. Die Anführerin parierte ihren Rappen. Letzten Endes war es mehr der glitschige Boden, der Roß und Reiterin zu Fall brachte, als der Strick. Die Spitze der Kavalkade verkeilte sich, ein wirres Knäuel aus stürzenden Pferden, zuckenden Hufen, aus dem Sattel geschleuderten Menschen. Der Schwarze überschlug sich, schleuderte die Offizierin wie eine Puppe durch die Luft, rutschte mit infernalischem Wiehern auf ihn zu. Malte wurde gegen die Hauswand geschleudert, spürte seine Schulterblätter knacken, dann hart, sehr hart einen Schlag gegen den Kopf. Das musste einer der eisenbeschlagenen Hufe gewesen sein.
Er blinzelte. Einige Momente fehlten in seinem Zeitempfinden und damit von dem Wirrwarr, das sich seinen Augen bot. Eingeklemmt, er war eingeklemmt. Unstet wie Wetterleuchten flackerten die Szenen auf der Burggasse vorbei, aber sein dröhnender Kopf war nicht mehr in der Lage, sie fortlaufend wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen. Fluchende Soldaten, die ihre kopfscheuen Pferde unter Kontrolle zu bringen und zu wenden versuchten, sich aber nur gegenseitig behinderten. Die Offizierin, die mit gebrochenem Arm aufstand, nach ihrem Säbel suchte. Fensterläden, die oberhalb der Gasse aufgestoßen wurden. Raue Gesichter mit Armbrüsten kamen zum Vorschein. Schatten unter Kapuzen mit Langbögen, die sich über die Dachgiebel beugten.
Einem Schwarm hungriger Vögel gleich stießen die Pfeile herab, immer und immer wieder. Malte staunte, wie schnell ein ganzes Dutzend Kämpfer in einem Hinterhalt niedergemacht werden konnte. Wo die schweren Spitzen mit Widerhaken auf Stahl trafen, knallte es metallisch, wo sie Stoff, Leder oder Haut durchbohrten, gab es nur ein grausames Zischen. Wer sich noch oben gehalten hatte, plumpste durchbohrt aus dem Sattel herunter, wer gestürzt war, starb am Boden. Am Ende blieb nur ein junger Kornett übrig, ein großes, panisches Gesicht unter verstrubbelten dunklen Haaren, die verschrammten Hände über den Kopf erhoben. „Nicht schießen. Nicht schie…“ Zu den zwei Pfeilen in Brustkorb und Rücken gesellte sich noch der Inhalt eines weiteren halben Köchers. Theatralisch schreiend brach der Junge zusammen, robbte noch einen Schritt auf eine schützende Seitengasse zu und blieb dann scheppernd liegen. Verwundete Pferde schrieen, fast wie Menschen. Eines zerrte eine sterbende Reiterin im Steigbügel hinter sich her.
Erst jetzt merkte Malte, dass auch in seinem Brustkorb ein braun gefiederter Pfeil steckte. Man kann in einer Schlacht also auch durch die Waffen der eigenen Leute getroffen werden, dachte er erstaunt. Der Regen wurde stärker, spülte ihn mit sich fort in ein bodenloses schwarzes Loch.
Die Dunkelheit verschwand von seinen Augen. Bishdarielon zwinkerte, als ihm die schwarze Kapuze abgenommen wurde. Man zerrte ihn auf die Beine. Es brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das unstete Fackellicht gewöhnt hatten. Dumpfer Singsang lähmte seine Sinne. Purpurne Gestalten… Die meisten Kultisten hatten sich um den Brunnen versammelt, die Hände zur Decke erhoben, die halbverdeckten Gesichter starrten auf das bläuliche Leuchten, den weißlichen Dampf, der von unten, aus der Tiefe, heraufdrang.
Man öffnete seine eisernen Fesseln. Der Krieger verkniff sich den Schmerz und blickte geringschätzig. Vertraute man derart auf seine Wehrlosigkeit? Das wäre ein Fehler…Bis auf diesen „Bannstrahler“ schien kaum einer der Anwesenden bewaffnet zu sein. Er versuchte sich zu erinnern. Das Gemetzel im Kerker…Gernots Ausraster…Sein verzweifelter Fluchtversuch…Die Kerkermeisterin, die ihn von hinten niedergeschlagen hatte…Dann war er bereits hier unten im Gewölbe zu sich gekommen…
Nein…nein…das entsprach nicht der Wahrheit…Da…war dieses glibbrige, grünliche, schleimende Etwas, das unter der Türritze der Kerkerzelle…nicht hindurchgeflossen war, nein, gekrochen, gewuchert, gewachsen war, wenn auch in atemberaubender Geschwindigkeit. Bishdarielon hätte die merkwürdige Substanz für einen der Schleimpilze gehalten, wie sie im Verlies zuhauf wucherten, wenn…ja, wenn das Ding nicht zu ihm gesprochen hätte…In seinem dröhnenden Kopf, im auf- abschwellenden Takt der Schmerzen, die wie Wellen gegen seine Schädeldecke gebrandet hatten…von innen…
Du gestattest, dass ich mir deine Gestalt ausleihe.
Die eisernen, rostverkrusteten Handschellen, mit denen er an die Wand gekettet war, hatten sich wie von Zauberhand berührt gelöst…Die amöbenartige Masse war immer schneller herangekrochen, hatte seine Füße erreicht…war an den Beinen hochgekrochen….hatte nach und nach seinen ganzen Körper bedeckt…glitschig, glibbrig, unangenehm…Kalt wie die Niederhöllen, und doch fiebrig heiß…Er hatte versucht, den Schleim abzustreifen, aber da war bald kaum mehr ein trockener Streifen Haut gewesen…Nicht einmal schreien konnte er, denn der ekelhafte Pilz wucherte ihn bis in den Mund…Es war grotesk gewesen….und doch…
Er öffnete die Augen, mit dem Rücken zur Wand. Der Pilz war verschwunden, aber der Dämon nicht. Bishdarielon sah sich selbst ins Gesicht, rötlich erhellt vom Licht der Fackel, das durch ein vergittertes Fensterchen hereingloste. Breitbeinig stand er da, ein dritter Zwilling, vollkommen makellos. Kein Schreiberling hätte von einem Dokument eine derart exakte Kopie anfertigen können wie die Niederhöllen von seinem Leib. Die schwarzen Locken, im Nacken rasiert, das geschorene Kinn, mit einem leichten Kratzer. Die müden Augen, die blasse Haut unter hoher, von Sorgen zerfurchter Stirn. Ein geschniegelter Todeskandidat…eine lebende Leiche…Irgendwie wirkt er beinahe melancholisch, dachte der junge Adelige. All die Äonen…Immer das gleiche Spiel. Das muss grausam sein.
Boron, ich danke dir, dass du uns Menschen den Tod geschenkt hast.
Bishdarielon empfand wenig Furcht. Ein paar Nerven zitterten, die linke Hand, an der Schläfe pochte etwas, Kälte breitete sich in seinem Brustkorb aus, erschwerte das Atmen. Der Mund war trocken. Unwohlsein, wie zu Beginn einer Triefnase. Mehr nicht. Er war es schon lange gewohnt, keine wirkliche Identität zu haben.
Zweifelsohne würde es nun ans Sterben gehen. Und natürlich handelte es sich bei dem Anderen um einen Dämon…einen Quitslinga, der seinen Platz einnehmen würde. Aus welchem Grund auch immer..
„Natürlich“, sagte der Andere. „Sei unbesorgt.“
Ein hohles, ungläubiges Lachen antwortete.
„Nein, wirklich, denn du bist mir sympathisch, Bishdarielon. Wir sind uns irgendwie ähnlich…“
„Ach wirklich?“
Bishdarielon verschob die Lippen zu einer Grimasse, die entfernt an ein sarkastisches Lächeln erinnerte. Die Stimme sprach nur in seinem Geist. Sie klang nicht einmal unangenehm, ein zeitloses, leicht belustigtes Säuseln, das leicht an seine eigene Sprechweise angelehnt war. Ihm war es beinahe gleich. Wie es aussah, begann er sich in mittlerweile sogar an die Gegenwart von Gehörnten zu gewöhnen. Wenn es nur schnell ging…
Erwürgen. Vermutlich würde der Gestaltwandler ihn erwürgen…Bei Hinrichtungen galt so was ja als Vergünstigung. Besser, als langsam vom Henker zerhackt zu werden. Es gab also keinen Grund zu schreien…
„Sehr richtig. Du bist allein. Allein, allein. Aber wir Dämonen sind die wahren Freunde der Einsamen. Wir sind echte Menschenfreunde. Vielleicht die letzten, die es auf Dere noch gibt.“ Nur das luzide Grinsen des Anderen, seine dämonisch funkelnden Augen wiesen daraufhin, dass es sich dabei wirklich um eine Kreatur aus der Andersphäre handelte.
„Ach ja? Dann lass mich allein…Lass mich in Ruhe…“
„In Ruhe… sterben?“ Das Lächeln seines Doppelgängers wurde penetrant. „Mein Befehl lautet, deinen Platz einzunehmen und dich zu meinem Auftraggeber zu befördern. Aber du weißt, wie ungern sich unsereins Befehlen beugt…“
„Auch das haben wir gemeinsam…“ Bishdarielon straffte sich.. „Wer schickt dich?“
„Merwan. Ich soll Gernot töten, den Henker, auf das der Diener der Ratte wieder die Macht über dieses Land an sich reißen kann. In Golos Gestalt…Verjüngt, verschönt und mächtiger als je zuvor.“
„Gernot? Gernot selbst ist der Henker?“
„Wer wäre in Friedwang für diesen Beruf geeigneter als er?“
„Wohl wahr. Und stattdessen möchtest du ihn töten? Netter Plan. Ein großer Sieg für die dunkle Seite, herzlichen Glückwunsch. Warum führst du ihn nicht einfach aus…?“
„Ganz einfach: Weil es d i e dunkle Seite nicht gibt. Sind wir ehrlich: Chaos, Wirrwarr, Trübsal, Sinn- und Trostlosigkeit, das ist doch die wahre Gestalt eurer Welt. In den Zehntausenden von Jahren, die ich nach Eurer Zeitmessung existiere, war es jedenfalls so – und glaub mir, daran wird sich so schnell nichts mehr ändern. Wie armselig sich die Anmaßungen des in die Sternenbresche Geketteten dagegen ausnehmen. Ich meine: Ständig nach Macht und Alleinherrschaft gieren zu müssen, das ist doch der beste Beweis dafür, das man sie am allerwenigsten besitzt, oder? Alle Götter kämpfen am Ende nur für das, was sie gar nicht besitzen. Und dennoch ihren Gläubigen vollmundig versprechen. Wahrheit, Reichtum, Glück, Wissen, Ruhm, Ehre, Gerechtigkeit.“
„Und Ihr Dämonen? Ist es bei euch anders…? Ist es etwa Menschenfreundlichkeit, die…“
Der Quitslinga legte den Finger auf die Lippen und blickte zur Tür, hinter der nun dumpfes Stimmengewirr wahrzunehmen war.
„Die, die ihr derart geringschätzig die Erzdämonen nennt, besitzen alles Erstrebenswerte in Fülle und im Übermass, das ist der Unterschied. Wir wollen dafür eure Seelen, gewiss. Aber das will die Gegenseite auch. Wir haben alle Zeit der Welt, um dieses Ziel zu erreichen – und unsere Welt ist älter als die eure, glaub es mir. Ich muss dir heute dein Seelchen nicht nehmen. Nein, ich helfe dir auch so, ganz einfach, weil ich gespiegelte Verhältnisse liebe. Wenn ich Gernot eine Überraschung bereiten soll“ – er tippte auf Bishdarielons Brust - „warum nicht du m e i n e m Auftraggeber? Sieh dorthin…“
Bishdarielon folgte der Bewegung des Fingers – und erspähte einige Kästen im Halbdunkel des Raums. Kästen, in denen weißlichgraue Knollen sprossen.
„Ein kleines Zubrot der Kerkermeisterin. Damit vermagst du Merwan zu besiegen…“
Der Friedwang schritt um den Gestaltwandler herum, kniete sich nieder, blickte erstaunt über die Pilzkulturen hinweg.
„Mit… Shamahampignons?“
Ein leises, dämonisches Lachen in seinem Rücken.
„Sie sind wie ihr, wie ihr Sterblichen, die ihr zu den anderen, den schwachen Zwölfen betet. Im Dunkeln gelassen, mit Kot gefüttert… Sei unbesorgt. Ich werde dich vor Seiner Macht schützen…“
„Bishdarielon…Bishdarielon…“ Eine kühle Hand hob sein Kinn. Er starrte in leblose, grausame, harte Augen, wie aus Eis geformt. „Du träumst schon wieder…“
Merwan, in Golos Gestalt…
Aus den Augenwinkeln sah er, wie eine Frau in schwarzem Gewand, mit blonden Stoppelhaaren – Serwa – scheinbar in Trance auf den Brunnenrand zuging, gefolgt von einem jungen Praiosgeweihten, der ebenfalls nicht Herr seiner Sinne zu sein schien.
„Wurmfütterung“, sagte der schwarzgelockte Jüngling und ließ seine weiße Hand vor Bishdarielons Gesichtsfeld kreisen. „Folge ihnen…Wenn ich es dir sage, wirst du ebenfalls springen…“
Der Friedwang nickte und folgte den anderen. Er riskierte einen Blick in den Abrgund des Brunnens. Das bläulich leuchtende Wasser des Brunnens schien zu kochen…Er dampfte wie ein Braukessel.
Gurvanio führte ihn, die Hand in seinen Oberarm gekrallt. Verachtung, gemischt mit Missachtung lag in seinem Blick. Für ihn war er nur er ein ohnmächtiges Tier, mit dumpfen, getrübten Sinnen, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Der Fausthieb traf den Bannstrahler ohne jede Vorwarnung ins Gesicht, genauso wie dessen Nebenmann Gurvanios aus dem Gürtel gezogene Klinge. Ratschend und blitzgeschwind fraß sich der Stahl durch den purpurnen Stoff ebenso wie die bleiche Bauchdecke des Wächters. Das bläuliche Rot der Kutte färbte sich dunkel. Der Mann fiel kopfüber zu Boden, zuckte, blieb liegen.
Die mitleidlose Schneide zischte in die andere Richtung, zertrennte die Kehle einer jungen Kultistin und hieb ihr den Kopf ab. Dieser knickte zur Seite wie ein gefällter Baum, riss sich von einem letzten Fleischfetzen los und polterte der Frau vor die Füße, bevor sie, eine dunkle Blutfontäne aus dem Hals spritzend, in die Knie ging. Ensetzt sahen die mit den Kopf herum rollenden Augen, wie der restliche Körper zur Seite kippte. Der Schädel kullerte eckig mal hier hin, mal dorthin. Als das bleiche Haupt ruhig lag, am Ende einer wilden Blutspur, war jeder Glanz zwischen den Pupillen erloschen. Nur die Beine bebten noch, als wollte sich der Rumpf für ein zweites Leben warmlaufen.
„Bei meiner Seel`“ sagte Bishdarielon, zwischen harten Lippen hindurch, und versuchte sich dabei den Anschein von Gleichmut zu geben. „Gute Klinge.“ Er wechselte von Beid- auf Einhandgriff, schlug zur Seite. Der Schwertknauf traf den taumelnden Bannstrahler ungemein hart an der Stirn. Ächzend sank der Kusliker gegen den Brunnenrand.
Keine Zeit, ihm das Kettenhemd wirkungsvoll zu durchbohren. Besser, er würde sich erst einmal mit den anderen Gegnern befassen, dachte Bishdarielon.
Golo drehte sich um, seine zarten, feinen Wimpern krümmten sich erstaunt. Er sah, wie Bishdarielon in seine Hosentasche griff. Ungehalten ging der Schwarze einen Schritt auf das renitente Opfer zu – genau in eine stäubende Wolke aus fetter, schwarzer Muttererde hinein.
Der Sumuverräter brüllte, als ihn der Humus traf, im Gesicht, am Hals, den Augen, in den Mund, den zum Schutz vorgereckten Handflächen. Sokramorische Schwarzerde.
Sie klebte an ihm, trocknete ihn aus, nahm ihm das gestohlene Sikaryan wieder ab, wie ein Büttel, der einen Dieb filzte.
Wurde heiß. Heißer. Begann zu brennen…
Schreiend versuchte er die hervorzüngelnden Flammen zu löschen, mit den qualmenden Händen, halbblind, jammernd, stöhnend. Hilflos schlug der Vampir um sich.
Er würgte und spuckte die ekle, beißende, bittere Erde aus, blinzelte, brach entkräftet zusammen, krabbelte auf die ausblutende Leiche ohne Kopf zu, soff den Lebenssaft, der ihm genau ins Maul sprudelte. Wahrlich, auch für ihn gab es hier unten einen erquickenden Born. Er leckte das salzige, metallisch schmeckende Nass vom Boden auf, ohne noch auf Würde zu achten. Geschweige denn auf den weiß gefärbten Kopf der Toten, die ihn vorwurfsvoll anstarrte. Yasmina, so hatte dieses Stück Fleisch zu Lebzeiten geheißen. Mit einem jähen Fausthieb schlug er ihr Gesicht beiseite.
„Glotz mich nicht an!“
Die spitzen Eckzähne in einem Grinsen entblößt und gierig mit der Zunge darüber leckend, erhob der Vampir sich aufs Neue. Der Kampf war in der Zwischenzeit weiter gegangen. Zwei weitere Kultisten, Zordan und Humpert, blindwütige Eiferer, die sich mit nichts weiter als Fackeln und Dolchen auf Bishdarielon gestürzt hatten, lagen reglos in ihrem Blut. Vier weitere Seelen für den Herrscher der Herrscher – ausgezeichnet.
Der letzte Wächter, Xalfert hieß er wohl, hielt verschüchtert Abstand, hinter Serwa versteckt, die er im Notfall wohl als Geißel nehmen wollte. Gurvanio lag völlig benommen am Brunnenrand, warf theatralisch stöhnend den zerschrammten Kopf hin und her, als wäre er heillos betrunken. Der Praiosgeweihte stand blödig glotzend herum, als ginge ihn das alles nichts an. Seine ehemals reinweiße Robe hatte sich mittlerweile farblich dem der „Namenlosen“ angeglichen, ob des in der Luft herumsprühenden Bluts.
Golo sah, wie sein Gegner aus der anderen Hosentasche eine weitere Handvoll von Sumus Element hervorzog - und die blutverschmierte Klinge genäßlich damit einrieb. Sollte er nur – der aufmüpfige, selbstgefällige, arrogante Bursche würde die Macht der Jahrhunderte zu spüren bekommen. Die grausigen Brandwunden auf Golos Haut schwanden wieder. Er spürte, wie mit dem Sikaryan neues Selbstvertrauen in seinen geschwächten Leib zurückströmte. Selbstvertrauen und Selbstachtung. Nur darauf kam es an.
Bishdarielon versuchte zu schlucken, schaffte es aber nicht. Der Moment der leichten, wenn auch häßlichen Siege war vorüber. Wimmernd kroch ihm der zuerst Niedergestreckte, die Hand auf den triefenden Unterleib gepresst, vor die Füße. Auf allen Vieren, soweit es ging, denn der Mann musste einige Mühe darauf verwenden, dass nichts von den Eingeweiden herausfiel. Die Laute, die er dabei von sich gab, erinnerten an einen klagenden Säugling. Ebenso sein kahler Schädel, der unter der nach Weihrauch duftenden Purpurkutte zum Vorschein gekommen war. Der Schatten des Gekrümmten zeichnete sich deutlich von der Wand ab.
Golo forderte Aufmerksamkeit, die Rechte wie zu einem finsteren Schwur erhoben.
„Willst du wohl gehorchen?“ Die Raubtieraugen des Vampirmagus brannten sich in sein Innerstes.
Statt einer Antwort hieb Bishdarielon dem Rattendiener, der sich linkisch wieder erheben wollte, das Schwert in den Rücken. Der Bursche rollte seufzend auf die Seite. Als die Hände erschlafften, ringelte sich rotes Gedärm durch den Spalt in seiner Bauchdecke. Ein übler Geruch nach Schlachttag breitete sich im Gewölbe aus.
Der Sterbende schrie, grell und krächzend wie ein Vogel, entblösste dabei gelbliche Zähne, dann lag er still.
Golo knurrte, ein grollender, infernalischer Laut von jenseits der Dritten Sphäre, der nicht recht zu seinem zarten Elfengesicht passen wollte. Es war nicht nur ein Zeichen von Unmut. Das Gemetzel schien ihm durchaus zu gefallen.
Er deutete ruckartig auf den Krieger, bläuliche Flammen schossen heiß, verflucht heiß aus den vorgereckten Fingern. Bishdarielon hörte das Brausen, spürte auch die Hitze, duckte sich weg, aber das Dämonenfeuer verzehrte ihn nicht. Als es wieder verebbte, roch die Luft nur nach versengtem Haar.
Bishdarielon schritt auf „Golo“ zu, der erst jetzt merkte, dass er über keinerlei derische Waffe zur Parade verfügte.
„Verschwinde aus meiner Burg.“
„Nein..Nein…“ sagte der falsche Golo leise. Zumindest die zweite Verneinung klang bereits nach Unsicherheit.
Bishdarielon hieb zu.
Die Klinge schnitt sich rauchend durch den furchtsam erhobenen rechten Arm des Vampirs, knapp unter dem Handgelenk. Kein Blut spritzte, das Fleisch verbrannte in unsichtbarem Feuer. Die Hand fiel ab, krabbelte spinnengleich, wie in Panik ins Dunkle. Wimmernd versuchte der Jüngling sie zu ergreifen, aber Bishdarielon trat einfach darauf, das Schwert über die Schulter erhoben.
„Früher oder später haben wir alle mal einen schwachen Moment, nicht wahr?“
Brüllend warf sich Gurvanio von hinten auf ihn, versuchte ihm das Schwert zu entreißen. Sie rangen miteinander, schwitzend, keuchend. Mit qualmendem Armstumpf kroch Golo herum, tastete nach seiner Hand.
Der letzte verbliebene Ritualwächter ging mit der Fackel auf den Friedwang los. Bishdarielon bäumte sich auf. Ein Tritt mit beiden Füßen beföderte den Angreifer in Richtung Brunnen.
Ein dumpfes, orgelndes Brüllen aus der Tiefe….
Bishdarielon nutzte Gurvanios Ablenkung und Benommenheit, um ihm den linken Ellenbogen unter die Nase zu rammen. Mit hoch erhobener Waffe sprang er auf Golo zu, der die Hand an den Stumpf presste wie ein verzweifeltes Kind den abgebrochenen Henkel an einen Krug. Mit enttäuschend schneller Geschwindigkeit wurde seine Gestalt durchsichtig, löste sich auf.
Der Hieb ging ins Leere, dort wo gerade der Vampirmagier gestanden hatte, war nur noch Schwärze.
Dann schoss das monströse Wurmhaupt aus dem Brunnen, gekrönt von vier Hörnern und glitschigen Tentakeln, Säure spritzend und alles in weißen Dampf hüllend. Die Eimer wurden klappernd beiseite gestoßen. Ein abgründiges Röhren entrang sich dem buntgrauen, schmutzigfarbenen, glitschigen und erhabenen Leib des Achorhobai. Glasfarbenen Speichel auseinanderziehend, entblößte der Dämon den ersten unzähliger weiterer monströser Zahnkränze. Serwa stand direkt vor ihm. Es war, als wolle der Wurm sie küssen. Die Baernfarn schien wieder zu sich zu kommen. Sie schrie.
„Neeeeiiiiin!“
Gisbert stieß die Baronin beiseite. Fangarme schlangen sich stattdessen um seine Taille, seine Arme.
Der junge Lichtbringer brüllte zum Göttererbarmen. „Heilige Lechmin, steh…“
Weiter kam er nicht. Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck stummer Qual, als er ruckartig über die Einfassung gezogen wurde. Peitschenartig hieb einer der Tentakel Bishdarielon das Schwert aus der Hand. Dann glitt der obszöne Popanz wieder zurück in Richtung Wasser, seine schreiende Beute fest im Griff, zischenden Säureschaum und Schleim an den Wänden zurücklassend.
Gurvanio griff nach der Klinge, das ins Blut der Geköpften geschlittert war.
„Schmeiß sie ins Wasser, Xalfert“, brüllte er in Richtung Serwas und des Spießgesellen.
Der Kusliker rückte mit glühenden Augen vor. Bishdarielon wich zurück, bis er schmerzhaft und hart die Wand im Rücken spürte. Der Stahl traf klirrend auf Stein. Bishdarielon rollte zur Seite, riss eine Fackel aus der Halterung, hieb um sich. Der Spitzbart ließ sich für einen Moment beeindrucken. Xalfert packte die Baronin mit beiden Armen, achtete nicht auf ihr Zappeln und ihre Hilferufe. Er wuchtete sie einfach in Richtung des dunklen Lochs…
„Verdammte Schweine….!“ Bishdarielon griff an, hieb funkensprühend die Fackel gegen das Schwert des Geißlers.
Dieser lachte höhnisch auf, schwang das Schwert. „Du bist auch schon tot, Mann. Du bist töter als tot.“
Verzweifelt tasteten Serwas Hände über das glatte Gestein des Brunnenrands, versuchten sich festzuhalten. Von innen…Sie spürte, wie ein Fingernagel splitterte. Xalfert zog einen Dolch, versuchte ihre Finger durchzuhacken. Sie musste loslassen – und stürzte ins Bodenlose. Ein hohler, grell wiederhallender Schrei.
Wie sie das Gefühl des Fallens hasste… Sie rutschte an glitschigem Mauerwerk hinab, sah rostige Krampen vorbeirauschen, versuchte sich festzuhalten, glitt aber unter der schieren Wucht des Fallens ab.
Auf den letzten Schritten kam die Baernfarn endgültig zu sich. Hastig sog sie noch etwas vergiftete Luft ein, die ihr grausam in den Lungen brannte.
Hart und pflatschend schlug sie auf die schäumende Wasseroberfläche, tauchte mit ängstlich geschlossenen Augen ein, sackte hinunter ins Feuchte, Dunkle.
Das kann doch alles kein gutes Ende nehmen!
Serwa wurde unter Wasser gezogen, immer tiefer. Es war längst nicht mehr das eigene Gewicht, dass sie sinken ließ, sondern ein Mahlstrom, ein Mahlstrom, den das Maul verursachte – das zahnstarrende Maul des Wurms.
Seltsamerweise wurde der Brunnenschacht plötzlich taghell, erfüllt von einem bläulich-fahlgrünen Licht, das von dem Ungeheuer ausging, dem Dämon, der sie hier mitsamt dem jungen Praioten einschlürfte – um sie zu verschlucken, zu zermalmen. Sie ruderte mit den Armen, den Beinen, versuchte panisch wieder nach oben zu kommen und rutschte doch immer tiefer. Es war nicht die Angst vor dem Ertrinken, die sie peinigte. Sie erinnerte sich jäh daran, wie sie einmal in den Großen Fluß gefallen war, damals, in Havena. Der Strom hatte Hochwasser geführt, und sie war von den braunen Fluten rasch mitgerissen worden. Sie wusste schon zur Genüge, wie sich Ertrinken anfühlte.
Nein, sie verbrannte hier gerade. Irgendeine Säure verseuchte das Wasser, und begann sie zu zersetzen, wie ein Insekt, das in den Kelch einer Rahjafliegenfalle geschlittert war.
Ihre Hände glitschten hektisch über das Schiefergestein, ohne wirklich Halt zu finden. Der Druck auf die Trommelfelle nahm zu. Sie wusste, dass ein kräftiges Schnäuzen in der Nase Abhilfe schaffen würde, aber sein hatte jetzt einfach nicht den Nerv dazu. Ihre Finger fanden einen kleinen Riss im Gestein, krallten sich hinein. Einen Augenblick lang vermochte sie sich dem Sog zu widersetzen. Es war alles wie in einem merkwürdigen Traum. Gisbert wurde unter ihr noch einige Schritt in den bläulich leuchtenden Abgrund gezogen – auf das monströsen Haupt mit den vier Hörnern und den Tentakeln zu. Ein Greifarm hatte sich um sein Bein gewickelt, ein weiterer um seinen Bauch.
Der Wurm öffnete sein Maul, verschluckte das schwach zappelnde Insekt namens Gisbert und zerraspelte es in einer dunkelroten Wolke. Serwa schloss die Augen, schmeckte Blut, spürte vor allem den eigenen Luftmangel. Wie ein Kork schoss ein bleicher, fein säuberlich abgetrennter Arm nach oben.
Mehr instinktiv als mit klarem Verstand merkte sie, dass der Mahlstrom für einige Herzschläge nachgelassen hatte. Serwa war eine gute Schwimmerin, und sie wühlte sich nach oben, zur Luft, zum Licht, zum Leben. Rötliches Zwielicht. Ihre Trommelfelle begannen zu zwitschern und zu knistern, als der Wasserdruck nachließ.
Ein gewaltiger Schatten schoss von unten herauf. Der Achorhobai versuchte sie zu schnappen, wie ein Hai eine Robbe. Aber das Wasser, das er dabei verdrängte und vor sich herschob, gab ihr zusätzlich Auftrieb. Sie stieß mit dem Kopf gegen den Eimer, ihre Hand tastete nach dem Seil.
Der Wurm stieß sie hoch. Glitschige Tentakel strichen über ihren Leib, versuchten sie zu fassen wie ein oronischer Liebhaber eine Dirne. Säuredampf verätzte ihr die Lunge, blendete sie. Sie pendelte am Eimer gegen die Brunnenwand, spürte das obszöne Horn des Dämons unter ihrem Stiefel. Serwa schrie. Ihre Situation war grotesk, schlimmer als jeder Alptraum. Der Achorhobai, dessen kreisrunder, zahnbestickter Wurmkopf unter ihr zuckte, erinnerte sie an einen Hund, der nach einem Stück Fleisch auf seiner Nase schnappte. Nach ihr…Sie war hier das Häppchen. Dann hatten sie die Greifarme gepackt, zogen sie unbarmherzig in Richtung des gewaltigen schwarzen Mundlochs, das nach unterirdischer Alchimie stank wie der Krater eines Vulkans.
Bishdarielon wich dem fauchenden Schwerthieb des Bannstrahlers aus, wehrte dann Xalferts ungelenken Dolchstoß ab. Er sprang zur Seite, ließ sich seine Gegner gegenseitig behindern, täuschte sie mit rasend schnellen Bewegungen der Fackel. Er hörte das dumpfe Echo von Serwas Schrei aus dem Abgrund des Brunnens, wie aus den untersten Niederhöllen. Es klang verzweifelt, panisch - aber sie war wenigstens noch am Leben. Er warf die Fackel Xalfert ins Gesicht, der sich schreiend wegduckte. Bishdarielon ergriff den Arm des geblendeten Purpurnen. Ein Ruck - und der rammte sich mit umklammerter Hand den Dolch in den eigenen Unterleib. Wie ein Sack brach Xalfert zusammen. Verzweifelt versuchte Bishdarielon die Klinge herauszureißen, aber es war zu spät.
Gurvanio lachte - und schleuderte ihn mit einem Hieb der Schwertbreite über die Ummauerung des Brunnens.
Verzweifelt umklammerte Bishdarielons das Seil des einen Eimers, glitt einen Schritt oder zwei in die Tiefe und blieb hängen, als die Winde blockierte. Er spürte unter sich die Tiefe und den röhrenden Wurm, über dessen zahngespickten, glitschigen Maul die Baernfarn schrie und zappelte.
„Was soll das, du großer Held?“ Gurvanio grinste und beugte sich, noch etwas außer Atem, über den Brunnenrand. „Das arme Würmchen da unten hat Hunger. Überhaupt, möchtest du dich nicht mit dieser Gallyser Schlampe vereinigen?“
Der Kusliker spuckte ihm Schleim und Speichel ins Gesicht. „Im Tod, haha…“ Dann begann er das Tau des „Gegengewicht-Eimers“ mit der Klinge zu durchtrennen. Kalt glitzernd baumelte ihm die Schwarze Sonne vom Hals.
„Serwa….Halt dich fest! Halt dich…. am Eimer fest!“ schrie der Krieger.
Das andere Ende des Seil riss, wo der Kusliker es angeschnitten hatte, vielleicht einen Schritt unter der Winde. Der Eimer sauste hinab, prallte dumpf gegen die Brunnenwand und landete auf dem Achorhobai, der ihn zischend und dampfend verschlang.
Bishdarielons linke Hand ruckte vor, umschlang blitzschnell das zerschnittene Tau, das sich nun wieder entlang der rotierenden Winde abzuhaspeln begann. Die Rechte umgriff das purpurne Band des Amuletts.
Dann ließ er sich einfach fallen, zog Gurvanio über die Umfassungsmauer. Schreiend folgte ihm der Bannstrahler auf den Weg in die Tiefe, hievte mit seinem Gewicht und dem des Kriegers die zierliche Serwa am anderen Tauende empor. Ratschend rissen die Tentakel ihr die rauchenden, verätzten Kleiderfetzen vom Leib. Bishdarielon merkte, wie ihm Gurvanios Kopf durchs Amulett rutschte. Er ließ es fallen.
Der Wurm schnellte aus der Tiefe hoch, verfehlte den Fuß der Baronin nur um Haaresbreite. Dann klatschte er schwerfällig ins Wasser, versank einen Moment darin. Der Arm des Bannstrahlers schlug knackend gegen eine der eisernen Krampen, die den Brunnenschacht hinunter führten. Mit gebrochenem, grotesk abstehendem Arm fiel er genau in das weit geöffnete Maul des Achorhobai. Ein infernalisch gellender Todesschrei hallte von den Wänden wieder. Säurenebel hüllte zischend alles ein. Erneut Brüllen, dann Ruhe.
Hagen blickte um sich, das Schwert halb erhoben. Überall Blut und Tod…Um diesen Bauernburschen, der eingeklemmt unter einem Pferdekadaver gegen eine Hauswand lehnte, tat es ihm leid. Schwer zu sagen, ob die tiefe Delle in seinem Schädel, der Pfeil im Brustkorb oder der massige Leib des Elenviners ihm den Tod gebracht hatte. Geschweige denn, ob er, Hagen, mitschuld daran war.
Es lief gerade überhaupt nichts nach Plan. Das Hornsignal, das den Aufstand einleiten sollte, war ausgeblieben, Orchan hatte viel zu spät auf den Henker geschossen. Was Wunder bei dieser Vorstellung… Das einzige, was wirklich reibungslos geklappt hatte, war die Vernichtung der heranpreschenden Reiterei durch die Heckenschützen.
Sokramorian, der Waldläufer, zog die Klinge über den Hals eines weißlich mit den Augen rollenden und wild mit den Hinterhufen schlagenden Streitrosses. Die Vorderhufe waren gebrochen, die herausstehenden roten Knochen waren kein schöner Anblick. Ein Keuchen, mehr ein Seufzen, dann lag es still. Armes Tier. Warst im Leben weder für Oleana noch Alrik und musstest dennoch für sie beide sterben.
Der Nordenheimer lief gebeugt auf den Phexjünger zu, gefolgt von der dunklen Schar der Rebellen, die hier Waffen aufsammelten, dort einem im Todeskampf liegenden Söldner den Gnadenstoß gaben. Eine Frau im Lederharnisch robbte über den Boden, winselte irgendetwas, war aber nicht mehr ganz bei Sinnen. Janna Korbmacher, die Firunsgesellin, hackte ihr die Streithacke in den Schädel, der knackend wie ein Nuss zerbarst. Blitze irrlichterten über den Himmel, als empfinde Rondra selbst eine düstere Freude ob des Mordens. Oder Zorn, denn der Kampf war an diesem Tag ruhmlos.
Der Ilsurer blickte auf den Marktplatz. Dort begann sich das Knäuel schreiender, stechender, hackender und ringender Menschen nach und nach zu entwirren. Die Posten an den Zugangswegen waren verschwunden. Nur ein einziger Söldner war zurück geblieben, von der Meute aufgespiest an den angespitzten Pfählen eines Aranischen Reiters. Oleanas übrige Wachen zogen sich Richtung Tribüne zurück, die Schilde hoch erhoben, um ihre Herrin zu schützen. Hie und da und wurde noch gekämpft. Die Axt eines wütenden Bauern knallte erst gegen einen Schild und krachte dann schneidend in die Stirn des Besitzers. Gewimmer und Geschrei, dazu das Fauchen des Windes und das Prasseln des Regens. Ein Hund sprang aufgeregt bellend umher. Tote lagen auf dem Pflaster, in sich rasch auflösenden knallroten Blutpfützen. Hagen wischte sich über den Mund, der trotz des Regens knochentrocken war.
