Fest und Turnier auf Burg Gernatsborn

Fest und Turnier auf Burg Gernatsborn

 

 

Rommilyser Mark, im Praiosmond 1043 BF

 

"Ârmarsland. Halten zu Gnaden. Mein Name ist Ârmarsland. Nicht Armes Land"

Der Herold verneigte sich ehrerbietig, wobei er sein Chaperon ein wenig lüpfte. Die Augen des sorgfältig rasierten, blondschopfigen Mannes funkelten schalkhaft. "Auch wenn dies im Sichelhag oftmals auf das gleiche hinausläuft. Verzeiht." Ein übertriebenes Räuspern unterbrach die Rede des Boten.

"Aarmar der Riese war derjenige der Söhne Sokramors, der einst das Vorgebirge zwischen Gernat und Dergel gepflügt hat. Aus hohen Bergen wurden damals flache Hügel, so sagt man, und für die sterblichen Menschen eine Freistatt geschaffen, in der sie vor dem Zugriff des Riesen und seiner Brüder sicher sind. Seit dem Jahr 1035 sind viele diese Ländereien wieder im ehrwürdigen Trutzbund der Schwarzen Sichel vereint. Zumindest auf, dem, ähem, Pergament."

Der Herold tippte auf die Schriftrolle, die er gerade hervorgezogen hatte, und beförderte seine Sendelbinde wieder über die Schulter. Sein Amtsstab, den ein pflügender, dunkler Riese zierte, war rot und weiß gebändert. Der prachtvolle, mit Zaddeln verzierte Wappenrock zeigte einen schwarzen Berg mit weißem Himmel, an dem gerade eine zwölfstrahlige rote Sonne aufstieg (oder unterging?), jeweils flankiert von einem stehenden Greifen und Bären. "Ich bin auf schnellstem Wege hierher geeilt, um Euch die Einladung zum Turnier in der Baronie Schlotz zu überbringen. Anlässlich der Hochzeit des ehrsamen Adoptivsohnes des Barons von Friedwang mit der liebreizenden Erbin der Baronie Schlotz. Das Heroldsamt beim Turnier obliegt meiner Wenigkeit. Ebenso soll die Errichtung von Burg Gernatsborn gefeiert werden, durch das verbündete Haus Mersingen zu Gernatsborn. Eine doppelter Anlass zum Feiern. Nun, ich will ehrlich sein, ein klein wenig geht es bei der Zusammenlegung auch um die gute alte Wehrheimer Sparsamkeit. Die Zeit der Wirrnisse und Schlachten war lang."

Der Mann schien ein Herold jener Sorte zu sein, die zu flotten Sprüchen neigt, um ihr Publikum zu unterhalten. Der Blondschopf merkte, dass die Gewohnheit mit ihm durchgegangen war, und verneigte sich erneut. "Am Vergnügen soll natürlich nicht gegeizt werden, bei der Hochzeitsfeier." Etwas verlegen suchte Ârmarsland nach einem Platz, um seinen Stab abzulegen.

Dann glättete er den Tappert und entrollte schwungvoll das Pergament. Formvollendet hustete der Herold des Trutzbunds in die Armbeuge.

 

Höret, höret, höret!

 

Seit jeher ist der Traviamond die Zeit, in der sich die heiligen Wildgänse auf Geheiß der Himmlischen Mutter um ihre Herrin scharen, in die Gefilde des Praios ziehen und sich eine Bleibe für die grimme Zeit des Winters suchen. Gleich den Gänsen ist es dem Menschen aufgetragen, sich auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft zu verbinden, sei es nun im heiligen Traviabund oder zur Weihe einer wehrhaften Heimstatt

 

Ihre Hochgeboren Haldana von Schnayttach-Binsböckel, Baronin zu Schlotz und Seine Wohlgeboren, Alboran von Oppstein-Glimmerdieck, genannt von Friedwang, Junker zu Gießenborn, geben bekannt, dass sie am zwölften Tage des Traviamondes,  im 1043sten Götterlauf nach dem Falle Bosparans, dem Tag der Treue, auf Burg Schlotz den traviagefälligen Bund der Ehe schließen werden. Auf Wunsch des Brautpaares wird die Vermählung im trauten Kreis der Familie stattfinden, am Jahrtag der Erhebung Ihrer Erlaucht Swantje Rahjandrael von Rabenmund in den Markgrafenstand. 

 

Ab dem 14. Tag des Traviamondes werden ein Hochzeitsturnier und weitere Lustbarkeiten auf Burg Gernatsborn folgen - anlässlich der in den Schlotzer Landen seit jeher üblichen Flatterwoche. Zugleich werden Seine Wohlgeboren Storko von Gernatsborn-Mersingen, Wehrvogt der Rommilyser Mark und Landjunker zu Gernatsborn und seine Gemahlin, Ihre Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, Lehensvögtin von Meidenstein, Stadtvögtin zu Barken und Landjunkerin zu Gernatsborn, ihre neu errichtete Burg weihen.

 

Am Abend des 14ten Travia erlauben sich Frau Glyrana und Herr Storko die werten Gäste zu einem Eröffnungsball einzuladen. Vier Tag lang wird Fest und Turnier währen, mit Tjost für den Altadel mit mindestens 16 Schilden, Zweihänderkämpf für den Adel und  einem Wettschießen für jeden freien Firunsgesellen. Als würdigen Höhepunkt wird es ein Festbankett mit Burgeinweihung und einem Traviabundsball zu Ehren des Brautpaares geben. Als Siegespreis beim Tjost winkt eine kunstvolle Gestechrüstung aus der Werkstatt des Wehrheimer Meisters Bakshan Arvo. Turnierdank beim Schützen-Wettbewerb soll ein Alborandiner aus der Hundezucht des Friedwanger Traviaklosters Alveranskuppen sein, geeignet zum Suchen, Apportieren und dem Tragen von Lasten, nebst einem Fässchen Schratwaldener Schratenschlag. Der Sieger mit dem Zweihänder gewinnt einen edlen  Jagdfalken aus der Falknerei zu Edorlys in Gallys.

 

Dies Ladschreiben ward gegeben auf Burg Gernatsborn, am 12. Tag des Praiosmonds 1043 nach Bosparans Fall,

 

Im Namen aller guten Götter Alverans,

 

Siegel und Zeichen des Storko und der  Glyrana von Mersingen

 

Siegel und Zeichen der Haldana von Schlotz und des Alboran von Gießenborn

 

Ârmarsland rollte das Schriftstück wieder zusammen. "Die Gastgeber würden sich überaus geehrt fühlen, Euch in die Gästeliste und gleich noch ins Turnierbuch eintragen zu dürfen. Weitere Boten sind unterwegs, um einige der berühmtesten Ritter und Edelleute der Mark zur Gastung zu laden. Wie Euch. Meine Herrschaft bittet, bei den Lanzen auf die üblichen 300 Halbfinger Länge zu achten, der Waffengleichheit wegen, mit Krönlein an der Spitze, aus gut splitterndem Holz. Es mag nur ein kleines Turnier sein. Aber das Brautpaar und die Burgherren hoffen, dass es mit rondragefälliger Leidenschaft ausgetragen werden wird."



Vorbereitungen auf das Fest

Mitte Efferd 1043 BF auf Burg Gernatsborn

 

Storko von Gernatsborn-Mersingen freute sich, endlich auf seiner Burg ankommen zu können, stand doch das Fest und Turnier in weniger als drei Wochen an – und man wollte ihre neue Burg im vollen Glanz herzeigen. Der Gernatsborner war voll stolz und aus seiner Sicht wirklich weit gekommen. Seit mehreren Jahren Wehrvogt der Rommilyser Mark und nun auch Landjunker, in das mächtige Haus Mersingen mit einer klugen und schönen Frau eingeheiratet, vier gesunde Kinder und nun besaß er auch noch eine Burg, nach Burg Schlotz die zweitmächtigste im Schlotzer Land an strategisch wichtiger Stelle am Gernat. Viel mehr konnte sich der mittelmäßige Abgänger der Wehrheimer Kadettenanstalt kaum erträumen. Die Kupfergrube am Fuße des Hügels hatte seiner Familie einen kleinen Reichtum verschafft, wären da nicht die Kriege gewesen, die seine Geschwister gekostet hatte und ihn als letzten Erben seiner Linie übrig ließ. Er verstand zwar nicht, warum seine Gattin Glyrana von Mersingen nach den Überschwemmungen im Sommer die Grube nicht wieder instand setzen wollte, aber sie hatte eigene Pläne. Gut, das Kupfer war Geschichte, wenn auch die Burg noch von Kupfer strahlte. Für weitere Ambitionen überließ er ohnehin seiner Frau das Feld und unterstützte sie, war sie doch in höfischer Kunst und Diplomatie bewandert und hatte familiäre Kontakte in den Hochadel. 

Auch die letzten Vorbereitungen hatte seine Frau übernommen, war er doch zu wichtigen Amtsgeschäften aufgebrochen gewesen, da sowohl die Markgräfin als auch der Bannerherr nach Weiden zu einer Grafenhochzeit gereist waren. Sein Trupp ritt gerade die sanfte Westseite des Gernatsborner Hügels hinauf zur Burg. Hinter ihm Ritter Roderick von Oppstein und vier seiner berittenen sogenannten Pfahlgardisten, die unter dem Kürass ein Wams in den Farben Schwarz und Gold trugen – die Farben des Hauses Mersingen. 

Der recht schmale Weg, durchaus etwas steil, brachte sie zum Tor, das weit geöffnet war und selbst wieder von zwei seiner Gardisten bewacht wurde. Sodann kamen sie in den kleinen Hof hinter einer zinnenbewehrten Mauer, eigentlich eher als Torzwinger zu bezeichnen. Gleich kam der junge Page Ravenhart von Friedwang-Mersingen, zugleich sein Neffe, herbei. „Die Zwölfe zum Gruße, Rondra voran, junger Ravenhart!“ 

„Rondra zum Gruße, Onkel. Tante Glyrana ist ganz beschäftigt, es kommen so viele Gäste. Ich musste gar meine Kammer räumen, damit wir alle unterbringen können," erklärte das recht zart und gebrechlich wirkende, blasse Adelskind. Er noch gar nicht lange auf der Burg, doch kannte er schon die üblichen Gebräuche und brachte die Pferde mit einer Magd in die Stallungen.

Die steinernen Treppen zum Eingang im ersten Stock des Haupthauses waren fein gefegt worden, so machte er sich daran, diese nicht schmutzig zu machen und putzte sich zunächst die Reiterstiefeln ab, bevor er eintrat. In den engen, doch recht verwinkelten Gängen der Burg, an denen der Ausbau der Gemäuer über die Jahrhunderte erkenntlich war, konnte er seine geliebte Gemahlin zunächst nicht ausmachen, so zielte er ab, ein anderes wichtiges Verlangen zu stillen, denn an diesem späten Nachmittag roch es schon gut nach gegrilltem Fisch aus dem Wirtschaftstrakt.

Roderick und Storko hatten im großen Saal Platz genommen. Es roch zu gut, um Zeit zu verlieren, die Rüstung abzulegen. Der Wehrvogt strich sich durch seinen trotz Reise gepflegtem Vollbart und setzte sich am Ende der großen Tafel an einen großen hölzernen Stuhl mit Kupferbeschlägen, worauf er sein abgesetztes Barett mit Feder aufhing. Die halblangen brünetten, teilweise an den Schläfen bereits recht grauen, Kopfhaare verrieten, dass er nicht mehr viele Götterläufe hatte, bis er seinen Vierziger feiern konnte. Besser grau als kahl dachte er sich oft, wenn Roderick seinen Helm abnahm, so wie gerade. War der Ritter kaum jünger als er, so sah man immer kahler werdendes Deckhaar, im getragenen Pagenschnitt fast an einen Mönch der Praioskirche erinnernd. Roderick war von etwas gedrungener und sonst eher zurückhaltender Natur, aber seitdem er mit dem Entsatzheer bei der Befreiung von Rommilys mit Glyrana und ihrem Gefolge gefochten hatte, eine treue Ritterseele. 

Sogleich brachten zwei Bedienstete ein Tablett mit den gegrillten Gernatsforellen herbei, aus der eigenen Teichwirtschaft, sowie frisch gebackenes Brot und Meth aus dem benachbarten Gernatsquell. Als sie mit ihren großen Kupferbecher anstießen, hallte es im für die Burg verhältnismäßig großen Raum. Glyrana hatte sich beim Burgbau eingesetzt, hier einen Saal zu errichten, der sich über die zwei obersten Stockwerke im Westen des Baus der Burg spannt und im oberen Stock gar eine Balustrade aufweist. An der Seite des großen Tores des Saals führte eine Treppe hinauf und von dort aus direkt in die Gemächer des Wohntraktes. An der anderen Seite gen Westen waren große Fenster eingebaut, die nun gerade das Licht der bald untergehenden Praiosscheibe über den offenen Gernatsauen in den Raum warf und ihn Dank dem vielen Kupfer in rötlich goldenem Schein tauchte. Für die Abendstunden waren als Beleuchtung neben etlichen Kerzenständern, selbstverständlich aus Kupfer, zwei große hölzerne Kronleuchter mit dicken Kerzen montiert. Aufgrund der Bauform der Burg war der Saal nicht rechteckig, sondern trapezförmig, was ihn durch die breitere Seite dem Eingang gegenüberliegend größer erschien als er war. Hier sollten auch während dem Turnier die Festbankette und die Bälle abgehalten werden. Selbst eine kleine Bühne war errichtet worden. Nun für zwei Dutzend Gäste war an den drei Holztischen, die gerade zu einer etwa fünf Schritt langen und eineinhalb Schritt breiten Tafel gestellt war, wohl Platz und auch zum höfischen Tanz vermochte der Saal so viele Tänzerinnen und Tänzer fassen – doch so groß war die Burg auch nicht, sodass im Burghof wohl auch gefeiert werden musste und Tische mit Stühlen aufzustellen waren. Für vertrauliche Gespräche in kleinerem Rahmen gab es ohnehin noch eine vorgelagerte Terrasse an nordöstlicher Seite der Burg. Es erklang hell, als der Wehrvogt und sein Ritter nochmals anstießen und sich dann über das köstlich Mahl hermachten.

 

Mit forschen Schritten gingen die vier Frauen durch den Gang des Wohntraktes von Burg Gernatsborn. Schnell hielten die zwei Knechte inne, die gerade dabei waren die kunstvollen Kupferverkleidungen an den Türen zu polieren, um Glyrana von Mersingen uns ihrem Gefolge Platz zu machen. “Wo sollen wir alle hohen Gäste denn nur unterbringen?” schüttelte die Burgherrin sachte den Kopf, während sie ihre Arme auf die Hüften abstürzte. “Bei der jungen Göttin, es war schon ein guter Plan, die Burgeinweihung gleich mit der Flatterwoche der Schlotzer Baronin zu verbinden. Doch so ein Gästeaufgebot hätte Storko bereits bei der Planung der Burg berücksichtigen müssen.” Sie grinste leicht den anderen Frauen zu.  

Ohne eine Miene zu verziehen kommentierte die gestählte aber nun auch schon in die Jahre gekommene Ritterin Jadivge von Kressenbrück. “Ritter Roderick und ich sowie Gisla und Ravenhart werden in den Mannschaftsquartieren nächtigen, dann können auch unsere bescheidenen Kammern genutzt werden. Ich mache mir aber mehr um die Sicherheit der hohen Damen und Herren Sorgen, als um den Komfort. Besser sie kommen alle in den Kammern unter, und nicht im Zeltlager.” “Außerdem, wenn es regnet wie letzte Woche oder gar im Sommer, dann wird das Zeltlager ein Morast werden” ergänzte noch etwas altklug Knappin Gisla von Zweifelfels. 

“Sicherlich.” Die Mersingen führe weiter in Richtung einer Kammer an, die gerade für Gäste aufbereitet wurde. Die Fenster waren geöffnet und ein angenehmes spätsommerliches Lüftchen zog hindurch, das ihre langen schwarzen Haare zum flattern brachte, die sie heute offen trug. Der Blick aus dem Fenster gen Nordwesten erlaubte die Sicht auf die Gernatsauen, die zu dieser Jahreszeit in guter und feuchter offener Vegetation standen, und die Gernatsbeuge, wie man die Flussbeuge hier nannte. Denn der Gernat entsprang zwar im Gernatstal irgendwo östlich im Wutzenwald, bog dann jedoch an der Grenze von Schlotz zu Hallingen nach Südwesten Richtung Wehrheim ab. Das obere Gernatstal und die Gernatsauen waren seit Jahrhunderten besiedelt, der Fluss war die Lebensader der angrenzenden Güter und Dörfer. Hier an der Burg war der Gernat schon mehrere Schritt breit und an manchen Stellen fast zwei Schritt tief. Zwar war der ganze Fluss nicht schiffbar, auch da viele große Steine und Untiefen den Flussweg behinderten, aber ab Gernatsborn konnte von erfahrenen Frauen und Männern geflößt werden, sodass über diesen Weg Waren nach Wehrheim gelangen konnten. Und Gernatsborn war nun eine Burg. Nach fast zehnjähriger Bauzeit war sie diesen Frühsommer endlich fertig gestellt worden. Wie gut auch, dass sich Storko als Wehrvogt der Mark bei der Markgräfin einsetzen konnte, es im Jahr 1040 BF als Landjunkertum zu erheben, und so unterstützen auch märkische Bauarbeiter den Bau zuweilen. Die Stelle war auch für die ganze Mark von strategischer Relevanz, denn im oberen Gernatstal weiter Richtung Wutzenwald war der Fluss seicht genug, um ihn in den meisten Jahreszeiten an vielen Stellen durchwaten zu können – und Burg Gernatsborn bewachte den weiteren Weg ins Tal hinein. Dies war die einzige Passage, denn der Gernat versperrte jedem Feind den Weg bis nach Wehrheim in den Südwesten und sonst gab es auch keine Brücken. Im Osten verunmöglichte der tiefe Wutzenwald den Durchmarsch und selbst der Wutzenwalder Weg oder Wutzenstieg genannt, der an der Ostseite durch den Wald führt war nicht nur als Weg für einen Heerzug kein Spaziergang, sondern auch weil die mächtige Burg Schlotz das Vorankommen behinderte. Mit dem Landjunkertum wurde die märkische Verpflichtung, die Passage am Oberlauf des Gernats zu überwachen und im Falle von herannahenden Feinden einen Reiter zur Garnison nach Gallys zu entsenden, ausgesprochen. Um dieser Verpflichtung auch den notwendigen Ausdruck zu verleihen, hatten sie eine schwere Balliste angeschafft und am Bergfried montiert, welche von hier bis zu den Hängen der gegenüberliegenden Hügeln an der anderen Flussseite zielen konnte. 

“Wie ist nun der aktuelle Stand der Einladungen, Ismena?” Hofdame Ismena von Baernfarn – oder von Oppstein, wie Glyrana und sie es seit kurzem betonten – hatte bereits einen Papierbogen mit Unterlage ausgerollt, auf dem die Namen aller bisher zugesagten Gäste vermerkt waren. Die schlanke und gepflegte Frau, die nicht älter als Anfang zwanzig sein konnte, begann aufzuzählen. “Ich beginne mit dem Hochadel …” “Ja dem Hochadel sollten wir schon ein Kammer anbieten,” kommentierte Glyrana “ vielleicht zieht es ja der eine oder die andere vor doch in einem Zelt zu übernachten”, worauf alle bis auf Jadvige grinsten. “Gut also” setzte Ismena fort “wir haben da einmal das Brautpaar Baronin Haldana von Schnayttach-Binsböckel und Gemahl Alboran von Friedwang, der angeblich nach dem Traviabund auch ein ‘von Binsböckel’ sein soll”. Knappin Gisla nickte, „das Brautpaar braucht aber jedenfalls eine Kammer“. „Gewiss, im Namen von Travia, Tsa und Rahja – was wäre es für ein Segen, wenn sie den Schlotzer Erben auf unserer Burg zeugen würden“ fuhr die Burgherrin fort. „Aber dafür ist es, denke ich, schon zu spät“ murmelte sie noch etwas. „Sie sollen jedenfalls die beste freie Kammer bekommen“. Ismena schrieb auf ihrem Papier mit. „Der Vögtin und Baronsmutter müssen wir übrigens auch eine Kammer zuweisen, sonst wäre es unhöflich. Sie braucht keine große, ist sie doch Witwe.“ 

Glyrana strich über den Schemel, der vor ihr stand und kontrollierte, ob er auch abgestaubt war. „Ein Wermutstropfen ist, dass die Markgräfin selbst leider nicht zu Turnier und Fest kommen kann, aber wie konnte man wissen, dass genau zu dieser Zeit eine Grafenhochzeit in Weiden ansteht. Zumindest müssen wir für sie und ihr Gefolge keine Kammern bereit stellen. Aber wie sieht es sonst mit dem Hochadel aus?“

Die junge Frau fuhr fort. „Unter den bisherigen Zusagen haben wir aus der Mark selbst die Baronin zu Rosenbusch Oleana von Bregelsaum, die auch ihren Vater und Oberhaupt der Bregelsaums vertritt, der Baron zu Bröcklingen Answin d.J. von Rabenmund, als offizieller Vertreter des Hauses Rabenmund sowie Ugdalf von Binsböckel, Hofmarschall der Markgräfin und Junker von Binsböckel, als Vertreter der Mark und als Oberhaupt seiner Familie.“ Ismena schaute auf. „Ich habe ihnen bereits eine Kammer zugewiesen.“ Glyrana nickte. Ritterin Jadvige ergänzte dazu „Ich werde vor ihren Kammern Gardisten positionieren und die Kammern selbst noch inspizieren, es soll sich ja nicht ähnliches wie im Sommer wiederholen, die guten Götter bewahre!“

Die Hofdame fuhr fort. „Dann haben wir noch die Baronin zu Gallys Alrike von Baernfarn, die Baronin zu Mistelhausen Orina von Bregelsaum und Quergelsand, der Baron zu Friedwang Alrik von Friedwang, der auch der Brautvater ist, Wahnfried von Bregelsaum, Vogt der Baronie Ochsenweide, Basin von Richtwald, Vogt der Mark Rommilys, und dann kommt tatsächlich auch der Baron zu Oppstein Adran von Berlînghân-Oppstein-Mersingen.“ Ismana von Baernfarn und von Oppstein schaute zu Glyrana auf als sie den langen Namen des Oppsteiner Barons seltsam aufgezogen aufzählte.

„Dem Brautvater Alrik geben wir natürlich auch eine Kammer, vielleicht nicht die größte, und den anderen Baroninnen und den Vögten auch, aber …“ sowohl die Burgherrin als auch Ismena lächelten etwas „… dem guten Adran können wir wohl keine zuweisen. Lassen wir ihm ausrichten, dass der Platz auf unserer bescheidenen Burg leider nicht für den ganzen angereisten Hochadel reicht. Er wird sicher ein schönes Zelt aufschlagen können oder er kann im Gasthaus Gerbalsrast nächtigen, wenn ihm das Zelt zu unbequem ist.“ „Das wird ihm nicht sonderlich gefallen“ sprach die junge Frau, weiterhin mit einem Lächeln. 

„Genau“ Die Mersingen beugte sich nun etwas zum Fenster um hinaus zu sehen. Den Turnier- und Zeltplatz konnte man von hier nicht wirklich erkennen, war er doch am sanfteren Südhang aufgeschlagen. Hier ging es recht schroff hinab und der Fluss umspülte den nördlichen Hügel. Man sah jedoch gut den Kupferteich, in dem nun Fische gezüchtet anstatt das Metall abgebaut wurde und dann die Floßanlegestelle und die Seilfähre zum anderen Ufer in Richtung Hallingen. Jenseits der Baronie, jedoch nicht im Sichtfeld, war auch die Baronie und Burg Meidenstein mit der Stadt Barken an der Reichsstraße, in der Glyrana als Vögtin diente. Eine reiche Baronie am Rande der Mark nach Weiden, die nur teilweise unter den Kriegen leiden musste. Zumindest wurde die Handelsstadt Barken mehrfach besetzt. Von hier über Hallingen war es nicht mehr als eine Tagesreise nach Barken oder jedenfalls zwei nach Burg Meidenstein. In letzter Zeit hatte sie ihre Aufgaben ehrlich gesagt grob vernachlässigt, war sie doch mit den Geschehnissen und Vorbereitungen auf der neuen Burg beschäftigt. Tatsächlich hatte sie aber gemeinsam mit Ismena den Plan, ihre Bestrebungen nach Osten in den Sichelhag zu wenden. Glyranas Bemühungen mittels Verlobungen eines ihrer Kinder in Meidenstein im Hochadel Fuß zu fassen, waren gescheitert. Im Wehrheimer Land hatten die mächtigen Bregelsaums keine Interesse die Mersingen in ihrem Hinterhof zu akzeptieren, war das Meidensteiner Baronsgeschlecht schon lange Bregelsaumer Parteigänger. Im Sichelhag schien das etwas anders, war die Gegend doch abseits der großen Straßen und der Aufmerksamkeit und anstelle eines großen Adelshauses herrschten mehrere Geschlechter.

Jadvige kam ans Fenster heran, während ihr Kettenhemd klapperte. „Keine Sorge, dieses Zimmer ist sicher. Von hier aus kann sich niemand hinauf- oder abseilen. Viel zu hoch.“ Die Burgherrin beugte sich wieder ins Zimmer zurück. „Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Teile meiner Familie kommen“ fuhr Glyrana fort. „Ich will ihnen kein Zelt zumuten müssen. Syrenia meine Schwester und auch mein Schwager Bishdarielon von Suunkdal, zumal sie auch Erbvögte von Friedwang sind, möchte ich angemessen untergebracht wissen. Und dann sollen auch meine Eltern kommen, wie lange habe ich sie nicht mehr gesehen …“ seufzte sie etwas. „Ich weiß nicht genau wie mein Vater Gisborn von Mersingen und meine Mutter Orlande von Streitzig gerade zueinander stehen, vielleicht brauchen sie auch zwei unterschiedliche Kammern. Wir können für sie beide und auch für meine Schwester die Kinderzimmer räumen.“ Ismena nickte. „Wären es damit alle?“ fragte die Mersingen.

„Es kommt auch noch Hochadel aus Garetien und den Nordmarken mit Gefolge“ sprach Ismena, bevor sie die Namen vorlas. „Da haben wir einmal Selindra von Windenstein-Zweifelfels, Baronin zu Osenbrück in der Grafschaft Waldstein samt Gatte Darbrod von Zweifelfels und weiterem Gefolge.“ „Das ist meine Familie!“ Fast vorspringend vor Freude fuhr Gisla von Zweifelfels ihr ins Wort. „Und auch lange Freunde unserer Familie.“ Glyrana berührte ihre Knappin an der Schulter. „Sie haben uns geholfen als die Mark noch im Wilden lag. Sie sollen eine angemessene Kammer erhalten.“ Ismena notierte. „Jetzt wird es aber dann eng, denn dann haben wir noch aus den Nordmarken Vea Timerlain von Vairningen, Baronin von Vairningen aus der Landgrafschaft Gratenfels. Sie reist mit Rittern und Herold.“ Sie schaute wieder auf in die Runde. „In Travias Namen kann auch ich meine Kammer bereitstellen, um für die Gäste angemessenen Platz zu schaffen?“ Glyrana schüttelte den Kopf. „Nein, das sollst du nicht, du bist Baroness und sollst auch angemessen auftreten. Wir haben ja auch deine Verlobung anzukündigen. Da nächtige ich lieber mit allen Kindern gemeinsam im Bett.“ Ismena nickte zustimmend. „Das weitere Gefolge des Hochadels wird aber in Zelten unterkommen müssen, genauso wie die vielen weiteren Edlen und Ritter, die ihre Zusage bekannt gegeben haben.

„Tante Glyrana, Tante Glyrana!“ hallte es durch das Burggemäuer. Hastig rannte Ravenhart von Friedwang-Mersingen, ihr Neffe, die Treppen hinauf bis er schnaufend an der Tür der Kammer stand und ein Schreiben übergab. „Hier Tante … ein Brief … vom Onkel.“ „Welcher Onkel?“ war Glyrana überrascht. „Meinst du deinen Onkel, ähm Alrik?“ „Nein Tante, Onkel Merovahn, er schreibt aus Weidleth“ erklärte er sich. Glyrana übernahm das Schreiben und öffnete es. Tatsächlich, das Siegel des Mersinger Familienoberhaupts und nunmehr Pfalzgraf zu Weidleth, seitdem er 1040 BF ihrer Tante Yolande von Mersingen nachgefolgt war. Glyrana hatte lange keine Antwort auf ihre Einladung erhalten und sich auch keine großen Hoffnungen gemacht. „Beim unergründlichen Boron, tatsächlich mein Bruder kommt auch, mit Gefolge! Als Familienoberhaupt und Pfalzgraf müssen wir ihm die beste Kammer zuweisen…“ Einerseits mit Freunde, andererseits mit Sorge griff sich die Mersingen an den Kopf. Mit ihrem Bruder hatte sie kaum gerechnet, doch gerade ihm wollte sie auch zeigen, was sie hier aus eigenen Stücken aufgebaut hatte. 

 

 

Ankunft und Begrüßung der Turnierteilnehmer

Anfang Travia 1043 BF auf Burg Gernatsborn

 

"Na, wie war denn so eure erste gemeinsame Nacht ?"

Baron Alrik Tsalind von Friedwang stellte den matt schimmernden Froschmaulhelm auf das Bänkchen. Dann wischte er mit dem Ärmel seiner weinroten, pelzbesetzten Schaube darüber.

Das Putzen war eigentlich überflüssig. Der Stahl glänzte bereits im sanften Herbstlicht des Monats Travia, das von außen in den Zeltpavillon fiel. Schnell wischte der Freiherr noch ein (gar nicht vorhandenes) Stäubchen von einem der schwarzen Schröterhörner, die als Helmzier aufragten, und strich die rot-blaue Helmdecke zurecht. Die aufgesteckten aranischen Straußenfedern wirkten fast schon ein wenig geckenhaft und waren ebenfalls in den Schlotzer Wappentinkturen gefärbt.

"Unsere erste gemeinsame Nacht war nicht schlecht", feixte Alboran. Alrik Tsalinds Erstgeborener fühlte sich ein wenig ermüdet, aber überglücklich. Er lehnte sich in seinem fellgepolsterten Faltstuhl zurück und trank verdünnten Wein. Der schwarzgelockte Jüngling versuchte möglichst hartgesotten zu klingen. "Die Hochzeitsnacht hingegen... Naja..."

Der Gießenborner Junker und frischgebackene Baron zu Schlotz grinste schief und musterte seinen an einen Zeltpfahl gehängten Turnierschild, der die Schlotzer Axt zeigte. Die Rommilyser Gestechrüstung, die ihm sein Herr Papa spendiert hatte, war an einem "Goblin" aufgehängt und sicher einige schöne hundert Dukaten wert. Goblin, so nannte man zuhause in Friedwang einen Rüstungshalter, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht, weil der Ständer aus rötlichbraunem Holz an einen untersetzten Rotpelz erinnerte, der sich feige hinter dem Harnisch verkroch. Nun, Alboran selbst erinnerte der Ständer gerade an etwas anderes.

Dem Vater war der Stolz anzumerken, nicht nur über seinen Sohnemann. Seitdem er sich "Geheimer Markgräflicher Kammerherr" nannte und im Rommilyser Haus zum Bocken, dem Stadtpalais der Familie, residierte, schritt er recht vornehm daher. Die schulterlangen, grauschwarzen Locken waren fein onduliert, der Viertagebart gab dem "Streunerbaron" eine vornehme Eleganz, ebenso wie die schwarzsamtene Klappe über dem rechten Auge.

Der Fuchs von Friedwang setzte den Stechhelm auf die überschwere Plattenrüstung, trat einen Halbschritt zurück, prüfte den Anblick und korrigierte dann die Befestigung.

"Wer von euch beiden hat's verbockt?"

Dieser halb tadelnde, halb erheiterte Tonfall. Alboran schluckte.

"Was heißt verbockt? Ich bins einfach nicht gewohnt, zu dritt in einem Bett zu liegen. Wenn du verstehst, was ich meine..."

"Glaub mir, das bin ich auch nicht mehr gewohnt." Vater lachte derb und klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. "Hast dich wacker geschlagen. Bei der traviagefälligen Hochzeit, mein ich. Jetzt fängt endlich das rahjagefällige Vergnügen an."

Vor einem der Zeltpavillons war ein klägliches Quaken zu hören. Einer der Musikanten, die auf dem Fest aufspielen sollten, war gerade dabei, seinen Dudelsack zu stimmen.

"Hundsfott, hör auf, deine Sackpfeife und unsere Ohren zu foltern!" raunzte der Baron durch die Zeltöffnung nach draußen. Ein erneutes Lachen zeigte, dass Alrik die rauhen Worte selbst nicht ganz ernst nahm. Dennoch verstummte das Getröte sofort.

Alboran schwindelte leicht, was nicht nur am wässrigen Trollzacker lag. Vor einem Götterlauf war er noch der übel beleumundete Bastard gewesen, nun wurde er geradezu mit Ehren überhäuft. Kurz nach der Aventüre von Kurgasberg war ihm der heißersehnte Ritterschlag verliehen worden, auf der Knappenschule zu Rommilys. Dann hatte Haldana ihm mitgeteilt, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Sein Kind. Albo verzog das vornehm blasse Gesicht zu einer Grimasse des Glücks. Nun also der Traviabund zu Schlotz, der ihn zugleich zum Baron dieses Landes erhob. Alboran Raul Praiosin von Binsböckel, Baron zu Schlotz. Das klang gut, auch wenn der junge Adelige gerne den Familiennamen seines Vaters beibehalten hätte, der offiziell nur sein Adoptivvater war. Mutter Ismena von Oppstein und ihre unglückliche Ehe mit dem verschollenen Junker Golo von Gießenborn. Golo, das schiefhalsige Elfchen. 

Nun durfte sich Alboran Baron zu Schlotz nennen. Baron zu Schlotz...so also fühlte es sich an, ein geachtetes Mitglied des Hochadels zu sein. Das Turnier da draußen, es wurde ihm und Haldana zu Ehren abgehalten. Na gut, nicht gleich übertreiben, dachte er. Eigentlich ging es mehr um die Weihe von Burg Gernatsborn, die im Sommer fast schon wieder vom Sturm davongeweht worden war.

"Die Flatterwoche...gibt es diesen `alten Schlotzer Brauch´ wirklich?", fragte Alboran leichthin, stellte den Zinnbecher beiseite und wärmte seine Hände etwas am Feuerkorb.

Auch wenn der Traviatag sonnig war, kündigte sich im kalten Säuseln des Windes bereits der Winter an. Sie waren ziemlich spät dran, die Turniersaison war so gut wie beendet. Aber nun gut, sie hatten ja am Tag der Treue heiraten sollen, als Zeichen von Traviafurcht und Frömmigkeit. Aufgrund der besonderen Umstände. Haldanas Schwangerschaft ließ sich einfach nicht mehr verbergen, aber als junges Glück konnte man immer noch "mit den Gänsen schnattern". Hauptsache, das Kindlein würde ehelich zur Welt kommen.

"Die Sitte gibt es auch bei uns in Friedwang." Alrik nickte und trat fröstelnd ans Feuer. "Wie du weißt, haben ich und Serwa ebenfalls auswärts gefeiert, damals bei deinem Onkel in Oppstein. Nach unserer eigenen Hochzeit in Gießenborn. Und nein, es ging nicht ums Dukaten sparen, wie das Gemunkel behauptet. Naja, vielleicht schon ein wenig....aber nicht nur. Beim Bauernvolk nennt sich sowas Nachhochzeit. Man flattert bei Freunden oder Verwandten ins Haus, die beim eigentlichen Fest verhindert waren. Mit dem Besuch bringt man ihnen ein wenig von Travias Segen vorbei. Außerdem ein Stück von seinem eigenen Glück, natürlich. "

"Jetzt hörst Du dich schon an wie Haldana, mit ihrem Sichelhager Brauchtumsfimmel", sagte Alboran heiter und stand auf. Der Baronssohn merkte, dass er leicht schwankte. Vorsicht, ermahnte er sich. Es war ein bisschen früh, um sich zu betrinken. In den nächsten Tagen durfte er sich einfach keinen Fehltritt erlauben, in Praios Namen!  Musste den Neffen des verblichenen Rommilyser Stadtvogts Redenhardt von Oppstein ebenso herauskehren wie den des seligen Inquisitionsrates Parinor Rukus. Vor allem musste er die Schattenseiten seines Stammbaums vergessen lassen. Die friedwanger Seite der Ahnentafel, um genau zu sein.

Bislang war alles wie am Schnürchen gelaufen, selbst der Tanzabend. Den hatte er am meisten gefürchtet, fast mehr noch als einen Stotteranfall bei der Trauung. Zumindest war Alboran seiner Gemahlin kein einziges Mal auf die Zehen getreten, ganz anders als damals in der Knappenschule. Die Hochzeit selber war sehr würdevoll gewesen, die Augen seiner Schwiegermutter hatten feucht geglänzt. Der Moment, als die Traviageweihe das kostbare orangegoldene Band um ihrer beiden Hände geschlungen hatte, war wirklich ergreifend gewesen. Alboran rieb sich das Handgelenk, das von dem seidenen Tüchlein, durchwirkt mit Goldfäden, ein wenig eingeschnitten worden war, wie bei einer Fesselung.

"Ich, Haldana, gelobe dir, Alboran, die Treue zu halten, auf unserem gemeinsamen Weg. Für dich Sorge zu tragen, dich zu behüten und dir mein Herz zu schenken, in Travias Namen." Er selbst hatte den gleichen heiligen Schwur geleistet, zu seinem Erstaunen völlig fehlerfrei, als habe die Barmherzige Mutter seine Zunge gelenkt. Bei allen Zwölfen, er würde diesen Schwur halten, anders als seine Eltern. Das anschließende Festbankett hatte mit einer ausgiebigen Speisung der Armen und Verkrüppelten geendet, die sich im Burghof versammelt hatten.

"So langsam solltest du dich wieder mal sehen lassen", brummte der Friedwanger und schlug seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. "Ewig kannst Du dich nicht vor den Gratulanten verstecken. Oder vor deinen Pflichten als Ehemann." Alrik wies einladend auf den Ausgang. "Euer Hochgeboren?"

"Na gut, schau ich mal wieder nach meiner Angetrauten", sagte Alboran beschwingt. Der Frischverheiratete schlug die rot und blau gestreifte Zeltplane beiseite. Beinahe wäre er über eine der Spannleinen gestolpert. Stattdessen trat er nur den Hering tiefer in die feuchte Herbsterde. Auf den Gernatwiesen entstand gerade ein kleines Zeltdorf, zu Füßen von Burg Gernatsborn. Natürlich war er als Bräutigam oben im Palast untergebracht, ebenso wie seine nahen Verwandten. Dennoch hatte es sich Alrik nicht nehmen lassen, ein Zelt in der Mitte des "Städtleins aus Tuch" zu errichten, als Rastort für das Turnier. Mit Pflöcken waren die künftigen Gassen zwischen den Zeltreihen abgesteckt worden. Der Brandschutz wurde großgeschrieben, nach der Katastrophe im Sommer. Auf der Koppel grasten die ersten Pferde, daneben waren ein paar Karren abgestellt. Die Heu- oder Strohhaufen hatte man vorsichtshalber mit Planen abgedeckt. Irgendwo dort schwirrte gerade Haldana herum, emsig wie die Imme, die sie als Brosche trug, und begrüßte Neuankömmlinge. Sie war selbst eine flotte Biene...Alboran lächelte und genoss in der warmen Traviasonne erneut sein Glücksgefühl.

Das Zelt des Herolds stand ebenfalls schon, in der offenen Mitte des Lagers, unter der Fahne von Sancta Artema. Dort würde das Turniergericht tagen. Gleich daneben hatten die Marktfriedwanger Praiosgeweihten ihren überdachten Altar errichtet, quasi als Gegenstück zum umgrünten Tsaschrein beim Dorf am Fuße des Burghügels. Aus dem palastähnlichen Zelt quoll Weihrauch, gelegentlich waren Gurvanische Choräle zu hören. Um den güldenen und reinweißen "Zelttempel" scharte sich ein regelrechtes kleines Praiotenviertel. Über allem wehte das rote Tuch der Gemeinschaft des Lichts, mit dem Symbol des goldenen Sonnenauges. Wie es hieß, sollte mitsamt der Burg auch noch deren Kapelle eingeweiht werden, mit dem Heiligen Alboran von Baliho als Schutzpatron. Was ebenfalls schmeichelhaft war, wenn man den gleichen Namen trug.

Die Leibwachen von Erzpriester Falkwart Malachanias hatten auf dem Lagerplatz ein Feuerchen geschürt, und brieten ein Hühnchen. Bannstrahler waren das nicht, der verwegen wirkende Haufen nannte sich "Büßer". Vermutlich waren die Söldner genau das: Kleine Sünderlein, die durch ihren Waffendienst Abbitte leisten wollten, für irgendwelche Untaten. Alboran hatte das Gerücht gehört, dass sich darunter sogar eine rothaarige Thorwalsche befinden sollte, vor der man sich "in Acht nehmen sollte". Warum auch immer.

Neben der Turnierbahn mit der Tribüne für die Ehrengäste flatterten schon die Banner der Gastgeber, als da waren die Häuser Mersingen, Binsböckel und Friedwang. Am Waldrand wurden gerade die Strohscheiben für den Schützenwettbewerb aufgebaut und die ersten Pfeilschüsse abgegeben. Irgendwo muhte eine Kuh und erinnerte daran, dass man sich auf dem Land befand. Das verbliebene Laub der Bäume war bunt gefärbt, hie und da wehte ein Windstoß ein welkes Blatt vorbei.

Der Blick des jungen Schlotzer Barons fiel auf die Burg, die nördlich über ihnen auf dem Hügel thronte. Nun, sie war zwar schmuck, aber nicht die größte Burg. Auf der höchsten Stelle des Hügels war jedoch ein wuchtiger, mit nur wenigen Lichtschlitzen versehener Bergfried mit Buckelquaderverkleidung an der Gernatseite zu erblicken. Wir er bereits von seinem letzten Besuch wusste, hat man von dort aus einen guten Ausblick nach Westen und Norden über die Gernatsauen sowie südöstlich in das obere Gernatstal hinein und über den Wutzenwald bis nach Burg Schlotz. An den Bergfried war von zwei Seiten ein großzügiger, mehrstöckiger Wohn- und Wirtschaftsbau angebaut. 

Praios‘ Strahlen bahnten sich gerade durch ein paar Wolken am Himmel den Weg und er musste seine Augen zusammen kneifen, als die (noch strahlenden) kupfernen Dächer der Burg diese reflektierten. Auch wenn die Burg in ihrer Grundfläche eher als klein anzusehen war, wurde sie im Inneren großzügig, auch mit viel Kupferverkleidung, ausgestattet und bot nicht nur der Junkerfamilie, sondern auch edlen Gästen wie dem Brautpaar überraschend viel Platz. Er konnte sich auch an eine Terrasse mit einem Taubenschlag an der Flussseite erinnern, an dem sie im Sommer ein kleines Fest hatten. Einprägsamer war jedoch an diesem Abend das versuchte Attentat gewesen. Soweit Alboran wusste, waren diesmal an der Terrasse keine Festlichkeiten geplant. Auf der Westseite war auch ein kleiner Torwinger samt Stallungen und Unterkünften für Soldaten vorgelagert, was man kaum als „Burghof“ bezeichnen konnte.  

Das da drüben, der große Teich in Flussnähe, das musste die Kupfergrube gewesen sein, die erst im Praios durch ein Unwetter geflutet worden war. Ein wirklich schweres Unwetter, bei der Heiligen Lechmin von Weiseprein. Geraunt wurde von Hexenwerk oder einem Druidenfluch. Ob der beeindruckende Aufmarsch der friedwanger Praioten damit zusammen hing?

Dumpfes Hufgetrappel lenkte Alboran ab, von der Straße her. Erneut trabten Reiter herbei, unter wehenden Fahnen. Das musste Onkel Bishdarielon sein, Landmeister der Golgariten, Edler zu Senkenthal und Erbvogt zu Friedwang. Ja, der wehende weiße Mantel des Ordens, das schwarzglänzende Kettenhemd und der Waffenrock mit dem gebrochenen Rad, geschmückt von zwei Rabenschwingen, waren unverkennbar. Das herrliche schwarze Streitross war eindeutig Novadi. Zwei prachtvolle, nervöse Winhaller Wolfsjäger eilten vorneweg, als ginge es zu einer Treibjagd.

Neben dem Senkenthaler Edlen ritt Syrenia von Mersingen, Bischs Gemahlin, als Erbvögtin die eigentliche starke Frau der Baronie Friedwang, in fescher Reisegewandung. Die Schwester der Burgherrin Glyrana war wunderhübsch, fand Alboran, mit ihren schwarzen, glatten Haaren. Jeder Fingerbreit eine stolze Mersingen.

Es folgten fünf Hahnengardisten, mit Schallern, Gambesons und Wappenröcken, die den namensgebenden roten Praiosgrüßer vor silberner Sonne auf blauem Grund (und einer Art goldenen Misthaufen?) zeigten. Hinterher trotteten mehrere Packpferde. Die werte Verwandtschaft. Es sagte schon viel, dass sie auf eigene Faust angereist waren, von ihrer Wasserburg Suunkdal aus. Tante Gunelde und die übrigen friedwanger Honoratioren hatten ihren Baron persönlich bis kurz vor Schnayttach begleitet.

Bishdarielon zügelte sein Streitross, und hob die Hand.

"Boron zum Gruße. Bei meiner Seel´, da habe ich ja auf Anhieb den Richtigen erwischt. Alboran, mein Junge, lass dir gratulieren, zu deinem erlesenen Traviabund." Der Golgarit nickte dem jungen Adeligen zu, hochmütig wie eh und je.

"Wo ist Haldana, deine Gemahlin?"

"Vorhin hab ich sie noch gesehen...Im Zeltlager unterwegs."

"Blitz, Donner, herbei!" Der scharfe Befehl galt den Winhallern, die irgendeine streunende Katze entdeckt hatten. Sofort ließen die Jagdhunde von ihrer "Beute" ab und hechelten an die Seite des Edlen von Senkenthal. Natürlich, der musste wieder mal den befehlsgewohnten Aristokraten herauskehren, der sich als Erblehensvogt für den wahren Herren von Friedwang hielt. Bishdarielons herrische Miene ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Neffe für ihn ein ganz netter Junge, aber ansonsten nur ein reingeschmeckter Emporkömmling war.

Syrenia sah schon etwas warmherziger drein. "Die Zwölfe mit dir, Albo. Gut schaust du aus. Bist ein richtiger Edelmann geworden." Auch dieser leichte Seitenhieb entging dem Angesprochenen nicht.

"Tante Syrenia, Onkel Bishdarielon, willkommen auf Burg Gernatsborn. Leider nicht meine Burg, aber...die alte Sichelhager Sitte der Nachhochzeit, ihr versteht? Auch Flatterwoche genannt."

Bishdarielons stechender Blick zeigte, dass er "verstand". Im nächsten Augenblick entdeckte er Alrik Tsalind, der gerade sein Wasser ins Gebüsch abgeschlagen und ihm dabei den Allerwertesten zugewandt hatte. Der Baron von Friedwang drehte sich gemessen um, schnürte sich den Hosenlatz zu und schloss die Schaube wieder. Trotz seiner vornehmen Gewandung war er wieder ganz der alte Streunerbaron.

"Ah, Bisch, Bruderherz, schön dich zu sehen. Die Götter zum Gruße, Syri. Wie war die Reise? Ihr marschiert ja gleich mit einer ganzen Armee in Schlotz ein. Seid unbesorgt. Es sind nicht die Rabenmunds und Bregelsaums, die Hochzeit feiern."

"Die Wege sind nach wie vor unsicher" sagte Syrenia und klopfte auf ihren Dolch. "Außerdem, was da mit Glyra passiert ist, meiner Schwester. Dieses furchtbare Attentat...man kann gar nicht vorsichtig genug sein."

"Vor allem bei darpatischen Hochzeiten." Der Baron von Friedwang verschränkte die Arme.

"Alrik, wie immer zu schlechten Scherzen aufgelegt." Bishdarielon verzog den schönen Mund und beruhigte sein schnaubendes, stampfendes Ross mit einem Tätscheln auf die Flanke.

"Wir leben jetzt in der Rommilyser Mark, vergiss das nicht, Herr Gänseritter außer Dienst. Schade, dass die Markgräfin im Weidenschen weilt, statt ihrem streng geheimen Kammerherrn die Ehre zu erweisen. Wirst du eigentlich auch beim Turnier antreten?"

"Nein. Du?"

"Als Golgarit ist es mir versagt, meine Klinge zu etwas anderem als einem borongefälligen Zweikampf zu ziehen." Der Ritter legte die Hand auf Jasperion, sein treues Schwert, das gleich neben einem Rabenschnabel am Gürtel baumelte. "Nochmal Glückwunsch, Alboran. Wie sieht es eigentlich mit der standesgemäßen Unterbringung aus? Besonders groß kommt mir die Burg nicht vor. Wir haben vorsichtshalber ein paar Zelte dabei."

"Ich bin sicher, Storko hat ein passendes Plätzchen für Dich. Wenn du ihn nicht gleich wieder zum Duell forderst, Herr Ich-ziehe-mein-Schwert-nur-zum-borongefälligen-Zweikampf". Baron Alrik sah seinen Bruder herausfordernd an.

 

Haldana blickte über die Zeltstadt, die am Ufer des Gernat entstanden war. So viele Menschen waren auf Burg Gernatsborn sicher noch nie zuvor gewesen. Menschen, die von weit her gekommen waren, für das Turnier und für sie und Alboran, ihren Bräutigam.

So wie jetzt die junge Gisla von Zweifelfels, eine junge Garetierin mit hellblonden Haaren in halblangen Pagenschnitt und stechend blauen Augen, aus der Baronie Zweiflingen, die sie begrüßt und die besten Glückwünsche zu ihrer Hochzeit ausgesprochen hatte. Zweiflingen, das lag irgendwo im Waldsteiner Land, wenn sich Haldana da recht erinnerte, auch wenn die Garetierin schon eine Weile als Glyranas Pagin auf dem Gernatsborn lebte. Gisla konnte nicht viel jünger sein als sie selbst, vielleicht ein oder zwei Jahre. Haldana lächelte der jungen Aristokratin zu, sie fuhr sich mit der Hand über die geflochtenen Zöpfe, den aus ihrer Haarpracht an der rechten Kopfhälfte geflochten worden war, und den sie um ihren Kopf gewunden hatte. Der darin verflochtene Kranz aus Waldblumen saß gut, stellte Haldana beruhigt fest. 

Ständig hatte die junge Baronin die mahnenden Worte der Mutter im Sinn, auf ihr Äußeres zu achten und auf die Etikette und auf vieles mehr. Immerhin, ihre Mutter hatte nicht erneut Worte darüber verloren, dass sie bereits vor dem Traviaschwur der Herrin Rahja geopfert und Tsas Segen empfangen hatte. Mutter war beruhigt, seitdem sie und Alboran vor den Altar getreten waren und es ein eheliches Kind werden würde.

Ein paar Schweißtropfen traten auf Haldanas Stirn. Eigentlich würde sie sich am liebsten hinsetzen, ein wenig ausruhen. Aber Ausruhen, dazu würde sie heute kaum kommen, egal wie schlapp sie sich manchmal fühlte, jetzt, in ihrem Zustand, indem nicht nur aufmerksame Beobachter merkten, dass sie zugenommen hatte. Lange würde es nicht mehr verborgen bleiben, dass es auch für die nach ihr kommende Generation in Schlotz bald einen Thronfolger geben würde.

Freundlich reichten Haldana und die junge Zweifelfels sich die Hand. Diese Gisla schien sympathisch zu sein, dachte Haldana, wurde aber von Hufgetrappel aus ihren Gedanken gerissen. Zwei Reiter trabten heran.

„Haldana!“ rief der Jüngere der beiden, dessen Pferd an dem des älteren vorbei nach vorne trabte. Es war noch nicht ganz vor Haldana zum Stehen gekommen, als der junge Mann bereits absprang und auf die junge Baronin zu eilte!

„Travian!“ rief Haldana aus, ihren Bruder, obwohl sie ihn einige Jahre nicht gesehen hatte, gleich wieder erkennend. Mit einer kräftigen Umarmung drückte der junge Mann die Schwester an sich.

Alboran, ein wenig überrascht schauend, trat hinzu.

„Mein Bruder Travian“ erläuterte Haldana ihrem Bräutigam. „Travian, das ist Alboran. Dein Schwager. Seit vorgestern.“

Vorgestern. Gerade zwei Tage war es her, als sie und Alboran sich das Jawort gegeben haben.



Zwei Tage. Am Zwölften des Traviamondes. War das der große Tag gewesen, der Tag, von dem jedes kleine Mädchen träumte, und der für sie immer unvergesslich bleiben würde? Ja, Haldana war glücklich. Zugleich aber war sie auch besorgt von all dem, was sie nicht verstand, was sie immer noch verfolgte seit diesen schlimmen Tagen in der Gefangenschaft auf dem Darpatschiff “Flusshexe” und in der ewigen Finsternis in der Mine unter dem Kurgasberg. Vor allem aber war sie einfach nur erschöpft.

Haldana war lange vor Sonnenaufgang schon wach geworden. Der große Tag, ihr großer Tag, war da. Es war alles so schnell gegangen, so plötzlich, so ungeplant und kurzfristig. Es war keine vier Monate her, dass aus Alboran und ihr ein Paar geworden war. War das zu schnell? Hätten sie sich mehr Zeit lassen sollen? Nein, das wäre nicht möglich gewesen, nicht, nachdem Tsa sie gesegnet hatte. Und immerhin, sie kannte Alboran ja auch schon länger, mehrere Jahre schon, die sie gemeinsam auf der Knappenschule in Rommilys verbracht hatten. Mehrere Jahre, in denen Alboran bereits ihr Tanzpartner und auch ein verlässlicher, wenn auch sicher eigenwilliger Kamerad der Knappenschule gewesen war. Vielleicht hatte Sie keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ganz sicher nicht. Sie war einfach nur überrascht, überrumpelt und überrannt worden von all den Ereignissen in den vergangenen Götternamen.

Haldana war früh aus ihrem Federbett gekrochen. Es würde ein langer Tag werden, aber noch länger wach zu liegen würde auch keinen Sinn ergeben. Also stand sie auf, schöpfte eine Kelle Wasser aus der Schüssel und machte sich frisch, trank einen Schluck Milch aus der bereit stehenden Kanne.

Schritte. Haldana hörte Schritte im gemauerten Gang vor ihrer Kammer. Der Kammer, in der sie heute zum letzten Mal nächtigte. Mit der Hochzeit, so hatte Mutter verfügt, würden sie und ihr Bräutigam das große Schlafzimmer beziehen, in dem heute noch, ebenso zum letzten Mal, ihre Mutter schlief. So, wie es die Tradition erforderte und wie es erwartet wurde. Sie war jetzt die Baronin von Schlotz, jetzt endgültig kein Kind mehr, sondern die Frau, die hier die Verantwortung tragen musste und die sich nicht mehr hinter ihrer Mutter verstecken konnte. Da musste sie auch standes- und erwartungsgemäß residieren. Was hätte die Dienerschaft denken sollen, wenn ihre Baronin in ihrem Kinderzimmer residierte? Nein. Das hatte ihre Mutter ihr von klein auf beigebracht. Das Leben einer Baronin richtete sich nie nach den Wünschen einer Baronin, sondern nach den Erwartungen der ihr anvertrauten Menschen und den ihr aufgebürdeten Pflichten. Das Leben einer Baronin war in ein strenges Korsett eingebettet, in der es ein Privatleben erst nach Sonnenuntergang gab, sofern man von den Pflichten und Arbeiten nicht einfach nur müde ins Bett fiele.

Es war Rimhilde, die Magd. Ebenso eine Frühaufsteherin, so wie sie selbst. Rimhilde. Haldana hatte lange Zeit nicht viel von der Magd gehalten, die, wenn ihre Arbeitskraft gerade von der Herrschaft nicht gebraucht wurde, ständig mit den Knechten schäkerte. Aber sie hatte gelernt, dass Rimhilde trotz ihres traviaungefälligen Lebenswandels zuverlässig und tatkräftig war. Also nickte sie der Magd zu.

„Gehen wir es an, Herrin,“ begrüßte die Magd sie. „Ich mache Euch die Haare zurecht. Euer Kleid ist auch schon bereit, ich habe es bereits gestern geplättet und bin noch einmal alle Rüschen, Schleppen und Verzierungen durchgegangen.“

„Danke, Rimhilde“ antwortete Haldana. Sie war erleichtert, sich wenigstens darum nicht kümmern zu müssen. Sie setzte sich auf den Schemel in der Kammer, und Rimhilde griff nach der Bürste, um Haldanas nach dem Schlaf wirre und zerdrückte Haare zu bändigen.

„Schätze du bist froh, Rimhilde, dass du nur eine halbe Frisur kämmen musst“ wagte Haldana einen Scherz, angesichts ihrer kahl geschorenen linken Kopfhälfte.

„Nicht unbedingt, Herrin“ gab die Magd zur Antwort. „Ihr wärt viel schöner anzusehen, hättet ihr die Haare gänzlich belassen. Ihr solltet es lernen, Eure natürliche Schönheit einzusetzen, zu Eurem Vorteil. Ihr seid eine Frau, Ihr habt es nicht nötig, nur mit den Waffen der Männer zu kämpfen.“

„Was denn? Wie meinst du das? Soll ich mich mit den Knechten vergnügen, so wie du?“ antwortete Haldana, etwas überrascht von Rimhildes Worten.

„Auf gar keinen Fall, das versteht Ihr jetzt falsch, Herrin. Dergleichen dürftet ihr niemals tun. Was das betrifft, hat eine Magd viel mehr Freiheiten als eine Baronin. Glaubt mir, Herrin, ich bin froh, dass ich nur eine Magd bin. Als Magd muss ich nicht auf meinen Ruf achten. Ihr hingegen, Herrin, werdet vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang beobachtet und dürft Euch keine Schwäche erlauben. Aber das meinte ich nicht, Herrin. Alle Männer werden Euch Eure Wünsche leichter erfüllen, wenn Sie Euch begehren, Herrin. Ihr dürft dem Begehren nicht nachgeben, Herrin, aber ihr müsst begehrenswert sein. Das ist der feine Unterschied. Aber gut, ich will Euch eine attraktive Frisur richten, auch wenn es mit Eurer Haarpracht einfacher wäre, wäre sie denn vollständig.“

Einen Moment lang dachte Haldana, sie müsste die kesse Magd für ihre forschen Worte zurecht weisen. Aber bevor sie etwas sagen konnte, fuhr die Magd fort. „Herrin, ich berate Euch, weil ich das als meine Pflicht ansehe. Aber seid unbesorgt. Ich würde solche Worte nie wählen, wenn jemand zugegen wäre. Ich diene Euch, wie ich zuvor Eurer Mutter diente. Und noch mehr diene ich diesem Land selbst. Also seid unbesorgt. 

Eure Haare sind so lang, dass sie Euch, zu Zöpfen geflochten, einmal um den ganze Kopf herum reichen würden. Ich schlage vor, ich flechte Euch anderthalb Dutzend gleich lange Zöpfe, von denen ich je drei wieder zu einem größeren Zopf verbinde, so dass derer sechs entstehen. Je drei davon flechte ich Euch mitsonnen und gegensonnen um Euer Haupt, Herrin, so dass ein einer Krone oder einem Reif ähnlicher Haarschmuck entsteht. Eine Frisur, die fest sitzt und die auch nicht durcheinander gerät, tanztet Ihr oder würdet ihr sogar ausreiten oder einem Waidmann gleich durch den Wutzenwald pirschen. Eine Frisur, in die ich Euch Blumen flechten werde, und die somit ein feierliches und dem besonderen Anlass gerechte Erscheinung findet. Ich flechte Euch den Haarkranz tief genug, dass die Schlotzer Baronskrone gut darüber sitzt.“

„Gut, Rimhilde. Du hast ein Auge für solche Dinge. Dann machen wir das so.“

Es erwies sich, dass Rimhilde einen guten Vorschlag gemacht hatte. Tatsächlich war nur das Drittel eines Stundenmaßes vergangen, bis die Magd mit ihren geschickten Fingern Haldanas Haaren eine feste und festliche Form gegeben hatte. Geschickt setzte sie das rechte Maß Duftwasser ein, zupfte die Augenbrauen zurecht, trug dann ein natürliches Rot auf Haldanas Lippen auf, nicht zu viel, um keinesfalls an eine Rommilyser Patrizierin zu erinnern, sondern genau die rechte Menge, um sich zwar ausreichend von dem einfachen und ländlichen Umfeld abzuheben, das hier im Sichelvorland vorherrschte, zugleich aber sich vom städtischen und hier in der Region als dekadent eingeschätzten Lebensstil unterschied.

„Ihr solltet heute unbedingt wieder Eure Brosche mit der Biene tragen, Herrin“ äußerte die Magd. „Das unterstreicht Euren Stil und Eure persönliche Note. Und es würde auch ein unauffälliges Symbol aussenden, an alle, die vielleicht mehr den Alten Sitten anhängen als dem Glauben an die Zwölf, dass sie sich in Eurer Herrschaft einfinden können.“

„Was weißt du darüber?“ fragte Haldana überrascht nach.

„Nicht viel, Herrin, aber ich diente hier bereits unter Eurem Vater, dem Herrn Tsafried, und wir alle haben an seinem Schicksal erfahren, wie gefährlich es sein kann, das Alte nicht zu berücksichtigen. Es kostet Euch nichts, Herrin, es ist nur ein Schmuckstück in Form einer Biene. Aber es wird seinen Zweck erfüllen, glaubt es mir.“

Haldana verstand nicht alles, was die Magd andeutete, aber die Brosche, die Tante Valyria ihr vor vielen Jahren einmal geschenkt hatte, gefiel ihr. „Nagut, Rimhilde“ stimmte die Baronin zu. „Ohnehin ist Tante Valyria heute zu Gast, sie wird sich freuen, wenn ich sie trage. 

Rimhilde befestigte die Brosche aus tobrischem Bernstein, die von einem kunstvollen Handwerker in die Form einer Biene geschliffen worden war, an einer Kette aus Oppsteiner Silber. Sorgfältig legte die Magd ihrer Herrin die Kette um den Hals. Dann endlich griff die Magd zum bereit liegenden Hochzeitskleid. 

Ein Kleid, das sie vom Alten Baernfarn geschenkt bekommen hatte, vorab als Hochzeitsgeschenk, wie es alte Jäger ihr mit einem Lächeln versprochen hatte, mit den allerbesten Grüßen der angeheirateten Verwandtschaft ihrer Tante Valyria und der Baronin von Gallys. Ein Kleid aus dem Bausch, wie ihn nur Elfen fertigen. Haldana konnte nur annehmen, dass der alte Jäger die Hilfe seiner Gemahlin, einer Elfe mit Namen Jirka - Haldana hatte zwar öfters von der Gattin Odilons gehört, diese aber noch nie selbst zu Gesicht bekommen - in Anspruch genommen hatte, um ihr dieses wunderbare Geschenk zu machen. Ein Kleid, dessen Stoff an einem kühlen Herbsttag gut warm hielt, aber auch an einem warmen Sommertag luftig genug war, um nicht schwitzen zu müssen. Ein Kleid, genau das richtige für einen Tag im Travia, an dem es ebenso herbstlich kühl wie spätsommerlich warm sein konnte. Ein Kleid, das sich angenehm und weich auf der Haut anfühlte. Und ein Kleid, das sich mit seiner Schnürung in der Größe gut verstellen ließ, als hätte der alte Odilon es geahnt, dass Haldana genau das benötigte. Wusste er es denn? Gesagt hatte sie es ihm nicht, aber es schien ihr, als habe der alte Jäger ein waches Auge und bemerkte vieles von dem, was um ihn herum geschah, und das einem weniger aufmerksamen Beobachter sonst leicht entgangen wäre. 