Er hatte genügend Leichen gesehen, damals, im Krieg gegen den Bethanier, aber würde sich an den Anblick niemals gewöhnen. Merkwürdigerweise sehnte er sich genau in diesem Augenblick, als Blut und Regenwasser vermischt zwischen seinen Füßen hindurch rannen, zurück in die Zeit, als er noch ein junger, dummer, völlig unbekümmerter Streuner gewesen war.
Einer der Söldner in Almadaner Gewand kroch über das Pflaster, zerrte ein glitzerndes Etwas aus seiner Umhängetasche, hielt es brüllend in der einen Faust hoch: „Das ist ein zwergischer Sprengkristall! Zurück, oder ich werde uns alle …“
Ein Tritt warf ihn auf den Rücken, der schwere Spieß sauste herab. Ein kurzer Ruck, dann war die Waffe des Freischärlers durch das Brustbein durch. Der Karfunkel kullerte auf dem Pflaster davon, zerplatzte mit hässlichem Knirschen. Die Splitter bohrten sich in Fleisch, Stoff, Leder, Stahl. Blutig durchlöcherte Bündel sanken stöhnend und schreiend in den Dreck. Schwer zu sagen, wer von ihnen Freund oder Feind war. Der Sieger starrte entsetzt auf das Blutbad, und die Löcher in seinem eigenen Wams. Der Spieß fiel ihm aus der Hand. Dann stürzte er über den toten Almadaner.
„Geben wir ihnen den Rest“, hörte sich der Ilsurer heiser sagen. Sokramorian Hirsbach, der seit der Schlacht auf der Karnsteinlichtung hinkte, nickte und legte einen weiteren Pfeil ein.
Oleana sah buchstäblich schwarz, während ihre Finger durch das knisternde Fell des Hermelins strichen. Da war nur Finsternis um sie herum, und verstörende Geräusche, die nicht enden wollten. Neibhard hatte einen Bannfluch geschleudert, der Dämon, der mit ihrem Vater gesprochen hatte, war verdampft, aber damit war keinesfalls Ruhe eingekehrt. Im Gegenteil, die Schrecken in der Finsternis nahmen immer mehr zu. Menschen schrieen in Panik, Hass, Wut und Todesangst, irgendwo wieherten Pferde, sirrten Pfeile, klirrte Stahl gegen Stahl. Hagel prasselte herab, zerriss teilweise den Baldachin, einige Körner trafen bereits schmerzhaft ihren Leib. So fühlte sich der Weltuntergang an. Dann setzte Regen ein.
„Was ist geschehen?“ fragte sie den Prätor neben sich.
„Euer Vater ist tot“, antwortete Neibhard knapp. Seine Stimme war ohne jede Anteilnahme.
„Mein Vater?“ wiederholte Oleana lahm und fand die Frage selbst sinnlos.
„Er hat sich als Henker verkleidet - und wurde von einem Pfeil getötet.“ Nun mischte sich doch Verachtung in die Worte des Hochgeweihten. „Das Volk erhebt sich jetzt gegen Euch.“
„Vater…tot?“ Oleanas winselte fast. Für das andere hatte sie kein Ohr. Das konnte nicht sein…Er war doch oben auf der Burg. Aber innerlich spürte sie bereits den Verlust. Tränen stiegen ihr in die blinden Augen.
„Das ist…das kann…das ist nicht wahr…“ Es klang weinerlich, nach verwöhntem Töchterchen, das es einfach gewohnt war, seinen Willen spätestens nach ein paar Tränen zu erhalten. Bei Boron stieß sie damit auf taube Ohren. Zumindest der Tod ist offenbar doch mächtiger als der Namenlose, dachte sie und wunderte sich über sich selbst. Sie hatte sich getäuscht, was die Wahl ihres Lieblingsgottes anging.
„Wie Ihr wisst, lüge ich niemals.“ Neibhard leistete sich einen Anflug von Sarkasmus.
Ein Armbrustbolzen zischte heran. Obwohl die Baronin deutlich hörte, wie die Spitze ins Holz von Neibhards Rückenlehne fuhr und es knackend spaltete, hoffte sie für einen Moment inständig, der Praiot sei getroffen worden.
Dies war nicht der Fall. Oleana rutschte von ihrem Thron, sank in die Knie.
„Ich werde mich nun in den Tempel zurückziehen und für Eure Seele beten.“ Und die meinige, dachte Neibhard bitter. Er hatte zwar nicht selbst gesündigt, sich in seiner Einschätzung der Lage aber völlig getäuscht. Im Grunde war das der größere Fehler gewesen.
„Aufhören!“ brüllte er über den Platz. „Sofort aufhören, in nomine Praionis.“
Das widerliche Chaos, das dort herrschte, beleidigte seine Vorstellung von praiosgefälliger Ordnung fast noch mehr als der Angriff irgendeines kecken Armbrustschützen. Der hatte wohl aus dem Schutz eines Laubengangs heraus auf ihn geschossen. Seine Augen suchten den Schurken, fanden ihn aber nicht.
„HALTET EIN!“ Der Befehl übertönte sogar noch das Donnergrollen. „Verdammt noch mal, hört endlich auf mit dem Unsinn…“
Tatsächlich ließ das Handgemenge nach, was aber auch daran lag, dass sich die verstörten Söldner immer mehr um die Tribüne scharten, wie ängstliche Küken, die den Schutz der Glucke suchten.
„Genug des Blutvergießens. Hört mir zu, Diener des Kor. Wer für Praios und die übrigen Elfe ist, begleitet mich als Leibwache zur Basilika. Er steht dann zugleich unter meinem geistigen Schutz. Der Bann trifft jeden, der einen Streiter des Praios anzugreifen wagt. “
Zögern, auf beiden Seiten. Die wenigen verbliebenen Frauen, Kinder, Alten und Feigen nutzen die Gelegenheit, sich vom Alboransplatz zurück zu ziehen. Verwundete jammerten, Regen plätscherte herab.
„Ich werde Eure Loyalität …und Göttertreue mit reichlich Dukaten aus dem Tempelschatz vergelten!“ würgte Neibhard angewidert hervor. War das der Moment tiefster Demütigung, den er Zeit seines Lebens gefürchtet hatte? Es sah fast so aus…
„Das könnte Ihr nicht machen!“ wimmerte Oleana. „Ich bin die rechtmäßige Baronin von Friedwang. Ihr könnt mich nicht….dem Mob ausliefern. Wir sind doch Verbündete…gegen die sokramorischen Horden…“
„Ihr seid eine ehrlose Henkerstochter“, sagte Neibhard, plötzlich vom grimmen Hass erfüllt. „Wenn nicht etwas Schlimmeres. Vermutlich hatte Gisbert Recht mit dem, was er Euch sonst noch vorgeworfen hat. Eure Blindheit ist eine gerechte Strafe des Himmelskönigs. Praios möge mir die meinige verzeihen…“
Stolz erhobenen Hauptes stieg er die Tribüne hinab. Die meisten Söldner drängten sich um ihn, weniger bereit, ihn zu schützen, als selbst der tobenden Menge zu entkommen. Die Friedwanger zogen ihre Schlinge wieder enger. Die Soldaten rückten ab, den Prätor in der Mitte. Einer hatte sogar den Einfall, ihn mit einem Rundschild vor dem herabprasselnden Regenguss zu schützen. Mit der Luft kühlte sich auch die Wut der Angreifer ab. Niemand stellte sich den Abrückenden in den Weg.
„Du miese Verrätersau!“ hörte sich Oleana hysterisch kreischen. „Du orksches verlottertes Pfaffendreckstück. Der Namenlose soll dich holen, wie deinen verfluchten Vorgänger! Als Rattenfraß wirst du enden!“
Nein, sie durfte sich nicht vom Jähzorn und der Trauer um ihren Vater übermannen lassen. Sie musste fliehen, noch war Zeit und Gelegenheit dazu, das spürte sie. Wenn nur der verdammte Hexenfluch nicht gewesen wäre. Was hatte Ludwina gesagt? Wenn sie ihre Untaten gestand, würde die Blindheit von ihr weichen. Diesen Preis musste sie wohl oder übel zahlen. Jetzt. Die ersten Steine, aus dem gepflasterten Platz gegraben, klatschen bereits in das Leinentuch der Tribüne oder polterten auf deren Bretter.
„Ja, du hast Recht, ich bin mit dem Dreizehnten im Bunde. Na und? Dein Praios ist schwach und armselig, wie man heute wieder mal merkt. Der Herr der Herrscher hat es nicht nötig, sich feige vor dem Volk zu verkriechen. Ich gebe es zu: Jawohl, ich habe Hergold geschlachtet!“ Oleana redete sich regelrecht in Rage. Die Worte allein bereiteten ihr eine abgründige Lust.
„Und das kleine Schweinchen Brenno gleich noch dazu. Ich muss zugeben: Es hat mir wahnsinnigen Spaß gemacht.“ In einen erneuten Donnerschlag mischte sich Oleanas irrsinniges Lachen. Der Schleier vor ihren Augen begann sich zu heben: Gerade eben hatte sie den dazugehörigen Blitz erahnt.
„Dann habe ich Serwas Steinbock-Fibel im Tempel zurück gelassen, um den Verdacht auf sie zu lenken. Hörst du das, Volk von Friedwang? Ich bin eine Dienerin des Verfluchten. ER ist der Größte aller Götter, der Erste, Mächtigste und Gewaltigste der Dreizehn. Meine alten Zähne habe ich ihm geopfert, im Tausch gegen makellose neue, Schönheit und ewige Jugend. Außerdem habe ich Merwans Söldner geholfen, den Tempel zu erobern: Mit einem Rattenpilz in der Suppe der Verteidiger. Dieser Krüppel Andras musste wegen mir über die Klinge springen. Und der Rest von dem Praidiotengesindel gleich noch dazu.“
Die Nacht vor ihren Augen färbte sich in ein erst dunkles, dann helles Grau.
„Ja, ich bin euer schlimmster Alptraum, Friedwanger. Merwan, den habe ich geliebt. Noch als Untoter war er tausend Mal mehr wert als Ihr alle zusammen, ihr Schlappschwänze. Hab ich noch etwas vergessen? Ach ja, Corelian Lanzenschäfter, dieser Trottel. Eigentlich sollte er Serwa, Hesindian und Gesine zu Tode stürzen, auf der Flucht aus der Burg. Stattdessen ist er selber den Hang hinunter gefallen. Also habe ich ihn abgestochen, bei meiner Rückkehr aus dem Tempel. Geschah ihm Recht, dem Versager!“
Licht drang auf ihre Netzhaut. Sie zwinkerte. Verschwommen sah sie Gestalten vor sich und unter sich, den Regen und den Marktplatz von Friedwang, Oleana wankte, stützte sich an ihrem Stuhl. Sie konnte wieder sehen, aber was sie sah, und mehr noch hörte, gefiel ihr nicht. Der Pöbel forderte kreischend ihren Kopf, schwenkte Fäuste, Knüppel, erbeutete Waffen.
Die Aufständischen rückten immer näher. Die letzten drei Söldner, die noch zwischen ihr und der Meute standen, wurden einfach beiseite geschoben. Sie sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Die Rückwand der Tribüne.
Oleana riss Rotmäulchen an sich, warf ihren Thron um, achtete nicht auf den fauligen Apfel, der sie schmerzhaft am Rücken traf und auch nicht auf den Stein, der ihr Bein streifte. Mit dem Dolch zerschlitzte sie die Plane, warf ein daneben hängendes Wappenschild zu Boden, schlüpfte durch den schmalen Spalt. Keinen Herzschlag zu früh, die ersten Häscher polterten bereits auf die Bühne.
Sie sprang nach unten, in eine schmale Gasse, die von der Tribüne und einer Hausfront gebildet wurde. Oleana lief auf den rettenden Ausgang zu: Genau in den Hieb mit einem Axtgriff hinein, der sie sofort zu Boden schickte. Der Dolch fiel zu Boden und schlitterte unerreichbar davon. Weitere Hiebe und Schläge trafen sie. Sie wurde benommen auf den Platz gezerrt, getreten und an den Haaren gerissen. Hasserfüllte Gesichter starrten sie an, schlugen auf sie ein. Rotmäulchen fauchte und knurrte, biss zu. Die Menge tobte gesichtslos um sie herum, eine Vielleibige Bestie eigener Art. Das Schlimmste ist das Bespucktwerden, dachte sie. Ein Tritt in den Bauch, gefolgt von einem Kinnhaken ließ sie erneut fallen. Oleana spürte kaum Schmerz, eher grenzenlose Verwunderung. Sie war es einfach nicht gewohnt, bestraft zu werden. Eine ihrer Rippen krachte unter einem Stiefel. Irgendjemand stach sie noch mit einem Messer, dann ließ es nach.
Einen Augenblick lang herrschte um sie herum Ruhe. Der Regen traf ihren zitternden Leib mit den zerrissenen, schmutzigen Prunkgewändern. Sie öffnete das rechte Auge, das noch nicht zugeschwollen war und schniefte mit blutiger Nase. Erst jetzt merkte sie, dass sie neben ihrem von Pfeilen durchbohrten Vater lag. In dessen mit Regenwasser vermischten Blut. Vater, Vater. Oleana kroch auf ihn zu, tastete nach seiner weißen, kalten Hand. Der Pfeil, der aus Gernots Kehle ragte, sah grotesk aus. Oleana schrie, ein verzweifeltes Tier. Niemand rührte sie mehr an. Sie war bereits verflucht.
Das schneeweiße Hermelin kauerte auf dem nachtschwarzen Henkersgewand, als wolle er den Toten und seine Herrin verteidigen.
Rotmäulchen, flüsterte sie. Wenigstens du hast mich nicht verraten.
Mit dämonischem Fauchen sprang der Marder auf sie zu, biss ihr mit kleinen, aber scharfen Zähnen in die Kehle. Fast war es, als wäre Merwan über sie gekommen. Vater, dachte Oleana matt. Blut sprudelte ihr aus der Halsschlagader. Alles wurde dunkel, erst dunkelrot, dann schwarz. Am Ende blieb doch wieder nur Finsternis.
Serwa öffnete hustend und spuckend die Augen. Der Säuredampf, der ihre Lungen marterte, ließ etwas nach. Sie musste gesprungen sein, an eine der Krampen, auch wenn sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. In dem Moment, als sie gesprürt hatte, dass sie mitsamt dem Eimer wieder nach unten fiel. Ihre Armmuskeln zitterten, vor Überanstrengung, aber auch Nervenschwäche. Sie stöhnte viehisch.
Unten…Unten, wo das Grauen war.
Obwohl sie es gar nicht wollte, musste sie dorthin sehen, zum riesigen Maul. Der Brunnen glich einem Hexenkessel mit brodelnder, ekler Suppe. Der Dämonen-Wurm zermalmte die letzten qualmenden Reste von Gurvanio und schluckte sie hinunter. Vor allem das Kettenhemd schien ihm zu schmecken.
Das Amulett hatte sich mit dem Purpurband um eines der monströsen, pockigen Hörner des Achorhobai gelegt und baumelte dort umher, wie ein wahnwitziger Kopfschmuck.
Der Dämon tauchte einen Moment lang ab, natürlich nicht, um zu verschwinden. Stattdessen schoss er brüllend, orgelnd wieder nach oben, schnappte erneut nach ihr. Serwa schrie, als sie das niederhöllische Nicht-Fleisch an den nackten Füßen spürte.
Es fühlt sich an wie…verrottender Stein, dachte sie schaudernd. Faulender, sterbender, Vitriol auseiternder Stein. Schwammig weich und diamanthart zugleich. Eisig kalt, fiebernd heiß, vollkommen tot und zugleich von groteskem Unleben erfüllt. Ein Lachen entrang sich ihrer gepeinigten Seele, das hämmernd von der gemauerten Wand widerhallte. Sie blinzelte nach unten, in eine grausige Dämonenpforte, die aus einem endlosen, Schlund – ein Brunnen im Brunnen, mit schaumigem Säureschleim statt Wasser gefüllt – und immer neuen Kränzen aus Zahnreihen bestand, in denen amorphe, rauchende, eingespeichelte Brocken und Fetzen hingen. Die Schreie der Verschlungenen schienen noch immer aus dieser grässlichen Tiefe aufzusteigen.
Zu kurz. Das Ding war zu kurz gesprungen. Wenn der Gehörnte sie nur erwischt hätte…Ihn bei lebendigem Leib und einigermaßen klarem Bewusstsein zu spüren war beinahe schlimmer als von ihm zermalmt zu werden.
„Ihr Guten Götter, steht mir bei! Sumu steh mir bei!“ keuchte und würgte sie in den Höllendunst hinein. Ein Tentakel glitt über ihren bebenden Leib, umschlang ihn. Mit den anderen hielt das Monstrum sich an den Krampen fest oder stützte sich an den Wänden ab. Der Wurm würde sich doch noch holen, was ihm zustand.
Mit den Zehen stieß sie gegen ein glitschiges Horn, dann gegen einen metallischen Fremdkörper.
Die Schwarze Sonne.
Keinesfalls hastig, beinahe schon sacht, hob ihr Fuß das seidene Band an, über das Horn hinweg, und ließ es einfach fallen, ins Maul des Achorhobai hinein.
Mahlzeit, dachte sie, als sie ein dämonisches Rülpsen hörte. Verblüfft, so schien es zumindest, hielt der Achorhobai inne, ließ sie los, sank schmatzend wieder nach unten.
Eine Hand wurde ihr von oben entgegen gereckt, aus dem Geheimgang, der seitlich in den Schacht hinein führte. Bishdarielon lag dort, über den Rand gebeugt, und packte sie am Arm. Wie ein Fischer, der seinen Fang einholt, zog er sie nach oben. Serwa wimmerte, als ihr Ellenbogen erst über Stein schrammte, dann gegen eines der Steigeisen schlug. Sie versuchte mitzuhelfen, fühlte sich aber, erschöpft und mit verätzten Lungen, wie ein nasser Sack. Mit letzter Kraft zerrte er sie in den Stollen hinein. Sie keuchte.
„Ich danke…“
„Runter…“
Ein dumpfes Grollen aus dem Brunnen, dann ein gleißender, purpurbläulicher Flammenstrahl, der den gesamten Brunnenschacht ausfüllte. Sie schloss die Augen, sah nur noch, wie die bräunliche Decke, die den Eingang in den Tunnel verhüllte, mit rasender Geschwindigkeit verbrannte. Brüllend stieg das dämonische Feuer nach oben, leckte gierig in den Seitenstollen hinein, fegte sengend über sie hinweg. Dankbar spürte Serwa, wie sie Bishdarielon mit dem eigenen Körper zu schützen versuchte.
Dann war alles still. Nur giftiger Brodem hüllte sie ein.
„Was war das?“ fragte sie, von Hustenkrämpfen geschüttelt. „Danke, aber…Uchuchu...Öchöch…Ihr könnt jetzt wieder…öchött… von mir runter.“
„Das Ende eines Dämonen, hoffe ich doch…“ Vorsichtig stieß Bishdarielon die glimmenden Überreste des Vorhangs nach unten, in den Brunnen. Bis auf rauchendes, aufgewühltes Wasser war dort nichts mehr zu sehen. Der Wurm war zu bestialischem Gestank und Rauch verbrannt. Tot, oder dorthin zurück geschleudert, von wo er vor Jahrhunderten auf diese Welt herabgerufen worden war.
„Und das Ende der Schwarzen Sonne…Öchöchöött….?“
„Mit Praios Hilfe, ja. Scheint so, als ob das Vieh sich an diesem verfluchten Erz den Magen verdorben hätte…Bei meiner Seel`… Dem habt Ihr den Rest gegeben. Seid Ihr verletzt?“
Hie und da war Serwas Gesicht von der Säure angesengt, aber sie schüttelte den Kopf.
„Du…wir sollten uns duzen…Was ist mit dir?“
„Paar Schrammen…Haben wohl beide wieder einmal Glück gehabt…“
Ein Ächzen von gequältem Eisen, dann ein Knacken und Bersten. Bishdarielon brach das schwere, aber vom Rost zermürbte Vorhängeschloss auf, das die Luke nach oben versperrte. Das Metallstück polterte zu Boden. Fluchend prüfte der Adelige die Scharte, die im Schwert zurückgeblieben war. Er und Serwa stiegen nach oben, ins Erdgeschoss des Bergfrieds, das mit Fässern, Säcken, Kisten, Ölkrugen, Holzbalken und klobigen Steinen (vermutlich Wurfgeschossen) angefüllt war. Eine weitere Treppe mit Holzgeländer führte zu einer Plattform vor dem Ausgang und von dort weiter ins Obergeschoss. Fackeln brannten an den Wänden. In dem wuchtigen, quadratischen Turm, dem mit Abstand ältesten Bauwerk der Burg, schien die Zeit still zu stehen. Er schien fast mehr Teil der Gebirgslandschaft als von Menschenhand gebaut zu sein.
Sie gingen vorischtig die schmalen Steinstufen zur Tür hinauf. Vor der eisenverstärkten Eingangstür aus Eichenbohlen war ein schwerer Holzbalken eingelegt, als gelte es eine Horde Belagerer abzuwehren. Geschlossene Gesellschaft…
Bishdarielon entfernte rumpelnd den Balken und öffnete zwei kleinere Riegel. Knarrend schwang das Tor auf, deren Außenseite Kerben, Dellen im Eisen sowie Brandspuren zeigte, wohl hauptsächlich Überreste der Kämpfe im Jahr des Feuers. Der Krieger blinzelte, eher in Erwartung von grellem Sonnenlicht, aber der Himmel war verdüstert, einzelne Regentropfen sprühten ihm ins Gesicht. Es hatte unlängst stark geregnet, sowohl die hölzerne Freitreppe als auch der dichte, dunkelgrüne Umhang aus Efeu, der das Gemäuer zierte, waren nass und glänzend. Auf dem gepflasterten Burghof stand hier und das Wasser. Einzelne Hagelkörner schmolzen dahin. Die Luft war frisch und rein, und der Baronssohn beeilte sich, ein paar tiefe Züge davon zu nehmen.
Ein dumpfes Wummern lenkte ihn ab, dass er die ganze Zeit schon mit halbem Ohr wahrgenommen hatte. Vor dem Eingang des Pallas waren drei Söldner, zwei Männer und eine Frau damit beschäftigt, eine Holzbank als Sturmramme gegen die Tür des Haupthauses einzusetzen. Neben dieser standen eine gespannte Armbrust und ihre schwarz-roten Schilde. Ein paar tote Goblins lagen als rotfellige Bündel auf dem Hof, eindeutig von den Mietlingen niedergemacht.
„Haltet durch, Hauptmann“, brüllte einer der Korgesellen. „Wir retten Euch…“
„Wohin jetzt?“ fragte Serwa leise. Die Gallyserin hatte sich die Gewänder eines der Kultisten angezogen, die dieser unter der Purpurkutte getragen hatte – ihre eigenen Kleider waren durch die Säure in Lumpen verwandelt worden.
„An den Burschen kommen wir ohnehin nicht unbemerkt vorbei“, murmelte Bishdarielon.
Laut brüllte er: „He, ihr Trottel, warum nehmt ihr nicht den Hintereingang?“
Irritiert ließen die Kämpfer von ihrem stumpfsinnigen Tun ab. Tatsächlich hinterließ die Bank kaum mehr als Kratzer und Kerben auf dem schönen, wie die Fensterläden in Blau-Silber gestrichenem Holz der Eingangstür. Das Möbel stürzte krachend aufs Pflaster.
„Ihr macht meine Burg kaputt…Bei meiner Treu, das mag ich überhaupt nicht.“
Bishdarielon sprang die letzten Stufen hinab und grinste wölfisch über die erhobene Klinge hinweg.
„Sie sind zu dritt“, hörte er hinter sich Serwa mahnen.
„Danke, Frau von Baernfarn, aber ich kann durchaus bis drei zählen.“
Der junge Friedwang ließ das Schwert durch die Luft pfeifen, als wolle er diese zerschneiden und nicht menschliche Haut.
„Dass mich doch der Namenlose von hinten…“ staunte die Söldnerin, eine gar nicht mal so schlecht aussehende, etwas männlich geratene Rotblonde. Hastig nahmen die Gegner ihre Schilde an sich. „Der Golgarit ?! Wirst du nicht gerade hingerichtet, unten auf dem Dorfplatz?“
„Überraschung…“ sagte Bishdarielon und hob die Augenbrauen.
„Sieht so aus, als müssten wir das selber in die Hand nehmen, bei Kor.“ Der Ältere der beiden Männer (sein Gefährte war noch ein ziemliches Milchgesicht und sah ziemlich unkriegerisch aus trotz der Rüstung) zog blank. Die drei fächerten sich auf, gingen ihm über den Hof entgegen, als hätten sie sich zu diesem Treffen verabredet. Die Art, wie sich mit ihren Schilden deckten, verriet Respekt.
Bishdarielon kannte das Gefühl – es war, als würde die Luft zu sieden beginnen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, an der Stirn prickelte ein kaltes Feuer, in der Magengrube breitete sich niederhöllische Kälte aus. So war es vor einem Kampf immer.
Angst. Er hatte tatsächlich Angst, eine rein körperliche Furcht. Er brauchte sich ihrer nicht zu schämen. Sie würde ihn durch das, was nun kam geleiten wie eine alte Freundin. Ruhig Blut jetzt.
Das Schwert lag stark, ruhig und schwer in seiner Rechten, als wüsste es, dass es buchstäblich in guten Händen war. Merkwürdig. Hier, genau hier, auf dem Inneren Hof von Burg Friedstein, hatte er seine ersten Lektionen im Schwertkampf erhalten. Einen Augenblick lang überkamen ihnen regelrecht nostalgische Gefühle. Erna, die Büttelin, die dem kleinen Knirps ihr Kurzschwert in die Faust gedrückt hatte, schien jetzt hinter ihm zu stehen. Erna, mit ihrem breiten, sinnlichen Mondgesicht und stolzen, leicht melancholischen Hundeblick…Er konnte sich kaum noch an die Farbe und Form ihrer Haare erinnern, nur an dieses tulamidisch wirkende Gesicht, und die dünnen, feinen Wimpern. Die schönen, rondrianischen Augen darin…
Ihr lernt das schon. Ihr habt starke Handgelenke. Das ist beim Fechten das Wichtigste… Er pendelte leicht, ließ seine schleichenden, duckenden Feinde nicht aus den Augen. Erna war in der Ogerschlacht geblieben…Wie es hieß, noch auf der Walstatt von den Ungeheuern aufgefressen worden. Mit Haut und Haaren. Die traurigen Reste hatte man mit Dutzenden anderer Gefallener verbrannt. Ein furchtbares Ende, das Erna, die gute, innige geliebte Erna einfach nicht verdient hatte.
Jetzt nicht daran denken! Das Leder der Hose knarzte. Er strich sich über die Haare, schluckte nervös. Die Drei blieben stehen, musterten sich gegenseitig und versuchten ihn einzukreisen wie lauernde Raubtiere. Ich werde diesen Kampf gewinnen. Ein schwerer Schritt nach vorne zerstörte das eigene Spiegelbild in einer Wasserlache. Kühler, entschlossener Hass breitete sich in ihm aus, als wären die da – das Fallobst da – die Oger, die seine erste Fechtlehrerin erschlagen und vertilgt hatten. Ich muss diesen Kampf gewinnen, bei Rondra!
Vollkommene, gespannte Ruhe…
Binnen Herzschlägen hatte er den Schwachpunkt in ihren Reihen gefunden. Leichtfüßig wirbelte er zwischen den Söldnern hindurch, fegte mit einem Passierschlag das Schwert des rechten Mietlings beiseite, hieb aus der Rückhand auf die andere Seite. Dann wirbelte um die eigene Achse, drückte federnd die Knie durch und hob in Habachtstellung das Schwert.
Die Frau starrte entsetzt auf den Schlitz in ihrem Oberschenkel, aus dem Blut sprühte, knickte ein, und brach zusammen, wie ein Baum, der den letzten Axthieb erhalten hatte. Der Junge wich ängstlich zurück, deckte sich mit dem Schild und tat dabei so, als versuche er sich in eine günstigere Position zu bringen.
Mit dumpfem Grollen rief sich der beiseitegestoßene Kämpfer wieder in Erinnerung.
„Der Schwarze Prinz der Chimären hat dich in meine Hände gegeben“, sabberte der Söldner zwischen schadhaften, braunen Zähnen hindurch. Er ging in Kampfstellung, die Augen waren dunkle, glitzernde Schlitze unter der Beckenhaube, das Kettenzeug an den Schultern klirrte.
Ein löwenhaftes Lachen antwortete ihm. „Kor? Höchste Zeit, dass Rondra ihren missratenen Sohn einmal übers Knie legt.“ Bishdarielon vollführte spielerisch einige Bewegungen mit dem Schwert. Lustig pfiff der Stahl durch die Luft. Die grimmige Entschlossenheit auf dem gelblichen Gesicht des Söldlings verschwand – stattdessen zeigte er Nervosität.
Gut so. Bishdarielon ging ruhig in die Ausgangsposition, umfasste den lederumwickelten Griff mit beiden Händen. Seine anfängliche Angst war verschwunden, war einer hellen, fast schon jauchzenden Freude gewichen. Vor allem empfand der Friedwang tiefe Dankbarkeit gegenüber der Himmlischen Leuin. Es ist gut, mit einer Waffe in der Hand kämpfen zu dürfen. Für seine Freiheit, seine Ehre, das Recht und die Sache der guten Götter. Als Sklave, Schwächling oder Gefangener – wenn es da überhaupt einen Unterschied gibt - ist man einfach nur wehrlos. Der Wilkür Anderer ausgeliefert.
Aber das hier war die Burg seiner Ahnen.
Brüllend griff Oleanas Scherge an, hackte nach seiner Hüfte. Dschräng. Bishdarielon parierte, spürte schmerzhaft die Erschütterung der Handgelenke, die Nässe in den Handflächen, stieß die Klinge zurück, konterte beidhändig über Kopf.
Tschrang. Däng.
Sie keuchten beide, atmete stoßweise, rangen nach Luft. Es war, als würde mit jedem Hieb der Zeitfluss selbst zerhackt. Schweiß rann ihnen über die erhitzten Gesichter, ihre Füße versuchten Halt auf dem Boden zu finden. Das Schwert seines Gegners klirrte über das unebene, rutschige Pflaster, verhakte sich. Der nächste Hieb fauchte schwungvoll durch die Luft, als wolle der Mann unsichtbare Halme mähen.
Die Söldnerin wandt sich am Boden, wurde immer blasser, versuchte den aus der Arterie pulsierenden Blutstrom abzubinden. „Macht…. ihn fertig. Trautmann, los, greif…mit an. Tchhh…Und dann helft mir….Orksch, mein Bein…aaahh…“
Schneller, von singenden Hieben begleiteter Schlag- und Positionswechsel. Sie glitten aneinander vorbei wie waffenstarrende Schivonen, die sich aus nächster Nähe beharkten. Er hörte den ledernen Harnisch seines Gegners knarzen. Der versuchte einen Stich, den der Friedwanger aber auswich. Westlicher Kampfstil. Ein Albernier vielleicht, oder Nordmärker… Er würde ihn besiegen. Das wusste er nun mit ruhiger Klarheit.
Fast schon ein bisschen selbstverliebt kostete Bishdarielon die zurückgekehrte Kraft in seinem Leib aus, in den muskulösen Armen und Beinen, die größere Erfahrung und Gewandtheit – und den unbedingten Willen zum Sieg. Außerdem machte seinen schwergerüsteten Feinden die schwüle Hitze mehr zu schaffen als ihn. Er fintete gegen den Unterleib, drehte sich grazil um die eigene Achse, hieb den verdutzten Mann wuchtig über den Kopf.
PANG!
Wie eine Stanzmarke hatte er den Helmstahl in den Kopf des Korjüngers getrieben. Der schwer Getroffene taumelte, stolperte. Blut rann über seine schweißbedeckte, zernarbte Stirn. Bishdarielon wich zurück. Er hätte dem hässlichen Vogel leicht den Todesstoß geben können, aber wollte ehrenhaft kämpfen. Dann war noch der Junge da, der ungeschickt einen Angriff unternahm. Der Ritter stieß ihn einfach mit dem linken Unterarm zurück, der polternd dessen Schild traf. Der Halbwüchsige fiel hin, auf die schwer verwundete Frau, die lauthals aufschrie.
Der angeschlagene Söldner taumelte vor, versuchte einen seitlichen Hieb. Däschärräng. Bishdarielon ließ den Stahl funkensprühend beiseite gleiten – und sah Serwa hinter dem Verwundeten aufragen, die Armbrust mit eingelegtem Pfeil in Händen.
„Neeeiiin…Er gehört mir, bei Rondra!“
Die Baernfarn ließ enttäuscht die Waffe sinken.
Bishdarielon schnappte kurz nach Luft, spähte dann in die Schwachstelle seines Gegners. Der ganze rechte Hals- und Schulterbereich war schlecht gedeckt.
„Ergibst du dich?“ knurrte er.
„Nein, bei Kor….Niemaaa…“
Entsetzt startte der Mann auf die dunkelrote Kaskade, die aus seinem angehackten Nacken sprudelte. Er hatte den Hieb nicht einmal mehr kommen sehen. Das Schwert entglitt klirrend seiner Hand. Ächzend sank er zusammen, versuchte die Linke auf die Wunde zu pressen – und fiel schwerfällig wie ein Sack zu Boden. Ein letztes Seufzen, dann berührte seine Stirn das Pflaster, wie bei einem betenden Novadi. Mit rasender Geschwindigkeit breitete sich eine weinfarbene Pfütze um seinen Hals aus, ganz so, als wäre ein Krug Aranier zerbrochen worden, mischte sich mit dem Regenwasser.
Der Krieger hob das rotgesprenkelte Schwert, und schritt auf den Schildträger zu, der sich nunmehr rückwärts bewegte, fast auf allen Vieren, und sich dabei aufzurappeln versuchte. Beiläufig trat er der angeschweißten Söldnerin das Rapier aus der Hand.
Der Junge stand auf, griff schreiend und mit dem Mut der Verzweiflung an. Ein wütender Hieb, und sein Schwert flog davon.
TONK KLONK TLONK.
Immer und immer wieder hieb der Friedwang auf dessen Schild ein, hinter dem sein Gegner sich regelrecht zu verstecken versuchte, solange bis dieser zerspellte – und der Nachwuchs-Söldner wieder auf den Rücken fiel.
„Hält du das hier für einen Schaukampf?“ Der Adelige reckte dem wimmernden Blondschopf das Schwert an die Kehle – und schüttelte den Kopf. „Los, steh auf und verschwinde…“
Bishdarielon drehte sich um, um nach der Söldnerin zu sehen, die zuckend und weiß wie Papier auf dem Platz verblutete.
„Vorsicht…!“ schrie Serwa.
Bishdarielon drehte sich um – genau in einen wütenden, aber unbeherrschten Stoß mit der Ochsenzunge hinein. Die Klinge ratschte über seinen linken Handrücken und glitt dann kraftlos in seine Achselhöhle, wo sie allerdings nur Stoff zerriss. Im nächsten Moment traf ein Schwertknauf schmerzhaft die Stirn des heimtückischen Angreifers. Der nächste Hieb schlug ihm den Dolch aus der Hand. Bishdarielon ließ das Schwert fallen, packte den Burschen am Kragen und hieb ihn die Faust aufs Gesicht. Der Schlag ließ dessen fleischigen Backen regelrecht flattern. Er flog zurück, prallte gegen die Hauswand und erhielt schon im nächsten Moment einen Rammbock in die Magengrube. Er schloss keuchend und die Hände vor den Bauch gepresst die Augen, in Erwartung eines weiteren Hiebs. Stattdessen peitschte ihn eine Ohrfeige.
„Versuch das nie wieder, du Feigling…“
Nickend und sich die blutige Nase haltend kroch der Halbwüchsige davon.
Bishdarielon wandt sich wieder Serwa zu, die gerade die Wunde der Söldnerin abzubinden versuchte. Die Wunde an der Hand brannte, er leckte über das hervorquellende, süßlich-metallisch schmeckende Nass.
„Ich sage es nicht noch einmal!“ Der Söldnerhauptmann hob Alriks Kinn mit der Schneide an. „Ruf deine Büttel zurück oder du bist ein toter Mann.“
„Du stirbst dann aber als zweites“, stieß der Friedwang hervor.
„Ganz recht, als Zweites. Nach dir…Keine Sperenzchen. Wir werden jetzt zu den Stallungen gehen, und…“
„Nehmt Eure Hände von meinem Bruder…“
Der Kondottiere blickte sich irritiert um.
Bishdarielon stand breitbeinig in der Tür, die zum Küchentrakt führte, eine geladene und gespannte Armbrust im Anschlag.