Haldanas Gedanken schweiften ab. Sie machte die Bewegungen mit, zu denen Rimhilde sie führte, als diese ihr das Kleid anlegte. Ein Bauschkleid, das sie irgendwie an Nengarion, ihren verblichenen Großvater, erinnerte. Der war ja immerhin ein Halbelf und auch gelegentlich in Kleider aus Bausch gewandet gewesen. 

Haldana blickte an sich herab. Ihr gefiel das Kleid. Es war - irgendwie - einfach richtig geschnitten, wie sie fand. Hochgeschlossen genug, um nicht von ihrer Mutter verworfen zu werden, als auch dennoch nicht so hochgeschlossen, um steif und prüde zu wirken. Lang genug, um mit dem Saum knapp über dem Boden zu schweben und dennoch nicht zu lang, um ihre Bewegungsfreiheit nicht einzuschränken. Und es war mit aufgenähten Rüschen, Schnüren und Fältchen verziert genug, um einem Hochzeitskleid gemäß prächtig zu wirken, ohne dabei drückend oder prahlerisch zu wirken. Man merkte, fand Haldana, obwohl sie das eigentlich nicht wissen konnte, dem Kleid an, dass es von Elfen geschneidert war. 

“Das beste an diesem weißen Bausch ist” begann Rimhilde,  “dass es es sich leicht reinigen lässt. Diese Fasern aus Bausch nehmen Schmutz kaum auf. Also seid unbesorgt, Herrin, ihr werdet prächtig aussehen, in diesem Kleid, den ganzen Tag lang.” Die Magd hatte Haldanas zögern richtig interpretiert. 

“Wurde das Kleid wirklich von Elfen gemacht?” raunte Haldana, eigentlich gar nicht als Frage an Rimhilde gedacht, doch diese antwortete. “Ich weiß es nicht. Ihr müsst da schon den alten Baernfarn fragen. Aber es kann wohl sein, meine ich.” Die Magd - solange, wie Rimhilde schon im Dienst auf Burg Schlotz stand, müsste sie eigentlich älter aussehen, dachte Haldana - hielt der Baronin einen Handspiegel hin, damit diese sich fertig frisiert, geschminkt, gepudert und bekleidet ansehen konnte. 

Zuletzt setzte sich Haldana, um sich die Schuhe anzuziehen. Ihre Tanzschuhe, die sie schon auf der Knappenschule für die Tanzstunden und die gelegentlichen Festlichkeiten angezogen hatte. 




“Sieh an, die Familie ist glücklich vereint!”

Eine Haldana unbekannte Stimme riss die Baronin aus ihren Gedanken. Es war der Reiter, der mit ihrem Bruder Travian angekommen war. Der hochgewachsene, gut aussehende aber etwas in die Jahre gekommene Mann war abgestiegen. Mit lässiger Bewegung warf er Travian die Zügel zu. “Na, dann bring mal die Pferde weg, mein Junge!” 

Mit einer galanten Verbeugung nickte er Haldana zu. “Euer Hochgeboren, meine allerbesten Grüße und Glückwünsche zu Eurer Vermählung.” 

“Mein Lehrherr, seine Hochgeboren Adran von Oppstein” raunte Travian seiner Schwester zu, ehe er die beiden Pferde an den Zügeln fortführte und sich nach einem Platz auf der Koppel umsah. 

“Lasst Dir zeigen, wohin du die Pferde bringen kannst” bot Gisla dem Bruder der Baronin an. Travian nickte dankbar und folgte der Zweifelfelserin. 

“Angesichts Eurer Schönheit bedaure ich es, nicht selbst Euer Gemahl sein zu können” setzte Adran seine Begrüßung mit gestelzten Worten fort. Haldana war verunsichert. Vermutlich sollte das ein Kompliment sein, aber dergleichen schmeichelnde Worte war sie nicht gewöhnt. Sie errötete leicht, beschloss aber, die Worte als Kompliment zu nehmen und zu lächeln anstatt etwas zu erwidern. Obwohl Haldana sonst wortgewandt und schlagfertig sein konnte, wusste sie nicht so recht, was sie hätte antworten sollen. Bei jemand anderem als einem Edelmann hätte sie es eher als dreist empfunden, mit einer so direkten Schmeichelei angesprochen zu werden. Statt einer Antwort reichte sie dem Oppsteiner Baron die Hand, welcher diese mit einer tänzerisch anmutenden Bewegung griff und einen Handkuss andeutete. 

Haldana beschloss, dass der Oppsteiner sie mehr an einen Rommilyser Hofschranzen erinnerte denn an einen Baron der Sichellande, setzte aber ein Lächeln auf und ließ sich die Überraschung nicht weiter anmerken. Höflich nickte sie dem Gast zu. “Willkommen in der Baronie Schlotz, Hochgeboren!”

 

Die Gesandtschaften der Markgräfin und des Hauses Rabenmund treffen ein

Bescheidenheit war noch nie eine vorherrschende Eigenschaft bei Answin dem Jüngeren von Rabenmund gewesen. Der Baron von Bröcklingen vertrat bei diesem Turnier offiziell das Haus Rabenmund, eine Aufgabe, die er gern übernommen hatte und die alle auch erkennen sollten. Seine Kleidung war von ausgewählter Qualität und unterstrich seinen Stand und die Würde des ersten Hauses der Rommilyser Mark und auch sein Gefolge sollte das unterstreichen. Er war zweifelsohne der höchstrangige Gast des Turniers.

 

Die Aufgaben in der Heimat hatten ihm zudem den Traviabund seines Vetters mit der Gräfin von Bärwalde und die Feiern dazu in Weiden erspart, zu dem so viele der Familie mit der Markgräfin geritten waren. Er war von kaiserlichem Geblüt und stand weit höher in der Thronfolge als die ‚von Gareths‘ in Garetien oder dieser einfältige Halbhorasier Sigman mit seinem Traum vom Großfürstentum. Wohin das führen würde, war für ihn eindeutig. Schon der letzte Großfürst aus dem Hause Gareth war kläglich gescheitert, nachdem er einige Jahre sogar Kaiser gespielt hatte. Wie hatte sein Großvater ihm doch gesagt, ‚Warten, ich habe gelernt zu warten und mich vorzubereiten.‘

Auf Burg Rabenmund hatte er zuvor Ugdalf von Binsböckel, den Hofmarschall der Rommilyser Mark gebührend mit der Gesandtschaft aus Rommilys empfangen. Ingpolt, der Zweitgeborene des Oberhauptes der darpatischen Binsböckels, war sein Schwiegersohn und würde sie zum Turnier begleiten. Die Tochter des Bröcklinger Barons Edelmunde würde sich hingegen von der jüngsten Geburt erholen und auf Burg Rabenmund verweilen. Ingpolt von Binsböckel war ein begeisterter Tjoster und für seine draufgängerische Art bekannt. Answin hatte ihn schon einige Mal als ‚Kettenhund‘ entsandt, um für Ruhe in Bröcklingen zu sorgen. Eine Aufgabe, die er gerne erfüllte.

Gemeinsam ritten sie nun auf die Burg und das Zeltlager zu. Seine Bannerträgerin und ein Dienstritter Swantjes ritten mit den beiden Bannern voran. Hinter Answin und Ugdalf schlossen sich die adligen Begleiter an. Er war der Herr von Burg Rabenmund, was in alten Zeite noch mit dem Titel eines Burggrafen einherging, und die rausgeputzten 10 Rabenreiter unter seinem Burghauptmann unterstrichen dies. 

 

Ugdalf wurde nur von 4 der schwer gepanzerten märkischen Reiter und einigen wenigen Dienstleuten begleitet, darunter auch der Dienstritter am Hofe Swantjes Eberhelm von Binsböckel. Dahinter folgten drei Fuhrwerke, beladen mit Geschenken, Zelten und begleitet von den erforderlichen Mägden und Knechten. Beide würden jedoch ohne Frage auf der Burg Quartier nehmen, wie es sich für Personen ihres Standes oder Amtes geziemte. 

 

Das Haus Bregelsaum gibt sich Ehre

Aus Rosenbusch ritt die kleine offizielle Gesandtschaft des ehrwürdigen Hauses Bregelsaum heran, angeführt von der Baronin zu Rosenbusch und eingesetzten Erbin des Hauses, Oleana von Bregelsaum. Die Schwägerin der Markgräfin, die im kommenden Götterlauf ihren 30ten Tsatag feierte, wollte auch am Turnier teilnehmen. 

 

Mit ihr ritten die Baronin Mistelhausens, Orina von Bregelsaum und Quergelsand, und als dritter im Bunde Wahnfried von Bregelsaum, der Vogt von Ochsenweide und Gemahl der Kanzlerin der Rommilyser Mark. Letzterer wurde nur noch selten als ‚Der Gemahl der Blutnacht‘ bezeichnet, auch wenn ihn diese für immer gezeichnet hatte. Die Baronin von Rosenbusch war bekannt dafür, dass sie Bestrebungen der Diener Travias nach Kräften unterstützte, gegen die Alt Kulter vorzugehen und deren Herzen zu gewinnen. Zudem reiste sie oft für die Familie gen Rabenmark und Warunk, wo sie den Markgrafen unterstützte und oft auf den Sohn Orinas, Aigilmar traf, der zu dessen wichtigsten Beratern zählte, so dass sich die Hochgeborenen Damen angeregt über die Lage im Osten unterhielten. 

 

Begleitet wurden sie von der Lanze der Rosenbuscher Baronin und berittenen Waffenmägden und Knechten aus den beiden anderen Baronien. Den Abschluss bildete Packtiere und Fuhrwerke mit Essen, Trinken und den Zelten. Alle würden in diesen nächtigen. Standesgemäß für die hohen Herrschaften waren sie weit davon entfernt, schlicht genannt zu werden. 



Die Zweifelfelser kommen

Mit ernster Miene ritt Selindra von Windenstein-Zweifelfels der kleinen Reitergruppe voran. Die Baronin von Osenbrück aus der garetischen Grafschaft Waldstein war eine großgewachsene Frau mit imposanter Statur und langen, hellblonden Haaren. Ihre stechend eisblauen Augen wirkten auf ihre Gegenüber meist einschüchternd, was ihr die Beinamen 'die eisige Baronin' oder 'Firuns eisige Maid' eingebracht hatte. Selindra störte dies wenig, als harte aber gerechte Herrscherin lagen ihr die Ideale des grimmen Firun weit näher, also die der Herrin Rondra. So würde sie auf dem Turnier auch nicht an der Tjoste teilnehmen, sondern nur am Schwertkampf und Bogenschießen. Das Lanzenreiten, das überließ sie ihrem Turnier begeisterten Gemahl Darbrod.

Dieser ritt mit seinem Pferd an Selindra heran. Eine fast kindliche Vorfreunde auf das bevorstehende Turnier stand dem sonst so beherrschten Ritter ins Gesicht geschrieben. Der ebenfalls großgewachsene und breit gebaute Darbrod, trug seine langen, dunkelblonden Haare ungebändigt. Sein ausladenden Backenbart gab ihm beinahe etwas wölfisches und verdeckte nur leidlich eine Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. Der Gemahl von Baronin Selindra lebte einzig und allein für die Tjoste und den Schwertkampf. Das ritterliche Turnier war seine größte Leidenschaft; das sich mit Kontrahenten messen können seine größte Freude. Politische Ränke und höfisches Getue waren ihm zutiefst zuwider.

Hinter Selindra und Darbrod folgten Junkerin Finyara von Zweifelfels und ihr aus Weiden stammender Gemahl Ademar von Gugelforst. Beide dienten der Osenbrücker Baronin als Schwertarm. Finyara wirkte wie ein vollkommen gefertigtes Schwert von Meisterhand geschmiedet, gleichfalls schön wie tödlich. Ihre drahtige Figur, ihre streng nach hinten zu einem Zopf geflochtenen langen hellblonden Haare und ihr markantes Gesicht mit den hohen Wangenknochen strahlten eine Strenge aus, die ihre Gegenüber unwillkürlich Haltung annehmen ließt. Die Junkerin von Wegwarte war die engste Vertraute der Baronin und ihr vom Charakter nicht unähnlich. Finyara galt als äußerst diszipliniert und charakterstark, dabei wirkte sie zuweilen kühl und unnahbar. Hatte sie aber erstmal Vertrauen in jemanden gefasst, erlebte man sie als aufgeschlossen und mitfühlend.

Ademar hingegen trug sein Herz auf der Zunge. Er war treu, ehrlich, herzlich und gesellig, zudem frei von Arroganz und Standesdünkel. Das einzige was seine Frohnatur ein wenig trübte, war der Umstand, dass er nicht an der Tjoste teilnehmen konnte, da seine Familie nicht die erforderlichen 16 Schilde vorweisen konnte. Der Weidener war der Großneffe der verstorbenen Baronsgemahlin Walpurga von Gugelforst zu Osenbrück. Diese war es auch, die ihn zur ritterlichen Ausbildung nach Waldstein an den Hof ihres Gemahls holte. Lange Zeit bemühte sich Ademar um die Gunst Finyaras, doch zeigte ihm diese immer wieder die kalte Schulter. Sehr zum Verdruss von Ademars Großtante, hätte sie doch eine erneute Vermählung zwischen den Familien Gugelforst und Zweifelfels gerne gesehen. Erst als der Weidener Ritter den Wettstreit zu Ehren der Schwanentöchter zu Eibenhain gewann, erwies er sich in den Augen der kühlen Finyara als würdig und so gab sie seinem Werben schließlich nach.

Den Abschluss bildeten die beiden Knappen Rowan von Sturmfels und Frumir Leuwyn von Zweifelfels. Rowan galt als aufbrausend und temperamentvoll. Wenn es nach ihm ginge, würde er den ganzen Tag durch den verwunschenen Reichsforst streifen und Abenteuer erleben, wie vor wenigen Monden im Kressenforst, als er zusammen mit seiner Herrin und weiteren Adligen einen archaischen Speer bergen könnte und diesen gemeinsam Gräfin Allechandriel Quellentanz übergaben. Doch auch auf dieses Abenteuer der anderen Art freute er sich. Frumir hingegen war vom Wesen her eher ruhig und besonnen. Vorsichtig strich er sich über seine Brusttasche. Dort hatte er zwei Briefe gesteckt die für Gisla bestimmt waren - einen von ihrem Vater Leomir und einen von ihrem Bruder Gisborn. Sobald er die Möglichkeit hatte, würde er ihr die Briefe aushändigen.

 

Ankunft der Nordmärker

Blinkend und Blitzend, ganz wie es die Sturmherrin zur Ehre gereichte, kam der Trupp der Nordmärker auf Burg Gernatsborn an. Ihnen voran ritten zwei Ritter, Mann und Frau und sich derart ähnlich, dass es sich wohl um Geschwister handelte. Randolph und Darpatia von Vairningen waren in der Mark Rommilys aufgewachsen und hatten erst vor einiger Zeit Anschluss an ihre Familie gefunden, waren jedoch sogleich herzlich aufgenommen worden.  

 

In den gleichen Farben angetan. Einem weißen Wappenrock mit einem in Schwarz und Weiß gespaltenen Wappen auf der Brust, das in verkehrten Farben ein Bocksgehörn zeigte. Folgte eine etwas ältere, den Zwillingen jedoch ähnliche Frau und hielt ein Banner mit dem Wappen der Familie. Hinter ihr wiederum folgten zwei künftige Ritter, Maura vom Schwarzen Quell und Yalsin von Aimar-Gor, jeder von ihnen ebenfalls ein Banner haltend. Das ältere Mädchen hielt stolz das Banner der Mark Rommilys, während der Bursche das Wappen seines Herrn präsentierte. Sie beide waren in Grün angetan und auf ihren Wappen prangte ein in Schwarz und Silber geteilte, wobei oben zwei goldene gekreuzte Schwerter, unten in Grün vier Eicheln zu sehen waren. 

 

Nebeneinander folgten ihnen der neue Vogt der Mark Rommilys und seine Gemahlin, die anders als ihre Begleiter nicht im Ritterstand war und als einzige im Damensitz ritt. Diese beiden hielten für ihr noch geringes Alter viel Macht in ihren Händen, Einfluss der in weite Teile des Reiches reichte. Der Markvogt hatte kaum in seinem Amt damit begonnen Handelsverträge und andere Übereinkünfte mit dem Adel des Wehrheimer Lands zum Wiederaufbau der Region zu vereinbaren. Mit dem Bekanntwerden seines Besuches in Schlotz war auch schnell das Gerücht aufgekommen, dass er nun eventuell ähnliche Vereinbarungen mit dem Adel der Schwarzen Sichel zu schließen. 

 

Den Rücken der Gemeinschaft schützte ein erfahrener Ritter in den Farben des Markvogtes, wobei Wando von Richtwald das Amt des Waffenmeisters inne hatte. An seiner Seite ein junger Page, Hartuwal von Vairningen, einem Familienmitglied der Baronin aus dem fernen Windhag. 

 

Die Rabenmärker

Als letzte Gruppe der Turniergäste kam eine kleine Delegation aus der Baronie Tälerort in der Rabenmark, dem Rahja des Raulschen Reiches. 

Bescheiden, so war ihre Schar aus fünf Reitern am ehesten zu nennen. Vorweg ritt ein Bannerträger, der das Wappen des Hauses Galebfurten zeigte - auf goldenem Schild zwei springende zugewandte blaue Forellen über einem mit Wellenschnitt geteilten blauen Schildfuß. Darunter befanden sich zudem die Farben der Baronie- auf blauem Schild zwei einander zugewandte springende, silberne, golden bewehrte Hirsche über einem Schildfuß aus Silberhermelin. 

Dem Banner folgten Ilgar von Galebfurten, begleitet von seinem Weibe - Matissa von Bregelsaum. Doch dies zu erkennen war schwierig. Die beiden Edelleute hatten einfache, gewachste Überwürfe mit Kapuzen angelegt, um sich gegen eine wechselnde Witterung, aber auch dem Staub des Weges zu schützen,

Hinter den beiden Rabenmärkern ritten noch zwei Waffenknechte, die an den Sätteln ihrer Pferde jeweils einen einachsigen Pritschenwagen befestigt hatten, auf dem die Turnierausrüstung und die Zelte der Herrschaften transportiert wurden.

“Meinst du immer noch, es war eine gute Idee hierher zu kommen und Madalbirga in Tälerort allein zurückzulassen”, ergriff die Bregelsaumerin mit tiefer, kratziger Stimme das Wort. Zweifel schwang in ihrer Frage mit.

“Die Nähe zu Altzoll und unserem geliebten Markgrafen vermag uns eine gewisse Sicherheit zu verschaffen. Seit der Schlacht von Rotenzenn ist es zu keinen, größeren Auseinandersetzungen mehr gekommen. Die beständigen Patrouillen der Grenzreiter sorgen dafür, dass die Halunken und das ganze götterlose Pack in ihren Löchern bleiben. Außerdem, Wunnemar hat gut daran getan seine Mutter zur Vögtin zu bestellen. Sie kennt alles und jeden im Lande und kann förmlich riechen, wenn Ungemach droht. Sein Vater, der Große Schröter ja auch noch da.” Der Galebfurtener lachte. “Wo seine Kriegslanze ihr Ziel findet, herrscht Grabesruhe.”

Die Ritterin schnaubte abfällig über die so leichtfertig bis spöttisch gesprochenen Worte ihres Gatten, wusste aber, dass es seiner Art entsprach. Als Höfling,  Herold des Markgrafen und rechte Hand des Kanzlers der Rabenmark, hatte er die Wirren und Schrecken der vielen dunklen Jahre durchlebt. Dieser Humor war seine ‘Kompensation’, dafür hatte er sich seinen Frohsinn erhalten. Etwas was auf sie selbst nicht zutraf.

Ernst nickte Matissa. “Nun gut. Ich bin gespannt was die kommenden Tage bringen werden. Für den heutigen Tag würde ich mir ein Glas Wein wünschen, wenn wir endlich aus dem Sattel gekommen sind. Meine Kehle ist kratzig von dem ganzen Staub.”

“Und wieder einmal sprichst du meine Gedanken aus Teuerste”, entgegnete Ilgar amüsiert. Eine Regung, die der Bregelsaumerin ein erneutes Schnauben entlockte, diesmal jedoch musste sie dabei schmunzeln.

 

Eröffnungsball

Burg Gernatsborm am Abend des 14. Travias 1043 BF

 

Praios stand schon tief über dem Horizont. Die Gäste waren angereist, Zimmer und Zelte waren bezogen. Auf dem Burghof des Gernatsborn waren Fackeln, Lampions und Kerzen entzündet worden, die für eine helle Beleuchtung für das kommende Fest sorgen sollten. 

Hufeisenförmig waren die Tische für die Gäste um das Tanzparkett im Saal der Burg zusammengestellt. Den Tanzboden, der an der vierten Seite von einer Bühne eingerahmt war, auf dem sich die Musikanten befanden - oder vielmehr später befinden würden, denn vor dem Tanzball war erst noch für das leibliche Wohl der Gäste zu sorgen. 

Die Burgherren hatte für das Festmahl für erlesene Speisen gesorgt. Für jeden Gast hatte man auf seinem Platz - diese waren mit Namenskärtchen gekennzeichnet - einen Kupfertrichter Meth gefüllt bereit stellen lassen, damit auf das Brautpaar und auch auf die neu errichtete Burg angestoßen werden konnte. Gallyser Ogermeth, verstand sich, aus der traditionsreichen Metherey, die ihren Namen immer noch trug, auch wenn sie seit dem Jahr des Feuers auf dem benachbarten Gut Gernatsquell ihren Sitz hatte. Und auch Krüge standen bereit, um die Gäste je nach Geschmack mit Ogerbier oder Rappenfluher Weißem zu verköstigen. Burgherrin Glyrana ging noch einmal die Tische ab und prüfte, ob auch für jeden Gast das Trinkgefäß gut gefüllt war. Sie war zufrieden. Auch für Verdauungsschnäpschen oder Liköre wie Schlotzer Bärenfang war gesorgt. 

Ein halbes Dutzend Mastschweine hatte Burgherr Storko eigens für das Fest schlachten lassen, damit keinem der Gäste nicht genug angeboten werden würde, diese waren fein säuberlich aufgespießt und wurden von Knechten über offenem Feuer langsam gedreht, um von allen Seiten schön knusprig und gar zu werden. Die Mägde hatten mehrere Stunden lang Krummbirnen geschält, Gemüse geputzt und geschnitten. Dunkles, kräftiges Brot, frisch aufgebacken und aufgeschnitten, war in Körben auf den Tischen bereit gestellt. 

Glyrana ließ ihren Blick über die Tische und das Mahl gleiten. Es war alles rechtzeitig fertig geworden. Der Streß und die Arbeit, die in den letzten Tagen der Vorbereitung für das Fest das Leben auf der Burg geprägt hatten, schienen sich gelohnt zu haben. 

Die Musikanten zu engagieren, da hatte sie sich auf den Rat der jungen Baronin verlassen. Aus ihrer Knappenzeit in Rommilys kannte sie die dort auf höfischen Festen auftretenden Künstler gut, und die Mersingen wusste, dass die in der Musik bewanderte Baronin auch gut beurteilen konnte, welche Musiker die richtigen waren für einen Auftritt auf dem Gernatsborn. Ohnehin waren ja zumindest zwei Feste im Rahmen des Turniers im Burgsaal vorgesehen. Der Eröffnungsball, bei dem man sich eher am höfischen Tanz und Musik orientieren würde, und den Traviabundsball, bei dem auch regionale musikalische und tänzerische Traditionen ein wenig berücksichtigt werden sollten, und bei dem auch die Gäste die Möglichkeit haben würden, selbst etwas beizutragen. Haldana hatte jedenfalls ein Rommilyser Streichquartett empfohlen. Ein Quartett, das sie und Alboran von diversen Tanzbarkeiten und Festlichkeiten aus Rommilys kannten und von dem sie wussten, dass sie nicht nur ihr Instrument gut beherrschten, sondern auch genau erspürten, mit welchem Stück sie je nach Festgesellschaft am besten zur gehobenen Stimmung beitragen konnten. 

 

Auch die Knappin der Burg, Gisla von Zweifelfels, war erleichtert, war sie doch in die Vorbereitungen des Festes eingebunden gewesen. Als die Gäste eingetreten waren und jeder und jede noch einmal persönlich von den Burgherren begrüßt wurden, blieb sie nahe des Eingangstores zum Saal stehen, um die Szenerie zu beobachten. Ihr Tagewerk war getan, und so ergriff auch sie einen der kupfernen Trinkgefäße mit dem guten Honigwein - sie war ja kein junges Mädchen mehr. Bevor sie einen Schluck nahm, streckte sie sich noch ihre hellblonden Haarsträhnen ihrer lang gewachsenen Pagenfrisur nach hinten, die nun auch etwas verschwitzt waren. Sich für den Ball wie die anderen edlen Gäste hübsch zurecht zu machen, dafür hatte sie keine Zeit gehabt, weder war sie Teil Festgemeinschaft, und so war sie wie immer noch in einfacher Tunika gewandet und mit Kurzschwert gegürtet - man wusste ja nie, ob Gefahren lauerten, was ihr ihre Schwertmutter Jadvige von Kressenbrück und die Erfahrung der jungen Jahre gut gelehrt hatte.

Dicht gedrängt saßen die - zumeist - hochadeligen Gäste zusammen und begannen sich schon fast an den guten Speisen und Getränken zu laben, da erhoben sich die Gastgeber der Burg um noch einmal alle feierlich zu begrüßen. 

“Werte Gäste!” begann Storko von Gernatsborn-Mersingen zu sprechen “Es ist uns eine Ehre und Freude so viele distinguierte Gäste auf unserer neuen Mersinger Burg Gernatsborn begrüßen zu dürfen …” Gisla konzentrierte sich weniger auf seine Wort, sondern mehr auf die langen Federn, die vom Barrett des Wehrvogtes nach hinten hingen. Er hatte sich wohl recht besonders herausgeputzt und der Bart war auch frisch gestutzt und glänzte nach Bartöl im Licht der Luster. So hatte sie ihn bislang noch kaum gesehen. Meist kam er nach langen Inspektionsreisen durch die Mark wieder auf die Burg zurück und da zierte ihn viel mehr der Staub der Landstraßen. 

Zu seiner Linken waren die Kinder des Mersinger Paars nach Alter platziert, alle mit Pagenschnitt, bis auf den jüngsten der kurz geschorene Haare trug. Zuerst der fast zehnjährige Gisborn Hal, der bereits Page am Hofe zu Kaiserlich Hallingen war und mit Burghauptmann Reto von Nierenfeld angereist war. Dem kräftigen und auch wohlrundlichen Burschen, mit dunkelbraunem Haar und genau so braunen Augen, war anzumerken, dass er hier auch die Familie zu repräsentieren hatte, saß er fast verkrampft da und bemühte sich würdevoll auszusehen. Dann saßen zwei Mädchen, jeweils ein und zwei Jahre jünger als der ältere Bruder. Es waren die etwas rundliche Morgwyn mit dunklen Haaren, die mit ihren grünen Augen in einem stechenden Blick in die Menge sah, und Orlande, die mit ihrem schwarzen Haar und den schwarz-glänzenden Augen fast wie das jüngere Ebenbild der eigenen Mutter wirkte. Das vierte Kind war der kaum mehr als fünf Götterläufe alte und eher etwas schwächlich wirkende Hilderich, der sichtlich vom Federschmuck am Haupt des Vaters abgelenkt war. Zur rechten stand bereits seine Gattin, neben welcher auch die Edeldame Ismena von Bearnfarn-Oppstein im Zentrum Platz gefunden hatte.

In Storkos Rede folgten währenddessen Ausführungen über den Burgbau, die manch einen Gast langweilen mussten, wobei die Erhebung zum Landjunkertum und die strategisch wichtige Lage der Burg an der Passage über den Gernat nicht verschwiegen wurden. Erst danach wurde das Brautpaar der Schlotzer Barone als Ehrengäste hervorgehoben. Mit einem “Möge die Leuin uns Geschick beim Turnier verleihen, der Himmlische Richter uns den rechten Weg der Ehre und Tugend weisen und die Junge Göttin neue Freundschaften unter uns schließen!”  

Gisla nippte am süßen Saft, der ihr schon etwas in den Kopf stieg. Mittlerweile hatten auch fast unbemerkt die Musikanten die Bühne betreten. 

Dann übernahm Glyrana von Mersingen das Wort. Gab sie sich in letzter Zeit recht ritterlich in Gewandung und Wappnung, war sie nun am Ball in edle Festgewänder in den Wappenfarben des Hauses - Gold und Schwarz - gehüllt, wobei das Kleid ihre weibliche Gestalt nicht versteckte und auch ihre schwarzen lange Haare waren derart kunstvoll hochgesteckt, sodass ihr Dekoltee im guten Blick lag. Die Knappin wusste - bei den Mersingen oft üblich - von einem tiefsitzendem Boronglauben der Burgherrin, die sich aber in den letzten Jahren immer mehr auch Tsa zuwandte und ihr auch einen Schrein in Gernatsborn weihen ließ. Glyrana begann ruhig und besonnen zu sprechen, während die schwarz-glänzenden Augen in die Runde blickten. Gisla erahnte jedoch, dass ihre Herrin etwas nervös war, was sie gut zu überspielen vermochte. Sie hatte hier etwas herzuzeigen, denn der Großteil der engen Mersinger Familie war angereist. Während Gisla die Schwester Glyranas, Syrenia, die als Erbvögtin nach Friedwang eingeheiratet war, immer wieder zu Gesicht bekommen hatte, so hatte sie bisher weder Glyranas Eltern noch ihren Bruder Merovahn, der seit dem Ableben von Tante Yolande von Mersingen Pfalzgraf zu Weidleth und Oberhaupt des Mersinger Hauses war, gesehen. Auch Glyrana musste sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Vor über zehn Jahren heiratete die jüngste Tochter von Gisborn von Mersingen, Reichskanzleirat a.D. und nun Burgsass zu Burg Mersingen, und Orlande von Streitzig den Gernatsborner Junker hier an der Grenze der Wehrheimer Lande zum Sichelhag. Nun waren nicht nur die Lehen und Ämter, sondern auch die Familie gewachsen und eine Burg errichtet. 

Auf die Rede achtete die junge Frau währenddessen kaum. Es wurden alle wichtigen Gäste an der Tafel namentlich angeführt und die Burgherrin bedankte sich für das zahlreiche Kommen von Familie und Freunden aus den Nordmarken, Garetien und der Rabenmark. Mit einem “Auf dass wir dem neuen Schlotzer Traviaglück und der Weihung unser Burg Ehre erweisen, soll morgen das Turnier beginnen und neue Freundschaften und Bande unter uns im rondragefälligen Wettkampf geschlossen werden!” Dann erhob sie ihre Trinkschale, worauf alle Gäste ihr folgten. Im selben Moment begannen die Musikanten ein beschwingtes Lied aufzuspielen und das Festmahl war damit eröffnet.

 

Die Knappin ging hingegen in den kleinen Burghof, wo im Fackelschein nicht minder beschwingt gefeiert wurde.

Aus einer Ecke kam Frumir Leuwyn von Zweifelfels auf seine entfernte Verwandte Gisla zugelaufen. Beide kannten sich eigentlich nicht wirklich gut, lebte Gisla doch nun schon seit sieben Götterläufen fern der Waldsteiner Heimat. Frumir hingegen, hatte jedes Mal wenn er Waldstein mit seinem verwunschenen Forst verließ, unsägliches Heimweh – auch wenn er doch wusste, dass er bald wieder zurückkehren würde. Es war etwas besonderes was ihn mit dem uralten Forst verband, auch wenn er noch nicht erfassen konnte was es war. Unwohl fühlte er sich eher auf großen Adelsfestivitäten. Er zog die Stille des Waldes vor, die eigentlich auch keine Stille war.

"Gisla", grüßte Frumir mit zaghafter Stimme, "Hast du dich über die Briefe von deinem Vater und deinem Bruder gefreut?"

"Aber ja doch", antwortete die Angesprochene erfreut. "Es ist immer schön aus der Heimat zu hören, besonders von meinem Bruder. Seine Geschichten von unserer Elfengräfin und ihrem zauberhaften Hof, einfach unglaublich. Traumvisionen hat sie ihm geschickt, um ihn an den Elfenhof nach Silz zu rufen. Was er dort alles für Abenteuer erlebt."

"Ja, Gisborn erlebt viel, ich beneide ihn sehr dafür. Ich hoffe ich werde auch mal so ein Ritter wie er."

"Ganz bestimmt wirst du das, du bist ein Zweifelfels, genau wie Gisborn und wie ich." Gisla lächelte Frumir an. "Wir sind fürs Heldensein und Abenteuer geboren ... so wie unsere Ahnen auch."

"Da hast du wohl recht." Mit einem Nicken verabschiedete sich Frumir, sein Schwertvater wartete schon auf ihn.

 

Ein Tanz in Ehren sollst du nicht verwehren

Der in einem eleganten, dunkelgrauen Gehrock, schwarzen Hosen und polierten Spangenschuhen höfisch gekleidete Herold des Markgrafen der Rabenmark ließ es sich nicht nehmen seine Frau um einen Tanz zu bitten, als das Parkett schließlich vom Brautpaar für alle freigegeben wurde. 

Die Bregelsaumerin erhob sich schicksalsergeben, wenn auch mit wenig Elan und erkennbar fehlender Freude. Erst als sich ihr Gemahl, dem sehr wohl bewusst war, dass seine Frau keine geborene Tänzerin war, dazu hinreißen ließ ihr in einer mehr oder minder theatralischen Geste einen Handkuss zu geben und sie mit ‘meine Angebetete’ ansprach, um sie um den Tanz zu bitten- ja da wandelte sich die Miene Matissas. Und selbst wenn ihr Lächeln ein leicht spöttisches war und von einem sachten Kopfschütteln begleitet wurde, so wusste der Rabenmärker dennoch, dass er ‘gewonnen’ hatte.

Nachdem die gealterte Ritterin nun derart motiviert ihren Schwertgurt mit der obligatorischen Standeswaffe abgelegt hatte, führte Ilgar von Galebfurten seine Frau mit erhobenen, übereinander liegenden Händen bewusst langsam in Richtung Parkett, wo sich nun nach und nach weitere Paare einfanden.

Es ging bei einer solchen Festivität nicht nur um den Tanz, es ging auch darum gesehen zu werden. Der Rabenmärker hoffte auf einen angenehmen Abend, viele reizvolle Gesprächspartner und noch mehr interessante Neuigkeiten aus der Nachbarschaft.

Als kurz darauf ein neues Musikstück einsetzte, nahmen die beiden Rabenmärker den Takt auf und reihten sich entspreched in die Bewegungen der andere Paare ein.

Im Falle von Matissa und Ilgar war bald klar, dass er der geübtere Tänzer war. Matissa, wenn ihre Beinarbeit auch fehlerfrei war, wirkte etwas ‘steif’ im Oberkörper und ließ es schlicht ein wenig an Grazie missen. Das Mienenspiel der beiden spiegelte diesen Eindruck nur noch um so deutlicher wieder. Während der Galebfurtener sichtlich Spaß an Tanz und Musik hatte, wirkte das Lächeln der von ihm geführten Bregelsaumerin ein wenig aufgesetzt.



Ehrerbietung

Mit einem Knicks und einer Verbeugung bekundeten Ilgar von Galebfurten und sein Weib- Matissa von Bregelsaum ihre Ehrerbietung gegenüber dem Baron und der Baronin von Schlotz, als sie vom Haushofmeister vorgestellt und vor das Brautpaar vorgelassen wurden.

Der zweitgeborene Sohn der verstorbenen Baronin von Tälerort in der heutigen Rabenmark war groß und von sehniger Statur. Seine nussbraunen Haare, ebenso sein Vollbart waren gepflegt, seine hellbraunen Augen strahlten Ruhe und ein gesundes Maß an Souveränität aus. 

Angetan in einem edlen, dunkel-grauen Gehrock aus Samt, schwarzen Hosen und Spangenschuhen war jedermann klar, dass sich jener Mann am Hofe zu bewegen wusste.

Die Frau an seiner Seite, die Schwester des Barons von Zumbelweide- Hurdan von Bregelsaum, war einen Kopf kleiner und man sah ihr an, dass sie einige Götterläufe älter war als ihr Mann. 

Die Ritterin besaß ein eher hartes Äußeres. Ihren Zügen waren von den Jahre des Krieges im Osten des Reiches gezeichnet. Dennoch besaß sie eine gewisse, wilde Schönheit. 

Dem Ritterstand entsprechend trug die Edeldame aus hohem Haus kein Kleid, sondern einen Wappenrock in den Farben und mit dem Wappen Tälerorts, Reiterhose und hohe, geschnürte Stiefel, sowie das gegürtete Schwert. 

Sie war breitschultrig für eine Frau und besaß kräftige Beine, die darauf schließen ließen, dass sie den Sattel gewohnt war. Ihr Haar war lang und rabenschwarz, aber von grauen Strähnen durchwirkt. Ihre grünen Augen wirkten oft unstet, ja nervös. Was man eben auch auf die Jahre des Krieges zurückführen konnte.

“Hochgeborene Herrschaften. Ich überbringe Grüße des Markgrafen aus unserer Heimat.” Bewusst ließ Ilgar den Namen des alten Mersingers aus. Jeder wusste, wer gemeint war und da er nicht als offizieller Gesandter fungierte, wollte er nicht allzu förmlich klingen. Zudem war dem Herold des Markgrafen und rechte Hand des Kanzlers der Rabenmark klar, dass sein Herr nicht überall gut gelitten war.

“Außerdem lässt sich der Baron von Tälerort- Wunnemar von Galebfurten durch mich entschuldigen. Auch er entrichtet euch durch mich die besten Grüße und Glückwünsche”, fuhr Ilgar mit sicherer und angenehm weicher Stimme fort, die darauf schließen ließ, dass seine Zunge schärfer war als seine Klinge, auch wenn er Absolvent der Kriegerakadamie von Rommilys war. 

“Ich danke euch für die traviagefällige Gastfreundschaft auch im Namen meines Weibes.”

Galant hob der Rabenmärker kurz die linke Hand, auf der die seiner Frau ruhte und beide empfahlen sich mit Knicks und Verbeugung, wie sie vor das Brautpaar getreten waren. 

Der Förmlichkeit war entsprochen worden. Nun konnte man sich dem Bankett zuwenden.

 

Ein erster Tanz

Schon seit Wochen hatte Miranda auf die Feier hingefiebert. Nicht nur dass ihr großer Bruder seit einer Weile wieder in ihrer Gegenwart weilen würde: Nein! Erstmals durfte sie im Kreise der Familie an einer höfischen Veranstaltung teilnehmen. Auch wenn die Festivität im Wesentlichen im Rahmen des Hauses Mersingen blieb, so war es doch ihr erster Tanz auf echtem Parkett. Die junge, im Vergleich zu ihrem ‘großen’ Bruder recht großgewachsene Dame probierte schon die fünfundvierzigste Frisur - doch ihr welliges hellbraunes Haar wollte sich nicht zu ihrer Zufriedenheit bändigen lassen. Kein objektiver Betrachter hätte sich daran gestört, doch sollte es schließlich ihr großer Tag werden und da musste alles perfekt sein. Überperfekt.

Ihr Bruder, Lares von Mersingen, gemahnte sie wiederholt daran, dass nicht ihre, sondern die Hochzeit der hohen Herrschaften Haldana von Schlotz und Alboran von Gießenborn gefeiert würde. Doch die strengen Worte des Landritters und Junkers zu Rosenhain fielen nicht auf fruchtbaren Boden. Dementsprechend angespannt und aufgedreht war die fünfzehnjährige Jugendliche. Ihre herzigen Wangen glühten rot und kaum konnte sie sich auf ihrem Hosenboden halten, als die Musik einsetzte. Ihre Nervosität ließ sich sogar an flatternden Saum ihres nachtblauen Kleides ablesen, das züchtig, aber fließend ihren schmalen Körper umschmiegte. Ihr linker Samtschuh scharrte mit dem Takt über dem Boden. Als die Gäste auf das Parkett gebeten wurden, strahlten ihre hellgrünen, fast grauen, Augen wie die Sonne. Ihr Bruder Lares hatte versprochen, den ersten Tanz mit ihr gemeinsam zu tanzen - schicklich und zur Sicherheit seiner geliebten Schwester. Der nur ein Schritt siebenundsechzig messende Junker war ein versierter Tänzer, doch kannte er sich mit den lokalen Tänzen nicht aus. So war er erleichtert, als die Kammer einen Rhythmus wählte, der auch höfische Standardtänze zuließ. Schließlich wusste er, dass seine Schwester diese geübt hatte und angesichts ihres linken Fußes damit auch zurecht kam. Mit einem für den gestrengen jungen Mann typisch schiefen Lächeln erhob er sich und bot seiner Schwester die Hand zum Tanz an. Miranda hatte ihm ausgeredet, das besonders prunkvolle, blaue Samtwams zu tragen - ging doch das Gerücht, der junge Mersinger tendiere zu eher unpassender Kleiderwahl - weshalb Lares nun ganz in edles Schwarz mit goldenen und weißen Borten gekleidet war, was seine bleiche Haut und die wenigen übrigen schwarzen Haare unvorteilhaft betonte. Insgesamt hatte der Junker von Rosenhain kein großes Glück mit seinem Äußeren: Kaum mannshoch gewachsen hatte er von seinem Vater nur die eckigen, kantigen Gesichtszüge geerbt. Der breitschultrige Bau und die stattliche Gestalt des Altjunkers Ernbrecht waren an Lares vollends vorbeigegangen. Stattdessen wirkte er dürr und sehnig - was seiner asketischen Art entsprach. Während Lares Miranda auf das Tanzparkett führte, den Gastgebern und den weiteren Tänzerinnen und Tänzern die gebotene Ehrerbietung darbrachte, kauerte Ernbrecht von Mersingen an der Tafel und starrte auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne. Dass der Altjunker das Gut Rosenhain überhaupt verlassen hatte, war eine Sensation. Schon seit mehreren Götterläufen hatte man ihn fern der eigenen vier Wände nicht mehr gesehen. Zeitweise war im Dorf das Gerücht kursiert, Ernbrecht sei leise, nach Art des Hauses Mersingen, zu Boron gegangen. Doch er lebte. Noch.

Lares zürnte beim Anblick seines lethargischen Vaters. Er machte der Familie Schande. An einem Festtag rumzulümmeln und die Wand anzustarren, das war ein unfassbarer Faux-pas. Er hätte ihn nicht seiner Pflicht gemahnen sollen, sich bei allen Göttern endlich auch einmal um sein jüngstes Kind zu scheren. Nur mit Mühe konnte Lares den Zorn niederkämpfen; allein der glückliche Anblick seiner jüngeren Schwester konnte sein Gemüt kühlen. Diese genoss den Tanz, die Musik, die Feier, die Freude, den Ort fern der Heimat - ihr erstes Quäntchen Freiheit. Und nicht einmal der störrische linke Fuß konnte ihr den Tag verderben. 

 

***

 

Lares von Mersingen hatte seiner Schwester den - ihren - ersten Tanz versprochen und geschenkt. Auch wenn er nicht so aussah: Er war doch ein passabler Tänzer, der sich auf dem höfischen Parkett zu bewegen wusste. Wäre er wohl aufgeschmissen, wenn bäuerliche Tänze des Südkosch gefragt waren, so musste er sich auf den wenigen Bällen der Nordmarken und der Herzlande des Reiches nicht verstecken. Dennoch: Weit mehr als Lares genoss seine jüngere Schwester den Ballabend. Endlich - endlich! - durfte sie an den prächtigen Festen, den wundervollen Tänzen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die fünfzehnjährige Miranda war davon überzeugt, ein ganzes Leben und noch viel länger auf diesen Tag gewartet zu haben. Miranda kostete die neu gewonnene Freiheit bis zum Letzten aus. Zwar hatte sich die Lehrstunden mit dem teuren Garether Tanzlehrer ausgezahlt, was die Technik anging, doch ließ sich nicht übersehen, dass es der jungen Frau an Kondition fehlte. Schon nach dem ersten gemeinsamen Tanz mit ihrem Bruder standen ihr kleine Schweißtropfen auf der blassen Stirn und klebten ihr eine Locke der lockigen hellbraunen Haare ins Gesicht. Doch von Erschöpfung war nichts zu sehen. Mirandas goldgelbe Augen leuchteten und auf einen ersten Tanz mit ihrem Bruder folgte ein zweiter. Lares beäugte währenddessen die Tänzerinnen und Tänzer auf dem Parkett. Er beobachtete, wer seiner Schwester ein Leid zufügen und wem er die junge Dame für einen neuerlichen Tanz überlassen konnte, während er den Pflichten des Abends nachkam. Am Ende würde alles wieder auf seinen Schultern lasten - sein Vater war schließlich in seinem Zustand zu nichts zu gebrauchen.

 

Miranda lachte und drehte sich in den Armen ihres Bruders im Kreis. Immer mehr verfiel sie den Verlockungen der Lichter, der Farben und der Melodie. Wie ihr Tanzlehrer es ihr beigebracht hatte, gelang es ihr, den linken Fuß mitzuführen. Das mochte nicht ganz elegant wirken, doch wer nicht wusste, woran es lag, würde sie für schlicht etwas “steif in der Hüfte” halten. Dass das so gut gelang, darauf war sie zunehmend stolz. Als die Musik des zweiten Menuetts endete, verneigte sich Lares vor Miranda und lächelte: “Liebste Schwester, das waren zwei schöne Tänze. Ich werde nun dem Brautpaar und einigen anderen Anwesenden - so unter anderem unseren Großonkels - meine Aufwartung machen mü…” Doch Lares gelang es nicht, den Satz zu vollenden, da er jemanden in seinem Rücken spürte, nach dem er sich intuitiv umdrehte. Dem Junker gegenüber stand ein schlanker Mann in eng geschnittener, dunkelroter Schecke, der sogleich eine höfische Verbeugung zeigte. 

“Wohlgeboren von Mersingen… Eberhelm von Binsböckel, Dienstritter Ihrer Erlaucht, Swantje Rahjandraêl von Rabenmund. Ich grüße Euch”, stellte Lares’ Gegenüber etwas nervös fest.  “Das Licht des Höchsten leuchte Euch”, erwiderte er den Gruß.

Nachdem sich der Ritter wieder aufgerichtet hatte, bemerkte der Mersinger, dass sie beide eine ähnliche Statur und ähnliches Aussehen hatten - schlank, mit dunklen Haaren und auch Augen - und doch war der andere eine Handvoll Götterläufe älter. 

“Ich sah Euch mit der fröhlichen, jungen Dame tanzen”, Eberhelm verneigte sich ebenfalls in Richtung Miranda, “und hatte die Hoffnung, dass Ihr, Wohlgeboren, uns miteinander bekannt machen könntet. Ich würde die Hand Ihrer Wohlgeboren gerne ebenfalls für einen Tanz gewinnen.” Da Eberhelm der Name der Maid unbekannt war, mochte die von ihm gewählte Anrede natürlich ein Schuss ins Blaue sein, aber das war es ihm wert.

“So”, erwiderte der Mersinger knapp und musterte den etwas Älteren unverhohlen. “Ihr hofft auf eine Bekanntschaft, von Binsböckel?” Lares’ Gesichtszüge waren zunächst unergründlich, wenn nicht sogar ein wenig abweisend, doch schien sich der Jüngere um Contenance zu bemühen. Gleichzeitig bemerkte er, dass seine Schwester in seinem Rücken von einem Fuß auf den anderen wippte und neugierig, von Tatendrang strotzend, über seine Schulter lugte. Der Rosenhainer war drauf und dran sie zu ermahnen, doch entschied er sich stattdessen, sein Gespräch mit dem Rittersmann fortzusetzen. “Warum gedenkt Ihr, wäre es angetan, Euch der jungen Dame vorzustellen? Was wünscht Ihr Euch auf diesem Wege zu erzielen?”

Die Falte zwischen Eberhelms Augenbrauen vertiefte sich etwas angesichts der rüden und misstrauischen Frage, doch der Ritter besann sich auf seine höfische Ausbildung: “Nun, einen Tanz, Wohlgeboren. Meine Hoffnung ist ein Tanz - nicht mehr und nicht weniger, wenn Ihr geneigt seid meine Vorstellung vorzunehmen.” 

Die Betonung war nur leicht gewesen, konnte Lares aber nicht entgangen sein, worauf der Mersinger schmunzelte. Da hatte jemand gemerkt, dass er störte - und sich einer Bitte besonnen. Dementsprechend setzte Lares ein Lächeln auf, das Eberhelm zweifellos für ein Schiefes würde halten können ohne dass dies beabsichtigt war. Der junge Ritter hatte kein ebenmäßig-schönes Antlitz, sondern wirkte auf andere Menschen häufig durch sein drahtiges, dürres Äußeres besonders abweisend. 

“Verzeiht, natürlich! Ein Tanz, was denn sonst?” Lares machte einen gewandten Schritt zur Seite wie ihn ein Fechter machen würde, um eine Klinge an sich vorbeigleiten zu lassen und öffnete dadurch den Blick auf seine Schwester. Diese war zwischenzeitlich leicht errötet und hatte Löcher in den Rücken ihres großen Bruders gestarrt. Ihren wütenden Gesichtsausdruck konnte Eberhelm noch einen Augenblick sehen, doch wischte sie ihn ein Sekündchen zu spät aus ihrem Gesicht und schenkte dem Ritter einen formvollendeten Augenaufschlag. 

“Darf ich vorstellen, liebste Schwester, das ist Eberhelm von Binsböckel, ein Gefolgsmann unserer tapferen Frouwen Swantje. Wohlgeboren, das ist meine Schwester Miranda von Mersingen ä.H. zu Rosenhain”, sprach Lares quasi durchgehend zu seinem männlichen Gesprächspartner und beobachtete seine Reaktion ununterbrochen. 

Geschwister’, erkannte Eberhelm nun bei sich, brachte aber das Aussehen des Junkers keineswegs mit den katzenhaften Augen seiner Schwester überein. Immerhin war er geistesgegenwärtig genug, zu antworten: “Es ist mir eine Freude, Euch als weitgereisten Gast kennenzulernen, Junge Dame.” Die Worte waren mit fester Stimme geäußert und der Märker Ritter zeigte rechtzeitig auch eine tiefe Verbeugung vor der jungen Frau.

Miranda musste kichern. Der junge Mann erschien ihr nett und freundlich - darüber hinaus war er höflich, ganz im Gegensatz zu ihrem wie immer schroffen Bruder. Doch weitgereist war sie nun wirklich nicht. Naja, hierher. Aber das war’s auch schon. Lares im Gegensatz dazu hatte schon die größten Teile des Reiches besucht und kannte sich deshalb so viel besser in der Welt aus als sie. “Ich…”, wollte sie schon richtig stellen, nahm dann aber das Kompliment als solches und bat den jungen Mann, sich doch nicht so tief zu verbeugen. “So eine wichtige Dame bin ich doch nicht”, versuchte sie ihre Bedeutung zu relativieren. 

Lares dementgegen meinte: “Doch, doch, Schwesterherz. Hier bist du nicht nur deines Vaters wertvollster Schatz.” Der junge Mann zuckte mit den Achseln. “Aber gerade das soll dich nicht davon abhalten, den Herrn von Binsböckel über’s Parkett zu begleiten. Gebt auf meine Schwester Acht, werter Herr”, bat Lares und reichte ihm förmlich die Hand seiner Schwester zum Tanze. 

Eberhelm nahm die Hand der jungen Frau leicht in die Seine. ‘Fast noch ein Mädchen und so zerbrechlich wie Kitz’, überlegte er und bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung bei Lares für dessen Großzügigkeit, ehe er sich wieder Miranda zuwandte.

Die wusste gar nicht, wie ihr geschah. Endlich durfte sie auf einem echten Ball mit echten Menschen - nicht nur dem Tanzlehrer! - tanzen. Und dann auch noch mit einem netten jungen Ritter. 

Von all dem nahm der Vater der jungen Dame, Ernbrecht Travialieb von Mersingen, keine echte Notiz. Er starrte noch immer mit glasigen Augen auf einen undefinierbaren Punkt an der gegenüberliegenden Wand des Saales.

***

“Junge Dame?”, fragte Eberhelm behutsam. “Möchtet Ihr bereits den nächsten Tanz wahrnehmen oder noch aussetzen?” Der Binsböckel blickte Miranda aufmerksam an und war gespannt, wie sie sich entscheiden würde.

„Ja unbedingt!“, erwiderte sie und schien um mindestens einen Finger zu wachsen. Damit überragte sie ihren Bruder noch deutlicher als eh schon, der sorgenvoll die Lippen zusammenkniff. Sie sollte sich nur nicht übernehmen mit ihrem Bein.

“Also dann zum Tanz!”, gab der Märker zurück und führte die junge Frau zur Aufstellung. Gerade als Eberhelm Miranda elegant auf die Dielen unter die Tänzer geleitete, ließen die Spielleute eine erste Melodie erklingen und kündigten damit einen Beleidigten Ehemann an.

Offenbar entgingen dem Dienstritter der Markgräfin die sich daraus ergebenden Implikationen bezüglich Lares’ penetranter Nachfragen oder er überging die Bedeutung des als traviagefällig geltenden Tanzes, den nun auch der Tanzmeister ankündigte.

Lares musste schmunzeln. Na wenigstens eine traviagefällige Weise und nichts romantisch-rahjagefälliges. Dennoch beobachtete er die beiden Tänzer genau. Miranda dagegen bemerkte von alledem nichts, sondern freute sich, dass sie zum wohlbekannten Lied würde tanzen können. Sie war zwar fachmännisch geschult, doch nicht in der Praxis geübt, weshalb die Führung eines guten Tänzers ausschlaggebend war. 

Eberhelm schien diese Talente aufzuweisen, jedenfalls gelang ihm die Balance zwischen sanftem Druck und eleganter Leichtigkeit. Miranda lächelte und versuchte nach Kräften, sich züchtigerweise nicht anmerken zu lassen, wie viel Spaß sie hatte. Nur ein kleiner Stolperer über ihr störrisches linkes Bein trübten ihre Freude.

Der deutlich ältere Ritter war dankbar, dass die Liebliche wie auch Travia hier offenbar glücklich zusammenwirkten und der jungen Dame Freude bescherten. Nichts war so demütigend wie der misslungener Tanz einer Debütantin und das wollte er Miranda gerne ersparen. Da der Tanz recht lebendig war und eine Unterhaltung verhindert hatte, versuchte Eberhelm erst nach dem abschließenden Ehrengruß gegenüber seiner Dame in ein Gespräch zu finden. 

“Ihr tanzt sehr gut, Junge Dame. Insbesondere da ich wohl annehme, dass Ihr Euch den Fuß verstaucht habt… Möchtet Ihr den nächsten Tanz ebenfalls noch wahrnehmen? Dürft Ihr?”

Einen Augenblick verfinsterte sich Mirandas Gesicht - war Eberhelm ihr etwa auf den Fuß gestiegen? „Ich ähm…das muss mein Bruder entscheiden.“ Sie wandte sich zu Lares um, der die Frage schon erahnt hatte und nickte. Dieser Ritter ging adäquat mit seiner Schwester um - was für Einwendungen sollte er gegen einen weiteren Tanz schon haben? 

„Dann würde ich Eure Zeit gerne noch einmal in Anspruch nehmen.“ Zum Beweis, dass ihr Fuß keine Schwierigkeiten machte, hopste die junge Dame spielerisch auf der Stelle. „Seht Ihr, wenn es nach mir geht, dürften die Musikanten sofort weiterspielen.“

“Also dann, Junge Dame! Es ist mir auch weiterhin eine Freude Euch zu geleiten!” Wieder bot Eberhelm ihr die Hand und fand es erfrischend, dass die Junkerstochter Lebensfreude versprühte und sich nicht in gestelztem Getue erging - offenbar fehlte ihr noch die höfische Prägung, die ihn selbst nach Jahren auf dem Hohenstein und in Rommilys mitunter anecken ließ.

Die Musikanten hatten die zwei Tänzer und den kleinen Ritter entdeckt, der offensichtlich wie ein Wachhund die beiden beobachtete. Der Spielmann beschloss, sich einen Spaß mit den hohen Herrschaften zu erlauben. Er zupfte grinsend die ersten Saiten seiner Laute und stimmte ein Lied an, das sogar seine Musikanten überraschte. Der Tamburinist flüsterte ihm noch ins Ohr, ob er das wirklich ernst meinte, doch der Spielmann ließ sich nicht beirren.

Das fröhliche Lied war manchen Herrschaften unbekannt. Andere schüttelten den Kopf und zogen sich von der Tanzfläche zurück. Miranda dementgegen hatte die Weise schon einmal gehört. Sie entsprach gerade ganz ihrer Stimmung und kannte die Schritte einigermaßen. Warum sollte man das nicht tanzen? 

Lares wich zugleich die Farbe aus dem Gesicht: Wie konnten sie denn Herrn Raidris Weise auf einem Fest des Adels spielen?

Diese Frage stellte sich Eberhelm allerdings auch, da der Tanz den Bogen deutlich spannte, kein Wunder, dass sich die Spielleute selbst uneins gewesen waren. Noch dazu das kalkige Gesicht des Junkers, der seine Schwester sicherlich schon dieser Frivolität ausgesetzt sah. 

“Möchtet Ihr vielleicht doch eine Erfrischung zu Euch nehmen, Junge Dame?”, bot Eberhelm an, um die Situation zu retten und immerhin hatte die junge Frau vorhin bereits geschwitzt.

“Nein, nein, bitte! Wollt Ihr denn nicht tanzen? Seid Ihr meiner überdrüssig?”, erwiderte Miranda umgehend. Eberhelm merkte sofort: Sie würde nicht nachlassen und schien von seinem ‘Rückzieher’ enttäuscht. “Eilt Euch, sonst können wir uns nicht mehr einreihen!”

Zuerst wortlos führte er sie nun rasch in die Gasse der Paare, so dass sie sich noch Mirandas Wunsch entsprechend einreihen konnten, flüsterte aber bevor sie sich trennten: “Ich bin Eurer nicht überdrüssig, Junge Dame, doch der Tanz ist nicht sonderlich traviagefällig, wie der Spielmann sehr wohl weiß.”

Miranda kicherte verlegen. “Ach, ähm. Ist das so? Naja. Ihr werdet schon nichts übles im Sinn haben, nicht wahr?”, scherzte sie und strich sich frech eine Haarlocke aus der Stirn.

“Natürlich nicht, Junge Dame! Ich würde Euch auf Händen tragen, wenn es nötig wäre”, gab der Märker geradeheraus und geradezu entrüstet zurück. Eberhelm fragte sich stirnrunzelnd, was Miranda erwartet hatte und ob das Mädchen nicht genau so ein Abenteuer ersehnte - kein Wunder, dass ihr Bruder besorgt war!

Miranda warf ihrem Bruder einen kurzen Blick zu. “Herr Lares würde wahrscheinlich sagen, dass eine Dame auf Händen tragen zu wollen schon der erste Schritt zu weit verwerflicheren Absichten ist. Ein gestandener Ritter habe sich in Mäßigung zu üben!” Mit gespielt vorwurfsvollem Gesichtsausdruck nickte sie zuerst Eberhelm und dann ihrer Tanznachbarin zu. Dann entzog sie ihre Augen bewusst seines Blickes - zum Schein, indem sie den Rhythmus des Tanzes aufnahm und ihr rechtes Bein zum Stolzieren erhob.

Verdutzt blickte der Ältere die junge Frau an: Schlagfertig war sie, das musste er anerkennen. Doch ehe er sich weitere Gedanken über die verpasste Gelegenheit für eine angemessene Replik machen konnte, begann der Tanz und Miranda ließ sich elegant vier Schritte zurückfallen, bei denen sie den Saum ihres Kleides einmal kess herumschwang.

Eberhelm verschlug es den Atem, als die junge Edeldame vor dem anderen Tänzer zurückwich und sich dabei so schamlos gab wie eine Hübschlerin in der Wildermark. Kurz legte sich ein Anflug von Röte auf seine Wangen, ehe Wut in ihm hoch kochte, als er an ihre Aussage über die verwerflichen Absichten dachte. Mühsam kämpfte der Ritter seine widerstreitenden Gefühle nieder, da sein zweiter Impuls gewesen war, einzugreifen und sie vor sich selbst zu beschützen. So aber tanzte er gerade noch rechtzeitig den eigenen Part, doch überaus züchtig und deutete das Locken der anderen Dame nur abgeschwächt mit der Hand an.

Lares fielen die Augen aus dem Schädel, als er das Gebahren seiner Schwester sah. Was bei allen Göttern hatte sie denn da geritten? Allerdings erkannte er auch, dass es Eberhelm sichtlich unangenehm war, diesen unschicklichen Tanz zu Ende zu bringen. Deshalb verzichtete der Mersinger darauf, dieses Spektakel zu unterbrechen, sondern bedachte Miranda mit einem Blick strengster Ermahnung. Diese bemerkte zuerst nicht, dass ihr Bruder ob ihres Verhaltens zornig wurde, konnte dann aber im Augenwinkel den finsteren Blick auffangen. Sie verstand zuerst gar nicht, was sie falsch gemacht haben könnte. Doch dämmerte ihr, dass sie das Tanzbein wie zuhause im Geheimen geschwungen hatte. Dabei hatte ihr Tanzlehrer ihr so oft eingehämmert, sich nicht von der Musik mitreißen zu lassen und ihre Gefühle zu kontrollieren. Sofort wurden ihre Schritte bleiern und steif. Die Augen niedergeschlagen starrte sie in den Boden.

Himmelhoch jauchzend…’, dachte Eberhelm, als er dem anderen Herrn durch die beiden Frauen hindurch folgte. Vor dem Auswenden blickte er seine Tanzpartnerin forschend an, da er bei Hofe natürlich auch Falschheit kennengelernt hatte, Miranda aber nicht zutraute. Noch glaubte er, den ungestümen Überschwang der Jugend in der blutjungen Mersingen zu sehen und spürte, dass ihre Scham ihn betroffen machte.

Sie selbst trippelte und bemühte sich, keinesfalls weitere Regeln zu verletzen. Den Blick gesenkt erkannte sie nicht, dass ihr Tanzpartner den Fehler weit nicht so Ernst nahm wie ihr Bruder. 

Als sie sich beim Klatschen gegenüber standen, flüsterte Eberhelm ihr rasch zu: “Kopf hoch und stolz… Junge Dame… Nehmt den Tanz leicht… nur ohne Tändelei.”

Miranda vernahm die aufmunternden Worte, doch bevor sie antworten konnte, mussten die Tänzer neuerlich auswenden und den Platz des Nebenpaares einnehmen. Dabei sah sie ihrem leichenblassen, offensichtlich angespannten Bruder direkt ins Gesicht. Seine finsteren Augen zeugten davon, welch deutliche Worte er finden würde, sobald die Musik erstürbe. Ihr Vater ruhte gleichzeitig noch immer reg- und teilnahmslos in seinem Stuhl und starrte die gegenüberliegende Wand an; so, als ob die Welt um ihn herum nicht existierte.

So deutlich abgelenkt, wußte Eberhelm sich nicht anders zu helfen, als kurz in die Hände zu klatschen, um Miranda ausgerechnet an ihr Locken zu erinnern.

“Huch”, entfuhr es ihr leise, sie sah kurz nach links und rechts zu den anderen Damen und schloss sich dann leicht verspätet an. Jetzt war sie vollständig aus dem Takt geraten und musste sich mühen, wieder in den Tanz zu finden. Was für ein Desaster?!

Eberhelm hoffte, dass es nur kurz anhielt, da die junge Mersingen nur bis nach ihrem Locken und dem Paarkreis durchhalten mußte. Sie schleppte sich mehr schlecht als recht durch den restlichen Tanz.