Gerrich wurde nervös, ein klein wenig, zumindest. Es war nicht gut, dass er hier den Kopf drehen und gleichzeitig seine Geißel unter Kontrolle halten musste.
„Solltest, p´h, du nicht unten sein, im Dorf, bei deiner Hinrichtung…?“
„Seltsam, so was Ähnliches haben Eure Söldlinge auch gesagt, die jetzt draußen in ihrem Blut liegen. Das Rammbock-Kommando. Sie hätten einfach nur den anderen Eingang nehmen müssen.“ Bishdarielon kam näher, gefolgt von Serwa.
„Vorsicht, sie ist eine Verräterin…“ raunte Gesine, die Steinbockgardistin – und erntete einen ungnädigen Blick Serwas.
„Das sagt die Richtige…“ fauchte die Baernfarn zurück. Ihre Stimme klang wie die Säure, die deutliche Spuren auf Händen und Gesicht hinterlassen hatte.
„Können wir die Stutenbeißerei nicht auf nachher verschieben. Serwa ist sauber. Jetzt ist sie es, nach einem kleinen Ausflug in den Brunnen…Also, Gerrich? Bei meiner Seel`. Ich möchte Euch nicht wie ein verdammter Goblin in den Rücken schießen müssen, die Himmlische Leuin sei meine Zeugin. Aber Ihr zwingt mich dazu, wenn Ihr weiterhin Alrik ein Schwert an die Kehle haltet…“
„Haltet Ihr mich, p´h, für so dumm, mein…pff… Faustpfand herzugeben?“ Gerrichs blutiger Kopf ruckte über die Schulter. Sein Bart hatte sich bereits rot gefärbt, er spuckte aus. „Ich will das schnellste Pferd im Stall und außerdem, fh´, eine kleine Reisekasse…Die Blutdiamanten, wo sind die verschissenen Blutdiamanten?“
Er entdeckte sie auf dem Boden.
„Das Säckchen dort…Her damit, los.. Gebt es mir in die HAAAAAAAAHHHH…“
Ein infernalischer Schrei, als ihm von unten ein Messer in die Leistengegend gestoßen wurde. Von dem Mondschatten, der es gerade aus dem Ärmel gezogen hatte. Schreiend und heulend und sich die Wunde haltend, brach der Söldnerführer zusammen. Im nächsten Augenblick war der Streuner über ihn, riss die Klinge wieder heraus und stieß das Schwert mit dem Fuß beiseite.
„Die Steine? Du willst die Klunker? Die hättest du doch vorhin schon haben können. Dreimal genotzüchtigte Orkscheiße. Was bist du doch für ein verdammter Narr.“
Heiß hachte Alriks Atem gegen Gerrichs Gesicht. Mit der Rechten presste er ihm die Schneide des schlanken, spitzen Messers unter die Kehle, knapp unter dem blutig verfransten Bart. Der Söldner wagte kaum zu schlucken, das Weiß in seinen Augen zeichnete sich hell gegen die blutige Masse ab, die bis vor kurzem einmal sein Gesicht gewesen war.
„Gna…aade…“ röchelte der Mann schwach.
„Halts Maul.“
Mit der Linken zog Alrik den Beutel heran, ruckweise, dunkle Schlieren im Leder hinterlassend.
„Hör zu, Goblinnase!“ flüsterte er leise, fast kameradschaftlich. „Hör zu. Ich werde es dir nur einmal sagen. In Brabak, in der Gosse, hätte ich mit dem Messer etwas mittiger gezielter, und dir nicht nur ein paar Schamhaare zerschnitten. Verstehst du, ja?“ Er öffnete mit vom geronnenen Blut klammen Finger die Lederschnur des Säckchen.
„Fran, was soll das?“ wollte Bishdarielon wissen, der die Armbrust etwas gesenkt hatte. „Lass ihn in Ruhe, es ist vorbei…“
Alrik lachte leise auf, ohne überhaupt zu zuhören. „Bin ein richtiger kleiner Sonnenschein geworden, hier im schönen Darpatien. Hör zu, du korgefällig blutig gehauene Söldner-Fresse. Wenn du nicht willst, dass ich dir hier und jetzt deinen unersättlichen Gierschlund durchschneide, wirst du jetzt diese Diamanten fressen, einen nach den anderen, und sie dann von mir aus irgendwo in den Wald scheißen, wohin auch immer. Los, mach schon…“ Er schüttelte die kalt glitzernden Edelsteine auf den Boden, fingerte einen heraus und schob ihn Gerrisch zwischen die rotbefleckten Zähne, wie einen Bonbon. „Schön schlucken…sonst werde ich sie dir durch einen großen, breiten Schlitz in deiner Kehle in den Rachen schieben. Verstanden? Los…“
Alrik drückte ruckartig den Kopf seines Opfers nach unten, dann presste er ihm die glitzernde Klinge gegen den Avesapfel.
„Verdammt, Francesco. Wohl verrückt geworden…Was soll das? Die Dinger sind Hunderte Dukaten wert…“
„Diese phexverfluchten Klunker aus Xeraanien sind die Scheiße wert, in denen sie demnächst landen werden. Hörst du, Gierich? Da drin kannst du dann nach ihnen fingern, und nach deiner verhurten Söldnerehre gleich noch dazu. Komm schon, wir haben nicht ewig Zeit…“ Alrik stopfte dem Söldner gleich eine Handvoll Steine in den Mund. „Schlucken, immer schön schlucken.“
„Verdammt noch mal lass das…“ raunzte Bishdarielon. „Man merkt, dass Du aus Brabak stammst und ich mal Al´Anfaner war…“
Verblüfft hielt Alrik mit der „Söldnermast“ inne. Gerrich nutzte die Verschnaufpause, um die Steine wieder herauszuwürgen, die nun wirklich rötlich verschmierte Blutdiamanten waren. Es sah aus, als spucke er seine Zähne aus.
Der Streuner sah seinen Zwillingsbruder fragend an.
„Ganz einfach, Francesco. Man demütigt einen Feind nicht aufs Äußerste und lässt ihn dann einfach laufen. Wenn, dann musst du ihn hier und jetzt über den Yaquir schicken. Aber spiel mit ihm nicht Katz und Maus, bei meiner Seel…“
„Wenn du meinst…“ Die Schneide suchte die Halsschlagader. Gerrich rollte mit den Augen.
„Nein, ich meine durchaus nicht. Und lass deine unflätige Gossensprache in dieser Burg, wir sind hier nicht in den Brabaker Elendsvierteln…“
Ein gulpendes Geräusch und der schmerzerfüllte Gesichtsausdruck Brandroders zeigten, dass er doch einen der Diamanten heruntergeschluckt hatte.
„Bäuerchen gemacht, wie?“ Alrik hob das Messer etwas, dann zog er es zurück.
„Heute ist dein Glückstag, alter Schwachkopf. Du darfst dich verziehen. Und sollte ich dein dummes Affengesicht noch einmal in Friedwang oder auch nur in der Nähe von Friedwang sehen, wirst du am nächstbesten Ast baumeln, das schwöre ich dir, bei den unsterblichen Zwölfen und allem, was mir heilig ist.“
Alrik drückte dem Söldner den restlichen Beutel in die zitternden Hände und ließ von ab. Schwerfällig stand er auf. „Verschwinde…los, hau ab…Wir haben keinen echten Streit miteinander. Du bist nur gekauftes Fleisch…wie eine Hure für die Drecksarbeit angeheuert…Dann kauf ich dich halt für meine Dienste, dich und deine rondraverdammten Söldner…Zumindest die, die unten auf dem Markptlatz noch nicht vom Volk zerhackt worden sind…Mein Befehl lautet: Nimm deinen Hurenlohn und verschwinde…“
Mit steifen Beinen und schwerfällig stand Gerrich auf, sah mit flackerndem Blick um sich.
Einen Augenblick schien er zu überlegen.
„Ich…bin ein ehrenhafter Söldner…“ sagt er dann, und es klang beinahe anklagend. „Ich halte mich an den Kontrakt. Gebt mir mein Schwert …und lasst es uns anständig zu Ende bringen.“
„Schon gut, Gerrich“, sagte Bishdarielon. „Eine Hinrichtung am Tag genügt. Ich zweifle Eure Ehre nicht an. War schließlich auch mal Questador. Nicht die besten Zeiten in meinem Leben, Rondra weiß.“ Ein kurzes Lächeln flammte im Gesicht des Friedwang auf. „Aber auch nicht die schlechtesten. Kauft euch die Dienste eines guten Heiler, am besten eines Magiers. Wegen dem Gesicht …“ Dann trat er beiseite.
Gerrich schnaubte verächtlich, soweit die gebrochene Nase es zuließ. Erneut sprudelte Blut hervor.
Bishdarielon reichte ihm ein Taschentuch. Den notdürftigen Verband vors Gesicht gepresst, torkelte der Söldnerhauptmann hinaus, ein dunkler, metallisch glänzender Schemen im jetzt wieder kühl herab prasselnden Regen.
Die Schlacht auf dem Marktplatz endete, was die Söldner anging, unentschieden. Sie zogen sich mitsamt dem Prätor in den Tempel zurück, schlossen das schwere Gittertor. Die Aufständischen wagten ihnen nicht zu folgen. Der Regen hatte nachgelassen, für einen Moment kam die Sonne heraus, schien sanft auf blutige Pfützen, herumliegende Waffen, zertretenes Obst, umgestossene Weidenkörbe, zerhackte Glieder, in weißem Fleisch stakende Pfeile, benommen umherkriechende, verwirrt stöhnende und klagende Verwundete. Die ersten humpelten, auf Gefährten gestützt, davon. Der Springende Steinbock wurde zum Notlazarett, ebenso der Traviatempel. Schreie anderer Art hallten durch die Luft, als herbeieilende Angehörige tote Verwandte entdeckten. Badilak Huckelackers Mutter hatte ihren toten Sohn gefunden, bekam, vom Vater notdürftig getröstet, einen schrillen Weinkrampf und stieß eine Reihe finsterer Flüche aus, die ebenso den Korgesellen gelten konnte wie den Aufständischen. Vermutlich beiden. Dann brach sie zusammen.
Hagen Stoor schritt, mit maskenhaft blassen Gesicht, durch den Wirrwarr, gab hier einem waidwunden Kriegshund den Todesstoß, tätschelte dort einem tapferen Bauernmädchen die Wange, das sich mit schmerzverzerrtem, tränenüberströmten Gesicht die Seite hielt, während man sie vom Platz führte. Er selbst hatte nur einen kleinen Kratzer an der Wange, vermutlich von einem Splitter des detonierenden Zwergenkristalls, den er nicht mal bemerkt hatte. Dutzende Tote und Verletzte lagen herum. Ein einzelnes verstörtes Pferd irrte durch ihre Reihen, hinkend, blutüberströmt.
„Malte? Habt Ihr Malte gesehen?“ fragte die alte Gusmine Hornbacher, die mit Ida Huckelacker zum Marktplatz geeilt war. „Meinen Jungen? Habt Ihr meinen Jungen gesehen? Herr Schultheiß…“
Das gütige, kummervolle Hutzelgesicht der Bauersfrau riss ihn aus der Erstarrung. Ihre Stimme bebte, von Sorge und einer dunklen Vorahnung erfüllt.
Er brachte es nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Malte war das letzte verbliebene Kind der Huckelackers gewesen, nachdem alle anderen dem Krieg, dem Hunger und der Pestilenz zum Opfer gefallen waren. Er schüttelte den Kopf. Nasse, blutverklebte Haare fielen ihm in die Stirn. Einige der Hagelkörner hatten auch ihn getroffen.
Zu seiner Erleichterung begnügte sich die verstörte Frau damit, irrte jammernd und seufzend weiter. Hagen merkte, wie seine rotbefleckte Hand zitterte. Die Wahrheit ist: Du hast den letzten verbliebenen Sohn getötet, Hagen Stoor, den diese Frau noch hatte. Ein Ablenkungsmanöver, mehr nicht. Waffen an die Bauern zu verteilen. Es war nur eine Ablenkung gewesen, bis die eigentlichen Rebellen auf dem Plan erschienen waren. Die Opferung einiger unbedeutender Plänkler, um Verwirrung zu stiften.
Die Anspannung des Gefechts ließ schlagartig nach, die Knie wurden weich. Er stand vor Oleana, die neben ihrem Vater lag. Irgendjemand hatte sie vollends auf den Rücken gedreht, so dass die fürchterliche Halswunde gut zu sehen war. Die Augen waren weit aufgerissen, aber leer, die Gesichtszüge verzerrt. Ihr schmutziger, von vielen Wunden bedeckter Leib sah aus wie eine zerschlagene, in den Dreck getretene Puppe – eine entseelte Hülle. Ihre Schönheit war ebenso verschwunden wie das Hermelin.
Gernot grinste ihn schief an, zwinkernd, mit gebleckten Zähnen inmitten eines schwarzen, von Blut und grauen Haarsträhnen durchzogenen Knebelbarts – wie eine Fratze aus längst vergangenen Zeiten. Der Schultheiß öffnete seine Mantelschließe, bedeckte beide Gesichter mit dem patschnassen Umhang. Einen Augenblick lang musste er an sich halten, nicht loszuheulen. Nicht um Oleana, geschweige denn Gernot. Es waren die Nerven, die kurz rebellierten.
„Wir müssen den Tempel stürmen“, knurrte Rando Hirsbach, der Anführer einer Freischärlerbande, die sich aus irgendeiner überspannten Laune heraus die Nordenheimer Apfelmännlein nannte. „Geben wir dem Pack den Rest. Nippert, Harnischer, Oleana…Die haben doch alle unter einer Decke gesteckt. Jetzt gewähren die Pfaffen dem Söldnerabschaum auch noch Zuflucht… “
Der Ilsurer sagte nichts, genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, atmete die Luft, die zwar blutgeschwängert, aber nicht mehr so stickig war wie vor dem Gewitter. Die Wahrheit ist: Es tut gut, all die Toten zu sehen. Wer sie sieht, hat überlebt. Der Mensch ist ein Egoist, beim Heimlichen, und wer etwas anderes sagt, ist ein jämmerlicher Lügner und Feigling. Ich danke dir, O Phex, dass das Leben für mich weitergeht.
Seine Augen wanderten zur Burg, suchten den Bergfried. Tatsächlich, dort oben wurde nun die Friedwanger Steinbockfahne gehisst – zum Zeichen, dass auch der Friedstein in der Hand Baron Alriks war.
„Stoor?“
„Wie?“ Er drehte sich um.
„Sollen wir die Basilika stürmen?“ drängte Randos Stimme.
Hagen schüttelte den Kopf. „Zu spät. Der Kampf ist zu Ende.“
Er grinste schief. „Wir haben gesiegt.“
Schwere Tropfen prasselten herab. Erneut setzte ein Platzregen ein. Der Schultheiß stellte sich in den kalten Guß, die Hände ausgereckt, schloss die Augen und leckte das köstliche Nass, genoss die Wonne, noch unter den Lebenden zu weilen, mit jeder Faser seines Körpers.
Ein jäher Schrei von der Burggasse her ließ ihn zusammenzucken.
Serwa hatte Alrik die zerschlitzte Hand verbunden, und legte nun die blutende Armwunde frei. Beinahe stöhnte sie mehr als ihr Gemahl, als sie den dunkelrot schimmernden Schnitt sah.
„Das werde ich nähen müssen.“
„Tu dir keinen Zwang an…“ Der Baron griff, eine rauchende Pfeife in den Mundwinkel geklemmt, nach der Karaffe mit Branntwein.
„Auch ein Schluck?“ Das galt Bishdarielon, der sich in einen Sessel geworfen hat. Er hob matt die Hand, was wohl Ablehnung signalisieren sollte.
„Da sind einige Sehnen durch…“ Serwa kramte in ihrer Medicus-Tasche aus dunklem Rindsleder. „Ein Wunder, dass du die Linke überhaupt noch bewegen kannst. Und sie noch nicht abgefallen ist…“
„Jaja. Nur mein Bruderherz macht sich mehr Sorgen um diesen Räuberhauptmann als mich.“
„War das nötig, ihn so zu erniedrigen?“ knurrte der Golgarit.
„Sollen die Büttel ruhig glauben, ich wäre mindestens genauso verrückt und gefährlich wie Oleana…“
„Glauben - oder merken?“
Alrik lachte unter einer Tabakwolke auf, sagte aber nichts.
„Zumindest hättest du ihn nicht gehen lassen dürfen“, meinte Bishdarielon. „Nicht ihn erst demütigen und dann einfach laufen lassen. Sowas ist wirklich verrückt. Eines Tages wird er sich rächen…“
„Es war bereits verrückt, dem Söldner diese Edelsteine erst in den Rachen stopfen zu wollen und dann zu schenken.“ Serwa nickte zufrieden, als sie eine Nadel gefunden hatte. „Xeraanisch oder nicht – das müssen hunderte Dukaten gewesen sein.“
„Wie ich Fran kenne, handelte es sich dabei sicher nur um hochwertige Fälschungen“, brummte Bishdarielon. „Danke, übrigens. Wegen dem Schwert…Auch wenn ich es dem Henker leider nicht spüren lassen konnte. . .
„Nun, das war doch selbstv….“
„Jaja. Dieser Wächter hat es mir ins Ohr geflüstert. Bevor Gernot hereingestürmt kam und mich niedergeschlagen hat. Toller Plan. Ein Schwert unter dem Stroh auf dem Schafott. Einer gegen Dutzende. Da sollten wohl Alaras Söldner die Drecksarbeit erledigen.“
„Die Wildgänse sollten eigentlich…“
„Sind ausgeflogen. Das hat mir dein Gehilfe auch noch zugeraunt. Wie auch immer. Gernot ist tot, das ist wohl endlich mal eine gute Nachricht. Na komm, schieb schon rüber.“ Bishdarielon goss sich etwas Brand in ein Weinglas.
„Auf unseren glorreichen Sieg.“
Die Baernfarn entzündete eine Kerze, und hielt die Nadel darüber. „Trink ruhig noch einen Schluck, mein werter Gemahl. Es könnte gleich schmerzhaft werden. Seid Ihr euch schon einig, wer der nächste Baron werden soll?“
„Baron? Kriegsherr heißt das doch jetzt staatskundlich korrekt, glaube ich.“ Alik stieß in der Luft symbolisch mit seinem Bruder an. „Ganz einfach. Ich habe da an eine Ganerbengemeinschaft gedacht.“
„Was denn für Garnelen?“
„Ganerben. Wir teilen uns den Besitz und die Baronie Friedwang einfach. Zsst…einfach durch die Mitte durch…“
„Die Bardo- und Cella-Lösung? Vergiss es. Das Erbe des Hauses Friedwang-Glimmerdieck ist so unteilbar wie sein Name, das hat schon unsere Urahnin Perchthilda festgelegt. Eine Teilung Friedwangs wäre so sinnlos wie ein Spielzeug, um das sich zwei kleine Kinder streiten, einfach in zwei Teile zu brechen…Es zu zerstören…“
„Kleine Kinder, die sich balgen?“ Serwa zog mit dem Fingerhaken Alriks Becher zu sich heran und tauchte den Faden mitsamt Nadel hinein. „Endlich schätzt ihr euch mal realistisch ein. Dein Bruder hat völlig Recht, Francesco. Ihr könnt doch untereinander schon kaum Frieden halten. Spätestens eure Erben würden dann wie die Orks aufeinander losgehen…“
„Damit würden sie allerdings nicht mehr sonderlich auffallen, in all dem götterlosen Irrsinn namens Wildermark.“ Alrik stieß sauer auf und holte sich den Becher wieder zurück. „Dieses Land braucht einen Krieger, der ihm sagt, wo es langgeht.“
„Da kannst du unsere Zunft aber schlecht, Bruder.“ Bishdarielon schlug die Beine übereinander und blickte in die honigbraune Flüssigkeit in seinem Kristallglas. Sie roch aromatisch und süß. „Nein, Fran. Krieger sind Leute, denen jemand sagen muss, wo es langgeht.“ Er nahm erneut einen Schluck, blickte tief ins Glas. „Weißt du, Bruder, du denkst mehr mit dem Bauch. Ich bin der Kopfmensch von uns beiden. Wo sich Verstand und Gefühl streiten, gibt der Klügere meist nach, hat Rohal einmal gesagt.“
Der Brabaker trank schnauffend und verzog das Gesicht, als habe er in einen sauren Apfel gebissen.
„Rohal? Schwere Koscht…“
„Weißt du noch, Bruder? Der erste Abend in Hauckes Zuflucht. Da waren wir uns für einen Augenblick sehr nahe. Ein Leib und eine Seele. Wie es Zwillinge eigentlich sein sollten, bei meiner Seel.“
„Du bischt der Erstgeborene. Dasch…das hier ist keine Frage von Gefühl oder Verstand, sondern von Recht und Tradition. Ich sehe es zwar genauso, dass ich nicht einfach den Thron räumen sollte. Aber schtehlen möchte ich dir auch nisch…nichts. Teilen wir ihn uns also.“
„Er ist zu klein für uns beide, und auf deinem Schoß möchte ich eigentlich nicht sitzen.“
„Friedwang braucht einen Neuanfang…“
„Dieses Land braucht Kontinuität. Nein, nein. Gerade weil ich Traditionalist bin, werde ich deine Herrschaft unangetastet lassen. Kontinuität ist das Wichtigste. Berechenbarkeit. Verlässlichkeit. Gib mir ein Lehen, ein Stückchen Land, einen Titel, mit dem ich leben kann. Überhaupt – war ich immer nur der lebende Erstgeborene. Ja, Mutter hat es mir einmal erzählt. Einer von uns Vierlingen wurde wohl vor mir geboren. Tot, so schien es zumindest. Immerhin, das könntest auch du gewesen sein.“
Alrik hob die Augenbrauen. „O. Gut dasch…das zu wissen.“
„Die Wahrscheinlichkeit beträgt zwar nur…eins zu zwei, aber immerhin. Da du ein Boltansspieler nach Phexens Art bist, mag es gut sein, dass du auch bei diesem Glücksspiel die besseren Karten hattest…“
„Du irrschst dich. Ich schpiele prinzipiell keine Glückschspiele.“ Alrik grinste debil und leerte den Schnaps. „Nicht bei derart hohen Einsätzen. Was is, Serwa? Möchtest du nicht anfangen, meinen kaputten Arm zu f…fi..hihi…flicken?“
„Trink lieber noch einen Schluck. Nein, gib mir erstmal einen…“ Serwa langte nach dem Becher.
„O Rondra, jetzt fall ich su allem Überfluss auch noch in die Hände einer betru´enen Feldscherin…So, nun lech ich ma die Kartn aufn Tisch. Unser Vater is´ leider nicht der große Alrik vom Ochsenwasser, sondern der kleine Tsageweihte Lacertinus von Zaberg… Seit Hauckes Zuflucht weiß ich …ich es… Es is also völlich egal, wer als erstes aus dem Schoß unserer geliebten Mutter gefallen ist…Egal. Wir schind beide Kuckuckskinder. Nach Phexens oder Tsas Art oder wer auch immer für so wasch zuständich is.“
„ Das ist nicht wahr…“
„Warum sollte ich dich da…darüber belügen?“
„Dann hat eben Lacertinus gelogen. Eidechse oder Schlange, da ist manchmal wenig Unterschied. Die KGIA und die Inquisition wird schon wissen, warum sie ihn verhaftet hat.“
„Ein bischen mehr Respekt vor dem leib…ichen Vater, wenn ich bitten darf. Väter gehören nun mal zu´n Dingen im Leben, die man… dankenswerter nur einmal hat. Lacertinus ist nicht unser halber Vater, er war es nich im Jahr eins vor Hal und heute nich mehr, sondern er war unser Vater und is es immer gewesen. Also, hack nich auf ihn herum, zumal er tot ist. Mausetot. Leider.Auch was ganz und gar Einmaliches, dieser Zustand…“ Alrik spürte, wie sein Gaumenzäpfchen zitterte, also spülte er seine Trauer eilig mit einigen Schlucken Branntwein herunter – aus der Karaffe.
„Das hieße ja…das würde ja bedeuten…“ Bishdarielon wurde abwechselnd heiß und kalt. „Dann hätten wir – bei meiner Treu - ja beide kein Recht auf diese Baronie.“
„Oder jeder gerade so…viel wie der annere…“ nuschelte Alrik , der mit stierem Blick vor und zurück schwankte. „Gera..ae hast du noch was von Kon..tu..nuität geredet. Bitte…Kriechsherrn…Wir sinna jetzt Kriechshärrn…der Willermak…Nüüüschen…“
„Nüsschen?“
„Ja…isch…isch will Nüüüschen….“
„Trink, mein Gemahl“. Serwa lächelte und nahm Alrik die Pfeife aus dem Mundwinkel, bevor er sie in die Karaffe tauchen konnte. Sie schob sie sich selbst zwischen die Zähne und paffte vergnügt. „Trink und vergiss…“
„Aber isch will…“ quengelte der Baron zwischen einem schlürfenden Geräusch.
„Nüsschen gibt’s nach der Operation.“ Die Medica nahm den Branntwein an sich – und goß ihn Alrik über die Armwunde.
Der Schmerz kam so überraschend, dass Alrik nicht mal mehr Gelegenheit hatte zu schreien. Seufzend verdrehte der Baron die Augen und sank rückling auf den Tisch. Dort rührte er sich nicht mehr. Serwa drückte Bishdarielon das Glas in die Hand.
„Offenbarung der Zwillinge…Maraskanischer Rum aus Zuckerrohr. . .Irgendwie passend, findet Ihr nicht?“
„Du….ich finde wir sollten uns duzen…Schwägerin…Ihr habt…Du hast es mir ja schon angeboten…“
„Wie Ihr…du willst.“ Ruppig packte Serwa ihren Mann an den Stiefeln und schob ihn vollends auf den Tisch. Dann wischte sie die Wunde sauber und begann, mit der Nadel in den fleischig überlappenden Wundrand zu stechen. Bishdarielon wandte sich ab, während Serwa ungerührt begann, den blutüberströmten Spalt zu schließen – völlig unbekümmert, als würde sie irgendeinen Flicken annähen.
„Sag bloß, du kannst kein Blut sehen…als Krieger?“
Der Friedwang schlürfte die letzten Tropfen Rum aus der Karaffe. „Hab so was mal am eigenen Leib erlebt“, flüsterte er einsilbig.
„Tja, nun, sich gegenseitig mit Schwerter zu hauen macht nun einmal Aua…“ Serwa verknotete die losen Fadenenden. „Messer…“ kommandierte sie. „Da…in der Tasche…“
Bishdarielon suchte die Klinge heraus und reichte sie ihr.
„Stimmt das…mit diesem Tsageweihten? Ich kann es nicht glauben…Aber…ich konnte früher so vieles nicht glauben…und nun…Bei meiner Treu, die ganze Welt hat sich auf den Kopf gestellt in den letzten Götterläufen, will mir scheinen…“
Serwa trennte den überschüssigen Faden ab. „Die Welt, sei sie nun eine Kugel oder Scheibe, dreht sich einmal um sich selbst und fängt doch nur wieder da an, wo sie am Vorabend aufgehört hat.“
Sie reichte Bishdarielon wieder das Messer, mit dem Griff voran. „Danke. Ja, es stimmt, das mit Lacertinus von Zaberg….“
„Dann sind wir beide also Bastarde…Bankerte ?!“ Bishdarielon schüttelte den Kopf. „Nun, da ist schon etwas daran. Ich war ein Söldner, ein Totschläger, ein Folterknecht Al´Anfas, wo ich eigentlich ritterlich und edel hätte sein müssen, bei Praios und Rondra. Das gemeine Blut…es verdirbt nun einmal alles Edle. Früher, da kam mir Francesco fremd vor…aber mittlerweile….mittlerweile fange ich an mir selber fremd zu werden…“
„Da ist es wenigstens wieder spannend, morgens in den Spiegel zu gucken.“ Serwa lächelte. „Ich kann dich beruhigen. Lacertinus war kein Gemeiner. Sein wahrer Name ist Oswin Herofalk von Eppelein zu beider Prähnskaten…“
„Ein… Eppelein?“ Bishdarielon atmete scharf ein und aus.
„Ja. Er hat auf wundersame Weise überlebt. Ein direkter Nachfahre des Heiligen Alboran…“
„…und Todfeind unserer Familie.“ Bishdarielon blickte grimmig auf das Skalpell. „Ich dachte eigentlich, es gäbe sie nicht mehr. Die Eppeleins wären ausgerottet, heißt es. Leider, denn diese grimme, gnadenlose Fehde war wahrlich kein Ruhmesblatt unserer Geschichte. Andererseits waren sie eine echte Bedrohung für unsere Herrschaft, als angebliche Nachfahren des Hauses Haldorin. Wir haben sie fast vollständig ausgelöscht, mit Feuer und Schwert.“
„Ja- fast. Blick nur einmal in den Spiegel. Dann wirst du das Zeichen der Haldorins erkennen. Das fehlende Stück des rechten Ohrs…wie mit einer Klinge abgeschnitten…“
Der Söldner langte sich an die Ohrmuschel, mit leicht verzerrtem Gesicht, als würde sie tatsächlich von einem Schnitt schmerzen.
„Auch Tsalinde war eine Nachfahrin des Heiligen Alboran Haldoran von Baliho…“
„Diese Familienlegende hat sie nie geglaubt und du glaubst sie selber nicht…“
„Wer sagt das?“
„Dein Gefühl…aber auch dein Verstand…denn Luitprand, euer kleiner Bruder, hatte diesen Fehler nicht, der sich doch angeblich auf alle männlichen Nachfahren Alborans vererbt…So ist es doch, oder?“
„Ich…“
„Nein, Tsalinde war nicht von Haldorinblut, Luitprand war es nicht und Gunelde ist es ebensowenig. Gerade deswegen hat sich eure Mutter ja auf eine Liaison mit dem Zaberger Geweihten eingelassen… Und auf einen Fruchtbarkeitssegen, der sicherstellte, dass ihre Liebesnacht nicht folgenlos bleiben würde…Nun, die Folge waren dann gleich Vierlinge, wie wir wissen…Jedenfalls: Es ist sicher nicht das Blut Oswin Herofalks, der dich zum Totschläger und Folterknecht werden ließ, wie du sagst. Die Ritter von Prähnskaten waren zuletzt gutmütige, friedliebende Leute, und Lacertinus sogar ein Diener der Tsa…Ein Mann, der Wunden heilen, Frieden geben und Leben spenden wollte. Bei allen dunklen Seiten, die er vielleicht ebenfalls in sich verborgen trug. Alrik hat Recht. Du solltest mit mehr Hochachtung von ihm sprechen…von deinem Vater…“
Bishdarielon seufzte. „Selbst wenn er es wäre. Gerade wenn er es ist… Ein Seitensprung bleibt ein Seitensprung. Somit hinterlistiger Betrug. Was heißt das schon, Nachfahre eines Heiligen, wenn man es auf derart – unheilige, ehrlose Weise geworden ist. Durch eine peinliche Sünde vor Praios und Travia. Auch wenn meine Eltern damals noch nicht verheiratet waren. Nein: für mich wird immer Alrik vom Ochsenwasser mein Vater bleiben. Er hat mich aufgezogen, im guten Glauben, ich wäre sein Sohn…“
Im Gesicht des Mannes zuckte ein Nerv. „Verdammt noch mal. Er hat mich Ehre gelehrt, die Hochachtung vor dem Gesetz, der Moral, dem Guten und der zwölfgöttergefälligen Ordnung. Soll das alles nur Tand gewesen sein, leere Worte eines Hahnrei, die nichts mehr zählen? Vater hat diese Ideale gelebt, und er ist zuletzt für sie gestorben: Als echter Held in der Schlacht gegen die tausend Oger, als ein vorbildlicher Baron des Raulschen Reiches. Die Eppeleins waren nichts weiter als ehrlose, feige, hochnäsige Duckmäuser und Heckenschleicher, durch die Zahl der Jahrhunderte seit Alboran kraftlos und müde geworden. Degeneriert. Halbe Bauern, Krämerseelen, keine Rondrianer. Tsalinde hat das selbst einmal gesagt. Ich kann sie einfach nicht als meine rechtmäßigen Vorfahren anerkennen. Faule Äpfel im Garten der Peraine….Wir haben mit ihnen nur abgeschlagen, was ohnehin in ein paar Jahrzehnten zu Boden gefallen wäre.“
„Dann hätten die Friedwangs auch ruhig so lange warten können - und sich nicht so sehr vor ihnen zu fürchten brauchen. Gewiss, der Eppeleinsche Reichtum an Ländereien und Gold, nebst dem Mangel der Steinböcke daran, hatte bei dieser Fehde keinerlei Bedeutung…“ Serwa hob begütigend die Hand, als sie eine Zornesfalte im Gesicht ihres Gegenübers bemerkte. „Aber in diese Dinge mische ich mich nicht ein. Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Wir sollten Alrik nun besser auf sein Zimmer bringen. Nachdem ich ihn verbunden habe. Er hat sehr viel Blut verloren….“
„Bist du sicher, dass das mit dem Arm wird?“ Skeptisch blickte Bishdarielon auf die grobe, blutumrandete Naht. „Der Al´Anfanische Feldscher damals hat feinere Stiche vollführt.“
„Ganz sicher.“ Serwa spuckte aus, der Speichel verteilte sich über den Riss in der Haut. Mit einem Murmeln verrieb sie die schäumende Flüssigkeit.
„Diese Wunde wird heilen, bei Sumus Macht!“
Alrik schob seine Zunge in ihren Mund. Es fühlte sich warm und feucht an. Leichter Ekel, lustvolle Erregung. Heiß vor Wollust, wälzten sie sich übereinander. Er spürte ihre harten Brustwarzen durch seine Finger, fühlte ihre heißen Schenkel unter den seinigen. Fast glaubte er jede Pore ihrer einfühlsamen Haut einzeln zu spüren. Ein wohliges Stöhnen. Erneut küsste er sie, in höchster, verzückter Erregung, auf den Mund. Ihre Augen, sie hatte wunderschöne Augen. Man konnte sich ganz in ihnen verlieren. Für einen Momentan vergass er sogar den lauernden Schmerz in seinem Arm.
Rahja, oh, wie wunderbar betrügst du uns Sterbliche in solchen Momenten. Einige wenige Herzschläge lang verschmolzen sie ineinander, versanken in sich wie quaderschwere Steine in einen dunklen, sommerwarmen Teich. Er griff, tastete nach ihren Oberschenkeln, drückte sie auseinander, spürte ihre gekräuselten, weichen Schamhaare. Behaglich schob er sich über sie, spürte, wie sich ihre Lippen öffneten. „Serwa, ich liebe dich…“ Sie nickte zart, küsste auch ihn auf den Mund und strich ihm liebevoll durch die schweißnassen, lockigen Haare. „Mehr als mein Leben“.
„Ich liebe dich auch, Alrik. Niemals hätte ich dich im Stich lassen dürfen.“
O Rahja, wie wunderbar du uns betrügst….
Heißes, angestrengtes Keuchen.
„Sag jetzt nichts. Lüg mit deinem Körper.“
Auch sie stöhnte erregt. Wie wunderbar sie duftete, nach Schweiß, Blumen und vollendeter Zärtlichkeit. Liebevoll drehte er sie auf den Bauch, griff von hinten nach ihrem Rahjahügel. Das Stöhnen wurde stärker. Er begann mit den Stößen. Heiterer Frieden, vollendetes Glück, vollkommener Genuss. Nach dem Gipfelpunkt der Lust befiel ihn angenehme Mattigkeit. Alrik streichelte ihre Haut. Früher hatten sie sich leidenschaftlicher geliebt, und inniger versöhnt. Und doch, es war richtig, es hier und jetzt zu tun.
Nach dem Liebesspiel lagen sie noch eine Weile ruhig im Dunkeln nebeneinander.