Wie unbeschwert alles für sie sein muss…’, überlegte er, als er in zwei Sätzen zurück sprang und die andere Dame ihm folgte. Manches mochte schwierig sein, sicherlich, aber für die Nordmarken war es doch seit fast zwölf Götterläufen eine Zeit des Friedens. Eine Zeit, die einen großen Teil von Mirandas Leben bereits andauerte, während andere Provinzen im Jahr des Feuers zerstört oder durch die Schlachten des Haffaxfeldzuges verwüstet worden waren. Er spürte einen leichten Stich und fragte sich, welchen Weg sein Leben wohl ohne diese Meilensteine genommen hätte.

Mit dem verräterischen Funkeln von Tränen in den Augen knickste Miranda vor Eberhelm. Obschon - oder weil? - sie in sicheren Zeiten aufgewachsen war, bedeutete ein Versagen an einem Tag wie diesem einen besonders schweren Schlag für die junge Frau. Eberhelm konnte sehen, dass sich Lares von Mersingen zu ihnen zu gesellen gedachte und dieser keinesfalls entspannt wirkte.

Eberhelm verneigte sich höfisch vor Miranda und bot ihr die Hand, an der sich Miranda mehr festhielt als sie damenhaft anzunehmen. Seinem Blick wich sie aus und wirkte ersichtlich traurig und niedergeschlagen.

“Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich daran erinnert habt, wieviel Leichtigkeit im Tanz liegen kann, Junge Dame… Ich hatte es schon fast vergessen”, hob der Märker an und schenkte seiner so viel jüngeren Tanzpartnerin ein aufmunterndes Lächeln.

“Aber…ich…”, presste die junge Dame zwischen geschlossenen Lippen hervor. Eberhelm konnte ganz genau sehen, dass sie alle Willenskraft zusammen nahm, um nicht öffentlich in Tränen auszubrechen. Seine freundlichen Worte halfen ihr dabei kaum, waren sie doch ein Tropfen auf dem heißen Stein im Angesicht der Ermahnung, die sie von ihrem Bruder erwartete. Dieser war auch schon herangenaht: “Habt Dank, Euer Wohlgeboren von Binsböckel, dass Ihr meine Schwester gleich durch zwei Tänze geleitetet”, erklärte dieser etwas zu steif. “Würdet Ihr sie nun einen Augenblick entschuldigen. Wir … müssen eine kurze Unterredung führen.”

Doch der Märker ließ Mirandas Hand nicht los und gab sogleich zurück: “Nein, verzeiht, Wohlgeboren. Der jungen Dame ist gerade nicht wohl…” Auffordernd blickte Eberhelm zu Miranda.

„Ach. Ist dem so?“, erwiderte Lares halb irritiert halb forschend. Er zog seine rechte Augenbraue hoch, was seine hohe Stirn in Falten schlug. „Miranda ist dir nicht wohl? Hast du dich etwa zu sehr verausgabt?“, frug er pointiert nach. 

Miranda wich seinem forschenden Blick aus und hielt sich weiter an der sichernden Hand fest. „Naja. Ich…der Tanz war ein wenig wild“, erwiderte sie kleinlaut.

“Vielleicht tut Euch ein bisschen frische Luft gut, Junge Dame?” Dann wandte sich Eberhelm an Lares: “Oder wärt Ihr, Wohlgeboren, so zuvorkommend, Eurer Schwester etwas zu trinken zu bringen? Ich halte solange die Hand der Jungen Dame und achte hier an dieser Stelle unter den Blicken Eures Herrn Vaters auf sie wie meinen Augapfel.” 

Der Ritter hatte mit Ernsthaftigkeit und Nachdruck gesprochen, was den Mersinger überzeugte. Offensichtlich hatte der gestandene Ritter lautere Absichten. Das ließ Lares‘ Ärger verrauchen. Er nickte und griff nach dem Becher seiner Schwester. Miranda bedankte sich noch einmal für den Tanz und wirkte tatsächlich etwas gefasster.

Mit einer Verneigung gab Eberhelm den Dank gleichfalls zurück und wartete, bis sich Lares entfernt hatte. Ruhig fragte er die junge Frau an seiner Seite: “Werdet Ihr noch länger in der Mark bleiben, wenn die Festlichkeiten hier zum Ende gekommen sind, Junge Dame? Immerhin habt Ihr eine lange Reise auf Euch genommen?”

Mit dieser Frage - überhaupt mit einem ‘lockeren Gespräch’ hatte Miranda nach ihrem peinlichen Versagen nicht gerechnet. Umso mehr freute sie sich über die Zugewandtheit des doch sichtlich älteren Ritters. “Hm. Meinen Bruder zieht es alsbald nach Rosenhain zurück. Er hat aktuell einige Verpflichtungen dort. Das Gut will verwaltet werden; die letzte Ernte war so erfolgreich, dass wir weitere Silos haben errichten müssen. Jetzt gilt es, ein Backhaus zu bauen.” Miranda geriet in einen geschäftigen Tonfall. Offenbar band sie ihr Bruder in die Alltagsgeschäfte auf dem Gut ein - jedenfalls hatte Eberhelm den Eindruck, sie spräche nicht nur vom ‘Hörensagen’.

Zwar lag Eberhelm die Frage auf der Zunge, was überhaupt geerntet worden war, doch stellte er zuerst noch eine, die ihm wichtiger erschien: “Das hört sich so an, als ob Ihr hier in der Mark bleiben werdet, Junge Dame?”

Miranda wog mit dem Kopf hin und her. “Eigentlich glaube ich das nicht. Wir haben hier zwar viel Verwandtschaft, bei der ich einige Monde verbringen könnte. Doch mein Bruder sorgt sich um die weite Rückreise. Er glaubt, alleine könnte ich diese Strecke - über den Greifenpass, Ihr versteht - nicht zurücklegen.”

“Der Hof Ihrer Erlaucht in Rommilys wird Euch sicherlich auch für längere Zeit als Gast akzeptieren, wenn Ihr selbst es möchtet und Euer Bruder dies unterstützt. Eine solche Zeit ist mit Gold nicht aufzuwiegen und könnte Euch in der Zukunft viele Türen öffnen… Ich kann Euch gerne meinem Oheim, dem Hofmarschall der Markgräfin, vorstellen?”, bot Eberhelm an.

„Also, das wäre ja wirklich…“ Miranda pausierte. Eberhelm konnte eine gewisse Verlegenheit in ihrer Stimme erkennen und dazu ein wenig Scham. Aufmunternd drückte der Ältere ihre Hand, räusperte sich aber und bezwang damit den Impuls, direkt nachzufragen. Er wollte es von ihr selbst hören und sie nicht lenken, das wurde sie ganz offensichtlich durch ihren Bruder schon genügend, auch wenn er gut verstehen konnte, dass man sie beschützen wollte.

“...fabelhaft!”, bestätigte sie, was Eberhelm erwartete. “Das stelle ich mir wirklich schön vor. Hier, in diesem rauhen, fernen Land mit all den Verwandten. Ich bin mir sicher, das wäre eine ganz neue Welt für mich.”

Obwohl er deutlich ein ‘aber’ aus ihrer Antwort heraus hörte, blieb es doch ihre Entscheidung. Er war ihr nach einem Tanz nicht verpflichtet und sie war deutlich zu jung, um für eine Bindung in Frage zu kommen. “Kommt gerne auf mein Angebot zurück, wenn ihr wollt, Junge Dame.”

Miranda warf einen kurzen Blick in die Richtung, in der sie ihren Bruder vermutete, der allerdings gerade auf ihren Vater einzureden schien und sie nicht bemerkte. „Ich würde Euer Angebot gerne umgehend annehmen“, erklärte sie mit fester Stimme. Dieser Umschwung kam für den Märker nun doch unerwartet, zumal er den Konflikt mit seinem vorangegangenen Versprechen an den Junker erkannte. 

“Ich versprach Eurem Bruder, hier zu warten, Junge Dame… und eben das werde ich tun. Da ich soeben jedoch versprochen habe, Euch meinem Oheim vorzustellen, werde ich die Einladung auf Euren Bruder ausdehnen”, gab Eberhelm ruhig zurück. 

“Ich kann Euren Bruder nicht ausschließen, er ist für Euch verantwortlich.”

Miranda wog die Schultern. „Ja, das würde ich auch nicht wollen. Ich bin mir sicher, er wäre - mit Eurer Fürsprache - auch einverstanden. Meinem Bruder ist mein Wohlergehen sehr viel wert. Manchmal…naja…erachtet er die Gefahren für mich größer als sie mir selbst scheinen. Könnte ich hier mehrere Monde verweilen, wäre die Ernte sicherlich eingebracht und verwertet. Dann dürfte ihn nichts mehr daran hindern, mich nach Hause zu holen.“

Eberhelm war durchaus erleichtert über ihre vernünftige Reaktion und vergaß darüber den wiederholten Hinweis auf die Bewirtschaftung von Rosenhain aufzunehmen. Davon ab bewiesen ihre Worte, dass er sie zumindest teilweise falsch eingeschätzt hatte. 

“Eine Freude Euch in dieser Angelegenheit zu Diensten zu sein, Junge Dame.”

Dies erwiderte Miranda mit einem gewinnenden Lächeln.

 

Vor dem Hofmarschall

Plötzlich war alles viel schneller gegangen als erwartet. Lares von Mersingen, der Junker von Rosenhain und großer Bruder der jungen Miranda war zunächst vom wohlmeinenden Ansinnen Eberhelm von Binsböckels überrascht, dann umso begeisterter gewesen. Aller Bedenken seiner Schwester zum Trotze hielt er es für förderlich, ihr im Kreise des einflussreichen Zweiges der Familie, noch dazu an einem vorbildlichen Markgrafenhofe - schließlich war Svantje von Rabenmund selbst in den Nordmarken großgezogen und von Herzog Jast Gorsam höchst selbst in den Waffenkünsten unterrichtet worden. Für den grimmigen jungen Mann überschwänglich bedankte er sich bei dem Ritter und schärfte seiner Schwester ein, sich vorbildlich zu führen, sofern sie die Gelegenheit erhalten sollte, sich unter den scharfen Augen des Hofmarschalls Darpatiens zu präsentieren. Der jungen Dame war klar, dass dies die Form ihres Bruders war, sie für ihren Fauxpas beim Tanze zu bestrafen und nahm sich vor: Dieses Mal würde sie eine vorbildliche Figur abgeben.

Eberhelm hatte seinen Oheim rasch ausgemacht, allerdings hatten die drei noch eine geraume Zeit abwarten müssen, da Ugdalf von Binsböckel natürlich als direkter Abgesandter der Markgräfin hier an einem Baronshof entsprechend eingebunden war.

Schließlich trat der Dienstritter aber doch entschieden nach vorne und stellte die beiden Mersinger förmlich vor:

„Ich möchte  Euch Seine Wohlgeboren Lares von Mersingen ä.H., Junker zu Rosenhain und seine Schwester Miranda von Mersingen vorstellen, Euer Exzellenz.“ 

"Herzlich Willkommen in der Rommilyser Mark. Es ist immer wieder schön, wenn solch ein Anlass Familien zusammenbringt." Der alte Binsböckel nickte den beiden Gästen freundlich zu. "Ich hoffe, Ihr habt das Fest bisher genossen."

„Ausnehmend, Euer Exzellenz! Habt Dank für die Einladung“, bestätigte Lares nicht nur der Form halber. “Die Feier ist mehr als nur gelungen. Umso mehr freue ich mich auf das Turnier - womöglich kann ich den Gastgebern einen sehenswerten Kampf liefern. Mein Herz lacht, wenn ich sehe, wie sehr die darpatischen Lande wieder blühen. Es ist das Verdienst Eurer Herrin und der vereinten Kräfte alten Adels und jungen, tapferen Bluts, diese Ländereien befriedet und unter die Fittiche des Reiches zurückgebracht zu haben.”

Eberhelm wartete die Verbeugungen von Lares und Miranda ab und fuhr anschließend fort: „Ich hatte soeben die Gelegenheit mit dieser beeindruckenden jungen Dame zu tanzen und habe Ihr diese Vorstellung versprochen, Euer Exzellenz. Ich bin überzeugt, dass für die Junge Dame ein Aufenthalt über den Winter hinweg ein Gewinn wäre und auch die Bande zwischen den Familien, aber auch den Provinzen weiter stützen kann.“ 

Eberhelm spielte darauf an, dass der Gesandte der Nordmarken in der Rommilyser Mark - der Baron von Richtwald - aufgrund seiner Verpflichtungen nicht immer am reisenden Hofe der Markgräfin zugegen sein konnte und der neue Knappe des Gemahls der Markgräfin kaum viel älter war als Miranda.

"Unsere geschätzte Markgräfin unterhält einen stark reisenden Hof und wird auch im Winter immer wieder fern von Rommilys in den Landen der Mark weilen. Als Hofmarschall ist es meine Aufgabe, ihren Hof und die Abläufe zu verwalten und das oft dort, wo sie ist oder bald sein wird. Ich hoffe, dass Euch das nicht schreckt, junge Dame." Ugdalfs Worte waren offen und ohne Hinterlist. Er hatte nur gelernt, dass dieses Leben nicht für alle das richtige war. Doch auch dann würde sich mit Sicherheit etwas finden lassen. Eberhelm hatte ihn bisher nicht enttäuscht, so dass er schon eine angemessene Aufgabe für die Dame finden würde.

Eberhelm blickte aufmerksam zur jungen Edeldame, was diese nun antworten würde.

Miranda warf einen kurzen Blick zu ihrem großen Bruder, der ihr mit den Augen zu verstehen gab, dass es allein an ihr war, zu antworten. 

Für einen Moment herrschte Stille, als die junge Frau ihre Antwort erwog. “Wenn es Eure Herrin nicht schreckt, Euer Exzellenz, dann habe auch ich nichts zu fürchten.” Ein feines Lächeln stahl sich auf Mirandas fein geschwungene Lippen. 

“Ich vertraue auf die gründliche Vorbereitung Eurerseits, auf die vielen engagierten Hände, die ein so großes Unterfangen wie einen reisenden Hof ins Werk setzen. Gerne würde ich meine bescheidenen Hände dazugeben. Sollte ich Euch zur Last fallen, so zögert nicht, mich in die ferne Heimat zurückzusenden. Bis dahin möchte ich mich ganz Euch anvertrauen und Eurer Herrin und ihrem Hofstaat eine gute Dienerin sein.”

"Ihr versteht es, einen zu loben." Er lächelte. "Sagt nur nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt." Sein Blick ruhte kurz auf der jugen Mersingen. "Die Markgräfin weilt dieser Tage auf den Feierlichkeiten zum Traviabund ihres Verwandten Aldron mit der Erbin Bärwaldes in der Mittnacht. Von dort wird sie nach Rommilys zurückkehren. Dann können wir alles weitere planen. Ich denke, wir sollten uns auch mit der geschätzten Kanzlerin besprechen, damit Euer Aufenthalt das stabile Band der Freundschaft zwischen den Nordmarken und uns weiter stärkt." Nun sprach er die beiden Geschwister gleichermaßen an. "Wie sind denn Eure Planungen nach den Feierlichkeiten? Führt Euch Euer Weg in die Stammlande des ehrwürdigen Hauses Mersingen? Ansonsten begleitet uns gerne auf dem Weg gen Rommilys?"

“Ähm…ich…”, setzte Miranda an, doch Lares bedeutete ihr mit einer dezenten Geste, dass er für sie beide antworten würde. 

“Euer Exzellenz, meine Schwester wird Euren Wünschen gerne nachkommen. Eine Reise nach Rommilys wird ihr sicherlich die Schönheit der wiedererblühenden Mark vor Augen führen und sie zugleich auf die Zeit an einem reisenden Hof einstimmen. Ich sehe sie in Eurer und der Kanzlerin besten Händen. Ich selbst hatte beabsichtigt, alsbald nach Rosenhain zurückzukehren, um dort die Pflege unserer Ländereien zu beaufsichtigen. Die diesjährige Ernte war über die Maßen reichlich, müsst Ihr wissen. Wir sahen uns gezwungen, zwei zusätzliche große Scheunen und mehrere weitere Lagerkontore in Auftrag zu geben, deren Fertigstellung mir am Herzen liegt. Darüber hinaus beabsichtigte unser Kontormeister die Einrichtung einer Brennerei, um der Mengen Getreide Herr zu werden. Wenn die Götter ihre Gaben im Überfluss schenken, so ist es an uns Menschen, mit ihnen verantwortlich umzugehen.”

"Wohl gesprochen, allzu oft vergessen die Menschen dies. Wohin dies führt, haben diese Lande erleben müssen und wie es scheint, ist es dieser Tage in Garetien nicht anders." Doch dies war nicht der Tag und Ort für solche trüben Gedanken. "Dann schließt uns Euch an, junge Dame und alles weitere wird sich fügen."  

"Euch aber noch einen Rat, Wohlgeboren. Ihre Hochgeboren, die Baronin von Rosenbusch, dürfte sicher Interesse an einem Austausch mit Euch haben. Wie Euer Lehen ist Rosenbusch neben vielem auch für seine Rosen und die Produkte daraus bekannt. Sicher könnt Ihr beiderseits davon profitieren." Er nickte den beiden noch einmal freundlich zu. 

"Doch verzeiht, ich will meinen Sohn und seinen Schwiegervater, den Baron von Bröcklingen, nicht weiter warten lassen." Die beiden standen nicht weit von der kleinen Gruppe und warteten höflich auf das Ende des Gesprächs.

Erster Turniertag

  1. Travia 1043 BF

Parade der Turnierteilnehmer und Turniergericht

"Hoch Gernatsborn! Vivat Schlotz!" Jubel brandete auf, als sich der Festzug in Marsch setzte, vom Burghof herunter in Richtung Turnierbahn. Kraftvoll dröhnte der Trommelwirbel der Pfahlgardisten, immer wieder unterbrochen vom triumphalen Fanfarenklang. Rösser stampften mit schweren Hufen, buchstäblich hochtrabend und prachtvoll geschmückt mit den Schabracken in den Farben ihrer Ritter. Die Teilnehmer des Turniers, die sich zum Zweihandkampf angemeldet hatten, trugen bereits blitzendem Stahl, alle anderen Festtagsgewänder. Es folgten die Knappen mit Turnierhelm und Wappenschild, jeweils begleitet von einem Bannerträger. Vorneweg ritten Burgherrin Glyrana und Burgherr Storko, mitsamt dem jungen Brautpaar aus Schlotz.

Haldana gebührte die Ehre, den Jagdfalken in der behandschuhten Rechten zu halten, der als einer der Siegespreise ausgelobt war. Der Raubvogel trug eine Lederkappe, schlug aufgeregt mit den Flügeln und riss immer wieder lautlos seinen scharfen Schnabel auf.  Blumen wurden geworfen, Mützen geschwenkt, Kinder auf Schultern gehoben und ein wenig gedrängelt. Es waren beileibe nicht nur Gernatsborner, die am Wegesrand standen. Aus allen umliegenden Dörfern waren Festbesucher herbei geströmt, angelockt vom Freibier und der Aussicht auf rondrianische Duelle. Zum Abschluss marschierten die Bogenschützen. Ein junger schwarzer Alborandiner folgte bellend und winselnd an der Leine, als Preis des Schützenwettbewerbs. Das Volk beeilte sich, auf den Turnierplatz zu kommen, manch einer kürzte am Burghang ab.

Am Schrein der Milden Göttin, neben dem Heiligen Hain warteten die Gäste, die in Zelten untergebracht waren, und sich die eine oder andere Neckerei über ihr Los als "Tsajünger" anhören durfte. Es war ein beachtlicher Festzug, der da das Zeltlager ansteuerte.

In der Nacht hatte es geregnet, nun funkelte das kupferne Dach im Wettstreit mit den Harnischen und Helmen. Ein warmer angenehmer Herbsttag hatte begonnen. Ârmarsland, der Herold des Turniers, hatte nach dem Frühstück die adeligen Gäste kurz begrüßt, von der Terrasse der Burg aus, und den Tagesablauf erklärt. Man würde sich zunächst zur feierlichen Helmschau auf dem Turnierplatz treffen. Gewiss würde ein jeder die Wappenprobe bestehen, und dann sein Turniersiegel erhalten, am Tisch des Turniergerichts. Die Siegel würden wiederum in ein Körbchen gelegt, durchgeschüttelt und von der glücksbringenden Hand der Braut, Baronin Haldana von Schlotz, gezogen werden, um die Zweikämpfe des ersten Durchlaufs zu ermitteln.

Zur Rondrastunde sollten bereits die Zweihändergefechte beginnen, zur Boronsstunde der Schützenwettbewerb.

Auch am Zeltlager versammelte sich das Volk, jubelte und reckte neugierige die Hälse. Die Parade näherte sich dem Turnierplatz, umrundete die Mittelplanke und löste sich auf.

Neben der Turnierbahn ließen die Ritter ihre Helme auf Bretter platzieren, die wiederum auf Fässern ruhten. Darunter wurden die Wappenschilde angelehnt: Zeit für die Helmschau. Die Knappen, Knechte und Mägde schwärmten aus, um die Banner ihrer Herren oder Damen rund um den Kampfplatz aufzurichten.

Das Turniergericht schritt die Reihe der Wappen und Schilde ab, gefolgt von den Gästen. Der blondschopfige Ârmarsland in seinem schwarzsilberroten Tappert ließ ein großes Wappenbuch hinter sich her tragen. Ab und an tippte der Herold mit seinem Stab auf einen der Helme, woraufhin der Persevant nach dem entsprechenden Wappen suchte. 16 Wappen wurden für die Teilnahme der Tjoste verlangt, sollte doch die Verbundenheit des alten Adels gefestigt worden. Im Zweifelsfall konnte sich ein Auswärtiger durch Bürgen seine Turnierwürdigkeit beglaubigen lassen.

Es schien hin und wieder Nachschlagebedarf zu geben – und der fröhlich wirkende Herold ein Pedant zu sein. Bei Praiodane von Birnwang beriet er sich das erste Mal mit den beiden Turnierrichtern, Odilon und Deggen, die beide dem Hause Baernfarn entstammten.

Durfte die Heroldin der Baronie Schlotz selbst an einem Ritterturnier teilnehmen? Nach kurzer Beratung wurde entschieden, dass die Herrin des Dorfes Beorwang während der Turnei ihr Heroldsamt ruhen lassen sollte.

Auch vor dem Helm Tiros von Friedwang-Havensgaard gab es Geflüster der Umstehenden. Immerhin war der erfahrene Kämpe der Geburt nach ein Bastard, noch dazu des borbaradianischen Verräters Gernot von Friedwang, mit einer Bürgerlichen. Einer – hört, hört – Konditorin aus Wehrheim. Wilden Gerüchten zufolge würde "Zucker-Tiro" eine selbstgebackene Torte zum Festbankett beitragen. Kühne Spötter, die behauptet hatten, man würde Tiro höchstens zu einer Tortenschlacht oder einem Zweikampf mit Zuckerstangen zulassen, wurden rasch eines Besseren belehrt. Der Sieger der Herzogenturney zu Elenvina, im Jahr 1028 nach Bosparans Fall, Ritter des Sichlerbundes, ehemaliger Burgvogt von Loskarnossa und Gemahl der ehrwürdigen Marline von Meidenstein sei selbstredend teilnahmeberechtigt, verkündete Ârmarsland ohne Umschweife.

Der Grüne und der Lohfarbene Ritter sorgten ebenfalls für Getuschel. Zwei kraftvolle Hünen, deren Rüstungen silbrig glänzten und funkelten, in fast schon überderischem Licht. Am auffallendsten waren ihre Helme, die wie Wildschweinköpfe geformt waren, und die sie bislang kein einziges Mal geöffnet hatten. Nicht einmal ihre Panzerhandschuhe hatten sie abgelegt. Die bulligen Riesen schienen ihre Harnische keinesfalls als Last zu empfinden, sie trugen sie mit einer Leichtigkeit wie die Bauern ihre Kittel oder der Herold seinen Wappenrock.

Nur die Schilder lehnten am Gestell. Beide Eberritter teilten sich eine Wappenfigur, einen goldenen Baum auf grünem oder eben kupferfarbenen Grund. Das rötliche Braun war heraldisch in höchsten Maßen ungewöhnlich und führte zu der Vermutung, dass es sich um einen besonders traviagläubigen Streiter handeln musste, ob des heiligen Metalls der Göttin. Die gewaltigen Streitrösser ähnelten Trallopper Riesen. Irgendjemand hatte das Gerücht aufgebracht, die verdeckten Ritter wären Brüder aus dem Kosch, dem Fürstentum mit dem Haupt eines Keilers im Wappen. Ein weiteres Mal beschied der Turniervogt, dass glaubwürdige Bürgen für die Ehrenhaftigkeit des Grünen wie des Lohfarbenen gesprochen hätten.

Vor dem rotgoldenen Drachenwappen des Hauses Oppstein verweilte der Herold länger, genauer vor dem Blason Baron Adrans, der sich mit feinem Lächeln daneben stellte und keck zwinkerte. Welcher Dame genau er da zuzwinkerte, darüber gingen hernach die Meinungen auseinander – einige tippten eher auf seinen Vertrauten Lares von Hochfels. "Euer Hochgeboren Adran Aurentian Randolph, genannt von Berlinghân-Oppstein-Mersingen, ich bitte Euch inständig, auf diesem Turnier mit dem Hause Bregelsaum Frieden zu halten,", sagte Ârmarsland. "Et vice versa, versteht sich. Im Namen Travias, der Himmlischen Mutter!"

Der Angesprochene prallte indigniert und verwundert, aber auch leicht spöttisch zurück: "Adran Aurentian Randolph von Berlînghân-Oppstein-Mersingen wolltet Ihr wohl sagen. Man nennt mich nicht nur so. Ich bin es wirklich, bei allen Zwölfen!" Der Oppsteiner blickte süffisant lächelnd in die Runde, wo vornehmes, aber auch leicht nervöses Lachen zu hören war. 

Der Turniervogt korrigierte den Sitz seiner wild herabhängenden Sendelbinde: "Meines Wissens wurden Euch diese drei ehrbaren Familiennamen durch Adoption zuteil. Nun denn. Heißt es nicht: Treu und Name teilen sich schlecht. Wenn es Euch lieber ist, werde ich Euch als Baron Adran von Oppstein in die Turnierliste eintragen lassen. Gemäß der alten, traviagefälligen Namenssitte, die nun wieder in der Rommilyser Mark Einzug hält."

Ârmarsland straffte sich. Auch sein Blick wanderte über die Anwesenden.

"Ich nehme an, dass niemand Einwände gegen die Teilnahme des edlen Herrn Adran von Oppstein erhebt?"

Die Umstehenden hielten den Atem an. Auch wenn der Ruf des Barons alles andere als makellos war – aber welcher Sterbliche konnte das schon von sich behaupten? – war die Herausforderung, die in Ârmarslands Worten lag, bemerkenswert. Um nicht zu sagen, unerhört. Ein Eklat lag in der Luft. Adran schien ernsthaft zu überlegen, ob er das Gesagte als Schmähung auffassen sollte. Aber natürlich wusste er, dass er gegen einen Herold nicht ohne weiteres blank ziehen konnte.

"Mein werter Herold. Ihr dürft versichert sein, dass ich die alten Sitten in der Sichel nicht nur kenne und respektiere. Sondern auch selbst pflege." Adran griff nach Ârmarslands Sendel, die wieder nach vorne hing, und legte sie mit einem Tätscheln über die Schulter. "Von Oppstein, ja, warum denn nicht? So heißt sie ja auch, meine Baronie."

Der Heroldstab legte sich auf den Helm des Oppsteiners, den zwei große Drachenflügel zierten. Was sollte das nun werden? Der Froschmaulhelm wackelte ein wenig auf dem Brett. Spielte der Turniervogt ernsthaft mit dem Gedanken, ihn herunter zu stoßen? Rechnete er mit einem entsprechenden Zwischenruf aus dem Publikum?

"Euer Schlitz ist ziemlich weit offen. Mit Verlaub, aber das erscheint mir nicht ganz ungefährlich, Euer Hochgeboren."

Adran blickte unwillkürlich nach unten, zur Schamkapsel seiner nach der neues Rommilyser Mode geschnittenen, rosenfarbenen Hose.

Ârmarsland klopfte auf das Helmdach und deutete mit den Fingern der freien Hand auf seine Augen. "Ich meine das Visier. Eine Lanze kann leicht in den Sehschlitz eindringen. Ihr solltet Euch vielleicht einen dieser neuen garetischen Froschmaulhelme zulegen, Euer Hochgeboren." Eine angedeutete Verbeugung.

"Ein Oppstein kämpft nun einmal gerne mit offenem Visier." Adrans Lächeln wurde ein wenig säuerlich. "Ein echter Oppstein meine ich. Aber seid bedankt...für Euren Hinweis."

Die Schar ging weiter zum Bräutigam, der jetzt noch nervöser wirkte als sein Oppsteiner Verwandter.

Die Kenner der Vorsichel waren gespannt, welches Wappen der "Adoptivsohn" Baron Alriks von Friedwang gewählt hatte. Die Meute schien ein wenig Blut geleckt zu haben. Auf der namensgebenden Friedwanger Hangweide gab es ebenfalls keine Sünd, wie der Hofklatsch behauptete. Alboran Raul Praiosin war der Sohn der Junkerin Ismena von Gießenborn, die wiederum eine Schwester von Adrans seligem und skandalumwitterten Adoptivvater Redenhardt war. Vor dem Roten Rondra 1035, mit dem blutigen Einfall der Drachenmeisterin nach Darpatien, sollte die geborene Oppstein einen überaus rahjagefälligen Lebensstil geführt haben, auf ihren Ländereien im Norden von Friedwang. Ihr offizieller Gemahl, Golo von Friedwang, genannt der Schiefhals, ein Sohn des Thronräuber-Barons Gernot, war schon seit vielen Götterläufen verschollen. Vermutlich war Baron Alrik der leibliche Vater, Golo sollte elfisch veranlagt gewesen und zudem in allerhand namenlose Umtriebe verwickelt gewesen sein. Zumindest saß Alborans Hals kerzengerade auf seinen Schultern. Die schwarzen Locken und die Bocksnase des Hauses Friedwang ähnelte doch sehr dem Antlitz des neuen "Geheimen Kammerherrn" der Markgräfin.

"Alboran Raul Praiosin von Oppstein-Glimmerdieck, genannt von Friedwang. Wie ich höre, nennt Ihr Euch fortan Alboran von Binsböckel? Nach Ritterschlag und Hochzeit, wozu ich Euch noch einmal gratuliere - und den Segen der guten Götter Alverans wünsche..."

Ein ergebenes Nicken. 

"Sehr schön, wie ich sehe, seid auch Ihr der horasischen Unsitte der Wäscheleinennamen abhold." Erneut Geraune der Umstehenden, von denen der eine oder andere ebenfalls einen Doppelnamen führte. Der Herold schien ein regelrechter Streithahn (und tollkühn) zu sein, wenn er selbst den Bräutigam näher in Augenschein nahm.

"Ah, Ihr tretet mit dem Wappen der Baronie Schlotz an, Euer Hochgeboren. Schwarze Axt auf schräg rechts in blau und rot unterteilten Grund. Drei Farben, die aufeinander stoßen? Es erstaunt mich, so etwas noch zu finden, im elften Jahrhundert. Wenn ich mich recht entsinne, hat Wappenkönig Nortgram im Falle des friedwanger Blasons darauf bestanden, Blau und Rot durch einen Bastardbalken zu trennen. Beide Wappen ähneln sich ja ein wenig. Allerdings weist der friedwanger Bockskopf die korrekte Tinktur auf. "

Alboran räusperte sich, mit leichter Röte im Gesicht. "Verzeiht, Herold, wie ich gehört habe, ist das Schlotzer Wappen älter als die heraldischen Regeln. Im Falle des Steinbockwappens meiner alten Heimat Friedwang handelt es sich überdies nur um einen Schräglinksfaden. Ein heraldisches Zeichen, das leicht mit einem Bastardbalken zu verwechseln ist. Der bei illegitimer Geburt allerdings über den Steinbockkopf gelegt werden müsste, statt darunter?!"

Ârmarsland stutze, hob dann seinen Stab mit dem pflügenden Riesen und nickte anerkennend.

"Gut, sehr gut, ja. Ihr habt Recht, Euer Hochgeboren. Wir dürfen nicht vergessen, Eure Schilde in das Wappenbuch einzutragen. Ich vermute, Euer Familienwappen wird das der Binsböckels sein, silberner Einhornkopf auf blauem Grund?"

Der frisch verbinsböckelte junge Adelige strahlte, prallte gegen seinen Helm, der um ein Haar heruntergefallen wäre, hielt ihn krampfhaft fest, während er mit seinem Fuß versuchte, das Wappenschild vorm Umkippen zu bewahren. "Äh, ja, so ist es. Es ist mir eine große Ehre."

Mit ebenso mildem wie aufmunterndem Lächeln trat Odilon Wildgrimm an das Gestell und rückte die Abzeichen zurecht. "Die Ehre ist ganz auf Seiten des Hauses Binsböckel", sagte der alte Waldläufer beruhigend. "Habe ich gehört."

"Die Schröterhörner an Eurem Helm, wie erklären die sich? Ich frage nur aus Interesse." Der Herold sah noch immer streng drein, wie ein Weibel bei der Musterung.

"Das Familienwappen Baron Tsafrieds von Schnayttach zu Schlotz waren Schröterhörner auf grünem und schwarzem Grund. Farblich vertauscht. Die Tradition meines Schwiegervaters möchte ich weiterführen. Möge Boron seiner Seele gnädig sein! Die Helmzier erscheint mir passender als eine Axt oder ein Einhorn." Alboran wischte sich die Innenfläche der schwitzigen Hand am Wams sauber. Sein betrübter Hundeblick passte nicht recht zum kühlen Selbstbewusstsein der übrigen Adeligen, schien Ârmarsland aber zu gefallen.

Offenbar versuchte der Sichelherold wirklich die sture, knurrige Art des einstigen Wappenkönigs von Darpatiens zu imitieren, des berühmt-berüchtigten Brilliantzwergs Nortgram Sohn des Fadoram. Beiläufig schlug er auf das Helmdach, in dem drei Straußenfedern in Schwarz, Blau und Rot steckten.

"Euer Helm ist eine hervorragende Arbeit, wie ich sie mir für Turniere wünsche. Wunderbar gearbeitete Lippe. Man muss sich nur ein wenig im Sattel aufrichten und ist beim Zusammenprall bestens geschützt. Glaubt mir, ich habe schon Lanzensplitter in Wangen oder gar Augen stecken sehen. Das braucht niemand."

"Da hat er Recht" brummte Odilon, der Schwarze Bär, und patschte den Sohn seines Freundes Alrik aufmunternd auf die Schulter. "Schau nach oben, mein Junge, nicht nach unten. Du hast jetzt allen Grund dazu."

Deggen, der Rondrageweihte, zwinkerte verschmitzt: "Nur Mut. Die Siegschenkerin sieht unser Herz, nicht den Stammbaum oder das Wappen. Den Tapferen hilft das Glück. Du wirst deinen ersten echten Lanzengang schon meistern, Albo!"

Der Herold steuerte bereits den nächsten Verdachtsfall an. Die "Efferdsritterin", eine weitere Teilnehmerin, die verdeckt antreten wollte. Auch sie zeigte ihr Gesicht nicht, sondern stand in einer Gestechrüstung horasischer Machart neben ihrem Symbolhelm, einem alter Topfhelm aus Storkos Waffenkammer. Der Harnisch war fein ziseliert, aber schon arg zerschrammt und an den Ecken leicht rostig. Die Trägerin schien arm, überaus erfahren oder beides zu sein. Auch das Wappen war ein wenig merkwürdig: Eine silberne Schildkröte über schwarzen Wellen auf grünem Grund.

Ârmarsland musterte "Ritterin Unbekannt", und schauderte, als zwei dunkle, raubtierhafte Augen aus dem schwarzen Schatten des Helms zurück funkelten. Es war, als würde sich eine Leuin in die dunkelste Ecke eines Käfigs kauern, bereit zum wütenden Sprung.

"Nun zu Euch..." Plötzlich schien der Herold verunsichert zu sein. "Frau, äh...Efferdsritterin. Soweit ich weiß, bürgt niemand für Euch...oder irre ich mich da? Auch Euer Wappen kenne ich nicht. Soll das die Drachenschildkröte Lata aus Havena sein?"

"Nein", fauchte es impulsiv aus dem Helm zurück. "Ich komme aus Efferdas!"

"Ah, das ist im Lieblichen Feld?! Da habt Ihr einen weiten Ritt hinter Euch. Bei der Anmeldung gestern abend habe ich Euch nicht gesehen. Wenn Ihr mir einmal Euren Adelsbrief reichen könntet? Ich verbürge Diskretion."

Die Unbekannte reichte Ârmarsland das Schriftstück, ruckartig, als wolle sie ihm eine Herausforderung überbringen.

"Ah, eine Cavalliera. Ihr verdankt Eurem Ritterschlag dem Hause di Camaro aus Efferdas? Klingt nach horasischem Patriziat. Nun ja, von 16 Wappen steht hier leider nichts, und nachdem Ihr auch keinen Fürsprecher zu haben scheint?" Der Herold blickte um sich. Keine Hand hob sich, niemand ergriff das Wort.

"Wenn das so ist?!" Ârmarslands Stab tippte bereits gegen den Topfhelm. "So leid es mir tut..."

"Wagt es!" zischte es unter dem Helm hervor.

"Ja, ich wage es. Es sei denn, Ihr setzt Euren eigenen Helm auf das Brett und zeigt uns zumindest einmal Euer Gesicht. Solltet Ihr Ärger auf diesem Fest verursachen, könntet Ihr schnell auf der Schranke sitzen, als Zeichen der Schande. Wollt Ihr das?"

Statt einer Antwort riss sich die Fremde ihren Helm herunter. Erneut aufgeregtes Raunen und Gemurmel. Zum Vorschein kam ein schwarzgelocktes, braunes, fast nachtfarbenes Gesicht. Panthergleich spähte die "Schwarze Ritterin" um sich, und schien jeden Adeligen einzeln zum Duell fordern zu wollen.

Die ersten Praioszeichen wurden geschlagen und leise Gebete gemurmelt. Litt die Namenlose an einer Krankheit, der Schwarzen Wut etwa, oder trug sie gar ein Dämonenmal?

"Sylvana, das...das ist doch nicht möglich!"

Bishdarielon von Suunkdal hatte diese Worte gesprochen. Der Landmeister der Golgariten eilte mit wehendem weißen Mantel herbei. "Beiseite", raunzte der Erbvogt. "Das ist meine Tochter!"

"Eure...Tochter?" Ârmarsland war ehrlich verblüfft.

"Sie scheint aus den Schwarzen Land zu stammen", spottete es irgendwo in den hinteren Reihen.

"Wer wagt es?" Bishdarielons Hand griff zum Schwert. "Ihr Hautfarbe ist keine Zauberei. Ihre Mutter war eine Mohaha".

"Gütige Herrin Travia!" rief ein anderer. "Eine Wilde aus dem Regenwald ???"

"Eine Häuptlingstochter. Allerdings dachte ich, dass sich Sylvana im Lieblichen Feld befindet, in der Obhut des Efferdinger Geweihten. In Sicherheit."

"Ich bin kein kleines Kind mehr, Vater!" Das Halbblut reckte stolz ihr Kinn. "Lass mich am Turnier teilnehmen. Ich bin schnell mit dem Speer, wie Ake-Tscheya!"

"Die Waffe nennt sich Lanze, Liebes" Bischdarielon schüttelte unwirsch den Kopf. "Nein, das lass ich nicht zu. Turniere sind gefährlich, wir haben es gerade gehört." Der Friedwanger kratzte sich nervös am Kopf. "Das ist einfach nicht deine Welt, Sylva!"

"Aber Gona von Rosenteich..." Das Töchterchen trutzte.

"Ist Baron in Almada". Bishdarielon seufzte. "Ich weiß nicht, wo du diese Rüstung her hast, Kleines. Aber Ake-Tscheyas Tochter gehört nicht auf ein Turnierpferd. Ich hab dich schon einmal durchbohrt gesehen."

Sylvana griff verstohlen an ihre gepanzerte Schulter.

"So wirst Du nicht für mich bürgen, Vater?"

"Ich bürge nur für Deine Sicherheit!"

Wütend klirrte Sylvana auf einen Lanzenhalter zu und nahm ruckartig eine der Turnierwaffen an sich. Wieder Geraune in der Menge. Die junge Frau wirbelte die schwere Lanze über den Kopf und vollführte eine Art Kriegstanz, mit einer Hand am Griffende, der anderen hinter der Brechscheibe. Dann hob sie den stumpfen Krönling wie eine Harpune und schleuderte ihn über zwei, drei Schritt hinweg auf ihren eigenen Helm. Der Kopfschutz fiel klirrend Boden, das Gestell rumpelte mitsamt des Schilds in sich zusammen.

Alrik von Friedwang schob sich seine qualmende Pfeife in den Mundwinkel und klatschte übertrieben langsam Beifall: "Gratulation, deine Tochter vereint Kraft mit Geschick, Bisch. Doch wirklich, Applaus. Allerdings scheint sie den Ablauf eines Tjosts noch nicht ganz verstanden zu haben. Auf dem Jahrmarkt nennt man sowas Becherwerfen. "

Bishdarielons Augen blitzten wütend in Richtung seines Bruders. Er schien gerade die Contenance zu verlieren, was bei ihm - trotz des berüchtigten Jähzornes des Hauses Friedwang - nicht allzu oft vorkam. "Halt...halt du dich da raus! Du verstehst nicht allzuviel von rondragefälligen Turnieren"

Der Baron von Friedwang paffte genüßlich. "Mohacca muss brennen, sonst hat man nur Unkraut in der Pfeife. Altes Sprichwort aus dem tiefen Süden. Du solltest deiner Tochter Gelegenheit geben, sich zu beweisen. Immerhin ist sie jetzt eine Cavalliera...und zu einer wunderschönen jungen Frau herangereift."

"Ich muss ihr Gelegenheit geben, sich zu beweisen? Bei meiner Seel, ich muss gar nichts!" 

Bishdarielon schnaubte. Er wies auf einen untersetzten Falben, der am Pferdeholm festgebunden war. Die fehlende Schabracke, die geringere Größe im Vergleich zu den übrigen Schlachtrössern, die mageren Flanken und der müde Blick sprachen eine eindeutige Sprache: "Soll das da etwa dein Schlachtross sein, Sylvana? Wenn ja, dann sorge ich mich auch um seine Sicherheit." 

"Ich weiß nicht, was du hast, Bruderherz. Die Pferdewurst dort sieht doch noch ziemlich frisch aus, für ihr Alter. Von wegen Schlacht-Ross..."

"Rahjantes ist keine...Pferdewurst!" Sylvana schrie fast in Alriks Richtung. Das klang nun wirklich jähzornig."Wenn du nicht mein Onkel wärst..."

"Dann würdest du noch lauter herumschreien?"

"Dann würde diese Lanze jetzt dich treffen. Ich weiß, dass deine Zunge so giftig ist wie ein Pfeilfrosch. Und du?! Du sorgst dich um meine Sicherheit, Vater? Um meine und Rahjantes Sicherheit?" Die dunkle Schönheit fauchte nun in Richtung ihres Vaters, während sie die Waffe wieder aufhob. "Du solltest dir lieber Gedanken um Mutters Sicherheit machen. Aber ihr Wohlergehen und ihre Freiheit scheinen dich wenig zu kümmern."

Der Landmeister spähte unruhig in die Runde. "Das...ist ein überaus schwierige Angelegenheit...wir sollten nicht hier darüber sprechen...Wo bleibt nur deine horasische Erziehung?"

"Das Meer war meine Lehrmeisterin! Es hat mich gelehrt, dass der Sturmwind Gehör findet, nicht das laue Lüftchen. Ich werde bei Turnieren antreten, und eines Tages genug Gold haben, um Mutter freizukaufen! Du wirst mich nicht daran hindern."

Bishdarielon seufzte. "Wir sollten jetzt besser in meinem Zelt weitersprechen. Dein Verhalten ist einfach nur unschicklich."

"Ich lasse mich nicht länger beiseite schieben....zu meinem Schutz. Du hast in all den Jahren doch immer nur an dich selbst gedacht. Aus den Augen, aus dem Sinn."

Der Herold räusperte sich. "Mit Verlaub, edle Dame, wenn ich mich einmische. Zum einen möchte ich jetzt doch einmal an den Turnierfrieden erinnern. Zum anderen habe ich gerade erfahren, dass beim Zweihänderkampf noch ein Streiter fehlt. Oder eine Mitstreiterin? Dann kämen wir auf genau 32 Kämpfer. Das ließe sich wunderbar teilen."

Sylvana blickte verdutzt.

"Nun, wer in der Lage ist, eine Turnierlanze wie ein Schwert zu schwingen, der müsste auch einen guten Oberhau, Krumphau oder Zwercher Hieb zustande bringen."

Der Herr von Suunkdal überlegte kurz.

"Bei meiner Seel, von mir aus, Meister Ârmarsland. Bringt meiner heißblütigen Tochter ruhig ein wenig Etikette bei. Selbst wenn die Lektion aus Schrammen und blauen Flecken besteht. Jedenfalls wird sie nachher nicht so tief fallen, wie von ihrem prachtvollen Rahjantes..."

Sylvana schaute ihren Vater empört an. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer gepanzerten Schulter.

Es war Baron Alboran, der neben sie getreten war. Ihr Halbvetter.

"Ich habe ein paar Mal mit dem Zweihänder gekämpft, auf der Knappenschule zu Rommilys", sagte der Frischverheiratete. "Wenn Du möchtest, können wir ein wenig üben. Es dauert noch über eine Stunde bis zum Wettbewerb ....Kousine?"

Die Schwarzgelockte musterte Alriks Sohn verwundert von oben nach unten. Ihre wulstigen Lippen, die tatsächlich ein wenig an ein Efferdsgeschöpf erinnerten, bebten.

"Warum trittst du nicht einfach selbst an...Alboran?"

"Meine Rüstung ist zu schwer für einen echten Fußkampf, Sylvana. Ich hoffe, ich komme damit überhaupt bis aufs Pferd." Alboran lächelte selbstironisch. "Vor allem schlagen Zweihänder üble Dellen. Um deinen Harnisch, naja, ehrlich gesagt, da wäre es nicht besonders schade...Aber meiner hat doch ein paar schöne Goldstücke gekostet." Der junge Adelige klang schon wieder prahlerisch. 

Das Feuer in Sylvanas Augen begann erneut hochzulodern, beruhigte sich aber rasch wieder. Mit gepanzerter Faust schlug sie ihrem Fastkousin gegen die Schulter. "Ich danke dir. Aber warum willst du mir helfen?" 

"Du scheinst Talent zu haben...Naturtalent. Außerdem erinnerst du mich an Windstag."

"An einen Wochentag? Warum nicht an einen Wassertag?" Sylanvas sinnliche Lippen schmunzelten.

"Windstag war der Dien...ein enger Vertrauter meiner Mutter. Er hat bis zuletzt gegen die Dreckigen gekämpft, als sie Gießenborn überfallen haben. Unser Dorf. Er hat vielen guten Menschen das Leben gerettet, und sein eigenes geopfert. Ein Mann aus deiner Heimat. Nur dunkler im Gesicht. Ein Moha..."

"Windstag? So nennt man doch höchstens einen Hund. Hat euer Moha also seine Schuldigkeit getan, sehr schön." Sylvana verzog das Gesicht, vor Kummer. Fast wirkte es, als erinnerte sie sich an irgendeinen Schmerz. 

Alboran wusste nicht viel von ihrer Geschichte. Damals, als Vater und Onkel aus der Al´Anfanischen Sklaverei geflohen waren, da hatte Bisch eine Zeitlang bei den Wilden am Jalob verbracht. Hatte mit einer Häuptlingstochter zusammengelebt, in wilder Ehe natürlich, und mit ihr eine Tochter gezeugt. Bei einem Überfall von Sklavenfängern war Sylvana schwer verwundet worden. Da war sie noch ein kleines Kind gewesen. Die Pike des Angreifers sollte sie regelrecht an ihre Mutter geheftet haben, zumindest hatte es im Rauch des brennenden Dorfes so ausgesehen. Bishdarielon selbst hatte beide für tot gehalten, und war erneut auf dem Sklavenmarkt der Schwarzen Perle gelandet...eine lange, verworrene, typisch friedwängische Geschichte. 

Gerade eben hatte der junge Schlotzer Baron aufgeschnappt, dass auch diese Ake-Tscheya noch am Leben sein sollte. Allerdings in Gefangenschaft. Interessant. Er musste unbedingt mehr darüber herausfinden. Wurde Bishdarielon von Suunkdal, als ruhmreicher Landmeister der Golgariten, am Ende von den ketzerischen Al´Anfanern erpresst? Immerhin ein Mann, der dem Hause Mersingen näher stand als manch anderer Edelmann hier, vom Hausherren einmal abgesehen.

"Lass uns eine Runde fechten und uns dabei ein wenig besser kennenlernen!" Alboran bekam ein schlechtes Gewissen, als er Sylvanas Arglosigkeit spürte. Sie schien ihm wirklich zu vertrauen. Vor einigen Götterläufen hatte eine Abgesandte Al´Anfas das Halbblut nach Friedwang gebracht, dass sie an Kindes statt aufgezogen hatte. War am Ende Sylvana die wahre Spionin und spielte nur die Naive? 

Bishdarielon wiederum hatte sein Bastardkind in Begleitung des Efferdinger Geweihten ins Liebliche Feld geschickt. Zur Sicherheit...Fragte sich nur, zu wessen Sicherheit? Sollte Sylvana den Veteranen des Golgaritenordens vor aller Augen (und Ohren) bloßstellen? Misstrauen und Zwietracht in die Reihen der Rabenmärker und Mersingens säen?

Einen Moment lang kämpften widerstreitende Gefühle mit dem frischgebackenen Binsböckel, als er seinen Vater Alrik sah, der ihn beim Vorbeigehen anerkennend zunickte. "Holst du das Turniersiegel für mich ab?"

Der Friedwanger nickte. Tatsächlich wurden am Heroldstisch kleine Papierrollen in die Helme der Teilnehmer gesteckt, mit deren Wappenbildern. Der Persevant, der sie, teilweise in doppelter Ausführung, gemalt hatte, war ein geschickter Künstler.

 

"Alboran, möchtest du mich schon wieder verlassen?" fragte Haldana, der gerade die Lostrommel gereicht wurde, ein Weidenkorb. "Komm, steh mir zur Seite. Fechten üben kannst du nachher noch." Die Baronin winkte ihren Gemahl gut gelaunt zu sich heran. Sylvana nickte. 

Alboran trat an den Korb und blickte mit charmantem Schauspielerlächeln in die Runde. "Ihr seht, von nun an habe ich zu gehorchen."

Heiterkeit kam auf, was auch an dem einfachen Mittagsmahl lag, Wein mit Brot, das auf einer kleinen Festtafel gereicht wurde. Die verwirrende Szene gerade eben war schon wieder halb vergessen. 

"Ein letztes Mal muss ich dir einen Korb geben" scherzte Haldana, und reichte ihrem Angetrauten die Lostrommel.

"Nach der Hochzeit darfst du das" flachte Alboran und nahm der Schwangeren den leeren Korb ab. Sofort verdrehte er die Augen und ging scheinbar in die Knie. "Dienerin? Dienerin? Wo ist meine Magd, um mir diese schwere Last abzunehmen?" rief der Baron theatralisch. 

Die Stimmung der Umstehenden war gut, das konnte Alrik spüren. Das junge Paar wirkte herzlich und ungezwungen, aber dabei dennoch sittsam. Dass Haldana sichtbar von Tsa gesegnet war, diese kleine Schwäche ließ ihr noch einige Herzen mehr zufliegen.

"Hesindan?" raunte Alrik über seine Schulter.

Das galt seinem "arkanen Berater", der mit langen, schneeweißen Haaren, jugendlichem Gesicht und Festtagsgewand neben ihm stand - mißtrauisch, wenn nicht hasserfüllt angestarrt von den friedwanger Praioten, die sich in einiger Entfernung versammelt hatten. Dabei sah Hesindian von Orweiler recht vornehm aus, in seiner samtblauen Robe, als wäre er gerade dem Codex Albyricus entsprungen.

Sein Freund nickte, während der Bergkristall an der Spitze seines Zauberstabs funkelte, in der Klaue eines Drachen. 

"Ich höre?"

"Halt doch mal ein wenig dein drittes Auge offen. Die Lehrmeisterin unserer guten Sylvana war eine Schwarzmagierin aus Al´Anfa. Magistra Esteforia, dieses Miststück. Es müsste sich doch herausfinden lassen, ob das Halbblut unter irgendeiner magischen Beeinflussung steht. Dass die Al´Anfaner ein Druckmittel gegen Bishdarielon in den Klauen haben. Das hat unser Temperamentsbündel ja gerade über den halben Platz gebrüllt."

"Sehr wohl, Euer Hochgeboren. Aber du weißt schon, dass mich die Bannstrahler keinen Herzschlag lang aus den Augen lassen werden?" Hesindian deutete frech grinsend ein Winken in Richtung der Praioten an. "Was machen die da?"

"Die gehen gleich in Richtung Zelttempel, fürs Mittagsgebet. Willst du mit?" 

"Ich verzichte für die wirklich Berufenen". Der heimliche Hofmagier lächelte säuerlich. 

Der Baron von Friedwang deutete eine Verbeugung in Richtung von Erzpriester Falkwart Malachanias an. Der blonde Geweihte war eindeutig das Zentralgestirn der Praioten und nickte knapp.

In der Nähe fiel dem Friedwanger ein rotblond bezopfte Thorwalerin auf, mit nietenbeschlagener Lederrüstung, grün weiß gestreiften Matrosenhosen und kleiner Axt im Gürtel. Ihr Kopf zierte ein rotes Stirnband. Alrik runzelte die eigene Stirn. Eine Walwütige? Mohamädchen in Ritterrüstung, Thorwalerinnen, die jederzeit in Blutrausch geraten konnten… dieses Fest bot einige Kuriositäten. Als wäre der Gedanke allein das heimliche Stichwort gewesen, erklang nun die Stimme von Alborans Mutter.

"Ist das die Möglichkeit? Alfhildr? Alfhildr Swafnirdrasdottir?" Die Altjunkerin von Gießenborn (deren gut gewahrte Schönheit dem Ehrentitel widersprach) eilte mit wehendem Umhang auf die Thorwalsche zu. "Du hier? Ich habe gestern schon Gerüchte gehört...hätte ich gewusst, dass..."

Beide Frauen umarmten sich innig. Wie, war das etwa diese Reisebekanntschaft aus Neetha...? Alrik versuchte seine Gedanken zu sortieren. Geheimer Kammerherr, das Amt würde schwierig werden. Er hatte ja schon Probleme, die Übersicht über die eigenen Angelegenheiten nicht zu verlieren. Einen Moment lang bewunderte er Dexter Nemrod. Der hatte als Reichsgroßgeheimrat noch weit mehr Fäden ziehen müssen. Nun plauderte Ismena von Gießenborn artig mit den Praioten. Leider verstand Alrik nicht einmal Wortfetzen, was auch an dem lauter werdenden Trubel rund um die geflochtene "Lostrommel" lag. 

 

Ein Diener ging mit Tablett vorbei, und reichte Brotscheibchen und Weinbecher.

Hesindian wollte schon hingrapschen, aber Alrik hielt ihn ab. "Nichts da. Du hast einen Auftrag zu erfüllen. Die Gelegenheit ist günstig, unsere Goldfasane sind abgelenkt."

 

 

Auslosung der Paarungen der Zweihändergefechte

Alboran schüttelte derweil den Korb durch, in dem immer mehr "Lose" lagen. "Seid bedankt für Eure Spenden, werte Gäste… Dukaten werden auch gerne angenommen, ha-ha...Frau von Windenstein? Herr von Sturmfels? Seid bedankt. So, das sind alle!? Wunderbar."

Baron und Baronin begaben sich zu einer Schiefertafel, die an der Tribüne hing, neben den Wappenschilden der Turnierteilnehmer. Haldana warf ein großes Tuch über den Korb, und ließ ihn Albo durchschütteln. Die Hand des Barons glitt unter das Leinen, die Baronin schlug neckisch darauf. "Mein Liebster, wo langst du denn jetzt schon wieder hin?"

Herzhaftes Gelächter. Alrik stutzte, freudig überrascht. Sein Sohn und seine Schwiegertochter hatten ja komödiantische Qualitäten? 

"Hast du nicht gesagt, mit dir ziehe ich das große Los?" fragte Alboran theatralisch.

"Nichts da, ich versprach nur, dir Glück zu bringen! Und natürlich allen anderen hier!" Ein inniger Kuss auf Alborans Lippen, begleitet von Aaahs, Oohs und zartem Applaus.

Dann wurde die Glücksfee ernst. "Nun denn, lasst uns beginnen und die Paarungen der Zweihänderkämpfe verlautbaren." Haldana mischte die Rollen mit der Hand noch ein wenig durch, zog eine hervor, öffnete sie. Räusperte sich. 

"Welch schöner Zufall. Storko von Gernatsborn-Mersingen, unser Freund und Gastgeber! Gewiss ein gutes Omen. Gegen..." Haldana kruschelte erneut: "Firunian von Firnsjön."

Mit quietschender Kreide schrieb der Persevant dieses Duellpaar auf den schwarzsichler Schiefer.

"Ademar von Gugelforst gegen… nein sowas. Glyrana von Mersingen! Eberhelm von Binsböckel… gegen Roderick von Oppstein. Wen haben wir da? Seine Hochwohlgeboren Merovahn von Mersingen....gegen..Bernhelm von Ehrenstein, nein, Ehrenforst, verzeiht. Mirl von Mees-Mersingen… und…Silvana von Firnsjön. Praiosmin von Siebenstein versus....versus Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum. Lares von Mersingen… Oleana von Bregelsaum..."

Die jeweils passenden "Turniersiegel" wurden fein säuberlich aneinander geheftet und zum Heroldtstisch getragen. 

"Wando von Richtwald gegen Darbrod von Zweifelsfels. Praiosmin von Bregelsaum...Alrik von Sturmfels.  Tiro von Friedwang-Havensgaard contra Ilgar von Galebfurten. Jadvige von Kressenbrück gegen Welfert von Mersingen. Oda von Vairningen gegen Ismena von Quellenfels...ah, ich bin schon ganz heißer. Man reiche mir doch einen Schluck. Nein, keinen Wein, da sei Frau Tsa vor."

Das Getränk kam, Haldana prostete mit Apfelsaft in die Menge und fuhr mit der Prozedur fort: "So, viele Lose für den Fußkampf haben wir nicht mehr. Alrik Eckbert von Baernfarn kämpft gegen...gegen...na, geh schon auf...Selindra von Win...Windenstein-Zweifelfels. Praiodane von Birnwang....Reto von Nierenfeld...jetzt haben wir nur noch ein allerletztes Siegel übrig...willst du wohl dableiben? Natürlich, Matissa von Bregelsaum...Eure Gegnerin wird dann wohl unser Überraschungsgast sein, Sylvana von Friedwang."

 

Unterdessen 

Ilgar von Galebfurten verzog leicht die Mundwinkel als der Name seines Kontrahenten genannt wurde. Er kannte ihn nicht persönlich, wusste nur um dessen Herkunft.

“Zucker-Tiro”, sprach sein Weib den Spitznamen des Friedwangers leichthin aus.

“Ja, der Vogt von Galbenburg”, ergänzte der Herold des Markgrafen der Rabenmark nickend und verzog sogleich spöttisch grinsend das Gesicht, als nun auch der Name der Gegnerin Matissas genannt wurde.

“Du hast das große Los gezogen Werteste”, sprach er mit vor Ironie triefender Stimme. 

Matissas Miene hingegen war wie versteinert.

“Ich stelle mich dann wohl auf einen eher ungewöhnlichen Stil ein”, brachte die Bregelsaumerin nach kurzer Pause schicksalergeben vor. 

“Das solltest du meine teure Wildblume”, sprach Ilgar immer noch amüsiert. Ergänzte jedoch ernst: “Aber unterschätze sie nicht. Sie besitzt den Kampfeswillen der Leuin und das Feuer Famelors.”

“Gewiss nicht”, erwiderte Matissa mit dem ihr gegebenen, stoischen Ruhe.

Gemeinsam gingen sie dann zu ihren Waffenknechten, um sie fertig zu rüsten und auf den Kampf vorzubereiten.

 

Rosenhain gegen Rosenbusch

Lares von Mersingen hatte sein Kettenhemd bereits angelegt und wartete gespannt auf die Auslosung. Seine Anverwandten Merovahn und Welfert waren die erfahrenen Tjoster, doch auch er bemühte sich um eine Reputation als tapferer Turnierritter. Nach seinem guten Abschneiden auf der Herzogentjoste des Herzogs der Nordmarken wollte er den Familiennamen hoch- und die Lanze niedrig halten. Stolz prangte deshalb das Mersinger Wappen mit der roten Rose des Junkers von Rosenhain auf seiner Brust. Als das Los auf die Baronin von Rosenbusch fiel, nickte Lares schicksalsergeben. Die Ritterin war erfahren, wehrhaft und eine Dame hoher Reputation. Es würde eine harte erste Runde werden.

Da schallte es von den billigen Plätzen: “Es gibt der Rosenbüsche viele in Rosenhain! So viele Dornen und keine sticht!” Zornig drehte sich der Mersinger um und suchte den schamlosen Spötter, doch konnte er ihn in der Menge nicht ausmachen. ‘Na dem werde ich zeigen, welcher Rosendorn sticht!’, dachte er und entschied sich, die Runde zu gewinnen.

 

Zweihändergefechte

 

Kaum waren die Paarungen durch die Schlotzer Baronin verlautbart worden, machten sich die Streiterinnen und Streiter schon daran, sich zu rüsten und waren bald für den Kampf bereit. So verging nur ein knapp ein Viertel Stundenglas, als die ersten Kontrahenten aufeinander trafen. 

Erste Runde

 

  1. Storko von Gernatsborn-Mersingen vs. Firunian von Firnsjön

Auch wenn zwei ähnlich erfahrene Kontrahenten aufeinander trafen, die beide mit starken Attacken punkten konnten, so gewann nach dem ersten Schlagabtausch der Wehrvogt der Mark die Oberhand und konnte in Folge mit kaum weniger scharfen Schlägen nachsetzen, wobei Firunian von Firnsjön mit ungenügenden Paraden zu kontern versuchte. Sieg von Storko von Gernatsborn-Mersingen im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Ademar von Gugelforst vs. Glyrana von Mersingen

Der sichtlich überlegene Ademar von Gugelfort begann eine Serie von Angriffen, die jedoch von überraschend geschickten Paraden gekontert wurden und die Gastgeberin des Turniers in eine vorteilhafte Position brachte. Dies nützte sie mit gezielten Schlägen aus, welche Ademar nur teilweise parieren konnte. Sieg von Glyrana von Mersingen im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Eberhelm von Binsböckel vs. Roderick von Oppstein

Beide Kontrahenten schenkten sich nichts und der Kampf begann gleich mit starken Attacken, was das Publikum sichtlich erregte. Doch konnte der erfahrene Bernhelm bald die Oberhand im Kampf gewinnen. Sieg von Eberhelm von Binsböckel im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Gerbold von Zwölfengrund vs. Inpolt von Binsböckel

In einem sehr kurzen Kampf gewann Gerbold von Zwölfengrund bereits im ersten Schlagabtausch, da Inpolt von Binsböckel auch die ersten Attacken nicht parieren konnte.

 

  1. Bernhelm von Ehrenforst vs. Merovahn von Mersingen

Der Kampf dieser zwei ungleich erfahrenen Kämpen ließ Merovahn von Mersingen siegen, jedoch stand der unerfahrene Bernhelm von Ehrenforst zunächst wacker seine Position, wurde aber im zweiten Schlagabtausch eindeutig besiegt.