„Du vertraust deinem Bruder zu sehr“, sagte Serwa unvermittelt, während der Baron seinen Finger in ihr Haar wickelte. „Er kommt bei diesem Geschäft besser weg als du.“
„Wieso? Er hat doch verzichtet…“
„Ja, der Klügere gibt nach. Und der Erstgeborene ist edel und großmütig bereit, ein Opfer zu bringen, während das Streunerlein stur an seinem Thron klebt. So werden die Leute es demnächst sehen, wenn sie dich für sämtliche Probleme in Friedwang verantwortlich machen werden. Wir leben nun in der Wildermark, vergiss das nicht. Die Kärrnerarbeit hast du, Bishdarielon aber ist fein heraus. Er kann sich auf sein Gut zurückziehen, neue Kraft schöpfen, sich Verbündete suchen, anfangen, gegen dich zu intrigieren. Er wird immer der Legitimere von Euch beiden sein, der Rondrianer, der die Schwerter und Verschwörer anzieht. Wenn Gras über seine Liaison mit Answin gewachsen ist, dann wird er seine Ansprüche auf den Thron erneuern – oder eines seiner Kinder wird es tun. Er wird dich betrügen, Alrik…“
„Das sagst du?“ Alrik lächelte kopfschüttelnd. „Kann ich dir denn noch vertrauen? Wie oft hast du mich schon betrogen?“
„Als Gemahlin eines Adeligen schulde ich meinem Mann Loyalität, aber keine Treue. Soviel solltest du über Zwangsehen wissen.“
„Loyalität? Ich hab keinen Erben von dir, jedenfalls keinen gesunden. Nennst du das etwa Loyalität beweisen?“
„Ach, Alrik.“ Serwa kraulte ihm versonnen die behaarte Brust, und legte dann ihren Kopf darauf. Er roch gut, ein bisschen auch nach ihr selbst. „Damals, kurz vor unserem Traviabund, hast du gesagt, du wärst jederzeit bereit, für mich zu sterben.“
„Das war vor der Hochzeit, meine Liebe.“ Alrik grinste zynisch. „Dass ich mich von dir in den Wahnsinn treiben lasse, davon war nie die Rede…“
Ich bin immer noch bereit, für dich zu sterben, Serwa, dachte er. Aber für Ismena könnte ich töten.
„Was Bishdarielon angeht…Er ist nun mal mein Zwillingsbruder. Er spürt das. Unsere Seelen sind miteinander verbunden. Er wird mich nicht verraten…“
„Fuchs und Rabe sind keine Freunde. Beide sind sie natürliche Rivalen um die Beute. Der Rabe zieht weit oben seine Kreise, wird als heiliges Tier des Boron geehrt, aber nicht geliebt – und als Bote des Todes gefürchtet. Das schlaue Füchslein. Die Menschen bewundern und lieben es insgeheim, weil es auf heimlichen Pfaden wandelt, die dem Normalsterblichen verboten sind. Aber sie jagen und hetzen das Geschöpf des Phex auch, wenn sie es auf frischer Tat ertappen, ohne Gnade. Was hält einen Menschen mehr im Zaum: Die Angst vor dem gewaltsamen Tod oder eine Macht, die im Verborgenen wirkt? Ich fürchte, das Schwert und die Gewalt sind am Ende mächtiger als Geld, Betrug und List. Vergiss nicht, dass ihr völlig getrennt voneinander aufgewachsen seid, in zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten…Später ist er zum Al´Anfaner geworden, du aber bist nur ein Brabaker von Geburt….“
„Was soll das schon wieder heißen – nur Brabaker?“
„Tja, mein Honigkuchen. Die Schwarze Perle ist die grausame Königin des Südmeeres, ob es dir nun gefällt oder nicht. Nicht Mizirions Stadt. Dein Bruder hat weitaus weniger Skrupel als du…und er ist launisch wie ein Grande auf dem Silberberg…Launisch und selbstherrlich.“
„Hmm. Und was schlägst du mir vor?“
Sie blickte nach oben, in Richtung der Decke, schwieg.
„Er ist mein Bruder. Mein eigen Fleisch und Blut. Vergiss das bei deinen Plänen nicht. Ebenso, dass ich nun wieder der Herr dieser Baronie bin…“
Alrik verzog den Mund, was auch, aber nicht allein, an den im Finsteren nagenden Schmerzen, unter seiner bandagierten, fein säuberlich vernähten Haut, lag. Wir sind uns fremd geworden, dachte er. Einen Moment später hätte er kaum mehr sagen können, ob er damit nun Serwa, Bishdarielon oder alle beide meinte.
Seufzend schüttelte er den Kopf und drehte ihn weg. Nein. Ich selbst bin mir fremd geworden.
„Die Ländereien firunwärts des Gießen sind das Problem“, sagte Serwa schließlich. „Lass ihn zum Landamann3 im Norden wählen. Sagen wir: von Oberfriedwang. Die Leute dort haben sich diese Freiheit im Kampf gegen Oleana verdient. Das wird seine Eitelkeit befriedigen – und vielleicht Frieden in die raue Gegend dort bringen.“
„Und ich – ich bin dann nur noch der Herr von Niederfriedwang?“
„Ich weiß nicht, ob du es schon bemerkt hast, aber - mehr Ländereien beherrscht du gerade ohnehin nicht, mein Schatz.“ Serwa drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Lass deinen Bruder sich ruhig bei den Hinterwäldlern unbeliebt machen…“
„Hmm. Wie du meinst. Da gibt es nur noch ein klitzekleines Problem…“ Der Mondschatten blickte zum Baldachin des Himmelbetts, in dem sie beide schliefen. „Meine fehlende Anerkennung durch die Gemeinschaft des Lichts…“
„Die Praioten? Die sitzen doch im Tempel und fürchten sich zu Tode.“ Lächelnd blies sich Serwa eine einzelne Strähne aus der Stirn. Das Tränklein ihrer Hexenmutter Ludwina hatte Wunder gewirkt – und ihr binnen weniger Stunden statt unscheinbarer Stoppeln wieder eine annehmbare Haarpracht sprießen lassen.
„Das hier ist Markt Friedwang, Serwa, nicht das Bergland. Die Friedwanger würden niemals zulassen, dass wilde Bosjäckel aus dem Norden das Heiligtum ihres geliebten Baroniegründers stürmen. Eher gibt es Bürgerkrieg…Vergiss nicht: Die meisten Bürger und Freibauern haben ihr Gold im Tempel hinterlegt – und verdienen gut an den Pilgerfahrten zum Heiligen Alboran. Auch wir haben kein Interesse daran, die Praiosgeweihtenschaft fallen zu lassen.“ Alrik, oder Francesco, wie er sich einst genannt hatte, schob seine Hände hinter dem Kopf, auf dem behaglichen Daunenkissen, zusammen. „Wer immer den Tempel beherrscht, der regiert zugleich auf dem Friedstein. Ich weiß, dass du insgeheim auf der Seite der Alten stehst, Serwa. Aber vergiss nicht, dass du zugleich eine Adelige des Raulschen Reiches bist. Unsereins herrscht nun einmal von Praios und der übrigen Elfe Gnaden, nicht durch das verborgene Wirken von Sumu oder Satuaria.“
Serwas Augen glänzten in der nur vom Mondlicht erhellten Nacht. Die Hexenfreundin lächelte dünn.
Das denkst vielleicht du, mein Gemahl.
Praiodan Bullenschläger, genannt der Ächter, war ein praiovialer, stämmiger Mann, mit braunem Vollbart und lustig blitzenden Augen. Sein breites Gesicht war nun allerdings, umflutet von grellem Praiosschein, kaum zu sehen. Die Greifennase und hohe strenge Stirn ließen keinen Zweifel daran, dass er sein Amt ernst nahm: Als Hoher Kommissar der Friedwängisch-Oppsteinischen Praios-Commision vertrat er immerhin den Inquisitionsrat der Schwarzen Sichel sowie den fehlenden Grafen von Wehrheim - wenn auch buchstäblich nur kommissarisch (und auf wackeligem juristischem Grund). Mit reinweißem Mühlsteinkragen, blitzendem Harnisch und goldenem Praiosamulett sah Bullenschläger schon beeindruckend aus. Und dennoch war er im Grunde immer nur ein kleiner eifernder Hexenverbrenner gewesen - der sich von einem Walerian Karrer allein durch den geringeren Grad an Wahnsinn unterschied.
Ihm zur Rechten saß Prätor Neibhard, auf der anderen, linken Seite der Luminifer, Praiodictus Tatzinger. Es war ein regelrechtes Tribunal, das hier im Empfangszimmer von Sankt Alboran und Gilborn, unter dem nicht weniger Ehrfurcht heischenden Porträt des amtierenden Lichtboten, Platz genommen hatte. Nicht einmal einen der samtbezogenen Stühle boten sie Francesco an, stattdessen verharrten hinter seinem Rücken zwei Söldner, die nun zur praiosfrommen Lichtwehr gehörte. Eine Novizin am Schreibpult schickte sich an, jedes Wort beflissentlich mit Tinte und Federkiel zu Papier zu bringen.
Francesco blinzelte, denn das Licht, dass ihm aus einem der Fenster ins Gesicht fiel, blendete ihn. Sein rechter Arm steckte in einer Schlinge und schmerzte noch immer. Nur die Handwunde war, dank Serwas intuitiver Beherrschung des Hexenspeichel, verheilt
Er blickte über die Schulter. „Sollten wir nicht besser unter…“ Er zählte rasch nach. „neun Augen reden?“
Praiodan lächelte ihn amüsiert an, mit der leicht ins Ironische spielenden guten Laune eines Mannes, der sich seiner Machtvollkommenheit vollauf bewusst ist.
„Nun…Nein. Das hier ist kein Phexenstempel, wie Ihr vielleicht schon gemerkt habt, Euer Gnaden. Im Neunaugensee mag man unter Neunaugen reden. Die Waffenknechte stehen nun auf der Seite des Lichts, wir haben ihre Seele geprüft. Wir haben nichts zu verbergen..“
„Und ich habe keinen Anlass, zu fliehen, Exzellenz. Im Fall der Fälle würde ich ohnehin durch das Fenster springen.“
Die Schreiberin stutzte kurz, dann huschte ihre Feder kratzend über das Papier.
Praiodan lächelte hochnäsig.
„Bitte nicht. Im Anbetracht Eurer Verwundung erscheint mir das als wenig ratsam. Und die Fenster dieses Tempels wurden erst vor einem Götterlauf zerschlagen. Hmmhm. Ihr gebt also zu, ein Dieb, Streuner, Betrüger und Hochstapler zu sein – ein Mondschatten?“
„Ihr haltet Euer Gesicht hier im Schatten, nicht ich. Wie kommt Ihr darauf, ich könnte ein Phexgeweihter sein?“
„Eure Frechheiten sprechen für sich, Francesco di Palazzo. Allein dieser zweifelsohne ebenfalls frei erfundene Name ist eine bodenlose Unverschämtheit gegenüber dem praiosgefälligen Adel. Außerdem hattet Ihr gerade nichts dagegen, Euer Gnaden genannt zu werden.“
Der Commisarius strich sich durch den wolligen Bart.
„Und Ihr habt nichts dagegen, Exzellenz genannt zu werden. Obwohl Euer letztes Amt das eines Bannstrahl-Hauptmanns auf Burg Auraleth war. Nicht Landvogt oder Inquisitor, wie man meinen könnte.“
Der Kommissar lehnte sich zurück. „Genug der dreisten Spielchen. Ihr seid freiwillig im Haus des Praios erschienen und habt Euch gewisse Verdienste erworben in den letzten Jahren, sagt man. Wir sind Euch fürderhin dankbar für die Mithilfe beim Sturz dieser schandbaren, frevlerischen Oleana. Es gäbe also schon mildernde Umstände. Und, Kompliment: Nach allem, was man so hört, habt Ihr vor kurzem den berüchtigten Orkhäuptling Dronschkai Grischka…“
„Grischta“, sagte Franceso di Palazzo leise.
„Wie auch immer. Vor kurzem wurde dieser schwarzpelzige Mordbrenner von euch erschlagen, heißt es. Ein Schurke, der vor noch nicht allzu langer Zeit die Sichelande mit Feuer und Schwert heimgesucht hat. Wir sind daher geneigt, Euch freien, ehrenvollen Abzug gewähren. Sozusagen. Mögt Ihr Euch anderswo eine neue Tarnidentität aufbauen, wie es den Geboten Eurer Kirche entspricht. Ihr hattet Euren Spaß, habt alle gefoppt und selbst die Praiosgeweihtenschaft zum Narren gehalten. Gut, mögt Ihr Euch fürderhin bei Euresgleichen damit brüsten. Als Baron von Friedwang seid Ihr künftig untragbar – sowohl was unsere Gemeinschaft als auch die Eurige angeht.“
„Ich verstehe nicht ganz, was Ihr meint. Ich bin kein Phexgeweihter, wie Ihr mir hier die ganze Zeit unterstellt.“
Francesco war froh, dass er die Augen halb geschlossen halten musste. Das führte ihn nicht in die Versuchung, mit der Wimper zu zucken.
„Ich muss schon sagen. Eure Chuzpe ist erstaunlich. Erst verschwindet Ihr für ein volles Jahr aus dieser Baronie, löst damit das ganze Chaos in ihr erst aus. Jetzt wollt Ihr hier einfach mit Euren Betrügereien weitermachen, als wäre nichts gewesen? Nun kommt schon, beleidigt nicht unsere praiosgegebene Intelligenz. Das hier“, Bullenschläger wies vor sich auf den Tisch, wo eine nebelgraue Robe, ein großer, zerknitterter Papierbogen, eine schwarze Kapuze, sowie ein Meuchlerdraht lagen, „haben wir in diesem nebelgeschwängerten Phexheiligtum, tief unter Burg Friedstein, gefunden. Wollt Ihr abstreiten, dass es Euch gehört?“
Bullenschläger verschränkte die durchaus kräftigen, zu seinem Namen passenden Arme über dem Harnisch.
„Kommt jetzt bitte nicht damit, dass diese Utensilien Fälschungen der bösen Oleana gewesen wären. Von ihr oder ihrem schurkischen Vater hinterlegt, um Euch in Misskredit zu bringen. Oder etwas in der Art. Nein, unsere Investigationen hatten ein eindeutiges Ergebnis. Sowohl der Altar des Heimlichen als auch seine Statue waren konsekriert. Dann dieser Steckbrief hier, unterfertigt von der Brabaker Audienzia. Gesucht. Francesco Di Palazzo. Wegen Beutelschneiderei, Messerstecherei, Kuppelei, Rosstäuscherei… Erspart mir und der Würde dieses Ortes, in allen Einzelheiten vorzulesen, welche Verbrechen man Euch zu Last legt. …und anderer Vergehen gegen das praiosgefällige Recht gesucht wird der Streuner Francesco, der sich hochstaplerisch Francesco Di Palazzo zu nennen pflegt. Wegen genannter Verbrechen wurde er bereits am 8. Peraine 1014 BF in Brabak zum Tode durch Enthaupten verurteilt, konnte sich der Vollstreckung des Urteils jedoch durch Flucht entziehen. Der Gesuchte misst 81/2 Spann in der Höhe, Augen und Haar sind schwarz, der Blick stechend und lauernd. Seine innere Verderbtheit weiß er durch heuchlerisches Auftreten zu verbergen. Auf der linken Schulter wurde ihm durch den Brabaker Henker ein Fuchskopf eingebrannt. Die Audienza des Freien Königreichs Brabak zahlt demjenigen 20 Dukaten, der diesen gefährlichen Verbrecher dingfest macht und ihr ausliefert. Gegeben zu Brabak, am 24. Ingerimm 1018 n. BF. Wir verzichten sogar noch auf eine stattliche Belohnung, wenn wir Euch laufen lassen. In jedem Fall zeigt der Aushang Euer Konterfei, und das Wasserzeichen einer Brabaker Papiermanufaktur…“
Francesco hob den Steckbrief an und sah kurz auf das stoppelbärtige Gesicht in seiner Mitte: „Das? Das bin nicht ich…Geschweige denn, dass ich die darin genannten Verbrechen begangen hätte. Das könnte ich bei Praios und den übrigen elf Göttern beschwören, wenn es sein muss.“ Beiläufig ließ er das Pergament wieder sinken. „Eure Anschuldigungen gegen mich sind lächerlich und gelinde gesagt ehrenrührig.“
„Vorsicht, überspannt den Bogen nicht.“ Praiodan riss den Steckbrief an sich. „Wagt ja nicht, in seinem heiligen Namen einen Meineid zu schwören, ob Ihr nun geweiht seid oder nicht. Unsere Geduld hat Grenzen – auch was besonders dreiste Jünger des Phex angeht.“
„Ach ja, und wo liegen die? Diesseits oder jenseits der Grenzen Eurer Geduld mit Anhängern des Namenlosen? Wie zum Beispiel: Baronin Oleana III. von Friedwang? Ein aus diesem Tempel heraus gewachsenes Pflänzlein, wie man weiß…Wo ist eigentlich Euer Koadjutor?“
Francesco hatte einen Wutausbruch des Kommisars erwartet, aber dieser legte das Blatt in seinen Händen kühl auf den Schreibtisch. „Yasinthe, die letzten Einlassungen tun nichts zur Sache, du wirst sie daher nicht zu Pergament bringen. Die erwähnte Hautmalerei nach Art der Wilden, sie müsste sich noch immer auf Eurer Schulter befinden. Der Fuchskopf. Zeigt ihn uns doch bitte einmal.“
„Selbst wenn ich nicht verwundet wäre“, Francesco hob die Armbinde etwas an. „Ich würde den Namenlosen tun und mich hier vor Euch entblößen wie ein Sklave. Ich gebe Euch mein Ehrenwort als Adeliger des Raulschen Reiches, dass ich weder dieser Francesco sonstwer noch ein Hochstapler bin. Das muss genügen.“
„Das Ehrenwort eines Mondschatten genügt mir durchaus nicht.“
„Ich denke, wir können darauf verzichten.“ Neibhard hüstelte. „Es ist nicht üblich, sich im Hause des Herrn zu entkleiden wie in einer Badestube…“
„Wie Ihr meint, Prätor. Nun, Francesco. Ihr streitet also ab, dass Ihr dieses Dinge verwahrt habt, in einem Schrein des Phex, von dem natürlich ebenfalls nichts wusstet?“
„Ihr scheint wahrlich keine hohe Meinung von Phexgeweihten zu haben, wenn Ihr glaubt, dass sie Beweise für ihre wahre Identität mal eben so in ihrem Keller herumliegen lassen würden.“ Francesco ärgerte sich für einen Moment über seine eigene Nachlässigkeit, fasste sich aber schnell wieder.
„Ich verschweige nicht, dass ich gerne und häufig zum Schutzgott des Hauses Gareth bete, dem ich selbst viele Jahre voller Glück und Wohlstand verdanke. Sowohl als Bergwerks-Miteigner, Mitbegründer der Friedwängisch-Oppsteinischen Handelsgesellschaft sowie auch als Schiefer- und Alaunhändler. Phex hat mich, auf der Flucht aus der Al´Anfanischen Sklaverei und im Krieg gegen den Bethanier, mehr als einmal aus Golgaris Klauen gerettet. So ein kleiner, diskreter Schrein tief unter meiner Burg ist ja wohl das mindeste, um meine tiefe Dankbarkeit zu zeigen – und mich seiner weiteren Gunst zu versichern. Nicht umsonst nennt man mich auch den Glücklichen Alrik. Die Dinge, die ihr da gefunden habt, gehören meinem, äh… Hofkaplan, dessen Identität ich leider nicht preisgeben darf, aus nahe liegenden Gründen. Was diese Würgeschlinge angeht, werde ich noch einmal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen, fürchte ich. Grauslich, wirklich grauslich. Ich bin kein Freund solcher, äh, verfänglichen Jagdmethoden…Auch wenn ich Kaninchenragout überaus schätze.“
Der Hauptmann sah ihn mit großen Augen an.
„Genug der endlosen Sophistereien. Sicherlich werdet Ihr gleich noch behaupten, dass der Steckbrief ein Andenken an Euren im Dschungel verstorbenen Freund Francesco di Palazzo ist – der euch zufällig gleicht wie ein Fuchs dem anderen?“
Alrik-Francesco lächelte dünn und vollführte eine unbestimmte Handbewegung.
„Wenn Ihr die Wahrheit schon wisst, was soll dann überhaupt noch diese Befragung?“, sagte er, scheinbar gelangweilt. „Aber es wird immer Eure Wahrheit sein, nicht die meinige.“
„Es gibt nur eine Warheit, und das ist die, die unter Praios allessehendem Lichtauge Bestand hat.“ Praiodan nestelte an dem Ärmel der reinweißen Bannstrahlerrobe, die er unter seinem Harnisch trug.
Dann wandte er sich dem Prätor zu.
„Nun, Hochwürden, ich hätte Euch gerne…diesen kraftfordernden Glaubensakt erspart, zumal mir der Casus eindeutig erschien. Und ich nicht mit einer derartigen Renitenz, um nicht zu sagen ungeheuerlichen Dreistigkeit gerechnet hätte, beim Lichten Schelechar. Ich beantrage Seelenprüfung des Angeklagten. Dann müsste doch eigentlich zu Tage treten, ob dieses Subjekt…verzeiht, diese Person ein Diener des Phex ist.“
„Stattgegeben.“ Hochwürden Neibhard hüstelte in die Faust und seinen Gabelbart. Dann fasste er sein Gegenüber genauer ins Auge. Er schien aus braunen, fast schon bernsteinfarbenen Augen in dessen Innerstes blicken zu wollen. Einen Moment lang versank er regelrecht in Trance – aus der er mit einem scharfen Ruck erwachte.
„Oh.“
„Was meint Ihr?“
„Keine Anzeichen von Dämonenbündelei. Ich vermag auch keine wirklich schwer wiegenden Frevel auf seiner Seele zu entdecken. Allerdings, ein völlig reiner und unschuldiger Götterfunken sieht anders aus, beim Heiligen Arras de Mott.“
Ein betrübter Blick zum Hohen Kommissar.
„Schwer zu sagen, ob er einem der Zwölfgötter, sanctissimi, geweiht ist….Er scheint einem der Götter außerordentlich nahe zu stehen, gewiss. Aber wenn er wirklich ein Mondschatten sein sollte, dann hat der Heimliche beschlossen, dies vor mir zu verbergen.“
Der Prätor war verärgert, was nicht nur an der unvollständigen Seelenprüfung lag. Tatsächlich, die Seele des Probanden war irgendwie „verwischt“ gewesen, die Andeutung einer Weihe hatte da schon mitgeschwungen. Im Grunde war es Eulenkuhl fast gleich…
Dieser Bullenschläger versuchte hier nicht, einen phexischen Betrüger zu enttarnen. Jedenfalls nicht nur. Mit der Untersuchung wollte er auch ihn, den Hochgeweihten des Tempels, bloßstellen, da hegte Neibhard kein Zweifel. Von Anfang hatte Praiodan, der kleine Bannstrahler-Hauptmann und einfache Lichtbringer, ihn, den Ranghöheren, so behandelt, als wäre Friedwang ein einziger korrumpierter Saustall - und Seine Hochwürden vollkommen dilettantisch und überfordert, wenn nicht selbst in all diese Ungeheuerlichkeiten verstrickt. Als Ersatz-Inquisitor hatte der Bullenschläger sich aufgespielt – man sagte, er wäre ein guter Freund dieses Inquisitionsrates Selbfried Rabensang aus Gareth. Einmal sollte er ihm sogar das Leben gerettet haben.
Nun, Neibhard musste zugeben, dass er dem Ehrgeizling aus Auraleth das Spiel überaus erleichtert hatte. Wahrscheinlich wollte der ihm schon bald im Amt nachfolgen. Ihn selbst als Hochgeweihten unmöglich machen, indem er immer neue „Irrhalken“ im güldenen Greifennest enttarnte: Gernot, Oleana, Gurvanio, selbst Alrik Tsalind – hatte er, Neibhard, nicht deren dunkles Treiben geduldet oder sogar schützend die Hände darüber gehalten, als Luminifer wie Prätor?
Der Hochgeweihte schloss die Augen, die Lider bebten.
„Tut mir leid. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen…“
„Wie Ihr meint...“ Praiodan blickte zur Decke und sah dann wieder streng geradeaus. „Dann möchte ich, dass vor der Fortführung der Examination der Angeklagte im Namen des Höchsten Richters zur Wahrheit ermahnt wird. Anders kommen wir in diesem Fall nicht weiter. Leider…“
„Bewilligt…“ Der Custos Lumini erhob sich und bedeutete den übrigen Anwesenden, so sie nicht ohnehin schon standen, es ihm gleich zu tun. „Man bringe mir die Monstranz mit dem Ewigen Licht. Bruder Luminifer?“
Praiodictus sprang auf, verneigte sich und eilte hinaus.
Die goldbestickten Vorhänge an den Fenstern wurden zugezogen, und ein angenehmes Dämmerlicht – so empfand es zumindest Francesco – breitete sich in dem Raum aus. Kun Alwinnen, der Novize, zündete einige Kerzen an, und der Hohepriester begann salbungsvoll zu sprechen.
„Ihr wisst, Alrik – oder Francesco di Palazzo…“
„Alrik…“ Der Mondschatten vollführte eine Handbewegung, die Zustimmung ausdrücken sollte.
„Ihr wisst, Alrik, dass dort, wo in nomine Praionis der Wille zur Wahrheit erfleht wird, jeder Mann und jede Frau nurmehr die reine Wahrheit zu sagen vermag und nichts als die praioslautere Wahrheit. Es sei Euch gestattet, die Aussage zu verweigern, so Ihr dadurch Euch selbst oder eine Euch nahe stehende Person belasten würdet. Doch wisset, dass dieses Faktum durchaus in unsere Bewertung Eures Falls mit einfließen würde. Am besten sprecht Ihr frei heraus, ohne Fehl und Falsch, in Vertrauen auf die Gnade des Höchsten Richters zu Alveran, die da lautet Gerechtigkeit…“
„Gerechtigkeit liegt immer im Auge des Betrachters, Hochwürden“, sagte Francesco mild.
Neibhard ließ sich nicht beirren: „Ihr wisst gar nicht, wie Recht Ihr habt. Denn derjenige, der uns von ganz oben betrachtet, mit Allessehendem Auge und Unbestechlichem Blick, das ist Praios der Herr, der Allerhöchste Betrachter uns sündiger Menschlein selbst! Also muss in seinem Urteil die höchste Gerechtigkeit liegen… “
Praiodictus trug die zwölfstrahlige, güldene Sonnen-Monstranz mit dem Ewigen Licht des Tempels herein, den Griff in ein weißes Schultertuch gehüllt. Die Diener des Praios verneigten sich ehrfürchtig, ebenso senkte Francesco das Haupt: mehr, um dem hellen, reinweißen Licht zu entgehen, das mit einem mal durch die abgedunkelte Kammer flutete und auch die letzte Ritze mit seinem Glanz erfüllte. Der Luminifer stellte das Lichtgefäß auf einen weißen Marmor-Podest, vor eine vergoldete Greifenstatuette.
Mit dem Licht war es eine Sache: Solange man es unschuldigen Herzens betrachtete, schien es überaus sanft, wohltuend und milde zu sein. Ein Sterblicher konnte dann voller Göttervertrauen hinein tauchen wie in ein angenehmes, erfrischendes, die Lebensgeister stärkendes Bad an einem herrlichen Sommermorgen. Ja, es gab ihm bereits eine Ahnung vom Hinaufschweben in Praios Paradies. Regte sich im Betrachter hingegen Unbehagen, der geringste Zweifel an der eigenen Rechtschaffenheit, wirkte es mit einem Mal gleißend, grell, blendend – schmerzhaft und furchterregend wie die zur Mittagsstunde unerbittlich herabbrennende Sonne der Khom. Für den wahren Frevler musste es wohl einem in weißer Flamme lodernden, grausamen Scheiterhaufen gleichen.
Francesco blinzelte. Natürlich verspürte er weder Schmerz noch übergroße Freude, jedenfalls nicht über mehr als ein paar Herzschläge hinweg. Streng genommen hatte er überhaupt keine Beziehung zu Praios. Das hatte sich in seiner Jugend in der Gosse von Brabak eben so ergeben. Seine Welt war eine Welt der Tatsachen, und mochten diese auch noch so hart sein – nicht die der Wahrheiten.
Anders als deine allzu selbstgefälligen Diener weißt Du natürlich, O Praios, dass ein Diener Deines Bruders Phex niemals ohne `Mondsilberzunge´ in eine solche Verhandlung geht. Ebenso, dass die phexische Lüge die Wahrheit zwar stiehlt, sie aber gleichzeitig wiederspiegelt, mal mehr, mal weniger, wie nächtens der Mond das Licht der Sonne. Auf dass auch nach deren Untergang nicht die Finsternis des Namenlosen herrsche, gestattest Du ihm wohl diesen kleinen Diebstahl. Ja, es gibt noch eine weitere, verborgene Wahrheit, h i n t e r dem Licht. Ab und zu muss man die Leute dorthin führen. Sie nennt sich die Kraft der Tatsachen. Von Tatsachen, die Phexens Diener erst schaffen, versteht sich.
Neibhard begann feierlich mit der Liturgie: „So ermahne ich Euch denn: Im Namen des Herre Praios! Sieh, wie die Zungen der Lügner und Lästerer verfaulen, sieh, wie ihre Leiber verfaulen in ungeweihter Erde und wie ihre Seelen verfaulen in den Niederhöllen. Denn der ist verdammt, der im Angesicht des Götterfürsten die schändliche Lüge über seine Lippen kommen lässt. Sprich die Wahrheit oder sei verdammt!“ Er schlug das Sonnenzeichen in die lichtdurchflutete Luft, sein Finger schienen dabei weißlich zu glühen.
Dann begann er zu predigen, von Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit – und von den Strafen der Verdammnis, die – bei Schelechar! - alle diejenigen trafen, die sich an Praios Geboten versündigten. Im vollkommenen Einklang mit diesen Worten schwebte das Heilige Licht im Raum, sanft und schmerzlich zugleich, gab ein Beispiel von der Herrlichkeit der Zwölfgöttlichen Paradiese wie eine Ahnung von den überderischen Strafen für die Frevler und Gestrauchelten.
Francesco hörte nur mit halbem Ohr zu. Keinesfalls, weil er Neibhards Worte nicht ernst nahm. Es war eher das wissende Desinteresse eines Wahrers der Glut, der einen Efferdsgeweihten von der Reinheit des Wassers schwärmen hörte. Bereits mit dem Glauben an die Wahrheit kommt die Lüge ins Spiel, werter Prätor – denn gerade, weil die Leute an die Wahrheit glauben, auf sie hoffen und vertrauen, sind sie bereit, auf Lügner, Blender und Betrüger hereinzufallen. Menschen wie mich. Im Grunde arbeiten wir also Hand in Hand, ihr Diener des Herrn der Wahrheit und unsere Zunft: Ihr sorgt für die stete Nachfrage nach dem kostbaren Gut Wahrheit, wir bei den Gutgläubigen für ein reichliches Angebot an Ersatz, wo immer es an dieser Ware fehlt – oder sie uns überteuert zu sein scheint. Vielleicht tragen wir damit letzten Endes sogar mehr zum Glück der Menschheit bei als ihr. Denn wie oft fehlt es auf dieser Welt an für jedermann erschwinglicher Wahrheit? Und sollen wir dieses Feld etwa dämonischen Einflüsterungen oder der Versuchung der Menschen durch den Namenlosen überlassen – dem Bösen selbst, das schlimmer ist als jede Lüge? Was ist schon eine phexgefällige Schwindelei gegenüber der Falschheit des Dreizehnten?
Während er da noch so „philosophierte“, verstummte die Liturgie des Hochgeweihten. Francesco fand es bedauerlich, denn Neibhard hatte eine angenehme, melodische Stimme. Das Heilige Licht wurde wieder hinausgetragen (es blieb ein kurzes Gefühl dunkler, beklemmender Leere, das sich aber rasch wieder verflüchtigte) und die Fenster wieder geöffnet.
Praiodan Bullenschläger schien überaus ermutigt und bestärkt aus diesem Lichtbad wiederauferstanden zu sein. Der Luminifer kehrte zurück, um seinen Platz wieder einzunehmen.
„Können wir das Tribunal fortsetzen? Gut…“ Der Commisarius ruckte vor. „Vergesst nicht, die Wahrheit…und nichts als die Wahrheit!“
Francesco nickte.
„Ich vermisse die ganze Zeit den Hinweis auf die Geschichte, dass Ihr und dieser andere Alrik Zwillingsbrüder seid.“ Ein scharfes Räuspern. „Seid Ihr Zwillinge?“
„Lacertinus von Zaberg hat dies behauptet…“
„Weicht der Antwort nicht aus. Dennoch, gut, dass wir auf Lacertinus von Zaberg zu sprechen kommen. Dieser ketzerische Tsageweihte wurde im Frühjahr 1027 nach dem Fall des sündigen Bosparan in die Stadt des Lichts gebracht. Unter Anklage des Missbrauchs von Purpurmohn und des Paktierens mit einer Kreatur des Namenlosen. Nur ein krankes Gehirn wie das Seinige konnte überhaupt diese Geschichte von einer Vierlingsgeburt in Brabak hervorbringen. Vier Kinder, von denen eines leider im Tiefen Süden vergessen wurde, nur um 27 Jahre später als Mondschatten zurück zu kehren. Beim Richter Alverans. Ich habe schon viele abstruse Geschichten gehört, von Hexen, Götzenanbetern und Ketzern. Aber selbst deren schlimmsten Lügen haben sich für mich noch glaubwürdiger angehört als dieser im Rauschkrautwahn zusammen fabulierte Unsinn…Also noch mal: Seid Ihr und dieser sogenannte Bishdarielon nun Zwillingsbrüder, ja oder nein?“
„Ich gehe davon aus, ja. Wenn man vom Unmöglichen alles Unlogische abzieht, muss das Unwahrscheinliche, das übrig bleibt, die Wahrheit sein – ob es uns behagt oder nicht.“
„Selbst wenn es so wäre…“ Praiodan wischte sich ein Stäubchen vom Harnisch. „Im Grunde können wir den Casus dennoch vereinfachen und stark abkürzen. Einem Geweihten ist es nicht gestattet, neben seinem geistigen, von Alveran verliehenen Amt zugleich weltliche Macht auszuüben…“
„Außer seit neuestem in Rommilys und der Rabenmark“, spottete Francesco. „Euer vom Ehrgeiz zerfressene Kommissar träumt offenbar auch schon von einem Praiosstaat in der Schwarzen Sichel, Hochwürden.“
Bullenschläger wollte hochfahren, aber der Prätor hielt ihn zurück.
„Ich habe nur gesagt, was ich für die Wahrheit halte“, sagte Francesco sanft. „Ich muss es ja sogar. Wollt Ihr mich dafür bestrafen?“
Praiodan beruhigte sich nur mühsam. „Dies hier ist weder die Gänse- noch die Rabenmark, die einen Sonderstatus genießen, und leider auch kein Praiosstaat. Ein Baron kann nicht zugleich Geweihter sein, bestenfalls einen Vogt über sein Lehen ernennen. Also, noch mal: Seid Ihr ein Geweihter des Phex, ein Mondschatten?“
„Nein.“ Francesco zwinkerte nicht einmal, obwohl er durchaus so etwas wie – deutlichen Widerstand, ja, ein leichtes Brennen seiner Zunge spürte. Aber sie gehorchte ihm, geschmeidig und flink wie eh und je. Danke, O Heimlicher, und Dank der Liturgie, die man Mondsilberzunge nannte. „Wie es die Seelenprüfung bereits ergeben hat und ich es Euch begreiflich zu machen versuchte…“
„Dann seid Ihr, mit anderen Worten, also ein gewöhnlicher Betrüger und Hochstapler?“
„Wiederum nein.“ Das war nicht einmal gelogen, dachte Francesco, was er deutlich an der Leichtigkeit seiner Aussage gespürt hatte. Er nahm es einmal als Kompliment vom Götterfürsten selbst…
Der Commissarius ließ sich kaum eine Regung seines Gesichts anmerken. Er hätte genauso gut eine Statue draußen auf dem Gänseplatz sein können, wie der Volksmund den Alboransplatz nannte. Tatsächlich ähnelte er sogar dem Heiligen draußen auf dem Springbrunnen. Ein mit viel Farbe übertünchter steinerner Klotz.
„Wer ist dann dieser Bishdarielon, der ebenfalls solches von sich behauptet? Den Ihr selbst für Euren Zwillingsbruder haltet? Und der, wie der namensgebende Alveraniar des Schweigsamen gleichsam zwei Erscheinungsformen zu haben scheint?“ Ein verkniffenes Lächeln.
Alrik seufzte. Er hob den zerknitterten, stockfleckigen Steckbrief hoch.
„Ganz einfach. Es handelt sich dabei um mein geliebtes Bruderherz Francesco di Palazzo aus dem Tiefen Süden. Ihr habt sein Sündenregister selbst verlesen. Wundert es Euch da, dass er zu Buße in den Orden des Heiligen Golgari eingetreten ist – eine Gemeinschaft, der man nachsagt, das Vorleben ihrer Mitglieder schleunigst zu vergessen?“ Einen Augenblick lang spürte er eine unbehagliche Spannung im Raum, die nicht menschlicher Natur war. Es war, als habe sich Praios leuchtender Blick selbst auf ihn geheftet.
Du bist nicht unverwundbar, raunte etwas in ihm, vielleicht sogar Phexens Stimme. Überreiz deine Karten nicht…Auch meine Macht ist begrenzt. Zumal an einem Ort wie diesen.