 

  1. Mirl von Mees-Mersingen vs. Silvana von Firnsjön

Der bisher längste Kampf begann zunächst schwach an beiden Seiten, wurde jedoch vermehrt intensiver. Trotz der unterschiedlichen Erfahrungen der beiden, konnte Silvana von Firnsjön lange durchhalten, doch unterlag letztlich den gekonnten Hieben der von Mees-Mersingen. Sieg von Mirl von Mees-Mersingen im dritten Schlagabtausch, wobei der Jubel der Zuschauer wohl beiden Gegnerinnen galt.

 

  1. Praiosmin von Siebenstein vs. Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum

Unglückliche  Paraden der Ritterin von Siebenstein konnten gegen die Kampfkünste des Gegners nicht standhalten, sodass es bereits im ersten Schlagabtausch zum Sieg von Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum kam.

 

  1. Lares von Mersingen vs. Oleana von Bregelsaum

Stark begann das Gefecht der beiden ähnlich erfahrenen Gegner, was die Menge mit Beifall notierte, doch setzte dann etwas schwach an beiden Seiten. Lares von Mersingen konnte jedoch leicht die Oberhand gewinnen und siegte letztlich im dritten Schlagabtausch.

 

  1. Wando von Richtwald vs. Darbrod von Zweifelfels

Obwohl Wando von Richtwald als der Überlegene galt, so waren seine ersten Schläge unglücklich, während Darbrod von Zweifelfels profund konterte. Dies brachte den Zweifelfelser in eine vorteilhafte Position, aus der auch kompetente Paraden von Wando nicht heraus halfen. Sieg von Darbrod von Zweifelfels im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Praiosmin von Bregelsaum vs. Alrik von Sturmfels

Alrik von Sturmfels eröffnete mit starken Schlägen, denen die RItterin von Bregelsaum nur unvollständig Paraden entgegen werfen konnte. Als die starken Schläge von Alrik weiter gingen, war Praiosmin unterlegen. Sieg von Alrik von Sturmfels im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Tiro von Friedwang-Havensgaard vs. Ilgar von Galebfurten

Gute Manöver beider Kontrahenten, ohne offensichtliche Fehler zu begehen, wurden von den Zuschauern mit Beifall notiert. Letztlich hatte jedoch Tiro von Friedwang-Havensgaard mehr Turniererfahrung, was ihm im zweiten Schlagabtausch den Sieg brachte.

 

  1. Jadvige von Kressenbrück vs. Welfert von Mersingen

Die erfahrene Ritterin von Kressenbrück versuchte sich mit gekonnten Paraden, jedoch erschienen sämtliche Schläge des Heermeisters der Rabenmark kaum parierbar zu sein, sodass Welfert von Mersingen bereits im ersten Schlagabtausch siegte.

 

  1. Ismena von Quellenfels vs. Oda von Vairningen

Stark und ohne sich jeweils Fehler zu leisten begannen beide Streiterinnen den Kampf, doch konnte in weitere Folge die erfahrene Oda von Vairningen die Oberhand zu gewinnen. Ismena von Quellenfels versuchte letztendlich aus einer unglücklichen Position vergebens zu parieren und wurde von Oda von Vairningen im dritten Schlagabtausch besiegt.

 

  1. Alrik Eckbert von Baernfarn vs. Selindra von Windenstein-Zweifelfels

Die Menge jubelte, als der Kampf mit starken Manövern beider Kontrahenten begann. Der Offizier der Nordmärker Flussgarde war jedoch in allem leicht überlegen, sodass trotz solider Paraden von Selindra von Windenstein-Zweifelfels Alrik Eckbert von Baernfarn im zweiten Schlagabtausch siegreich hervorging.

 

  1. Praiodane von Birnwang vs. Reto von Nierenfeld

Dass hier zwei wenig gleichwertige Gegner aufeinander trafen, war allen Zuschauern bereits nach den ersten Sekunden bewusst. Praiodane von Birnwang konnte sich aber mit überraschend guten Manövern halten, wurde jedoch von dem weitaus kampferfahrenen Reto von Nierenfeld im zweiten Schlagabtausch besiegt.

 

  1. Matissa von Bregelsaum vs. Sylvana von Friedwang

Das letzte Duell der ersten Runde war beendet, kaum nachdem es begonnen hatte. Sylvana von Friedwang begann zunächst offensive, aber unüberlegte Attacken. Dies nutzte die von Bregelsaum gekonnt aus, sodass Matissa von Bregelsaum bereits im ersten Schlagabtausch den Sieg errang.

 

Die Efferdsritterin

Sylvanas Atem hachte schwer gegen den metallisch riechenden Stahl ihres Visiers. Gerne hätte sie ihren Helm gelüpft und frische Luft geschnappt. Aber dazu war es nun zu spät. Deggen, der Turnierrichter, gab mit seinem Stab bereits das Zeichen zur Aufstellung. Der Ritter der Löwin blickte ein wenig besorgt, aber auch anerkennend in Sylvanas Richtung. Die blutjunge Kämpferin hatte offensichtlich noch nie ein Gefecht mit dem Zweihänder bestanden.

Matissa von Bregelsaum, ihre Gegnerin, nahm sie durch den Sehschlitz nur als undeutlichen Schemen wahr. Das lag auch an der schwarzen Haarlocke, die Sylvana ins Gesicht hing. Vor allem aber an der vermaledeiten wattierten Unterhaube, die ihr beim Überstülpen des schweren, kantigen Helms verrutscht war (weil sie in der Aufregung vergessen hatte, sie unter dem Kinn fest zu binden). Natürlich hätte Bishdarielons Tochter ihren Kopfschutz absetzen und den Fehler korrigieren können. Aber das hätte nun wirklich etwas peinlich, wenn nicht lächerlich gewirkt. Metallisch klappernd ging sie in Kampfstellung, und kam sich fürchterlich fehl am Platz vor. Einen Moment lang ahnte sie, wie sich "Onkel Alrik" mit seiner Augenklappe fühlte. Sie schwitzte, auch wenn die Sonne nur ab und zu hinter den Herbstwolken hervorblinzelte.

Alboran hatte versucht, ihr noch schnell ein paar Grundgriffe mit dem Zweihänder beizubringen, den Oberhau, den darpatischen Ochs, den Zwerch und den Pflug. Ebenso die dazugehörige Beinarbeit. Schnell hatte das Halbblut gemerkt, dass der Schlotzer Baron selbst nicht allzu viel Ahnung vom altrondrianischen Zweihänderkampf besass.

Sylvana hatte schon einmal einen Bihänder in Händen gehalten. Aber die fesche liebfelder Klinge war eine ausgeklügelte Waffe gewesen, mit Griffringen, Parierhaken und Fehlschärfe dazwischen. Griff man an diese lederumwickelte "Ricasso", ließ sich der Zweihänder fast schon wie ein Stoßspeer gebrauchen, eine Waffe, die dem Mohakind weit mehr zusagte.

Dieser Turnierzweihänder hier hatte weder Griffringe noch eine echte Fehlschärfe, nur eine viereckige Abstufung vor der Parierstange. Eine Übungswaffe. Die Spitze, die in diesem Fall abgerundet war, nannte man "Ort", das hatte Albo noch stolz verkündet. Mit leichter Nervosität ließ sie die Klinge in der Hand rotieren, die gepanzerte Rechte ganz oben am Gehilz, unter der Parierstange, die Linke ganz unten am Griff. Sie hatte das letzte Duell auf dem Turnierplatz noch mit angesehen. Sylvana wusste nicht recht, was sie von dieser Kampfweise halten sollte. Gewiss, wenn man die Klinge meisterlich beherrschte, hielt man damit eine Windmühle aus Stahl in Händen. Das größte aller Schwerter mochte hervorragend dazu geeignet sein, um sich einen Weg durch den feindlichen Pikenwald zu bahnen, als Doppelsöldner. "Zweihänder gegen Zweihänder", das wirkte wuchtig, grob, verbissen. Wie ein wilder Kampf zwischen Bären, Hirschen oder Stieren. Typisch mittelreichisch und darpatisch eben. Keinesfalls plump, aber auch nicht so elegant wie das neckische Spiel des Rapiers oder ein scharfer Anritt mit der Lanze. Deggen wiederholte noch einmal die Regeln. Bei drei Punkten hatte ein Kämpfer verloren. Die erhielt er bei einem Kopftreffer. Zwei Punkte gab es bei einem Rumpftreffer, einen Punkt, wenn es Arm oder Bein erwischte.

Der Geweihte forderte mit seinem Stab zum rondrianischen Gruß auf. Sylvana hob den blitzenden Stahl. Ihre Gegnerin tat es ihr gleich, als wäre sie ihr Spiegelbild.

"Los!"

Der Richterstab senkte sich.

Während Matissa noch in der Hut stand, griff Sylvana sofort mit einem lauten Schrei an, der dumpf und blechern im Helm widerhallte. Sie versuchte einen Oberhau, mit einem großen Ausfallschritt, merkte aber, dass sie ihr Bein zu schnell nach vorne verlagert und ihren Angriff dadurch angekündigt hatte. Der große, matt glänzende Schemen vor ihr parierte mühelos. Sylvana ließ sofort einen wilden Zornhau folgen, was die Bregelsaum für einen Moment zu beeindrucken schien.

Der Schatten wich tänzelnd zurück. Erneut hieb die Efferdsritterin zu, so eifrig, dass sie ihre Waffe einen Herzschlag lang einhändig führte. Sie hatte Glück, der Gegenhieb verfehlte die Klinge, sonst wäre sie ihr zweifelsohne aus der Hand geschlagen worden. Beide Zweihänder verfingen sich ineinander. In Klingenbindung glitt Matissas Ort auf ihren Kopf zu. Sylvana duckte sich weg und hatte erneut Anfängerglück, die Spitze schrammte nur leicht am Helm vorbei. Deggen wertete den schwachen, scharrenden Schnitt nicht als Treffer. Dennoch geriet Sylvana ins Torkeln und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Erneut griff Matissa an, mit einem "Einhorn" über Kopf. Sylvana hatte den Zweihänder bislang für eine schwerfällige Hiebwaffe gehalten. Aber nun merkte sie, wie schnell sich damit eine Deckung durchstoßen ließ. Die Efferdsritterin spürte einen Treffer in der Halsgegend. Die Klinge ihrer Gegnerin bog sich leicht durch.

Sylvana ging erschrocken auf Abstand und schlug die nächste Attacke nur mit Phexens Hilfe beiseite. Ihr eigener, suchender Hieb fauchte ins Leere.

Der formvollendete Unterhau der Bregelsaum traf sie hart und schwer in die Seite, knallte eine üble Delle in den Harnisch, fegte sie von den stahlbeschienten Beinen. Zumindest ihr scheppernder Sturz sah wohl beeindruckend aus, den die Menge jubelte und trampelte wie in der Arena von Al´Anfa. Durch das Visier sah Sylvana, wie die Siegerin ihren Zweihänder gen Praios reckte. Der Schmerz auf den Rippen fühlte sich nach weit mehr als drei Punkten an. Tränen traten in ihre Augen, vor Schmerz, aber auch vor Zorn.

 

Ehelicher Austausch

“Bravo meine Amazone”, strahlte der Galebfurtener seinem Weib entgegen, als sich diese vom Kampfplatz abwandte. Ihr Kampf gegen Sylvana von Friedwang war kurz gewesen, dennoch hatte sie ihn genossen. Die Bregelsaumerin hatte ihre Gegnerin kommen lassen und dann, nach einigen kraftvollen Schlägen, die sie hatte relativ präzise vorhersehen und somit parieren können, eine Lücke in der Deckung genutzt, um den Schlagabtausch zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Ohne auf die Schmeichelei ihres Gatten einzugehen, reichte sie ihm den klobigen Zweihänder, und ihren Helm abnehmen zu können. Ihre Miene war ernst wie stets, zeigte aber dennoch eine Spur von Belustigung. 

“Wie ich hörte, warst du nicht ganz so erfolgreich? Hast du etwa deinen eigenen Rat nicht beherzigt und einen Gegner unterschätzt”, fragte Matissa betont gleichgültig, während sie noch versuchte, ihre Atmung, die vom Kampf in Wallung war, zu beruhigen. 

“Mitnichten”, entgegnete Ilgar voller Selbstsicherheit. "Wer, wenn nicht du weiß, dass meine ‘gefährlichste’ Waffe meine spitze Zunge ist.”

Die Bregelaumerin schnaubte aufgrund der wenig traviagefälligen Äußerung ihres Gatten und fuhr sich durch das rabenschwarze Haar, welches ihr wegen der Anstrengung in Strähnen am Kopf klebte. 

Ungeachtet der Reaktion seines Weibes, fuhr Ilgar fort. “Zugegeben, auf dem Kampfplatz hast du das eindeutig bessere Bild abgegeben, doch ich kann mich bereits jetzt unter die Gäste mischen, dem Wein huldigen und das tun, weswegen wir hier sind.”

Der Galebfurtener grinste frech. “Oder wie würdest du Wunnemars Worte ‘wir sollen versuchen Verbündete zu finden’ deuten? Sicher nicht, indem wir uns die Köpfe einschlagen. 

Nein nein, du meine Liebe lässt die Waffen sprechen, hast deinen Spaß und ich nutze die Gabe, die mir die Götter gegeben haben. Bei meinem Gegner werde ich anfangen.”

Matissa rollte mit den Augen, auch wenn sie wusste, dass die Selbstbeweihräucherungen ihres Gatten immer auch mit einem gewissen Maß an unterschwelliger Selbstironie einhergingen. Am Ende aber hatte Ilgar recht. Er war der Diplomat und nach der Befreiung der Rabenmark waren seine Talente mehr denn je gefordert- mehr jedenfalls als die blutige Schwertarbeit. Um den Frieden zu erhalten und Bündnisse zu schließen, um die Zukunft Tälerorts zu sichern, waren seine Talente nun bedeutender als ihre eigenen. Nicht umsonst war er die rechte Hand des Kanzlers der Mark und Herold des Markgrafen.

“Aber trink nicht wieder über den Durst”, sagte Matissa schließlich, als sie sich schon halb von ihrem Gatten ab- und ihrem Waffenknecht zugewandt hatte. “Ich fühle ein gewisses, aufwallendes Feuer in mir. Es ist gut möglich, dass ich später ‘deiner Dienste bedarf’.

Ilgars Mundwinkel zuckten. “Zunge und Schwert werden stets ‘Gefechtsbereit’ sein meine wilde Rose”, entgegnete er möglichst nüchtern, konnte jedoch in der Tonlage seiner Stimme nicht ganz verhehlen, wie sehr ihm der Gedanke gefiel.

Mit blanker Klinge 

Wiederholt korrigierte Ilgar seinen Stand und lockerte seinen Schultergürtel mit leichten Bewegungen. Das Gewicht des schlanken Anderthalbhänders in seinen Händen war gewohnt und beruhigte den Krieger. Es war nur ein Turnier und keines der unzähligen Gefechte, die der Galebfurtener zur Befreiung und später Verteidigung der Ländereien seiner Familie bestritten hatte und doch, Erregung hatte von ihm Besitz ergriffen. 

Gerüstet in Gambeson, einen langen Kettenmantel mit Plattenteilen, Kettenhosen und Wappenrock in den Farben Tälerorts, sowie einem Topfhelm, stand er taxierend seinem Gegner gegenüber und erwartete das Startsignal des Turnierrichters.

Als die Freigabe für den Kampf kam, ging alles ganz schnell - viel zu schnell. Der erste Aufeinanderprall der Kontrahenten war weniger von Taktik, denn von offenem Kampf geprägt, den noch keiner der Beiden für sich entscheiden konnte. Im Zweiten dann war Tiro von Friedwang-Havensgaard Ilgar gedanklichen einen Moment voraus und so konnte er das Gefecht für sich entscheiden. 

Gern hätte der Galebfurtener seinen Gegner um einen weiteren Waffengang gebeten, doch dies war nicht im Sinne des rondragefälligen Turniers und so nahm er seinen Helm ab und nickte er dem Vogt schwer atmend und respektbekundend zu, bevor er sich vom Kampfplatz entfernte. 

Ilgar hoffte, dass sein Weibe es besser machen würde als er, denn ansonsten wäre sie wohl ‘recht übellaunig’.

Barden begegnen sich

Adlige von Nah und Fern waren der Einladung zum Turnier gefolgt und hatten eine bunte Zeltstadt am Fuße der Burg Gernatsborn errichtet. Die bunten Wimpel flatterten im Wind und die polierten Turnierrüstungen der Ritter glitzerten in der warmen Herbstsonne. Diejenigen aber, die kein Zelt besaßen, was zumeist reisende Händler oder Gaukler waren, suchten das hiesige Gasthaus auf; doch waren dort die Zimmer bereits alle belegt und wenn man sich dann das Bett nicht mit einem Fremden teilen mochte, blieb nur das Stroh im Stall oder ein Schlafplatz unter freiem Himmel als Alternative.

Täglich waren neue Gäste, Ritter oder Bauern angekommen um dem Spektakel des Turniers beizuwohnen. Auch wenn das eigentliche Turnier bereits begonnen hatte, kamen noch immer Reisende an. 

So auch das Pärchen das gerade den Weg hinunter ritt und sich der Zeltstadt näherte. Beide trugen robuste Kleidung, doch einige Stellen waren bereits abgenutzt und ausgebessert worden und auch einige Schlammreste an den Stiefelabsätzen zeugten von einer längeren Reise, die sie hinter sich hatten. 

Am Sattel des Mannes fand man eine Laute, aber man konnte auch den Griff eines Schwertes entdecken, das aus der zusammengerollten Decke heraus ragte. Aufrecht saß er im Sattel und beobachtete aufmerksam das Geschehen im Lager. 

Seine Begleiterin erregte dagegen mehr Aufmerksamkeit: So gafften ihr die Männer hinterher, ein Knecht hatte sogar einen Pfiff auf den Lippen, womit er ihre Schönheit kommentierte; ein anderer, ein junger Ritter, bekam allerdings einen Knuff in die Seite und einen bösen Blick einer Edeldame, weil er ihr mit offenen Mund hinterher blickte. Aber es gab auch einen alten Mann, der bei ihrem Anblick ausspuckte, eine Mutter, die ihre Kinder hastig wegzog, oder einen Stallknecht, der den Blick senkte und jeglichen Blickkontakt mied. Diese Reaktionen waren nicht verwunderlich – denn sie war eine Elfe. Und auch wenn man die Schönheit und die Gewandtheit des Alten Volkes lobte und bewunderte, so herrschte doch überall auch der Aberglaube gepaart mit vielen Vorurteilen.

Am Fuße des Burghügels befanden sich einige Gebäude, eine Schmiede und das hiesige Gasthaus. Ein Schild über dem Eingang zeigte eine Prinzenkrone, die auf einem Schemel ruht. Das sollte den des Lesens Unkundigen als das Gasthaus Gerbaldsrast ausweisen.

Auch wenn die beiden Neuankömmlinge nicht wirklich erwarteten, dort noch ein freies Zimmer zu finden, führte ihr Weg sie dennoch dort hin, saßen davor ab und betraten den Schankraum. (Der oben erwähnte Stallknecht sollte solange auf die Pferde aufpassen.) Drinnen war es rappelvoll, jedes Tisch war besetzt viele standen an der Theke und weitere quetschten sich auf jeden Platz der noch irgendwie verwendet werden konnte. Die Schankmagd hatte alle Mühe ihr Tablett mit Krügen von Bier und Wein durch die Menge zu balancieren. Irgendwo war auch ein Barde zu sehen, der auf einem Stuhl stand und ein Lied zu singen versuchte, während er auf der Laute einige Seiten zupfte; doch der Geräuschpegel war so hoch, daß man ihn kaum hören konnte – etwas was dem Barden wohl auch langsam klar wurde und frustriert mit einer abfälligen Handbewegung vom Stuhl stieg. Die Elfe rümpfte ihre Nase bei dem Gestank nach Bier und Schweiß, das in der Luft hing. 

Der Neuankömmling bahnte sich seinen Weg zur Theke, die Elfe folgte geschickt in seinem Fahrwasser. "Die Götter zum Gruße, guter Mann", sprach der Mann den Wirt an. "Gibts du uns zwei Getränke? Und vielleicht auch eine Auskunft?"

"Natürlich", meinte der Wirt erst, der gerade ein Bier zapfte. Blickte auf und sogleich verzog sich sein Gesicht. "Nein, nichts da! So jemanden wie euch bedienen wir hier nicht."

Die beiden Neuankömmlinge waren irritiert. "Wir hatten einen langen Ritt", sagte er Mann, " und sind durstig. Wir haben auch Geld ..." Doch der Wirt unterbrach ihn.

"Ich will euer Elfensilber nicht. Ich sagte, verzieht euch!" Der Wirt wandte sich demonstrativ ab.

Der Barde, der vorhin sein Gesang abgebrochen hatte, erschien neben ihnen – man hörte Worte wie "Banausen" oder "Barbaren" aus seinem Mund. Als er an der Theke ankam rief er laut zum Wirt "Gebt mir drei Bier, Wirt" und warf drei Heller auf den Tresen. Der Barde wurde sogleich bedient. Die beiden Neuankömmlinge wechselten einen Blick und der Mann wollte sich gerade wieder an den Wirt wenden, als der Barde ihm zwei der drei Krüge reichte. "Geht auf mich" sagte der Barde, wobei er zwinkerte. Und etwas lauter sagte er: "Der Wirt muß noch lernen was traviagefällige Gastfreundschaft bedeutet." Der Wirt verschränkte nur missbilligend die Arme, sagte aber nichts.

"Kommt mit, meine Freunde. Laßt uns doch einen Ort aufsuchen, wo mehr kultiviertheit herrscht und man die Kunst, die man hier darbietet, auch entsprechend gewürdigt wird."

Man verließ das überfüllte Gasthaus. "Vielen Dank für Eure Unterstützung", sagte der Mann, als sie wieder an der frischen Luft waren.

Der Barde winkte ab. "Ach, das war doch selbstverständlich", sagte er. "Der Wirt ist ein Knauserer und ein Banause. Wollte tatsächlich Geld von mir, wenn ich dort auftrete! Könnt Ihr Euch das vorstellen? Er wollte von mir, Nepolemo Romero ya Trequona, den größten Barden, den Aventurien je gesehen hat, Geld verlangen! Er hätte eigentlich mir Geld geben müssen, dafür daß ich in seiner jämmerlichen Kaschemme auch nur eine Seite meiner Laute zupfe!" Der Barde schüttelte den Kopf, trank dann in einem Zug seinen Becher aus und warf ihn in den Trog neben der Tür. "Außerdem", fuhr er dann schließlich fort, "kann ich doch einen Kollegen nicht im Stich lassen", zwinkerte er. "Wir Künstler müssen auf der Straße zusammen halten." 

"Wie kommt ihr darauf, daß ich auch einer bin?"

"Nun, Eure Laute", sagte Nepolemo und deutete auf den Sattel, wo das Musikinstrument befestigt war. "Ich habe Euch vorhin durch das Fenster gesehen, als ihr angekommen seid."

"Nunja, eigentlich spiele ich noch nicht lange darauf, demnach ..." Er zuckte mit den Schlultern. "Ihr könnt mich übrigens Alrik nennen", fuhr er fort. "Und das hier", er deutete auf seine Begleiterin, "ist Nahéniel." 

"Es ist mir eine überaus große Ehre! Darf ich mich nochmals vorstellen? Nepolemo Romero ya Trequona, auch Seidenklang genannt, der größte Barde Aventuriens! Oder zumindest auf dem Weg dorthin", sagte Nepolemo, nahm seinen Hut mit der großen Pfauenfeder darauf ab und verbeugte sich galant nach vollendeter horasischer Art. Als er sich wieder erhob, sagte er zur Elfe gewandt: "Nahéniel, ein wunderschöner und klangvoller Name, wie es nicht besser zu Eurem edlen Volk passt." 

"Vielen Dank", lächelte Nahéniel. 

"Und der Name Alrik: so allgegenwärtig, daß er wieder besonders ist. In der Einfachheit liegt die Würze, sage ich immer. Wußtet Ihr, daß der Name im tulamidischen 'der Königliche' bedeutet?" 

Alrik nickte. "Ich habe davon gehört."

"Dann werdet ihr bestimmt meinen Herrn kennen lernen wollen", fuhr der Barde fort. "Nun, er ist nicht wirklich mein Herr, aber er ist ein Herr. Er bot mir an in dieser unruhigen Zeit in seiner Gefolgschaft zu reisen. Ich nehme an, ihr habt von der Fehde in Garetien gehört? Ja? Dann wisst Ihr ja wovon ich rede. In einer Gruppe zu reisen ist dieser Tage sicherer. Deswegen nahm ich das Angebot des Herrn nur allzu gerne an. Und wenn ich dabei noch ein wenig von seinen Heldentaten erfahre und daraus eine Ballade schreiben kann, dann ist das nur um so mehr für mich ein Gewinn. Wenn ihr wollt mache ich ihn Euch bekannt? Er ist ein großzügiger und wohlwollender Herr, so daß Ihr bestimmt in seinem Zelt unterkommen könnt. Er hat ein recht großes Zelt müßt ihr wissen. Und sein Name wird euch erstaunen. So einfach sein Name und so alltäglich er ist, ist er, wie der Eure, mein lieber Alrik, etwas besonderes: Alrik von Sturmfels." 

Sein Redeschwall brach ab, als er den Krug Bier in Nahéniels Händen bemerkte. "Aber meine Holde, wie ich sehe, habt ihr noch keinen einzigen Schluck getrunken ..." 

"Ja, weil es Bier ist", meinte Nahéniel nicht unfreundlich. Aber als Zeichen des guten Willens nippte sie daran – schließlich lebte sie schon lange genug unter den Menschen. 

Alrik lachte, als er das verdutzte Gesicht des Barden sah und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Ihr müsst wissen, Nepolemo, Elfen vertragen kein Alkohol." 

Nach ein paar Worten des Bedauerns für die arme elfische Rasse und den Alkohol betreffend, führte der Barde die beiden schließlich zum Zelt des Herrn von Sturmfels. Vom Barden erfuhren sie, daß er ein Heckenritter war, der seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch Turniere erwarb. So reiste er von Turnier zu Turnier und hatte über die Jahre eine beachtliche Erfahrung gesammelt. 

Als sie sein rotweißes Zelt erreichten, war der Herr von Sturmfels eben aus einem siegreichen Turniergang im Zweihandkampf zurück gekommen und verhandelte mit der besiegten Ritterin die Auslosung ihrer Rüstung. Bis zu Kaiser Reto war es noch üblich, daß man Pferd und Rüstung im Turnier an den Sieger verlor und da man verhindern wollte, daß nach einem Turnier plötzlich alle Ritter bar einer Rüstung waren und zum Fußkämpfer degradiert wurden (schließlich hatten die meisten nur dieses eine), war es üblich, daß man Rüstung und Pferd für einen gewissen (vergleichsweise geringen) Geldbetrag auslöste. 

So verdient er also seinen Unterhalt im Turnier, dachte Alrik. 

Auch wenn die kaiserlichen Turniere seit Kaiser Reto nicht mehr so abliefen, war dieser Brauch im ländlichen Raum oder in den Provinzen nicht unüblich. Auch wenn es von den meisten Turnierausrichtern nicht gern gesehen wurde, war es dennoch geduldet. 

"Ihr habt gut gekämpft, Herr von Sturmfels. Rondra war mit Euch", überreichte ihm die Ritterin einen Beutel mit Geld. "Und von Phex habt Ihr die Gabe des Verhandelns. Ich hoffe ich muß nicht nochmals im Turnier gegen Euch antreten." 

"Auch Ihr habt gut gekämpft. Es war mir eine Ehre, Frau Praiosmin", antwortete der bärtige Herr von Sturmfels. "Und wer weiß? Vermutlich werdet Ihr das nächste mal gewinnen." Nachdem die Ritterin gegangen war, legte er die Münzen in eine Schatulle und verschloss diese mit einem Schlüssel. 

Anschließend betraten sie das Zelt und stellten sich dem Herrn von Sturmfels vor. Auch wenn er anfangs nicht sehr begeistert war von der Eigenmächtigkeit des Barden, so wiederholte er dennoch die Einladung in Travias Namen. Und der Ritter sollte es nicht bereuen, denn seine Gäste waren nicht nur hilfsbereit und freundlich, sondern man konnte sich auch gut mit ihnen unterhalten und waren eine angenehme Gesellschaft. Und, vielleicht war das sogar das Wichtigste, wußten sie auch, wann man sich mal nicht unterhalten wollte – eine Eigenschaft, die dem Barden fehlte. 

Den Rest des Tages erkundigte man sich über die Begebenheiten auf dem Turnier und sah den Turnierdurchgängen zu und am Abend, als es feuchtfröhlich wurde, sammelte man sich um ein Lagerfeuer und lauschte den Gesängen des Barden, der von einer bezaubernden Elfe auf der Flöte und von einem weiteren Musikanten auf der Leier begleitet wurde.

 

Zweite Runde

 

  1. Storko von Gernatsborn-Mersingen vs. Glyrana von Mersingen

Welch Zufall! Der erste Kampf der zweiten Runde wurde von den gastgebenden Eheleuten eröffnet. Man möge annehmen, dass sie einander im Kampfe schonen wollten, doch mitnichten. Der märkische Wehrvogt begann mit gekonnten Attacken, denen seine Gattin nicht gewachsen war, sodass Storko von Gernatsborn-Mersingen bereits im ersten Schlagabtausch siegte. Über die Reaktion von Glyrana konnte man nur spekulieren, denn den Helm nahm sie danach nicht ab und verließ kommentarlos das Feld.

 

  1. Eberhelm von Binsböckel vs. Gerbold von Zwölfengrund

Die zwei erfahrenen Kontrahenten begannen gleichwerte Attacken und Paraden. Nur am Ende des ersten Schlagabtauschs konnte der Zwölfengrunder leicht die Oberhand gewinnen. Seine Position konnte er im weiteren Kampfverlauf noch weiter ausbauen, sodass Eberhelm von Binsböckel nicht mehr parieren vermochte. Sieg von Gerbold von Zwölfengrund im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Merovahn von Mersingen vs. Mirl von Mees-Mersingen

Auch wenn unter den beiden Mersinger Verwandten der Pfalzgraf zu Weidleth als der kompetentere Streiter galt, so konnte Mirl von Mees-Mersingen überraschend punkten und im weiteren Kampfverlauf noch mit stärkeren Attacken nachsetzen. Sieg von Mirl von Mees-Mersingen im zweiten Schlagabtausch.

 

  1. Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum vs. Lares von Mersingen

Beide Duellanten setzten zwar aus Sicht eines erfahrenen Turnierrichters eher mittelmäßige Attacken an den Tag, doch war der Bregelsaumer dabei Lares von Mersingen sichtlich überlegen und dieser wurde zunehmend in die Ecke gedrängt. Die letzten Paraden waren erfolglos, sodass Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum im zweiten Schlagabtausch den Sieg errang.

 

  1. Darbrod von Zweifelfels vs. Alrik von Sturmfels

Rasch ging das Duell zuende. Beide sichtlich erfahrenen Kämpen schlugen aufeinander zu, jedoch war Darbrod von Zweifelfels bei jedem Klingenwechsel leicht überlegen und errang somit gegen Alrik von Sturmfels bereits im ersten Schlagabtausch den Sieg. 

 

  1. Tiro von Friedwang-Havensgaard vs. Welfert von Mersingen

Die Stimmung des schaulustigen Volkes schwang sich in neue Höhen als zwei wahrlich erprobte Kämpfer ihre Kunst zeigten. Beide schlugen mit weiten Schwüngen ihre Zweihänder gegeneinander und konnten sie genauso gekonnt parieren. Auch im weiteren Verlauf ging es derart weiter, bis beide sichtlich ihre Kondition in Anspruch nehmen mussten. Erst im dritten Schlagabtausch zeigte sich die leichte Überlegenheit des Heermeisters der Rabenmark, als Tiro von Friedwang-Havensgaard in den Paraden leicht schwächelte, was Welfert von Mersingen mit gekonnten Finten den Sieg bereitete. Doch auch dem Verlierer war ob des guten Duells die Gunst der Zuschauer sicher.

 

  1. Oda von Vairningen vs. Alrik Eckbert von Baernfarn

Auch das folgende Duell ließ die Menge weiter in guter Stimmung, denn beide Kontrahenten begannen sogleich mit starken Schlägen. Auch wenn der Baernfarner als der leicht erfahrenere Gegner galt, so vermochte Oda von Vairningen kleine Schwachstellen des Nordmärker Offiziers auszunutzen. Im zweiten Schlagabtausch setzte Oda von Vairningen genauso gekonnt nach und errang so den Sieg.

 

  1. Matissa von Bregelsaum vs. Reto von Nierenfeld

Überraschend schnell gestaltete sich der letzte Kampf der zweiten Runde. Der weitaus turniererprobtere Reto von Nierenfeld setzte mit gekonnten Finten der Bregelsaumerin gleich zu Beginn derart zu, sodass sie diese nicht parieren vermochte. Sieg von Reto von Nierenfeld im ersten Schlagabtausch. 



Unterlegen 

“Untersteh dich”, bellte Matissa Ilgar an, als sie in das Zelt trat und kam ihm so zuvor, der gerade etwas zu ihrem Kampf in der zweiten Runde, ihrer Niederlage sagen wollte - etwas beschwichtigendes versteht sich. “Hilf mir lieber dabei die Rüstung abzulegen”, forderte sie im immer noch harschen Ton und warf dabei ihren Helm auf das Lager am Boden.

Ilgar indes zog eine Augenbraue hoch, verkniff sich jedoch jeden Kommentar. Er war schließlich kein Narr. Seinem Weib in dieser Situation zu widersprechen, käme dem Anzünden von Hylailer Feuer gleich. Einmal entfacht, wäre es bzw. in diesem Falle sie nicht mehr zu besänftigen gewesen. 

Er tat wie ihm geheißen und ging ihr stumm zur Hand, die Plattenteile und im Anschluss das Kettenhemd auszuziehen. Als sich danach wieder aufrichtete, zog sie noch das Wams aus und stand dann nur noch mit einem vor Schweiß nassem Unterhemd vor Ilgar, der sie ‘interessiert’ musterte. 

“Ja”, sagte sie und diesmal war es ein fast schon gurrender Tonfall, der die Härte plötzlich verloren hatte, auch wenn sie immer noch schwer atmete, dem Gefecht und auch dem Kampf mit dem Kettengeflecht geschuldet. 

Mit einem: “dir zumindest werde ich nicht unterlegen sein”, stieß sie Ilgar Rückwärts auf das Lager hinter ihm und streifte sich dann auch das Unterhemd ab. Der Rabenmärker aber grinste frech: “Oh holde Maid, ich ergebe mich und strecke meine Waffe.”

 

Verdachtsmomente - Erster Teil

Alrik hob die Armbrust und legte auf die bunt beringte Strohscheibe an. Hinter den Zielen waren Strohballen und ein Zaun aus Weidengeflecht als Pfeilfang aufgestellt worden. Links und rechts von ihm übten einige weitere Schützen. Die meisten Bogner sahen aber noch beim Zweihänderkampf zu. Der Baron von Friedwang wusste es zu schätzen, dass er das rechte Auge nicht zukneifen musste. Er betätigte den Drücker, der Bolzen sauste durch die Luft und klatschte recht nahe an der Mitte ins Stroh.

"Kein schlechter Schuss" kommentierte Hesindian, der hinter ihn getreten war. "Vielleicht solltest du doch beim Wettbewerb antreten? Es sind erstaunlich viele Edelleute dabei."

"Ich habe auf die Scheibe links daneben gezielt",  knurrte der Mondschatten und stapfte, nicht ohne Schulterblick, auf die Schussbahn. 

"Sicher der Herbstwind, Euer Hochgeboren" Hesindian trottete hinterher.

Alrik lehnte die Armbrust an das Gestell, an dem die Scheibe hing. Vorsichtig drehte er seinen Bolzen aus dem gepressten Stroh, prüfte die Spitze und die Fiederung. Letztere schien noch einigermaßen heil zu sein, auch wenn das Geschoss tief ins Ziel eingedrungen war.

"Schade, dass es keinen Wettbewerb mit dem Messer und Wurfstern gibt. Also, was hast du herausgefunden?"

"Alboran und Sylvana verstehen sich erstaunlich gut. Auch wenn ich mich gewiss geschickter mit dem Zauberstab anstelle als die beiden mit dem Zweihänder."

"Ja, das war so gewollt. Mein Sohn hat ebenfalls versucht, ein bisschen was aus der kleinen Chekpa rauszubekommen. Wie Sylvana mit Kindernamen heißt. Viel entlockt hat er ihr nicht. Offenbar ist Efferdobal di Camaro auf sie aufmerksam geworden. Der Bewahrer von Wind und Wogen, in diesem Hafenstädtchen Efferdas bei Belhanka. Bishdarielon hat geglaubt, dass sie im Horasreich vor den Nachstellungen der Al´Anfaner sicher ist. Aber die Klaue des Raben reicht weit, bis ins Haus di Camaro. Die Familie ihres Förderers scheint gute Beziehungen nach Mengbilla zu haben. Auf diese Weise hat Sylvana erfahren, dass ihre Mutter noch am Leben ist, und sich in Al´Anfaner Sklaverei befindet." Der Friedwanger verstaute den Pfeil in einem kleinen Köcher am Gürtel. "Angeblich. Es soll auch schon ein Preis übermittelt worden sein".

"In Dukaten? Horasdor? Oder anderen Gefälligkeiten?" Hesindian drückte mit dem Finger einige Strohhalme in die durchlöcherte Scheibe zurück. "Ihr Vater ist ein Landmeister des Golgaritenordens und somit ein erklärter Feind der nemekathäischen Ketzerei. Außerdem steht er dem Hause Mersingen nahe. Was ihm zu einem lohnenden Ziel von Intrigen macht. Die Silberberger haben ihre Handlanger überall."

"Zumindest wollen sie diesen Eindruck erwecken." Der Baron von Friedwang kramte eine Schnupftabakdose hervor. Beiläufig bot Alrik sie seinem Leibmagier an, der dankend ablehnte.

Der Friedwanger klopfte etwas Tabak auf den Handrücken und zog die Prise geräuschvoll durch die Nasenlöcher ein.

"Serwa sagt, ich soll mir endlich das Rauchen abgewöhnen", sagte Alrik entschuldigend und tupfte sich mit einem Taschentüchlein den Bart sauber. "Bevor ich den Palast in Rommilys einräuchere."

Hesindians Blick fiel auf die holzgeschnitzte, runde Dose, die mit einem schnaubenden darpatischen Stierkopf geschmückt war, in Rot auf Gelb. Wenn er es richtig gesehen hatte, war die Innenseite des Deckelchens mit einem Spiegel versehen. Vermutlich nutzte sein Freund dieses Accessoire nicht zum Schminken. Sondern, um damit diskret seine Umgebung im Auge zu behalten. Blinkzeichen konnte man damit vermutlich auch geben.

Den Magus hätte es nicht gewundert, wenn unter dem würzig und süßlich riechenden riechenden Tabak nicht auch noch etwas anderes versteckt gewesen wäre, ein Stückchen Draht etwa oder eine Goldmünze, für Notfälle.

"Sylvana selbst könnte die Spionin sein", schlug der Hofzauberer mit gedehnter Stimme vor. "Ehemalige Sklaven sind die besten Aufseher."

"Deswegen bin ich ja auch Baron geworden. Nein, ernsthaft. Dafür verhält sie sich zu auffällig". Alrik steckte die Dose wieder in die Schaube. "Aber Bischs Verwundbarkeit bereitet mir ebenfalls Sorgen. Gut, dass Alboran auf Zack war. So viel geplaudert haben die beiden leider nicht miteinander. Hm, warum erstatte ich hier eigentlich die ganze Zeit Bericht?! Eigentlich solltest Du der Efferdsritterin mal auf den Zahn fühlen, Hesindian. Hast Du ihr mal ins Köpfchen geschaut ?!"

"Wie? Ach so ja. Keinerlei Anzeichen von Magica Controllaria. Sylvana glaubt, was sie sagt. Übrigens denkt sie manchmal auf Mohisch, was ich faszinierend finde. Auch sonst habe ich weit und breit keinerlei Hinweise auf magisches Wirken festgestellt...bei einer listigen Dienerin des Raben wie Magistra Esteforia muss das aber nichts heißen".

Alrik spannte die Armbrust erneut. "Sie scheint wirklich ein bisschen nach rechts zu ziehen. Bin aber auch schon ein wenig eingerostet, seit dem letzten großen Krieg."

Hesindian grinste, ein wenig verlegen. "Ach ja. Ich konnte übrigens nicht wiederstehen...und hab gleich noch bei den Praioten vorbeigeschaut. Nach der Mittagsandacht im Tempelzelt."

Alrik blickte hoch: "Du hast....was ???"

"Irgendwas war bei den Sonnenanbetern los. Da herrschte ziemlicher Andrang, auch nach dem offiziellen Brimborium. Viel gemeines Volk. Falkwart hat geweihte Amulette, Gebetszettelchen und Segenssprüche verteilt, für auffallend kleine Münze. Das musste ich mir anschauen..."

Der Baron von Friedwang blickte um sich, aber die übrigen Schützen standen in einiger Entfernung, spannten ihre Bögen, plauderten oder ließen Pfeile fliegen.

"Sag jetzt bloß nicht, du hast..."

"Ein wenig Mäuschen gespielt, doch, doch. Ein VISIBILI, was ist schon dabei. Das Zelt ist nicht mal ordentlich geweiht, das hätte ich gespürt. Nur Falkwart hat irgendwie den siebten Sinn. Hat ständig in meine Richtung gespäht."

"Hesindian, wenn sowas auffliegt. Ich kann für dich nicht ständig die Kastanien aus dem Feuer holen. Denk an die Geschichte mit dem Passierschein. Momentan geben sie in der Siegesbasilika Ruhe. Weil du nach Rübenscholl ziehen möchtest, in ein echtes Labor. Weg von der Burg. Außerdem habe ich durchblicken lassen, dass du gelegentlich für das Informationsinstitut arbeitest. Stimmt zwar nicht ganz, ist aber auch nicht völlig gelogen. Außerdem hat Falkwart Respekt vor Adelstiteln. Aber das schöne Wetter ist sicher nicht von Dauer. "

"Diese Friedwanger Spießer. Wenn sie sich nur die Mäuler zerreißen können. Janne stammt von einem Bergbauernhof. Aber sie ist bereit, ihr Leben mit einem weißhaarigen, übel beleumundeten Magier zu verbringen. Nur den Schlangenturm wollte ich ihr nicht zumuten. Celerions Laboratorium in der Blutulmengasse, das ist für eine junge Trollzackerin fast schon ein Palast. Capito?" Hesindian verzog den Mund, im Gedanken an seinen seligen Magierfreund und dessen Lieblingsfloskel.

"Capito. Aber Janne vom Föhrenhof ist auch neben einem Geisterdorf groß geworden. Da ist sie finstere Spukgestalten gewohnt." Alrik grinste. "Nun schau nicht so. Kleiner Scherz. Ich adele sie dir noch bei Gelegenheit. Dann könnt ihr beide vor den Altar der Travia treten. Aber einstweilen darf ich meine Praioten nicht zu sehr provozieren. Um was ging es denn im heiligen Zelt?"

"Unser Herr Hilfsinquisitor Falkwart Malachanias möchte anscheinend wissen, was es mit dem Attentat auf Glyrana auf sich hatte. Mit dem Mordanschlag und dem unseligen Sturm, der danach das Bergwerk zerstört hat. Offenbar soll er in Rommilys Bericht erstatten. Aber in dem Fall ist die Gerüchteküche mal auf unserer Seite. Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Bauern erzählen die tollsten Geschichten, etwa, dass man im Wirbelsturm die Fratze Yasinthe Dengsteins gesehen hätte. Der Commissarius hält das Unwetter für namenloses Wirken. Wutzen sind für ihn nur Märchengestalten."

Hesindian spähte umher. "Trotzdem. Schlau gemacht, das mit dem Zelt. Jetzt beim Turnier können sie sämtliche Bauern der Umgebung aushorchen. Als ich am Zelteingang gelauscht habe, da haben sie gerade den Schankwirt ins Gebet genommen, vom Gerbaldsrast. Der hat irgendetwas von einer Elfe erzählt, die bei ihm im Gasthaus aufgetaucht ist. Worauf das Bier in einigen Krügen sauer geworden sein soll. Elfen mögen nichts Gebrautes oder Gebranntes, deswegen lassen sie es verderben...Seine Worte..."

"Ja, praiosgefällige Wahrheiten sind nicht unbedingt dasselbe wie phexgefällige Tatsachen. Die goldige Kirche wird diesen kleinen, aber feinen Unterschied nie so recht verstehen, fürchte ich." Der Friedwanger schulterte die Armbrust und schlenderte zurück. "Wenn Falkwart wüsste, dass zwei der Wutzen sogar beim Turnier dabei sind. Deine Idee war vielleicht gar nicht so schlecht. Das mit dem Lauschen, meine ich. Hast du noch mehr herausgefunden?"

"Naja, dieser Falkwart hat ständig in meine Richtung geblickt, während er seine Notizen geschrieben hat. Da wurde mir doch ein bisschen blümerant zumute. Ich wollte mich schon zurückziehen, als...wie soll ich sagen...So unphexisch ist dieser eitle Möchtegerninquisitor gar nicht."

"Nun machs mal nicht gar so spannend." Alrik nahm am Ende der Schießbahn Aufstellung und legte wieder ein Geschoss in die Führungsrinne der Armbrust.

"Naja, plötzlich kam diese rothaarige Thorwalerin rein, diese Alfhildr. Mit irgendsoeinem Schnapphahn im Schlepptau. Der wollte glatt lange Finger bei ihr machen. Ihr den Dukatenbeutel ratzen. Unglaublich. Wir sind hier doch nicht in Rommilys. Sondern auf dem perainegefälligen Land."

Der Friedwanger hob seine Armbrust. "Glaub mir. Diebesgesindel findet man überall. Selbst in den höchsten Positionen."

"Jedenfalls haben sie den Kerl ordentlich in die Mangel genommen. Falkwart hat ihm erst einmal erklärt, was eine Walwütige ist. Und dass er danach von Storko Hiebe bekommen wird. War ganz amüsant. Die kleine Ratte war erstaunlich dreist. Hat das Bürschlein dem Erzpriester doch glatt einen Ehrenhandel angeboten."

"Ehrenhandel?" Alrik drückte ab. Der Bolzen zischte auf die anvisierte Strohscheibe und traf sie diesmal immerhin am Rand.

"Sein Wissen gegen Falkwarts Vergessen. Der Langfinger hat gesehen, wie einer von Storkos Dienern was in ein Getränk geschüttet hat, hinter einem Zelt. Einer der Lakaien, die zur Mittagszeit herumgelaufen sind und die Gäste bedient haben, mit dem Tablett."

Alrik ruckte herum und hustete nervös. "Nein, nicht schon wieder ein Giftanschlag ?! Dunkler Trost, Morfunello, ich habe genug von dem Zeug. Warum sagst du das erst jetzt?"

"Nun, das ist über eine Stunde her. Soweit ich weiß, ist bislang niemand von den adeligen Gästen zusammen gebrochen."

"Bislang, ja...Es gibt aber auch Langzeitgifte, mein werter Freund. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich kenne beide Seiten zur Genüge." Alrik biss sich auf die Unterlippe. "Ach verdammt. Storko hat wenig Glück mit seinem Gesinde."

"Nun, es scheinen momentan sehr viele Aushilfsdiener umher zu wuseln. Die kann man gar nicht alle überwachen."

"Na wunderbar. Wir waren wieder mal ziemlich blauäugig, so kurz nach dem Anschlag auf Glyrana. Die Junkerin. Was ist, wenn die es nochmal versuchen?" Alrik spähte in Richtung Turnierplatz, von wo der Lärm der Zweihänderkämpfe zu hören war.

"Sei unbesorgt, die kämpft gerade putzmunter gegen ihren eigenen Gemahl. Zweite Runde...Gegen Armbrustbolzen ist Glyrana diesmal bestens gewappnet."

"Gegen vergifteten Wein hilft der beste Harnisch nichts. Wir müssen sie warnen."

"Nun, wenn ich den Dieb richtig verstanden habe, war es kein Wein, der da auf dem Tablett stand. Sondern nur ein Krug mit Apfelsaft oder irgendsowas. Welcher echter Streiter der Mark trinkt schon...Saft, bei einem rondragefälligen Turnier? Womöglich hat er sich die Geschichte nur ausgedacht. "

Der Freiherr von Friedwang sah Hesindian entsetzt an: "Heiliger Assaf! Hast du gerade...wirklich Apfelsaft gesagt?"

"Aber...Alrik...was ist los?"

 

Der Baron lief bereits mit hochrotem Kopf in Richtung Kampfplatz. 

Haldana. Seine Schwiegertochter hatte sich einen Becher Apfelsaft reichen lassen, bei der Auslosung der Duellpaare. Geheimer Kammerherr der Markgräfin. Jämmerlich versagt hatte er, bei der Absicherung des Turniers.

Der Blick des Friedwangers wanderte zur Tribüne. Auf dem Ehrenplatz saß Halda, strich über ihren Bauch und schäkerte zwanglos mit Alboran. Beide schienen sich bestens zu amüsieren. Falscher Alarm?! Der Blick des Mondschattens wanderte über die Menge, aber von einem Attentäter war weit und breit nichts zu sehen. Es lebe der Wahn der Verfolgung...Wer sollte der Baronin denn nach dem Leben trachten? Die Al´Anfaner? Namenloses Geschmeiß? Oder ging es am Ende um das ungeborene Kind, das deutlich sichtbar in Haldanas Leib heranwuchs?

Etwas abseits, zwischen den Zelten, erspähte der Baron Falkwart Malachanias, der zusammen mit Luminifer Ucurian, Bruder Praiodîn, einer gutmütig blickenden Novizin und zwei "Büßern" unterwegs war. Sie schienen nach etwas zu suchen. Der eine Leibwächter war ein glatzköpfiger, untersetzter Allerweltssöldner, dessen Gesicht von einer üblen Narbe verunstaltet war. Bei seiner Gefährtin handelte es sich um die Rote Alfhildr, die wiederum den Dieb gepackt hatte und halb vor sich her schob, halb hinter sich her zerrte. Alrik hatte ihn sich als miesen Typen wie diesen Rommilyser Schurken Raberto vorgestellt. Aber es war wirklich nur ein halbwüchsiges, pickliges Bauernbürschchen, das da  in die Fänge der Praioskirche geraten war. Genauer gesagt in die Pranken einer Thorwalerin. Ein kleiner, unerfahrener Gelegenheitsdieb, eingeschüchtert und dreist zugleich. Alrik hatte auch mal so angefangen. 

Zusammen mit Hesindian steuerte Alrik den “Hohen Commissarius” des friedwanger Praiostempels an, der seinen Falkenblick  umherwandern ließ.

"Ehrwürden Falkwart, Ihr scheint etwas verloren zu haben? Doch nicht etwa Euren Glauben, hahaha. Darf ich Euch beim Suchen helfen?"

Der blondgelockte Geweihte in seinen hohen Dreißigern hatte gerade mit dem Sonnenszepter zwischen zwei Säcken gestochert und blickte stirnrunzelnd in Richtung der Neuankömmlinge.

"Euer Hochgeboren...Euer Wohlgeboren!" Falkwart hob grüßend seine Ritualwaffe, die im Praiosschein glänzte. Es wirkte ein klein wenig drohend. Ucurian Lansborn trat breitbeinig hinter ihm. Praiodîn Xerber wirkte zerknirscht und melancholisch. Aber so sah er in letzter Zeit immer aus. Er hatte einige Sünden auf dem Kerbholz, so viel wusste Alrik. Unter anderem war er der Vater einer magiebegabten Tochter, die er "versehentlich" mit der Zaberger Tsageweihten gezeugt hatte.  

"Hesindian Sylpho ya Paitos!" zischte Ucurian Lansborn. Der hagere Luminifer mit Topffrisur verhehlte keine Sekunde lang seinen Hass auf den Graumagier. "Ich dachte, Hochgeboren Alrik hätte Euch vom Hofe entfernt? Pech und Schwefel trennen sich wohl niemals so richtig, dünkt mir."

"Nun, das hier ist Burg Gernatsborn" sagte Alrik, betont gelassen. "Es ist nicht ungewöhnlich, wenn sich Edelleute zu einer Hochzeitsfeier treffen. Warum sollte nicht auch der Edle von Orweiler vorbeischauen, bei einem derart freudigen Anlass? Das mit dem Pech und Schwefel müsst Ihr mir schon genauer erklären...Wie darf ich das verstehen, Ehrwürden Ucurian?"

"Sylpho ya Paitos, schon der Name klingt für mich nach Schwefel und Pech" sagte der Luminifer. "Nach gefährlichen Dingen, die manchmal mit einem großen Feuer enden."

"Phaitos. Mein Name ist Hesindian Silpho ya Phaitos." Hesindian lächelte bemüht. "Außerdem Sylpho, nicht Sulfur. Ihr scheint auch sonst wenig von mir zu wissen."

"Bitte, bitte, die Herren, wir sollten die friedwanger Geschichten in Friedwang belassen", sagte Falkwart mit glattem Lächeln. Es war kein Geheimnis, dass der Commissarius und der Luminifer bereits um die Nachfolge im Prätorenamt von Marktfriedwang rangelten. "Schließlich sind wir hier alle nur Gäste. Gut, dass wir uns treffen, werter Baron. Am Tatort sozusagen. Ich hätte da noch ein paar Fragen, wegen diesem Attentat und dem Sturm...Ihr versteht, dass ich die Gastgeber nicht zu sehr damit behelligen möchte."

"Habt Ihr eine neue Spur?" Alrik wies zwischen die Zelte.

"Der junge Tunichtgut hier." Falkwart deutete auf den Gefangenen. "Sein Name ist  Gilbert. Nun, er hat doch tatsächlich versucht, Tempelwächterin Alfhildr zu bestehlen. Ein paar Stockschläge, damit kann man es in diesem Fall wohl bewenden lassen."

"Aber, Euer Gnaden..." maulte Gilbert und wurde sofort am Schlafittchen gepackt. "Ihr habt mir versprochen, dass Ihr mich nicht bestrafen werdet. Wenn ich Euch alles berichte, was ich weiß. Das habe ich, ich schwörs beim Herrn Praios."

"Ich werde dich ja auch nicht bestrafen. Das Urteil obliegt allein dem Grundherren."

"Aber Ihr habt es versprochen..."

"Möchtest du, ein kleiner, ehrloser Dieb, mich, einen Diener des Wahren Glaubens, etwa der Lüge zeihen?"

"Nein, Herr!"

"Das möchte ich dir aber geraten haben, wenn ich ein gutes Wort für dich einlegen soll. Nichts weiter habe ich dir versprochen. Also, wo hast du den verdächtigen Zwischenfall bemerkt?"

"Dort drüben, Herr"

"Ah, und du standest wo?"

"Dort, an dem Zelt."

Gilbert wies auf den blau und rot gestreiften Pavillon des Hauses Friedwang. Alrik hob die Augenbraue. Das wurde ja immer besser.

"Ah, am Zelt des Herrn Alrik. Darf man fragen, was du dort zu suchen hattest?"

"Ich wollte nur einmal einen Blick auf die Gestechrüstung werfen, die dort steht."

"Nur ein Blick, so so. Und dabei ist dir der Diener aufgefallen, der etwas in einen Becher geträufelt hat. Aus einem kleinen Fläschchen? Dort drüben, am rot-weiß gestreiften Zelt stand er, im Schatten?"

"So war es, Herr. Ich schwöre es, ich schwöre es."

"Du wolltest Alborans Rüstung stehlen?" fragte Alrik, ehrlich empört. Dagegen war ja selbst Raberto ein Waisenknabe gewesen. Erst jetzt merkte der Baron, wie leichtsinnig er die ganze Zeit gewesen war. Nur weil sich hier Ehrenleute zu einem Turnier trafen, bedeutete das nicht, dass nicht auch jede Menge Gesindel umher streunte. Die unseligen Zeiten der Wildermark lagen noch nicht sehr lange zurück.

"Ich wollte sie nur einmal aus der Nähe anschauen", sagte Gilbert lahm. "Aber da saß eine Büttelin im Stuhl und hat aufgepasst."

Alrik nickte zufrieden. Perainike, natürlich, auf die war Verlass. Gute Leute musste man haben. Die besonders wertvolle Bakshan-Arvo-Brünne befand sich zum Glück sicher verwahrt auf der Burg. Der Verlust des Turnierpreises wäre nun wirklich peinlich gewesen.

"Moment, es wurde etwas in einen Becher geträufelt, der für einen der Gäste gedacht war?" Alrik mimte den Überraschten.

"So sieht es aus", sagte Falkwart. "Auch wenn das mit dem Sonnenstand nicht stimmt. Dort drüben kann in der letzten Stunde kein Schatten gewesen sein."

"Ein Anschlag mit vergiftetem Wein oder Ogermeth?" Auch Hesindian versuchte überrascht und unwissend zu klingen."Sollte man die Gäste nicht besser warnen?"

"Apfelsaft. Gilbert meinte, im Becher wäre Apfelsaft gewesen."

"Wie will er das erkannt haben?" fragte der Baron. "Hat unser junges Füchslein ein derart feines Näschen ?"

"Es waren die gleichen Becher, aus denen Saft für die jüngeren Knappen und Pagen ausgeschenkt worden ist. Nicht wahr?"

Der Dieb nickte. "Ein bunter Koboldsbecher", sagte Gilbert. "Einer von denen, den die Kinder heute morgen am Tsaschrein bemalt haben. Sonst wärs mir nicht aufgefallen. Darf ich nun gehen, hohe Herren? Ich hab ja niemanden was getan. War alles nur ein Missverständnis. Hab nicht aufgepasst und bin in die werte Dame gestolpert. Bitte, lasst mich gehen."

Ucurian verpasste dem Halbwüchsigen einen Schlag auf den Hinterkopf. "Was soll das heißen, Koboldsbecher? Die Diener der Echsengöttin lassen Kinder...Dämonenkreaturen auf Becher malen? Heilige Lechmin, steh uns bei! Das wird ja immer ungeheuerlicher!"

Der melancholische Bruder Praiodîn seufzte. "Keine Dämonenwesen...Schmetterlinge, Blumen, Fabeltiere. Die Diener des Lebens nennen es halt Koboldsbecher."

"Unfassbar", schnaubte Ucurian Lansborn. "Kein Wunder, das solche Kinder herauskommen, bei einer derartigen Erziehung."

Praiodîn blickte schon wieder bekümmert. Ucurian gab dem Streunerlein erneut einen Knuff, um zu zeigen, wen er in diesem Fall meinte.

"Ich bin sicher, der gute Gilbert bekommt noch genug Hiebe", schmunzelte der Baron von Friedwang, wurde aber gleich wieder ernst: "Wer sollte denn Knappen und Pagen meucheln wollen?"

"Ja, im ersten Moment erschien es mir auch unglaubwürdig, Euer Hochgeboren" Ehrwürden Falkwart nickte. "Wenn wir jetzt Alarm schlagen, werden wir Beunruhigung auslösen und das Fest verderben. Womöglich völlig unnötig. Gerade deswegen habe ich die Untersuchung übernommen. Solche Halunken denken sich oft die tollsten Geschichten aus, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Oder einfach nur, um dem Pranger zu entkommen?!"

"Zumindest sollten wir es nicht gleich herausposaunen", sagte Alrik und deutete in Richtung Gernat. "Ein kleiner Spaziergang am Flussufer?! Manche Zelte haben Ohren."

 

Sie gingen in Richtung Gernat. Der Friedwanger konnte nicht länger an sich halten.

"Nun, Baronin Haldana hat vom Apfelsaft getrunken, das habe ich gesehen. Bei der Auslosung der Zweihänder-Kämpfe. Meine Schwiegertochter ist ja in gesegneten Umständen, und darf keinen Wein trinken..."

Falkwart blickte erschrocken. "Aber...das ist ja furchtbar...dann sollten wir sie besser doch warnen?"

"Nun, gerade eben saß sie noch quicklebendig auf der Tribüne. Die Vergiftung, wenn es denn eine war, ist schon mehr als eine Stunde her."

"Womöglich ein Zwei-Komponenten-Gift", schlug Hesindian vor. Fragende Blicke trafen den weißhaarigen Magier.

"Wie? Ach so. Dem Opfer werden zwei Substanzen verabreicht, die jede für sich ungiftig sind. Zunächst das Präparatum, dann das Solvatum. Erst wenn sich beide im Körper vermischen, entsteht daraus ein Gift."

"Natürlich, mit solchen Dingen kennt sich Euresgleichen aus", ätzte Ucurian.

"Ja, das tue ich tatsächlich. Wohl dem Adeligen, der einen Alchimisten oder Leibmagier bei Hofe hat. Er ist dann besser vor Anschlägen geschützt. Ein Zwei-Komponenten-Gift erschwert die Vereitelung eines Attentats. Wenn man es geschickt anstellt, lassen sich damit einige Schutzmaßnahmen umgehen. Sei es ein ABVENENUM, ein Alicorn oder den Praegustator..."

Ucurian Lansborn schlug das Sonnenzeichen: "Lasst das?! Von was redet Ihr?! Sprecht Ihr etwa einen Zauber, in unserer Gegenwart?"

"Ein Praegustator ist ein Vorkoster!" Falkwart hob stirnrunzelnd die Hand, zum Zeichen, dass der Luminifer den Magister nicht unterbrechen sollte. "Bei einem Alicorn handelt es sich um das Horn eines Einhorns, nicht wahr? Bitte, sprecht weiter, Euer Wohlgeboren Hesindian...Es geht uns allein um das Suchen und Finden der Wahrheit!"

"Lässt sich die Friedwängische Praios-Commission jetzt schon selbst von irgendwelchen...Hexenmeistern beraten?" Ucurian Lansborn dachte gar nicht daran, klein beizugeben und verschränkt trotzig seine Arme. "Ich kann nur warnen, Meister Schlangenzunge trägt seinen Spitznamen zu Recht. Geistiges Gift ist ebenfalls gefährlich, Falkwart, wenn man es in die Ohren geträufelt bekommt. Ganz besonders das Schlangengift der Hesinderei."

"Keine Sorge, ich beiße nicht", sagte Hesindian frech. "Anders wirkt Schlangengift nicht. Wie auch immer. Ein Vorteil solcher Substanzen ist, dass man sie mit großem zeitlichen Abstand verabreichen kann. Dem Reichsverräter Galotta soll dieser Umstand zum Verhängnis geworden sein, kurz vor dem Absturz der Fliegenden Festung. Allerdings sind solche Gifte keinesfalls einfach herzustellen."

"Da fällt mir ein." Falkwart legte die Hand ans Kinn. "Yasinthe Dengstein war auch als die Alchimistin bekannt."

"Allerdings hat sich die Dienerin des Dreizehnten vor kurzem in Luft aufgelöst", sagte Alrik beschwingt. "Zum Glück für immer."

"Man sagt, sie wäre posthum zurückgekehrt, in Gestalt eines niederhöllischen Sturms." Der Hohe Commissarius blickte so unschuldig wie ein Praiostagsmorgen. Alrik war dennoch klar, dass er sich weitere Informationen von dem Baron erhoffte.

Alrik sah hinüber zu einem einsamen Fischer, der auf dem glitzernde Fluss eine Reuße einholte, aber eindeutig außer Hörweite war. "Man sagt auch andere Dinge", antwortete er schalkhaft. Er liebte es, seine Karten beim Boltan auszureizen.

"Was sagt man denn so?"

"Vor dem Sturm sollen auch noch zweibeinige Wildschweine gesichtet worden sein" Der Friedwanger deutete ein Lachen ins Fäustchen an. "Die Gernatsauen sind eine entlegene Gegend, ha-ha-ha...geradezu hesindefern. Gernats-Auen, das klingt schon wie Gernat-Sauen.."

"Ja, ich habe davon gehört. Die Wutzen aus der Anderwelt. Bislang kannte ich diese Ammenmärchen nur aus der Baronie Wutzenwald. Was soll ich dazu sagen? Die alten Goblingötzen sind leider nie so ganz verschwunden, aus den wirren Köpfen der Hinterwäldler. Trotz all unserer Bemühungen, Licht ins Dunkel ihres Aberglaubens zu bringen." Falkwart von Zaberg trat an den Fluss und sonnte sich für einen Moment im Glanz des Praios. "Dem Heiligen Alboran von Baliho sei´s geklagt."

"Ja, ich finde auch, man sollte den Aberglauben nicht stärken, in dem man derart verrückte...Gerüchte auch noch selber verbreitet." Alrik nickte bedeutungsvoll. "Als Geheimer Kammerherr werde ich gegen all diesen gefährlichen Tratsch vorgehen müssen, in der Rommilyser Mark."

"Tschuldigung, tschuldigung, hört ihr mal zu?". Ein Fingerschnippen war zu hören, von Alfhildr her. Die sommersprossige Leibwächterin lächelte völlig unschuldig in die Runde. "Sollten wir nicht versuchen, den Neidung zu finden, der da draußen rumläuft und Leute vergiftet. Bevor die Bilgenratte noch wirklich einen umbringt? Ich frag ja nur, bei Swafnirs Fluke?"

"Du hast es ja gehört, Alfhildr. Dieser...Neiding, wie du ihn nennst, trug eine Kapuze auf dem Kopf und hat Gilbert den Rücken zugekehrt. Dazu der angebliche Schatten. Wir haben wenig in der Hand, außer einem unzuverlässigen Zeugen."

"Es ging alles ganz schnell", sagte Gilbert. "Aber das Fläschchen hab ich ganz deutlich gesehen. Kann ich nun gehen?"

Ucurian deutete eine Ohrfeige an. Gilbert zuckte zusammen, wie ein geprügeltes Hündchen.

Alfhildr hob die rechte Hand. "Ich hab auch von dem Apfelsaft getrunken, das wohl. Soll mich ja von Gebrauten und Gebranntem fernhalten, während dem Turnier. Hast du selbst gesagt, Falkwart. Schaut her!"

Tatsächlich war die Handinnenfläche der Thorwalerin mit kleinen bunten Schlieren gesprenkelt.

Alrik pfiff durch die Zähne: "Die Koboldsbecher färben ab? Das könnte ein Hinweis sein. Womöglich hast du den Täter sogar gesehen, Alfhildr?"

"Leider nicht. Der Saft stand unbeaufsichtigt auf so nem Tischchen, gleich neben dem Hochzeitsbecher."

"Unsere Alfhildr. An dir scheint ja eine Stadtgardistin verloren gegangen zu sein. Und ich dachte, ihr Olporter seid völlig aus der Zeit gefallen, da oben im hohen Norden. " Falkwart lächelte, gönnerhaft und leicht arrogant. "Also ich halte das Ganze immer noch für falschen Alarm. Alle möglichen Leute haben von diesem Saft getrunken. Schließlich ist nicht jeder dem Wein zugetan. Baronin Haldana geht es gut, vom vermeintlichen Meuchler fehlt jede Spur. Immer vorausgesetzt, dass sich der Bursche da nicht einfach herausreden will..."

"Ganz gewiss nicht, Herr, ganz gewiss nicht, Herr. Ich weiß, was ich gesehen habe."

"Ich weiß, was ich bislang nicht gesehen habe. Keine Leiche, kein Mord. Sozusagen." Der Hohe Kommissar ging in die Beuge, tupfte mit dem Finger in das Wasser und säuberte sein Skapulier von einem Fleckchen.

"Der Saft stand neben dem Hochzeitsbecher? Was denn für ein Hochzeitsbecher?" Alrik gab nicht so schnell auf.

"Na, die gute Frau Tsa halt", sagte Alfhildr. "Die Göttin des Lebens. Ist so n Spielzeug, wo Tsa einen kleinen Becher in der Hand hält, der sich dreht. Ihr Rock ist der große Becher. Bei Hochzeiten können die Brautleute gleichzeitig draus trinken. Schaut lustig aus."

"Habs gesehen, is nich´ mal echtes Silber" grinste Gilbert. "Nur Zinn und viel zu auffällig."

"So wie deine Fischzüge? Du solltest besser nichts mehr ohne geistigen Beistand sagen, Dummkopf" Alrik zwinkerte dem Streuner zu, der verwirrt zurück schaute. 

"Stimmt, da war was" sagte der Baron in Richtung der Thorwalerin. "Den Becher habe ich ganz vergessen. Damit soll der Segen am Tsaschrein gespendet werden, für das junge Brautpaar. Diener der Eidechse lieben solche Spielereien."

Bruder Praiodîn seufzte erneut.

"Ich habe davon gehört", sagte Falkwart. "Es gab da wohl einen kleinen Disput, hinter den Kulissen. Die Schlotzer Traviakirche ist der Meinung, dass Alboran und Haldana bereits rechtmäßig verheiratet sind. Die Tsakirche wiederum glaubt, dass ihr ebenfalls ein Segen zusteht, da die Braut bereits von der Jungen Göttin berührt worden ist. Deswegen auch die Nachhochzeit in Gernatsborn."

"Ihr seid bemerkenswert gut informiert, Ehrwürden. Ja, dieser Kompromiss war leider nötig. Gernatsborn ist nun einmal stark von der Jungen Göttin geprägt. Die Dorfkinder spielen schon den ganzen Tag mit dem Scherzbecher herum. Eine echte Sensation, in so einem Kaff. Eigentlich müsste das Gefäß drüben im Schrein stehen."

Alfhildr schnippte erneut. "Kinder...Altar. Was, wenn es dem Saftpanscher um Haldanas Kind geht? Vielleicht soll gar nicht die Hetfrau vergiftet werden? Die, was sagt ihr, Baronin? Sondern ihr Ungeborenes. Immerhin soll das ja mal die Ottajasko anführen, in der Zukunft."

"Otterwas?" Falkwart schüttelte halb amüsiert, halb irritiert, die blonden Locken.

"Die...Baronei? Solche Neidingstaten kennen wir leider auch in Thorwal. Irgendeiner will der Anführer sein, und der andere auch. Oder was kriegen, was eigentlich dem anderen gehört. "

Alrik stopfte sich schon wieder eine Pfeife, mit zitternden Fingern. "Gar nicht mal so abwegig, Alfhildr. An dir ist wirklich eine Gardistin verloren gegangen. Dem Schurken könnte es wirklich um mein Enkelkind gehen. Eine Fehlgeburt am Altar...man könnte damit wunderbar Chaos säen, Schrecken und Zwietracht. Manche würden es sicher als eine Art Gottesurteil sehen. Vielleicht sogar als Strafe der Travia."

"Eine Adelsintrige? Ihr verdächtigt da aber niemand bestimmten, oder?" Falkwart schien nun doch hellhörig zu werden. 

"Seht Ihr, genau das meinte ich mit Zwietracht säen. Es könnte sich erneut um namenlose Ränke handeln. Die Rache von Yasinthe Dengstein, noch über das nicht vorhandene Grab hinaus. Ein grausam geschändeter Tsaschrein, eine geplatzte Hochzeitsfeier, unklare Machtverhältnisse in Schlotz, womöglich ein Streit zwischen den Dienern der Zwölfgötter. Was wünschen sich Schergen des Rattenkinds mehr?" Alrik zündete seine Pfeife mit einem brennenden Stück Zunder an. Der Baron paffte und verbarg sein Gesicht hinter bläulichen Rauchschwaden.

"Hochgeboren Haldana warnen können wir nicht", sagte Falkwart. "Damit lösen wir womöglich gerade das aus, was wir eigentlich verhindern wollen. Aber wir müssen Alboran einweihen. Er muss dafür sorgen, dass seine Gemahlin nichts isst oder trinkt, was nicht wirklich unbedenklich ist."

 

Dritte Runde - Viertelfinale

 

  1. Storko von Gernatsborn-Mersingen vs. Gerbold von Zwölfengrund 

Das Viertelfinale begann mit einem zunächst gleichwertigen Kampf von zwei leidlich erfahrenen Kontrahenten. Der Gastgeber setzte gleich mit zwei starken Hieben an, wobei der erste gekonnt, der zweite nur schlecht vom Zwölfengrunder Junker pariert werden konnte. Dies brachte ihn im weiteren Verlauf in eine schlechte Position, sodass Storko von Gernatsborn-Mersingen im zweiten Schlagabtausch trotz weniger gekonnten Schlägen den Sieg errang.

 

  1. Mirl von Mees-Mersingen vs. Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum

Wenngleich beide Kämpfer keine Glanzstücke hinlegten, so kam doch die größere Erfahrung von Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum zum Tragen, was ihm gegen die Edle von Mees-Mersingen im zweiten Schlagabtausch den Sieg bereitete. Manch einer in der Menge wollte meinen, dass sich der erfahrene Bregelsaumer seine Kräfte noch für die nächsten Runden aufsparen wollte.

 

  1. Darbrod von Zweifelfels vs. Welfert von Mersingen

Die Stimmung der Zuschauer verbesserte sich rasch, als Welfert von Mersingen offensiv aber überlegt gegen den schnell unterlegenen Zweifelfelser bereits im ersten Schlagabtausch siegte, welcher etwas enttäuscht das Feld räumte.

 

  1. Oda von Vairningen vs. Reto von Nierenfeld

Ähnlich rasch ging auch das letzte Duell des Viertelfinales zuende. Selbst die ernsten Versuche von Oda von Vairningen dem meisterlichen Zweihänderkämpfer etwas entgegenzusetzen waren erfolglos, sodass Reto von Nierenfeld im ersten Schlagabtausch siegreich vom Feld der Ehre schritt.

 

Vierte Runde - Halbfinale

 

Im Halbfinale waren nur noch vier Duellanten übrig und die Zuschauermenge brodelte vor Meinungen und Gerüchten über sie, waren sie doch alle amtierende oder ehemalige Offiziere. 

Welfert von Mersingen wurden offensichtlich die größten Chancen beigemessen, wurde der brillante Krieger doch bereits nach seiner Schwertleite zum Hauptmann Elitegarderegiments Ogerwacht ernannt. Nach nun fast 15 Jahren als Heermeister der Rabenmark hatte er schon bereits einige grausame Schlachten gegen widernatürliche Feinde gefochten und auch überlebt. Mit charmantem jedoch dünkelhaftem Gesichtsausdruck betrachtete der etwa 50 Götterläufe alte Hochadelige seine Kontrahenten, während ihm Pagen noch rasch seine leichte, jedoch reich verzierte Plattenrüstung polierten, bis sie im Glanz der Praiosscheibe erstrahlte. “Typisch Mersingen” hörte man einen Schlotzer Niederadeligen von hinten murmeln, der jedoch gleich wieder Kleinlaut wurde.

Wenn es eine Zeit im Leben gibt, in der Tsas Lebenskraft, Rondras Wagemut und auch die Erfahrung den gemeinsamen Zenit erreichte, so mag sie wohl in Reto von Nierenfeld Gestalt gefunden haben. Der idealistische Ritter Anfang Dreißig galt bereits in jüngeren Jahren als turnierverliebt und guter Schwertkämpfer. Als Knappe hatte er in der Schlacht in den Wolken in Gareth gefochten, zur Zeiten der Wildermark machte er sich unter den Stahlherzen einen Namen und war bei der Befriedung der Wehrheimer Region beteiligt. Vor wenigen Jahren nahm er gar am Torbienfeldzug teil. Eine gewisse Eitelkeit des nunmehrigen kaiserlichen Burghauptmanns zu Hallingen war schwer zu leugnen, denn den Helm setzte er nur im letzten Moment vor dem Kampfe auf, sodass seine ausgeprägte, rot-blonde Prinz-Brin-Frisur jederfrau zu sehen bekam. Seine gedrungene, kräftige Statur machte ihn zwar zu keiner Schönheit, jedoch zu einem wirklich ernst zu nehmenden Gegner. 

Jugendliche Kraft ist eine Gabe, doch schlägt sie die Erfahrung. Und da war Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum am Alter mit 65 Götterläufen allen anderen überlegen. Der in jüngeren Jahren amtierende Hauptmann der Greifengarde soll gar mit der Ogerschlacht-Verdienstmedaille ausgezeichnet worden sein und war bis 1030 BF als Offizier unter Fenn Weitenberg von Drôlenhorst in der Wildermark tätig. Seitdem war der alte Darpatier in seine Heimat in der heutigen Rabenmark als Junker zu Vierbyrgen zurückgekehrt und hierzulande schon länger nicht mehr gesehen. Die heutigen Gerüchte über ihn ließen ihn als wankelmütigen Junker erscheinen, der in den Jahren des Krieges seine Götterfürchtigkeit verloren zu haben scheint. Und tatsächlich haben die Jahre des Kampfes sichtlich spuren im Gesicht des Mannes hinterlassen, dessen strähniges schulterlanges und nunmehr stark ergrautes Haar die eingefallenen Wangen umrahmten. 

Der vierte Duellant im Halbfinale war der Gastgeber selbst, Storko von Gernatsborn-Mersingen. Der Abgänger der Stabsoffiziersakademie des alten Wehrheims hatte trotz der Wirren und Nebel des Krieges in der Region (oder gerade deswegen) eine gute Offizierskarriere aufzuweisen und als dabei letzter Vertreter eines regionalen Adelshauses in das große Haus Mersingen gut eingeheiratet gehabt. Man wusste, dass er einst als Leutnant im I. Wehrheimer Garderegiment und dann im Stand von Erzmarschall Leomar vom Berg gedient hatte, bis er als Hauptmann der Kaiserlich-Königlich Darpatischen Schatzgarde zu Brücksgau bestellt wurde - gerade zur Zeiten der Wildermark eine wahrlich herausfordernde Aufgabe. In der neu gegründeten Rommilyser Mark wurde er dann zum Wehrvogt ernannt. In dieser Aufgabe konnte er sich vor wenigen Jahren bei der abgewehrten Belagerung von Rommilys beweisen, was ihm den Titel Landjunker zu Burg Gernatsborn erbrachte. Als herausragender Zweikämpfer war der Gastgeber zwar nicht bekannt, jedoch hätte man ohne seine Fähigkeiten als Krieger ihn wohl auch nicht mit den bisherigen Offiziersämtern betraut.

 

  1. Storko von Gernatsborn-Mersingen vs. Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum

Rasch merkten waffenkundige Zuschauer, dass hier zwei Schwertkämpfer unterschiedlicher Erfahrung aufeinander trafen. Zweifelsohne, der Junker von Föhrenstieg-Bregelsaum hätte gut Vater von Storko von Gernatsborn-Mersingen sein können und so viel mehr Gelegenheit gehabt Kampferfahrung zu sammeln. Manche erwarteten, dass das Alter und die Erlebnisse Praiodan Reto geschwächt hätten. Der teilweis gebrochene Blick täuschte jedoch über die wahre Verfassung des ehemaligen Offiziers hinweg, denn unter dem Harnisch schlug noch immer das Herz eines Kämpfers und er verfügte auch immer noch über die Fähigkeiten eines solchen. Einem derart erfahrenen Schwertkämpfer war der Landjunker zu Gernatsborn nicht gewachsen. Die ersten zwei Attacken versuchte Storko noch zu parieren und dann auszuweichen, jedoch war er jeweils etwas zu langsam und musste mit Schrammen auf der Brünne rechnen, während Praiodan Reto alle Angriffe parierte. Der dritte Schlag des Bregelsaumers jedoch wurde dann als Finte geschlagen, wobei selbst der fast hoffnungslose Versuch einer Parade scheiterte und dies so Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum im ersten Schlagabtausch den Sieg brachte.

 

  1. Welfert von Mersingen vs. Reto von Nierenfeld

Ein Genuss war es diese beiden Kämpfer gegeneinander antreten zu sehen. War Welfert von Mersingen ein vollendeter Krieger mit dem Zweihänder, so mag ihm Reto von Nierenfeld zwar in Erfahrung etwas nachstehen, jedoch hatte dieser nicht viel weniger Talent und war am Höchststand seiner körperlichen Fähigkeiten. Beide begannen mit gekonnten Attacken, wobei der Heermeister von Anfang an in den Paraden leicht überlegen war. So zog es sich bis zum zweiten Schlagabtausch hin. Dann konnte der Burghauptmann zu Hallingen überraschend mit einer Windmühle punkten und übernahm leicht die Oberhand gegenüber dem Mersingen. Keiner von beiden konnte jedoch den anderen besiegen. Mit Ehrgeiz gepackt konterte Welfert mit weiten Schwüngen den Versuchen von Reto und trieb diesen in die Ecke. Man glaubte fast, dass der Nierenfelder im vierten Schlagabtausch nur mehr verlieren konnte, jedoch war sein Gegner aufgrund der vorherigen starken Schläge leicht geschwächt und Reto konnte in einer Verteidigungshaltung positioniert parieren, seine Stellung halten und noch ausbauen. Die Zuschauermenge vibrierte und notierte den Kampf mit wiederholtem Beifall. Der bisher längste Kampf war noch immer nicht geschlagen. Im fünften Schlagabtausch waren beide Kämpfer sichtlich ermüdet, die Waffenwechsel wurden aber weiterhin präzise geführt. Nun schien sich jedoch die etwas bessere Kondition des Jüngeren auszuzahlen und Reto von Nierenfeld setze eine gekonnte Finte an, die auch ein geübtes Ausweichmanöver des Mersingen nicht bezwingen konnte. Sieg von Reto von Nierenfeld im fünften Schlagabtausch.



Verdachtsmomente - Zweiter Teil

 

"Ich weiß nicht, ob man Sohn....also mein Adoptivsohn...in der Lage ist, Haldana zu schützen. Ohne sie einzuweihen, meine ich. Tarnen und Täuschen liegt ihm nicht besonders." 

Alrik hörte sich an, als wäre diese Eigenschaft Alborans ein schwerer Charakterfehler. 

Das Grüppchen ging ein wenig am Gernat entlang und genoss den Anblick von "Neu-Gernatsborn", wie das Turnierlager scherzhaft genannt wurde. Im goldenen Licht des Herbstmonds sahen die Zelte und matt wehenden Banner aus wie gemalt, ebenso wie die Tribüne des Kampfplatzes oder die funkelnagelneue Burg, die über allem aufragte. Es war wahrlich ein prachtvoller Anblick. Alrik schauerte bei dem Gedanken, dass das Turnier vermutlich in die märkische Geschichte eingehen würde. Ein klein wenig, zumindest. 

"Tarnen und Täuschen, ich bitte Euch, Euer Hochgeboren. Soetwas liegt unserer Gemeinschaft ebenfalls fern. Im Unterschied zu Discretio, die manche Philosophen sogar als Königin aller Tugenden ansehen. Dem Wortsinn nach ist es die Gabe der weisen Unterscheidung. Die Fähigkeit, eine Situation richtig zu beurteilen und hernach das rechte Maß zu wahren. Auch - und gerade dann -, wenn es um das Verkünden der heiligen Wahrheit geht."  Der Erzpriester erinnerte in seinem prachtvollen Ornat an den Zelebranten einer Feldprozession, wie er da über die Uferwiese schritt. Sein golddurchwirktes, rotes Übergewand glänzte in der Sonne, vor allem das Praiosauge, ebenso die blankpolierten goldenen Kugeln am Sphärengürtel. Die weiße Robe darunter wurde durch keinerlei Schmutz verunziert, die Filzkappe saß makellos. "Wie oft schon mussten wir eine kostbare Wahrheit hinter unseren Lippen versiegeln. Um schwache Seelen nicht zu beunruhigen und ein größeres Ganzes zu schützen. Wenn es Euch lieber ist, werde ich Fargold als Leibwächter an die Seite der Baronin stellen. Es gab einen dreisten Diebstahlversuch, das ist Grund genug für ein wenig Vorsicht." 

Alrik blickte auf den glatzköpfigen Söldling, den irgendein übler Hieb das Gesicht verunstaltet hatte. "Beruhigend" wirkte der Büßer schon mal nicht, der aussah, als hätte er wirklich einiges auf den Kerbholz. Nein, eigentlich sah der Kerl selber aus wie ein Kerbholz.

"Ehrlich gesagt, wäre mir Alfhildr als Aufpasserin lieber. Sie ist eine gute Freundin von Haldanas Schwiegermutter. Die Baronin wird ihre Gegenwart nicht als...störend oder ungewöhnlich empfinden." 

"Wenn Ihr das so seht. Ihr kennt Eure Schwiegertochter besser als ich." Falkwart hob gönnerhaft die Rechte, um zu zeigen, dass ihm diese Entscheidung einerlei war.

"Schönes Hautbild, übrigens", sagte der Baron von Friedwang, in Alfhildrs Richtung. Tatsächlich war ihm erst jetzt die Tätowierung auf dem muskelbepackten, rechten Oberarm der Thorwalerin aufgefallen. Ein Swafnirswal, der mit einer verschlungenen Seeschlange kämpfte. Die Piratin grinste breit. "Nich wahr? Hab ich mir in Prem stechen lassen..." 

"Wie auch immer, ich kann mich nicht ewig mit diesem Casus aufhalten", sagte Erzpriester Falkwart und rückte seine verrutschten Sphärenkugeln zurecht, die leise klackerten. Tatsächlich war ihm anzumerken, dass er seinen Redefluss gerne noch ein wenig länger fortgesetzt hätte. "Vor dem abendlichen Bankett werden wir ja noch die Sankt Alborans-Kapelle weihen. Die Gegenwart des Herrn wird uns alle vor den Ränken des Bösen schützen. Ich denke, es genügt als Vorsichtsmaßnahme, wenn der  Tsasegen dort gesprochen wird. Weiß man eigentlich, wem diese Zeremonie obliegt, Bruder Praiodîn?"

"Ysilda von Zaberg", sagte der Angesprochene. "Wie ich sie kenne, wird sie nicht sehr begeistert sein. Wenn sie das Ritual in einem Schrein unseres Herrn vollziehen muss." 

"Sprich mit ihr, du hast doch einen guten Einfluss auf sie."

Praiodin senkte den Blick leicht. "Ysilda ist nicht gut auf mich zu sprechen, seitdem ich in Melsines Fall die Purgatio empfohlen habe..." 

"Ich bitte dich. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Zeremonie ist die Geißelung. Ebenso wie das freimütige Bekenntnis der Sünden als Zauberer. Ich denke, dafür ist Melsine noch zu jung." Falkwart lächelte milde: "Du hättest auch nicht gleich von Ausbrennen sprechen sollen. Fingerspitzengefühl, ich kann immer nur an das nötige Fingerspitzengefühl erinnern. Dann werden wir vom einfachen Volk auch nicht ständig mit brennenden Scheiterhaufen oder finsteren Folterkammern in Verbindung gebracht."

Ucurian schnaufte mit dicken Backen. "Was ist denn so verkehrt daran, wahre Götterfurcht mit der Furcht vor gerechter Strafe bereits hier auf Dere zu verbinden?"

"Gerechte Strafe, ja, gerechte Strafe, Ucurian, darum geht es. Die Diener der Lebensgöttin werden sich daran gewöhnen müssen, dass wir in Gernatsborn künftig Nachbarn sind. Sie bedürfen zweifelsohne sanfter Führung. Nichtsdestotrotz sind gemeinsame Götterdienste auch eine schöne illumnestrische Tradition.  Tsajünger lieben doch das Außergewöhnliche? Eine Traviageweihte und der Ritter der Löwin wird ebenfalls eingeladen sein, das kannst du ihr ausrichten. Mein Familie stammt selbst aus Zaberg, ich hege da keine Vorurteile.."

Falkwart fing schon wieder das "Predigen" an, mit entrücktem Blick und feierlicher Stimme. "Auf meinem Weg ins Horasreich habe ich Oberfels besucht, das Kloster Mantrash´Mor. Überaus beeindruckend, die Zwölf Götterbilder. Ein wahres Menschenwunder. Auch wenn der Himmelskönig noch ein klein wenig herrlicher und großartiger hätte dargestellt werden können, im Vergleich zu seinen jüngeren Geschwistern. Der Bund des Wahren Glaubens erinnert uns nichtsdestotrotz daran, dass wir eine einzige große Kirche sind. Egal ob wir nun zum Götterfürsten oder zur Achtgeborenen beten. Vor allem, und das ist das Entscheidende, wirkt Schadenszauberei auf praiosheiligem Grund nicht."

Hesindian räusperte sich. "Mit Verlaub, Ehrwürden, aber es ist ja nicht gesagt, dass das Gift magischer Natur sein muss. Es muss sich noch nicht einmal im Hochzeitsbecher befinden. Ich habe schon von vergiftetem Kerzenrauch gehört, oder Substanzen, die über die Haut in den Körper eindringen. Blumen gehören auch zu einer tsagefälligen Zeremonie. Wenn man da ein Atemgift drauf streut..." 

"Was ist denn das? Da drüben..." Die Novizin hatte unvermittelt gesprochen, mit jugendlich heller Stimme. Das Mädchen, eine aufgeweckte, leicht pummelige Lichtsucherin griff zu einem Ast, zog Schuhe und Socken aus, schürzte ihre reinweiße Robe und watete beherzt in den Gernat hinein, trotz der herbstlichen Kühle. Aufgeregt quakend flatterten zwei Enten auf und flogen davon. Tatsächlich, zwischen Schilf schaukelte ein kleines, verkorktes Tonfläschchen, an dem ein gelbbräunliches Etikett klebte. Mit einem Ast bugsierte die junge Frau ihren Fund zu sich heran. 

"Beldenia, du hast Augen wie ein Greif." Falkwart Malachanias von Zaberg nickte anerkennend und nahm das Gefäß an sich. Mit dem Finger drückte er den herabhängenden Papierstreifen an den Ton. Rundliche Schriftzeichen waren zu erahnen. Falkwarts Blick wanderte zum Dieb.

"Ist das etwa das corpus delicti? Die Flasche, die du bei dem vermeintlichen Giftanschlag gesehen hast?"

"Denke schon...könnte sein..." kam es einsilbig zurück. "Es ging ja alles so schnell".

"Wahrlich, wahrlich, im Lichte des Herrn bleibt keine Schandtat verborgen. Offenbar wollte der Übeltäter die Flasche in den Gernat werfen, und hat damit nur dafür gesorgt, dass sie uns geradewegs vor die Füße geschwommen ist. Gelobt sei der Gebieter der Götter, der uns stets die Wahrheit offenbart. Beldenia, ich bin sehr zufrieden mit dir!"

Das Mädchen strahlte wie die Frühlingssonne.

"Hm, aber diese Schriftzeichen hier..." Falkwart war anzumerken, dass ihm sein Bosparano gerade schon wieder verließ. "Ist das Zhayad? Oder doch...Zzzelemja?"

"Fragt Ihr das etwa mich, Ehrwürden?" Hesindian blickte unschuldig zu einem Schwan, der sacht paddelnd den Fluss herunterglitt und sich dabei das Gefieder putzte. 

"Es sind magische Schriftzeichen", sagte Ucurian Lansborn, mit dumpfer, unheilvoller Stimme. "Wer weiß, was geschieht, wenn sie laut ausgesprochen werden."

"Um genau zu sein, nennen sich die Schriftzeichen des Zelemja Chrmk." Der Magier blickte ungeduldig zum Himmel, der sich gerade ein wenig bewölkte.

Falkwart öffnete das Fläschchen und schnupperte hinein. Dann zog er sein Sonnenszepter. Vorsichtig klopfte er den Inhalt auf die gülden glänzende, zwölfstrahlige Scheibe. Ein graugrünes, unscheinbares Pülverchen kam zum Vorschein. 

"Lasst meinem Hofm...alten Weggefährten doch einmal einen Blick darauf werfen", sagte Alrik."Was ist schon dabei?"" 

"Damit er Hesinderei wirkt, am hellichten Tag?" Das kam wieder von Ucurian.

"Der Himmel bewölkt sich gerade." Alrik runzelte leicht verärgert die Stirn. "Wenn wir noch länger debattieren wird es regnen...dann ist der Tag nicht mehr hell....und Haldana bekommt derweil ihren nächsten Gifttrunk verabreicht?""

"Magie wird nicht nötig zu sein. Auf dem Etikett scheint drauf zu stehen, was dran ist. Soviel Glück hat man nicht immer." Hesindian nahm die Flasche an sich und glättete das nur noch halb angeleimte Papier. Die Schriftzeichen waren leicht verschwommen. 

 

Ampl Pot

 

"Und, was heißt das Geschreibsel jetzt?" Luminifer Ucurian merkte, dass ihn seine Neugierde übermannt hatte, und klang sofort wieder ärgerlich. "Ihr könnt dieses Echsen- und Hexengeschmiere also wirklich lesen? Natürlich könnt Ihr das...."

"Das ist Gimaril", sagte der Edle von Orweiler. "Die Schrift der Alchimisten, Wahrsager und Töchter Satuarias. Im Fläschchen befindet sich demnach....Ampl Pot"

"Ampl Pot? Ihr wollt uns doch nicht etwa zum Narren halten?" Ucurian schlug vorsichtshalber das Sonnenzeichen. "Was ist das für eine verfluchte Sprache?"

"Es könnte eine Abkürzung sein. Ampl...steht womöglich für Amplificator. Verstärker. Pot für Potentialis? Ein Verstärker der Kraft oder der Energie?"

"Klingt für mich nach Potenzmittel", ulkte Alrik und blickte provozierend in Richtung des Luminifers. "Wollt Ihr vielleicht mal kosten, Ehrwürden? Natürlich nur, um das Wirken von Magie zu vermeiden, meine ich."

"Vielleicht sollten wir diesbezüglich einmal Eure Gemahlin zu Rate ziehen? Sie kennt sich mit derlei Dingen aus, nach allem, was man so hört. "

Der Friedwanger staunte. Ucurian Lansborn konnte schlagfertig sein ?!

"Serwa ist eine hervorragende Medica, gewiss, eine Schülerin des berühmten Yaruth Corbel. Wie sagt sie immer so schön: Wer heilt, hat Recht. Eine schöne Devise. Man muss die Dinge vom Ende her sehen, dann geht vieles leichter."

"Potio ist der Trank." Hesindian grübelte derweil unbeirrt weiter. "Ein amplificator potionis wäre ein...Trankverstärker."

Alrik zog seine Schnupftabaksdose hervor, schüttete den Inhalt ins Gras und strich mit dem Finger das Pülverchen hinein, noch ehe der Hohe Commisarius einschreiten konnte.

"Moment, Ihr werdet das Euren Arkanen Berater keinesfalls magisch untersuchen lassen," sagte Falkwart gebieterisch. "Egal ob ehemalig oder nicht, auf diesem Turnierplatz gelten die Gebote des Praios."

"Offenbar nicht für jeden." Alrik leckte vorsichtig an seinem Zeigefinger. "Schmeckt nach Pflanze. Der Edle von Orweiler hat zum Glück immer ein kleines Reiselabor dabei, für alchimistische Analysen...nicht wahr, Hesindian?"

Der Magus blickte vieldeutig, sagte aber nichts. Hesindian bewunderte seinen Freund, der in der Gegenwart hochrangiger Praioten log, als plaudere er über das Wetter.

"Magie wird nicht nötig sein, und auch kein Reiselabor", sagte der weißhaarige Zauberer. "Je länger ich darüber nachdenke...Es ist schon viele Jahre her. Aber ich glaube, so ein Fläschchen habe ich mal in Celerions Labor gesehen. Als wir uns bei einem guten Schoppen Wein über die Götter und die Welt unterhalten haben. Der Magister hat das Pulver in einen schwachen Trollzacker geschüttet....um den Wein ein wenig zu würzen, wie er sagte. Ja, nun fällt es mir wie Drachenschuppen von den Augen. Der Trankverstärker stammt eindeutig aus Celerions Labor. Es wurde leider geplündert, nachdem er im Krieg umgekommen ist. Als ich in das Laboratorium eingezogen bin, war es jedenfalls leer und verfallen."

"Über die Götter und die Welt habt Ihr philosophiert, so so." Ucurian Lansborn verzog geringschätzig den Mund. "Erspart mir die Einzelheiten. Kommt eigentlich nur mir dieser Zufall merkwürdig vor? Ein Magier aus Rübenscholl findet Gift, aus Rübenscholl? Aus seinem eigenen Laboratorium? Welch schicksalhafte Fügung, nach all den Jahren. Unser Zusammentreffen ist bereits ein merkwürdiger Zufall, findet Ihr nicht?"

"Ich bürge für den Edlen von Orweiler", sagte Alrik fest. "Falls Ihr behaupten wollt, dass Hesindian etwas mit dieser Scharade zu tun haben könnte?"

"Meine Herren, ich muss erneut darum bitten, die Harnische auszuziehen und die Waffen stecken zu lassen. Die Zweikämpfe finden auf dem Turnierplatz statt, nicht hier " Falkwart blies das letzte Stäubchen vom Sonnenszepter und steckte es wieder an den Gürtel. "Euer Wohlgeboren Hesindian, um was könnte es sich bei diesem...Trankverstärker handeln? Eurer geschätzten Meinung nach, ganz ohne Magie und Reiselabor?"

Hesindian kostete ebenfalls von dem Pülverchen. "Nun, Ehrwürden. Für mich schmeckt es ein klein wenig...nach getrocknetem Thonnys. Aber das Pulver scheint auch noch andere Ingredienzen zu enthalten."

"Thonnys, das verfluchte Hexenkraut...ich habe davon gehört. Die Buhlen Levthans wandeln damit die eigene Lebenskraft in Zauberkraft um. Was bereits ihren ganzen selbstzerstörerischen Wahnsinn zeigt." Ucurian stellte sich breitbeinig vor Hesindian, die Hand auf das Sonnenszepter gelegt, als wolle er ihn an der Flucht hindern. "Offenbar wisst Ihr, wie so etwas schmeckt, mit Eurer...Schlangenzunge ?!" Der Luminifer deutete vor dem Mund eine gespaltene Zunge an, mit zwei "züngelnden" Fingern.

"Ihr seid gut informiert. Was den ersten Teil betrifft. Nichtzauberer verwenden Thonnys ebenfalls, als leichtes Aufputschmittel. Offenbar soll dieses Pülverchen die Wirkung alchimistischer Tränke verstärken."

"Ein Aufputschmittel, interessant", sagte der Baron von Friedwang. "Wie wirkt sich Thonnys in Verbindung mit Apfelsaft aus? Haldana schien auffallend gut gelaunt zu sein, auf der Tribüne."

"Ah, ich glaube ich verstehe so langsam". Falkwart blickte prüfend in die Runde. "Baronin Haldana lässt ihre Getränke mit Thonnyspulver würzen? Als Muntermacher, um bei den anstrengenden Hochzeitsfeierlichkeiten länger frisch zu bleiben? Immerhin ist sie im... wievielten Mond schwanger? Im vierten? Egal. Das ist also des Rätsels Lösung. Ihr habt Ihrer Hochgeboren das Pulver beschafft, Euer Wohlgeboren Hesindian?! Immerhin wird die Baronin mit der Hochzeit auch Junkerin von Rübenscholl. Eure künftige Brotherrin in spe, nicht wahr? Storkos Diener schüttet es in der Nähe des Friedwanger Zelts in den Becher, und wird dabei von unserem Dieb beobachtet. So ergibt das Ganze einen Sinn. Warum sagt Ihr es nicht gleich? Es ist ja nicht verboten, solche Kräuter zu sich zu nehmen." Dem Erzpriester war anzumerken, wie stolz er auf seinen Scharfsinn war.

"Vor Dienern des Praios die Wahrheit zu verschweigen, das ist allerdings schon eine Sünde. Glaubt mir, uns entgeht nichts, nicht einmal die kleinste Flunkerei. Ihr wolltet Diskretion wahren, das lasse ich als mildernde Umstände gelten. Nun, eine angemessene Buße in den Opferkasten dürfte genügen, ebenso ein Gebet vor der Statue des Heiligen Alboran."

"Ich habe Hochgeboren Haldana gar nichts beschafft. Ihr sprecht von Rondras Kraft oder Elfentrunk. Das ist etwas anderes, Ehrwürden. Für ein echtes Aufputschmittel braucht man auch noch Kupferrost, Yagannuss, Pfeffer...außerdem ist es ein Getränk, kein Pulver."

 

Falkwart hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Seine Aufmerksamkeit galt Gilbert, dem Dieb, der sich, wie in einem schlechten Theaterstück, auf den Fußspitzen davonzustehlen versuchte. Offenkundig war sein Ziel der nahe Waldrand.

"Mein Sohn, du hast die Wahl zwischen der Nacht in einem verfluchten Wald, oder einer leidlich sicheren Bleibe im Kerker der Burg. Falls du den Wald überstehen solltest, verspreche ich dir, dass dein Steckbrief selbst noch in Gallys oder Zwerch hängen wird. Was sage ich, in Rommilys."

Der Dieb blieb schicksalsergeben stehen, und wurde vom grimmig blickenden Fargold gepackt. Ucurian eilte herbei und gab ihm die nächste Kopfnuss.

"Wie auch immer, uns rufen andere Pflichten. Praios befohlen!" Falkwart raffte seine Robe zusammen, hob die Hand zum beiläufigen Gruß und eilte auf den Zelttempel zu. Die übrigen Praiosdiener folgten ihm, bis auf Alfhildr, die nach einigen Schritt zurückgeschickt wurde.

 

"Und nun?" raunte Hesindian in Alriks Richtung.

Der Freiherr blickte zu mehreren bunt bemalten, hoch aufragenden Gauklerwagen, die gerade von der Straße her auf die Wiese schaukelten und wankten. Das musste diese Truppe aus der Markgraftschaft Perricum sein, die von Serwa angeheuert worden war, zur abendlichen Unterhaltung der Gäste. Sie waren spät dran.

"Ich frage mich gerade, welche Vorstellung mir mehr Angst bereitet", sagte der Freiherr. "Dass Ucurian Lansborn oder das Falkwart Malachanias der nächste Hochgeweihte in Markt Friedwang werden könnte."

"Ja, so aalglatt wie der ist, wäre er in einem Efferdheiligtum besser aufgehoben. Lass uns zum Turnierplatz gehen und schauen, ob wir dort noch irgendetwas Verdächtiges bemerken" Der Magier deutete auf das Zeltdorf.

"Moment, du hast Haldana aber nicht wirklich ein Aufputschmittel besorgt?" fragte der Friedwanger. "In ihrem Zustand?"

"Wen glaubst du mehr, einem Verkünder der Wahrheit? Oder mir, ihrem Ergründer?" Hesindian deutete vor den heranrumpelnden Wägen eine Verbeugung an, was ihn wie ein Jahrmarktszauberer aussehen ließ. "Dieser Trankverstärker..ich kann mich erinnern, dass mich Celerion davor gewarnt hat. Es verstärkt nicht nur das Getränk, mit dem es eingenommen wird. Sondern die Wirkung sämtlicher alchimistischer Substanzen, die man innerhalb eines Tages zu sich nimmt. Oder war es ein halber Tag? Harmlos ist er jedenfalls nicht."

"Das heißt, nicht nur ein Heiltrank würde stärker wirken als üblich? Sondern auch ein Gift?"

"So habe ich es so verstanden, ja. Wobei es mehr Sinn machen würde, das Opfer gleich mit einem starken Gift zu meucheln. Außerdem ist Thonnys ziemlich teuer...und verursacht leichte Übelkeit. Nun gut, das muss bei einer Schwangerschaft nicht auffallen" Hesindian blickte irritiert zu Alfhildr, die sich ohne jede Scham ihre Hose herunterzog, vor ein Gebüsch hockte, und ihr Wasser abschlug.

"Vielleicht hätten wir doch lieber auf diesen Fargold zurückgreifen sollen?"

 

Fünfte Runde - Finale

 

Wenig später saß Alrik neben dem dem jungen Traviapaar auf der Tribüne, während Alfhidr hinter Haldana Aufstellung genommen hatte, ganz beflissene Leibwächterin. Weder die Baronin noch ihr Gemahl hatten Verdacht geschöpft. Allerdings fragte sich der Baron von Friedwang gerade, ob es wirklich eine gute Idee war, eine Walwütige für so eine Aufgabe zu verwenden. Thorwalsche Berserker erschlugen im Blutrausch  jeden, der ihnen vor die Axt kam. Ein Angriff aus dem Hinterhalt konnte genügen, und das "Turnier von Gernatsborn" würde sich in ein Gemetzel wie bei der Blutnacht von Rommilys verwandeln.

Gut, die treuherzige Alfhildr hatte ihm auf Nachfrage versichert, dass sie vollkommene innere Ruhe gefunden hatte, dank der alltäglichen Gebete mit Ehrwürden. Tatsächlich wirkte sie ruhiger und ausgeglichener als Alrik selbst, der immer wieder nervös an den Fingern kaute. Ihn persönlich beruhigte, dass Hesindian ebenfalls in der Nähe war. Ein PARALYSIS bewirkte Wunder, gegen ausrastende Olporterinnen. Andererseits mochte deren rotes Stirnband abschreckend wirken. Wer Gift einsetzte, kannte sich in der großen weiten Welt zumindest ein bisschen aus und wusste, was das Warnzeichen bedeutete.

Der Friedwanger hatte gehört, dass es Thorwalsche geben sollten, die sich "Swafskari" nur einbildeten, Oder eingeredet bekamen. Jähzornig waren sie ja alle, die Nordleute. Womöglich erklärte das die merkwürdige Anhänglichkeit an Falkwart. Der sicher überzeugt war, mit Frömmigkeit und Praiosvertrauen jede Barbarin vor geistiger Umnachtung retten zu können.

 

Haldana war gut gelaunt, gleich ob das nun am Thonnys lag oder nicht. Gut, es waren ihre Feierlichkeiten, und sie liefen bislang hervorragend. Auch Alboran genoss das Turnier. Nur das Wetter ließ sie gerade im Stich, aber das konnte im Traviamond nicht überraschen.

Es hatte zu regnen begonnen, wenn auch nicht allzu heftig. Ausgerechnet jetzt, beim Finale im Zweihänder-Wettbewerb. Die "Efferdsritterin hat die Wolken mit sich gebracht", brummte es irgendwo neben ihm. "Schwarze Haut, schwarzer Himmel, ist doch klar."

Hoffentlich würde das kühle Nass die Lustbarkeiten nicht stören, die für die Nacht geplant waren. Gut, Odilon kannte das Wetter besser als Firun selbst, wie Deggen gescherzt hatte. Den Worten des Schwarzen Bären zufolge würde das Unbill nicht lange andauern. Er hatte dazu geraten, einfach weiterzumachen, um den Zeitplan nicht durcheinander zu bringen. Platsch-Platsch-Platsch. Alrik saß wieder mal genau neben der Stelle, wo der Baldachin undicht war. Die Zeiten, wo er als Phexensdiener vom Glück verwöhnt wurde, die waren offenbar auch vorbei.

Immerhin, im grauen Schleier des Herbstregens sahen die beiden Fechter auf dem Turnierplatz aus wie zeitlose Helden einer rondrianischen Sage. Der junge Burghauptmann zu Hallingen, mit seiner Reichsbehüter-Brin-Frisur, stand dem alten Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum gegenüber, der sicherlich 60 Götterläufe oder mehr zählte. Beide beeilten sich, die Helme auf den nassen Köpfe zu stülpen, deren Federschmuck triefend herunter hing. Der Rondrageweihte gab das Zeichen, und die Harnischträger gingen in Kampfstellung. Beide umkreisten sich, tasteten sich mit Blicken und gehobenen Klingen ab. Dann wurden die Angriffe heftiger, beide waren wirklich hervorragende Kämpfer. Alrik wusste, dass die Hiebe, Stiche und Schnitte altertümliche Namen wie Ochs oder Zwerch trugen, aber er kannte sich mit dieser Art von Waffengang nicht wirklich aus. Was sollte er von einer Klinge halten, die man nirgendwo verstecken konnte?

Trotz des orkschen Wetters harrten immer noch viele Zuschauer aus, natürlich, es war ja der Entscheidungskampf. "Alboran, ich wette fünf Goldstücke, dass Reto gewinnt" sagte Haldana beschwingt und griff nach einem Becher. Der Freiherr neben ihr zuckte zusammen – wo kam das Naschzeug jetzt schon wieder her? Das Gefäß enthielt offenbar Konfekt, der noch frisch und unberührt zu sein schien,

"Na, bekommt dein Schwiegervater nichts?" fragte Alrik, scheinbar heiter.

Die Binsböckel lachte und reichte ihm die becherähnliche Schale.

"Eigentlich müsste mein Hofmagier da einen Zauber drüber sprechen, oder, haha,  was meinst du Hesindian?"

"Einen ABVENENUM REINE SPEISE?" Der Magus vollführte eine merkwürdige Handbewegung. "Haha, das wäre nun wirklich übertrieben."

Alrik spürte ein leichtes Prickeln, aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er griff in die Schale und merkte erst jetzt, dass es ein rundes Knabbergebäck war. "Wutzennasen" nannte man die flachen, salzigen Brotscheibchen, die ein wenig nach Rosmarin und Röstzwiebeln schmeckten. Haldana würde bald wieder Durst bekommen, soviel stand fest. Mehr Beschwerden verursachte die Näscherei erst einmal nicht.

"Wettet  denn niemand gegen mich?" fragte die Baronin, und ließ ihre Stimme bewusst ein wenig gelangweilt klingen, als wäre sie ein verwöhntes Grandentöchterchen.

"Fünf Dukaten, das ist mir zuviel" sagte Alboran. "Außerdem setze ich auch auf den Nierenfelder. Der Stahlherz ist ja fast halb so alt wie der Junker zu Vierbyrgen."

"Alrik?"

"Schröpft mir nur den armen Baron von Friedwang. Ja, ich halte dagegen, Der Bregelsaumer ist erfahren, das sieht man, der kennt sicher tausend Kniffe. Wir Alten müssen zusammenhalten."

Tatsächlich schien sich der junge Ritter schwer zu tun mit seinem stahlklirrenden Gegner. Er fintete drauf los, aber der Bregelsaum parierte mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit. Schließlich verlegte der Nierenfelder sich auf wilde, zunehmend unbeherrschte Attacken. Zweimal unterbrach Deggen den Kampf. In der dritten Runde erzielte Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum mit einem einzigen, wuchtigen Schlag auf den Helm seines Gegners drei Punkte. Würdevoll hob der Junker die Waffe und genoss den Applaus. Der erste Sieger des Zweihänder-Turniers stand fest und er hieß Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum. 

 

Siegerehrung

Haldana lächelte und stieg – man sah ihr ein wenig die Erschöpfung an, aber die Baronin hatte sich im Griff – etwas vorsichtig die nass gewordene Holzstiege herauf. Ihr als Braut und Baronin fiel die Aufgabe zu, Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum zu seinem Sieg im Kampf mit den zweihändig geführten Waffen zu ehren und zu gratulieren. An sich eine protokollarische Aufgabe. Ihre Mutter, die Vögtin, hatte ihr eingeschärft, wie wichtig solche Aufgaben waren. Und der Sieger gehörte einer der großen Familien Darpatiens an. 

Unter dem Applaus der Zuschauer wies sie auf Praiodan. „Einen wahrhaft guter Kampf habt ihr gezeigt. Es war eine Freude, Euch zuzusehen. Sie reichte dem Recken die Hand und geleitete ihn auf das Podest, das die Zimmerleute auf Gernatsborn eigens für die Siegerehrung gezimmert hatten. „Meinen allerherzlichsten Glückwunsch zu Eurem Sieg. Ihr habt Euch den Preis und die Ehre verdient.“

Die umstehende Menge klatschte. Haldana hielt einen Moment inne, ehe sie weiter redete. 

„Für den Sieg in den Zweihändergefechten, das war bereits angekündigt, war ein Jagdfalke aus der Falkenzucht zu Gallys ausgelobt.“ Die Baronin wies auf eine etwa gleichaltrige Adelige, die mit einem Jagdfalken auf dem Arm – sie trug einen langen Falknerhandschuh – schritt die Stiege auf die Ehrentribüne herauf. 

„Die Falkenzucht von Gallys, die seit einigen Jahrzehnten in einem Gutshof nördlich der Baroniehauptstadt betrieben wird, ist bekannt. Ich freue mich ganz besonders, dass es gelungen ist, einen Jagdfalken aus dortiger Zucht und Ausbildung hier für den Turniersieg überreichen zu dürfen. Eine Zucht, die, wie man weiß, neue Wege geht bei der Ausbildung der Falken. Ich darf hierzu meine liebe Base, die Baronin Alrike von Baernfarn zu Gallys, zu uns bitten und ihr das Wort geben.“

Die Angekündigte hob ihren Arm, auf dem der Raubvogel saß. „Ein Turmfalke, ein Männchen, das den Namen Aarmaeron trägt. Er ist zwei Jahre alt und wurde seit vergangenem Sommer in der Falknerei ausgebildet. Ein Vogel, der nicht eingefangen wurde, sondern der aus einem Gelege eigener Zucht stammt und somit von dem Moment an, da er aus dem Ei schlüpfte, an Menschen gewöhnt ist. Nun, Herr Praiodan, der Falke soll Euer sein.“

Baronin Alrike streckte ihre zweite Hand aus, auf der sie ebenfalls einen Falknerhandschuh trug. Ein zweiter Falke, der bislang den umstehenden nicht aufgefallen war – oder nur den wenigsten davon – kreiste einmal über der Baronin, setzte dann zum Sinkflug an und landete sacht auf dem ausgestreckten handschuhgeschützten Unterarm der Baronin. 

„In unserer Falknerei wird der Raubvogel nicht nur von einem erfahrenen Falkner ausgebildet, nein, vielmehr lernen sie zugleich von einem Falken direkt, was ihnen beigebracht werden muss. Ein Verfahren, dass mein Falkner Gwandromir entwickelt und perfektioniert hat. Und das nicht nur Kenntnisse der Falknerei voraussetzt, sondern auch die Fähigkeit, mit dem Tier – nun, wie sage ich das, direkt und auf Augenhöhe zu kommunizieren.“ Wohlweislich führte Alrike das nicht weiter aus, nicht nur weil die Geweihtenschaft des Praios, von der mehrere Vertreter anwesend waren, es vielleicht nicht gut geheißen hätten, dass ein Falkner zugleich der Magie kundig war und sich dank elfischer Zauberkunst selbst in einen Falken verwandeln konnte. Auch ohne diesen Umstand war es besser, nicht jedes Geheimnis ihrer erfolgreichen Falkenzucht ausplaudern. 

„Nun, Herr Praiodin, legt den Handschuh an, den man Euch reicht, und streckt Euren Arm aus.“ Alrike wartete, bis der Turniersieger der Bitte nachgekommen war. Dann hielt sie ihre beide Arme, auf denen jeweils ein Falke saß, neben den ausgestreckten Arm Praiodins. 

Vogelkreischen war zu hören. Der Altvogel, so schien es fast, redete mit dem Jungvogel. Beide Vögel gaben Laute von sich. Schließlich schritt der Jungvogel vom linken Arm Alrikes auf deren rechten Arm… und dann weiter auf den bereit gehaltenen behandschuhten Arm Praiodans.

 

Schützenwettbewerb

Erster Teil

 

Ein nasskalter Regenschauer zog über den Turnierplatz hinweg, ganz so, als wollte Efferd die Gemüter nach den heftigen, kräftezehrenden Zweihändergefechten abkühlen. Die Kämpfer nutzten die Gelegenheit, um in ihren Zelten "abzurüsten" und sich auszuruhen.

Die Boronsstunde verstrich, in der eigentlich der Schützenwettbewerb hätte beginnen sollen. Die Hesindestunde brach an. Odilon, der das Wettschießen beaufsichtigen sollte, hielt das für ein gutes Omen. Boron, der Totengott, und das Zischen der Langbogenpfeile, das passte in seiner Erinnerung viel zu gut zusammen. Wie oft hatte er die mörderischen Geschosse in Ziele aus Fleisch und Blut gejagt, nach seinem grandiosen Sieg damals in Gareth, vor 45 Götterläufen. Die Dreibeine, an denen die großen, farbigen Strohscheiben befestigt waren, erinnerten ihn für einen Moment an heranstürmende Oger, Goblins, Schwarzpelze oder "Dreckige", aus dem Bethanierkrieg.

Es waren aufwendig gestaltete Zielscheiben, das musste der Baernfarn zugeben, mit schwarzem Punkt in der Mitte, sowie rotem, gelbem und blauem Ring außen herum. Die Wappenfarben des Neuen Reiches, das passte. Zumindest galten die Garether Regeln: Zunächst würde auf nahe, mittlere und weite Distanz geschossen werden, sprich auf dreißig, sechzig und 120 Schritt. Die Distanzen wurden gut sichtbar durch Pflöcke und Schnüre angezeigt.

Der äußerste, blaue Kreis brachte einen Punkt, der Schuss in die "goldene Mitte" zwei Punkte, der innere Kreis mit dem roten Ring drei Punkte, ein Volltreffer ins Schwarze fünf Punkte. Bei einem "Spalter" in einen Pfeil, der bereits in der Scheibe steckte, würde es einen Extrapunkt geben. Als vierter Durchgang war Schnellschießen angesagt, innerhalb von zwanzig Herzschlägen mussten möglichst viele Pfeile in Richtung Scheibe geschickt werden. Die Gesamtpunktzahl wurde hier halbiert.

Odilon hatte die Schießbahn mit Absicht so gewählt, dass die Schützen gegen die Tiefstehende Sonne schießen mussten. Es würde eine zusätzliche Schwierigkeit darstellen, beim Zielen die Augen sehr eng zusammen kneifen zu müssen, um nicht geblendet zu werden. Aber ihm war es wichtig, hier keine reinen Turnierbedingungen für Praiostagsschützen vorzubereiten. Odilon wollte, dass diejenigen ihren Vorteil fanden, die, sei es als Jäger oder auch als Schützen einer militärischen Einheit, unter Echtbedingungen Erfahrungen sammeln konnten. Die Widrigkeiten betrafen alle Schützen, aber nicht alle hatten gleichermaßen gelernt, auch damit umzugehen. Odilon wollte, dass nicht alleine derjenige im Vorteil war, der den besten Bogenbauer bezahlen konnte und sich einen materiellen Vorteil verschaffen konnte. Er wollte das Turnier danach ausrichten, was ein guter Schütze wirklich zu leisten im Stande sein musste, auch unter schlechten Schießbedingungen. Nur dabei zeigte sich, wer ein wahrer Firunsgeselle war. 

Doch nach dem Schnellschießen würde immer noch kein Sieger feststehen. Denn Odilon hatte noch eine weitere Prüfung vorgesehen, bei der es auch auf die Intuition geübter Schützen ankam: Für die Zeit zwischen Festbankett und dem Spektakel des "Brennenden Gernat" hatte sich Odilon noch eine Besonderheit ausgedacht: Ein Nachtschießen mit Brandpfeilen, über die drei Distanzen hinweg, mit Fackeln neben den Zielscheiben. Der Schwarze Bär gab es ungern zu, aber es waren Yasinthe Dengsteins Herausforderung und ihr Feuerdämon gewesen, die ihn dazu inspiriert hatten. Ebenso wie die "feurigen" Sonnwendfeiern in der Schwarzen Sichel.

Odilon vergewisserte sich, dass die Sanduhr auf dem Tischchen bereit stand, neben einem Gong, und überblickte dann die Schützenlinie der Teilnehmer. Die weitaus meisten waren Adelige, obwohl Ârmarsland, der Herold des Bundes eigentlich alle "freien Firunsgesellen" des Landes eingeladen hatte. Aber nun gut, Wilderei war in der Vorsichel eine weit verbreitete Untugend. Womöglich hatte das Bauernvolk Angst, mit einer Teilnahme einen Verdacht auf sich zu lenken. Wer zu gut schoss, der hatte offenbar heimlich geübt?

Haldanas Forstwart Tuvok, sein friedwanger Amtsbruder Sokramorian Hirsbach sowie dessen leiblicher Bruder Rando waren die einzigen Nichtadeligen, die der Turnierrichter entdeckte. Sein eigener Schützling Timoin war adoptiert worden und wenigstens ein wenig blaublütig. Der Persevant neben ihm bat all die Herolde, Ritter, Hofmarschälle oder Junker um Verzeihung, dass er sie nicht mit vollständigem Titel vorstellen würde. Schließlich war die Zeit schon fortgeschritten, die Dämmerung nicht mehr fern.

Dann verkündete er die Namen, das Publikum antwortete jedesmal mit höflichem Klatschen. "Firunjan von Firnsjön.... Roderick von Oppstein...Alrik Eckbert von Baernfarn...Ismena von Oppstein-Baernfarn... Alvan von Nordenheim....Basin von Richtwald... Ugdalf von Binsböckel....Finyara von Zweifelfels.... Ilgar von Galebfurten...Tuvok aus Schnayttach...Selindra von Oppstein-Zweifelfels... Ismena von Quellenfels....die Brüder Sokramorian und Rando Hirsbach aus Nordenheim....sowie Timoin genannt von Binsböckel."

Odilon seufzte. Er hätte liebend gerne zu Bavhano Bvaith gegriffen und mitgeschossen, aber der lag nun schwer in Timoins Händen. Beweisen musste der Baernfarn nichts mehr, weder sich noch anderen. Er konnte eigentlich nur an Reputation verlieren. Seine Augen waren nicht mehr so scharf wie früher, der Rücken schmerzte auch ohne Anspannung der Muskeln. Ein kräftiger, unsteter Wind blies jetzt, gegen Abend, über die Schießbahnen, und erschwerte das Zielen. Die Fahnen über den Zelten flatterten geräuschvoll hin und her.

"Im Namen Firuns und der Heiligen Artema, möge der Schützenwettbewerb beginnen!"

Der Waldläufer ließ die Sehnen auf die schweren Langbögen spannen.

Ein weiterer Befehl, und die Schützen traten geschlossen an die erste Schnur, als ginge es in eine echte Schlacht. Nahe Distanz. Odilon sah, wie der eine oder andere Teilnehmer das fromme Zeichen des Pfeils schlug, und strich sich zufrieden den Bart glatt.

"Pfeile einlegen!"

Die entsprechenden Handgriffe wurden ausgeführt. Nur einer ließ sein Geschoss fallen, genau in eine Pfütze. Natürlich, Leibritter Roderick, der ewige Pechvogel. Hastig und mit hochrotem Kopf korrigierte der junge Oppsteiner seinen Fehler.

"Spannen, zielen und selbstständig lösen!"

Das Eibenholz krümmte sich, die Sehnen wurden mitsamt den Pfeilen an die Wangen gezogen. Es war ein herrlicher Anblick, Odilon spürte, wie sein Herz schneller schlug. Beim Weißen Jäger, er liebte diese Waffe. Rondrianer hielten Armbrüste  für feige, vermutlich auch Langbögen. Aber beim König des Schlachtfelds traf genau das Gegenteil zu. Er lehrte Schützen ein Höchstmaß an Gelassenheit, im Angesicht heran galoppierender Reiter oder brüllender Menschenfresser, die im Nahkampf blutig durch ihre Reihen fegen würden. Wenn die Salven nicht ordentlich saßen. Aber dafür brauchte es Kaltblütigkeit und eine ruhige, geübte Hand.

Die Pfeile sirrten nacheinander los und schlugen wuchtig in die dicken Strohscheiben. Alle hatten getroffen, selbst Roderick, der seinen nassen Pfeil wider Erwarten sogar im inneren Ring platziert hatte. Timons Geschoss steckte genau zwischen "Gold" und "Rot". Gar nicht mal so schlecht, aber der Bursche konnte das auf dreißig Schritt besser. Noch schoss der unerfahrene Jäger nicht instinktiv, korrigierte zuviel herum und besaß wenig Gespür für den Wind. Stattdessen ließ sich Timoin durch das Element des Aves verunsichern. Der schwarzgelockte Jüngling war ein großes Talent, aber noch nicht ganz soweit, wie sich Odilon das erhofft hatte. Odilon ließ seine Augen über die Zielscheiben gleiten. Im Alter war er weitsichtig geworden. Auf die Entfernung zu erkennen, welche Schützen in Führung lagen, beriet ihm keine Probleme. Nur die Nähe… mit dem Lesen war es mitunter schwierig geworden. Inzwischen musste er ein Buch auf einen Ständer stellen, fast einen Schritt entfernt. Und zu klein durften die Kusliker Minuskel nicht sein. Odilon lächelte… zumindest beim Schießen waren seine Augen noch kein zu großes Hindernis, auch wenn sie nicht mehr ganz so scharf waren wie noch vor zehn Wintern. Odilon ließ seinen Blick von Scheibe zu Scheibe gleiten. Alvan von Nordenheim lag gut - kein Wunder, die kurze Distanz war ihre Stärke, aber sie würde ihre Position nicht halten können. Tuvok war ebenfalls mit einem Treffer ins Schwarze aufgefallen. Dazu Rando und Sokramorian Hirsbach und Firunian von Firnsjön.  Das waren die Führenden nach der kurzen Distanz. 

Mittlere Distanz. Die Schützen gingen zurück auf sechzig Schritte. Nun flogen die Pfeile bereits im leichten Bogen, und wurden auch durchs Sumus Kraft in die Scheiben gelenkt. Jetzt gab es doch einige Ausreißer, die im Weidenzaun oder in den Strohballen gleich hinter den Scheiben landeten. Immerhin, auch Timoins Pfeil traf den inneren Ring. Ismena von Quellenfels jubelte: "Genau ins Schwarze!" In Rulendorf kannte man sich mit Pfeil und Bogen aus, der dortige Bogenbauer war weit über die Grenzen von Schlotz hinaus bekannt. Schöne Waffe, selbst aus der Entfernung betrachtet. Auch Sokramorian Hirsbach, einer der Favoriten, schoss hervorragend, anders als sein Bruder. Tuvok hielt sich ebenfalls anständig. Der Galebfurtener stand kerzengerade und schien ein meisterlicher Schütze zu sein. Er und die Quellenfels hatten zu den Führenden aufgeschlossen. Rando Hirsbach war zurückgefallen. Timoin lag ein wenig hinter den führenden zurück. Odilon hätte seinem Schützling mehr gegönnt. Aber es war sein erstes Turnier. Immerhin war er nicht zu weit zurück hinter den Führenden, noch war alles möglich. 

120 Schritt. Jetzt würde sich der Spreu endgültig vom Weizen trennen. So geschah es auch, fast schon im Wortsinn. Welke Blätter wirbelten herum und sorgten für weitere Verwirrung. Sokramorian Hirsbach hatte besonderes Pech, ihm riss die Bogensehne. Zum Glück wurde der Jäger nicht verletzt, auch wenn ihm der Federhut vom Kopf fiel. Sein Geschoss schwirrte als Irrpfeil ins Nirgendwo. Fluchend ließ er den Bogen fallen und hielt sich den ledernen Handschutz. Tuvok platzierte seinen Pfeil ziemlich an den Rand der Scheibe. Erneut jubelte einer der Adeligen. Diesmal war es Ugdalf von Binsböckel, der genau ins Schwarze getroffen hatte. Alvan von Nordenheim war wie erwartet zurück gefallen, würde wohl nicht mehr mitschießen um den Turniersieg. Schon bei den sechzig Schritt hatte sie ihren Pfeil nicht mehr ins Schwarze gelenkt, und auf die lange Distanz ging ihr Pfeil gänzlich fehl. 

Timoin ließ sich Zeit mit seinem Schuss, die Sanduhr, die das Zeitfenster vorgab, war schon über die Hälfte abgelaufen. 

Timoin spannte seinen Bogen langsam, hundert und zwanzig Schritt, die Königsdisziplin der Langbogenschützen. Eine Distanz, in der Kurzbögen - wie der von Alvan von Nordenheim - versagten, und in der nur geübte Langbogenschützen ihren Pfeil sicher ins Ziel brachten. Erst recht bei schweren Bedingungen. Leichter Regen, ein böiger Wind. Und nicht zuletzt gegen die tiefstehende Sonne, die hinter den Gernatsauen im Efferd versank.