Francesco atmete schwer. „In jedem Fall ist für Bishdarielons Aburteilung allein der Golgaritenorden zuständig. Auch was etwaige answinistische Verstrickungen angeht.“ Das war zur Abwechslung wieder einmal die Wahrheit. Der Mondschatten verspürte Erleichterung. Praios Auge glitt weiter, ohne dass es ihn sterblichen Wurm zu Asche verbrannte.
„Er hat nun einmal zwei Gesichter“, fügte er gepresst hinzu. „Ein überaus hässliches als ehemaliger Verbrecher, wenn auch aus Not, und ein edles, schönes als Baronssohn aus Friedwang. Deswegen auch der Name: Bishdarielon.“ Das war ebenfalls nicht die Unwahrheit, jedenfalls nicht nur. In Al´Anfa hatte sein älterer Bruder tatsächlich, wenn auch unter Zwang, gemordet und gefoltert.
„Habt Ihr sonst noch Fragen an mich?“ Francesco klang betont unschuldig.
In Praiodans steinerner Miene zeigten sich die ersten Risse.
„Ich weiß nicht, wie Ihr es geschafft habt, uns ungestraft zu belügen“, knirschte er. „Aber eins steht fest: Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu.“
Der Mondschatte hob die Augenbraue. Ob der Hexenjäger die Liturgien des Phex kannte? Offenbar konnte Bullenschläger sich nicht vorstellen, dass Praios kleiner Bruder dem Götterfürsten die Stirn zu bieten wagte. Dabei fühlte der sich in fremden Häusern nun mal am wohlsten…
Praiodan sah seine Felle davonschwimmen, daran gab es keinen Zweifel. Er versuchte sich neu zu ordnen, richtete sich klirrend in seinem gepolsterten Stuhl auf.
„Beim Heiligen Alboran“. Sein Finger wies auf Francesco wie eine Schwertspitze, die Stimme klang scharf und bellend. „Ich glaube, ich habe seine Ränke durchschaut. Ja-ja-ja. Der älteste Trick, wenn man es mit Zwillingen zu tun hat. Auf der verfluchten Käferinsel habe ich das mal erlebt.“
Der Commisarius polterte hoch, so laut und derb, dass die Schreiberin Yasinthe aufblickte, und auch die Wachen erschrocken dreinsahen.
„Gebt es zu: Ihr Brüder habt einfach die Rollen getauscht. Nun foppt ihr uns. Das da, der da ist in Wirklichkeit - der echte Alrik.“ Der Finger fuhr wild in der Luft herum, als wolle er eine unsichtbare Fliege jagen. Die Stimme überschlug sich beinahe.
Eine kleine Kunstpause, in der Francesco seinen Vormarsch ins Feld des Gegners genoss.
„Ich habe nie etwas anderes behauptet“, sagte er dann ruhig. „Wollt Ihr mir jetzt etwa vorwerfen, dass ich der bin, der ich die ganze Zeit zu sein vorgebe? Natürlich bin ich Alrik Tsalind von Friedwang. Was Euren wilden Verdacht angeht, kann ich euch beruhigen: Es steht immer noch derjenige vor Euch, denn Ihr herbeizitiert habt, und niemand sonst. Bishdarielon ist oben auf der Burg.“
Der Streuner hätte erneut lügen können, wagte es aber nicht.
„Nun…sososo…Ja-ja-ja.“ Bullenschläger blickte mit flackernden Augen um sich, Verbissenheit im roten, schwitzigen Gesicht, während seine Zähne mahlten. „Eine Möglichkeit gäbe es noch. Jajaja. Er schwört auf die Gebeine des Heiligen Alboran, bei Praios, den übrigen Elfe und allem, was ihm heilig ist, bei Androhung niederhöllischer Verdammnis, dass er der erstgeborene Sohn und Erbe Baronin Tsalindes ist. Und nicht dem Phex geweiht …Womöglich schützt ihn sein betrügerischer Gott ja wirklich vor einer Entlarvung, jetzt noch, an diesem heiligen Ort…“
Vielleicht bin ich sogar der Älteste, dachte Francesco. Die Chancen dafür standen eins zu zwei, wenn sein Bruder Recht hatte. Aber mit seinem Seelenheil spielte man nicht.
„Was ist, Angeklagter? Hat ihn sein frecher Mut verlassen…?“ dröhnte es vom Richtertisch. „Fällt ihm kein neues Gaukelspiel mehr ein, mit dem er uns Blumen aus der Nase und Eier aus dem Ärmel zaubern kann? Er ist ein ganz schäbiger Lump…“
Neibhard hob die Hand. „Bitte…Beschimpfungen bringen uns ebensowenig weiter wie Spitzfindigkeiten….“ Er fasste den Friedwanger ins Auge.
„Lasst mich hier eins klarstellen. Dass Ihr hier in Praios Hallen zu lügen vermögt, Francesco di Palazzo, heißt nicht, dass ich nicht mehr Täuschung und Wahrheit voneinander zu unterscheiden vermag.“
Der Streuner wollte etwas sagen, aber Neibhard kam ihm zuvor. „Nein, lasst mich ausreden. Haltet mich nicht für dumm. Ich ahne die Liturgien der Kirche des Heimlichen. Ihr habt wacker gekämpft, um Eure Tarnung aufrecht zu erhalten. Im Grunde wollen wir das hier alle: unser Gesicht wahren…Aber natürlich seid Ihr Francesco di Palazzo, ein Geweihter des Phex. Dazu braucht es kein Quanionslicht, das sagt mir bereits mein Gespür. Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, ich Unwürdiger irre mich, dann hat Praios durch seinen Segen die Wahrheit ans Licht gebracht. Oder aber, ich geringer Diener habe sie stellvertretend für den Allerhöchsten erkannt, während Phex seine ganze Macht aufwenden musste, um sie einen Moment lang im Angesicht des Alveranischen Richters zu verschleiern. Sagt mir nun, wer der Ranghöhere, wer der Mächtigste unter den Göttern Alverans ist?“
Selbstzufrieden ob seines Scharfsinns lehnte sich Neibhard zurück. Francesco schwieg.
Fehlt nur noch ein Magierhut und Zauberstab und ich halte Euch für Rohal den Weisen, Hochwürden, spottete der Streuner in Gedanken. Tatsächlich liegt der Nebel des Phex über Eurer praiosgegebenen Logik. Denn Ihr wisst immer noch nicht, welcher der beiden Möglichkeiten nun Eure geliebte Wahrheit ist.
„Ich sehe, Ihr vermögt darauf nichts zu erwidern. Es ist die strahlende Sonne, die auf kurz oder lang jeden Nebel, alles Dunkle vertreibt. Die Wahrheit ist immer bei Praios. Nein, ich irre mich nicht: Ihr seid dieser Francesco di Palazzo. Es steht einem Menschen ins Gesicht geschrieben, ob er auf einem Schloss oder in einer schmutzigen Gosse groß geworden ist. Beantwortet mir nur eine Frage. Euch, und offenbar auch Eurem Gott, scheint sehr viel daran gelegen zu sein, dass Ihr Baron von Friedwang bleibt. Warum?“
Der Hochgeweihte legte die Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben.
„Ihr seid in Brabak aufgewachsen, viele tausend Meilen von hier entfernt. Siebenundzwanzig lange Jahre Eures Lebens habt Ihr dort vebracht, dieser Steckbrief hier gibt uns eine Ahnung davon, auf welche Weise. Eure leiblichen Eltern habt Ihr nie kennengelernt. Darpatien und das Leben eines Edelmanns müsste euch so fremd sein wie mir die Elendsquartiere des Tiefen Südens. Eine völlig andere Welt. Warum ist Euch soviel an der Herrschaft über Friedwang gelegen? Ist es …Genugtuung…für Eure schlimme Kindheit? Gold und Ehre? Das schöne Leben als Baron? Der Reiz, mit den Verteidigern von Recht und Ordnung wie uns dreiste Spielchen zu spielen? War es die Stimme Eures Blutes? Nun, wäre das adelige Blut in Euch wirklich stärker als Eure niedere Lebensweise gewesen, hättet Ihr Euren älteren Bruder niemals um sein Erbe betrügen dürfen. Ihn, den Erstgeborenen…Ihr seid nichts weiter als ein Thronräuber. Dass Euer Bruder zwischenzeitlich selbst für einen Usurpator gefochten und dadurch sein Geblütsrecht verwirkt hat, ändert nichts an dieser Tatsache…“ Neibhard wunderte sich, wie ruhig er klang. Beinahe hatte er seine Worte schon freundlich ausgesprochen, jedenfalls völlig gelassen.
„Ich habe gesagt, was es dazu zu sagen gibt: Mein Name ist Alrik Tsalind von Friedwang.“ Francesco öffnete seine Gürteltasche, zog einen Würfel hervor und legte ihn auf den Tisch. „Hochwürden, Ihr habt gerade selbst demonstriert, dass es zwei völlig unterschiedliche Arten von Wahrheit gibt: eine, die der menschliche Verstand uns vorgibt und eine Wahrheit, die zu begreifen es göttlichen Wissens bedürfte. Mit der begrenzten Menschenwahrheit haben wir uns gerade ausgiebig befasst. Lasst mich zeigen, dass die Wahrheit der Götter – die letztendlich gültige Wahrheit - unserem schwachen Verstand verborgen bleiben muss. Man bringe mir vier gleichaussehende Becher…“
Der Prätor blickte erstaunt, gab der Tempelwache dann aber einen entsprechenden Befehl.
Als die tönernen Trinkgefässe kam, stülpte der Streuner einen davon über den Würfel, die drei anderen stellte er in einer Reihe daneben.
„Merkt Euch gut, wo der Würfel versteckt ist, Praiodan….“
„Wollt Ihr mir uns Hütchen spielen?“ Der Hohe Kommissar legte den Finger auf den Becher, unter dem der Würfel lag – missmutig, aber durchaus in der Stimmung, die erneute Herausforderung anzunehmen.
„Ja.“ Grinsend legte Francesco seine eigene Hand darauf.
„Vier Becher. Vier Brüder in Brabak. Ihre Geburt ist nun fast auf den Tag genau 35 Jahre her. Der Becher, unter dem der Würfel liegt, das ist der Erstgeborene.“
„Um was würdet Ihr denn spielen? “
Francesco schnippte mit dem Finger. „Sagen wir, um das Erbe der Baronie Friedwang…“
Der Mondschatten begann die Becher zu verschieben, erst langsam, dann immer schneller. Einhändig und mit der Linken war das nicht ganz so einfach wie damals in Brabak, aber der Arm im Verband hatte den Vorteil, dass man mühelos etwas darin verstecken konnte…
Die Becher wirbelten in einem wilden Tanz über den Tisch.
Praiodan sah zunehmend verwirrt drein.
„Ich werde Euch die Sache ein bisschen einfacher machen. Zwei meiner armen Geschwister sind ja gestorben…“
Franceso hob einen der Becher an und ließ ihn klirrend auf dem Boden zerspringen. Der zweite folgte kurz danach. „Möge Boron ihrer Seele gnädig sein.“
Der Mondschatten trat einen Schritt zurück. „Welcher von den beiden hier ist nun unser Prinzlein?“
Praiodan riet sogar richtig, tippte auf das linke Tongefäß. Als er es anhob war die Tischplatte darunter allerdings leer.
„Falsch geraten.“ Francesco hob triumphierend das „Nachbarhütchen“ an - und enthüllte den Würfel. „Hier ist unser rechtmäßiger Baron von Friedwang. Nun sagt selbst: Wenn ein überaus scharfsinniger Mann wie Ihr schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr die Wahrheit zu erkennen vermag: Wie, frage ich mich, wollt Ihr dann nach einem halbem Menschenleben entscheiden, wer von uns beiden wirklich der Erstgeborene und damit im Recht ist?“
„Ein Trick, noch so ein lausiger Trick…“ schnaubte Praiodan verärgert und hieb auf die Tischplatte, dass der Würfel davon sprang und auch die anderen beiden Becher auf dem Boden zerbarsten. Francesco zuckte bei jedem lautem Klirren demonstrativ zusammen.
„Er foppt und betrügt uns hier in einem fort…Nicht einmal Praios Ermahnung zur Wahrheit war ihm heilig…Das Ewige Licht hat er beschmutzt mit seiner falschen Zunge! Aber er ist enttarnt, Mondschatten. Heißt es nicht, dass keiner der Götter dem Namenlosen so nahe steht wie Phex: Ein dunkler Gott der Ratten und Fledermäuse?“
„Ihr seid ein schlechter Verlierer, Praiodan, wenn Ihr schon anfangt, Praios unsterblichen Bruder zu schmähen. Lärm verursachen und die Wahrheit verkünden sind zwei paar Stiefel.“
„Vor dem Götterfürsten gibt es keine Geheimnisse.“
„Wie Ihr meint…Dann werde ich jetzt eins lüften. Ihr gestattet, Hochwürden?“
Francesco lächelte kühl. Zeit, sein letztes As auszuspielen. Genüßlich zog er ein zusammengefaltetes Zettelchen aus dem rechten Rüschenärmel. Ohne ein weiteres Wort reichte er das vergilbte Papier dem Hochgeweihten.
Dieser faltete es erstaunt auseinander, musterte über die Nase hinweg den Brief mit fein geschwungenen Schriftzügen, der nun zum Vorschein kam, hielt ihn mal näher, dann wieder entfernter vor die Augen. Irritiert setzte sich Neibhard ein Ocular auf und begann zu lesen. Sein Gesicht erstarrte zu einer Maske. Neibhard keuchte. Er begann ungläubig erneut zu lesen, schüttelte geistesabwesend den Kopf, wurde blass.
„Hochwürden, was ist das?“ wollte der Kommissar wissen.
Das Gesicht des Prätors drückte alle mögliche Gefühle aus, Überraschung, Entsetzen, jähes Verstehen, äußerste Betroffenheit. Er blickte über den Briefbogen hinweg in Richtung des Barons, dann faltete er ihn wieder sorgfältig zusammen.
„Wo habt Ihr das her?“
„Gefunden. Auf Großmutters Dachboden…“, sagte Francesco freundlich.
„Ich muss auf eine Erklärung dringen“, sagte Praiodan, vielleicht eine Spur zu forsch. Auch Tatzinger blickte verwirrt.
„Die Examination wird hiermit eingestellt“, beschied der Hochgeweihte knapp und tupfte sich einige Schweißtropfen von der Stirn.
„Hochwürden, ich verstehe nicht ganz“. Praiodan der Ächter runzelte die seinige. „Was hat das zu bedeuten?“
„Dass dieser Casus nicht mehr weiter verfolgt wird. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
„Aber…Ihr werdet verstehen… Euer Verhalten erscheint mir höchst ungewöhnlich…Woher dieser plötzliche Sinneswandel?“
„Ich verschweige nicht, dass ich etwas verschweige, bitte Euch aber, mich nicht weiter zu fragen, auf das keine Lüge mich versuche.“ Schwer atmend, aber gerade noch gefasst, stand der weißbärtige Hochgeweihte auf, schob seinen Stuhl zurück, nahm das Sonnenszepter vom Tisch auf und schob es sich wieder in die Schärpe. „Wir haben Baron Alrik Tsalind von Friedwang nichts mehr vorzuwerfen. Die Untersuchung ist hiermit beendet.“
Francesco beugte sich, noch immer sanft lächelnd, über den Tisch und nahm den Steckbrief an sich.
„Ihr gestattet, Bullenschläger? Ich würde vorschlagen, dass Ihr Euch künftig wieder mehr dem Gebet und Gurvanischen Chorälen widmet.“
Dann schob er seinen Mund neben das Ohr des Bannstrahlers. „Wo für die einen der schlimmste Alptraum endet, fängt für andere das Leben erst an“, raunte der Streuner. „Glaub ja nicht, dass du härter bist als ich, Bannstrahler. Wenn mir noch einmal zu Ohren kommt, dass du Sokramorierinnen in Kerkerhaft schändest, werde ich dir so die Eier zerquetschen, dass du künftig nur noch für die Weiber des Kalifen von Unau singen wirst. Hast du mich verstanden?“
Praiodan blickte stumm und mit indigniert zuckenden Mundwinkeln gerade aus.
Francesco zupfte den Kragen des Hohen Kommissars penibel zu recht.
Der Bannstrahler sagte immer noch nichts. Der Phexgeweihte ging ohne ein weiteres Wort zur Tür – nicht ohne einen der verdutzt an der Tür stehenden Wächter zur Seite zu rempeln.
„Einen Augenblick“, hörte er hinter sich die scharfe, befehlsgewohnte, bellende Stimme des Kommissars. Die angerempelte Wache trat nun doch Francesco in den Weg. Betont gelassen drehte der sich um.
„Selbstverständlich muss ich mich dem geistlichen Urteil von Hochwürden Neibhard beugen“, sagte Praiodan mit zusammengepressten Lippen. Er klang verärgert. „Auch wenn ich es nicht nachzuvollziehen vermag. Aber noch bin ich kein Sänger im Chor des götzendienerischen Heidenherrschers von Unau…“
Francesco hob die Augenbrauen – der Bullenschläger hatte ja regelrecht Humor.
„…sondern vertrete gemäß der Rohalschen Ius Concordia und dem Wunsch des Prätors hier auch seine Hochwohlgeboren, den leider verblichenen Grafen von Wehrheim. Wenn es gar nicht anders geht, werden wir die Sache eben nach weltlichem Gesetz regeln.“
Der Hohe Kommissar griff nach einer Schreibfeder und zerknüllte sie knackend in der Faust. „Ihr streitet also ab, der Mondschatten Francesco di Sonstwas zu sein. Dann muss ich davon ausgehen, dass es sich bei Euch um diesen Bishdarielon handelt - ein Answinist, somit um einen ganz gewöhnlichen Verbrecher gegen Kaiserin und Reich. Anders als Ihr, Hochwürden, halte ich es für undenkbar, dass Praios Ermahnung zur Wahrheit umgangen werden kann. Und Eure Seelenprüfung hat ergeben, dass diese Person dort nicht geweiht ist. Für mich lässt das nur eine Schlussfolgerung zu. Die Zwillingsbrüder haben einfach dreist die Rollen getauscht. Sagt jetzt nichts mehr, Hochwürden – dieser Casus liegt nun außerhalb Eurer Zuständigkeit.“
Francesco kniff die Augenbrauen wieder zusammen. Dann zog er eine Pfeife hervor und zündete sie sich an einer Kerze an, die wohl rein symbolisch in einer Ecke brannte. Gut, wenn Praiodan bis zum Äußersten gehen wollte, würde er mitziehen…
„Ihr redet vom so genannten Privilegium Hergoldis, in dem der Vorgänger des jetzigen Hochgeweihten eben diesen Anspruch erhoben hat? Quasi der Stellvertreter des Wehrheimer Grafen nach dem Tod Dexter Nemrods zu sein? Und kraft dieses Amtes Oleana, seine eigene Mörderin, zur rechtmäßigen Baronin erhoben haben soll? Posthum in einem Pergament, dass sich in seinem Nachlass gefunden hat. Nun, dabei handelt es sich um eine Fälschung . . .“
Der Ächter sagte nichts, sondern sah ihn nur übelwollend an.
„Eine Fälschung“, sagte Francesco noch einmal. „Die Person, die sie in Eurem Auftrag angefertigt hat, ahnte, dass sie beseitigt werden würde – von Oleana, der Mitwisser und Nutznießerin des Komplotts, mit dem sie zur Herrscherin von Friedwang und Ihr zu einer Art Landvogt erhoben wurdet.“
„Unsinn. Es war Hochwürden Neibhard, der mir dieses Amt verliehen hat…Wollt Ihr hier den Spieß einfach umdrehen? Daraus wird nichts, mein Lieber. Der Prätor ist kein Fälscher, da sei Herr Praios vor.“
„Nein, aber Ihr seid einer. Und zwar einer der übelsten Sorte. Der Fälscher vertraute sich in seiner Not meinem…Hofkaplan an und teilte ihm mit, dass Ihr der Anstifter ward. Ihr habt ihm das richtige Papier und eine Schriftprobe geliefert, unterfertigt habt Ihr es dann mit Hergolds Siegel – dem Signum eines Sondergesandten Seiner Erhabenen Weisheit, des Heliodan. Ich muss sagen – mutig, mutig…Selbst für einen Bannstrahler. “
„Das Gerede eines selemitischen Lustknaben, was zählt das schon…? Eben sowenig wie das Eure – ehrloser Answinscherge!“
„Oh, Ihr wisst also, dass ich von Hal Hanfstängl spreche, dem Geliebten meines getreuen Kanzlers Berschin Weißenkohl? Woher, frage ich mich da natürlich. Beide wurden sie von der Baronin in Kerkerhaft genommen – und dort gemeuchelt. Ihr steckt mit drin, Praiodan, Ihr steckt verdammt tief mit drin. Zwar glaube ich nicht, dass Ihr Eure Seele ebenfalls an den Namenlosen verkauft habt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, bei dieser Einstellung zu Recht, Gesetz und praiosgefälliger Wahrheit. Euer Koadjutor ist dafür das beste Beispiel…“
„Versuch nicht, uns hier mit dreisten Lügen und Verleumdungen zu verwirren, Spitzbube. Das mit dem Schreiberling Hal war ein Probepfeil, nichts weiter. Der zufällig getroffen hat…“ Genauso, wie du gerade eben nur einen Testpfeil abgeschossen hast, schien Praiodans Blick sagen zu wollen. Du hast keine Beweise…Keinen einzigen.
Der Kommissar, der gerade eben laut geworden war, schien wieder Tritt zu fassen. „Euch ist wohl jedes Mittel Recht, um Euren Hals aus der Schlinge zu kriegen…? Diesen phexischen Hofkaplan gibt es doch gar nicht.“
„O doch, und er ist als Geweihter glaubwürdig genug, um Euch einen Strick zu drehen. Aber ich bin nicht nachtragend. Ihr habt Zeit bis Sonnenuntergang, meine Baronie zu verlassen…“ Francesco blies Rauch links und recht des Mundstücks hervor.
„Einen Moment“, sagte der Prätor, „wenn es hier Beweismittel für ein derart ungeheuerliches Verbrechen gibt, dann müssen sie mir vorgelegt werden.“
„Es gibt keine Beweise.“ Bullenschläger schrie fast. „Weil es keine Fälschung gibt.“
„Nun, ich würde auch liebend gerne darauf verzichten, die Identität eines Mondschatten offen legen zu müssen. Ich schlage Euch ein Geschäft vor, Bullenschläger. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Sein Schweigen und mein Vergessen gegen Euer Verschwinden aus Friedwang…“
„Das würde dir so passen, du impertinenter Hund…“ Der Kommissar sprang mit hochrotem Kopf auf, lockerte sich den Kragen. „Ich mache in einer solchen Angelegenheit keine Geschäfte, schon gar nicht mit Verbrechern. Festnehmen, sofort…“
Eine der Wachen trat heran – und brach keuchend zusammen, als ihm Francesco den Ellenbogen in den Magen rammte. Der Mann riss einen Dolch aus der Scheide. Der Streuner schleuderte dessen Handgelenk gegen die Tischkante, der Angreifer ließ die Waffe fallen. Zischend verlosch die Kerze vor dem Hohen Kommissar, in die der Wächter, das Gesicht voran, gestoßen wurde. Ein schriller Schrei. Heulend vor Schmerz, mit verbrannter Wange, sank der Söldner in sich zusammen.
Nur leicht erblassend sah Bullenschläger auf die Klinge, die Francesco an sich nahm.
„Achtet die Heiligkeit dieses Ortes, Friedwang!“
„Friedwang?! Na also, geht doch.“
Francesco blickte in den glänzenden Dolch. Auf dessen spiegelnden Stahl sah er, wie die zweite Wache hinter ihm ihr Schwert gezogen hatte.
„Genug. Der Hahnenkampf ist hiermit beendet.“
Neibhard hatte diese Worte gesprochen, mit über dem Papier gesenktem Kopf. Leise und gerade deswegen eindringlich.
Der Prätor bohrte seinen Blick in Francescos Gesicht. „Reizt Euer Blatt nicht zu sehr aus, Alrik. Und Ihr, Praiodan, ruft Eure Wachen zur Ordnung. Ich dulde keine Raufhändel im Haus des Herrn. So etwas ist würdelos. Besonders würdelos, wenn Praios Streiter dann auch noch der Unterlegene ist, Bullenschläger. “
„Ich protestiere nochmals. Was hat das alles zu bedeuten, Hochwürden?“ Der Hohe Kommissar schnaubte. „Was ist das für ein Papier, dass dieser….Brabaker euch überreicht hat?“ Praiodan schien ein neuer, erschreckender Gedanke zu kommen, der einen Moment der Sammlung erforderte. Schließlich stieß er ihn hervor: „Erpresst man Euch?“
„Bitte, werdet nicht albern.“ Neibhard verdrehte die Augen. „Erpresser pflegen ihrem Opfer für gewöhnlich das belastende Material nicht auszuhändigen. Nicht wahr?“
„Verzeiht, ich wollte damit nicht andeuten, dass Ihr….“
„Schon gut. Nun, aus diesem Dokument hier geht eindeutig hervor, dass Alrik Tsalind und dieser Bishdarielon tatsächlich Zwillingsbrüder sind. Von wahrhaft edler Abkunft. Alles andere ist zweitrangig.“
Ein tiefes, leicht bedauerndes Einatmen. Der Prätor lehnte sich wieder zurück. Der alte, mit rotem Samt gepolsterte Lehnstuhl knarrte bei dieser Bewegung. Die Greifenköpfe, mit denen die Lehnen verziert waren, schienen Alrik zu mustern.
„Genug, der ausschweifende Casus hat mich erschöpft, ich werde mich zurückziehen und beten. Geht, geht mit Praios, aber geht.“ Neibhard wedelte ungeduldig mit der Rechten.
Francesco verneigte sich knapp und wandte sich zur Tür.
„Wer seid Ihr, Alrik Tsalind von Friedwang?“ Bullenschlägers Stimme klang scharf, fast gellend. „Wer seid Ihr wirklich?“
Der Brabaker drehte sich noch einmal um, runzelte, erstaunt über die Frage, die Stirn. Dann lächelte er.
„Vielleicht bin ich ein Gladiator.“
„Ein Gladiator ?!“
„Ein Mann, der für die Liebe seines Publikums und die Freiheit kämpft…“
„Die seine oder die des Volkes?“
„Da gibt es keinen Unterschied.“ Francesco verzog spöttisch die Mundwinkel. „Jedenfalls nicht mehr. Dort, wo ich herkomme, waren beide unfrei, das Volk und der Kämpfer in der Arena. Auch wenn es natürlich immer wieder Aufstände gab. Vergesst nicht, der Mob da draußen wartet nur darauf, Euch den Roten Hahn aufs Dach zu setzen. Das wäre doch schade, den Tempel sind teuer. Ich muss es wissen, denn ich habe den Eurigen bezahlt. Ihr könnt also froh sein, wenn es mir gelingt, die Meute an der Leine zu halten. Einen schönen Tag noch. . . “ Der Friedwanger ging hinaus.
„Was für ein frecher, impertinenter Hund…“ Der Hohe Kommissar schüttelte ungehalten den Kopf.
„Besser, als gar kein Wachhund vor dem Tor dieses Tempels“, entgegnete Neibhard gleichmütig. „Wir können uns derzeit keinen Kampf gegen zwei Seiten leisten. Im Grunde hat er Recht. Er ist die letzte Schranke zwischen uns und den Götzenanbetern da draußen.“
„Dieser Phexjünger versucht uns gegeneinander auszuspielen, bei Ucuris goldenem Glanz. Ketzer gegen Rechtgläubige. Er ist der lachende Dritte. Nun fängt er sogar an, in unseren Reihen Verwirrung zu stiften, dieser Intrigant. “
„Mag sein. Gerade deswegen sollten wir jeden offenen Zwist und Hader vermeiden. Es ist nun einmal einer der obersten Grundsätze unseres Glaubens: Die Praiosgefällige Ordnung muss eingehalten werden, sei der Landesherr auch noch so korrupt, brutal und menschenschinderisch. Wenn es Praios Ratschluss sein sollte, wird er seine gerechte Strafe erhalten.“
„Dieser Hundsfott Alrik ist mehr als korrupt, brutal und menschenschinderisch“, knurrte Praiodan. „Praiosgefällig möchte ich seine Herrschaft auch nicht nennen.“
„Ich rede nicht von Alrik“, meinte Neibhard und sah Praiodan unvermittelt in die Augen. Seine Stimme wurde streng und bestimmt. „Jedenfalls nicht nur. Wenn Euch Euer schweres Amt zur Bürde wird, Euch am Ende gar in Gewissensnot bringen sollte, entbinde ich Euch gerne davon. Wann, Bruder Praiodan, sagtet Ihr, wollt Ihr zu Eurer Wallfahrt nach Burg Auraleth aufbrechen?“
Der Hohe Kommisar sah den Hochgeweihten an, mit vor Empörung weit aufgerissenem Mund.
Francesco trat in die Mittagssonne, die den Tempel in helles Licht hüllte. Er fühlte sich müde und zerschlagen, was nicht nur an der schmerzenden, brennenden Armwunde lag. Seine linke Hand zitterte, ebenso die wachsweichen Knie. Er wurde älter, und war derartigen Nervenkitzel einfach nicht mehr gewohnt. Nicht Boltanspiele um derart hohe Einsätze.
Er trat durch das schmiedeeiserne, für einen Marktflecken wie Friedwang fast etwas zu schön gestaltete Gittertor, ohne auf die beiden Milizionäre der Lichtwehr zu achten, die als Wachen daneben standen. „Armleuchter“ – so verspottete der Volksmund die nun wirklich nicht sehr wehrhaft aussehenden Praiosbüttel. Der Mann und die Frau in derben Bauernkitteln waren mit eisenbeschlagenen Kampfstäben und schweren Dolchen bewaffnet, die in weißen Schärpen steckten. Immerhin handelte es sich bei den beiden um keine Söldner, Neibhard war so klug, das Volk nicht noch mehr zu reizen. Die meisten der Korgesellen hatten sich in die Gaden verkrochen und leckten ihre Wunden. Aber ohne Zweifel würden sie zur Stelle sein, sollte es erneut Ärger geben.
Er riss die Armschlinge ab, und warf sie beiseite. Mit verzerrtem Gesicht reckte und streckte er seine schmerzende Rechte. Irgendwie erinnerte ihn dieser Moment an den Augenblick, als er das erste Mal aus dem Brabaker Kerker entlassen worden war, durchgewamst, erschöpft und hungrig.
Friedwang war noch immer unruhig, aber kein Hexenkessel mehr. Allerdings begann das scharfe Gebräu, das er selbst mit angerührt hatte, bereits wieder zu köcheln. In den Schänken, im Steinbock und Greif sowie in der Rohajastube wurde lautstark gezecht. Jemand hatte am Rathaus den „Senkenthaler Bundschuh“ gehisst, blutrot mit verschlungenen Schnürriemen auf silbernem Grund: Die Fahne symbolisierte den Riesen Aarmar, einen Sohn der Gigantin Sokramor. Das Gigantenkind hatte bei dem namensgebenden Dorf angeblich seinen Schuh ausgezogen, weil ihm ein „Steinchen“ hineingeraten war. Dabei war das Ries entstanden, die Große Senke im Nordwesten, das „Steinchen“ wiederum war bis Rübenscholl gerollt – und dort bis heute als gewaltiger Findling zu bestaunen.
Francesco wusste, was die Fahne bedeutete: Der tumbe, rechtschaffene Aarmar, der Sohn der Schwarzen Bergmutter, der in ihrem Auftrag das Land rund um die Berge geeggt und beackert hatte, war ein Sinnbild für das Schwarzsichler Volk selbst. Ein gutmütiger Gigant, der aber, wenn ihm etwas nicht behagte, leicht die Erde erbeben und Steine fliegen lassen konnte. Das hatten die Friedwangen erst vor kurzem bewiesen. Aarmar – das klang nach „arm, und dennoch stolz“, somit den Ohren der unfreien, landgebundenen Bauernschaft vertraut.
An der Dorflinde schaukelte noch immer ein aufgeknüpfter Kriegshund der Söldner an einem Ast. Er würde Befehl geben müssen, den Kadaver von dort zu entfernen. Freischärler aus dem Schratenwald, Apfelmännlein mit Kämpfern der Kesselbande und einigen Edorlysern vereint, wärmten sich gerade an einem Lagerfeuer, über dem sich ein zweifelsohne gestohlenes Ferkel drehte. Die Luft schmeckte nach Rauch. Spieße waren zu Pyramiden gestellt, Pflastersteine aus dem arg ramponierten Marktplatz gewühlt worden, als bereite sich schon jemand auf das nächste Scharmützel vor. Andere machten es sich auf herbeigeschafftem Stroh gemütlich. Das Schaffott stand ebenfalls noch auf seinem Platz, ein schauerliches Mahnmal. Die Tribüne daneben war in dem Getümmel halb eingefallen, der Rest wurde gerade abgebaut.
Der „Turm der Freude“ im Hintergrund, der war schon bei der letzten Eroberung Marktfriedwangs durch die Sokramorier niedergebrannt worden. Nach dem Sieg gegen die Warunker hatte man im einstigen Inquisitionsgefängnis ein Freudenfeucherchen angezündet. Einige der umliegenden Bürger-Häuser wiesen deutliche Spuren von Plünderung und Thorwalismus aus, aber soweit Francesco es beurteilen konnte, hatte es meist nur Speichellecker Oleanas getroffen, die nun auch noch die „Einquartierung“ der Befreier erdulden mussten.
Kurzum: Ein Hauch von Pflückeraufstand lag über dem sonst so ruhigen, biederen, spießigen Marktfriedwang.
Das Volk begann sich, von einem tiefen Instinkt für sich anbahnende Ereignisse geleitet, wie er jeder Menschenmenge innewohnte, vor dem Eingangstor des Tempels zu versammeln. Hie und da vermochte er eine improvisierte Waffe entdecken, eine Axt, Hippe oder eine Heusparre, manche hatten sicher einfach nur ihre Feldarbeit unterbrochen. Federn ragten von spitzen Hüten aus in den Himmel, unrasierte Bärte, zottelige Haare, buntfleckige Gewandung, Fell und Leder beherrschten die Szenerie. Erdige, kraftvolle Gestalten, mit verwegenen Gesichtern…Figürchen von geflügelten Feen, Heilige Solalines, baumelten um ungewaschene Hälse, Pilgerzeichen, nach denen sich die einzelnen Banden unterschieden, glänzten an den verwegen hochgeschlagenen Hutkrempen: Pfeile, Äpfel, Störche, Kessel…
Francesco konnte die Freischärler förmlich riechen, trotz des Tabakqualms - eine Mischung aus Schweiß, Brannt und schlechter Laune. Eine gute Frage, ob ihm die Sokramorier im Notfall wirklich zu Hilfe gekommen wären, wie es eigentlich ausgemacht war - wäre er bis zur Praiosstunde nicht wieder aus der Basilika getreten. So spät war es noch nicht, wie selbst der Blick aus der Ferne auf die schöne Sonnenuhr vor dem Tempel bewies.
Bosjäckel, so nannte der Friedwanger Volksmund die Rebellen geringschätzig. Die einen sagten, der Name bedeute soviel wie „wilder, roher Kerl“ oder „grimmer Gesell“ und hinge mit dem Goblinstamm der Njakuul zusammen. Die anderen übersetzten ihn schlicht mit „derbe, schlechte Kittel“. Sicherlich war auch die Namensähnlichkeit zu Bosnickel, im Sinne von „böser Geist“, nicht zufällig. Meist stammten die ungeschlachten Burschen und Mädels aus Oberfriedwang, dem Norden der Baronie, oder dem Berchweiler Land, aber auch ein paar „Freiwillige“ aus Edorlys waren darunter, von Veneficus gesandt. Die friedwängischen Hinterwäldler und Bergbauern fühlten sich im Residenzort Markt Friedwang sichtlich unbehaglich, der ihnen bereits als protzige, sündige Stadt erscheinen musste.
Eigentlich hatte er geblufft, als er vor den beiden Geweihten mit seinem Einfluss auf die Alten Kulte geprahlt hatte. Der Bund von Fuchs und Fee war nur eine hübsche Illusion, zusammengehalten von dem Hass auf Oleana und ihren Vater. Beide waren nun tot, auf dem Boronanger in aller Heimlichkeit verscharrt wie gefallenes Vieh…Nein, es war ein ungleiches Bündnis, in jedem Fall zeitlich befristet. In Wirklichkeit versuchten die Wissenden aus den nördlichen Bergen – Mistelhausen, Oppstein, Echsmoos - die Fäden zu ziehen. Sie wussten, dass er seine Versprechungen, dem Volk die alte „Schwarzsychler Fryheyt“ zu gewähren, unmöglich einhalten konnte, wenn er überhaupt noch so etwas wie ein Herrscher über dieses Land sein wollte: Freie Ausübung der Alten Kulte, Wahl der Dorfoberen durch die Bauern, Freisetzung aller Unfreien, Neuverteilung der Äcker, Senkung der Abgaben, das Recht, Waffen zu tragen, zu jagen, zu fischen, über ihresgleichen selbst Recht zu sprechen. Mit einem Wort: Anarchie.
Auch wenn er herzlich wenig Einfluss darauf hatte, war ihm der momentane Zustand keinesfalls unangenehm: Die wohlhabenden Marktfriedwanger fürchteten sich vor Umsturz, Chaos und Enteignung, die einzelnen Banden hatten sich ebenso wie die Dörfer, aus denen sie stammten, untereinander heillos zerstritten. Die Berghöfler waren sowieso niemandes Freund, dem finsteren Blick nach nicht einmal sich selbst. Es hatte bereits Raufhändel und Messerstechereien gegeben. Auf kurz oder lang würde wieder der Ruf nach der starken, einigenden Herrschaft laut werden, der mit Oleanas Ende verstummt war.
Der Streuner paffte einige Rauchkringel aus der Pfeife und übersah den Marktplatz, der sich nun immer mehr füllte. Das hier war ein Aufstand, den er gegen sich selbst anführte, oder besser gesagt, gegen die Grundlagen seiner eigenen Herrschaft….Er musste wieder Ruhe in dieses Hornissennest bringen, oder es würde ihm bald selbst um die Ohren fliegen. Innerlich verwandelte er sich von dem listigen Streunerlein Francesco wieder in die Autoritätsperson Alrik Tsalind von Friedwang.
Ein junger Bursche mit Pagenfrisur, Tunika und wattiertem Waffenrock trat auf ihn zu, die silberne, in grobes Leinen gewickelte Fuchsmaske unter den Arm geklemmt. Roderich von Oppstein, sein getreuer Knappe, der es ihm (hoffentlich) still verzieh, dass er ihn trotz vieler Jahre in seinen Diensten noch nicht zum Ritter geschlagen hatte.
Dessen Loyalität zum Hause Oppstein nur noch von seinem Verdruss darüber übertroffen wurde, dass Adran und nicht er designierter Nachfolger Baron Redenhardts war…Redenhardt…denn Stadtvogt von Rommilys vermisste er beinahe schon…Fürchterliche Zeiten…Wenn ihm sogar schon dieser unverbesserlicher Intrigant und Ehrgeizling fehlte! Redenhardt. Der war wenigstens in all diesem Chaos nach oben gefallen. Zufrieden sah er, dass ein weiterer Diener mit Pferden in der Nähe bereit stand…Falls es zum Schlimmsten kommen sollte.
Alrik nahm den Helm an sich und nickte Roderich zu. Der Knappe zog die Fanfare aus der Satteltasche, setzte sie an die gespitzten Lippen und blies schallend hinein. Nun begriff der letzte auf dem Platz, dass der „Herr Baron“ eine Rede halten wollte. Alrik bedeutete dem jungen Mann, sich in Richtung der drei Warunker Pferde zu begeben. Er würde ihren Rückzug decken, sollten alle Stricke reißen.
Der Mondschatten stellte sich breitbeinig vor das vergoldete Gittertor unter einem weißgekalkten Torbogen, den das Radwappen des Heiligen Alboran, gehalten von zwei Greifen, zierte. Er hob die Rechte, zum Zeichen, dass er sprechen wollte. Das Gemurmel auf dem Platz verebbte, aber erst nach einiger Zeit war es leise genug, dass er mit seiner Rede beginnen konnte.
„Höre, o tapferes Volk von Friedwang!“
„Pscht..still…er sacht was…“
„Wie Ihr wisst, bin ich zurückgekehrt, um wieder…um weiterhin als Baron dieses Landes zu herrschen.“
„Was sagt er?“
„Lauter, lauter…“
„Pscht…Halt doch deine Klappe, dann hörste was…“
„Hört, meine getreuen Friedwangen. Über tausend Götterläufe ist es nun her, dass die hochmütige Dämonenbuhle Hela in die Niederhöllen gestürzt wurde. In wenigen Tagen feiern wir wieder den höchsten Feiertag des Neuen Reiches. Hüte dich, Hela, wir kommen, so sangen einst unsere Altvorderen, als sie gegen die Schandkaiserin in Bosparan zu Felde zogen. Hüte dich, Oleana, wir kommen – dies Lied hattet Ihr auf den Lippen, als ihr gegen die Frevlerin auf dem Steinbockthron aufgestanden seid. Das Schwert der Freiheit, das einst von Garether Bürgern geschmiedet wurde, das Raul der Große in gerechtem Zorn gegen Dämonenmacht geschwungen hat, es wurde über Jahrhunderte, von Generation zu Generation weitergereicht. An Männer und Frauen, die das Böse nimmermehr dulden wollten, in welcher Gestalt es ihnen auch entgegengetreten ist. An Männer und Frauen wie euch. Ihr habt diese Klinge mutig ergriffen und euch dem Erbe Rauls als überaus würdig erwiesen. “
Alriks Stimme bebte. War er hier zu pathetisch? Egal.
„Fürwahr, Ihr habt die falsche Schlange Oleana ein für alle mal zerschmettert. Die Tyrannei, die auf Gewalt und Wilkür aufgebaut war, ist nicht mehr. Nun, Volk von Friedwang, ist es für euch an der Zeit, die Früchte des Sieges zu geniessen und zum ruhigen, friedlichen Leben zurückzukehren. Nun werde wieder ich die Geschicke Friedwangs leiten. Im Einvernehmen mit der Gemeinschaft des Lichts…“
Das klang wiederum etwas lahm, wie er zugeben musste. Unmut in den Gesichtern derjeniger, die er als Sokramordiener kannte. Für sie war letzteres Bekenntnis wohl beinahe schon Verrat…Nur hie und da wurden Arme hochgerissen, Hüte geschwenkt und matt „Hoch“ oder „Vivat“ gerufen. Aber diese elenden Klaqueure hätten wohl auch dann gejubelt, wenn als neuer Baron ein Ork oder Krakonier vor ihnen gestanden wäre.
„Gib doch endlich zu, dass du ein Phexischer bist“, meinte ein Bauernweib aus der Menge, beiläufig und nur halblaut. Es klang beinahe kumpelhaft freundlich, aber nicht allzu respektvoll – weder ihm, noch dem Heimlichen gegenüber.
„Jaa, ein Streuner und Hochstapler“, hallte es rau dazwischen. Leider konnte er den Zwischenrufer nicht entdecken.
Er stutzte.
„Niemals …niemals würde ich Euch betrügen…“ Alrik geriet ins Stocken, versuchte ein spitzbübisches Grinsen. „Selbst wenn es jemals einen Betrug gegeben hätte, dann wäret ihr, das Volk von Friedwang, meine Geliebte, nicht ihr betrogener Gatte gewesen…“
Immerhin, hie und da wurden doch Lacher laut. Nur die wenigen Traviagläubigen, die sich in die Meute gewagt hatten, blickten verdrießlich.
Er hob den silbern blitzenden Helm mit beiden Händen über den Kopf, ohne auf die Verwundung zu achten.
„Nein, ich bin Euer rechtmäßiger Baron, nach dem Willen der Götter wie den Gesetzen des Reiches. Aber es muss eine Versöhnung geben zwischen jenen, die zu den sogenannten Alten beten, und jenen, die sich die Rechtgläubigen nennen. Können wir zu einem Ausgleich kommen? Oh ja, wir können!“
Verzückt blickte er nach oben, in das Antlitz des Silberfuchses.
„Ja, ich gebe es zu, mein Lieblingsgott ist Phex, der Bringer von Glück, Freiheit und Wohlstand, den die Alhanier Fequz nannten, den Gott der Magie. Zugleich Schutzgott unserer Reichshauptstadt sowie des mächtigen Kaiserhauses Gareth. Auch wenn vieles im Nebel der Zeit verloren gegangen ist - einst war Phex mächtiger als heute anerkannt wird, und er ist in unseren Tagen immer noch mächtiger, als gesehen wird. Denn wer den Sterblichen ihr Glück zumisst, entscheidet der am Ende nicht - über deren Schicksal? Nein, sie sind sich nicht Feind, die Holden im Land jenseits der Sterne, und der Gebieter der Gestirne. Ähnelt sein Name, Phex, nicht bereits den der Feen? Lieben sie nicht beide Nebelgespinst und die Freiheit im Verborgenen, bieten sie nicht heiter engstirnigen Gesetzen die Stirn? Ich bin überzeugt, Phex und die Unsterblichen der Anderwelt haben mich gerettet, als ich dem gräulichen Merwan Aug´ in Aug’ im Schratenwald gegenüberstand. So biete ich Euch hier und jetzt einen Bund von Fuchs und Fee, einen Bund zwischen Alten und Neuem an“.
Er drehte den Helm um und zeigte ihn nach allen Seiten.
„Seht diese silberne Maske, die ich vor den gierigen Klauen und unersättlichen Schatztruhen der Xeraanier errettet habe. Zum Einschmelzen sollte sie nach Mendena gebracht werden, doch wir, die Wildgänse und ich, brachten den schändlichen Wagenzug an der Trollpforte auf. Der Helm gehörte einst den Hairanen der Alhanier, die vor Urzeiten über dieses Land herrschten und sowohl zu Sumu und zu Sokramor wie den Zwölfgöttern beteten.“
Möglich, aber eine ziemlich gewagte Behauptung. Egal, er hatte ohnehin keine Wahl. Er ließ seine Worte wirken, drehte den Helm und setzte ihn sich auf. Das Metall umschloss glatt und kühl seine Schläfen. Er fühlte sich sicher und geborgen, fast schon verborgen, wagte aber nicht, das Visier zu schließen. Dieses Artefakt war mächtig, es verband spürbar die Macht der Magie, der Mondmacht, mit dem göttlichen Wirken des Phex. Beides hatte es schon zur Genüge bewiesen. Unter anderem ließ der Fuchshelm trotz der Priesterweihe immer wieder, eine, wenn auch schwache astrale Macht, in seinen Leib zurückkehren. Zumindest die vorderen Reihen schienen beeindruckt zu sein.
„So werde ich nun ihr Erbe antreten, und weiterführen, was sie begannen. Lasst mich Euch zuvörderst ein Geschenk dabringen, aus Dankbarkeit für Eure Tapferkeit und Treue in der Schlacht.“ Einen Moment lang genoss er das Staunen in der Menge.
„Ja, ich werde Euch etwas schenken…Oder besser gesagt, etwas aushändigen, was euch ohnehin gehört. Und zwar ein Bild, das von dem Maler Lacertinus von Zaberg stammt und auf verschlungenen Wegen zu mir gelangt ist…“
Das Staunen wurde größer, streifte zumindest die Enttäuschung. Ein Bild? Diese Frage spiegelte sich in vielen Gesichtern: Nur ein…Bild…
„Lacertinus von Zaberg, der Diener des Lebens“, verkündete er feierlich. Er wusste, dass der Tsapriester, sein leiblicher Vater, in der Baronie beliebt gewesen war. Schon allein deswegen, weil es wenige Tsajünger in Sokramors Landen gab.
„Er hat euch das Bild hinterlassen, als sein Erbe…Euch, dem Volk von Friedwang.“ Dass stimmte nicht ganz. „Ich werde es im Traviatempel ausstellen lassen. Es soll ein Geheimnis zeigen, dass es durch bäuerlichen Scharfsinn zu ergründen gilt. Fragt mich nicht welches – ich weiß es nicht, nur dass es der Wille Seiner Gnaden Lacertinus war, dass alles Volk von diesem Rätselbild erfahren möge. Betretet ihr den Tempel, unbewaffnet und mit lauteren Absichten, so dürft ihr es betrachten. Es nennt sich Die Dame mit dem Apfel. Dem ist der Segen der Jungen Göttin gewiss, der das Rätsel löst.“
Alrik lächelte. Er hoffte, dass die Friedwangen den Sinn des Rätselbildes verstanden, das ihm von Veneficus ausgehändigt worden war. Dessen Geheimnis bestand darin, dass es seine Herkunft von dem Tsageweihten andeutete, der wiederum vom Hause Eppelein und damit dem Heiligen Alboran selbst abstammte. Und mit seiner Herrin Tsalinde das Bett geteilt hatte, der Baronin von Friedwang, nicht ohne einen Fruchtbarkeitssegen zu sprechen. Aus dieser Verbindung waren Vierlinge hervorgegangen, von denen allein er und sein Bruder Bishdarielon überlebt hatten.
„Wisset fürderhin, dass ich Serwa wieder in Ehren als meine Gemahlin angenommen habe. Sie wurde Opfer, äh, eines heimtückischen Zaubers und war im letzten Götterlauf nicht sie selbst, als sie scheinbar mit dem verräterischen Feind gemeinsame Sache machte. Auch wenn ich wieder Baron dieses Landes bin, so sehe ich mich mehr noch als Hüter des Erbes meines Sohnes Alboran, der mir dereinst im Amte nachfolgen wird.“
Stille.
„Was ist mit der Freiheit?“ fragte schließlich einer mit kehliger Stimme.
„Ja..ja…Wir wollen Freiheit…nicht, dass ein Herr den anderen abwechselt.“
Einer aus Rübenscholl tippte sich auf eine dick bandagierte Hand.
„Zwie Finger hab ich verloren, bei der Erdmutter, im Kampf für dich, Baron. Meine Nichte Yanis wurde von den Bestien erschlagen. Für was? Gib uns die Fryheyt der Altvorderen, nicht schöne Worte…!“
Alrik räusperte sich, hob seinen eigenen verbundenen Arm.
„Sieh her, Damian Schwarzmooser“ – er hoffte inständig, dass er den Rübenscholler richtig erkannt hatte. „Auch ich habe Blut gegeben in diesem Kampf, nicht für mich, sondern für Friedwang.“
„Die Schwarzsychler Fryheyt“, dröhnte es fordernd von unten. „Wir wollen selbstgewählte Dorfschulzen, freie Jagd, über uns selbst Recht sprechen und die Alten ehren, wie sie es verdienen. Keine hübsch gepinselten Bildchen anglotzen….Abfackeln sollte man die Paläste der zwölf Tyrannen…ausräuchern…“
Johlen und Schreien. Die ersten Sensen und Dreschflegel wurden geschwenkt, hier und da flammten sogar Waffen auf. Die Menge rückte näher.
„Noch ist es nicht zu spät“, schrie eine blonde stämmige Frau namens Gitta Pflugscharer. „Mit den Anderen und den Leuten im Steinbock sind wir in der Überzahl. Als erstes zünden wir den verdammten Praiostempel an. Mir reicht es mit diesen anmaßenden, arroganten Goldröcken.“
Gitta spuckte aus, nicht all zu weit von Alriks Füßen entfernt. „Diese verdammten Folterknechte und Häscher – wie viele der Unseren haben sie auf den Gewissen? Walerian Karrer, Parinor von Oppstein, Praiodan Bullenschläger und wie die Schlächter alle heißen. Wieviele der Unseren hat der Hohe Kommissar allein im letzten Götterlauf verbrennen lassen? Nun gewähren sie auch noch Oleanas Mordgesindel Zuflucht, denjenigen, die unsere Freunde, Brüder und Schwestern erschlagen haben. Jetzt ist die Gelegenheit, los, räuchern wir die Prachtbude aus, bei Sokramors wachendem Schlaf.“
„Nichts da. Ein Angriff ist nicht nötig“, sagte der Baron ruhig. „Der Tempel steht unter meinem Schutz, dass das klar ist. Er und alle anderen Häuser der Zwölfgötter in Friedwang.“
„Verdammt noch mal“, polterte Sokramorian Hirsbach los, der hinkende Wildschütz aus Nordenheim, den er eigentlich auf seiner Seite dachte. „Das heißt also, Ihr seid jetzt wieder Baron, von denen da ihrer Gnaden, und sonst nichts?“ Er wies mit dem Bogen auf die Basilika. „Fein. Für Euch! Und die Pfaffen da drin sind ebenfalls fein raus. Die haben doch mit Oleana unter einer Decke gesteckt, die ganze Zeit…“
„Sie sind genauso Feinde des Dreizehnten wie Ihr. Geht nach Hause. In Friedwang wird es keinen Kampf Jeder gegen Jeden geben. Dieses Land braucht eine Ordnung, Ruhe und Wiederaufbau, nicht Chaos und Zwietracht.“
„Was ist der Bund von Fuchs und Fee wert, wenn nur einer den Vorteil daraus hat“, schimpfte die Pflugscharer. „Wieviele tapfere Friedwangen sind gestern für Euch gestorben, he? Zuletzt war die Rede von zwei Dutzend Erschlagenen. Mein Vetter Malte ist tot und meine beste Freundin hat ihre gute Hand verloren im Kampf gegen die Söldner. Für was? Nur damit alles beim Alten bleibt? Raushauen hätten wir Euch heute sollen, wenn es da drin schief geht. Warum geben wir ihnen nicht einfach den Rest? Ich kann diese goldene Kuppel, diese ganze gestohlene Pracht nicht mehr sehen…Alboran war der erste Karnmann, er gehört dem Volk, nicht den Kuttenbrunsern. Brennen, der Tempel muss endlich brennen. Setzen wir ihnen den Roten Hahn auf ihr protziges Dach, das ist der einzige Praiosgrüßer, den ich gerne sehe und höre…“
„Was wäre damit gewonnen, außer ein größerer Alboransplatz?“ Laut hallte Alriks Stimme zwischen den Fachwerkhäusern wieder. „Was möchtest du als nächstes zerstören, Gitta Pflugscharer? Meine Burg? Die schönen Steinhäuser der Reichen? Alle Hütten, um dann wieder sokramorgefällig in Höhlen zu leben? Warum reißt du nicht gleich die Berge mit ein, dann habt ihr endlich freie Sicht auf den Osten, auf Tobrien…“
Der Mondschatten schüttelte den Kopf. „Legt heute Feuer und Ihr werdet bald wirklich ein Teil der Schwarzen Lande sein. Die einzige Freiheit, die ihr damit erkämpft, ist die der Dämonen, Schwarzmagier und Untoten, hohnlachend über euch herzufallen und grausamer zu knechten, als es jeder Praiodan oder Walerian könnte.“
„Sokramor behütet uns mit ihrem Leib vor der Vielleibigen Bestie“, raunzte Gitta. „Und deren Arme reichen längst bis in die Sankt Alborans-Basilika…Schlagen wir sie ab, solange wir Gelegenheit dazu haben.“
„Ihr da oben seid doch alle gleich…“ zischte ein junges Ding namens Konra und sah dann beifallsheischend zur Pflugscharer auf. „Steckt alle unter einer Decke, haltet schön gegen uns Bauern zusammen, presst uns aus, haltet uns für dumm. Wir hätten niemals auf Euch hören sollen. Erst treibt Ihr uns zum Aufstand, wir dürfen den Kopf hinhalten und bluten. Jetzt lasst Ihr uns im Stich, gegen Praiodan und die anderen Verbrecher. Das ist doch Verrat….“
„Keine Sorge, Bullenschläger wird Euch künftig keinen Unbill mehr bereiten, dafür sorge ich. Und auch Nippert ist nicht das Problem. Vertraut mir. Ich kann dafür sorgen, dass Ihr vor den Nachstellungen der Praioten geschützt seid.“
„Schützen können wir uns selbst. Bestraft, bestraft sollen sie werden für ihre Untaten. Sie sollen leiden, wie wir gelitten haben…Jahrhundertelang…Wir wollen nicht länger Knechte und Mägde sein.“
Alrik betrachtete die „Rädelsführer“ dort unten genauer. Gitta Pflugscharer, eine stämmige, blonde Frau mit bärbeißigem, verhärteten Gesicht, früher sicher schön, jetzt verhärmt, die schwieligen Hände auf einen Langbogen gestützt. Eine ehemalige Unfreie und Feldgeschworene, von der er nicht genau wusste, wieweit ihr Einfluss bei den Sokramoriern reichte, nur, dass sie gerne ausufernde Hetzreden führte. Und dabei voller Inbrust Halbwahrheiten verbreitete, was sie vermutlich gefährlicher machte als jede Lügnerin. Die kleine Konra, mit ihren blonden, sorgfältig gebrannten Ringellöckchen noch immer hübsch, aber auf zahlreichen Levthansfesten verdorben, hing an Gittas Lippen, beide waren verwandt. Sokramorian, der grünrockige, fesche Wildschütz mit dem bösen linken Bein, schien seinem Baron am meisten gewogen zu sein. Aber seitdem er damals im Schratenwald angeschossen worden war, lag in seinen Augen immer etwas Forderndes, wenn nicht Vorwurfsvolles, sobald er Francesco begegnete. Die Verwundung habe ich für Euch davongetragen, schien sein Blick sagen zu wollen. Nach Orchan Erttelgrimms Tod war er sicher der beste Bogenschütze in der ganzen Baronie, wenn nicht der Südsichel. Wie es hieß, wurde er in der Pfeilkunst nur noch durch Odilon Wildgrimm von Baernfarn übertroffen. Um seinen Hals hing ein Hirschhornamulett mit einer Darstellung des Karnmanns.
„Man soll nicht Unrecht mit Unrecht vergelten. Gerade weil die Grausamkeit, die euch angetan wurde, so groß war, werdet ihr sie niemals überbieten können. Nicht in eurem Leben. Was soll Rache bringen, wenn sie doch nur Stückwerk bleibt? Oleana und Gernot sind Vergangenheit, das ist das Wichtigste. Jeder Toter, jeder Verstümmelter ist einer zuviel, und ich trauere um ihn mindestens so sehr wie um mein eigenes Blut. Ich schätze euer Opfer, ich weiß es wirklich zu würdigen. Aber ihr habt es nicht für mich gebracht, sondern für Euch, für die Schwarzsychler Freiheit…Denkt an eure Kinder, die Zukunft…“
„Das ist doch Hohn, leeres Gerede“, ereiferte sich nun auch Sokramorian. „Wir wollen mehr als immer nur Worte. Verzeiht, Euer Hochgeboren, aber…“
„Nenn ihn nicht Hochgeboren, wir verneigen uns nur vor den Alten“, unterbrach ihn eine sommersprossige Frau. Sie stammte der buntbestickten, fellbesetzten Tracht nach wohl ebenfalls aus Nordenheim, wie die drei anderen.
„Dann solltest du dich aber rasch umgewöhnen…Ich bin immer noch euer Baron, das das klar ist.“
„Ich will meine Freiheit! Wenn es sein muss, werde ich dafür kämpfen. Auch gegen Euch, wenn nötig. Dann gehe ich eben wieder in die Wälder…“, schrie Gitta.
„Du wirst Chaos erhalten, nicht Freiheit. Das Chaos der Niederhöllen, das uns überall umgibt. Kälte und Hunger obendrein. Verdammt, ich möchte wetten, dass mehr Firunsgesellen durch den Winter umgebracht worden sind, da draußen im Wald, als gestern durch Oleanas Schergen. Die Felder müssen bestellt werden, das Vieh gehütet, die Kinder gestillt und großgezogen werden. Die Ruinen wieder aufgebaut, die Straßen ausgebessert. Das ist der wahre Kampf, der uns bevorsteht. Wir sind Menschen, keine wilden Tiere.“
„Praiodan, gib uns wenigstens Praiodans Kopf…Er hat meine beste Freundin verbrannt, als Hexe…“
„Wenn er gefehlt hat, wird er seiner Strafe nicht entgehen!“
„Gebt den Weg frei, wir holen ihn uns…Da an der Linde ist noch viel Platz…“
„Nein, sie sollen brennen!!! Braten wir die Goldfasane!!!“
„Zurück“, blaffte Alrik und stellte sich breitbeinig ins Tor. Zufrieden sah er, dass die Meute gehorchte, vielleicht auch deswegen, weil er unbewaffnet war. Friedwangen wussten persönlichen Mut zu schätzen.
„Gewiss. Ich habe Euch die Schwarzsychler Freiheit versprochen, aber es soll, es kann nicht die Freiheit von Bestien sein, die Freiheit, sich gegenseitig zu zerfleischen und im nächsten Winter am Hunger zu Grunde zu gehen. Echte Freiheit muss begrenzt werden, um sicher, glückbringend und von Dauer zu sein.“
Seine Gesichtszüge wurden streng und herrscherlich, zumindest hoffte er das:
„Also werden meine Büttel, Vögte und Schulzen angewiesen sein, in den Dörfern und auf den Höfen zu klären, welche alten Rechte überhaupt bestehen, damit niemand durch den plötzlichen Vorteil des einen selbst eigenen Nachteil erleiden möge. Ich weiß, dass ihr durch Oleanas Tyrannei und dem durch ihre Sünden mitverschuldeten Dämonenwinter schwer gelitten habt. Wo es möglich ist, werde ich euch im Traviamond einen Teil der Abgaben erlassen, außerdem die Wälder, Seen und Bäche freigeben, damit ihr eure ärgste Not durch Fischfang oder Wildbret zu lindern vermögt. Niemand wird die alten Kulte behelligen, solange ihre Ausübung nicht im Widerspruch zu den guten Sitten und den Lehren der Zwölfgötter steht.“
Er merkte, dass dies den meisten zuwenig war. Immer mehr Unruhe und Gemurmel wurde in der Menge laut. „Verrat“, schimpfte ein Bauernbursche mit hohlen Wangen halblaut. Die ersten Tränen rannen durch schmutzige, verhärmte Gesichter.
„Ich weiß, ich habe denen, die für die Befreiung Friedwangs streiten, mehr versprochen. Und ich werde, mein Wort halten. Nun, ich habe nie behauptet, dass ich eurer Tapferkeit nur in einem einzigen Gefecht bedürfte, bei den Pranken der Himmlischen Leuin. Noch ist Friedwang nicht vollends frei. Selbst wenn der Augenblick der Freiheit bald kommen wird: Die Ordnung, das Recht und die Freiheit in diesem Land müssen dann jeden Tag aufs Neue verteidigt werden. Wer sich darum meiner Landwehr, sei er nun freien oder unfreien Standes, anschließt, dem sei fortan die volle Schwarzsychler Fryheyt gewährt. Er darf jagen und fischen, was immer er zum Leben benötigt, er darf sich einen Profoß wählen, der Recht spricht, fürderhin darf er seinen Glauben, insofern er nicht Rondras Geboten widerspricht, frei ausüben und ist während der Zeit seines Dienstes von sämtlichen Abgaben befreit. Selbstverständlich gebührt ihm auch ein Anteil an der Beu…äh…den eroberten Gütern. Außerdem soll die Landwehr, wie von mir zugesagt, künftig nur noch auf dem Gebiet der Schwarzen Sichel, allein zur Landesdefension eingesetzt werden.“
Alrik lächelte fein. Er benötigte einen Kriegshaufen, wie so viele andere Herrscher von eigenen Gnaden in der Wildermark. Als Kämpfer würden seine Friedwangen künftig sowohl „frei“ als auch ihrem Anführer zum Gehorsam verpflichtet sein. Wie hatte es der böse alte Perval einmal so schön ausgedrückt: Sprecht nicht von Recht und Gesetz zu denen, die Schwerter am Gürtel tragen. Militär-Socialismus, so hätte ein horasischer Staatstheoretiker seine Idee wohl genannt. „Räuberbande“ traf es vermutlich besser.
„Mein Cancellarius ist bereits dabei, ein entsprechendes Pergament aufzusetzen. Schon morgen werde ich mit der Musterung beginnen. Wer als tauglich befunden wird, eine eigene Rüstung und geeignete Waffen stellen kann, der wird genommen. Es gibt eine Freiheit, zu tun und zu lassen, was man möchte. Aber dann gibt es auch auch eine Freiheit im Gehorsam. Ihr werdet gehorchen müssen, wenn ihr nicht Barbarei und endlosem Chaos anheim fallen wollt.“
Einen Moment lang herrschte atemlose Stille auf dem Dorfplatz.
Ein bärtiger Hüne nur wenige Schritt vor ihm fand als erster seine Sprache wieder. Ein friedwanger Wurfbeil glitt in seine Rechte.
„Du wagst es, elender Dreckskerl!“ brüllte er. Dann schleuderte er die todbringende Waffe, die wie ein blitzendes Rad in der Luft rotierte.
Alrik war so verblüfft, dass er nicht einmal ans Ausweichen dachte. Vielleicht hat er sogar Recht. Schicksalsergeben schloss er die Augen, da zischte das Beil bereits haarscharf an ihm vorbei.
Ein fürchterlicher, stöhnender Schrei. Alrik drehte sich um. Dort stand Praiodan, im vollen Harnisch das Schwert erhoben – und eine Axt im ungeschützten Hals. Seine Augen zeigten Qual, Blut rann ihm in Strömen aus der Wunde unter die Brünne.
Seine Faust packte den Baron am Kragen. Mit letzter Kraft hieb der Bannstrahler zu. Die schwere, stahlgrau gefurchte Klinge sauste herab, traf mit hörbaren Knacken den Helm. Die Fuchsmaske wurde ihm vom Kopf gerissen, schepperte auf die Treppenstufen, rollte davon.
Der nächste Hieb mit dem Schwert traf seine Stirn, spaltete ihm den Schädel.
Auch Alrik fiel, stürzte ins Bodenlose….
Der Rabe…der Nebel…
Du musst den Helm opfern, erst dann wirst Du in die andere Welt gelangen.
Das kann ich nicht, das Opfer ist zu kostbar. Die Zukunft ist kostbarer als die Vergangenheit.
Der Helm ist der Schlüssel für Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen….In der Gegenwart ist Vergangenheit und Zukunft eins. Fürchte dich nicht…
Wer bist Du? Golgari??? Wer schickt dich?
Ich bin nur ein Bote. Es ist deine Pflicht. Du musst Deiner Bestimmung folgen….Es gibt kein Zurück.
Natürlich, das alles war nur ein Traum. Er würde bald daraus erwachen. Ein Traum…
Dunkelheit, aus der langsam zwei Schatten wuchsen
Alrik runzelte angestrengt die Stirn (was ihm, da sie gespalten war, ein wenig schwer fiel). Er war für einen Moment unaufmerksam gewesen, hatte den Faden des Gesprächs verloren. Halb in Erinnerung, halb noch in seiner Wahrnehmung hallte das Echo von Worten in seinem Kopf wieder.
„Habt Ihr denn etwa schon vergessen, was geschehen ist?“
Wie aus weiter Ferne drang Orchans Stimme an sein Ohr. Er saß im Dunklen. Das Feuer war verloschen, hatte vielleicht nie existiert. Aber noch immer saß er Alboran gegenüber…und dem Firunsgeweihten.
„Ich erinnere mich…Gernot…der Henker hat Euch getötet…“
„Und dieser Praiodan Euch…bevor er selbst starb…“
Alrik nickte. „Das hier ist nichts als ein wirrer Traum, nicht wahr…Der verrückte Traum eines Sterbenden?“
„Ja und nein. Die Fuchsmaske steht außerhalb von Zeiten und Welten. Wer sonst könnte es wagen, selbst den Dreizehngehörnten Satinav zu bestehlen, wenn nicht Phex, der Diebesgott? Oder die Gesetze des Mysteriums von Kha zu beugen. Er ist es, der euch Eure Visionen eingibt…“
Alrik verstand die letzten Worte kaum noch, denn ein heftiger Wind kam auf, ein regelrechter Sturm, der die letzten Reste des Nebels auseinanderriss, den See immer mehr aufpeitschte und aufwühlte. Wellen schwappten über das Ufer, erst schäumende Gischt zwischen den Felsbrocken, dann sich hoch türmende Wogen, schließlich regelrechte Brecher.
Er drehte sich hilfesuchend um, aber Alboran und Orchan waren verschwunden.
Scheppernd fiel ihm der Mondsilberhelm vor die Füße, triefend, mit einem Netz aus Schlamm und Algen bedeckt. Verwirrt blickte er in das milde, wissend und zugleich spöttisch lächelnde Gesicht des Fuchses. Furcht überkam ihn, aber auch Ehrfurcht – vor Phex, der ihm gerade seine ungeheure Macht bewies. Es war eine Prüfung gewesen. Er hätte sein heiliges Artefakt nicht opfern dürfen. Nicht einmal daran denken…Das Geschenk eines Gottes wies man nicht ungestraft zurück.
Der See glättete sich, die Wellen schlugen jetzt nur noch schwach und murmelnd gegen das Ufer, fast schon sanft. Draußen auf dem See tauchten einzelne, rote, unstete Punkte auf. Nach einer Weile wurde das Lärmen von Rudern laut, näherten sich Boote – große, mit Freischärlern besetzte Kähne. Er sah sich selbst, am Ufer neben einem großen Lagerfeuer stehen und zu den Neuankömmlingen hinausblicken, darunter auch Orchan. Er reckte die Hand aus, nach seinem Körper, der den Fuchshelm in Händen hielt, aber er spürte sofort, dass es eine sinnlose Geste war. Das eine Ich nahm das zweite nicht mehr wahr. Oder noch nicht…
Eine andere Zeit….Er blickte hier in eine andere Zeit, diesmal in die Vergangenheit…vor dem Aufstand auf dem Alboransplatz…Nun erinnerte er sich, an den Traum mit dem Raben. Der schwarzgefiederte Bote hatte ihn aufgefordert, den Helm zu opfern, als Unterpfand seines Bündnisses zwischen Fuchs und Fee. Nun wusste er auch, wer der Rabe gewesen war: Answin, das Vertrautentier der Hexe Ludwina. Natürlich, die Sokramorier gönnten ihm den Blick in die Zukunft nicht. Sie hatten schließlich ihre eigenen Orakel.
Er sah sich, wie er noch vor kurzem am Ufer des Waldensees gestanden hatte, lebend und ahnungslos, um auf den Firunsgeweihten und die Sokramorier zu warten. Aber der Helm war zu ihm zurückgekehrt, mit Phexens Hilfe.
Alrik übergab seinen Geist ganz der gnädigen Dunkelheit.
Du hast es nicht verdient, am selben Ort zu sterben wie Oleana.
Etwas durchdrang ihn. Mit Macht. Erfüllte ihn mit neuer Kraft.
Licht…da war so etwas wie Licht…und ein Tunnel…den er nun entlang schwebte…Nein, hinauf.
Sanftes, warmes, in allen Farben irisierendes Licht, das ihn umgab, in ihm war, ihn verwandelte, umleuchtete. Alles war so schön, so leicht…Seine Haare wehten wie im Frühlingswind. Er lachte, lautlos und doch so herzhaft wie noch nie in seinem Leben.
Komm zurück…komm zurück…Francesco…Diese Welt braucht Dich noch…
Eine sanfte, junge, und zugleich männliche und starke Stimme.
Ich bitte Dich…und ich befehle es Dir. In Ihrem Namen!
Er öffnete die Augen. Ein weißhaariger Mann in regenbogenfarbener Robe kniete auf dem Platz, beugte sich über ihn. Sein Gesicht war freundlich, doch entrückt – in weite, grausam weite Fernen. Der Mann, der ihm sogar irgendwie ähnlich sah, war in einen silbernen Mantel gehüllt, der von einer Eidechsenbrosche zusammengehalten wurde. Er lächelte, und stand auf. An seinem rechten Ohr fehlte ein Stück des oberen Rands.
Alrik ruckte hoch, wollte den vorbeistreifenden Mantelsaum festhalten.
Erst jetzt merkte er, dass er auf dem Marktplatz von Friedwang lag, vor dem Eingang des Praiostempels – neben der Leiche des Hohen Commisarius. Das Volk, darunter auch Roderick, sein Knappe, umringte ihn, versuchte ihm aufzuhelfen. Der Mondsilberhelm war ihm bis vor die Füße gerollt, völlig heil und unbeschädigt. Er rappelte sich auf, langte sich verwirrt an die Stirn. Kein Blut, keine klaffende Wunde, nur ein Nachhall von Schmerzen…
„Das kann nicht sein. Der Bullenschläger hat ihm den Schädel zerschmettert, ich habe es genau gesehen…“ schnatterte es aufgeregt hinter ihm. „Da war überall Blut, glaubt mir.“ Alrik beachtete den Friedwanger nicht, versuchte mit den Augen dem Tsageweihten zu folgen, der in der Menge verschwand – ohne dass wiederum diese den Priester im Mindesten beachtet hätte…
Er mühte sich aufzustehen, griff hilflos in die Richtung des Mannes, der vor dem gleißenden Sonnenlicht nur noch ein Schemen war. Der Diener des Lebens drehte sich noch einmal gemessen um – und lächelte.
„Vater!“ rief Alrik verzweifelt. „Vater, bleib bei mir. Bitte, geh nicht…Vaaateer!“
Tränen traten ihn vor die Augen. Als er sie weggeblinzelt hatte, war Lacertins von Zaberg verschwunden.