Doch Bavhano Bvaith lag ihm gut in der Hand. Timoin legte einen Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen. Die Sehne ließ sich leicht nach hinten ziehen, weitaus weniger Kraftaufwand war nötig, als bei seinem alten Bogen, den er damals selbst geschnitzt hatte. Aber Bavhano Bvaith war anders. Alle Bögen, die er bislang in der Hand hatte, benötigten je mehr Kraft, je weiter man den Bogen spannte. Aber Bavhano spannte man anfangs mit großer Kraft, dann jedoch mit gleichmäßiger, moderater und nicht steigender Kraftanstrengung. Es fiel einem mit dem Bogen, den Odilon ihm geschenkt hatte, viel leichter, ihn gespannt zu halten und mit dem Pfeil das Ziel anzuvisieren. Viel geringer war die Gefahr, zu verwackeln. Das lag daran, dass das Holz dafür nicht wie gemeinhin üblich von einer Eibe geschnitten war, sondern dass ein kundiger Zauberer mit elfischer Magie die Eibe so wachsen gelassen hatte, dass das Holz in die richtige Form gewachsen war und nicht erst geschnitzt werden musste. Die Elfe Jirka sei die Zauberin gewesen, hatte Odilon ihm erzählt.

Timoin fühlte sich wie vor gut drei Monaten, auf dem Dach der Burg Gernatsborn, als er die Attentäterin verfolgte, die der Burgherrin nach dem Leben getrachtet hatte. Die er mit einem guten Schuss getroffen hatte, und die in die Tiefe gestürzt war. Vor seinen Augen verschwamm das Schwarze in der Scheibenmitte zum dunklen Haarschopf der Attentäterin. 

Sein Lehrmeister Odilon hatte seinen Einsatz auf Gernatsborn damals zum Anlass genommen, ihm das Bestehen seiner Knappen- und Lehrzeit anzuerkennen. Und er hatte ihm – damit hätte Timoin nie gerechnet – seinen Zauberbogen Bavhano Bvaith geschenkt. Ein Geschenk, das Timoin mit Stolz erfüllte, und das er gar nicht genug wertschätzen konnte.

„Timoin,“ hatte Odilon ihm gesagt. „Ich bin alt geworden, mein Junge. Es wird Zeit, dass ich manche Sachen, manche Verpflichtungen, manche Besitztümer, einfach abgebe. Soll ich denn ewig der König der Jäger bleiben? Nein, und das wollte ich auch noch nie sein. Ich denke, es ist richtig so. Bavhano Bvaith soll weiter Geschichte schreiben, auch wenn meine Geschichte zu Ende geht. Du wirst es irgendwann genau so machen.“

„Ach Odilon“ hatte Timoin geantwortet. „Mache dich doch nicht immer älter als du bist. Du kannst den Bogen doch noch lange führen.“

Odilon hatte genickt. „Mag sein, Timoin, mag sein. Aber hier, der Wutzenwald, ist ein guter Platz, um sich zur Ruhe zu setzen. So viele Jahre sind mir und Jirka vielleicht nicht mehr zusammen vergönnt.“

„Auch im Wutzenwald wirst du einen Bogen brauchen.“ hatte Timoin geantwortet.

Odilon hatte genickt. „Aber ich habe mir ja einen geschnitzt. Und mit Jirkas Hilfe würde ich auch wieder einen Elfenbogen zusammen bekommen.“

Timoin hatte gewusst, dass das nicht stimmte. Einen Elfenbogen, ja, vielleicht. Aber keinen wie Bavhano Bvaith. Da steckte sicher mehr Arbeit und mehr Magie dahinter, als Odilon bislang erzählt hatte. Aber er hatte gespürt, dass Odilon sich entschieden hatte, dass er den Bogen wirklich weiter geben wollte. Also hatte er dankbar genickt und nichts weiter gesagt.

Timoin spannte den Bogen und hielt die Sehne ruhig in der Hand. Die Einhundertzwanzig Schritt… das war die Entfernung, auf der er aufholen konnte, wo er bei den dreißig und sechzig ins Hintertreffen geraten war. Er hatte die Möglichkeit, jetzt die Stärke seines Bogens auszuspielen. Jetzt, da andere Schützen ihre ganze Kraft aufwenden mussten, ihre Sehnen zu spannen, und es schaffen mussten, dass ihre Muskeln nicht unter der Anstrengung zitterten, die Pfeile verwackelten, die Treffgenauigkeit um die entscheidenden Nuancen litt. Timoin hatte es nicht geschafft, mit den erfahrenen Schützen auf die kurze und mittlere Distanz mitzuhalten. Er war zu nervös gewesen, zu unruhig. Zu ungenau im Abschluss. Der junge Jäger war es nicht gewohnt, auf Strohscheiben zu schießen, im Wettstreit mit so vielen anderen. Das ganze war ihm neu. Es hatte gedauert, bis er sich darauf eingestellt hatte. Jetzt, über die Langdistanz, hatte er sich vorgenommen, zu den führenden Schützen aufzuholen.

Ruhig hielt er die Sehne, ruhig lag der Pfeil über seinem Finger. Langsam ließ er den Bogen herunter, bis die Höhe stimmte. Dann wartete er auf den richtigen Moment, in dem der Wind nachließ, bis der Pfeil nicht verblasen wurde.

Timoins Finger gaben nach, ließen die Sehne los und den Pfeil hinfort gleiten.

Er traf genau in die Mitte des Schwarzen.

 

Odilon beschirmte sich die Augen gegen die tiefstehende Praiosscheibe. Ugdalf von Binsböckel und Ismena von Quellenfels lagen gleichauf in Führung. Sein Schuss hatte Timoin auf den dritten Rang aufschließen lassen, knapp vor Tuvok und Rando Hirsbach. 

Zeit für die Schnellschüsse. Die Disziplin, die vor allem den Schützen der Armee entgegen kam, bei denen es mehr als allen anderen auf eine schnelle Schussfolge ankam. Ein Gongschlag, dann rann der feine weiße Khomsand durch die Uhr. Timoin mochte diese "hektische" Disziplin nicht, die zusätzliche Fingerfertigkeit verlangte, und ließ sich das auch anmerken. Als Jäger war er darauf konzentriert, seinen Pfeil in Ruhe ins Ziel zu bringen und nicht darauf, in kurzer Folge mehrere Jagdbeuten zu erlegen. Seine drei Pfeile trafen alle die Mitte der Scheibe. Aber es gab schnellere Schützen, die eine ruhige Hand bewiesen, mit vier, fünf Pfeilen hintereinander. Das Sandhäufchen war im unteren Glas angekommen. Odilon schlug erneut den Gong, den er sich von den Praioten ausgeliehen hatte. Einen verspäteten Schuss von Roderick ließ er gnädig gelten. Die gespickten Strohscheiben sahen nun aus wie riesige Igel. Sogar zwei gespaltene Pfeile waren zu sehen. Sokramorian hatte eine Ersatzwaffe erhalten, aber nur ins Blaue getroffen. Offenbar trauerte er seinem alten Bogen nach, der an der Spitze des oberen Wurfarms gebrochen war. 

Ohne Vorwarnung prasselte wieder der Regen herab. Nun gut, die Treffer konnte man nachher noch zählen. Die Teilnehmer und Gäste eilten auseinander, stellten sich unter die Vordächer ihrer Zelte oder verschwanden gleich in deren Inneres. Es war eben doch Mitte Traviamond. Die ersten Huster waren zu hören. Odilon hatte bei so vielen Schüssen nicht sofort den Überblick behalten. Aber er musste zu den Scheiben, nicht dass jemand sich daran zu schaffen machte und das Ergebnis manipulierte. Er seufzte. Schutz vor dem Regen konnte er erst nachher suchen. 

 

Es dämmerte schon, und der böige Wind ließ Odilon große Regentropfen ins Gesicht schlagen. Schnell war Odilons Kleidung durchnässt, und der Luftzug ließ den alten Jäger frösteln. Dass es auch gerade jetzt so stark regnen musste! Es wäre sicher angenehmer gewesen, sich erst einmal unter zu stellen und später nach den Scheiben zu sehen. Aber dann hätte jeder das Ergebnis anzweifeln können. Auch wenn Odilon nicht damit rechnete, dass jemand betrügen oder mogeln würde – er wollte sich da auch nichts nachsagen lassen. Mit zügigen Schritten eilte er zu den Zielscheiben. Er würde gleich sehen, wer ein wirklich guter Schütze war. Auf hundertzwanzig Schritt mit schneller Schussfolge – wer hier triumphieren wollte, musste sowohl ein unter Jagd- als auch unter Kriegsbedingungen meisterlicher Schütze sein. Fünf Schüsse, das würde ein routinierter Schütze in der Zeit schaffen. Ein exzellenter Schütze vielleicht sogar sechs. Aber diese auch alle ins Ziel zu bringen, wenn man nicht in Ruhe zielen konnte, wenn man nicht auf optimalen Wind oder den richtigen Augenblick der Konzentration warten konnte… hier würde sich zeigen, wer wirklich gut war. Durch die Punkte, die es zu erlangen gab, war gewährleistet, dass man den Turniersieg der Schützen nur gewinnen konnte, wenn man hier vorne mit dabei war. Und dass man Fehlleistungen aus den ersten drei Durchgängen ausgleichen konnte. Der Sieger würde nicht feststehen nach diesem Schießen – es stand ja noch das Nachtschießen aus – aber das war nur ein Schuss, also hatte, wer nach dem Schnellschießen vorne lag, beste Chancen auf den Turniersieg. Viel aufzuholen konnte man jedenfalls beim Nachtschießen nicht hoffen.

Etwas ließ Odilon stutzig werden… Sicher hatte der Regen den Boden matschig werden lassen, aber um Vertiefungen mit der Größe von Schuhen und dem Abstand einer Schrittlänge gänzlich vom Erdboden zu tilgen, dazu hatte der halbstündige Regen, auch wenn er heftig war, nicht verschwinden lassen. Und außer ihm selbst, der zuvor die Strohscheiben aufgestellt und die Entfernungen vermessen hatte, war dort niemand gewesen, von dem er wusste. Nein, dafür waren die Vertiefungen auch noch zu gut erkennbar. Es konnte erst wenige Minuten her sein, dass hier jemand gewesen ist. Sonst wären die Vertiefungen randvoll vom Regenwasser gewesen und nicht erst von einer halbfingertiefen Bodendecke benetzt. Er hatte aber niemanden gesehen. War da tatsächlich jemand, der sich hier herumtrieb? Was könnte dieser jemand anderes im Sinn haben, als sich an den Scheiben zu schaffen machen? Oder ließ er sich von der Erinnerung an das finstermagisch erzeugte Unwetter, das er vor drei Monaten an gleicher Stelle erlebt hatte, in seiner Einschätzung der Lage fehlleiten? Aber es gab schlicht keinen erkennbaren Grund, bei diesem Regen sich hier aufzuhalten. Gar nicht auszudenken, wenn jemand hier betrog. Odilon kam gar nicht auf den Gedanken, dass jemand auch die Gelegenheit nutzen könnte, ihm selbst aufzulauern, zu sehr war er in seiner Pflicht als Turnierrichter verhaftet.

Odilon entschied sich, nicht die Spur zu verfolgen, sondern zuerst nach den Scheiben zu sehen. Ganz links, Timoins Scheibe. Drei Pfeile. Langsam geschossen, vielleicht zu langsam. Aber alle drei Pfeile steckten im Schwarzen, und ein Pfeil hatte den bereits darin steckenden sogar gespalten.

Damit würde Timoin zu den Vordersten aufschließen können, auch wenn er nur drei Pfeile abgeschossen hatte. Es könnte reichen.

Ismena von Quellenfels. Drei Pfeile ins Schwarze, zwei weitere im gelben und roten Ring. Damit lag sie hauchdünn, vor Timoin. Aber in Schlagdistanz.

Firunjan von Firnsjön. Fünf Pfeile, drei mal gelb, zweimal rot. Der Firnsjöner war herangekommen, lag aber knapp hinter Timoin.

Alvans Scheibe war die nächste, die er untersuchte. Immerhin sechs Pfeile steckten dort. Als Vater machte ihn das stolz, dass seine Tochter, die als einzigste mit einem Kurzbogen angetreten war, überhaupt so weit einigermaßen treffsicher schießen konnte, noch dazu so schnell. Nun, Schnellschießen war Alvans Spezialität, das hatte sie schon damals auf Maraskan unter Beweis gestellt. Allein, alle Pfeile staken am Rand der Scheibe, und es hatte nicht gereicht, um soweit heran zu kommen, um noch um den Sieg mitschießen zu können. Dennoch, ein Achtungserfolg.

Ugdalf von Binsböckel. Fünf Treffer, einer ins schwarze, die anderen in die umliegenden Ringe. Odilon notierte die Treffer. Das war bislang die Führung. Allerdings mit einem so geringen Abstand, dass Ismena von Quellenfels, Firunjan von Firnsjön und Timoin von Binsböckel noch im Rennen waren.

Tuvoks Scheibe, Vier mal rot, einmal gelb. Auch eine stattliche Punktzahl. Er hatte noch Chancen auf den Sieg, aber nur, wenn er im letzten Schuss ins Schwarze traf und alle anderen vor ihm fehl gingen. Sehr unwahrscheinlich.

Odilon ging die weiteren Scheiben ab und notierte die Trefferbilder. Aber auf die Rangfolge der Führenden hatte das keinen Einfluss mehr.

Vom Turnierlager her drang leise Musik an sein Ohr. Die Festgäste hatten sicher keine Lust, sich vom Regen die Laune vermiesen zu lassen, dachte Odilon. Ihm war es recht. Er drehte sich um, stapfte langsam zurück zu den Zelten. Dort würde es wenigstens trocken sein. Der alte Jäger war durchnässt bis auf die Haut. Ein warmes Feuer würde ihm jetzt guttun. Er hätte sich schon viel früher zur Ruhe setzen sollen, statt hier den nimmermüden Jäger abzugeben, dachte er einen Moment. Nein, das war nicht seins. Er würde es nicht genießen können, jeden Tag in festen Häusern zu wohnen. Das war nicht das, was der Herr Firun für ihn vorgesehen hatte. Die Spuren… richtig, die Spuren. In dem kurzen, heftigen Regen waren die Spuren, die er am Hinweg gesehen hatte, weggespült worden. Vielleicht sah Odilon ja auch Gespenster, befürchtete eine Gefahr, wo keine war. Wie kam er darauf, hinter jeder Fußspur einen Gegner zu vermuten? Vielleicht hatte das alles eine ganz einfache Erklärung. Nun, er hatte die Trefferbilder erhoben, was nutzte es, noch länger hier auszuharren. Sollte hier doch herum schleichen, wer immer wollte. Ein Krug heißer Meth am Lagerfeuer, das war genau das, was er jetzt brauchte.

 

Jetzt endlich begab auch Odilon sich ins Trockene. Hoffentlich hielt der Efferdgruß jetzt nicht bis morgen früh an. Aber sein Wettergefühl sagte ihm, dass die Wolken bis zur Dämmerung weiterziehen würden, dank des böigen Windes, der den Bognern gerade eben so viel Verdruss bereitet hatte. Die Brandgefahr beim Nachtschießen war schon mal gering - Glück im Unglück, sozusagen. Odilon griff sich einen Becher Meth, ließ sich den Rücken von einer Feuerschale wärmen. , während er Haldana, Alboran, Alrik und Storko über die Zwischenstände des Schießens in Kenntnis setzte.

„Dann wird es noch ein spannendes Schießen, heute Abend“ sinnierte Storko. „Keiner ist so klar in Führung, als dass man ihm schon zum Sieg gratulieren könnte.“

„Immerhin, meine Familie hält sich gut. Immerhin zwei Binsböckler haben noch alle Chancen offen auf den Sieg.“ frohlockte Haldana. Alrik nickte. Odilon fiel die hünenhafte Kriegerin auf, die sich, mit aufmerksamen Blick, in der Nähe aufhielt.

„Das wäre ja auch was gutes“ murmelte er, wobei es Alrik eigentlich egal war, wer als bester Schütze vom Platz ging. Dieser Timoin von Binsböckel mit seinem auffallenden Ohr… würde er es ihm gönnen, als Sieger aus dem Wettstreit hervor zu gehen? Den Gerüchten zufolge, die er gehört hatte, war Timoin in Wahrheit ein Spross seines Bruders Bishdarielon – warum auch immer der Junge dann bei der Baernfarn-Binsböckel aufgewachsen war. Nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. „Odilon, du als alter Jäger hast doch einen sechsten Sinn dafür, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist, oder? Ich meine, bei so einem Fest kann viel passieren.“ Alrik hatte eigentlich weder Haldana noch Storko verunsichern wollen.

„Hmm, ja, nicht mehr als ein… als du, oder auch als Storko…“ Odilon schaffte es gerade noch, die freundschaftlich gemeinte Bezeichnung Alter Gauner für Alrik nicht auszusprechen. „Aber jetzt da du es sagst… ich habe Fußspuren vorne bei den Zielscheiben gesehen. Die waren frisch, der Verursacher kann nicht lange vor mir dort gewesen sein. Kann sein, dass jemand versucht hätte, am Ergebnis zu manipulieren. Aber sonst… nein, darüber hinaus ist mir nichts aufgefallen. Halt, doch, diese Kriegerin…“ Odilon wies auf Alfhildr. „Sie beobachtet uns.“

Alrik nickte. „Das wusstest du noch nicht. Die Praioskirche hatte den Wunsch geäußert, die Baronin zu beschützen. Sie ist also… Haldanas neue Leibwächterin. Du weißt, man schlägt der Praioskirche keinen Wunsch ab.“ Alrik wollte, jetzt, da Haldana zuhörte, nicht mehr erzählen, um seiner Schwiegertochter keine Angst zu machen.

Odilon nickte. „Sie… erinnert mich an jemanden. Kann natürlich Zufall sein. Ach, ich weiß nicht, ich muss da erst noch darüber nachdenken. Aber gut, eine Leibwächterin kann ja nicht schaden. Ich glaube, nach den Ereignissen im Praios bin ich einfach übersensibel. So ein Platzregen im Travia ist ja schließlich nichts ungewöhnliches.“



Verdachtsmomente - dritter Teil - Der Fuchs ist gestellt

 

Praios invictus

Rex Duodecim,

Gloria Derae,

Aurea lux.

Da nobis leges

Et Veritatem.

Da nobis lucem.

Deorum dux.

 

Hell, klar, warm und freundlich stieg das Lied zur Decke der Alboranskapelle zu Burg Gernatsborn empor, von den rosenroten Lippen der unschuldig blickenden Lichtsucherin Beldenia. Die Novizin schaffte es, den schwierigen Lobpreis fast ohne Misstöne und größeres Stocken zu intonieren. Die Geweihten stellten zwölf reinweiße Kerzen, geschmückt mit goldenen Sonnensymbolen, auf den frisch gedeckten Altar. Mit feierlicher Miene und duftendem Kienspan wurden die Dochte reihum entzündet. In vier vergoldeten Opferschalen brannten Bernsteinstückchen, Weihrauch oder edles Holz. Auch die Kandelaber-Lichter im Schrein flammten von Ost nach West auf, in Richtung des Sonnenlaufs. 

 

Praios invictus.

Regens in Alveran,

Iudex divinus,

Praeclara vox.

Deram proteges 

Contra demones,

In tua luce

Vanescit nox.

 

Feierlich trug Falkwart die Statue des Heiligen Alboran auf ihren Platz, zur Rechten des Götterfürsten daselbst, dessen Bildnis mit Sonnenblumen geschmückt war. Dann verneigte der Erzpriester sich vor dem liebevoll bemalten Heiligenbild aus Bosparanienholz. Ehrwürden Falkwart Malachanias schlug die kleine Segenssonne, mit Zeige und Mittelfinger zugleich, vor beiden Statuen, und schritt dann mit einer Räucherschale, ein bosparanisches Gebet sprechend, die Kapelle ab. Die Gäste verneigten sich ebenfalls und schlugen das Sonnenzeichen. Alrik spürte, wie auch seine Seele leichter wurde, reiner und heller, als würde sie gerade in einem unsichtbaren Bad geläutert. PHEx mochte das graue, manchmal auch schwarze Schaf der Familie sein, aber PRAios war nun einmal ihr unangefochtenes Oberhaupt. Keine Schatten ohne Licht, keine Nacht ohne Tag, keine List oder Täuschung ohne Recht und Ordnung. Auch im Mondschein spiegelte sich nur der erhabene Glanz des Götterfürsten wieder. 

Sankt Alboran von Baliho. Im flackernden Licht der Tempelkerzen sah der Schutzheilige von Friedwang und Schlotz aus wie ein auf Sonnenstrahlen herabgestiegener Alveraniar. Falkwart hatte in seiner Predigt die Vita des Heiligen ausführlich gewürdigt. Der Hauptmann der Burgwache und Orkenkämpfer hatte in den Dunklen Zeiten Überlebende aus dem brennenden Baliho an den Rand der Südsichel geführt, wo die Stadt "Kalleris" gegründet worden war. So behauptete es zumindest die Legende. Seine Weggefährtin war die Waldläuferin Artema gewesen, eine spätere Heilige des Firun, die auf dieser gefahrvollen Flucht den Bogen des Weißen Jägers begründet hatte, als Pilgerpfad entlang der Berge. In den Baronien Schlotz, Friedwang und Gallys waren beide als "Streitende Heilige" bekannt. Im Zwist ob der Frage, welchem Gott in Gallys zuerst ein Tempel errichtet werden sollte, dem Himmelskönig oder dem Weißen Jäger, hatte der praiosfromme Alboran die Siedlung verlassen, mit 14 Familien. Die Auswanderer hatten im Süden des heutigen Friedwang das Dorf Nordenheim gegründet, an Stelle eines aufgegebenen bosparanischen Kastells. 

Sankt Alboran war anachronistisch als Wehrheimer Ritter dargestellt, mit klobigem Nasalhelm über dem Kettenhemd, das seinen Leib vom Kopf bis zu den Stiefeln bedeckte. Sein Schild zeigte das silberne Balihoer Rad auf rotem Grund. Die Rechte des Heiligen reckte ein Langschwert in die Höhe. Seine linke Hand, deren gepanzerter Arm zugleich in den Griffschlaufen des Schilds steckte, hielt eine goldene Feder. Dieses Detail sollte wohl an die Traumbotschaft des Greifen Nerdan erinnern, der den wackeren Glaubenszeugen zum Auszug aus Gallys und zur Gründung von "Nerdanheim" aufgefordert hatte. Das wichtigste Attribut aber war das fehlende Stück des rechten Ohrs. Dort sollte Alboran der Hieb eines Orksäbels getroffen haben sollte, in der Schlacht von Veratia, alias Wehrheim, 253 vor Bosparans Fall. Um das Stigma herauszustellen, dass sich angeblich auf seine männliche Nachkommen vererbt hatte (Alrik langte sich verstohlen an das eigene Ohr) war die Kettenhaube an dieser Stelle etwas zurückgezogen worden. Blut lief dem Heiligen die Wange herunter, im fast schon lebensechten Werk des Holzschnitzers. Alboran blickte leidend gen Alveran, und dennoch grimmig-entschlossen, ein wahrer, praiosgefälliger Anführer in einem götterlosen Zeitalter. Das schwere, silbern glänzende Kettenhemd hatte sich als verhängnisvoll erwiesen, für Alriks Vorfahren und ersten friedwanger Baron. Am Ende eines Heldenlebens war Alboran vom Häuptling der Schwarzpelze in die "Orkensauffe" gezogen worden, benannt nach dem Ergebnis der Schlacht. 

Nach drei Tagen (oder zwölf Tagen, die Legenden waren sich da etwas uneins) hatte der See im Nordwesten der Baronie Friedwang den Leichnam wieder frei gegeben, der angeblich vollkommen unversehrt geblieben war. Die Gebeine waren nun die wichtigsten Reliquien der "Sankt Alborans-Siegesbasilika". Der wehrhafte Praiostempel von Markt Friedwang, nach seinen beiden Schutzheiligen auch Sankt Alboran und Gilborn genannt, war am ersten Jahrestag der Dritten Dämonenschlacht in Markt Friedwang geweiht worden war, durch den Wahrer der Ordnung Pagol Greifax Gratenfels höchstselbst. Auch diesen ehrenvollen Umstand hatte Ehrwürden Falkwart gebührend herausgestellt.

Es war schade, dass der eigentliche Prätor nicht anwesend war. Bei Hochwürden Neibhard Garafanion Eulenkuhl handelte es sich um einen gutmütig konservativen, gemütlichen, ein wenig behäbigen Landgeweihten. "Prätor Nippert" ähnelte schon äußerlich dem früheren Lichtboten Jariel Heliodan, mit Backenbart, roten Wangen und Bäuchlein. Seine ruhige, praioviale Art hing sicher auch mit dem Alter von 85 Götterläufen zusammen. Hochwürden Garafanion zehrte bis heute von dem Ruf, den Wehrtempel, aber auch die Gläubigen, einigermaßen sicher durch das Chaos der Wildermarkzeit geführt zu haben, als "Fels in der Brandung". 

Bis heute sollte er schon mal ein Auge zudrücken, wenn es um die sogenannten Alten Kulte ging, die sich der Anbetung der schlafenden Gigantin Sokramur verschrieben hatten. Soviel Duldsamkeit konnte man von seinen beiden potentiellen Nachfolgern nicht behaupten. An Luminifer Ucurian war ein lupenreiner Bannstrahler verloren gegangen. Der Hohe Commissarius Falkwart, der die Nachwirkungen der "Wilden Zeit" beseitigen sollte, galt als arrogant und eitel. Zumindest besaß der goldgelockte, ehrgeizige Sproß einer Zaberger Adelsfamilie ein gerüttelt Maß an Ehrgeiz.

Junker Storko von Gernatsborn-Mersingen wurde von ihm jetzt besonders gesegnet, natürlich. Der Gastgeber war zugleich Edler von Efferding, und somit an eben jener Orckensauffe begütert, in der einst der Heilige Alboran versunken war. Wahrscheinlich war das der tiefere Grund, warum sich der Wehrvogt die Statue eines wenig bekannten Lokalheiligen ins Haus geholt hatte. Seine Gemahlin hingegen galt als Anhängerin der ewig Jungen Göttin. Gewisse Spannungen konnte man da schon abzusehen, der erbitterte Zweikampf zwischen Glyrana und Storko, heute auf dem Turnierplatz, taugte sicher als Symbol - oder waren andere politischen Motive dahinter? Ging es nach Ehrwürden Falkwart, würde der marktfriedwanger Greif seine goldenen Schwingen demnächst auch noch über Schlotz, nein, am besten gleich über den ganzen Sichelhag ausbreiten. 

Der Sockel, auf dem Alboran stand, war wie eine zinnenbewehrte, heckenumrankte Turmmauer geschnitzt. Das sollte wohl eine Anspielung auf den "Alboranszaun" sein, den der Baroniegründer angeblich hatte errichten lassen, gegen die vom Norden her nachdrängenden Orken. Gemeint war eine altertümliche Landwehr mit Wall und Gebück, eine Art lebende Mauer aus gestutzten und ineinander verflochtenen Hainbuchen. In Friedwang fanden sich hie und da noch Überreste davon. Falkwart behauptete, dass diese Befestigung von den Bergen bis an den Gernat gereicht und dem heutigen "Sichelhag" seinen Namen gegeben hätte. Soweit Alrik wusste, waren die vielen Wehrtürme und Landwehren der Gegend erst sehr viel später, in der Zeit des priesterkaiserlichen "Illuminats Auraleth", entstanden und womöglich nie zu einem einzigen Wall verbunden gewesen (anders als die Ogermauer in der Trollpforte).

Ehrwürden Falkwart hatte die Zaunlegende geschickt in seine Predigt mit eingeflochten. Es war schwer zu sagen, was die Adeligen vom Machtstreben (oder der Großmannssucht) des Hohen Commisarius hielten. Die scharfe Predigt von Luminifer Ucurian, heute bei der Mittagsandacht, sollte einigen Gästen übel aufgestoßen sein. Es war wohl um kirchliche Verwirrung, die Verwässerung heiliger Dogmen, ja, sogar um die Gefahr erzdämonischer Einflüsterungen in Folge der "Quanionsqueste" gegangen. Um Hexerei und Ketzerei, die allenthalben in den Sichelbaronien drohte. Welcher Grundherr hörte soetwas gerne?

Falkwarts Sermon war am Abend freundlich, salbungsvoll und im Einklang mit Sankt Quanion gewesen. Schließlich legte der Erzpriester Wert auf ein gutes Verhältnis zur märkischen Aristokratie, der er selbst entstammte. Die Idee eines gemeinsamen Götterdiensts – ein durchsichtiger Versuch, die anderen Geweihten zu vereinnahmen? – hatte sich schnell in Luft aufgelöst, schon allein aus Platzgründen. Ysilda war, wie erwartet, nicht bereit gewesen, den Tsasegen in einer Praioskapelle zu spenden. Die Zeremonie würde - sofern Efferds Launen es zuließen - im Burghof stattfinden, umringt von Gauklern und Musikern. Der Traviageweihten oblag im Anschluss die Segnung des Burgherds. Deggen von Baernfarn würde als Ritter der Löwin die Waffenkammer besuchen.

Wie auch immer, der stickige Weihrauch und die glosende Wärme, die von den großen Tempelkerzen abgestrahlt wurden, taten Alrik nicht gut, in seinem schweren, pelzbesetzten Mantel. Die kleine Burgkapelle war tatsächlich völlig überfüllt. Zum Glück hielt sich der Baron bereits in der Nähe der Tür auf. Phexgeschwind huschte er nach draußen. Nicht allein, um frische Luft zu schnappen. Er wollte allgemein mal wieder nach dem Rechten sehen. Hesindian, der wohlweislich nicht im Praiosschrein mit dabei war, hatte in der Küche überprüfen wollen, was dort so alles zubereitet wurde, und mit welchen Zutaten. Womöglich würde ihm sein Magierfreund jetzt schon Bericht erstatten. 

Er trat nach draußen auf den Burghof, wo noch immer Pfützen glänzten. Der Regen hatte aufgehört, der Abend versprach freundlich zu werden. Es herrschte das übliche Hin und Her eines Hoffests, auch wenn das Gesinde größtenteils mit der Zubereitung des Festbanketts beschäftigt zu sein schien. Eine Katze hatte eine Fischgräte erwischt und kaute genüsslich darauf herum, neben dem Brunnen. Weiße Tauben gurrten um das kupfergedeckte Dach des Palas, das im letzten Abendrot glänzte.

Das Mannloch im Burgtor stand nach wie vor offen, schließlich übernachteten einige Bankettgäste in den Zelten. Vom Turnierlager her wehte leise Musik und Stimmengewirr heran. Die Luft schmeckte leicht nach Rauch und Gebratenem. Alrik spürte leichtes Bedauern, dass er nicht unten mitfeiern durfte. Vermutlich würde die Stimmung im Lager lockerer sein als oben in der Burg, wo die unvermeidlichen Adelsgespräche geführt und die eisernen Gesetze der Etikette beachtet werden mussten. Von Hesindian war weit und breit nichts zu sehen. 

Was war das denn? Warum standen die Weidenkörbe mit der "kleinen Überraschung" denn auf dem Hof statt unten am Kupferteich, beim Floss mit dem Ortfried?  Was hatten sich die Gaukler dabei gedacht, das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Immerhin war der Inhalt notdürftig abgedeckt worden, der durfte auf keinen Fall nass werden. 

Der Friedwanger lüpfte das Tuch und nahm eine der Holzgänse heraus. Sie waren aus irgendeinem hellen Holz geschnitzt und der Rücken ausgehöhlt worden, um Platz für kleine Talglichter zu schaffen. Vor allem an der Unterseite waren deutliche Spuren von Salzwasser zu sehen. Der Freiherr schmunzelte. Die "Gänselichter", die vermutlich darpatische Traviatempel hätten beleuchten sollen, waren vor ein paar Jahren mal an die Küste der Efferdtränen angeschwemmt worden, als Überbleibsel eines Schiffsuntergangs. Es waren genau 249 Stück, die auf dem Strand gelegen oder den Wellen geschwommem waren, wie bei "Alle meine Gänschen". 

Die Efferdsfreudentränen, wie sich die Spaßmacher, Seiltänzer und Jongleure aus der Markgrafschaft Perricum nannten, hatten sie in einem ihrer Wägen mitgebracht. Sollte das ein Zeichen der Götter sein? Vor 249 Jahren war das Fürstentum Darpatien gegründet worden. Heute Nacht würden die Gänselichter dem brennenden darpatischen Wappenstier auf dem Gernat hinterher treiben, als Teil eines feurigen Spektakels. Eigentlich hatte Alrik damit seine Markgräfin beeindrucken (und an das Jubiläum des "untergegangenen" Darpatien im nächsten Götterlauf erinnern) wollen. Aber Swantje befand sich jetzt in Weiden, und das alte Fürstentum war ohnehin längst den Darpat hinunter geschwommen. Für einen Augenschmaus nach dem Festessen würden die Holzgänse allemal reichen.

Sollte er die Körbe hinunter zum Zeltdorf tragen lassen? Aber die Diener waren allesamt schwer beschäftigt, und hier oben standen die Gänse einigermaßen sicher. Bevor sie von irgendeinem anderen Füchslein gestohlen wurden. Alrik wollte sich zum Palas wenden, als ihn Stimmen am Tor ablenkten. Die kleine Katze fauchte, schob einen Buckel und sprang davon, mitsamt Gräte. 

Die beiden Pfahlgardisten am Mannloch hatten ihre Hellebarden gekreuzt, vor einem Diener, der etwas Korbähnliches in Händen hielt und Einlass begehrte. Noch mehr Gänslein? Nein, dieser Korb sah eher kegelförmig aus. Ein Wortfetzen ließ den Friedwanger aufhorchen: "...Geschenk, für das junge Glück." Eine der beiden Wachen wollten wissen, von wem das Präsent stammte.

"Aus dem Dorf Rübenscholl, für seine künftige Grundherrin", lautete die Antwort, gefolgt von einem hastigen "Nachschauen würde ich lieber nicht." Die Gardisten berieten sich kurz, dann ließen sie den Knecht eintreten. 

Der Diener, der das schwarz-goldene Wams des Hauses Mersingen sowie eine blaue Gugel trug, trat über die große Schwelle ein, geduckt und dankbar nickend. Alriks Neugier war voll entflammt, gemischt mit Misstrauen. Der "Geschenkbote" trat leise pfeifend in den Hof, ins Licht der Fackeln, die gerade entzündet worden waren. "Einen Augenblick" sagte Alrik mit herrischer Gardistenstimme, die er selbst nur allzu gut kannte, und legte seinen Hand auf den Griffkorb des Rapiers. "Was für eine Art von Geschenk ist das, wenn ich fragen darf?"

Der Blaugoldschwarze drehte sich um. Es war ein Bienenkorb, den er in Händen hielt, die untere Hälfte hatte er mit einem groben Sack verhüllt - die übliche Methode der Bauern, Bienen am Ausschwärmen zu hindern. 

"Ein Gruß des Dorfes Rübenscholl an die künftigen Edlen Haldana und Alrik", sagte der Diener, vielleicht eine winzige Spur zu freundlich und unterwürfig. "Es ist weithin bekannt, dass Hochgeboren Haldana große Freude an der Bienenzucht hat. Darf ich den Korb nach oben bringen?"

"Ich weiß nicht, ob es Haldana wirklich Freude bereiten wird, wenn du die stechenden kleinen Biester auf ihre Hochzeitsfeier schleppst. Das hier ist eine Burg, kein Bienenhaus."

"Edler Herr, seid versichert. Es ist Herbst, die Immen haben sich bereits zur Winterruhe begeben, sind gut gefüttert und vollkommen friedlich. "

Alrik runzelte die Stirn. Irgendein Rädchen lief hier im Dreck. Bislang hatte er noch nicht einmal mitbekommen, dass sich einfache Rübenscholler unter den Festgästen befanden.

"Natürlich werde ich die Bienen oben auf die Terrasse stellen, nicht in den Festsaal", sagte der Niedergeborene, mit einer Gelassenheit, aber auch Bestimmtheit, die Alrik mehr beunruhigte, als wenn er grimmig oder drohend geklungen hätte. Ich weiß genau, was ihr letzten Sommer getan habt, schien sein Blick sagen zu wollen.

Überhaupt, das Gesicht. Da war nur ein helles, fleischfarbenes, maskenhaftes Etwas. Mit Augen, Mund und Nase, gewiss, die Alrik schon als solches erkannte, ohne dass er das dazugehörige Antlitz hätte beschreiben können. Nein, es war kein Gesicht, in das er gerade blickte. Sondern eine lebende Maske. Der angebliche Diener besass das vollkommene, nichtssagende Boltansgesicht. Womöglich lag irgendein Zauber auf der Kapuze. Oder war es einfach nur die Art von Lakaien, möglichst servil und unscheinbar durch die Gegend zu eilen?

"Natüüürlich", sagte der Fuchs von Friedwang. "Stell die Bienen auf den Boden. Mach schon...das ist keine Bitte, sondern ein Befehl." Die Hand des Barons ruhte schwer auf dem Rapiergriff, bereit blank zu ziehen.

Der Diener zögerte kurz und stellte den Korb dann gehorsam auf das Pflaster, nicht ohne den Sack komplett über den Korb zu ziehen. 

"Jetzt einen Schritt zurück. Ich möchte deine Hände sehen!"

Der Gesichtslose tat, wie ihm geheißen worden war. 

Keine Farbflecken, aber das musste nichts heißen. Ein schlauer Meuchler würde sich niemals eine derartige Blöße geben.

"Gut. Zieh dir die Gugel vom Kopf!"

Nun war beim "Boltansgesicht" schon mehr Widerwillen spürbar. Alrik überlegte, ob er die Wachen hinzuziehen sollte. Aber da stand immer noch der Bienenkorb. Herbstruhe oder nicht, ein Schwarm wütender Immen war eine gefährliche, vor allem schmerzhafte Waffe. Ein Tritt oder ein Stoß, und auf dem Hof würden die Niederhöllen losbrechen.

Tatsächlich glaubte der Friedwanger, ein wütendes Summen im Inneren des Korbs zu hören. Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Gespaltene Augen. Die Königin des Schwarms, mit einer wahren Büchse der Pardona in Händen. Das summende, brummende Unheiligtum der Plagenbringerin, unweit von Helbers Hof, auf den Feldern vor Rommilys. Haldana, die einen Bienenkorb umgestoßen hatte, im Kampf gegen die Leichenfledderer. Yasinthes Tod, genau hier auf dem Burghof. Das Fläschchen mit Thonnyspulver, das aus Celerions Labor stammte. Dieser Bienenstock hier, der ein Geschenk sein sollte, ebenfalls aus Rübenscholl. Für die neue Herrin. 

Alrik begriff. Der "Trankverstärker", der sich bereits in Haldanas Körper befand, steigerte auch die Wirkung von Bienengift. Vielleicht würden die Bienen Haldana nicht töten, aber eine Fehlgeburt war keinesfalls ausgeschlossen. Alfhildr würde in Walwut verfallen und mit tödlicher Sicherheit erst auf die Bienen und dann auf die Gäste losgehen.

Sollte der Anschlag Rache sein, für Yasinthes Tod, im Sommer, hier auf der Burg? Nein, die Inszenierung war mehr als das. Sie war eine Botschaft,

W i r stehen hinter allem. Überall haben wir unsere Handlanger. Ihr könnt Euch niemals sicher sein. 

Einen Moment lang befiel den Baron das nackte Grauen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. 

"Ich sagte, zieh dir die Kapuze vom Kopf."

Der Gesichtslose zögerte noch immer. Ein Mann ohne Gesicht, auch das war womöglich eine Botschaft. Alrik spielte mit dem Gedanken, dem vermeintlichen Diener seinen Wurfdolch zu verpassen, da gab dieser schulterzuckend nach.

Der Mann struppelte sich mit der Hand durchs zerzauste, bräunliche, leicht ergraute Haar. Man hätte das "echte" Gesicht als schalkhaft bezeichnen können, wären die Augen weniger kalt, hart und verächtlich gewesen. Dahinter verbarg sich kein jungenhafter Schalk, sondern ein eisgrauer Schakal. Alrik seufzte. Vermutlich lag es an seinem fortgeschrittenen Alter, dass er mehr Grauhaarige als Junge kannte. Selbst auf der Gegenseite.

"Valpo? Valpo Boernegard? Das glaube ich jetzt nicht....der verschwundene Dorfbüttel aus Rübenscholl?" 

Tatsächlich hatte der Baron Valpo einige Male im Dorf gesehen, wo der Häscher der Rahjajungfer Ismena viele Jahre lang über Recht und Ordnung gewacht hatte. Damals hatte sein Gegenüber noch unscheinbar ausgesehen, nicht so verroht und herzlos wie jetzt. 

Seit dem Roten Rondra 1035, als die Drachenmeisterin Friedwang heimgesucht hatte, galt er als vermisst, wie manch anderer Rübenscholler. Irgendjemand hatte später behauptet, die blankgenagten Knochen im Wald, das wäre sein Werk gewesen. Knochen von Tieren, angeblich auch von einsamen Wanderern. Nicht Valpo sollte deren Gebeine abgenagt haben, sondern fleischfressende Fliegen, die er im Auftrag des Bethaniers nach Darpatien gebracht hatte. Um das Vieh, aber auch die Menschen zu verderben. Angeblich hatte Valpo sie regelrecht gezüchtet, über Jahre hinweg, in seinem Haus. Ja, Valpo Boernegard sollte ein feindlicher Spion gewesen sein, ein Saboteur und Schläfer. Nach dem Sturz des Dämonenmeisters hatte sich der ungetreue Büttel wohl einen neuen Herren gesucht.

Fleischfressende Fliegen. Der Hexer von Rommilys. Die Faulige Monarchin des Ewigen Siechtums. Giftige Bienen. Alrik hatte das Gefühl, als hinge das alles wirklich zusammen, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie.

"Und nun?" fragte Valpo frech und schlenderte auf Alrik zu, die Hände wie zur Umarmung erhoben. "Verhaftet das Streunerlein jetzt etwa den Büttel?"

"Vielleicht bringt das Streunerlein den Büttel um, wer weiß? Einen ziemlich bösen Büttel, nach allem, was man so hört. Keinen Schritt weiter...."

Plötzlich fiel ein Wurfdolch in Alriks Rechte, aus dem Ärmel. "Du wärst schon längst tot, wenn ich nicht so fürchterlich neugierig wäre."

Boernegard erstarrte in der Bewegung. 

Die Tür zur Kapelle ging auf und die Praiosdienstgäste kamen plaudernd heraus. Alrik ließ die Klinge wieder halb in der geheimen Scheide verschwinden, mit der Spitze voran. Eine Panik in der Burg konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. 

"Weiß du, was der Unterschied zwischen einem Bienenstachel und einem vergifteten Wurfdolch ist, Valpo? Beim Stich einer Biene hat nachher die Biene ein Loch in den Eingeweiden."

Der ehemalige Büttel atmete tief durch. "Du weißt nicht, mit welchen Mächten du dich hier einlässt", presste er mit frostiger Stimme hervor.

"Uuuh, jetzt habe ich aber Angst. Lass mich raten. Sicher hast du dich Lutisanas Söldnergesindel angeschlossen, nach der Niederlage deines Meisters? Du landest ständig auf der Seite der Verlierer, hm? Die Märkische Schlacht...Mann, war das eine Arschtreterei,"

"Glaub mir, auch die Kriegsherren waren nur Werkzeuge höherer Mächte". Valpo Boernegard klang kühl und hochmütig. "Ich arbeite jetzt für den Meistbietenden, und genieße die Freiheit, meine Auftraggeber wählen zu dürfen, wie es mir gefällt. Diese Freiheit hast du schon lange nicht mehr, Geheimer Kammerjäger oder wie immer du dich jetzt nennst. Willst du mich umbringen, hier, vor allen Leuten? Pfui, wie schäbig."

"Kammerjäger, das gefällt mir. Ich hasse Kroppzeug. Glaub mir, die Fliegenklatsche ist dir näher, als du denkst"

Alrik linste über die Schulter. Niemand schien die Szene sonderlich zu beachten. Ein Baron sprach mit irgendeinen Diener, der einen Sack vor sich abgestellt hatte, maßregelte ihn vermutlich, wegen einer kleinen Nachlässigkeit. Was war schon dabei? 

Auch Haldana trat aus dem Schrein, bemerkte ihren Schwiegervater aber nicht. Sie war blass und wurde von einigen Vertrauten umringt. Ihr schien unwohl zu sein, kein Wunder nach all den Weihrauchdämpfen. "Es geht schon" hörte Alrik seine schwangere Schwiegertochter sagen, als ihr Gemahl besorgt nachfragte, "muss mich nur ein bisschen bewegen." Die Festgesellschaft wanderte zum Haupthaus, das jetzt der Barmherzigen Mutter Travia geweiht werden sollte. 

"Wenn du Alarm schlagen möchtest, dann solltest du es jetzt tun, Streuner! Hast du Angst, dass zu viele deiner schmutzigen Geheimnissen ans Licht kommen? Das wahre Gesicht von Alrik, dem Hochstapler? Oder einfach nur davor, dass hier gleich sehr viele wütende Bienen herumschwirren werden? Ich verstehe, Großvater Alrik ist besorgt."

"Gibt es ein Problem? Was  hat der Kerl denn da im Sack??"

Es war Alfhildr, die plötzlich auf die beiden zutrat. Die Thorwalerin schien ihre Aufgaben als Leibwächterin ernst zu nehmen.

"Grünbienen", sagte Valpo mit größter Selbstverständlichkeit, anstelle einer Begrüßung. "Giftgrüne Bienen, die nicht ganz so fleißig sind wie ihre schwarzgelben Verwandten. Dafür aber umso kriegerischer." Der Blick des Büttels wanderte zum verhüllten Korb.

"Gib mir nur einen Grund, meine kleine Biene hier fliegen zu lassen!" Aus den Augenwinkeln heraus sah Alrik, wie die arglose und bestens umsorgte Haldana den Gefahrenbereich verließ, zusammen mit den übrigen Gästen. Sehr gut.

Nun trat auch noch eine Torwache hinzu, mit gefällter Hellebarde, Sturmhaube und Kürass.

"Hast du den Herrn Baron gerade wirklich....Streuner und Hochstapler genannt?" fragte der Pfahlgardist, der den gelöcherten Ohrenschutz seiner Sturmhaube in Valpos Richtung drehte, um besser hören zu können.

Alrik entspannte sich etwas. Die Wachen auf dieser Burg waren wirklich auf Trab. Allerdings bekamen sie fast schon wieder zuviel mit. 

"Vorsicht, im Korb sind Giftbienen" warnte der Baron den "guten Gardisten". Der rief ebenso nervös wie entschlossen seinen Kameraden herbei.

"Das hier ist ein Attentäter", sagte Alrik. "Wenn auch nur ein verhinderter Attentäter, scheint mir."

"Das haben wir gleich. An die Wand da." Die Gardisten stießen den Büttel gegen die Mauer und durchsuchten ihn. Ein Dolch kam zum Vorschein, ebenso ein praller Dukatenbeutel. Gold war wohl nicht das schwächste Motiv dieses Schurken. Das würde sicher ein aufschlussreiches Verhör werden. Zunächst einmal mussten sie ihm Gilbert gegenüberstellen, im Kerker. Aber Alrik war sich sicher, dass sie den Giftmischer dingfest gemacht hatten. 

"In dem Korb da sind Giftbienen? Wer hat dich geschickt, Neiding? Wie kam man nur so ein swafnirverfluchtes Scheußal sein?" Alfhildr war ehrlich empört. 

"Das sagt dich Richtige!" Valpo kicherte. "Du blödes Thorwalsches Brunstvieh". 

"Was?"

"Stimmt es, dass du es schon mit Ehrwürden treibst, du barbarische Schlampe aus den Sümpfen hinterm Orkarschland? Siehst du deswegen den ganzen Tag so entspannt aus? Den ganzen Tag und die halbe Nacht?"

Valpo drehte sich um und vollführte obszöne Bewegungen mit seiner Zunge.

"Willst du mich etwa beleidigen, du räudiger rotznasiger Robbenschänder?" Die Olporterin wurde blass um ihre Sommersprossen. Sie atmete schwer, ihr schöner Busen bebte.

"Alfhildr, hör nicht auf den Dreckskerl. Er will dich in Walwut versetzen, dieser Wahnsinnige!"

"Elende Walküre!! Oder sagt man Walkühe, zu euch häßlichen Mannweibern?" Der Gefangene lachte gehässig.

"Alfhildr, nein, lass die Axt stecken!"

"Du rolliges Trollmädchen besorgst es sicher jedem, für ein paar Bier, mit deiner stinkenden, nasskalten, rothaarigen Fisch..."

Alrik packte Valpo am Hinterkopf und knallte ihn mit der Stirn kurz, aber heftig gegen die Mauer. Boernegard sackte ächzend zusammen. Dabei schmierte er eine dünne Blutspur an den Stein.

"Pfui, wie ordinär. Sowas kann sich ja niemand anhören. Lass dich nicht provozieren." Das galt Alfhildr, deren Blick bereits glasig geworden war. 

Der Baron schnippte vor ihren Augen mit den Fingern und nahm ihr vorsichtig die Skraja aus der Hand. "Alfhildr?"

Die Rothaarige erwachte aus ihrer Benommenheit. "Ich mag gar kein Bier", sagte sie verwirrt. 

"Das glaube ich. Ab in den Kerker mit ihm" Das galt den Wachen, die den Besinnungslosen über das Pflaster schleiften. "Was für eine kleine Kanalratte. Arbeitet jetzt für den Meistbietenden, so so."

"Aber er is´ ganz gut in der Schimpfkunst." Alfhildr wischte sich verstohlen über den Mundwinkel. "Rolliges Trollmädchen, is´nicht schlecht." 

"Das ist jetzt nicht dein Ernst, Thorwalerin." Alrik griff nach der "magischen Gugel", vielleicht konnte er die noch gebrauchen. Dann ging er zum Bienenkorb. "Die werde ich jetzt im Gernat entsorgen. Du bleibst am besten weiterhin bei Haldana, vielleicht schleichen noch mehr Übeltäter herum. Für meinen Geschmack weiß der Kerl ein bisschen zu viel über uns."

Alrik tastete über den blauen Stoff der Kapuze. Auf dem ersten Blick sah das Kleidungsstück nicht ungewöhnlich aus, aber das musste nichts heißen. Der "Geheime Kammerherr" lächelte selbstzufrieden. Diesen Fall hatte er ja nun wirklich ungewöhnlich schnell gelöst. Das ging fast schon ein wenig zu schnell.

Ein mattes Stöhnen lenkte ihn ab. Das kam von Valpo, der im Griff seiner Bewacher wieder zu sich kam und irgendetwas brabbelte.

"Ich glaube, er möchte mit Euch sprechen, Euer Hochgeboren!"

"Stellt ihn erstmal auf die Beine!"

Gnädig ging Alrik auf den verhinderten Meuchler zu. Er hatte ihn übel zugerichtet. Schwer zu sagen, ob es das Blut von Valpos Stirnwunde war, das ihm klebrig über die Nase lief, oder ob letztere ebenfalls einen Schaden abbekommen hatte. Beinahe tat der Schurke seinem Bezwinger leid. Aber nur beinahe. 

Der Gefangene ächzte im Griff der Gardisten. Hätten die Torwächter ihn nicht gehalten, wäre er wieder zusammengesackt. Orksch, Alrik hätte ihn nicht derart hart rannehmen dürfen. Der untreue Büttel musste noch singen. Manchmal war er wirklich zu impulsiv. Valpo versuchte erneut etwas zu sagen, spuckte aber nur Blut. 

"Herr...Herr..." murmelte er.

"Hochgeboren reicht" sagte Alrik gnädig. "Wer hat dich geschickt?"

Der Büttel hob matt die Hand.Wollte der Bursche etwa jetzt schon plaudern? 

"Herr....Herr..."

Verwundert sah Alrik sein Gegenüber an. Valpo Boernegard war wirklich nur schwer zu verstehen. Erinnerte er sich daran, dass der Baron von Friedwang mal sein oberster Grundherr gewesen war? Oder war sein Auftrageber ein adeliger "Herr"?

Der geschundene Büttel griff nach Alriks Mantel und ruckte mit dem Mund vor, offenbar um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Etwas, was die beiden Gardisten nicht mithören durften ?! War der Name des Unbekannten so brisant?

"Ich verstehe dich nicht, du musst deutlicher sprechen!"

Valpo tippte ihn an die Brust. "Was... ich ...dir....sagen will...ist..."

"Ja?"

 

"HERZSCHLAG RUHE, ATEM STOCKE!"

 

Valpo Boerngard, der abtrünnige Dorfbüttel, lächelte, ebenso zufrieden wie verächtlich.

 

Alrik spürte, wie ihn ein eiskalter, schmerzender Blitz durchzuckte, vom Brustkorb aus, wie damals, bei diesen blödsinnigen Firunswetten. Damals, als sich alle gegenseitig einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hatten, im tiefsten Winter (das sollte einem angeblich die Gunst des Weißen Jägers verschaffen). 

Valpo beherrschte Borbaradianermagie? Borbaradianer, gab es die überhaupt noch, seit dem Sturz ihres Meisters?

Gut, dass dem Mistkerl der Spruch mißlungen war, auch wenn Alrik der Schreck ganz schön tief in den Gliedern saß. Setzen...er musste sich erstmal....setzen...

Die Welt drehte sich, erst langsam, dann immer schneller....

"Euer Hochgeboren?" Der Gardist klang ernsthaft besorgt. "Was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"

Auch Alfhildr sagte etwas, was der Baron nicht richtig verstand. Die Ohren summten, als wären die Bienen vom Korb dorthin umgezogen. 

Nur mal kurz hinlegen. Ausruhen. Ein bisschen mehr Luft wäre nicht schlecht. Der Baron weitete seinen Kragen. Der Weihrauch in diesem goldglitzernden Alboransschrein, der trug sicherlich sein Scherflein dazu bei, dass dieser lächerliche Spruch so schnell wirkte. Es waren ja nur ein paar Worte gewesen, ein kurzes Berühren...

Luft...ein bisschen mehr Luft...warum fiel ihm das Atmen...die Glieder waren wie gelähmt...das konnte nicht sein, der Bethanier war seit zwanzig Götterläufen fort...der Bethanierkrieg war vorbei. Niemand starb in einem Krieg, der längst vorbei war. Vorbei und gewonnen! Sterben? Sterben? Hatte er gerade ans Sterben gedacht? Dazu gab es überhaupt keinen Anlass! Das war nun wirklich völlig übertrieben. Jetzt nicht durchdrehen. Er war Baron Alrik Tsalind von Friedwang, alias Francesco di Palazzo, Nachtfuchs von Brabak. Er hatte schon im Alltag zwei Leben! Mindestens. Wie oft war er Boron schon von der Sense gesprungen, und diesem Unglücksvogel Golgari aus den Klauen gerutscht?

Was nichts daran änderte, dass er gierig Luft einsog, und trotzdem keine Luft mehr bekam. Kalt, alles wurde kalt und schwer, und eng...

Völlig übertrieben. Die Wirkung dieses Zaubers war völlig übertrieben. Das konnte einfach nicht sein. Warum wurde alles dunkel? Warum rauschten jetzt schon Golgaris Flügel? Warum blickten die Gesichter über seinem Kopf derarzt entsetzt, bevor sie zu einem einzigen grauen Fleck verschwammen? Luft, er brauchte Luft. 

 

WARUM SCHLUG SEIN HERZ NICHT MEHR?

 

Francescos Pfoten wirbelten über den Waldboden. Hinter ihm kläffte die Meute, bliesen die Jagdhörner. Es waren Geräusche, die er hasste. Was hatte er nicht alles versucht, um seine Verfolger abzuschütteln, hatte jeden Kniff und jeden Trick angewandt, den er, der alte Fuchs kannte. Mal war im Bachbett gelaufen, mal auf seiner eigenen Fährte ein paar Dutzend Schritt zurückgekehrt, um sich dann seitlich in die Büsche zu schlagen.

Es hatte alles nichts geholfen. SIE waren hinter ihm her, und das schon seit vielen Götterläufen. Seine Opfer, all jene, die er eigenhändig vom Leben zum Tode befördert hatte. Beileibe nicht nur diejenigen, die im offenen Zweikampf besiegt worden waren. Er sah ihre Gesichter nicht, aber er kannte ihre Namen. Vorneweg ritt Sine, die Schielende Sine aus der Gosse von Brabak. Um ein paar lumpige Silbertaler hatte er sich mit ihr gestritten, Fran, der kleine Straßenräuber. Im Suff hatte er sie erstochen. Francesco konnte sich nicht einmal richtig daran erinnern, wie das geschehen war. 

Fran, so hieß auch dieser Dämonenkaiser. Du hast die Niederhöllen im Leib, mit deinem Jähzorn. Das hatten sie vorher schon zu ihm gesagt, bei den "Wolfsratten", bevor sie ihn aus der Bande ausgestoßen hatten. Sine, die hatte zu ihm gehalten, als einzige. Nach dem schäbigen kleinen Totschlag, da war nur noch Reue gewesen, Reue und eine Art von Scham. Völlig von Sinnen war er in den Brabaker Phextempel gestolpert, seit jeher letzte Zuflucht für Elendsgestalten wie ihn, die vor der Stadtgarde ebenso flohen wie vor den übrigen elf Göttern und sich selbst. Bei Lichte betrachtet, war das Heiligtum des Heimlichen in der Königsstadt am Mysob ein übergroßer, geschmackloser Protzbau, aber in diesem Augenblick war er seine Rettung gewesen. Die Rettung seiner Seele. Den kleinen dreckigen Dieb Fran, der vor kurzem erst dem erbärmlichen Dasein als Rattenkind entwachsen war, hatte es danach nicht mehr gegeben. Er war als Niemand in das Haus des Phex getaumelt und als Mondschatten herausgekommen

Doch all das hatte nun keine Bedeutung mehr. Alle waren sie hinter ihm her, Faustino, den er vergiftet hatte (das bereute er nicht mal an der Schwelle des Todes) oder diesen abtrünnigen Wagenfahrer Olwin Rukus, den er beiläufig auf seinem Fuhrwerk erdrosselt hatte, auf dem Schlachtfeld von Rommilys. Das war eigentlich auch eine lässliche Sünde gewesen, wie bei diesem Agenten des Namenlosen. 

Da war dieses arme Mädchen, das er im Schratenwald mit der Armbrust erschossen hatte, als Opfer eines Beherrschungszaubers, der den Dreckigen Zugang zu ihrer Blockhütte verschaffen sollte. Ein bisschen übertrieben war der saubere Kopfschuss schon gewesen, aber immerhin, er hatte mit den anderen die Nacht und die Belagerung überlebt. Elburum, da hatte er mal einen Rotmantel in eine brennende Lagerhalle geworfen, und wirklich Spaß dabei empfunden. Oronische Freude, sozusagen. Aus den Augenwinkeln konnte er den blutroten Mantel des Elburumers wehen sehen, der auf seinem schwarzglänzenden Shadif hinter ihm her jagte, um sich zu rächen. An die vielen Schlachten und Scharmützel seines Lebens wollte er gar nicht denken. Im Krieg war jeder Kämpfer froh, wenn sein Gegner früher starb als er selbst. War erleichtert, wenn es den Waffengefährten neben ihm erwischt hatte, nicht den eigenen Leib. Wer etwas anderes behauptete, der log. 

Einen Moment hatte lang hatte Francesco sich leicht gefühlt, leicht und frei, auf seiner Flucht durch den Wald, der nicht der Dschungel am Jalob war, nicht der heimische Schratenwald und doch beiden Wäldern ähnelte. Nun ging es langsam, aber sicher mit seinen Kräften zu Ende. Die Pfoten wurden schwerer und schwerer, die Zunge hing ihm heraus wie einem Gehängten. Er konnte schon den Atem der Hunde in seinem Nacken spüren, hörte das Schnauben der Pferde, sah die Schatten der finsteren Reiter über sich aufragen . Der Fuchs war gestellt. In wenigen Herzschlägen würden sie ihn zerstampfen, zerfetzen, zerhacken. Herzschläge, Atem? Damit stimmte gerade auch irgendwas nicht. Doch halt, was war das da vorne? Ein dunkles Loch im Erdboden, an einer kleinen Anhöhe, halb versteckt unter einem Gebüsch? Phex schickte ihm wieder einmal die Rettung.

Rein in den schwarzen Fuchsbau. Oh je, war das eng. Drückend eng. Er bekam kaum noch Luft. Wie finster es hier drin war. Aber es half alles nichts, er musste tiefer hinein, wenn er seinen Verfolgern entkommen wollte. Ah, da vorne war schon Licht am Ende des Tunnels. Alle Sorgen, jede Last fiel von ihm ab. Nun, eigentlich mochte er helles Licht nicht besonders, aber alles war besser als diese grausame Dunkelheit, Atemnot und Herzstille.

Mit letzter Kraft kroch er auf den Ausgang zu. Gleich würde er es geschafft haben. Hindurch sein. Alles los lassen, was auf der lächerlichen Welt dahinten wichtig gewesen zu sein schien.

Tatsächlich, das gleißende Licht verschwand, und wich dem beruhigenden Anblick des nächtlichen Sternenhimmels. Der Fuchs lächelte. Ein wunderbarer Anblick, voller Sternbilder, leuchtender Nebel, einzelner, verschmitzt funkelnder Sternlein. Eine große, milchfarbene Sternschnuppe schwirrte majestätisch über das Firmament und verglühte. Durfte er sich jetzt etwas wünschen? Ein letzter Wunsch, so etwas stand doch jedem Sterbenden zu?

Alrik-Francesco spürte, dass der Unfassbare Schleicher seinen Wunsch bereits kannte, den er tief in seinem Herzen trug. Einen Wunsch, den er sich aufbewahrt hatte, bis zu diesem letzten Augenblick, in dem dieses Herz endgültig zu schlagen aufgehört hatte.

Der Mondschatten wollte ein Stern werden, ein Teil dieses endlosen, fantastischen, blauschwarzen Nachthimmels. Alles war so friedlich und still, so erhaben und frei, in dieser unendlichen Weite da draußen.

 

 

Doch halt. 

 

Da war noch etwas anderes, ein zarter, verlockender Geruch, der geradewegs aus Phexens Paradies heranzuwehen schien. Der Fuchs schnupperte. Es roch...das war...irgendwie kam das Odeur ihm vertraut vor. Ein Prise Schnupftabak, aber auch...

 

 

Alrik sog gierig die Nachtluft ein und empfand einen Moment nichts weiter als Panik und Qual. 

 

Luft holen. Atmen, auch wenn es schmerzte.

 

 

"Noch eine Prise Thonnyspulver!" kommandierte Hesindian.

"Nein, warte", sagte eine Frauenstimme. 

"Das kann ich nicht gut heißen!"

Zwei Hände massierten Alrik die Brust, die aus irgendeinem verrückten Grund nackt war. Sinnliche, junge Lippen pressten sich auf seinen Mund, während ihm die Nase zugehalten wurde.

Dann strömte auch schon Luft in seine ausgehungerten Lungen. Alfhildrs Odem schmeckte nicht unangenehm. Der Baron öffnete die Augen. Die Olporterin beugte sich gerade über ihn und versuchte ihn aus irgendeinem Grund aufzublasen wie einen Schweinsbalg. Wunderbar duftende, feuerrote Haare hingen ihm ins Gesicht. Die Brüste der "Walwütigen" ragten ebenfalls über ihm auf, kaum gebändigt durch eine nietenbeschlagene Lederrüstung. 

Der Friedwanger hustete matt. Freudig erstaunt wich seine Lebensretterin zurück und sagte etwas auf Thorwalsch, was Alrik nicht verstand. 

"Er...er ist wieder da! Wir haben ihn von der Schwelle des Todes zurückgeholt. Swafnir sei Dank!" 

Alrik merkte, dass ihn Hesindian etwas unter die Nase gerieben hatte. Das Thonnyspulver, natürlich. Das Zeug war wirklich ein Muntermacher.

Der Edle von Orweiler tätschelte ihm die Wange, und hob die Augenklappe.

"Du lebst ??!!" Hesindian klang überglücklich, aber auch erstaunt. "Da bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen, mit meinem BALSAM. Ohne Magie hättest du  es nicht mehr geschafft."

"Ein Her...Herzschlag...ruhe...Atem stocke...kann man nicht..." Alrik klang, als wäre er völlig betrunken. 

Der Baron ruderte matt mit den Händen, und versuchte sich aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Alfhildr schob ihm seinen zusammengeknautschten Mantel unter den Kopf.

"Ich glaube, er will etwas sagen", verkündete der Magier feierlich.

"Ein...Heil...Heilzauber...verzögert....die Wirkung nur...hebt sie nicht auf" stöhnte Alrik.

"Moment, wer ist hier der Magier? " Hesindian kratzte sich den weißhaarigen Kopf. "Alfhildr hat schon angefangen, dir auf den Brustkorb zu pressen und Luft in deinen Mund zu blasen. Im letzten Moment bin ich dazwischen. Von Heilkunst hat sie keine Ahnung. Beinahe hätte sie dir die Rippen gebrochen."

"In Thorwal machen wir das so, wenn einer über Bord gefallen und fast ertrunken ist." Die Rothaarige klang entrüstet. "Nachdem das Wasser aus der Lunge raus ist, muss frische Atemluft rein, is doch klar. Frische Luft hilft immer, auch ohne Wasser."

"Werte Alfhildr, wie ich sehe, habt Euch niemals mit den Lehren der großen Heiler beschäftigt. Die Luft, die den Körper verlässt, ist nicht mehr atembar. Geschweige denn frisch, sonst würde man sie ja nicht ausatmen müssen. Ist völlig logisch. Der Körper hat bereits die elementare Kraft der Luft in sich aufgenommen, und dadurch sein inneres Feuer angefacht. Was ausgestoßen wird, ist lediglich eine Art Rauch. Außerdem ist der Herr Baron nicht über Bord gefallen, sondern wurde Opfer eines heimtückischen Zaubers."

"Ich danke...danke...euch...trotz...trotzdem...wie konnte ich nur so sorglos sein. Werde...alt...langsam alt."

"Hoffentlich wirst du das" sagte Hesindian. "Kein Herzschlag, kein Odem. Scheußlich. Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Alrik."

"Ich...ich dachte...es gibt keine...keine...Bor...Borbaradianer mehr."

"Die heißen jetzt Neuborbaradianer. Zaubern aber immer noch mit ihrer eigenen Lebenskraft."

Alrik drehte seinen Kopf zu Valpo, der mit trüben Augen neben ihm lag, und selig lächelte. Der böse Büttel schien glücklich zu sein, ein Anblick, der fast grausiger war als die übrige, blutverschmierte Fratze. Valpo Boernegard hatte es geliebt, Tod und Unheil über die Menschen zu bringen. Nein, er hatte es geliebt, Macht auszuüben. Bis zuletzt. Wie Büttel eben so waren. Oder war ihm am Ende seine Freiheit wichtiger gewesen als das eigene Leben?

Alrik nahm Stimmengewirr wahr, außerdem Füße von Umstehenden, darunter die Stiefel und Hellebardenschäfte der Wachen, sowie dem Saum einer Praiotenrobe.

"Was...was ist geschehen, beim Heiligen Gilborn?" Das klang nach Ehrwürden Falkwart.

"Ein...ein kleiner Schw...Schwächeanfall..." nuschelte Alrik. "Der Weihrauch...die stickige Luft...." 

 

"Bringt den Herrn Baron auf sein Gemach." Falkwart übernahm schon wieder das Kommando. "Ein Edelmann sollte nicht vor dem gemeinen Volk im Schmutz liegen. Was ist mit dem Diener dort? Hat der auch zu viel Weihrauch eingeatmet?"

Alrik merkte, wie er langsam schon wieder wegdämmerte. Schlafen, ausruhen, er musste sich nur ein klein wenig ausruhen…

 

Zweiter Teil

 

Alfhildr, die neue Leibwächterin, hatte Odilon berichtet, was vorgefallen war. Vielmehr, sie hatte es den Geweihten des Praios berichtet, als Odilon zugegen war. Immerhin hatte er so von den Vorkommnissen erfahren. Das ungute Gefühl das Odilon schon zuvor hatte, hatte sich als begründet erwiesen. Nun, dieser Attentäter war unschädlich gemacht. Die Geweihtenschaft des Praios hatte ihn in Eisen gelegt und in einer Arrestzelle auf der Burg untergebracht, um sich später um ihn zu kümmern. Aber mit Halskraus und Ketten würde er jedenfalls nicht mehr zaubern. Egal ob natürliche Magie oder Blutmagie - das Anlegen von Eisenkragen und anderes war eine wirkungsvolle Methode, das zu unterbinden. Odilon war froh, dass die Praioten sich der Sache annahmen. Er hatte die Aufgabe, ein Turnier auszurichten. Und die Festgesellschaft sollte nicht beunruhigt werden. Das Bogenschießen ausfallen zu lassen war nicht möglich. Hatte eigentlich diese geheimnisvolle Fußspur etwas mit diesem Rübenscholler Attentäter zu tun? 

Immerhin war ihm eingefallen, warum ihm diese Alfhildr so bekannt vorkam. Ihre Gesichtszüge erinnerten ihn an seinen Freund Hjalf Hjursfels, der damals in der Dämonenschlacht an der Trollpforte gefallen war. Er würde Alfhildr bei Gelegenheit fragen, aus welchem Dorf sie käme. Vielleicht war sie ja eine Verwandte seines alten Freundes. Aber auch das war für den Augenblick eigentlich nicht wichtig. 

Die Bienen - oder was immer in dem Bienenstock war, hatte er verbrannt. Ohnehin war die Aussage Valpos, die Immen wäre schon in Winterruhe - falsch. Natürlich konnte man einen Bienenstock verschließen und somit ein Volk im Stock transportieren. Aber, so viel wusste er, Bienenvölker begaben sich nicht in Winterruhe. Sie zogen sich bei Kälte in ihren Stock zurück und bildeten eine große Traube um die Königin. Aber dafür war es jetzt, im Travia, noch zu warm. Egal. Sicherheitshalber hatte man den Bienenstock samt Inhalt, was immer darin gewesen war, einfach verbrannt. Wenn er ins Blaue hinein hätte raten müssen, er hätte auf Borbaradmoskitos als Inhalt gestimmt. Zusammen mit dem Wirkungsverstärker, von dem Hesindian und Alrik berichtet hatten, waren diese vielleicht in der Lage, jemanden völlig den Verstand zu rauben und nicht nur ein Bruchstück der Erinnerung. Nun, spekulativ. Aus der Asche ließ sich kein Rückschluss auf den Inhalt ziehen. 

 

Odilon drängte die düsteren Gedanken beiseite. Das Schießen mit den Brandpfeilen stand auf dem Programm. Aus Gründen des Brandschutzes hatte Odilon Holzscheiben statt Strohscheiben aufstellen lassen - und zwar direkt am Gernatufer, so dass fehlgehende Pfeile einfach in den Fluss fielen. Holzscheiben würden zwar auch brennen, aber nicht so schnell wie Strohscheiben. Zeit genug, das Ergebnis festzustellen. Und so würde auch der Angriff auf eine Festung mit Brandpfeilen simuliert, was ja eigentlich der Sinn der Schussübung sein sollte. Die Schwierigkeit bestand darin, dass man einerseits durch den brennenden Pfeil geblendet war und dann bei Dunkelheit die Scheibe dennoch erkennen musste, um zielgenau zu schießen. Etwas, was ein sehr gutes Auge voraussetzte - und wozu er inzwischen nicht mehr so gut in der Lage war wie früher. Odilon hatte sich zuletzt bei solchen Schüssen damit beholfen, sich das Ziel vorher ohne blendendes Feuer einzuprägen und dann den Brandpfeil nach “Gefühl und Erinnerung” zu schießen. Was ihm auch ganz gut gelang. Naja, eine Holzpalisade würde er damit sicher noch treffen. Aber nicht mehr den kleinen schwarzen Punkt auf einer Holzscheibe in der Dunkelheit.  

Odilon schritt das Schießgelände noch einmal ab. Sorgfältig suchte er mit den Augen die Umgebung ab. Aber da war nichts, was ihn beunruhigen müsste. Machte er sich umsonst Sorgen? War das Bogenschießen gar nicht das Ziel, das zu sabotieren ein unbekannter Feind beabsichtigte? Vermutlich nicht. Offenbar schien es um Haldana zu gehen, zumindest musste der Eindruck entstehen nach dem Giftanschlag mit dem Thonnys im Apfelsaft und dem seltsamen Bienenkorb. Auf seinem Kontrollgang begegnete er Adran, dem Oppsteiner. Der war doch gar nicht unter den Schützen? Was machte er hier? Aber war es ungewöhnlich, dass ein Gast der Turnei sich hier umsah, auch wenn er mal selber nicht an dieser Disziplin teilnahm? Eigentlich nichts, was ihn beunruhigen müsste. Vermutlich war es nur der Name Oppstein, mit dem seine Familie vor einigen Jahren schlechte Erfahrungen gemacht hatte, der in ihm ein Unwohlsein hervorrief. Dabei hatte er selbst noch keinen Kontakt mit Adran gehabt, früher. Er konnte also gar nichts gegen ihn sagen. Gut, natürlich waren ihm die Gerüchte zu Ohren gekommen, dass er am Ableben des alten Birkenbruch, des früheren Vogtes von Zwerch, nicht ganz unbeteiligt gewesen sein soll. Aber Gerüchte gab es viele. Außerdem musste er sich jetzt auf das Bogenschießen konzentrieren und nicht auf die Intrigen der Vergangenheit. 

 

Odilon blickte über die Schützen, die in einer Reihe angetreten waren, um ihren letzten Schuss zu tun. Den letzten Schuss, der über den Sieg entscheiden würde. Tuvok war der erste, der seinen Bogen spannte. Der nivesische Jagdmeister zu Schlotz, gut zwei Jahrzwölfe jünger als Odilon. Seit Odilon öfters im Wutzenwald weilte, hatte er den Nivesen mit seiner ruhigen Art schätzen gelernt. Tuvok zielte. Ein guter Schuss. Allerdings wenige Fingerbreit neben dem Schwarzen. Tuvok war somit aus dem Rennen um den Turniersieg. Dennoch applaudierten die Umstehenden. Der Nivese hingegen zeigte keine Gefühlsregung. 

Als nächster hob Firunian von Firnsjön den Bogen. Der Edle aus dem nördlichsten Streifen Land von Schlotz musste eigentlich ein guter Schütze sein, zumindest ließ das sein firungefälliger Name annehmen. Der Edle ließ den Pfeil von der Sehne gleiten. Gelb. Für den Augenblick die Führung, aber dass das nicht reichen würde, war Firunian bewusst. 

Timoin spannte den Bogen. Eigentlich war das seine Distanz, das hatte er zuletzt bewiesen. Noch war alles möglich. Bavhano Bvaith ließ sich gut halten, auch in der maximalen Spannung. Er konnte ganz langsam den Pfeil ins Ziel feinjustieren und ihn dann von der Sehne schnellen lassen, in aller Ruhe, ohne Gefahr zu laufen, zu verzittern. Langsam senkte er den Pfeil herab.

Ein Surren. Eine Biene? Bei Nacht summten keine Bienen umher. Irgend ein anderes Insekt musste das sein, auch wenn es sich so ähnlich anhörte. Ein Schatten flatterte um sein Gesicht. Das war…. was immer es war, es war zu groß für eine Biene. Ein krabbelndes Gefühl auf seiner rechten Wange. Das musste ein großes Insekt sein, fast wie eine Fledermaus, schätzte Timoin. 

Mit einem Schlag patschte seine Hand auf seine Wange. 

Der Pfeil entglitt ihm, sirrte davon und platschte in den Gernat. 

Dennoch hatte Timoin nur Augen für das eben erschlagene Insekt. Das war… eindeutig ein Borbarad-Moskito. 

Erst jetzt wurde er gewahr, dass er seine Chance auf einen Sieg beim Turnier vertan hatte. Timoin setzte den Bogen herunter, nahm die Sehne ab, warf einen Blick zu seinem Mentor, dem Turnierrichter. Dann zuckte er mit den Schultern, hängte den Köcher um und ging zu den Zelten. 

Unterwegs traf er Adran von Oppstein. Auf dessen Blick hätte Timoin verzichten können. Aber jetzt über ein Moskito lamentieren, und sei es auch ein niederhöllisches, das war nicht seine Art. “Dann waren andere heute halt besser” murmelte er entschuldigend. “Es ist nur ein Turnier, keine echte Jagd…” fügte er hinzu, halb zu sich selbst.

Timoin bekam es gar nicht mehr mit, dass nach ihm Ismena von Quellenfels und Ugdalf von Binsböckel ihre Schüsse leisteten. Erst als brandender Jubel aufkam - Ugdalf hatte seinen Schuss an den Rand des Schwarzen Zentrums der Scheibe gesetzt und sich den Turniersieg gesichert - blickte er auf. 

 

Siegerehrung

 

Wie nach dem Zweihänderturnier stand es der jungen Baronin Haldana zu, den Sieger des Bogenschießens zu ehren. Dass der Sieger ein Verwandter von ihr war, dass dem Hause Binsböckel der Sieg zu Ruhm und Ehre gereichte, war ihr dabei eine zusätzliche Freude. Und wieder war sie nicht allein auf der Siegertribüne. Ebenfalls dort war die Gemahlin ihres Schwiegervaters – als Schwiegermutter konnte sie sie nicht bezeichnen, denn Alboran war nur von Baron Alrik, nicht jedoch auch von Baronin Serwa adoptiert worden. Haldana war anfangs etwas verunsichert gewesen, wie sie mit Alriks Gemahlin umgehen sollte. Immerhin war Alboran ja offenbar ein unehelicher Sohn Alriks, den der Baron durch Adoption ja mehr oder weniger legalisiert hatte. Aber Serwa schien sich daran nicht zu stören, sie war der „Fast-Schwiegertochter“ offen und herzlich entgegengetreten. Und auch in Ismenas Anwesenheit war Serwa nichts anzumerken. 

Warum grübelte Haldana darüber? Eigentlich konnten ihr die verworrenen Familienbande im Haus Friedwang egal sein. Außerdem galt es jetzt, den Sieger des Schützenwettstreits zu ehren. Baronin Serwa war mit ihr auf der Tribüne, weil der Siegespreis von ihr und Alrik gestiftet worden war. Die Friedwangerin führte ihn auch gleich mit: einen schwarzen, wenige Monate alten Hund namens Ranik, der recht quirlig zu sein schien. 

„In der Sichel werden Hunde schon lange gezüchtet. Für die Jagd, als Hirtenhund, aber auch als Zugtier für kleine Karren. Im Friedwangschen hat sich für diesen vielseitigen Bedarf seit langem schon eine eigene Hunderasse heraus gebildet, die sich durch Vielseitigkeit und Ausdauer auszeichnet und den verschiedenen Ansprüchen gerecht wird.“ Serwa zeigte mit dem Finger auf den Hund neben ihr, der sich artig auf den Fingerzeig setzte. 

Haldana reichte Ugdalf von Binsböckel ihre Hand und führte ihn auf die Siegertribüne. „Ebenso vielseitig, wie das Talent der Schützen, die ihre Fertigkeit in verschiedenen Distanzen und verschiedenen Schussdisziplinen zeigen mussten. Und wofür man manchmal auch das rechte Zielwasser haben muss. Und ein Fässchen davon trägt so ein Alborandiner auch um den Hals. Unser verspielter Ranik hier muss dafür noch etwas wachsen.“ Sie wies auf ein kleines Fässchen, dass der Hund ungestüm vor sich her rollte. Die Adeligen klatschten ob der possierlichen Dressur. Die Hundekenner wussten, dass die Alborandiner eigentlich nur eine Unterrasse der weißen Berghunde aus dem Kosch waren. Nur dass hier dunkle Fellfarben vorherrschten, die beim "schwarzen Berghund" der Sichel bewusst gezüchtet wurden, im dortigen Traviakloster Alveranskuppen. Es waren wohl Vieskadiener aus dem Kloster zur Inniglichen Einkehr im Kosch gewesen, die vor vielen Götterläufen nach Friedwang gebracht worden waren, durch einen Abt namens Alborandin. Auf dem Greifenpass suchten die Vieskadiener nach verirrten Wanderern oder retteten Verschütteten aus Lawinen. In der Schwarzen Sichel wurden die Alborandiner mehr zum Schutz der Herden vor Bären und Wölfen, oder als Such- und Apportierhunde eingesetzt. Das schwarze Fell diente wohl zur Tarnung auf der Pirsch.

„Ein Zielwasser, oder vielleicht auch ein guter Schluck für den Schützen, nach erfolgreicher Jagd. Aus der Metherey zu Gernatsquell ein Original Bärenfang. Möge er Euch munden.“ Serwa nickte Ugdalf freundlich zu und reichte ihm die Leine, an die der Hund gebunden war. "Mein werter Gemahl, Baron Alrik, hat sich erlaubt, noch ein weiteres Fässchen zu stiften, mit Schratwaldener Schratenschlag. Der Waldbeerenlikör ist hervorragend geeignet für einen Jägertee nach erfolgreichem Waidwerk."

Burgeinweihung 

 

Die Burgweihe am Abend des ersten Turniertages ging zügig vonstatten - was auch daran lag, dass das Herdfeuer der Burgküche bereits lichterloh brannte, seit vielen Stunden schon. Schließlich hatte man  das Festbankett vorbereitet – es wurde geschnippelt, geköchelt, geklappert, gerührt, gelöffelt, abgeschmeckt, mitunter auch geflucht, geschimpft und gejammert. In das Durcheinander einer Burgküche im vollen Betrieb  platzte nun die Schar der Adeligen. Einige der Mägde und Knechte konnten ihre Verzweiflung ob der Verzögerung nur mühsam verbergen. Um ein Haar wäre die riesige Darpangentorte, die "Zucker-Tiro" beigesteuert hatte, von ihrem Tisch gefallen, als die Prozession hereinwallte. 

Der Ritus war nicht ganz so förmlich, wie erwartet (oder befürchtet). Die alte Traviageweihte aus Schwaz, die auf dem Schlotzberg bereits den Segen über das Brautpaar gesprochen hatte, murmelte ein Gebet und schlug ein Gänsezeichen vor dem großen Kessel. Insbesondere der große Kesselhaken wurde gesegnet, auch Feuersäge oder Haleisen genannt, mit dem man den Kessel höhenverstellt aufhängen konnte. Was auch immer die "Säge" mit Seiner Allergöttlichsten Magnifizienz zu tun hatte. Das Gesinde schaute ein wenig verdrießlich, ob des Umstands, dass erst jetzt, viele Wochen nach Fertigstellung der Burg, die schützenden Segensworte gesprochen wurde. Nach allem, was man so hörte, war sogar versäumt worden, irgendwo einen Hund oder eine Katze lebendig einzumauern. Nicht einmal eine Gespensterkrähe war ans Burgtor genagelt worden, um mit ihren grausigen Schreien die bösen Geister zu vertreiben. Kein Wunder, dass der Sturm derart fürchterlich gewütet hatte, im Sommer, nebst anderen Unglücksfällen. Wenn die alten Sitten so wenig Beachtung fanden... Allerdings galt die Burgherrin als Anhängerin der milden und tierliebenden Göttin Tsa, da konnte das einfache Volk wenig dagegen ausrichten.

Das rotwangige, weißhaarige Mütterchen in seiner orangefarbenen Robe, deren glatte Haube eine wenig an einen Gänsekopf erinnerte, nahm dankbar nickend ein Schälchen mit Asche an sich: Ein sorgfältig verwahrter Überrest vom allerersten Anschüren des Ofens, das mit dem heiligen Buchenholz aus den Vorräten des Schwazer Tempels erfolgt war. Mitten auf dem Küchentisch wurden die "Gebote der Gastfreundschaft" eingerieben, die den Heimstein zierten, ein unbehauener, klobiger Stein, der vom Burgbau übrig geblieben war. Damit schritt die Prozession zurück auf den Hof.

 

Draußen hatte es in der Zwischenzeit helle Aufregung gegeben. Baron Alrik von Friedwang, der Schwiegervater der Baronieherrin, sollte einen Diener gezüchtigt haben, weil der einen Bienenkorb in die Burg geschleppt hatte, voller Immen. Wie es hieß, hatte Alrik den armen Knecht regelrecht verprügelt und in den Kerker stecken lassen. Der gefürchtete Jähzorn des Hauses Friedwang! Daraufhin hatte der Friedwanger einen Schwächeanfall erlitten und war röchelnd zusammengebrochen. Man hatte den Einäugigen diskret auf das Gemach gebracht. Laut Auskunft seiner Gemahlin schien es dem Patienten schon etwas besser zu gehen. Zum Glück war Baronin Serwa eine ausgebildete Medica.

Viel mehr war vom Hergang des Ganzen erstmal nicht zu erfahren. Der Gardist, der den Bienenkorb weggetragen und verbrannt hatte, auf Geheiß der Praioten, sah ein wenig zerstochen aus und tat fast so, als könne er sich an nichts erinnern. Kopfschütteln machte sich breit: Das Vorgehen sowohl des Friedwangers als auch der "seiner" Praiosgeweihten wirkte übertrieben. Nach dem Attentat auf Glyrana im Praiosmond schien der "Geheime Markgräfliche Kammerherr" überall Meuchler zu wittern.

 

Die restliche Travia-Zeremonie verlief so bescheiden, wie man die heilige Familie der Gläubigen kannte. Das Mütterchen versenkte den Stein in einem Loch im Burgpflaster, das vorher mit Brettern abgedeckt gewesen war, mahnte die Bewohner, allezeit die Gebote der Barmherzigen zu achten, mildtätig zu sein, die eheliche Treue, die guten Sitten und den Familiensinn zu wahren und keinen rechtgläubigen Gast von der Pforte abzuweisen. Auch die Dienerschaft sollte man nicht über Gebühr maßregeln, geschweige denn körperlich züchtigen, fügte die Schwazerin noch vorsichtig hinzu. Wenn es denn nicht unbedingt notwendig sei.

In Windeseile übernahmen die Gaukler der "Efferdsfreudentränen" die Herrschaft, deren knallbunte Gewänder kaum von denen der beiden Tsajünger zu unterscheiden waren. Feuer wurde gepuckt, Bälle wirbelten durch die Luft, ein Moosäffchen hüpfte einer schreienden Dame auf die Hörnerhaube, selbst ein Stelzenläufer hatte es irgendwie durchs Tor geschafft sowie ein menschlicher (!) Zwerg, welch Sensation. Der bartlose Gnom saß einem "Starken Mann" auf den muskelbepackten Schultern, dem sich wiederum eine südländische, dunkel gefleckte Würgeschlange um den feisten Nacken ringelte. Flöten zwitscherten, eine Handtrommel wummerte.

 

In all dem fruchtbaren Chaos bekamen  Haldana und Alboran Blumenkränze aufs Haupt gesenkt. Dann griffen sie zum Hochzeitsbecher, der  vielleicht Frau Tsa, womöglich aber auch eine Fee zeigte. Die zinnerne Dame hielt ein kleines, drehbares Becherchen in Händen, ihr Unterleib war selbst als Becher gestaltet. Genauer gesagt stellte ihr Rock das größere der beiden Trinkgefäße dar. Die junge Binsböckel durfte aus dem Rockbecher trinken, während sich Alboran mit dem Drehbecherchen begnügen musste. Das gleichzeitige Trinken verlangte beiden einiges an Geschicklichkeit ab. Die sichtbare Unterordnung des frischgebackenen Barons sorgte für kurzes Geraune, ebenso wie der Umstand, dass ein Magier (der friedwanger Hofzauberer) den gesegneten Kirschsaft eingegossen hatte. Es gab eine kurze Debatte zwischen den Lebensdienern, wer nun die Segensworte sprechen sollte – offenbar wollte Ysilda, die Zaberger Priesterin, ihrer Schlotzer Amtsschwester den Vortritt lassen, in "ritueller" Spontanität. 

Delona Bundschuh, die jugendfrische, sommersprossige Schnayttacher Geweihte, warf ihre wallenden, kastanienbraunen Haare zurück, jauchzte und sprach die Weiheworte. "Hoch solln sie leben, hoch solln sie leben! Was soll ich noch sagen? In Tsas Namen, seid einfach gesegnet, Halda und Albo! Möge der Frieden der Jungen Göttin allzeit mit euch sein! Mit euch und dem neuen Leben, das da in dir heranwächst, Baronin! Es wird für euch der wahre Segen der Tsa und tsagesegnet zugleich sein!" Dann wurde das junge Glück von alllen geküsst und geherzt, mit Blüten beworfen und umarmt, insofern die besonderen Umstände der jungen Adeligen das zuließen. 

Irgendeiner wünschte sich einen Blumenwurf vom Brautpaar, der anzeigen sollte, wer als nächstes vor den Altar der Travia (oder Tsa) treten würde. Es war Lares von Hochfels, der Gefolgsmann des Barons von Oppstein, der verdutzt einen Strauß Herbstblumen in Händen hielt. Ysilda lachte beglückt. "Herr von Hochfels, ich bitte euch, offenbart uns Euren Lebensmenschen!" 

Der Hochfelser wirkte verlegen, fast schien es im Licht der Fackeln, als liefe er rot an. Dann wurde ihm auch schon der Strauß aus der Hand genommen, durch Adran, dem Baron von Oppstein. 

Aufgeregtes Getuschel. Der Herr von Oppstein hatte schon ein wenig über den Durst getrunken, seiner leicht schleppenden, schwerfälligen Stimme nach zu urteilen. "Mein wackerer Hochfelser wird gewiss niemanden heiraten, ohne dass ich, sein Baron, es ihm gestatte!" Es sollte heiter klingen, aber rund um die beiden breitete sich betretene Stille aus. Adran war mit Thahira von Birkenbruch, der ehemaligen Zwercher Vögtin, liiert, die er aus irgendeinem Grund nicht mit nach Gernatsborn gebracht hatte. Seinen treuen Weggefährten und Burghauptmann schon.

Lares warf Adran eine spöttische Kusshand zu, mit bemühtem Lächeln. "Schade, dass du schon mit Hochgeboren Thahira verheiratet bist" lächelte er. "Wirklich schade!"

Erneut wurde aufgeregt gemurmelt. Das Traviamütterchen, das gerade den Heimstein festgeklopft hatte, zusammen mit der Äbtissin des Klosters Alveranskuppen,  hüstelte aufgeregt.

"Thahira gehört an meine Seite". Der Oppstein grinste breit. "Ich warne dich. Lass die Finger von meiner Frau Gemahlin!" Das Raunen wich erleichtertem, wenn auch höflichem Gelächter. Deggen von Baernfarn klatschte in die Hände, so dass sein Kettenhemd klirrte. "Wie auch immer, ich werde nun noch die Waffenkammer segnen, im Namen Rondras. Wer der Himmlischen Leuin die Ehre erweisen will, möge mir nun folgen."

 

Festbankett im Burghof

 

Es war schon finster als am Abend das Festbankett begann. Diesmal nicht im – für die Anzahl der gesamten Gäste zu engen – Saal der Burg, wie am gestrigen Abend, sondern im hochtrabend genannten Burghof, der mehr ein langgezogener Torzwinger war. Dieser erlaubte dennoch eine lange Tafel für viele Gäste und sogar noch Platz für Musikanten, Gaukler und das geneigte Tanzvolk. Die Launen Efferds waren den Turniergästen heute Abend auch hold und so war der Schauer an diesem Tage mit dem Abgang der Praiosscheibe immer weniger geworden und hatte mit der Dunkelheit einen kühlen Herbstabend nachgereicht. Dennoch waren etliche Planen über den Hof gespannt worden, um zumindest notdürftig ein möglicherweise herannahendes Nass abzufedern. Darunter waren Lampions und Kerzen aufgehängt, die mit den aufgestellten Feuerschalen und Fackeln eine gemütlich beschauliche Atmosphäre erzeugte. Neben der Tafel hatten die Mägde und Knechte von Gernatsborn schon alles vorbereitet gehabt: Es waren Bier- und Methfässer aufgestellt, an der einen Seite wurden Dutzende Gernatsforellen über offenem Feuer gegrillt – da aus eigener Gernatsborner Teichwirtschaft des Kupferteichs, nannte man sie hier auch Gernatsborner Kupferforelle – an der anderen Seite brutzelte ein ganzer Ochs am Spieß. Die Gäste labten sich bereits und waren in lockere, ungezwungene Gespräche vertieft.

 

Glyrana ließ ihren Blick über die Gäste des Festes im Burghof schweifen. Sie war, so wie das bisherige Turnier und Fest bislang verlief, zufrieden. Auch ihr Gatte Storko schien guter Laune zu sein und plauderte bereits leicht mit Meth angeheitert mit seinem Mersinger Schwager und Schwiegervater. Nachdem er es beim Zweihänderkampf für ihn selbst unerwartet bis ins Halbfinale kam – wie sein Onkel, der Rabenmärker Heermeister Welfert von Mersingen – schien er sich selbst den angeheirateten Verwandten mehr als würdig zu sein und er musste sich in keinen Belangen verstecken. Für sich selbst hätte Glyrana aber einen besseren Ausgang im Turnier erhofft. Nun morgen war bei der Tjoste Gelegenheit und sie würde in Zukunft wohl noch mehr mit ihrer Dienstritterin Jadvige üben müssen, sollte sie die Zeit dafür finden.

 

Die anstrengenden Tage mit der Organisation und den Vorbereitungen schienen sich jedenfalls gelohnt zu haben. Sie war froh, dabei viele helfende Hände zur Verfügung gehabt zu haben. Vor allem Gisla, ihre Knappin, war ihr eine große Hilfe gewesen. Gisla... fast schade schien es der Mersingerin, dass die Zweifelfelserin nicht immer als Knappin ihn ihren Diensten stehen würde. Eine loyale Gefolgsfrau war Goldes wert, dachte sie... ganz abgesehen davon, dass die Knappin ihr auch mit ihrer warmherzigen und klugen Art sympathisch war.

 

Gäste aus Tälerort

 

Spät an diesem Abend erschien das rabenmärker Paar aus Tälerort, welche den Baron Wunnemar von Galebfurten repräsentierten und gekommen waren seine Interessen und die ihrer Familie zu vertreten. 

“Anscheinend ist uns der Launische zumindest heute Abend ge-Wogen”, sprach Ilgar, der Herold des Markgrafen mit sichtlicher Freude über dieses Wortspiel, während er sein Weib an erhobener Hand entlang der langen Tafel zu ihren Plätzen führte. Matissa schmunzelte, schüttelte aber auch gleichzeitig kaum merklich den Kopf. Sie wirkte angespannt, ganz im Gegensatz zu dem Mann an ihrer Seite. Dies war sein Parkett, nicht das ihre.

“Könnten wir bitte versuchen dieses Fest einfach ‘unbeschadet’ zu überstehen?”, bat die Bregelsaumerin ohne Ilgar dabei anzublicken. Sie beide grüßten entlang ihres Weges immer wieder andere, bereits sitzende Gäste mit einem höflichen Nicken oder gar dem kurzen Senken ihrer Häupter.

“Lass das bitte einfach meine Sorge sein Teuerste”, flötete Ilgar zur Erwiderung, hob Matissas Hand noch ein Stück weiter und hauchte einen Kuss darauf, während er ihr einen unschuldigen Blick zuwarf.

Die Wangenknochen der Ritterin mahlten kurz, ob dieser Worte. 

“Eben das meine ich”, entgegnete sie ernst und mit gezwungenermaßen leise, so dass nur Ilgar sie verstehen konnte. “Halte dich mit dem Wein zurück”. 

Schon wollte Ilgar eine gespielt empörte Erwiderung anbringen, doch Matissa interpretierte seine Miene entsprechend und kam ihm zuvor. “Du magst dich nicht erinnern- und das wird seine Gründe haben. Ich hingegen kann!”

Der Galebfurtener seufzte. “Eine Argumentation die ich nicht zu brechen vermag”, gab er schulterzuckend, nicht aber ohne amüsierten Unterton zu. “Nein!”, bestätigte Matissa unnötigerweise.

“Also gut. Ich werde mich beherrschen”, versprach Ilgar, woraufhin sein Weib kurz erleichtert die Augen schloss. Sie wusste, dass er sein Wort halten würde. Für gewöhnlich redete er sich gekonnt- wie ein glitschiger Aal- aus solchen Gesprächen heraus. Ein gegebenes Wort aber war ihm heilig.

 

Am Platz angekommen zog Ilgar den Stuhl seiner Braut von der Tafel ab und half ihr galant sich zu setzen, bevor er selbst neben ihr platz nahm.  Matissa, die entgegen ihrem Naturell an diesem Abend tatsächlich ein Kleid trug, anstatt der Strandestracht einer Ritterin, nahm dies mit einem zufriedenen lächelnd zu Kenntnis. Oh ja, er konnte, wenn er wollte. Er wollte nur oft etwas anderes als sie.

Ilgar raffte indes einmal seinen dunkel-blauen Gehrock im sitzen, damit er keine unpassenden Falten warf und ergriff dann wieder die Hand seines Weibes, die in ihrem sittsamen, hochgeschlossenem Kleid etwas unglücklich aussah, auch wenn es großzügig geschnitten und wenig körperbetont war. 

“Du siehst großartig aus meine almadanische Blume”, säuselte der Galebfurtener ihrer Unsicherheit wegen, ohne sie dabei anzusehen. Die rechte Hand des Kanzlers der Rabenmark blickte an der Tafeln entlang und studierte die Gesichter der Anwesenden. 

Matissa hingegen schnaubte. “Du musst ja auch nicht in diesem… Aufzug rumrennen”, erwiderte sie flüsternd und doch unverkennbar gereizt. “Dafür schuldest du mir etwas -werter Gatte-.” Die letzten Worte hatte die Bregelsaumerin betont langsam gesprochen, um klarzustellen, dass sie es sehr ernst meinte. 

Das Kleid war nicht ihre Idee gewesen. Ilgar hatte sie überredet das von ihm mitgebrachte Kleid zu diesem Anlass zu tragen und sie hatte seinem Wunsch irgendwann unter Protest entsprochen. 

“Stets zu euren Diensten”, gurrte der so deutlich an seine Schuld gemahnte Edelmann und hauchte seinem Weibe einen Kuss auf die Hand. Sie verdrehte die Augen. 

Der Abend konnte beginnen.

 

Auf das Tanzparkett geschubst

 

Unter den Gästen fiel Glyrana gerade auch Adran auf, der Baron von Oppstein. Ein schmales Lächeln fuhr ihr für einen Augenblick über die Mundwinkel, als sie daran denken musste, wie der Herold, Aarmarsland, den aufbrausenden Oppsteiner bei der Schau der Turnierteilnehmer abgefertigt hatte. Guter Mann, dieser Herold, dachte sie. Vielleicht würde der vage Plan, dem sie anhing, doch aufgehen. Nun, sie wollte geduldig sein. Glyrana beobachtete Adran, der mit der jungen Gallyser Baronin gerade ein Tänzchen wagte. Ein interessantes Paar, dachte Glyrana, und dachte dabei an den Zwist der Vergangenheit, die zwischen den Häusern Baernfarn und Oppstein einst herrschte, wie sie mittlerweile wusste. Ob Adran nur aus allgemeinem Plaisier mit der hübschen Baronin tanzte? Möglich war es, dem Oppsteiner ging der Ruf voraus, sich überaus um die Damenwelt zu bemühen. Andererseits war es auch nicht abwegig, dass der Oppsteiner auch andere Interessen verfolgte, neue Loyalitäten und neue Kontakte erschließen wollte. Glyrana würde das im Auge behalten. Im Auge behalten müssen. 

Ganz anders verhielt sich der Knappe des Oppsteiners, der mit einem Kelch Wein am Rand des Burghofes an ein aufgestelltes Methfass lehnte und ebenfalls den Tanzenden zusah. Adrans Knappe, der Bruder ihrer Baronin, der ähnlich traviafromm und sittsam erzogen war sie seine Schwester. Ein traviafrommer Knappe am Hof des Oppsteiners, das war eine überaus interessante Konstellation. Travian musste sich ja förmlich in einem ständigen Loyalitätskonflikt zu den Erziehungsidealen seiner Mutter, der Vögtin Adginna, und seinem lebenslustigen Lehensherren befinden. Welche Loyalität würde im Zweifel obsiegen? Ohnehin würde sie den Bruder der Baronin gerne näher kennen lernen, bei geeigneter Gelegenheit. Immerhin war er ein Binsböckel, der sich in den Oppsteiner Landen gut auskannte. Glyrana hatte am Nachmittag schon bemerkt, dass ihre Knappin sich mit dem jungen Binsböckel angeregt unterhalten hatte, an der Pferdekoppel.

"Gisla," begann die Mersingerin, "du hast es Dir verdient. Du kannst gerne auch die Musik und den Tanz genießen..."

"Ihr meint... ich bin keine begnadete Tänzerin, und mich hat auch niemand zum Tanz gebeten..." antwortete diese vorsichtig.

"Ach, da tanzen so manche, die nicht täglich auf dem Tanzparkett beheimatet sind." beruhigte Glyrana. "Und du musst auch nicht schüchtern sein. Jedenfalls nicht schüchterner als der Knappe des Oppsteiners, der sicher auch gerne tanzt, aber dank der Erziehung seiner Mutter sich nicht traut, eine Dame zum Tanz zu bitten. Es wäre doch schade, wenn einer der Gäste dem Tanz nur zusehen muss." Glyrana nickte der Knappin freundlich zu.

Ihr Pflichtbewusstsein ließ Gisla das als Aufforderung verstehen, sich darum zu kümmern, dass auch der Oppsteiner Knappe nicht abseits stehen sollte auf der Feier. Nun, dieser Travian schien freundlich zu sein, diesen Eindruck hatte sie jedenfalls. Also kam sie der Bitte ihrer Lehrherrin nach, um Travian zum Tanz zu führen. 

Gleichzeitig, als Gisla Travian die Hand entgegen streckte, um ihn zum Tanz zu führen, klatschte eine brünette Schönheit die Gallyserin Alrike ab, um einen Tanz mit dem Baron von Oppstein zu wagen. Alrike nickte Adran freundlich zum Abschied zu und überließ der hinzugekommenen Dame ihren Tanzpartner. Glyrana konnte dem Lächeln der Gallyserin nicht entnehmen, ob sie das jähe Ende ihres Tanzes mit dem galanten Oppsteiner bedauerte oder nicht – Glyrana lächelte jedoch bei dem Anblick der neuen Tanzpartnerin.

 

Der neue Sichelhager Bund

 

Adran von Oppstein griff nach einem frischen Glas Wein – die Dienerschaft dieses Junker Storko war auch wirklich sehr zuvorkommend, zu keinem Zeitpunkt hatte er lange auf einen Wein oder Meth warten müssen – und schäkerte angeregt mit der jungen Edeldame aus Rommilys, die er schon seit einem halben Stundenmaß mit wohlgesetzten Worten umgarnte. Auf das Zeremoniell und all die Festreden verspürte er ohnehin nicht die rechte Lust. Was waren schon trockene Feierreden im Vergleich zu dem erquickenden Anblick und den Esprit, den die gelockte Brünette verströmte. Nein, sollte der Junker Storko ruhig seine Burg und seine Familie darstellen. Ihm sollte es recht sein. Mit eleganten Schwung reichte Adran auch der Brünetten ein Glas Wein und stieß lächelnd mit ihr auf den schönen Abend an. So bekam der Oppsteiner es auch nicht gleich mit, dass die Festreden sich vom Thema der Burgeinweihung weg zu der Befreiung der Baronie Schlotz und ihrer Edlengüter mit Hilfe des Sichelbundes, der sich in den angebrochenen Friedenszeiten zu einem neuen nun genannten Sichelhager Bund gewandelt hatte und sich jetzt auch nicht mehr altbacken Trutzbund sondern ganz mondän Sichelhager Adels- und Turniergesellschaft vom Alten Schlag nannte – die junge Baronin Haldana mit ihrer ebenso wohlklingenden Stimme wie andererseits auch seltsamen Frisur hatte nach dem Landjunker zu Gernatsborn das Wort ergriffen und eine lange Rede angefangen. Eine Rede, die immer wieder von fröhlichen Lachern unterbrochen wurde. Offenbar war Haldana eine gute Rednerin. Nun, kein Wunder. Dass an der Schlotzerin eine Bardin verloren gegangen war, hatte auch Adran in Oppstein vernommen. Dennoch, er hörte nur mit halbem Ohr zu. Viel interessanter war doch die Erzählung der Brünetten von diversen Festlichkeiten in der Capitale Rommilys. So bekam Adran es auch nicht mit, dass Haldana nach einer längeren Lobpreisung des Sichelhager Bundes und des Zusammenhalts der Bundesgenossen und der wichtigen Rolle bei der Befreiung von Schlotz um Aufnahme in den Sichelhager Bund ersuchte. Erst als Haldanas Worte verstummten, blickte er auf - gerade rechtzeitig genug, um zu sehen, wie die schlanke Baronin von Gallys – Alrike von Baernfarn – mit leicht wiegenden Handbewegungen um Ruhe bat. 

"Nun habe ich die besondere Ehre, den Eid, den die Bundesbrüder und -schwestern der Sichel einst geschlossen haben, zu wahren und zu hüten. Eine Aufgabe, die mir von meiner Mutter übertragen wurde, als ich den Artemathron bestieg. Liebe Kusine, Dein Ansinnen, deinen Junker- und Edlengütern in den Sichelbund folgen zu wollen, freut mich. Es zeigt, wie lebendig der alte Bund ist und welches Interesse auch jetzt, nach der Befreiung und Befriedung des Landes, dem Bund entgegen gebracht wird.”

Alrike hat die Aufgabe, den Eid des Bundes zu bewahren, fragte sich Adran. Richtig, in früheren Zeiten war Alrikes Mutter Valyria ja die Eidbewahrerin des Sichelbundes gewesen. Aber eigentlich lag der Bund doch eher darnieder, war kaum mit Leben ausgefüllt. Seit Redenhardts Tod, der dem Bund vorgestanden war, hatte er in Adrans Wahrnehmung kaum eine Rolle gespielt. Richtig, bei der Befreiung der Rittergüter im Schlotzerland hatten diese Unterstützung aus Friedwang und Gallys gehabt, weswegen sich ein gutes halbes Dutzend trauriger, kriegsverwüsteter Rittergüter, dem Bund angeschlossen hatten. Adran hatte die Sache damals nicht weiter beachtet, war doch sonst nichts zu hören und zu sehen vom alten Trutzbund. Was sollte also jetzt das? Welches Ziel verfolgte Haldana von Binsböckel? Dass Alrike von Baernfarn Haldanas Kusine war, das wusste er. Und dass, was immer sie plante, mit ihr abgesprochen war, davon musste Adran ausgehen. 

Bei Rahja, er hätte nicht so viel Wein trinken sollen. Adrans Kopf war schwer, seine Gedanken eigentlich mehr mit dem Mieder der Brünetten befasst als mit Ränken der Politik. Aber, streng genommen, hätte er als Erbe Redenhardts den Vorsitz im alten Bund inne gehabt. Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, auf einen solchen Antrag der Schlotzerin zu reagieren? 

“Nach hergebrachter Sitte und dem Willen der Altvorderen steht es einem jedem von adeligem Geblüt zu, der zumindest 16 Schilde vorweisen kann und sich dem Sichelhager Bund, seinen traditionellen Tugenden und Werten sowie dem Wohl der Menschen ebendort verpflichtet fühlt, sich dem Bund anzuschließen.” redete Baronin Alrike weiter. 

War das so, fragte sich Adran? Bedurfte es nicht der Einstimmigkeit der bestehenden Mitglieder, einen neuen Bundesgenossen aufzunehmen? Nein, denn die Edlen des Schlotzerlandes waren aufgenommen worden, ohne dass es eine formale Abstimmung darüber gab. Nun, im Krieg war ein Zusammenkommen des Bundes nicht möglich gewesen. Dennoch, was bei den Rittergütern Recht war, konnte jetzt nicht falsch sein. Verdammt, was ging da vor? Das alles ging viel zu schnell. Hätte er jetzt protestieren müssen? Auf die Gefahr hin, lallend einen Unsinn von sich zu geben? Dieser schwere Rebensaft aber auch…

Die Brünette schien sich nicht besonders für Alrikes Rede zu interessieren. Kess lächelte sie ihn an, hob ihr Glas und schmiegte sich ein wenig an den Oppsteiner. 

“Habt ihr denn zwei Bürgen, die dem Bund versichern können, dass ihr die Werte und Traditionen des Bundes achtet und ehrt, dass ihr dem Bund ein wertvolles Mitglied sein wollt und könnt?” fuhr Alrike fort.

“Ich bürge für sie", übertönte die Stimme Valyrias von Baernfarn-Binsböckel, Haldanas Tante, Baronin Alrikes Mutter und Oberhaupt des Hauses Baernfarn, die Menge. “Ich habe sie als tatkräftig, ehrbar und stets aufrichtig erlebt, auch in schweren Stunden und großen Herausforderungen. Ich kenne sie, seit sie durch der Herrin Tsa Gnade das Derenrund betrat. Ich kann guten Gewissens jeden Eid darauf leisten, dass Haldana von Binsböckel, die Baronin von Schlotz, eine Bereicherung für den Sichelhager Bund sein wird. Mehr als das. Ich stoße auf die junge Baronin an und freue mich, sie im Bund willkommen zu heißen.” 

Valyrias Worte lösten eine leichte Welle des Applauses aus.

“Auch ich bürge für sie", konnte man die kräftige Stimme des Burgherren vernehmen. “Meine Baronin hat in schwerer Zeit die Nachfolge des Schnayttacher Throns angetreten und erfolgreich aus den Wirrnissen nach dem Jahr des Feuers geführt.” Natürlich war Storkos Aussage übertrieben. Haldana war noch ein Kind gewesen, als der Vater, der alte Baron von Schlotz, gestorben war. Aber das tat nichts zur Sache. 

Das ist eine Intrige! durchfuhr es Adran. Jetzt, da Storko zu Gernatsborn, der in das Haus Mersingen eingeheiratet hatte, sich für die Baronin Haldana stark machte, traf die Erkenntnis Adran wie ein Blitz. Obwohl er sicher einige Gläser Wein zu viel getrunken hatte, wurde ihm klar, dass die Mersinger hier ihre Finger im Spiel hatten. 

Die Mersinger wollten ihre Hausmacht in der Region stärken und dazu den alten Bund benutzen! Hatten die Mersingen nicht auch in den letzten Jahren im Sichelhag ein paar zusätzliche Edlengüter erworben.

Ja, so musste es sein. Das alles war ein abgekartetes Spiel. Storko war in der Tat einer der Machtfaktoren in Schlotz, womöglich das stärkste Junkergut der Baronie. Jemand, an dem auch eine Schlotzer Baronin nicht vorbei kam. Und die er nun mit Hilfe von Haldana Kusine und Tante in den Bund bugsierte? War das der Plan? Vermutlich. Adran fluchte innerlich. Nicht, dass ihm der Sichelbund an sich viel bedeutete. Aber was ihm sicher nicht schmeckte war, wie die Mersinger ihre gierige Klaue nach der Sichel ausstrecken. Gut, Adran nannte sich zwar selbst Adran von Berlînghân-Oppstein-Mersingen, aber dass ihn kaum ein Mersingen und schon gar nicht das auch anwesende Oberhaupt der Familie für einen echten Mersingen ansah, das wusste er auch selbst. 

“Wenn ein Bundesmitglied dennoch gegen die Aufnahme von Haldana von Binsböckel in den Sichelhager Bund sei, so möge es sprechen", fuhr die Gallyserin fort. Nachdem nach einem Moment keiner in der Menge reagierte, setzte sie nach. “Damit, liebe Kusine, ist der Sitte und Tradition genüge getan. Ihr alle seid Zeuge davon geworden, dass der Bund der Sichel lebt und gedeiht, dass die Sichel ihre alten Wurzeln nicht vergessen hat, und zum Wohl der Mark Rommilys und des Heiligen Raulschen Reiches immer zusammen steht.” Die Anwesenden klatschten.

Pathetische Worte, die Alrike von Gallys formulierte. Adran fühlte sich völlig überfahren. Der Adel aus Gallys, Schlotz und Friedwang. Auch wenn der alte Fuchs aus Friedwang selbst nichts gesagt hatte und gerade auch nicht zugegen war, so war er doch sicher involviert. Dass der Vater des Bräutigams nicht in die Planung der Hochzeitsfeier und des Turniers eingebunden war, davon war nicht auszugehen. Was würde man in Echsmoos und Mistelhausen dazu sagen? Würde – und das war nicht unwahrscheinlich – Haldanas Halbbruder in Rammholz sich auch dem Bund anschließen? Dann war das Machtverhältnis zugunsten eines Bündnisses der Mersingen mit den Binsböckel, Baernfarn und Friedwang gekippt. War das der Plan? Gab es ein solches Bündnis? Oder sah Adran eine Verschwörung, wo keine war? 

Die Brünette lachte Adran an und gab ihm einen aufmunternden Stoß. “Mein Guter, war es ein Wein zu viel?” fragte sie mit einem fröhlichen Lächeln? “Komm, lass uns zur Musik gehen und ein wenig tanzen!” 

Adran sah die hübsche Brünette an. 

Er kannte die junge Edeldame aus Rommilys nicht wirklich. Auch ihren Namen hatte er zuvor noch nicht vernommen. Nun, man konnte ja nicht jeden kennen, der in der fernen Capitale zur höfischen Festgesellschaft gehörte. 

Oder waren die aufmerksamen Diener, die immer reichlich Wein gebracht hatten, ebenso Teil einer Intrige gewesen wie diese Hübsche hier? Ging es den Mersingern nur darum, sich ein Standbein im Sichelbund aufzubauen? Oder war er gezielt ausmanövriert worden? Sah er, der Erbe Redenhardts,  Ränke, wo keine waren? Oder verbarg sich mehr dahinter. 

Der Oppsteiner warf einen Blick auf Glyrana, die Mersinger Gemahlin Storkos, die gerade angeregt in eine Unterhaltung vertieft war. Wenn das alles hier inszeniert war, dann steckte sie dahinter. 

Adran wusste es nicht. Aber die Lust, sich weiter mit der Brünetten abzugeben, war ihm schlagartig abhanden gekommen. Wütend stapfte er zu seinem Zelt und verließ das Fest. Dass die umstehenden Gäste der Aufnahme von der Schlotzer Baronin in den Sichelbund applaudierten, bekam er nicht mehr mit. 

“Nunmehr also hat sich eine weitere Baronin dem Sichelhager Bund angeschlossen” verkündete Alrike feierlich. “Unser Bund lebt und gedeiht. Wir haben schwierige Zeiten überstanden, die Besatzung durch den Feind hat uns nicht gebrochen, unser Land haben wir befreit. Das gelang nur, weil wir zusammengehalten haben. Zusammenhalt, das ist es, was unsere Gemeinschaft ausmacht. Gemeinsam sind wir für die uns anvertrauten Menschen eingestanden. Und gemeinsam werden wir auch in der Zukunft, so die Zwölf Götter uns wohlgesonnen sind, unsere Heimat und unsere Traditionen beschützen. Dabei ist unsere Gemeinschaft offen und bereit zu wachsen – bereit, neue Mitglieder aufzunehmen und bei uns willkommen zu heißen, so wie heute aus der Baronie Schlotz.” Baronin Alrike nutzte die Gelegenheit, vor vielen Zuhörern für den Sichelhager Bund zu werben. 

 

Die Darpangentorte

 

Zum Abschluss des Banketts wurde noch die große Darpangentorte aufgetischt, in den Farben Schwarz, Weiß, Rot und Blau: ein vierstufiger Prachtbau aus Zucker, Backwerk und Marzipan, der mit seinen Türmchen, Fähnchen und Erkern offenbar Burg Schlotz symbolisieren sollte.   

Gekrönt wurde die Burgtorte von einem schneeweißen, aufsteigenden Steinbock und einem schwarzen Troll, der sich mit seiner Axt ein Stückchen aus der Näscherei heraus schnitt. Die einzelnen Stufen waren wiederum mit kandierten Darpangen belegt, wie die getrockneten Arangenstückchen genannt wurden, die dem Vernehmen nach via Dergelsmund aus Aranien eingeführt wurden. Die Früchte sollten selbst im konservierten Zustand ziemlich teuer sein. Niemand Geringeres als Tiro von Friedwang-Havensgaard hatte die Delikatesse beigesteuert, als Sohn einer Wehrheimer Zuckerbäckerin. Ob "Zucker-Tiro" die Torte wirklich selber gebacken hatte, als märkischer Adeliger und Turnierheld, darüber gingen die Meinungen auseinander. 

 

Natürlich oblag es dem frisch verheirateten Brautpaar, den süßen Traum anzuschneiden. Zuvor wurde sowohl Bock wie Troll in Sicherheit gebracht, auf die Teller von Haldana und Alboran. "Schneid, ach, nieder den Schlotz!" sagte Alboran feierlich und blickte bei diesen Worten bekümmert. Zum wiederholten Mal an diesem Abend erklang Gelächter und Applaus. Der frischgebackene Baron versenkte gemeinsam mit seiner Angetrauten das Silbermesser in der Torte. Alboran hoffte, dass die Zerstörung der eigenen Burg nicht irgendwie als schlechtes Omen aufgefasst werden würde. Tatsächlich fiel der Bergfried fast auf Anhieb in sich zusammen. Seine Schwiegermutter blickte schon wieder ein wenig verdrießlich, ob dieser Ungeschicklichkeit. "Möge die Torte vergehen und der Stein umso fester stehen!" fügte er eilig hinzu. 

Nachtmahr

Alrik blinzelte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wo er sich befand. In einem weichen, großen Himmelbett auf Burg Gernatsborn. Allerdings nicht in seiner vertrauten Kammer. Das mit dem Himmelbett war gerade wortwörtlich zu stehen. Das Möbelstück glitt lautlos über Nebel dahin, während in der endlosen Nachteinsamkeit über ihm die Sterne blinkten. War er schon wieder auf dem Nirgendmeer unterwegs, oder war das alles nur ein Traum. Erneut fiel ein Schweifstern vom Rand des Kosmos herab, dann wieder, und wieder, an immer gleicher Stelle. Ein Fehler im Mysterium von Kha?

"Der Grund ist die Boronsnähe" kicherte es gehässig neben ihm. "Wer einmal fast gestorben wäre, dem öffnen sich die Augen für Dinge, die er vorher nie gesehen hat. Weil er sie nicht sehen wollte. Um so mehr, wenn er bereits gestorben ist. So wie ich."

Der Baron von Friedwang drehte seinen Kopf, und sah ein riesiges Fass auf den hellgrauen Wellen des Phexensdunsts schaukeln, hochkant wie ein Korken. 

"Glaub mir, die andere Welt lässt einen so schnell nicht los". Ein Mädchen im weißen Kleidchen saß auf dem Weinfass, mit totenblassen, blutigem Gesicht und zerzausten Haaren. "Auch wenn du denkst, dass du dem finsteren Totengott von der Sense gesprungen bist. Er steht immer noch hinter dir. Das war der Grund, warum ich mich den Anderen zugewandt habe." 

Es dauerte eine Weile, bis Alrik Sisa Brundel wieder erkannte. Die Schwarzhexe und Plagen bringende Anhängerin der Anti-Peraine offenbarte sich ihm in der Kindergestalt, in der sie vor ein paar Monden zu Tode gestürzt war. Das Hexenmädchen sah puppenhaft aus, leuchtete fahl aus sich selbst. Beinahe hätte das Kind harmlos gewirkt. Hätte nicht ein abgesplitterter, blutiger Knochen aus ihrem gebrochenen Arm geragt und wäre die blutverkrustete Delle im Schädel weniger tief gewesen. Auch ein paar Rippen schienen gebrochen zu sein, die Beine sowieso. Alriks Mitleid hielt sich in Grenzen. Er wusste, was die Paktiererin der Belzorash den Menschen angetan hatte, zu Lebzeiten. Mehr noch, welche Schrecken sie den Rechtgläubigen noch hatte zufügen wollen. 

"Sisa, sieh an... Haben sie vergessen, dich aufzukehren, in Kurgasberg, mit deinem Hexenbesen?"

"Lass dich nicht von erwachsenen Männern ansprechen.” Eine kalte, spöttische Stimme lenkte Alrik ab. Ein Schatten kauerte am Bettende, mit purpurn glühenden Katzenaugen, der ihn mit schiefem Hals anstarrte. Ein schwarzer Schemen, der nicht menschlicher Leib zu sein schien und nicht lichtlose Finsternis. Fast schien, als wolle diese Spukgestalt die Schwärze zwischen den Sternen in sich aufsaugen. Gesichtszüge formten sich dort, wo bei anderen Wesen der Kopf war, undeutlich zwar, aber doch körperlicher als bei einem bloßen Gespenst. Golo von Oppstein-Glimmerdieck. Der Sohn des Verräterbarons Gernot war nicht mehr nur ein Schatten seiner selbst, sondern war bereits dabei, nach Dere zurück zu kehren. Wie es die Art von Nachtmahren war. 

"Solltest du nicht unter dem Bett sitzen, Golo, alter Kinderschreck?"

"Golo, Golo, Golo." Der einstige Junker von Gießenborn starrte auf seine wabernden Hände, deren Finger wie Flammen zuckten. Noch wirkte das Phantomwesen unstet, flackernd, als würde irgendeine underische Macht an ihm zerren und zehren. War es ein zerfaserter Mantel oder eine Art von Schwingen, was da hinter Golo wehte? Wisperten dort Mindergeister im Gefolge ihres Meisters oder war dieser selbst noch vielgestaltig, an der verwischten Grenze zwischen den Sphären?  

"Wusstest du, dass der Name Golo im alten Gareth jemanden meint, der unter göttlichem Schutz steht? Ja, ich stehe wahrlich unter einem höheren Schutz. Im Gegensatz zu dir. Um genau zu sein, war heute ich der Beschützer deiner Schwiegertochter, nicht du. Um nicht zu sagen, ihr Lebensretter. Höre ich ein Danke? Nein?" Golo hielt seine Hand an das nicht mehr vorhandene Ohr. "Nein. Schade. Immerhin habe ich Valpo in genau dem Moment in den Burghof geschickt, als du aus der Kapelle getreten bist. Hätte ich zulassen sollen, dass meinem Enkelsohn ein Leid geschieht? Meinem....eigenen Fleisch und Blut?" Ein glucksendes Lachen. 

Sisa stapfte barfüßig auf das Fass, wie ein trotziges Kind, ohne darauf zu achten, dass ihr Füßchen dabei zur Seite abknickte. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören. Wütend renkte die kleine Hexe den geborstenen Fußknochen wieder ein. "Diese Schlampe Haldana hat sich das Balg in meinem Hexenhaus machen lassen. In meinem fliegenden Fass. Dafür sollen sie beide verrecken." 

 "Zzzz." Golo schüttelte sein unstoffliches, krumm auf den Schultern sitzendes Haupt. "Ihr einen kleinen Denkzettel zu erteilen, das habe ich dir gestattet, liebe Schülerin. Mehr nicht. Auch ich habe gelitten, glaub mir. Erst hat mir Haldana das Herz gebrochen, und dann auch noch den Schädel, mit ihrer Laute. Es hätte alles so schön sein können. Ins gemeinsame Glück hätten wir fahren können, den Darpat hinunter bis ins Perlenmeer, geradewegs in den Sonnenaufgang. Halda hat unsere...Traumhochzeit einfach....vergessen. Stattdessen heiratet sie meinen eigenen Sohn...das ist krank...krank...Und Ihr nennt so etwas einen rechtmäßigen Traviabund." Golo verzog beim Wort "Travia" den Mund, als hätte er eine Fliege verschluckt. 

"Was faselst du da?" Alrik setzte sich mühsam in seinem Bett auf und stellte fest, dass es wie ein Boot schwankte, als wäre es eine Nussschale auf dem großen weiten Meer. "Redest du gerade von Alboran?"

“Muss ich dich daran erinnern, dass Ismena meine Gemahlin war? Meine Gemahlin - mein Sohn! Diese einfache Wahrheit sollte doch selbst ein räudiger Fuchs wie du verstehen?"

"Ach, Golo das Elfchen erinnert sich plötzlich daran, dass er tatsächlich mal verheiratet war? Mit der Schwester des Barons von Oppstein. Aber nicht mit Haldana von Schlotz. Im Bett soll damals ja nicht viel gelaufen sein, mit Ismena, nach allem, was man so hört...jedenfalls nicht zwischen Ehemann und Gemahlin..."

Golo zischte wütend. Seine Augen glühten wie feuerrote Kohlen oder gierige Wolfsblicke. Einen Moment lang erinnerte der Schattenmann Alrik an die huschenden Hesthots, denen er in der Schlacht um Rommilys begegnet war.

"Du würdest dich wundern, in wie viele Frauen ich bereits eingedrungen bin. Unter anderem in deine Gemahlin, Serwa....Das ist der Vorteil, wenn man selber keinen Körper mehr mit sich herum schleppen muss. Bei Ismena, deiner Rahjastute, habe ich meine ehelichen Pflichten erfüllt. Sogar noch zu Lebzeiten...auch wenn ich sie dazu...ein klein wenig betrunken machen musste. Solange die Weiber nicht zappeln und schreien, sind sie eigentlich ganz erträglich."

"Golo, du weißt schon, dass du ein ziemlich kranker Geist bist....?" Alrik wollte die Bettdecke beiseite schlagen, aber die saß fest wie zwergischer Gußstein und bewegte sich keinen Halbfinger breit. Natürlich, er war ja gerade auch in einem wirren, fiebrigen Alptraum gefangen.

"Ich kann deinen Zorn verstehen, Alrik. Du bist beleidigt, weil ich Euch Zwölflern gezeigt habe, wie dumm und schwach eure Heilige Gans in Wahrheit ist, mit ihrer Vorstellung von Familie, Sitte, Tradition und Moral. Von Mama, Papa, Kind. Ganter, Gans, Küken. Das ist alles so fürchterlich altbacken. Allein diese ständige Unterscheidung in Männlein und Weiblein...männlich und weiblich…." Golo machte eine wegwerfende Handbewegung. "Was ist eigentlich mit dämonisch?" Der Nachtmahr kicherte überdreht.

"Pervalisch gäbe es auch noch, Golo. Pervalisch und selemisch...oder oronisch. Was trifft bei dir zu? Alles auf einmal, nehme ich an..."

"Glaub mir, was Alboran anbelangt, da bin ich der Ganter. Mir einen Nachfolger zu erschaffen, hat sogar Spaß gemacht...Niederhöllischen Spaß. Ist dir eigentlich schonmal aufgefallen, dass mein Küken vollkommen heil und makellos geschlüpft ist? Alboran fehlt kein Stück vom rechten Ohr, wie den männlichen Nachkommen in deiner Linie. Das heißt, es ist wirklich mein Sohn und Erbe, der von nun an über diese Baronie herrschen wird. Wie in Zukunft mein Enkelkind. Wenn du es verhindern willst, musst du Albo schon den Hals umdrehen. Ebenso wie deiner Schwiegertochter. Bitte sehr...das wird die lustigste Hochzeitsfeier seit der Blutnacht in Rommilys..."

Alrik lächelte milde, als wäre er der Aufseher in einem Noionitenkloster. Gruseliger als Geister waren nur noch verrückte Geister.