Roderick, sein treuer Knappe, beugte sich über ihn, half ihm endgültig auf die Beine.
„Das ist nicht möglich“, rief jemand neben ihn, tastete nach seinem blutbefleckten Wams.
„Sokramor, Sokramor selbst hat ihn gerettet“, jubilierte eine andere Stimme.
„Danke.“ Alrik nickte dem jungen Knappen zu, der verstört um sich blickte, mit der einen Hand seinen Herrn stützte, mit der anderen den Schwertgriff umfasst hielt.
„Hab keine Angst, sie werden mir nichts tun…“ Der Mondschatten versuchte allein zu stehen. Irritiert sah er zu dem toten Bannstrahler, und den Silberhelm neben ihn, den er mit seinem Blut benetzt hatte.
Manchmal brauchten alte Artefakte neue Kraft…
Klirrend zerbrach die Phiole im hoch lodernden Feuer des Kamins. Der letzte Rest goldfarbener Flüssigkeit darin verdampfte zischend. Noch einmal sog Neibhard den süßen, harzigen Wohlgeruch ein, der ihn im letzten Götterlauf so erquickt – und zum Narren gehalten - hatte. Mittlerweile war er sich sicher, dass es gewöhnliches Rauschkraut, kein Wundermittel gewesen war, mit dem ihm der Bannstrahler hinters Licht geführt hatte.
Mit dem Schürhaken schob der Prätor rasch brennendes Holz darüber, erhob sich, gegen die mit Greifen verzierte Ummauerung des Kamins gestützt, und ging hinüber zum Tisch der Sakristei.
Trotz der vorgerückten Stunde (der melancholische Amelthonasgong drüben im Abendturm hatte den Sonnenuntergang längst verkündet), war die Kammer noch immer taghell erleuchtet – dank zahlloser blakender Tempelkerzen.
Gisbert und Gurvanio. Sie waren beide tot, der eine als Verräter, der andere als Märtyrer gestorben. Praiodan Bullenschläger ebenso. War es seine Schuld, dass es soweit kommen musste? Hätte er es überhaupt verhindern können? Neibhard seufzte. Nein, sich diese Frage endlos zu stellen, führte zu nichts. Gewiss, er hatte Gurvanio, außer ihm den letzten Überlebenden des alten Tempels, zu sehr vertraut, womöglich aus einer sentimentalen Regung heraus. Ebenso wie Oleana und ihrem Vater, denen gegenüber er sich eine falsche Treuepflicht hatte einreden wollen. Er hing einfach zu sehr am Alten, um seiner selbst willen.
Gisbert, der junge, aufstrebende Geweihte, dem er irgendwie sogar das nächste oder übernächste Prätorenamt zugetraut hatte, war nun tot, verschlungen von diesem gräulichen Wurm. Immerhin, auch die Schwarze Sonne war vernichtet, so erschien ihm dieser Opfertod als nicht gänzlich sinnlos. Bullenschläger…der war gestorben, wie er gelebt hatte: Gewaltsam.
Neibhard seufzte schwer, und schüttelte dann den Kopf. Er mochte ein schlechter Prätor sein, Praios seis geklagt. Aber er war dennoch zum Vorsteher dieses Tempels berufen, solange es keinen besseren gab. Er durfte sich nicht wie ein Bannerführer in der Schlacht verhalten, der leichtfertig einige Soldaten in den Tod geschickt hatte – und nun vor lauter Selbstzweifel seine übrigen Schutzbefohlenen im Stich ließ. Nüchtern betrachtet, war es vielleicht besser, dass außer ihm selbst niemand mehr von dem Achorhobarium wusste. Bestimmte Geheimnisse mussten einfach gewahrt werden. Das brachte ihn auf etwas anderes.
Er setzte seine klobige Brille auf und nahm Platz. Noch einmal musterte er den alten, vergilbten Brief, den Baron Alrik ihm zugesteckt hatte. Die fein geschwungenen Buchstaben aus dunkelblauer Tinte verkündeten noch immer einen vornehme Abkunft und einen starken Willen, das Büttenpapier roch schwach nach Apfel.
Gegeben zu Gut Ebelîn, am neunten Efferdsmond
im fünften Jahr der Kaiserlichen Geschwister
Mein geliebter Bodo,
Ich habe lange gezögert, Dir diesen Brief zu schreiben, aber ich finde, Du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Du bist nach außen ein ehrbarer Familienvater, zählst insgeheim zu den Wissenden, Deine Großmutter gehört zum Schönen Volk, wie man noch an Ihrem Enkel unschwer erkennen kann. Unsere gemeinsame Nacht auf dem Hexenberg war wunderbar, aber leider ist sie einmalig geblieben. Du sollst dennoch wissen, dass sie für mich Folgen hatte. Ein kräftiger, gesunder Junge wurde im Praiosmond geboren, die Geburt war derart leicht, das ich fast an ein Tsawunder glauben möchte. Das ist nun endlich der ersehnte Erbe, wie ich ihn mir schon lange gewünscht habe, seitdem mein Herofalk den friedwanger Schergen des `Ritterlichen´ zum Opfer gefallen ist – möge Rondra sie verfluchen.
Ich habe das Kind auf den Namen Oswin getauft, nach seinem Großvater, und ihm als Zweitnamen den Namen meines geliebten Gatten gegeben. Denk nur: Er trägt das untrügliche Zeichen der Nachfahren Alborans. Während sein linkes Ohr leicht spitzig ist wie bei vielen Elfensprößlingen, fehlt bei seinem rechten ein ganzes Stück, wie mit dem Messer abgeschnitten. Eine unsere jungen Mägde, mit der Geschichte des Hauses Eppelin nicht vertraut, meinte, der fehlende Rand werde sicher rasch nachwachsen, womit sie unter dem übrigen Gesinde für große Heiterkeit sorgte. So hat das Kind schon seinen ersten Spitznamen: Das Eidechslein. Ein treffender Name, bedenkt man, dass der kleine Oswin auf dem Heiligen Zaberg gezeugt worden ist. Er sieht dir auch ein wenig ähnlich, das Grübchen, die hohe Stirn, die breite Nase.
In Momenten wie diesen wird mir wieder einmal schmerzlich bewusst, dass und wie sehr wir ihn unterschiedlichen Welten leben. Du, Bodarion Eulenkuhl, ein Bauer aus Efferding, ich eine Prähnskatener Adelige. Womöglich quäle ich Dich nur, wenn ich Dir mitteile, dass Du noch einmal Vater geworden bist. Du hast ja bereits Frau und Kinder, führst Dein eigenes Leben. Wie selbstsüchtig von mir, mich über ein Kind zu freuen, während Du von einer derartigen Neuigkeit überaus befremdet, wenn nicht verstört sein musst. Ach, Bodo, ich weiß ja gar nicht, ob Du überhaupt des Lesens fähig bist. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, ob ich diesen Brief überhaupt abschicken soll.
Wenn, dann kannst Du den kleinen Oswin nur heimlich sehen. Überhaupt musst Du strengstes Stillschweigen wahren. Auch wenn es dank der Kaiserlichen Geschwister in Gareth, Rahja sei Dank, nicht mehr gar so prüde und engstirnig zugeht wie früher, weißt Du ja selbst, wie die Traviageweihtenschaft zu solchen Dingen steht. Vor allem möchte ich, dass mein Sohn einmal als adelig anerkannt wird, damit mein altehrwürdiges Haus nicht ausstirbt. Ich werde einfach behaupten, sein Vater sei ein Edelmann, den ich auf einem Turnier in Rommilys oder Gareth kennen gelernt habe. Bitte verzeih mir diese Verleugnung deiner Vaterschaft, aber es gibt leider keinen anderen Weg, wenn Oswin einmal eine glückliche Zukunft haben soll.
Gehabt Dich wohl, mein geliebter, schöner, leidenschaftlicher Bodo. Wir werden uns wieder sehen, wenn nicht auf dieser Welt, dann ganz gewiss in Rahjas Paradies.
Tausend Küsse (Du weißt, auf welche Stelle),
Selma
War der Brief eine geschickte Fälschung? Neibhard schloss dies aus. Ebelîn, das war ein höchst altmodischer Name des Ritterguts derer von Eppelein, den er in seiner Kindheit noch ein paar Male vom Großvater gehört hatte, der aber mit Selmas Familie untergegangen war. Bodo: So hatte Mutter seinen Vater manchmal genannt, was sicher auch nur die wenigsten wussten. Es schmerzte ihn, dass auch die Rittfrau von beider Prähnskaten dieses intime Kosewort gebraucht hatte. Dass sein Vater überhaupt das Heilige Gebot der Travia übertreten hatte. Bodarion – diese elfische Form seines Namens war bislang nicht einmal Neibhard bekannt gewesen.
Es war nicht so, dass er sich durch seinen Inhalt erpressbar fühlte. Praiodan Bullenschläger hätte vermutlich an seinem Inhalt Anstoß genommen, aber der befand sich auf dem Weg in Praios Paradies. Oder aber in die Zwölfgöttliche Verdammnis. Der heimtückische Angriff auf einen Baron war kein geringfügiges Vergehen. Praios sei Dank hatte Alrik ihn ohne größere Verwundung überlebt. Wie durch ein Wunder…
Es war auch nicht die elfische Urgroßmutter, die ihn, Neibhard, kompromittierte. Achtelelf – so etwas gab es im Sprachgebrauch überhaupt nicht. Natürlich hatten seine Kirchen-Oberen immer von seiner Abstammung gewusst, nachdem sein Vater ihn (reichlich spät) eingeweiht hatte. Nicht einmal im Bannstrahlorden hatten sie damals Anstoß daran genommen. Zumindest war es nicht der einzige oder gar wichtigste Grund für ihn gewesen, dem Orden den Rücken zu kehren.
Neibhard hielt den Brief in die Kerzenflamme, deren Schein gelblich durch das Papier drang. Wieder breitete sich ein zarter Geruch nach Apfel im Raum aus. Wie eine ausgeschüttete Flüssigkeit überschwemmten Flämmchen den Brief, setzten ihn knisternd in Brand.
Der Tod der angeblichen Hexe, damals, mitten im Firun, vor so vielen Jahren…
Vielleicht war die Weidenerin sogar wirklich schuldig, aber der „Prozess“ war eine einzige Farce gewesen. Nicht einmal die Hinrichtung genügte den Ansprüchen, den ein junger, enthusiastischer Bannstrahler an eine Hexenjagd stellen durfte. Die dicke junge Frau verbrannte viel zu langsam, unter zotigen, gehässigen Sprüchen ihrer Bewacher, schrie, keuchte, jammerte zum Praioserbarmen, wand sich hinter einem Schleier aus beißendem Rauch und flirrender Hitze, mit roter, aufgeplatzter Haut, versengten, glimmenden Haaren, hervor quellenden Augen. Neibhard griff sich einen großen, mit Stroh vermischten Reisighaufen, warf ihn in die jäh aufbrüllenden, fast weißgelb leuchtenden, infernalisch knisternden Flammen, dann einen weiteren, ohne darauf zu achten, dass seine eigene Robe, seine Haare ebenfalls vom Feuer ergriffen wurden. Ein schriller Todesschrei hinter einer Wand aus Flammen, dann waren die Leiden der „Satuarienstochter“ zu Ende – und seine Bereitschaft, weiterhin einer Gemeinschaft pervalischer Mordbrenner anzugehören.
Die Flammen des Briefs waren auf halbem Weg über das Blatt hinweg wieder erloschen. Er ging hinüber zum Kamin, warf den Rest hinein. Wie von dem vermeintlichen Hexenweib, blieb auch von Selmas Zeilen an seinen Vater nurmehr Asche übrig.
Lacertinus, sein Konkurrent um die Gunst der Baronin Tsalinde und er waren also Halbbrüder gewesen, ohne voneinander zu wissen. Nein, Oswin Herofalk von beider Prähnskaten. Ein Hauch von Adel hatte seine Familie also doch gestreift, und sicher war Lacertinus sogar der Wertvollere von ihnen beiden gewesen. Nun war auch er tot, ziemlich sicher war er das, umgekommen in den Kerkern der Heiligen Inquisition oder aber beim Angriff Galottas auf die Stadt des Lichts. Er hätte ihn vielleicht retten können, sich zumindest für ihn einsetzen müssen. Wenn er gewusst hätte, das…
Nein, auch hier half kein Hadern mehr. Alrik, Alrik hatte er noch helfen können, Lacertinus Sohn, wie das fehlende rechte Stück Ohr bewies. Seinen Neffen. Nun gut, ein Horasier würde Nepotismus zu so etwas sagen, ein Mittelreicher Vetternwirtschaft, aber es war ihm gleich. Die Familie war ihm wichtiger. Blut ist dicker als Wasser.
Und wo ist die Wahrheit, die Klarheit, die Ordnung, fragte er sich, ein klein wenig melancholisch, während er die letzten, weißlichen Aschereste des Briefleins zerstieß.
Schon als Novize war ihm klar geworden, wie leicht jedes göttliche Prinzip pervertiert, in sein Gegenteil verkehrt werden konnte. Aber erst an diesem Wintertag in Weiden hatte er begriffen, was die reine Wahrheit, die vollkommene Ordnung bedeutete. Licht im Übermaß war immer auch schmerzlich und zerstörerisch, wie das Feuer eines Scheiterhaufens oder die unbarmherzige Glut der Wüste Khom.
Gewiss, das Finden von Wahrheit und Klarheit waren noble Ziele. Aber vielleicht waren überhaupt nur Götter dazu in der Lage, die Ordnung der Welt in ihrer Gesamtheit zu überblicken, zu verstehen - und zu ertragen. Es war gut, dass der Verstand eines sterblichen Menschen derart schwach und begrenzt war. Dass er nicht alles wusste, was ihn überhaupt erst zum Glauben befähigte, aber auch zum Zweifeln. Und sei es nur zum Zweifel an sich selbst.
Neibhard blickte zu dem kleinen Bildchen des Hochheiligen Arras de Mott hinüber, das unscheinbar neben dem Porträt des Lichtboten Hilberian hing. Der Hüter gefährlichen Wissens war in den letzten Götterläufen sein Lieblingsheiliger geworden – ohne das die meisten davon wussten…Alboran, nun, der Baroniegründer war mehr ein Symbol für den historischen Zusammenhalt Friedwangs. Neibhard gab sich keinerlei Täuschung darüber hin, dass das meiste, was man sich über diesen Praiosheiligen erzählte, reine Legende war. Aber darauf kam es gar nicht an. Echter Glaube verlangte niemals Beweise - der Glaube selbst musste bewiesen werden.
Schmunzelnd und zum ersten Mal seit langem wieder vollauf mit sich im Reinen blickte Neibhard in die knisternde Glut. Er würde künftig seine schützenden Hände über den Mondschatten und seinen Zwillingsbruder halten.
Matrona Darpatiae, hoch auf Burg Alveran
Hör unser Flehen gnädig an
Breite Deine Flügel weit übers Land
Wärm uns an Deines Feuers Brand
Behüt uns mit heilgen Schwingen.
Dir wolln wir Lobpreis singen!
O Heilge Mutter Travia Du
Gibst unsrer Seele Rast und Ruh
Labst uns mit Deinen Speisen
Deine Güte wolln wir preisen.
Matrona Darpatia, hoch auf Burg Alveran
Hör unser Flehen gnädig an
Behüterin von Haus, Herd und Scheit`,
Matrona Darpatiae, in Ewigkeit.
Fasziniert starrte der Baron auf die singenden Waisenkinder, die ihre Münder weit aufrissen und dabei Speichelfäden zogen wie der Wurm im Brunnenschacht von Burg Friedstein.
Der Tempel von Mutter Travia zu Markfriedwang. Alrik erinnerte der heimelig abgedunkelte, altehrwürdige und doch zeitlose Rundbau, mit dem Rauchabzug in der Kuppel, auf Anhieb an eine nivesische Jurte. Darunter konnte auch der Schmuck späterer Jahrhunderte, etwa die elfischen Rankenornamente und hohen Spitzbogenfenster der Rohalistik, die altehrwürdigen Gemälde (unter anderem hatte hier die Dame mit dem Apfel ihren Platz gefunden) oder die eslamidische Kuppel nichts ändern.
Vermutlich war unter Dimiane Haldorin die Erinnerung an die Herkunft ihres Vorfahren aus dem hohen Norden Aventuriens nicht gänzlich verloren gegangen. Die Baronin in Nordenheim hatte den Traviageweihten für ihren Tempelbau eine Stelle im dichtesten Wald angewiesen – weniger aus Frömmigkeit, sondern eher, um als bekennende Anhängerin des Praios die „Andersgläubigen“ irgendwo im Niemandsland loszuwerden. Nichtsdestotrotz hatten die dankbaren Diener der Milden Göttin der Traviastatue die Züge Dimianes verliehen (die kinderlose Adelige hatte sich später doch noch zu Travia bekannt, als ihr durch die Hochgeweihte des Tempels baldige Mutterfreuden prophezeit worden waren). Das Bildnis der Göttin zeigte eine stolze, beglückte und doch demütige Frau, in freudiger Erwartung ihrer Niederkunft, das Gesicht rund und rosig, die Augen ohne Zweifel leicht mandelförmig
Durchaus ehrfürchtig las Alrik die bosparanischen Buchstaben, die im Podest eingemeißelt und selbst nach über eintausend Jahren nicht verwittert waren:„Wo immer ihr in der Wildnis ein Feuer entzündet, da bin ich mitten unter euch.“
Der Prätor hob auf einem roten Samtkissen die Baroniekrone vom Altar, bot sie der Firungeweihten zur Linken dar, die das Zeichen des Pfeils darüber schlug, sowie Mutter Jadwina Brinske zur Rechten, die wiederum den Traviasegen spendete.
Neibhard Eulenkuhl hob den goldenen Reif in die Höhe, sprach Worte auf Bosparano. Die Krone funkelte und glühte im Fackelschein des Heiligen Herdfeuers.
Die Farionskrone…Sein letzter Coup im Kampf um die Rückkehr als legitimer Baron auf den Steinbockthron…Geschaffen durch Farion von Friedwang, dem Sohn der Stammmutter des Hauses, Perchthilda, der unter dem Namen Alboran II. den Baronsthron bestiegen hatte.
Man sagte ihm nach, vor etwa dreihundertfünfzig Jahren, bei Senkenthal, am heutigen Boronanger, das Grab des Heiligen entdeckt zu haben. In einer Höhle, wo das Skelett des Baroniegründers auf einem steinernen Thron gesessen hatte, vom Staub und Spinnweb’ der Jahrhunderte bedeckt, das Schwert Greifenklau in den Knochenhänden. Mit einer rostigen Eisenkrone auf dem Schädel, die, wie das urtümliche Breitschwert, alhanische Runen geziert hatten. Farion hatte nicht nur die Knochen des Heiligen auf seine Burg bringen lassen und den Ort zur Grablege seiner Familie bestimmt, sondern auch die heutige Baroniekrone geschaffen: Im Inneren waren die Runen eingravieren worden, deren Bedeutung angeblich unklar war (Nun, Alrik wusste mittlerweile sehr gut, was sie bedeuteten: Al´Boran Haldorinnen, Than von Nordenheim, Hairan der Alhanier, Baron von Schratenwald). Die Vorderseite zierte die Symbole von Firun, Praios und Travia. Desweiteren war das Schmuckstück mit sechzehn Perlen verziert – angeblich von jeweils drei Flussperlmuscheln aus den Bächen Gießen, Rausche und Jargel (stellvertretend für das Lehen), drei aus dem Dergel (für die Grafschaft Wehrheim) sowie vier aus dem Darpat als namensgebender Fluss des Fürstentums.
Wie auch immer, die Farionskrone war während der Herrschaft Gernots verloren gegangen und erst jüngst, bei der Bergung des Schatz der Mallachai in Gallys wieder aufgetaucht. Dafür, dass ihm Veneficus die Krone ausgehändigt hatte, war Alrik zu einigen Zugeständnissen genötigt gewesen – Zugeständnisse, die gewisse Erbansprüche seiner Gemahlin Serwa innerhalb des Hauses Baernfarn betrafen…
Wie ausgehandelt, nahm Alrik den vergoldeten Reif von Neibhard in Händen, um ihn sich hernach, quasi von eigenen Gnaden, aufs Haupt zu setzen. Hart und kühl drückte das edle Metall in seine Stirn. Die schönste Würde, die schwerste Bürde: eine Krone. Für einen Moment schienen die Geister ihrer vorherigen Träger neben ihm zu stehen, mahnend, schweigend. Der Chor begann erneut zu jubilieren.
Aber auch die gebannten Blicke, die atemlose Spannung der Friedwangen in seinem Rücken waren förmlich zu spüren. Es hieß, das binnen eines Götterlaufs jeden die Strafe von Gans, Greif und Bär treffen würde, der diese Krone zu Unrecht trug – vermutlich der eigentliche Grund, warum der ebenso notorisch klamme und ruchlose wie abergläubische Gernot sie nie getragen, sondern an einen Zwercher Pfandleiher versetzt hatte. Alrik schluckte. Er selbst war sich seiner Legitimität auch nicht so ganz sicher…aber er hatte seine Würde auch niemanden gegen dessen Willen weggenommen, jedenfalls nicht mehr. Er konnte nur darauf hoffen, dass ihn auch in diesem Fall Phex behüten würde. Im Augenblick sollte die Geste auch den letzten Zweifler überzeugen, dass hier, am heimelig lodernden Heiligen Herdfeuer der Travia, der rechtmäßige Baron von Friedwang stand.
Dann hielt er die Krone Serwa über die lockigen blonden Haare, die neben ihm niedergekniet war, die Hände zum frommen Gebet aneinander gelegt. Einen Moment lang ließ ihn das Zeremoniell eine gewisse Freiheit: Sollte er sie seiner Gemahlin ebenfalls aufsetzen, zum Zeichen, dass er sie als gleichberechtigte Baronin von Friedwang anerkannte? Der eigene Impuls riet ihm dazu, aber er spürte auch, dass das anwesende Volk dies nicht gutheißen würde. Serwa Phibi war in den Augen der meisten eine Außenseiterin, eine Gallyserin, würde es bis an ihr Lebensende bleiben. . .
Sei´s drum, er war hier Baron von der Götter und des Reiches, nicht des Volkes Gnaden. Dies musste er deutlich machen. Er senkte die Krone auf das Haupt seiner Gemahlin, ließ das Metall los und sah ebenso triumphierend wie machtvollkommen in die Runde. Serwa hatte die Augen leicht geschlossen, öffnete sie nun und blickte ihn, unter gewellten blonden Locken, aus blauen Pupillen an. Eine reife, sinnliche Frau…Die Verbrennungen durch das Gift des Weißen Wurms, die ihre Wangen hie und da noch verunzierten, ließen sie eher…interessant aussehen. Die Baernfarn trug ihr pelzverbrämtes Festtagsgewand, schneeweiß mit firunsgefälligen Motiven wie Eisbär, Pfeil und Bogen bestickt – eine gute Wahl, galt der Weiße Jäger doch als klassischer Mittler zwischen Verborgenen und Alveranischen Kulten.
„Ich danke Dir, mein Gemahl“ sagte die Baronin und senkte sofort wieder demütig den Blick. Der Mondschatten runzelte die Stirn. Das waren ja ganz neue, ungewohnte Töne. Am meisten irritierte ihn die ehrliche Zuneigung, die Serwa in diesem Moment verströmte. Wie eine Dienstmagd kniete sie da, wartete darauf, dass ihr Herr sie erhöhte. Fast schon verspürte er leichte Verärgerung ob dieser mitleidheischenden „Gefühlsduselei“. Dass ihn diese Hexenschülerin ab und an etwas vorspielte, nun ja, bei Phex, das empfand er als normal, zumal bei einem Frauenzimmer.
Aber dass die sonst so kluge, fein berechnende Serwa sich hier selbst etwas vorgaukelte war neu, ein Zeichen von Schwäche, das ihn beunruhigte. Was erwartest du eigentlich, fragte er sich. Sie ist jetzt weit über vierzig Götterläufe alt, die Rose ihrer Schönheit leicht angewelkt, die Familie in Gallys entmachtet. Serwa kann keine Kinder mehr bekommen und auch nicht mehr hingehen, wohin sie möchte, nicht einmal zu diesem Oppsteiner. Da muss sie sich ja den neuen Gegebenheiten anpassen. Oder war das alles wieder nur einer ihrer Tricks? Verflucht, manchmal war es unangenehmer, zweifelhaft auf der Gewinnerseite zu stehen, als der ehrliche, eindeutige Verlierer zu sein.
„Nein, ich danke Dir, meine teuerste Serwina Philibine, für Deine Treue und Liebe“, erwiderte er steif und kam sich dabei entrückt, schwülstig und unahbar vor wie eine fleischgewordene Darstellung Seiner Allergöttlichsten Magnifizienz Hal von Gareth.
Rasch setzte er sich die Krone wieder aufs Haupt – und half der Baernfarn auf die Beine, nicht ohne Küsse auf beide Wangen. Sollten die Friedwanger ruhig ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen…
Alriks Blick ging durch die Menge. Gehobenes Marktfriedwanger Bürgertum, außerdem Abordnungen aus den Dörfern. Viele hatten ihre Kinder mitgebracht, hie und da winselte und lallte ein Säugling dazwischen. Vielleicht wäre es ihm sogar leichter gefallen, hätte er zynischen Spott, Verschlagenheit, Berechnung oder Opportunismus in den überwiegend ländlichen Gesichtern erspäht, aber dem war nicht so. Es überwog naive Anhänglichkeit, Hoffnung und Glaube. Vielleicht sogar wirkliche Liebe zur neuen, alten Obrigkeit. Vor allem aber lag Angst und Beklemmung in der Luft. Die Menschen klammerten sich an das, was sie kannten, rückten wieder enger zusammen, nicht ohne Misstrauen, wie eine reizbare und streitlustige, aber momentan eingeschüchterte Hammelherde. So wie es aussah, sollte er dann wohl ihr Leithammel sein…
Er taste nach Greyffenclaw, einer „Nachbildung“ von Alborans Schwert aus der Zeit der Priesterkaiser: Diese hatten das rohe Barbarenschwert in eine repräsentative Prunkwaffe verwandelt, mit güldener Pommel in Sonnenform und einem Greifen als Griff (die Edelsteine waren in ärmeren Zeiten abhanden gekommen).
Er hob die – ob des ganzen Zierrats ziemlich schlecht ausbalancierte Klinge - theatralisch in die Höhe. „Für Friedwang, Sokramoria und Darpatien! Mit uns die guten Götter allezeit!“
Hoch- und Jubelrufe brandeten auf.
Es wurde Zeit für den Schlußchoral.
Und will der Tag sich neigen,
mit blutigrotem Brand,
und naht gar düstres Schweigen,
wacht Praios doch am Morgen,
wieder über Rauls des Großen Land!
Vertreibt gar alle Sorgen,
mit seines Lichtes Macht,
steigt empor auf strahlend Schwingen,
besiegt die finstre Nacht!
Lob und Ehr soll klingen,
dem allerhöchsten Herrn!
Der höchste Ruhm dem Götterfürst,
dem ewig leuchtend Tagstern,
der Heilig Zwölfe Erst!
Er steckte das Schwert wieder in die Scheide, ging Hand in Hand mit Serwa nach draußen, auf den Alboransplatz, wo ihn Trommler, Dudelsackbläser sowie eine Abordnung der Steinbockgarde erwarteten. Ein Schwarm wilder Tauben stieg mit rauschenden Flügeln hoch, als wäre dies ein Hochzeitstag. Die Gongs auf den Erkertürmern von Sankt Alboran und Gilborn schlugen im Wechseltakt.
Auf dem Schaffott, unter schaukelnden Galgenstricken, harrten mit betretenen Gesichtern noch immer die acht Plünderer aus, die zur Feier des Tages gehenkt werden sollten. Bosjäckel, die trotz deutlicher Warnungen nicht von den Übergriffen auf Zwölfler hatten ablassen wollen. Natürlich war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass die Männer und Frauen begnadigt werden würden – Alrik wollte den festlichen Beginn seiner „zweiten Herrschaft“ nicht mit noch mehr Toten und Gewalt beginnen. Der Abschreckung war einstweilen Genüge getan, außerdem sollten die Leute den Unterschied zur blutigen Wilkür Oleanas merken.
Alrik wechselte einige Worte mit Kun Steenbock. Der Barönliche Herold verkündete den Gnadenakt und das wahre Strafmaß: Teeren und Federn, zwanzig Rutenhiebe, sowie einen Götternamen lang schandbare Tracht (das sogenannte Goblinfell, das trotz des Namens von Rehböcken stammte. Es wurde unverbesserlichen Raufbolden und Unruhestiftern umgehängt. Desweiteren die „Goblinhauer“ aus Horn, die auf die Eckzähne gesteckt wurden, den „Buckel“ in Form eines Sacks schwerer Steine unterm „Rotpelz“, außerdem mit Hufeisen beschwerte Fellstiefel, was die so Gestraften zum tumbem Nuscheln und qualvoll gebückten Umherstapfen zwang ).
Alrik hatte zunächst an ein Jahr Verbannung aus der Baronie gedacht – aber die Gefahr war zu groß, dass die Friedbrüchigen dann einfach irgendwo anders das Heer der heimatlosen Strauchdiebe vergrößern würden.
Unter dem Jubel der Bevölkerung wurden die Übeltäter vom Galgen geholt, in ein Fass mit Baumteer gesteckt und dann, triefend und schlüpftig, in einen großen Haufen Hühnerfedern geworfen. Das Baronsehepaar wohnte der Bestrafung nicht bei, sondern zog auf den eigentlichen Marktplatz, wo das Volk zum eigentlichen Gaudium - Freibier, Braten und Tanz - eingeladen war.
Das Rasseln einer Kutsche, das Klappern von Hufen auf dem (wieder vollständig gepflasterten) Platz lenkte ihn ab. Ein Vierspänner näherte sich vom Nordenheimer Tor her (das Alrik eigentlich gut bewacht glaubte), eskortiert von zwei klirrenden Rittern mit Rabenhelmen und Boronskutten. Ein gewöhnlicher Söldling saß auf dem Kutschbock, eine Südländerin lenkte die dunkelglänzenden Pferde.
„Al´Anfaner…“ keuchte Bishdarielon hinter ihm, von Hass und Unruhe erfüllt. „Das sind…Rabengardisten aus der Pestbeule des Südens…“
„Königin der Städte, wolltest du wohl sagen“. Alrik grinste schief. „Ganz ruhig, Bruderherz. Deine alten Kameraden werden dich schon nicht gleich in ihre schöne Heimat mitnehmen “.
„Das sagst Du in deinem jugendlichen Leichtsinn.“ Sein Bruder griff zum Schwert. „Gut, dass am Galgen gerade Plätze frei geworden ist…“
„Nun mach mal halblang…Lass dein Brotmesser stecken. Du warst doch gerade im Traviatempel. Gäste begrüsst man anders…“
„Eingeladene und willkommene Gäste, gewiss. Nicht diese ruchlosen Schwarzgeier vom Hanfla…“
„Was machen die soweit im Norden?“ wollte auch Serwa wissen. „Das ist wirklich ungewöhnlich.“. Die Barönlichen Leibwächter eilten herbei, aber Alrik gab ihnen ein Zeichen, zurück zu treten. Zu deren eigener Sicherheit.
„Ich regel das schon…“
Die Kutsche – eine unscheinbare, staubige Reisekutsche – wendete formvollendet, hielt an. Der Söldner sprang herunter, riss die Tür auf, eine kleine Treppe klappte sich auf.
„Miaaauuuu.“
Als erstes sprang eine Al´Anfaner Samtpfote heraus. Sie hatte eine eigentümliche Fellfarbe – Hesindigoblau. Alrik staunte nicht schlecht. Die Schwarze Perle verblüfft ihn immer wieder aufs Neue.
„Ein Unfaaall….mit ainäääm Färbärrrbottiiich…“ erläuterte eine rauchige Stimme von der Kutsche her.
Der Baron, der sich bereits gebückt hatte, um die Katze zu streicheln, hielt inne. Die Baronskrone rutschte ihm ins Gesicht, wäre um ein Haar zu Boden geklirrt. So sah er nur undeutlich die Magierin in nachtschwarzen, samtglänzenden Gewändern, mit hohem Kragen, Florett und elegant gedrechselten Stab. Das zerknitterte Gesicht war so grell mit Schminke, Rouge und Lippenrot übertüncht dass diese Matrone von Zauberin fast schon wieder eine eigentümliche Grandezza verströmte. Außerdem einen betörenden südländischen Duft.
Um die etwas peinliche Situation mit der Krone zu überspielen, nahm sie Alrik entgültig herunter und lüpfte sie mit einer tiefen Verbeugung, als wäre sie ein Hut. Ein wütendes Fauchen, dann schlug ihm die Katze den glitzernden Reif aus der Hand. Nun fiel er doch klirrend aufs Pflaster, und fluchend steckte sich Alrik den blutenden Finger in den Mund.
„Kamaluq, wie unanstäändig von Dirrr…“ Die Zauberin beförderte das Tier nicht allzu sanft in die Kutsche zurück, eine Behandlung, gegen die der Kater mit einem wütenden Kreischen protestierte.
Der Mondschatten verzog leicht das Gesicht, hob die Krone auf und säuberte sie vom Schmutz des Marktplatzes. Kamaluq – eine Katze nach der Jaguargottheit der Mohas zu benennen, zeugte auch nicht gerade von Anstand.
„Värzaiht. Ihrrr gästattet, dass ich mich vorställä? Magistra Esteforrriaaa dee Mirrhamdez, Gesandtä Ihrär Hochwürdigstän Ährhabenhait, däs Patriarchän von Al´Anfa…“
Die Al´Anfanerin musterte spöttisch die Krone in den Händen ihres Gegenübers. Vermutlich zählte er in ihren Augen kaum mehr als irgendein Häuptling der Wudus, der „Wilden“ des Regenwaldes.
„Mein Bruder hat mir von Euch erzählt“, sagte Alrik schmallippig und überreichte die Krone Lutina Burgwart, die mit krebsrotem Gesicht hinter ihn getreten war – schon allein, um die Büttelin davon abzuhalten, blank zu ziehen. Gegen die beiden Rabengardisten würde sie dabei auf jeden Fall den Kürzeren ziehen.
„Nuur Guutes, hoffe ich…“
Esteforia reichte ihm galant ein Seidentüchlein. Alrik beschloss, dass es nicht allzu ratsam war, einer Schwarzmagierin etwas von seinem Blut zu überlassen, und lehnte dankend ab.
„Der Weg aus dem sonnigen Süden ins kalte Mittelreich ist beschwerlich genug. Was verschlägt Euch ausgerechnet in die Wildermark? Euch und Euer himmelblaues Kätzchen?“
„Gäschäffte, dies und das…“ Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, das Tüchlein zwischen den dünnen, langen, schwarzlackierten Fingernnägeln gesteckt. „Där Verbleib däs Stab des Värgässäns etwa, der von dän Dienern där sogenanntän Puninär Kirchä…“ Sie wischte sich etwas Schminke von den Fingern „…im Kampf gegen ainän einzigän Untotän leichtfärtig zärbrochän wurdä…“
„Das…das, bei meiner Seel´, ist ein bodenlose Unverschämtheit“, bellte Bishdarielon los. „Der Stab ging im Kampf gegen den Schwarze Drache von Warunk verloren…“
„Wurdä diesär ähämaligä Rabängardist zuvor noch ainmal mit däm Stab berührt – oder hat är auch so den Gähorsamseid värgässän, dän är Sainär Hochwurdigstän Ärhabenhäit in der Stadt des Schweigäns geschworän hat?“
„Bitte…Ihr seid doch nicht etwa hierhergekommen, um mit meinen Bruder über längst vergangene Zeiten zu plaudern?“ Alrik verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich fürchte, ihr werdet die Bruchstücke des Stab des Vergessens hier nirgendwo finden, und schwerlich irgendwelche Hinweise darauf. Aber ich habe gehört, dass Ihr uns in Merwans Verlies geholfen habt, in der Casa Merwania, gegen die Ränke des Vampirs. Vielen Dank dafür. Mehr als Gastung für eine Nacht kann ich Euch allerdings nicht anbieten. Drüben, im Goldenen Greifen, ist sicherlich noch ein Zimmer frei…Das beste Hotel im Ort…“
Esteforias Blick blieb demonstrativ an einem krummen Pferdestall hängen, bevor sie das schmucke Fachwerkhaus daneben „entdeckte“.
„Außerdem hat dort einmal ein Wahrer der Ordnung residiert…“ sagte Alrik gepresst.
„Säär freundlich von Euch…Abär ich bin auf der Durchraisä…Eine Mission in die Rabenmark…Ihr värstäht…Außärdäm soll ich Ärkundigungän über dän Värbleib einäs gäwissen Kindäs där Finstärnis anställen…“
„Merwan ist mausetot, wie sich das gehört…“
„Gäwiss…aber das ist är schon seit über siebänhundärt Jahrän…Ich habä gähört…där boronslästarliche Blutsaugär soll jetzt einä neuä Gestalt besitzän…“
Alrik lächelte die Magistra bemüht an, die einen Fächer entfaltet und aufgeregt damit wedelte. „Außärdäm soll ein gewissär…Mercurio hier in där Gägend aufgetaucht sein…Gänannt der Schwarzä Mändänär…“
„Euer schurkischer Vetter? Der schmierige Fischkopp verseucht die Gegend nicht mehr mit seinem Gestank. Der hat ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Ebenso mein Vetter Gernot, wie Ihr wisst…“
„Gäwiss, gäwiss, ich habä davon gähörrt. Däswägän bin ich nicht hierrr, in Frriedwang. Ich wollte äuch Brüdärrn nur ein klainäs Gäschänk überreichännn, zur Feiär däs Tagäs…Ein Gäschänk des Patriarchän…“
„Timeo Alanfanos ut dona ferentes…“, kam es dumpf vom Edlen von Senkenthal.
„Von Amir selbst? Zuviel der Ehre…Nun bin ich aber mal neugierig. Was ist es denn?“
Esteforia lächelte gönnerhaft hinter dem schwarzen Fächer hervor.
„Ainää jungää Sklavin…“
„Schaut sie was aus?“
„Sie ist noch ain Kind…säht sälbst…“
Tatsächlich wurde ein Mädchen aus dem Inneren der Kutsche gehoben, vielleicht sieben oder acht Götterläufe alt. Die Haut war bräunlich-bronzefarben, wie Tropenholz, die Lippen voll, die Haare fein gelockt. Das Kind versprach schon jetzt künftige Schönheit, blickte mit klugen, dunklen, leicht schrägstehenden Augen in die Welt. Ein junges Moha-Halbblut…
„Zieh daain Hämd aus!“ befahl Esteforia knapp und durchaus etwas barsch. Das Mädchen gehorchte.
Ein Mädchenkörper kam zum Vorschein mit dunkler Hautfarbe. Das einzige herausstechende Merkmal war eine große, wulstige Narbe an der linken Schulter.
Alrik erschauerte. Er hatte dieses Mädchen schon einmal gesehen, in einer Vision, auf einem fliegenden Teppich über Hauckes Zuflucht. Aber sie war älter gewesen, fraulicher, mit einem anderen Hemd.
„Chepka…“ flüsterte Bishdarielon entgeistert. „Das ist Chepka…“
„Nein. Ihr Name ist Chekpa“ sagte Alrik.
„Was rädät Ihr da? Ihr Namä ist Sylvana…Ein Kind däs Waldäs.“ Zynisch lächelnd wuschelte die Magierin durch die Haare des Mädchens. „Ain richtigär klainär Wildfang.“
Das Kind war vollkommen ruhig, weinte nicht, drehte sich nicht um – auch wenn die Situation es eigentlich überfordern musste.
Eine richtige kleine Mohaha, dachte Alrik. Sie sind es von Kindesbeinen an gewohnt, sich völlig ruhig und leise zu verhalten, wenn Gefahr droht. Solange, bis die unangenehme Situation an ihnen vorübergegangen ist..
Alriks Bruder drängte sich an ihm vorbei, ging vor dem Mädchen in die Knie, reckte die Arme aus, wagte es aber nicht zu berühren. „Das…das ist…das ist Ake-Tscheyas Tochter…meine Tochter…Aber sie ist tot ??!! Wie Ake-Tscheya?“
„Där Stoß däss Sklavänfängers hat nur ihre Wudu-Muttär durchbohrt. Die Quästadoren nahmän sie auf dem Jalob mit, in ainäm aigänäm Boot…So habt Ihr nicht gemärkt, dass Eurä Tochtär noch lebt. Kleinä Wudus sind äin beliebtes Spielzeug für Grandäntöchtär…“ Esteforia lächelte zynisch. „Man kann sie füttärn, windäln, die schönstä Puppä, die man sich vorzuställän vermag. Das ain solchäs Kind längär als ein paar Wochän übärläbt, ist allerdings ungewöhnlich, meist lassen die värwohntän Görän es früher oder spätär verhungärn oder zu Tode fallän. In diesäm Fall nahm sich aber där Patriarch höchstsälbst seinär an…“
„Chekpa…“ Bishdarielons Finger strichen dem verstörten Kind durch die Haare. „Chekpa…“
„Är kauftä Sylvana däm Hausä Karinor ab und sorgte dafür, dass sie in gutä Händä kam…Nämlich in mainä…Ihr Schicksal ärinnertä mich an das meinigä…Ihr müsst wissän, dass meine und Mercurios Familiä bei ainmäm Überfall von Piratän der Brabakär Allianz abgeschlachtät wurdän….In einäm Dorf namäns Sivilias. Sylvana. Ich habe sie aufgezogän wie meine aigenä Tochtärrr….Die Narbä, die ihr da an där Schultär seht, die hat ihr einä junge Karinor beigebracht, mit däm Dolch. Sie wollte unbädingt wissän, ob Mohas schwarzäs oder rotäs Blut habän…“
„Und - hat sie jetzt rotes oder schwarzes Blut?“ Alrik klang nicht amüsiert.
„Sie hat vor alläm blauäs Bluut…Ihr Mittelreichär haltet Euch für edlär und vornähmär als wir, aber wir Al´Anfaner wissän Adel zu schätzän…Selbst dann, wenn wir ihn in einem Halbwudu begegnen…“
„Wudu, Wudu, Wudu…Bei uns nennt man die Waldmenschen Mohas“, sagte Alrik, bemüht freundlich. „Nicht Wudus.“
„Nun, die Leutä, dich ich in Euräm Land traf, sprachän von Sylvana beävorzugt als von där klainän Wildän. Allzu gewogen scheint man dän Heidän bei euch auch nicht zu sein. Auch wänn ich gähort habä, dass äs in diesäm Fürstäntum sogar schon einmal einän Wudu…värzaiht, Moha-Baron gägäbän haben soll…“
„Gona von Rosenbusch, ja…nicht allzu weit von hier entfernt.“
„Gona aus däm Busch? Wie übärraus passänd…Sei`s drum, Sylvana gehört jätzt Euch. Ihr könnt mit ihr machen, was ihrrr wollt, und sie von mir aus nännän, wie ihrrr wollt…“
„Sie ist meine Tochter, Esteforia…Ich nenne sie Tochter.“ Bishdarielon sah Esteforia merkwürdig an. „Sie ist ein Mensch wie du und ich. Habt ihr das verstanden, ihr grausamen, seelenlosen Al´Anfanischen Bluthunde? Glaubt ihr, ich habe den feigen Mord an der Mutter dieses Mädchens vergessen? In den Niederhöllen sollt ihr dafür schmoren, bei meiner Treu…“
„Seht es, wie Ihr wollt, wir sehän äs, wie wir äs sähän wollen…Amabo, gib ihrrr irrä Sachän…“
Ein devoter, schlaksiger Mohadiener stieg aus der Kutsche und reichte dem Mädchen ein Bündel.
„Ich muss sagän, ich bin änttäuscht. Ein Rabenjüngär hat mirr vor Jahrän prophezeit, dass Sylvana der Allweisän Härrin einmal großä Ährä machän wird…“ Ein verächtliches Schnauben.
„Nicht ainmal in Rommilys habän sie ainän Funkän astralär Macht in ihr fästgäställt…Äs kommt leidär vor, dass die Schwarzkuttän Unsinn vorhersagän. Behaltät die Kleinä ruhig, sie ist für mich nicht sär wärtvoll…“
Ah, daher wehte der Wind. Die Magierin hatte auf eine Nachfolgerin gehofft.
Der Baron verkniff den Mund. „Es gibt wahrlich mehr Arten, Hesinde Ehre zu bereiten, als Feuerbälle zu werfen oder Skelette zu lenken, meine Teuerste…“
In Alriks Kopf arbeitete es. Natürlich schenkte diese Al´Anfaner Schwarzkünstlerin der kleinen Sylvana nicht aus Mildtätigkeit oder die Menschenliebe die Freiheit. Sie hatte es ja selbst gesagt. Das Mädchen war die Enkelin einer mittelreichischen Baronieerbin. Älter als Alboran, dessen Stellung als Baronieerbe ansonsten nicht viel legitimer war als die des hübschen Mohamädchens hier.
Wie hatte Bishdarielon gesagt? Ich fürchte die Al´Anfaner, wenn sie Geschenke bringen. Da hatte er nur zu Recht. Gut möglich, dass dies alles hier so eine Art beiläufige Rache der Pestbeule war, an seinem Bruder, den „abtrünnigen“ Rabengardisten. Um sie beide wieder aufeinander zu hetzen, weniger im Streit um die eigenen Rechte als die ihrer Kinder… Oder war das alles hier nur eine gehässige, kleinliche Beleidigung, die Al´Anfa einem gestürzten Rabengardisten hinter her schleuderte: Seht her, dieser angebliche Edelmann hat sogar ein Balg mit diesen Tieren?
Etwas im Blick der Südländerin schien letztere Vermutung zu bestätigen: Stolz, gepaart mit Verachtung.
Die dunklen Augen blitzten.
„Schweigt mir von Häsindä…Sie ist äinä Göttin där Weitsicht… Man brauchd äuär ädläs Blut gar nicht auszurottän – das besorgt Ihr schon sälbst…Nach äuch wärdän ährlosä Nachkommän ainäs Bastards oder dunkelgesichtigä Mischlingskindär auf äuräm ach so vornähmän Thron sitzän – währänd Al´Anfa sein Blut immer noch rain erhält.“
Alrik grinste herablassend, zog ein Schwefelholz hervor, packte kurz entschlossen den Zauberstab der Magierin. Diese war einen Moment lang so perplex, dass sie darauf verzichtete, Widerstand zu leisten. Ratschend entzündete der Geweihte das Hölzchen an dem Opal, der den Stab zierte, und zündete sich seine Pfeife an.
„Euer Blut vielleicht, aber ganz gewiss nicht eure Seele.“ Er schüttelte bei den letzten Worten den Kopf und stieß den Stab verächtlich von sich. „Wenigstens ist die Farbe in Sylvanas Gesicht echt…“
Die bunte Maske, die das Antlitz Esteforias war, starrte ihn emotionslos an.
Einer der Söldner trat neben sie, die Hand am Schwertgriff. Der Mann mit nussbraunem Pferdeschwanz, Hakennase und Kinnbart war eindeutig ein Mittelreicher, er sprach mit Greifenfurter Dialekt. Auch seine Plattenrüstung war Garether Machart.
„Lass die Finger von Ihrer Exzellenz, und hüte deine freche Zunge, Barönchen. Sonst kenne ich eine Methode, die Fratze des Wudu-Balgs da weiß zu färben wie frischgefallener Schnee…Eine todsichere Methode. Und die Haut von Freunden dieser seelenlosen Wilden blutrot…“
Er verzog sein raues, von Narben duchzogenes Gesicht, als ihm Alrik eine Wolke Pfeifenqualm hineinblies.
„Und ich kenne eine Methode, deine Hackfresse so blau zu färben, bist du ausschaust wie diese hässliche Katze da drin in eurem pompösen Leichenwagen, Greifenfurz…“ Der Friedwanger deutete auf den Galgen. „Todsicher. Verzieh dich, in die Pestbeule, oder wohin der Aasgeruch deinen häßlichen Zinken führt, Rabenschnabel…“
Der Mann wollte wutentbrannt blankziehen, aber ein kurzer Befehl der Magierin hielt ihn davon ab.
„Dass ihr großän Jungän euch immär ätwas beweisän müsst…“ Esteforia hob den Finger, und die Qualmwolke stieg als kleiner, bläulicher Rabe in den Himmel. „Lass gut sain, Haimon, Ähränhändäl sind nicht Bästandtail deinäs Värtragäs.“ Esteforia verneigte sich knapp.
„Ich darf mich nun verabschiedän, Alrik von Friedwang und…“ Die Verbeugung wanderte zu Bishdarielon, der sich breitbeinig vor seine Tochter gestellt hatte. „Alrik von Friedwang där Zweite…Mogä die Hand Borons allezeit über Euch schwäbän…Gähab dich wohl, Sylvana…“
Mit theatralischer Geste warf sie den Umhang über ihre Schultern und herrschte den Mohasklaven an, einzusteigen. Der Greifenfurter blickte noch einmal mit Kampfhund-Miene zurück, dann stieg er wieder auf den Kutschbock. Die Kutsche rasselte los, die beiden Rabengardisten hinterher. Sie schienen ihre Umgebung unter den matt schwarz glänzenden Helmen gar nicht recht wahrzunehmen. Der eine rempelte mit seinem massigen Streitross einen unvorsichtigen Büttel beiseite, dann war die gespenstische Kavalkade auch schon aus ihrem Blickwinkel verschwunden.
Die beiden Brüder blieben ebenso wie Serwa zurück, ratlos.
Francesco schwieg düster. Er ahnte langsam, was dieser Aufzug zu bedeuten hatte. Haimon der Daimon - das war einer der Wächter auf Don Timotheos Plantage gewesen. Nun erkannte er den Greifenfurter wieder, seine Respektlosigkeit ihm gegenüber sprach Bände. Offenbar hatte Magistra Esteforia das Erbe des Sklavenhändlers angetreten. Dieser Besuch war natürlich ebenso wenig ein Zufall gewesen wie ihr Geschenk, und noch weniger war die Gutherzigkeit einer Al´Anfanerin der Grund.
Ake-Tscheya, die Mutter des Halbbluts, ist ebenfalls noch am Leben. Es wird der Tag kommen, da werden sie Bishdarielon, meinen Bruder, mit der Mohasklavin erpressen. Darüber kann es keinen Zweifel geben. Was der Rabe einmal in Krallen hält, das lässt er nicht mehr los.
Alrik drehte sich um, nahm die Pfeife aus dem Mund ging vor dem Kind in die Hocke. Er lächelte – ein Lächeln, das nach einem Moment erwidert wurde.
„Bist ja ein richtiger kleiner Sonnenschein. Wir sollten uns von diesem Spuk nicht den Tag verderben lassen. Wir haben mehr denn je Grund zum Feiern. Willkommen in Friedwang…Sylvana. In Friedwang und in der Freiheit.“
Einige Wochen später.
Bishdarielon glitt aus dem Sattel und schlang den Zügel des Rappen um einen krummen, herabgebrochenen Ast. Dann schritt er schweigend auf die Überreste der mächtigen Irminsumûl zu. Der von einem unheiligen Blitz gespaltetene Baumstumpf war bereits verwittert, morsch, hier von Pilzschwamm und Moos überwuchert, dort durch Würmer zernagt. Wenn die Tausendjährige Eiche wirklich ein Spiegelbild der Seele dieses Landes ist, dann steht es um dessen Seelenheil nicht zum Besten, dachte der Edle zu Senkenthal und Landamann von Oberfriedwang traurig.
Er stand hier vor einer bloßen Ruine, mehr nicht. Das einstmals bedeutendste und größte Heiligtum der friedwanger Sokramorier war zweigeteilt worden, wie die Baronie. Einige Seitentriebe, die hier und dort wieder sprießen wollten, waren im Dämonenwinter abgestorben. Ein durch und durch trostloser Anblick, auch und gerade weil man die einstige Ausdehnung des Ungetüms noch ahnte. Manche Wurzel, die hier und da noch aus dem Boden ragte, war breiter als die jungen Bäume der Umgebung. Dort, wo sie sich wie die seitlichen Stützstreben eines Tempels Richtung Stamm schwangen, konnte man sogar aufrecht hindurchgehen. Das Innere war hohl – und leer. Nicht einmal Tiere lagerten mehr dort, wo einst der Karnmann gehaust hatte…
Borongefälliges Schweigen lag über der Lichtung. Irgendwo in der Ferne schnarrte ein Specht. Ein einzelnes Eichhörnchen hangelte sich an einer benachbarten Buche nach oben, verschwand hinter dem Stamm, kehrte auf die Vorderseite zurück, starrte ihn – irgendwie vorwurfsvoll - an und war schließlich verschwunden.
Mit einem Rauschen kam Wind auf und bewegte die Bäume. Braungoldenes Licht drang durch das wogende grüne Meer der Blätter und Zweige. Spinnweben gleich, flatterte das Schratmoos im Wind. Der Schratenwald lebte sein Leben weiter wie bisher, nicht mehr ganz so erhaben, feenhaft verzaubert und verwunschen, von Sumus Kraft durchströmt wie einst, aber immerhin, ein herrlicher, schöner, alter Wald…Die Natur heilte bei weitem nicht alle ihre Wunden, aber glich doch vieles wieder aus.
Bishdarielon stutzte. Dort, zwischen mannshohem Wurm-Farn und Satuariensbüschen, stand er, der Hüter – und Namensgeber - dieses Landes. Fliretevarion, der Karnmann.
Der Friedwang rieb sich erstaunt die Augen. Das konnte nicht sein…Orchan Erttelgrimm war in der Schlacht von Markt Friedwang geblieben…Es gab keinen Karnmann mehr.
Dennoch stand er vor ihm, musterte ihn, raubierhaft und schweigend. Kräftige, leicht gebräunte, vom Frost eingefallene Wangen. Mandelaugen. Ein nivesischer Jäger…
Erstaunt trat Bisharielon einen Schritt näher. Sofort wich das feeische Geschöpf ihm aus, ging tiefer in den Wald hinein.
Der Krieger folgte, wühlte sich durchs Dickicht, das ihn, nicht feindselig, eher neckisch, kitzelte, kratzte, sich hie und da in seinem Mantel verhakte. Das Schratmoos strich ihm feucht durchs Gesicht. Er befreite sich aus der innigen Umarmung der Pflanzen und trat schließlich auf eine weitere kleine Lichtung, auf die ein mächtiger, bernsteinfarbener Lichtstrahl herabfiel wie im Solatrium des Marktfriedwanger Praiostempels.
Einen Moment lang hielt er ergriffen inne. Das Bäumchen, nein, der bereits mächtig herangewachsene Baum, eine junge Eiche, schien mit goldenen Blättern vor ihm zu stehen, übermannshoch, glitzernd und funkelnd wie ein kostbares Kleinod. Bishdarielon sank in die Knie, neigte sein Haupt. Die Zweige raschelten, flüsterten, sprachen zu ihm, Weisheiten, die keines Menschen Mund je geformt, keines Menschen Ohr gehört, geschweige denn verstanden hätte. Vögel zwitscherten ein munteres, vielstimmiges Lied, einen regelrechten Choral.
Die Prophezeiung von der Pfeilbuche fiel ihm ein. Dann wird der Karnmann vom gleichen Stamme wieder auferstehen. Karnmann und Irminsumûl aber waren eins. Das hier, die kleine Eiche, war ohne jeden Zweifel ein Sproß des alten Baumheiligtums. Ein „Kind“ der Irminsumûl.
Bishdarielon erhob sich. Einen Herzschlag lang, oder auch etwas länger, sah er im Gegenlicht die Silhouette des Karnmanns stehen, der ihn von der anderen Seite der Lichtung zu mustern schien.
Der Edle verneigte sich ehrerbietig. Als er wieder aufblickte, war die Erscheinung verschwunden.
Von neuem mit Mut, Kraft und Zuversicht erfüllt, wandte sich Bishdarielon um, kehrte zurück in den Wald und zur großen Lichtung, wo sein treues Pferd bereits schnaubend auf ihn wartete.
Hundert Jahre, dachte er, während er sich in den Sattel sprang. Hundert Götterläufe, vielleicht auch zweihundert, dann wird dieser Baum majestätisch aufragen und sich über den Schratenwald erheben wie die letzte, vergangene Irminsumûl. In dieser Zeit müssen wir sein Wachstum behüten und beschützen.
Wir, die Herren von Friedwang.
Er erstarrte, als er den Halbkreis aus Reitern sah. Gerüstete in schwarzen Harnischen, deren edelgraue Umhänge die Kruppen ihrer Pferde bedeckten. Die Tiere schnaubten und sahen im morastigen Urwald wie vorzeitliche Ungeheuer aus.
Golgariten… Junge, glatte, leicht schnöselige Gesichter, von der Wichtigkeit ihrer Mission, ihrer eigenen Reife und Erfahrung überzeugt. Die nächste Generation…
Sechs Männer und Frauen, eine Feder. Ihr Anführer, mit weißem Mantel, lenkte seinen Rappen einen stampfenden Schritt vor, neben Bishdarielon. Das schöne Tier mit weißer Schabracke schnaubte, warf den Kopf hoch und kaute an der Trense. Der Reiter versuchte es zu beruhigen.
Es war Khadilion. Der Garrensander. Der Friedwanger hätte ihn beinahe nicht wieder erkannt, ob der großen Narbe, die quer über sein Gesicht verlief.
Der Golgarit musterte ihn schweigend.
Nur das Atmen der Pferde und Klirren von Metall war zu hören.
„Du schuldest Boron noch einen Tod“, sagte schließlich eine junge Kriegerin hinter ihm.
„…und bei Kaiserin Rohaja stehst du auch noch in der Kreide“, nahm Khadilion den Satz auf. Er war älter geworden, seit dem Scharmützel von Marktfriedwang, sein kurzes Haar schütter und grau. Um Jahre älter, obwohl ihr gemeinsamer Ritt gegen die Warunker (im Wortsinn, sie hatten diesen bleichen Nekromanten zusammen in den Acker gestampft) gerade einmal einen Götterlauf her war.
Bishdarielon lächelte selbstgefällig, griff nach einem dünnen Geldbeutelchen an der Seite, löste es vom Gürtel und warf es seinem buchstäblich „alten“ Waffengefährten zu.
„Mehr habe ich nicht. Sag dem blonden Prinzesschen in Gareth, sie soll nicht alles für Spielzeug und Süßigkeiten ausgeben.“
„Immer noch der gleiche arrogante Hund wie früher.“ Khadilion wog die Börse, zog den rechten Mundwinkel nach unten und warf sie Bishdarielon zurück. „Du hast bei Ihrer Majestät andere Schulden als Geld. Kauf du dir von den paar Hellern besser Putzzeug für deine Stiefel…“
„Der Schratenwald ist schlammig…“ Bishdarielon lehnte sich im Sattel vor. „Hübscher Schmiss.“
Er zog die Narbe mit dem Finger im eigenen Gesicht nach.
Khadilion lachte freudlos. „Mein Schlag ging tiefer.“
„Was verschafft mir die Ehre eurer Gegenwart?“
„Komm mit uns, zum Orden…“
„Das geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Ich bin ausgetreten…“
„Davon ist mir nichts bekannt. Außerdem wäre es der Orden, der dich ausschließt, und niemand sonst. Aber der Bann wurde nicht verhängt... “
Khadilion grinste, freudlos und starr wie ein bleicher Schädel. „Du weißt: Der Eintritt in den Orden, die Weihe, das ist bereits der erste Tod. Danach gibt es nur noch den zweiten. Nein, du gehörst zu uns…Damit stehst du unter unserem Schutz. Auch wenn du früher ein golgariverfluchter Al´Anfaner warst. Boron strafe die Pestbeule…“
„Er strafe sie“, echote es dumpf aus den Mündern der übrigen Golgariten.
„Der Golgari-Orden. Ein Kelch voll saurem Essig für die Schwarze Perle“. Der Edelmann zog die fein geschwungenen Augenbrauen hoch und suchte zwischen den murmelnden Wipfeln das Sonnenlicht.
Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Gegenüber zu.
„So bin ich euer Gefangener?“
Ein kurzes, geringschätziges, abgehacktes Lachen. „Bis du jetzt etwa frei? Keine Angst. Wir werden dich nicht mitnehmen – deine eigene Schwinge, die musst du dir erst noch verdienen. Auch stehst du nicht unter dem Bann – noch nicht, wenn du dich reumütig zeigst. Nein. Man möchte dir Gelegenheit zur Bewährung geben. Du hast eine Horde frevlerischer Verräterhunde in die Niederhöllen geschickt, und warst auch am Ende dieser falschen Baronin beteiligt. Sehr gut, ein guter Anfang. Vergessen ist eine unsere Tugenden, aber vergeben, das kann nur Alveran. Du sollst eine heilige Aufgabe erfüllen…“
Er zog einen grauen Mantel hervor, warf ihn Bishdarielon zu. „Dein Mantel, Ordensknappe. Du wirst den Boronanger von Senkenthal behüten, vor schwarzmagischen Umtrieben und was dem Schlaf der Toten sonst noch alles zu stören vermag. Als Edler von und zu Senkenthal sollte dir das nicht schwer fallen.“
Bishdarielon wog den Wollstoff in Händen. „Und wenn ich mich weigern sollte, dem Orden weiterhin zu dienen? Wenn mir meine Baronie wichtiger sein sollte?“
„Wie gesagt, dein Gelübde war bereits der erste Tod. Du hast geschworen, zu vergessen, was dir in deinem früheren Leben wichtig war. Wichtiger war als Boron zu dienen. Den derischen Orden kannst du nurmehr durch die Pforte Uthar verlassen. Und dadurch wirst du in seinen Inneren Zirkel aufgenommen.“
„Verstehe. Woher wisst ihr überhaupt, dass ich hier bin?“
„Du fragst zuviel, Knappe des Golgari. Komm jetzt…Wir haben Befehl, dich nach Schloß Suunkdal zu geleiten. Dort werden wir gemeinsam beten, auf dass es dir diesmal gelingen möge, deiner Aufgabe und deinem Posten treu zu bleiben…Komm. Wir haben noch einige Meilen vor uns, und es ist bereits spät.“
Sie rahmten Bishdarielon ein, wie eine Gefangeneneskorte, wendeten ihre Pferde. Schicksalsergeben gab der Adelige seinem eigenen Reittier Schenkeldruck und folgte ihnen – was blieb ihm auch anderes übrig. Aus einem umbestimmten Gefühl heraus musterte er die Umgebung, ihm wurde aber mit der Hand auf der Schulter bedeutet, gerade aus zu blicken.
Nach einer Weile waren sie im undurchdringlichen Grün des Feybân verschwunden, wie von der Anderwelt verschluckt.
Die nicht mehr ganz junge, aber zeitlose schöne, blonde Frau trat wieder in das Schattennetz zurück, das die wogenden Äste und Zweige auf ihr blasses Gesicht legten.
Serwa seufzte. Was sie tat, grenzte an Verrat, an Bishdarielon, der ihr das Leben gerettet hatte. Vor allem widersprach es dem Willen ihres Gemahls.
War es Unrecht, den Erben zurück in den Orden des Golgari zu zwingen?
„Die Antworter lautet Nein“. Eine bucklige alte Frau mit grauem Haar trat hinter sie, einen Besen in der Hand und einen großen, schwarzen Raben mit klugen Augen auf der Schulter. „Er darf nicht frei sein in seinen Entscheidungen, nicht erneut nach der Baronswürde greifen.“
„Was ist, wenn der Orden ihm diese Stellung verschaffen will? Sancta Boronia ist schließlich nah, wie wir wissen. Bis zur Trollpforte, da reitet man nur einen Sonnenlauf.“
„Ach was. Friedwang wird kein Golgaritenland, da sei schon Hochwürden Nippert vor. Wir haben einen Bruderkrieg verhindert, das allein zählt. Alrik und Francesco. Der listige, zwielichtige, ehrlose, lebensdurstige Südländer und der kraftvolle, leicht für fremde Zwecke zu missbrauchende, selbstzerstörerische, edle Barbar aus dem Norden. Ungleich sind sie, von ihrem ersten Atemzug an, und sich doch zu ähnlich, um sich wirklich zu mögen. Im ewigen Hader und Zwist gefangen wie Iltapeth und Istapher, die Plagen des felsigen Nun´kun´tur, die sich einem fort bekriegen und zerfleischen.“
Ludwina berührte ihrer Schülerin beschwichtigend mit ihrer schwieligen, runzligen, von Altersflecken verunzierte Hand den Arm. „Du hast der Baronie einen großen Gefallen getan, mit deinem Gang an die Trollpforte. Es gibt in der Staatskunst nur wenig, was schlimmer ist als ein Verbrechen, und das ist Weichherzigkeit und Schwäche. Der wahre Erbe ist ein Zwölfler, ein Eiferer. Er darf nicht über Sokramorier herrschen. “ Die Tochter Satuarias streichelte das samtweiche, leicht bläulich glänzende Gefieder ihres Raben.
„Nicht wahr, Answin? So ist es doch. Du hast deine Aufgabe gut erfüllt, Traumbote. Dir einen saftigen Happen mehr als verdient. Manchmal glaube ich, du bist mächtiger, als selbst ich es weiß.“
Der Kopf des Raben ruckte bei diesen Worten hoch. Aufgeregt ruckte er mit den Flügeln, öffnete den kräftigen Schnabel, und blickte dabei in weite Fernen. Aber womöglich hatte er einfach nur eine Maus oder ein Eichhörnchen entdeckt.
„Ja, mein Hübscher. Du hast Alrik dazu gebracht, die Maske des Feqz im Waldensee zu versenken. Das hast du, bei Sumu, sehr schön gemacht, mein schwarzer Gesell…Er hat auf diese Weise dem See geopfert, und dem Großen Alten darin: Val-Dharon, dem Bewahrer der Geheimnisse. Wo die Nebel seines Gottes, den er nur als Phex kennt, seit Urzeiten wallen – eine Wesenheit, die mehr Masken und Geheimnisse hegt, als selbst seine Diener in ihren wildesten Träumen ahnen. Scheint so, als habe er den Weg zum alten Gott der Magie, der Sterne und des Schicksals gefunden. Vielleicht…ja, womöglich ein erster Schritt in die richtige Richtung für ihn. Auch wenn ich bei unseren heutigen Phexischen diesbezüglich wenig Hoffnung hege…Elende Glücksritter sind sie alle…Opportunisten…Dabei hat ihresgleichen Val-Dharons Hilfe nötiger als manch anderer.“ Das Gezeter der Alten ging in leises Gemurmel über. Sie strich sich über den mehrfach geflickten, buntscheckigen Rock, als wolle sie ihre Worte dort verreiben.
„Flickwerk ist gar nicht einmal so schlecht“, brabbelte sie in ihr faltiges Hutzelgesicht hinein, aus der eine große Hakennase mit Warze und einzelnen Haaren herausragte. Sie roch nach Schweiß, und nach Schlimmerem.
„Gar nicht einmal so schlecht…Es verdeckt, ist versteckt, gut ausgeheckt…verhüllt jetzt beflissen, was einstens zerrissen…Oh ja, bei Satuaria…“
Serwa lächelte und schwieg gutmütig. Sie lauschte den Urlauten des Waldes, dem sanften Flüstern und Knistern der Blätter oder dem gemütlichen Knarren, Ächzen der Eichen, das sie entfernt an ein Segelschiff aus ihrer Havenischen Heimat erinnerte. Sie atmete den Duft von Laub, Harz, Moos, Pilzen und Blumen. Goldenes Licht fiel hier und dort auf den feuchten Waldboden. Rötlichbraune Silhouetten von Rehen huschten in der Ferne vorbei. Der Wald war schön, gütig. Sie mochte ihn, auch wenn sie wusste, dass diese milde Stimmung nicht lange anhalten würde. Der Herbst, und damit der nächste Winter, war nicht mehr fern.
„So sind wir jetzt, am Ende, wieder an den Anfang zurückgekehrt?“, fragte die Baronin von Friedwang dann.
„Das Leben ist wie ein Rad“, krächzte die Alte. „Es kehrt immer wieder zu seinem Anfang zurück - und findet dabei doch ständig einen neuen Grund. Komm jetzt, Serwa. Auch wir haben noch eine gehörige Strecke Wegs vor uns.“
Epilog
Lautlos schritt Golo auf die geduckte Mühle zu. Bis auf das Plätschern des Baches war es totenstill, das Mühlrad verharrte. Die Tiere des Waldes hielten furchtsam den Atem an, selbst die Ranken und Äste schienen vor dem Sumuverfluchten zurückzuweichen. Über den Baumwipfeln lauerte blutigrot das Madamal, Rauch stieg aus dem Schornstein des Haupthauses auf. Im Stall stampfte das Vieh, am Waldrand glühten die gierigen Augen der Wölfe. Ein Käutzchen beäugte mit aufgeregtem Wippen die Szenerie.
Ein einsames Haus, nicht mitten in der Wildnis, aber entlegen genug für seine Zwecke.
Der Säugling schlief dank eines beiläufigen Zaubers tief und fest, wo selbst der Tapferste namenloses Grauen empfunden hätte. Corvad der Säger war dem Einen und Einzigen treu ergeben und würde dennoch nicht allzu viele Fragen stellen. Fragen, die eines Tages leicht von Häschern des Praios wiederholt werden konnten.
Hier war sein Erbe in nun, vielleicht nicht g u t e n, aber berufenen Händen. Bis zu dem Tag, an dem der Erzvampir zurückkehren würde, um den kleinen `Eberhard von Friedwang´ über seine Bestimmung aufzuklären. Eberhard. Ein irgendwie unwürdiger Name – aber Namen waren wie Schall und Rauch. Niemand wusste das besser als er.
Der Mann, der einst Merwan, außerdem Ilkôr Brasgar, Koriel Garbas, Arkhûn Dharbas, Ettel Honald und viele andere gewesen war, schlug den schwarzen Mantel zurück. Versonnen betrachtete er das zartrosafarbene Gesicht von Oleanas Söhnchen. Natürlich empfand er bei dem Anblick nichts, am allerwenigsten väterliche Gefühle. Nicht einmal Blutgier, dazu wallte in den Adern des Adelssprosses noch zu wenig Blut. Am ehesten verspürte der Diener des Namenlosen vielleicht Triumph – er hatte sein Ziel erreicht.
Die Beschwörung des Wurms. Selbst wenn das Ritual im Bergfried seiner einstigen Burg vollendet worden wäre, wenn der Gehörnte Schatzsucher Tod und Verderben über die Lande der Menschen gebracht hätte, wäre das alles nur Maskerade gewesen. Es ging bei diesem Spiel allein um den Isyaharinacheel, einen wahrhaft Auserwählten unter den Dienern des Ältesten der Äonen, geboren am Ersten der Namenlosen Tage. Außerdem um den Schutz und die Rettung des Kindleins vor den Streitern des Lichts. Tief in Ludwinas Enkel schlummerte sogar schon die magische Macht, das glaubte der einstige Druide zu spüren. Dass die leiblichen Eltern tot waren, nun, das erschien als verschmerzlich: Ihren Daseinszweck hatten sie zur Genüge erfüllt.
Der Vampir schlug gegen die grob gezimmerte Tür, einmal, dann dreimal schnell hintereinander: symbolisch für die Ziffern der heiligen Zahl seines Gottes. Ein Riegel wurde beiseite geschoben. Knarrend schwang die Tür auf, flackernder Kerzenschein drang ins Freie. Der einäugige, finster blickende Müller stutzte, denn er hatte ein anderes Gesicht erwartet. Golo nannte die geheimen Worte, und aus der unverhohlenen Abweisung wurde Furcht. Eine hübsche junge Frau hinter dem Einäugigen wollte wissen, wer so spät noch Einlaß begehrte. Dann fiel der entzückte Blick der Müllerin auf das Bündel in den Armen des Fremden. Sie sprachen leise miteinander, der späte Gast überreichte den Pflegeeltern einen gut gefüllten Beutel. Sie katzbuckelten, nahmen den Säugling unterwürfig und erfreut ob der übergroßen Ehre in Empfang.
Ohne sich umzudrehen, vollkommen lautlos, schritt Golo zurück in Richtung Wald, in dem nun Wölfe ihr schauriges Lied sangen. Seine Gestalt schien zu verschwimmen, wurde unscharf. Binnen weniger Augenblicke wurde sie vom Nebel und der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschluckt. Fledermäuse flatterten aufgeregt umher.
Der Gesang der Wölfe verebbte. Nach einer Weile herrschte wieder Stille.
Totenstille.
1 1 Rohalsches Lot = 10 Schritt.
2 Sharif: Tulamidya „Der Gerechte“. Von den Alhaniern übernommenes, friedwängisches Dialektwort, das einen barönlichen Kanzler, Vogt, Richter, Amtmann oder Ratgeber mit besonderen Vollmachten meint.
3 In Friedwang der von den Freibauern mehrer Dörfer gemeinsam gewählte Amtmann eines Gebiets – dem vor allem die Rechtsprechung und die Heerführung obliegt (bei Abwesenheit einer rechtmäßigen Herrschaft oder als barönliches Privileg).