Ismena hatte ihm erzählt, dass sie den Erbfehler ihres gemeinsamen Sohns mittels Magie beseitigt hatte. Als er  noch ein kleines Kind gewesen war. Aus Eitelkeit, aber mehr noch aus Vorsicht – oder weiser Voraussicht? Offiziell galt Alboran damit zwar als Enkel eines borbardianischen Verräters (und Sohn des verschollenen Junkers von Gießenborn, der schon zu Lebzeiten nicht den besten Ruf gehabt hatte). Aber legitime Abstammung war im Mittelreich fast so heilig wie der Glaube an die Unteilbaren Zwölfe. Natürlich würde er das Golo nicht auf die Schattennase binden. Sollte er ruhig glauben, dass Alboran sein Sohn war. Solange Albo selbst es nicht tat...

"Wenn du meinst. Sag mir nur eins...Wenn du Haldana für deine derzeitige Gemahlin hältst, und Alboran für deinen leiblichen Sohn...warum genau wolltet ihr sie dann umbringen?"

"Ich sagte es bereits, Haldana hat einen kleinen Denkzettel verdient. Oder besser gesagt, ein klein wenig Vergessen. Eine Liebe und Treueschwüre, an die man sich nicht mehr erinnern kann, was zählt das schon? Haldana wäre ein wunderbares Werkzeug in meiner Hand, formbar wie Wachs. Wie so oft, wenn unser Gebieter den Sterblichen namenloses Vergessen schenkt, um ihre Seelen zu leeren, zu erleichtern und neu zu formen. Seelen, die jetzt noch mit all dem lächerlichen Blendwerk, all den törichten Lehren Eurer sterblichen Götter angefüllt sind. Vergessen, das ist wie eine Reinigung, von der alveranischen Täuschung und der frommen Lüge, die sich anmaßt, die alleinige Wahrheit auf Dere zu sein. Nur mit der Gnade des Vergessens können wir euren armseligen Verstand auf die Rückkehr des Herrschers der Herrscher vorbereiten. Haldana, meine geliebte Halda. Ich müsste sogar nur ein halbes Jahr aus ihrem Gedächtnis löschen, mehr nicht. Die Zeit, in der sie sich die Liebe zu meinem Sohn eingeredet hat. Nach außen wäre sie mit Alboran verheiratet, aber das wahre Herrscherpaar wären wir!"

"Erleichtern und leeren? Klingt für mich irgendwie nach Latrine." Alrik schüttelte verständnislos den Kopf. "Und riecht genauso….So ganz scheint dein grandioser Plan ja nicht funktioniert zu haben?"

"Woher sollte ich wissen, dass Sisa ihr vorher diesen Giftverstärker unterjubelt. Ich meine, wenn Menschen von Borbaradmoskitos gestochen werden, dann erschlagen sie meist eines, oder zwei dieser wunderbaren Tierchen, nicht mehr....ihr Gift ist überaus schmerzhaft, aber nicht tödlich. Der Rest darf dann ungestört saugen...Cui dolet, meminit. Der Wahlspruch unseres Hauses. Wer Schmerz erleidet, erinnert sich daran."

"Ich fand ihn immer schon wehleidig", sagte Alrik. "Gebranntes Kind scheut das Feuer. Die freie Übersetzung passt besser. Am besten gefällt mir allerdings meine eigene Devise: Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen." Verzückt blickte der Mondschatten zum Sternenhimmel.

Sisa blickte verdrießlich. "Verrecken hätten sie sollen, alle beide...In meinem Bett sind sie übereinander hergefallen. In meiner Hexenhütte! Haldana hat den Tod verdient, ebenso ihr uneheliches Bankert!"

"Sisa, ich bin sehr von dir enttäuscht. Du redest immerhin von meinem Enkel. Ein Enkel von hochadeligem Geblüt! Vielleicht sogar der Verheißene, von dem Yasinthe immer geträumt hat. In Rommilys sah es fast so aus, als könnten unsere Zwei Zirkel gedeihlich zusammenarbeiten, für das große Ziel. Aber Sie haben völlig Recht. Insektenanbetern darf man nicht trauen. Die Namenlosen Pocken gehören dem wahren Beherrscher der Welt, nicht der Fauligen Monarchin des Ewigen Siechtums. Er, der liegt, wird sich erheben, und ihr wimmelndes Kroppzeug zerstampfen."

"Selbst dein Großvater war da anderer Meinung." Sisa sabberte etwas Geisterblut, wie immer, wenn sie aufgeregt war. "Überhaupt, wer hat denn für dich die Borbaradmoskitos angelockt, aus den Gernatsümpfen?"

Alrik kratzte sich am Kopf. "Ah, ich glaube, ich verstehe so langsam. Das Thonnyszeug sollte die Wirkung des Moskitogifts verstärken, Sisa?! Du wolltest Haldana damit umbringen, ebenso mein Enkelkind. Das ist nun mal der Unterschied zwischen dem Namenlosen und Dämonenanbetern, Golo. Der eine will die Schöpfung unterjochen, die anderen wollen sie zerstören. Nun, ich muss sagen, egal welcher Zirkel. Ihr habt beide einen mittelprächtigen Dachschaden. Und jetzt haut endlich ab. Raus aus meinem Traum, aber hurtig!""

Golo zischte ein weiteres Mal, seine purpurroten Augen glühten. "Traum? Wer sagt eigentlich, dass ich gerade nicht wirklich auf deinem Bett sitze?" Der Nachtmahr packte die Bettpfosten und begann daran zu rütteln, wie an einem Gitter. Das Himmelbett begann erneut zu schaukeln, erst langsam, dann immer schneller und heftiger.

"In Phexens Namen, weiche von mir!" Alrik schrie auf und wollte sich festhalten, aber es war zu spät. Er ruderte mit den Armen, rutschte nach unten, genau in den dichten Nebel hinein, fiel hindurch....

 

BOTTOMP.

 

Auf den harten Bodenbrettern kam der Baron von Friedwang wieder zu sich. Den Schmerzen im Rücken nach zu urteilen war er nun endgültig aufgewacht. Auf dem Nachttisch flackerte eine kleine Kerze, der Abend war wohl schon fortgeschritten. Ein Alptraum, nichts weiter. Das war ja auch verständlich, nach dem Schrecken heute. Mühsam zog sich der Freiherr an einem Stuhl hoch. Vor gar nicht so langer Zeit hatte er den den Geweihten Praiodîn bespöttelt, der im Nachbarzimmer gelegen hatte, als Opfer eines Goblinangriffs. Nun war er der Rekonvaleszent. Göttliche Strafe? Ächzend ließ er sich in den Stuhl sinken, und starrte in das Kerzenlicht.

Alrik tastete über die Hand und versicherte sich, dass er nicht selbst schon ein Gespenst war.

Ein jäher Luftzug strich über die Flamme, stellte sie schief und löschte sie aus.

Plötzlich herrschte vollkommene Finsternis.

 

Alrik schrie keuchend auf.

 

Auch Haldana fröstelte, und das lag nicht an der kühlen Herbstnacht. Die junge Baronin ging ein paar Schritte auf den Burghof hinaus, abseits der Festgäste. Das Frösteln… sie kannte es inzwischen. Eine zornige Gefühlsregung durchfuhr sie. “Halbes Haar habe ich gesagt, nicht halbes Ohr!” 

Was bedeutete der stille Aufschrei, der Haldana durch den Kopf fuhr? Noch immer hatte Haldana Angst davor, aber zugleich wollte sie auch nicht, dass die Festgäste etwas davon mitbekamen. Jeder musste ja annehmen, sie würde Selbstgespräche führen oder wäre verrückt. Vielleicht war sie das auch. Jedenfalls war es vollkommen unmöglich, irgend jemandem zu erzählen, dass ein Geist, der sich für ihren Ehemann hielt, sie verfolgte. Seit damals, den Ereignissen um den “Hexer von Rommilys” [siehe Briefspielroman auf der Homepage der Mark Rommilys], als sie entführt und zwangsverheiratet werden sollte mit dem erbschleicherischen Golo, dem Sohn des Verräters Gernot von Friedwang. Nun, Alrik und ihre Gefährten bei dieser Queste hatten sie befreit, und Golo war dabei besiegt worden. Allein, die ruhelose Seele ihres beinahe zwangsverheirateten Ehemannes verfolgte sie seitdem. Verbreitete Panik, wollte ihr Angst einjagen, machte regelmäßig düstere Andeutungen, bei denen sie nie wusste, was sich davon bewahrheiten würde. Und immer schien es, als würde Golo einen finsteren Plan aushecken, als würde er Unheil verbreiten, wo immer dieser alptraumhafte Mahr von einem sie heimsuchenden Exmann auftauchte. Als wäre irgendetwas unheiliges im Gange, als würden die finsteren Mächte, die das Land nach dem Jahr des Feuers ins Chaos gestürzt hatten, immer noch nicht besiegt sein. 

Immerhin, eines wusste sie. Golo war hier, der Geist, der sie seit einem Vierteljahr verfolgte, sie immer wieder heimsuchte und düstere Vorahnungen verbreitete. Sie kannte die tonlose Stimme inzwischen nur zu gut. Halbes Haar, hatte Golo gesagt. Damit war sie gemeint, klar. Aber was meinte Golo mit dem halben Ohr? Alrik? Oder Alboran? Haldana wusste, dass in der männlichen Linie der Friedwangen das rechte Ohr mit einer Verkümmerung vererbt wurde. Oder bedeutete das etwas völlig anderes. Diesmal schien der Geist Golo selbst verunsichert zu sein. Etwas schien wohl nicht so gelaufen zu sein, wie er sich das vorgestellt hatte. Oder täuschte sich Haldana? Die ruhelose Seele des Gießenborner Junkers - dem Papier nach der Vater ihres Ehemannes Alboran - schien selbst aus dem Konzept gebracht. Oder spielte er das nur vor? 

Haldana strengte sich an, ruhig und furchtlos zu wirken - was ihr leidlich gelang, auch wenn sie im inneren aufgewühlt war. Die Erfahrung mit dem ihr beharrlich nachstellenden Nachtmahr hatte sie gelehrt, auch ihre Angst im Griff zu haben. Dieses mal würde sie sich nicht treiben lassen von der Furcht, die Golo zu verbreiten suchte. Dieses mal würde sie in die Offensive gehen. 

“Das ist mein Hochzeitsfest, nicht Deines, Golo. Du bist nicht eingeladen!” raunte sie leise, aber mit bestimmter Stimme.

Ein schalkhaftes Lachen war die Antwort. “Wie fühlt man sich, wenn man zwei Männer geheiratet hat, Schätzchen?” kicherte Golo gehässig. Aber Haldana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn der Hass gegen ihren Peiniger in ihr brodelte. 

“Gut, Golo, sehr gut. Zumal der zweite Mann deutlich netter ist als der erste” gab Haldana frostig zurück. “Außerdem… ein Geist kann eine Frau nicht glücklich machen.” Haldana wusste, dass sie damit Golo, der danach strebte, seine Körperlosigkeit hinter sich zu lassen,  provozieren würde. 

Ein tonloser, gehässiger Schrei durchfuhr Haldana. Diesmal musste Haldana lächeln. Offenbar hatte sie Golo wirklich getroffen. 

“Ha… meinst du wirklich, dass es darauf ankommt? Solange du mein Kind austrägst! Und es wird mein Sohn sein, auch… es ist mein Kind. Alboran ist nichts anderes als ein nützlicher Vollstrecker meines Willens! Daran wird auch deine neue Leibwächterin nichts ändern… die habe ich gut für Dich ausgesucht, nicht wahr?”

Haldana hob fragend die Augenbrauen. Jetzt war sie es, die überrascht war. Eine Ränke, die auf Umwegen eine neue Leibwächterin an sie heran getragen hatte, war bei Golo sicher denkbar. Zumal, gerade in Friedwang, selbst die Praioskirche nicht davor gefeit war, von namenlosen Umtrieben überlistet zu werden. Verfolgte Golo einen Plan? Immerhin war der Nachtmahr der erste, der von Haldanas Schwangerschaft wusste, hatte davon gesprochen, ehe sie selbst es bemerkt hatte. Andererseits… genauso konnte Golo, wie so oft, einfach nur Unsicherheit auslösen und Unfrieden stiften. Das war das beängstigende bei Golo, man konnte so gut wie nie einschätzen, ob er wirklich das getan hatte, was er sagte, oder ob das alles nur reine Einschüchterung war. Verunsicherung und Ungewissheit verfolgten Golo auf Schritt und Tritt. 

Allerdings hatte Haldana es in den letzten vier Monaten gelernt, ihre Angst - die sie nach wie vor in den Gliedern spürte - zu unterdrücken. 

“Es ist nicht dein Sohn. Es ist Alborans Tochter.” sagte Haldana, einem Bauchgefühl folgend. “Mütter fühlen das. Aber das kannst du mit einer erbärmlichen, schattenhaften Existenz natürlich nicht verstehen. Und… Alfhildr macht ihren Dienst bislang ganz gut. Vielleicht werde ich meine Tochter sogar nach ihr benennen.” 

Hatte Haldana das wirklich gesagt? Und was, wenn Alfhildr wirklich durch Golos Ränke zu ihr gestoßen war? Hatte der Mahr vielleicht bewusst eine Walwütige in ihrer Nähe postiert? Plante er neue, finstere Ränke? Wer konnte das wissen? Haldana nicht. 

Aber sie wusste, dass sie keine Angst zeigen durfte. Nicht vor Golo. Also würde sie vor Golo bei ihrer Einschätzung bleiben. Sie bekam eine Tochter, jedenfalls würde sie das für Golo so behaupten. Ein Bluff, der letztlich wie ein Münzwurf gelingen oder scheitern konnte. Sie hatte letztlich keine Ahnung, konnte nichts wissen. Aber vielleicht lag sie richtig mit ihrem Bauchgefühl. Vielleicht gab es gar keinen festen, vorgefassten Plan, den Golo verfolgte. Vielleicht wollte er sich tatsächlich nur an ihrer Angst laben. Zumindest diesen Gefallen wollte sie ihm heute nicht tun. 

“So, Golo. Und jetzt amüsiere dich schön auf der Feier, auf der du nicht eingeladen bist. Ich werde inzwischen nach den Gästen sehen.” Haldana drehte sich um. Gerade kam Timoin von Binsböckel vorbei. Auch Timoin, Ziehsohn von Valyria von Baernfarn-Binsböckel, hatte ein verkümmertes rechtes Ohr. 

Der Gernat in Flammen

 

Es war schon kurz vor Mitternacht, als die ersten Gänselichter zu Wasser gelassen wurden, ein Gaudium für die nicht mehr ganz nüchternen Gäste. Einer fiel sogar ins Wasser und musste umständlich herausgezogen werden. Aber auch viele Kinder waren noch auf den Beinen.

Die wackelnden Schnitzfiguren wurden mit Stangen hinaus auf den Fluss geschoben, wobei sorgfältig darauf geachtet wurde, ihre blakenden Talglichter nicht zum Verlöschen zu bringen. Diener trugen das Floß mit dem aus Weiden geflochtenen, strohgefüllten "Ortfried" herbei, den geflügelten Wappenstier Darpatiens. Mit einem Schelch wurde der Tierkönig aller Darpatrinder hinaus gezogen und auf Kurs gebracht.

Musici spielten am Flussufer, Gaukler jonglierten mit Fackeln oder spuckten mit Hilfe von Bärlapppulver Feuer. Langsam setzte sich die Lichterprozession in Gang. Der Stier begann lichterloh zu brennen, prasselnde Flammen und Funken stiegen zum Nachthimmel empor. Weitere Gänslein schwammen Ortfried hinterher, als Strom aus Licht.

Eine heitere, gelöste Stimmung breitete sich am Rand des Zeltlagers aus. Ein paar Brandpfeile, die vom Nachtschießen übrig geblieben waren, schwirrten in den Fluss, wobei sie wie Schweifsterne eine Rauchfahne hinter sich her zogen. Am Ende des feurigen Bogens versanken sie zischend in den rot-golden glänzenden Fluten. Enten flatterten empört schnatternd auf, auch ein Schwan flog knapp über der Wasseroberfläche davon. War es Qualm oder war es Nebel, der sich da zwischen Schilf und Uferweiden ausbreitete? Es war auf jeden Fall ein archaisches Schauspiel. 

Das Ganze sollte ein Feuerwerk imitieren, wie es in Garetien oder im Horasreich in die Luft geschossen worden wäre. Der Gernat in Flammen - über die tiefere Symbolik des Spektakulums durfte gerätselt werden. Angeblich waren es 249 Holzgänslein, die stromabwärts trieben. Die Zahl entsprach den Jahren, die das Fürstentum Darpatien schon bestand, seit der Gründung durch Kaiser Bodar. Oder im Götterlauf 1043 Bestand gehabt hätte, wenn es nicht im "Jahr des Feuers" untergegangen wäre. Eine weitere Andeutung?  Die "Bunten Lichter von Perricum" gab es ebenfalls: Laternen, die mit Schiffchen hinaus aufs Meer geschickt wurden, an jedem ersten Efferd. Man konnte es als versöhnliches Zeichen in Richtung der Markgrafschaft Perricum werten, die 1028 die süddarpatischen Baronien geschluckt hatte. 

Ein Feuerstier spielte wiederum in der Artemasage eine Rolle. Die Orkschamanen hatten den grausigen Dämon während der Dunklen Zeiten beschworen, um das Tor nach Baliho aufzubrechen. Vor dem Untergang der Stadt waren die späteren Gallyser und Friedwangen in die Vorsichel geflohen. Andere behaupteten, die Gänslein stammten schlicht von einem Schiffsuntergang im Perlenmeer, und wären eigentlich traviagefällige Tempellichter. Eine kleine Bootsprozession schloss sich an, die, mit Fackeln und Laternen, nun wirklich an die Bunten Lichter von Perricum gemahnte.

Schelche und Flösse wurden gestakt, von Holzfällern und Flussfischern. Das große Ruderboot sollte irgendwie von der Orkensauffe herbeigebracht worden sein, wo Storkos Efferdinger Besitzungen lagen. Das drachenähnliche Untier am Steven meinte das legendäre Ungeheuer vom Bergsee, das einige den Riesengrottenolm nannten. Am Bug standen der "Heilige Alboran" in einem goldenen Kettenhemd (das in Wirklichkeit eine Brotkatweste war), den Nasalhelm auf den Kopf,  den Schild mit dem Balihoer Rad am Arm und das Schwert an der Seite. Mit wehendem Mantel grüßte er die Gäste am Ufer. Neben ihm stand die Heilige Artema, eine grüngewandete Waldläuferin, winkte ebenfalls und hob ihren Bogen. Irgendwie sah die Firunsdienerin ein klein wenig elfisch aus, aber das mochte am überderisch wirkenden Spiel von Feuer, Rauch, Nebel und Wasser liegen. 

Die Menge begleitete den Lichterzug bis zur Gernatsbeuge, die meisten zu Fuß, einige hoch zu Ross. Die Ehrengäste folgten dem Schauspiel von der Burgterrasse aus, darunter auch der blasse Baron Alrik, der in einem Stuhl saß und sich mit einem Becher Trollzacker stärkte.

"Ein gelungenes Spektakel, fürwahr." Storko nickte anerkennend. "Aber wir haben auch wirklich Glück mit dem Wetter. Wie geht es dir?"

"Schon besser, Danke. Ich bin eben nicht mehr der Allerjüngste. Ich glaube, es wird wirklich Zeit, dass meine Tochter Tsalinde die Amtsgeschäfte übernimmt." Zitternd lehnte sich Alrik zurück und wirkte in diesem Moment wirklich greisenhaft. "Im Götterlauf 1044 ist Schluss… dann bekommt sie ihre Friedwanger Watsche!" 

 

Storko lächelte. Mit der berühmten Ohrfeige ernannten die Baronieherren ihre Nachfolger, eingedenkt des Wahlspruchs ihres Hauses: Wer Schmerz erleidet, erinnert sich daran. Das Ganze erinnerte an die berühmte letzte Maulschelle, die ein Knappe bei seinem Ritterschlag noch unvergolten hinnehmen musste. Das Junkerpaar grüßte huldvoll die beiden Heiligen, die sich in dieser Nacht einmal nicht stritten. Stattdessen entrollten die Mimen sogar gemeinschaftlich das schwarz-silbern-rote Banner des Sichel und schwenkten es im Vorüberfahren. Artema hielt ein Jagdhorn an ihre Lippen. Tief und durchdringend hallte sein Ruf durch die Nacht.  Einen Moment lang hätte man wirklich glauben können, die echten Heiligen seien von Alveran herabgestiegen. Am Ufer stellte sich ein zahmer Bär auf die Hinterpfoten und ließ, wie zur Antwort, ein tiefes Brüllen ertönen, gut sichtbar und vor allem hörbar neben einer Feuerschale. Auch wenn ein Bärenführer die Kette hielt, wirkte der "Firunsgruß" nicht einstudiert. Womöglich war der brüllende Bär Zufall - oder gar ein Zeichen des Weißen Jägers?

"Sogar Alboran und Artema geben sich die Ehre?! Schöne Kostüme. Wo hast du die denn aufgetrieben?" Es war Glyrana, die gefragt hatte.

Baron Alboran antwortete an Stelle seines Vaters. "Nun, im Praiosmond findet bei uns jedes Jahr ein Mysterienspiel statt, auf dem Marktplatz von Friedwang. Die Rollen der beiden Heiligen sind begehrt, beim Auszugsfest...ich weiß gar nicht, wie das Pärchen heuer heißt."

"Edelfried und Ilara, glaube ich. Oder Hildara? Ach, was weiß ich..." Der Baron von Friedwang winkte ab. "Nur schade, dass Erlaucht Svantje von diesem Schauspiel nichts mitbekommt. Ich wollte ein wenig die Werbetrommel für den Sichelhag rühren. Bislang waren wir ja immer nur der Hinterhof Darpatiens."

"Ja, es ist schade, alles passt wunderbar. Sogar der Fluss führt ausreichend Wasser." Auch Wehrvogt Storko hätte liebend gerne seine Dienstherrin beeindruckt. 

"Aber man wird der Markgräfin sicherlich berichten. Einstweilen hoffe ich nur, dass es keinen Waldbrand gibt… Oder einen Schilfbrand." 

Tatsächlich flackerten gernatabwärts die ersten Flammen im Unterholz. Eine der Kähne eilte auf den Brandherd zu, Eimer wurden ins Wasser getaucht und das Feuer gelöscht. 

Noch einmal stieg eine Salve Brandpfeile sichelförmig in den Nachthimmel und stürzte feurig in den Fluss. Beifall brandete auf, Aahs und Oohs erklangen. Dann war die Prozession vorbeigezogen. Der Stier qualmte nun mehr statt zu brennen, bald würde das Relikt des alten Darpatien  verlöschen. Nach und nach wurde es dunkler auf dem Fluss. Nur die unzähligen kleinen Traviagänschen leuchteten unverdrossen weiter, wie Glühwürmchen in einer Sommernacht. 

 

Abendstimmung

Ein kühler Hauch folgte dem abgehakten, chaotischen Flug des Nachtmahrs. Einige Gäste fröstelten leicht und wunderten sich über einen spontanen unerklärlichen Temperaturabfall, ohne jedoch eine Erklärung dafür finden zu können - hatte sich der Nachtmahr doch bisher niemandem sonst außer Haldana und jetzt auch Alrik gezeigt.

Golo hatte gute Lust, seinem Zorn freien Lauf zu lassen und Verwirrung und Furcht unter den Festgästen zu verbreiten. Doch er hielt sich im Zaum. Sicher, Chaos war vom Güldenen wohl gelitten. Aber es brachte ihn im Augenblick nicht weiter. Es war nicht gelungen, Haldana von einem der Borbaradmoskitos stechen zu lassen. Dass er sich bei Alrik anschließend als Retter Haldanas präsentierte war aus der Not geboren. Vielleicht kein guter Plan. Aber er konnte es nicht überwinden, hier keinen Erfolg gehabt zu haben. Mit dieser Schmach vor sich selbst konnte er nicht existieren. Also hatte er sich Alrik offenbart und zum Beschützer des Enkels inszeniert. Beschützer des Enkels, ja, sicherlich, so verstand Golo sich zwar. Jedoch hätte ein Moskitostich und die zu erwartenden Auswirkungen auf das ungeborene Kind gut in seine Pläne gepasst. Das war, fürs erste, misslungen.

Was ihn aber noch viel mehr wurmte als der Misserfolg war, dass Haldana keine Angst vor ihm zu haben schien. Seinem Verständnis nach war er der Ehemann Haldanas, egal, was diese hier jetzt für eine Scharade mit Alboran abzog. Und in der Ehe stand der Mann der Frau vor, so war es eine unverrückbare Gesetzmäßigkeit. Jedenfalls Golos Empfinden nach. Er war es gewohnt, zu entscheiden, wann er Haldan auf- oder vielmehr heimsuchte. Und er entschied, wann er sie wieder stehen ließ. Dass nun Haldana ihn hatte stehen lassen, kränkte seine Eitelkeit auf das Immenseste.

Ein tonloser Schrei durchdrang die Stille. Ein Schrei, den niemand hörte, der aber dennoch ein allgemeines Gefühl der Beklemmung bei den Empfindsameren der Festgäste auslöste.

 

Gisla erschrak. Warum? Sie wusste es nicht. Der Gernat in Flammen hatte erhaben gewirkt, hatte die Burg und die umliegende Landschaft angenehm heimelig wirken lassen. Überhaupt, die ganze Festlichkeit, der Tanzabend - sie hatte tatsächlich nicht nur einen Tanz mit dem Bruder der Baronin getanzt und sich auch nicht daran gestört, dass dieser ihr das eine oder andere mal auf den Fuß getreten war - und die anschließende feierliche Aufnahme der Schlotzer Baronin in den Sichelhager Bund schienen gut gelungen, gut durchchoreografiert gewesen zu sein. Ihre Lehrherrin Glyrana hatte wirklich alles bis ins letzte Detail geplant und gut organisiert. Überhaupt, Glyrana schien einen Blick für Menschen zu haben. Ohne ihre Aufforderung hätte sie vermutlich Travian nicht zum Tanz gebeten - in einer als hinterwäldlerisch geltenden Region wie dem Sichelhag galt es mitunter als unschicklich, wenn eine Frau den Mann zum Tanz bat, die Rollen waren hier oftmals noch traditioneller verteilt als in Garetien. Es hatte wohl den kleinen Schubs ihrer Lehrherrin gebraucht. Letztlich waren die Tänze mit Travian aber sehr angenehm und unterhaltsam gewesen - nicht wegen der tänzerischen Fähigkeiten des Oppsteiner Knappen, die sicher noch ausbaufähig waren. Es war… mehr die zurückhaltende Verlässlichkeit, die Haldanas Bruder ausstrahlte.

Also hatte sie während des Gernats in Flammen Travians Nähe gesucht und sich angeregt mit ihm unterhalten. Man musste dem sonst eher stillen Knappen des Oppsteiners einfach nur Gelegenheit geben, aufzutauen, hatte sie angenommen, und damit recht gehabt. Man musste ihm einfach nur zuhören, ihn erzählen lassen über sein Knappenleben auf Burg Oppstein. Wie Gisla angenommen hatte, war Travian nicht wirklich glücklich mit der Entscheidung seines Vaters, ihn gerade in Oppstein zur Knappschaft zu geben. Travian war ein geradliniger junger Mann, sehr in den Idealen des rondragefälligen Ritterstandes und mit einem traviagefälligen Familienbild erzogen. Mit dem teils ausschweifenden Lebensstil seines Lehrherren konnte er sich nicht recht anfreunden. Und warum sein verstorbener Vater seinerzeit gerade den Baron von Oppstein ausgewählt hatte, vermochte er nicht einzuschätzen. Das Oppsteiner Land selbst hingegen schien Travian zu gefallen. Er schilderte Markt Oppstein und das umliegende Land als liebliche, beschauliche Landschaft. Nun, da schien eben doch der sichelhager Menschenschlag bei Travian durchzukommen. Wobei er durchaus auch ihren Erzählungen zu ihrer garetischen Heimat lauschte und sich interessiert zeigte und sein Interesse auch weiter als nur durch die Täler des Sichelhag richtete.

Gisla hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, warum sie die Nähe Travians suchte. Aber spätestens Übermorgen würde er seinem Lehrherrn zurück nach Oppstein folgen. Und dann hätte sie keine Gelegenheit mehr, mit einem etwa gleichaltrigen jungen Adeligen zu sprechen. Glyranas und Storkos Kinder waren schließlich noch deutlich jünger.

Sicher hatte Glyrana ähnliche Gedanken gehabt, als sie sie aufgefordert hatte, mit Travian zu tanzen.

 

Golo fuhr, immer noch zorngetrieben, herunter. Ein eiskalter Luftzug, kaum einen halben Augenblick lang, folgte der Bahn, die der Nachtmahr zog. Die Laterne, die Travian in der Hand hielt, erlosch. Der junge Binsböckel erschrak, seine Nackenhaare stellten sich auf. Einem Schild gleich hob er die Laterne vor sich, eine reflexhafte Reaktion, auch wenn Travian noch nicht einmal wusste, wen er denn hätte abwehren sollen. Gisla, ebenso reflexhaft, stieß einen kurzen Schreckenslaut aus und sprang, gleichermaßend beschützend wie selbst schutzsuchend, zu Travian.

Der kurze unheimliche Moment war ebenso rasch wieder verflogen, wie er gekommen war. Golo verspürte keinen Drang, sich weiteren Festgästen zu zeigen. Schlimm genug, dass er sich dazu hinreißen gelassen hatte, Alrik heimzusuchen. Sicherlich wäre es ein Spaß gewesen, Haldanas Bruder einzuschüchtern. Aber das hieße auch, dass die Baronin mit ihrem Bruder über ihn reden könnte anstatt befürchten zu müssen, dass man sie schlicht für verrückt hielte, würde sie von ihren Erfahrungen mit einem untoten, geisterhaften Ehemann erzählen. Also verflog der unheimliche Nachtmahr sich.

Das angenehme Gefühl, einen Menschen, dem er trotz der erst kurzen Bekanntschaft vertraute, nahe zu sein, blieb Travian.

 

Nächtliche Alpträume

Die Schlotzer Vögtin Adginna von Binsböckel kuschelte sich an ihren Gemahl. Sie fühlte sich geborgen, es war vertraut. Dabei war es so lange her gewesen, seit die Vögtin ihren lieben Gemahl Tsafried in die Arme geschlossen hatte. Es war… viel zu lange her gewesen. Wo war Tsafried solange gewesen? 

Einen Augenblick lang durchzuckte Adginna die schaurige Wahrheit. Ihr Gemahl war seit über zehn Jahren tot. Aber dann verbarg sich die Wahrheit wieder hinter dem wohligen Gefühl, dass alles so war, wie es sein sollte. So wie die Götter es gefügt hatten, die Herrin Travia allen voran. Der Herrin Travia, der das liederliche Treiben mancher Wilddiebe, Vagabunden oder anderer Strolche, die sich im Wald verbargen, so sehr zuwider war. Mochten diese sich auch auf die wie auch immer gearteten Alten Kulte berufen, es war nie sicher, ob nicht doch die Einflüsterungen des Ungenannten dahinter standen. Die Herrin Travia, die Adginna immer geehrt hatte, deren Gebote sie auch in der langen Zeit ohne ihren Gemahl nie vergessen hatte. 

Ein meckerndes Lachen. Woher kam das? 

Adginna kuschelte sich wieder an Tsafried. “Ich werde diese unheiligen Anbeter der Finsternis vernichten” murmelte Tsafried. “Es muss sein, in der Tsa und der Travia Namen. Sie werden sterben, sie müssen sterben!” 

Alles hörte sich so klar an. Adginna kam, in der wohligen Umarmung Tsafrieds, gar nicht der Gedanke, dass ein Gemetzel nicht im Sinne Tsas oder Travias sein konnte. Es war einfach so lange her. Hatte sie das vermisst? In den Jahren ohne Tsafried? Aber Tsafried war doch hier. Wieder schlummerte Adginna sanft ein. 

Wenn Adginna wüsste, wessen sanfte, unstoffliche Berührung sie im Halbschlaf für die ihres verstorbenen Mannes hielt! Golo kicherte schrill und lautlos zugleich in sich hinein. Er, der wahre Gemahl der Tochter der Vögtin, zugleich der Vater von deren zweiten Ehemann, und nicht zuletzt derjenige, der Adginnas Angetrauten in den Tod geschickt hatte… der den Baron erfolgreich gegen seine den alten Kulten anhängenden Untertanen aufgehetzt und damit das Schlotzer Land beinahe den Anhängern des Güldenen ausgeliefert hätte. 

Adginna erinnerte sich an die Beratungen, die sie und Tsafried geführt hatten. Damals, als versprengte Söldnerhorden, Anhänger finsterer Kulte, der Rotpelz und andere bewaffnete Haufen, die die Lande westlich der Sichelberge heimsuchen. Und inmitten all dessen, vergleichbar einer kleinen Insel in sturmaufgewühlter See, Burg Schlotz, die sich der Angriffe vieler verschiedener Feinde erwehrte. Die Zeit, als die Entscheidung gefallen war, die vermeintlich schwächste der bewaffneten Haufen, die Anhänger der Alten Kulte, entweder auf die Seite des Barons zu zwingen oder aber zu besiegen. 

Ein Ansinnen, das schief gegangen war, auf das Gründlichste. Das zur Erhebung von Gernatsborn, Gernatsquell, Schattenholz und der anderen Edlengüter geführt hatte und letztlich zum Tod Tsafrieds. War Adginna mitverantwortlich für den Tod des Gatten? Dieser furchtbare Gedanke fuhr peinigend durch ihre Gefühle. 

Ein kalter Schauer fuhr durch Adginnas Glieder. Ihr Gemahl war tot! Tot seit über 10 Jahren! Wer hielt sie da im Arm und spiegelte ihr vor, der vor Travia Angetraute wäre da? Oder hatte sie nur geträumt? 

Hätte sie Tsafried hindern können, in sein Verderben zu ziehen? Hätte sie ihn davon abhalten können, gegen die Alten Kulte ins Feld zu ziehen? Wäre eine andere Entscheidung besser gewesen? Hatte sie selbst den Tod ihres Mannes zu verantworten? Hätte sie das Unheil verhindern können? Hatte sie selbst Schuld auf sich geladen?  Adginna fuhr auf. Klatschnass war das Laken auf ihrem Bett. 

Die Flügel des Fensters ihrer Kammer klapperten im Wind. Dabei hatte sie es doch geschlossen, als der Regenschauer über Gernatsborn herniederbrach. Da war Adginna sich sicher. Warum stand das Fenster jetzt wieder offen? War jemand in ihrer Kammer gewesen? 

Und wieso hatte sie das Gefühl gehabt, jemand hielte sie im Arm? Niemand war da! Sie war allein in ihrer Kammer. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Alles war so real erschienen. 

Ein Ziepen im Haar, das sich verknotet im Bettgestell verfangen hatte, fuhr ihr schmerzhaft in die Kopfhaut. 

Adginna schauerte. Ein beunruhigtes Gefühl ergriff von ihr Besitz, auch wenn sie sich nicht so recht erklären konnte, wieso. 

Ein Alptraum, eine schlechte Erinnerung, herrje, das war doch nichts, was eine Vögtin aus dem Hause Binsböckel aus der Ruhe bringen konnte. Oder nicht? 

 

Aptraum einer Elfe

 

Nepolemo hatte Nahéniel und Balrik ein Bier ausgegeben, und es wäre unhöflich gewesen, es abzulehnen, die Elfe hatte jedoch nur daran genippt (nur ganz wenig) und sobald Balrik seinen Krug geleert hatte, hatte sie ihm ihres in die Hand gedrückt. Die Abende verbrachten sie am Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten und sangen Lieder, während sie tagsüber dem Turnier als Zuschauer beiwohnten und sich unter die Menschen begaben. Nepolemo, der sich auch immer wieder als Seidenklang vorstellte, hatte aber Nahéniel kein zweites mal Alkohol angeboten; dafür ließ er einem an seinen zahlreichen Geschichten teilhaben, und bei diesem wurde er nicht müde sie zu erzählen.

Dennoch hatte Nahéniel auch bei dem wenigen Bier, das sie getrunken hatte, ein schlechtes, flaues Gefühl im Magen.

Die Luft hatte sich am Abend deutlich abgekühlt und Nahéniel fröstelte. Sie zog sich mit Balrik in das Zelt zurück und dort schliefen sie irgendwann ein.

 

Eine Elfe! Golo hasste Elfen, nicht zuletzt vor allem deshalb, weil man ihn selbst ob seiner Neigung oftmals selbst Elfchen bezeichnet hatte. Damals, als er noch lebte ...

Für einen Moment zögerte Golo. Es war ein Wagnis. Der Mahr wusste nicht, inwieweit ihm elfische Magie zum Verhängnis werden konnte. Außerdem… er kannte die Elfe nicht. Aber wenn eine Elfe hier im Turnierlager weilte, während dieser verfluchte Waldläufer Odilon hier als Turnierrichter tätig war, dann konnte es doch eigentlich nur diese Jirka Athrawaneja sein, die Gespielin des Waldläufers, dachte Golo gehässig. Golo wusste nicht, ob ihn die Gefahr mehr lockte oder einschüchterte. Aber er war bereits tot. Was hatte er also zu befürchten? Ohnehin, so mutmaßte er schon seit der Schlacht um den Schatz der Mallachai, dass die Elfe ihre Geheimnisse hatte. Geheimnisse, die ihm Nutzen konnten, würde er Kenntnis davon erlangen. Golo schwebte auf die Elfe zu, die er für Jirka hielt.

Unruhig warf Nahéniel sich auf ihrer Bettstatt hin und her. Die Elfe spürte die unnatürliche Präsenz, die sich näherte, auch im Schlaf. Doch sie wachte nicht auf. Sie träumte: Erst ein unscheinbares Bild, das sich langsam aufklarte. Sie träumte von untoten Orks, die sich erhoben und mit rostigen und zackigen Klingen auf eine kleine Schar Menschen einschlugen? Irgendwo an einem Bach, der sich durch eine Heidelandschaft zog. Was mochte dieser Traum bedeuten, fragte sich die Elfe. Dass er eine Bedeutung hatte, war ihr klar - Träume hatten immer eine Bedeutung. Von welcher Schlacht träumte sie da? War es während den Schlachten in Tobrien als Borbarad seine Scharen durch das Land führte? Nein, ihr kam diese nicht bekannt vor. In ihr kam der Wunsch auf, den bedrängten Rosenohren gegen die untoten Kreaturen beizustehen, und ehe sie es sich versah, hatte sie einen Bogen in der Hand, stand auf einem Felsen über dem Fluss und hob schon zum ersten Schuss an, als sie eine Stimme hörte, eine durchdringende, bohrende Stimme:

„Wie hast du die Mallachai besiegt?“

Nahéniel blickte sich um, doch sie sah niemanden. Mallachai? Hatte Nahéniel diesen Namen schon einmal gehört? Waren die untoten Orks damit gemeint? Sie vermochte das nicht zu sagen. Ohnehin verstand sie die Frage nicht, die durch ihren Geist drang. Sie hatte niemanden besiegt, hatte diese Schlacht niemals gefochten; denn da war sie sich jetzt sicher. Was für wirre Träume suchten sie da heim?

Und dann spürte sie diese Präsenz in ihren Träumen, eine fremde Präsenz, eine dunkle Präsenz. Sie blickte sich um und konnte ein Schemen ausmachen, das hinter den untoten Orks kaum zu erkennen war. Es war nicht ihr Traum. Es war sein Traum. Sie hob erneut ihren Bogen und schoss einen Pfeil auf diesen Schemen.

Ein tonloser Schrei fuhr durch den Traum.

Schwärze.

Eine namenlose Schwärze umfing sie.

„Du bist nicht Jirka!“, hörte sie wieder die Stimme, jetzt schmerzverzerrt.

Natürlich war sie nicht Jirka! Wer war diese Jirka überhaupt? Eine Elfe, die ihr ähnlich sah?

Stille.

Hasserfüllte Stille.

Tonloses Kreischen.

Dann stand sie plötzlich vor einem Gasthaus und Klänge von Musik und Gerede drangen an ihr Ohr. Spielte da ein Barde? War das nicht das Gasthaus, in dem ihr Nepolemo neulich ein Bier ausgegeben hatte? Sie betrat das Haus.

Eine hünenhafte Gestalt mit Schürze kam auf sie zu. Es war wohl der Wirt. „Elfen bekommen hier nichts, weißt du das nicht?“ herrschte er sie an. Der Wirt von diesem Gasthaus am Gernatufer, der sie nicht bedienen wollte. Nahéniel zuckte mit den Schultern und wollte sich abwenden.

Doch eine kräftige und speckige Hand packte sie an ihrem Gewand, zog sie vom Hocker am Tresen (warum saß sie plötzlich auf einem Hocker? Sie wollte sich doch nicht setzen ...) und hob sie mühelos hoch. So groß hatte sie den unfreundlichen Wirt ja gar nicht in Erinnerung. Die Pranke des Wirts hob sie in die Höhe. Die barsche Stimme dröhnte durch den Schankraum.

„Elfen ist es bei Strafe verboten, Bier zu trinken!“, dröhnte die Stimme des Wirtes. „Die Strafe wird sofort vollstreckt. Bursche, bring mir Hammer und Nagel!“

Nahéniel wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wob einen Beruhigungszauber, damit der Wirt sie los ließ; aber er zeigte keine Wirkung!

Plonk.

Ein dumpfes Geräusch erklang, als der Wirt sie heftig an die Tür drückte. Es war ihr Schädel, der so dröhnte.

„Gib mir den Hammer, Bursche!“ erscholl wieder die laute Baßstimme des Wirtes. „Und halt den Nagel fest.

Nahéniel stellte sich vor, wie sich ein Messer in ihrer Hand materialisierte - eine in Träumen gängige Praxis - damit sie sich damit erwehren konnte; doch die Hand blieb leer! Panik stieg in ihr auf. Die dunkle Gestalt vom Flußufer ... sie kontrollierte ihre Träume!

Ein stechender Schmerz. Das Schlagen von Metall auf Metall, ganz dicht an ihrem Ohr.

Der Nagel drang durch ihr nach oben spitz zulaufendes Ohr, bohrte sich in das Holz der Schankraumtür. Wurde es warm? Rann ihr eine dünne Blutspur vom Ohr den Hals hinunter?

Ein keckerndes Lachen aus dem Schankraum. Nahéniel konnte nicht erkennen, wer da lachte. War da irgendein schiefhalsiger Gast unter den Kneipenbesuchern, der da besonders laut lachte?

Einem riesigen Vollmond gleich blickte sie in das blasse Gesicht des Wirtes, hörte das metallische Hämmern dicht neben ihrem Ohr.

Naheniel schrie!

Dann erwachte sie.




Zweiter Turniertag

  1. Travia 1043 BF

Unerwartete Verwandte

 

Verwandtschaft kann man sich leider nicht aussuchen und dennoch ist Blut dicker als Wasser. Diese beiden alten Weisheiten kursieren in jeder Generation und werden an die nächste weitergegeben. Sie scheinen ein nicht aufzulösendes Gegensatzpaar mit universeller Gültigkeit darzustellen, zumal es scheinbar in jeder Familie ein "schwarzes Schaf" zu geben scheint, für dessen Existenz sich die Familie kollektiv schämt und welche die gewisse Person am liebsten über den Haushintereingang einkehren ließe. Seltsamerweise gewährt man am Ende des Tages diesem schwarzen Schaf dennoch den Einlass. Kaum hat man diesen Faux-Pas begangen, bereut man ihn kurz nach Überschreiten der Türschwelle. Zu spät, das Unheil ist angerichtet und es gilt fürderhin  das Credo der Schadensbegrenzung. Um einen solch allseits geliebten Blutsverwandt en handelte es sich bei Waldemar von Binsböckel, einem titel-, vermögens- und landlosen entfernten Tunichtgut. Sowohl der Weidener als auch der darpatische Zweig des Hauses Binsböckel leugneten unisono eine direkte Zugehörigkeit und man ging davon aus, Waldemar gehöre eher dem unbekannten tobrischen Familienzweig an. Fakt war, dass der Binsböckel zu jedem Hochzeitsfest erschien, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Man hatte sich schon daran gewöhnt, keine Geschenke von ihm zu erwarten. Auch war man froh, wenn er dem Gastgeber nicht wieder sturzbesoffen willkommen hieß und als Lieblingsverwandten dabei in die Arme schloss. Die Kunst bestand darin ihn von den übrigen Gästen fern zu halten, um den eigenen Ruf nicht zu schädigen. Dieser Kunst kamen die meisten Binsböckel nach, indem sie ein extra Fässchen Wein nur für den speziellen Gast vorbereiteten, dem meist etwas Schlafmittel zugegeben wurde. Nur soviel, wie nötig, um ihn von den Festlichkeiten fern zu halten, aber genug, um ihn für die ganze Dauer des Festes einen borongefälligen Schlaf zu bescheren. Meist wurde dafür sogar ein extra Kämmerchen ohne Fenster im Keller hergerichtet, dessen Tür verschlossen, zugenagelt, mit zwei Wachen versehen und anschließend der Schlüssel zumindest zeitweise versehentlich verloren wurde.     

Doch es wäre Waldemar Unrecht getan ihn als Nichtsnutz einfach abzutun. Jeder Mensch verfügt über spezielle Eigenschaften und das waren bei dem 25-jährigen rotblonden 1,65 Schritt kleinen Binsböckel sogar deren zwei. Zum einen war er wohl die einzige Person in Aventurien, die nicht nur alle - und gemeint sind wirklich alle - Weinsorten durch nur eine Verkostung auseinanderhalten konnte und dabei noch in der Lage war zu bestimmen, aus welchem Jahr der Traubensaft stammte. Nein, er schien die Gunst der Götter zu haben, stets zur falschen Zeit am falschen Ort zu landen, um dort in einem lichten Moment genau das Richtige zu tun. Dies natürlich nicht absichtlich, sondern gleich einem toten Ast, der vom Fluss an die ihm vorbestimmte Stelle getragen wird. 

In jedem Fall war der Binsböckel der Einzige, der stets auf Reisen war und statt eines Wasserbeutels drei Weinschläuche an seinem Gürtel trug. Über ein Kettenhemd verfügte das schwarze Schaf nicht, jedoch nannte er einen Wamms sein eigen, der von einem blau-weißen Stoff verdeckt war, der das Familienwappen der Binsböckel trug: ein weißes bzw silbernes Einhorn auf blauem Grund. Und so schlenderte der pferd- und auch sonst reittierlose Wanderer zum Hochzeitsfest, von dem er vor 3 Tagen durch Zufall erfahren hatte. Sein Glück schien ihm Hold zu sein, war dies doch eine nette Gelegenheit wieder die alten darpartischen Verwandten zu sehen und ausgelassen die ein oder andere Keule mit Rotkraut zu verspeisen. Natürlich freute er sich auch auf den Wein, der bei solchen Gelegenheiten reichlich floss und zudem seine fast leeren Beutelchen wieder auffüllen sollte. Gerade Hochzeiten des Hochadels, sprich im Baronsrang aufwärts zeichneten sich durch besonders erlesene Speisen und süßen Wein aus südlichen Landen aus. Und die vielen lieben Verwandten boten gute Gelegenheit zu einem Plausch. Interessanter Weise erfuhr er meist von den weidner Verwandten die Hochzeitstermine des darpatischen Zweiges und umgekehrt. Waldemar sah dies als Zeichen, wie sehr sich seine Familie darum kümmerte den gemeinsamen Zusammenhalt zu stärken. Auch sonst war der Binsböckel nicht mit einem allzu wachen Blick auf das Weltgeschehen gesegnet. Zumindest nicht, wenn der Alkohol in seinen Adern floss. Sprich, so gut wie nie. Nein, diese Hochzeit war etwas ganz besonderes, denn die Baronin trug nicht nur den wohl klingenden Namen Binsböckel, sie wurde auch standesmäßig als Baronin von vielen als das eigentliche Oberhaupt und wichtigstes Mitglied des darpatischen Binsböckelzweiges betrachtet - damit eine Autoritätsperson.

Waldemar sah schon die Zelte, die Burg und die vielen Spielleute auf deren Weg zu den Festlichkeiten, als er am Morgen des 16. Tag des Traviamondes 1043 BF ankam. Ob des Wappens auf seiner Brust grüßte man ihn auf seinem Weg besonders oft, auch wenn die meisten sein Gesicht zuvor nie gesehen hatten.

Umgekehrt sah man von Ferne schon seine Ankunft – doch da es sich bei Gernatsborn nicht um eine  Burg der Binsböckel sondern der Mersingen handelte, wurde der drohende sich übers Land legender Schatten, der nichts Gutes verhieß, zunächst nicht als solcher erkannt. Rasch nach der Ankunft entschied man sich jedoch auf der Feste dem erwarteten Familienmitglied ein Empfangskomitee entgegen zu senden, bestehend aus zwei Wachen, einem Knappen und einem Esel mit vielen Seilen. Und als das Empfangskomitee eintraf, um den ach so (un)willkommenen Gast zu seinem neuen Domizil umzuleiten, freute sich Waldemar ungemein. Er liebte diese Aufmerksamkeiten und kleinen Gesten eines herzlichen Willkommensgrußes. Entsprechend folgte er anstandslos den Frauen und Männern in einen ruhigen Seitenweg. Natürlich verzichtete er nicht darauf seine Begleiter vom langen staubigen Weg und seiner trockenen Kehle in Kenntnis zu setzen. In der Zeltstadt am Fuße der Burg angekommen wurde er von einem Verwandten begrüßt. Es handelte sich um Eckbert von Binsböckel, der leider bei der Auslosung das kürzeste Streichholz zog womit ihm diese ehrenvolle Aufgabe übertragen wurde. Die Burg Gernatsborn verfügte über viele Treppen und Räume. Meist gingen für Waldemar die Treppen hinunter. Diesmal führten sie ihn jedoch in ein Zelt am Turnierplatz mit einem Schlafbereich. Ein sauberes Bettlaken, ein kleiner Tisch, Wechselkleidung und ein Waschkrug zeichneten das Zelt aus, wobei Waldemars Augen schnell einen kleinen Krug und ein Weinfässchen im durstigen Blick hatte. Auch eine Schweinshaxe, vom Fest des Vorabends, stand parat. Aufgrund der Beschwernis der Reise ließ ihn Eckbert im Zelt zurück und verabschiedete sich nochmals herzlichst bis später. Gewohntermaßen war dies ein längeres Später, was aber keinen der Beteiligten störte, denn wo fühlt man sich wohler, sicherer und geliebter als bei der eigenen Familie?

Der Auslosung zweiter Teil

 

"Meine werten Gäste, ich hoffe, ihr habt unser gemeinsames Fest bislang in vollen Zügen genossen." Baronin Haldana blickte freudestrahlend in die Runde, mit Alboran an ihrer Seite.

Es war der frühe Vormittag des zweiten Turniertags. Das Wetter versprach angenehm zu werden. Immer wieder blinzelte die Sonne hinter den Herbstwolken hervor, der Kampfplatz war ein wenig abgetrocknet. Die Gäste hatten sich in prachtvoller Gewandung auf der Tribüne versammelt (so sie von Stand, aber keine Tjostierer waren), drängten sich mit derben Kitteln an die Absperrung (so es sich um gemeines Volk handelte) oder rüsteten sich beim Zeltlager für den Lanzengang. Eines stand schon jetzt fest. Der heutige Tag würde vom Klang schnaubender, stampfender Rösser, splitternder Lanzen und klirrenden Stahls erfüllt werden.

Die Herrin von Schlotz trat an ein Tischchen, auf dem der bekannte verhüllte Korb stand. Haldana drückte ihrem selig lächelnden Gemahl einen Kuss auf die Wange. "Wir sind auf jeden Fall glücklich. Umso mehr, wenn ihr es seid."

Praios Antlitz zeigte sich mit einem Mal unverhüllt, warmes Sonnenlicht fiel herab. Die Fahnen der Gäste wehten im Wind, als wollten die Götter zeigen, dass sie dem Turnier gewogen waren.

"Wie ihr wisst, nähern wir uns heute dem glanzvollen Höhepunkt unserer Hochzeitsfeier: dem Tjost. Die edlen Rittfrauen und Ritter, die im Angesicht Rondras eine Lanze brechen wollen, fiebern diesem Ereignis sicher schon ungeduldig entgegen. Doch seht zunächst den Siegespreis. Eine Brünne aus der Werkstatt eines legendären Wehrheimer Harnischmachers. Niemand Geringeres als Meister Bakshan Arvo hat die Rüstung gefertigt."

Ein Wink, und zwei Diener im Gernatsborner Livree eilten herbei, mit den Einzelteilen einer Gestechrüstung: Helm und Harnisch sowie mehrere Arm- und Beinteile. Geraune kam auf. Ein echter Arvo sollte das sein? Aus dem Stimmengewirr war ungläubiges Staunen herauszuhören. Wehrheim war untergegangen, der polierte, glänzende Stahl sah nicht so aus, als wäre er aus den Trümmern der Grafenstadt geborgen worden. 

"Hier seht ihr das eingeprägte Zeichen des Meisters", sagte Haldana und deutete auf die Marke, die aus der Entfernung natürlich niemand sehen konnte. "Es ist unverkennbar eine echte Bakshan-Rüstung, die vor kurzem in Rommilys aufgefunden wurde, nach einem, äh, Hausbrand. Meister Rovik, ein Zwergenschmied hat die nötigen Reparaturen ausgeführt. Aber seid versichert, es ist eine vortreffliche Arbeit, an der sogar Armbrustbolzen und Balestrinakugeln abprallen würden. Ein seltenes Meisterwerk des Plattnerhandwerks." 

Rovik, der Zwerg, genoss ein wenig den Applaus. In gespielter Verlegenheit strich er über seine lederne Schürze und den üppigen Bart. Er brauchte ja niemand zu wissen, dass "die nötigen Reparaturen" eigentlich ein Komplettumbau gewesen waren. Der verrückte Vorbesitzer hatte die edle Gestechrüstung in eine Art "Eiserne Jungfrau" verwandelt, offenbar um Magiekundige darin einzusperren. Zauberer mochte der Zwergenschmied zwar auch nicht besonders leiden. Aber einen Klappenmechanismus mit Springfeder, Sperrriegel und Auslöser in ein derartiges Kunstwerk einzubauen, war nun wirklich ein Frevel an Angrosch gewesen. Mit einem echten Zwergengroßmeister durfte sich dieser hochgerühmte Bakshan Arvo natürlich nicht messen. Aber der Harnischmacher hatte zweifelsohne Talent, oder zumindest hatte er es mal besessen. Rovik war sich nicht ganz sicher, ob Bakshan den Untergang des alten Wehrheim überlebt hatte.

Der kleine Mann ballte beide Hände über seinem klobigen Kopf zusammen, wie ein Immanchampion, und genoss ein wenig den seltenen Moment des Beifalls. Die Großlinge ahnten ja nicht einmal, wieviel Arbeit in so einer Gestechrüstung steckte. In all dem schönen Metall, das sie in den nächsten Stunden wieder mal sinnlos zerbeulen und zerdellen würden. Er hatte sich mit seinen Gehilfen darauf vorbereitet, den einen oder anderen Schlachtenbummler aus seinem verformten Helm zu befreien, oder auch nur abgeschlagene Diechlinge und Armkacheln anzuflicken. So bedauerlich es war, wenn diese Verrückten hoch zu Ross aufeinander los stürmten. So interessant war das Ganze doch aus handwerklicher Sicht. Da drüben brannte schon das Schmiedefeuer, das eine oder andere Ersatzteil lag ebenfalls bereit. Nicht zuletzt ließen sich bei einem Turnier auch ein paar anständige Goldstücke verdienen. 

Haldana hob die Hand. "Bevor unsere edlen Recken zum rondrianischen Waffenspiel antreten, gilt es noch einen echten Zweikampf zu bestreiten. Leider hat einer unserer Gäste einen anderen Gast auf das Übelste beleidigt. Das verlangt nach Genugtuung." 

Die heiteren Gespräche auf der Tribüne verstummten. Ein Streit mit einer üblen Beleidigung? Davon hatte gestern Abend niemand etwas mitbekommen. Auch wenn Zwist und Hader dem Adel immer irgendwie auf dem Fuße zu folgen schienen. Der letzte Gang bei einem Bankett war eben allzu oft der Waffengang.

Ein erneutes Zeichen, und die Fanfarenbläser hoben ihre Instrumente. Statt dem stolzen Schmettern, wie es bei den gestrigen Kämpfen zu hören gewesen war, stieg aus den Röhren nur ein klägliches Tröten und Quaken auf. Es hörte sich an wie diese scheußlich klingenden "Mohatrompeten", die eine Zeitlang bei den Allaventurischen Immanmeisterschaften in Mode gewesen waren. Hatten die Diener vor kurzem einen zu viel über den Durst getrunken, wie der eine oder andere der Festgäste?

Wenig später löste sich das Rätsel auf. Zwei Ritter erschienen am Rand der Turnierbahn, die irgendwie geschrumpft zu sein schienen, ebenso wie ihre Reittiere, die von Gauklern geführt wurden. Der eine Kämpfer, den eine Kinderrüstung aus Blech umhüllte, saß auf einem winzigen Pony, als Wappen trug er einen nasendrehenden knallbunten Schelmenkopf auf fliederfarbenem Grund. Der andere Kombattant ritt auf einem feisten Mastschwein in die Arena. Auch der zweite Ritter war gerade einmal kindergroß, sein Wappen zeigte ein rosa Ferkel auf veilchemblauem Grund, der Kopf wurde von einem gehörnten Helm verborgen. Bei seiner Rüstung handelte es sich nur um metallgrau angemaltes Leder. 

"Darf ich vorstellen? Der Edelmann mit dem Narrenwappen ist Pipifax, der Fürst der Gnome. Zum Duell hat ihn Schweinsfurz gefordert, der König der Sichelhaggoblins. Niemand weiß, wofür genau Seine Majestät Genugtuung verlangt, nur dass die Schmähung fürchterlich war."  Haldanas Stimme klang stockend, als habe sie das Gesagte auswendig gelernt. 

Der "Gnomenfürst" lüpfte sein Spielzeugvisier - zum Vorschein kam das bartlose Gesicht des Menschenzwergs aus der Gauklertruppe. Rovik blickte ein wenig säuerlich. Das unglückliche Menschlein war die Frucht einer bösen Laune der Natur. Wahrscheinlich wurde der falsche Angroscho bei anderen Gelegenheiten als Zwergenkönig oder dergleichen vorgestellt. Ganz so, als handele es sich beim Zwergensein um eine Art Verkrüppelung, eine Missbildung oder ein angeborenes Leiden...ein Scherz, das alles sollte nur ein Scherz sein.

Immerhin, Haldana war so taktvoll gewesen, den "Wichtel" zum Gnomenfürsten zu erklären. Tatsächlich suchte die Baronin den Blickkontakt mit Rovik, als wolle sie sich entschuldigen, und zuckte mit der Schulter. Ihr zwergischer Freund nickte würdevoll und brummte seine leichte Verärgerung in den Bart. Die Menschen waren eben ein sehr junges Volk, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein luftiges, unstetes, allzu leichtfüßiges Völkchen, das den Kopf ständig zwischen den Wolken hatte, in seinen grotesken oberirdischen Bingen und Burgen. Fernab von der stillen Weisheit und Ruhe, wie sie Jahrtausende altem Stein und Erz innewohnte. Für einen bodenständigen Zwerg lohnte es sich einfach nicht, sich über ihre schnelllebigen Torheiten aufzuregen.

Die Kämpferchen wurden mit kleinen Schilden und Lanzen ausgestattet, und boten nun endgültig ein derbes Spottbild auf tjostierende Ritter. Sich selbst nahmen die "Großen" offenbar auch nicht allzu ernst.

Unter dem Lachen des Publikums jagte Pipifax den Schweinereiter hin und her, der seine Lanze merkwürdig schwenkte, ebenso wie den Schild. Leider hatte er sein Gesicht nicht gezeigt, unter dem Topfhelm. Vor allem den Kindern gefiel die Vorstellung, was Rovik doch ein wenig versöhnlicher stimmte. Sie jauchzten, klatschten und schrien. Natürlich, für die Großlinge waren Zwerge wohl nichts anderes als drollige Menschenkinder mit Bart. Das grunzende, quiekende Schwein rannte im Schweinsgalopp unter der Turnierschranke hindurch, verfolgt von Pipifax, der mit der Lanze am Querbalken hängen blieb. Der Gnomenfürst schrie theatralisch auf und fiel zappelnd vom Pferdchen. Wieder tröteten die Fanfaren.

"Hiermit erkläre ich Schweinsfurz zum Sieger", verkündete Haldana lächelnd. "Nun darf ich offenbaren, auf welch schändliche Weise der Goblinkönig beleidigt wurde." Die Baronin hob ein kleines Säckchen, und griff hinein. Eine Nuss kam zum Vorschein.

"Herr Schweinsfurz wurde als stinkender Affe bezeichnet." 

Der Goblinkönig sprang aus dem Sattel, warf seine Waffen beiseite und entfernte den gehörnten Topfhelm. Das hellbraune Gesicht eines Moosaffen kam zum Vorschein, mit grünen Augen. Das Tier keckerte und sprang auf die Baronin zu, um sich seine Belohnung abzuholen. Diese bestand nicht zuletzt aus herzhaftem Gelächter und Beifall von allen Seiten. Selbst Deggen, der Rondrageweihte, vermochte ein Lachen nicht unterdrücken (auch wenn er ein wenig unausgeschlafen und zerzaust wirkte).

"Unser edler Ritter heißt natürlich nicht wirklich Schweinsfurz. Darf ich vorstellen, Bardo der Moosaffe. Herr Bardo legt größten Wert darauf, wohlriechend zu sein, jedenfalls kein stinkender Affe. Als Sieger gebührt ihm die Ehre, die Duellpaare des heutigen Tages auszulosen." 

Bardo verzehrte in Windeseile mehrere Nüsse. Auf ein Zeichen seines Tierführers, der ihn wieder an die Leine genommen hatte, sprang er neben das Körbchen und griff hinein.

"So, mal sehen. Das gleiche Prozedere wie gestern….Vorlesen muss ich die Namen allerdings selbst. Auf Äffisch würdet ihr sie nicht verstehen. Der erste Tjost wird ausgetragen zwischen...Alrik von Sturmfels gegen...gegen den Grünen Ritter. Finyara von Zweifelfels...contra Wando von Richtwald. Jadvige von Kressenbrück tritt an gegen Firunian von Firnsjön. Hier lese ich den Namen des edlen Herrn Merovahn von Mersingen...sein Gegner ist...Bardo, du sollst mir den Zettel reichen, nicht anknabbern....die Gegnerin heißt Oda von Vairningen. Ah, das sieht auch spannend aus: Tiro von Friedwang-Havensgaard tjostiert mit Reto von Nierenfeld.  Nein sowas. Zwei Mersingen als Gegner. Ein Familienduell, sozusagen. Glyrana von Mersingen gegen Mirl von Mees-Mersingen. Storko von Gernatsborn-Mersingen tritt gegen seinen eigenen Dienstritter an. Roderick von Oppstein mag uns zeigen, was er von seinem Herrn gelernt hat."

Haldana blickte zur Schreibtafel, an der nun wieder der Persevant des Turnierherolds zu Gange war. Bardo sah die Baronin treuherzig an. Erst als er eine weitere Nuss erhielt, fischte er wieder ein Schriftröllchen heraus. "Oleana von Bregelsaum darf sich mit....mit Gerbold von Zwölfengrund messen. Lares von Mersingen....Inpolt von Binsböckel. Bardo, nicht nachlassen, hier spielt die Musik. Basin von Richtwald...Oha, der Gegner ist mein geliebter Gemahl, Alboran von Binsböckel.  Mach mir ja keine Schande, Albo. Dann haben wir....Moment. Alrik Eckbert von Baernfarn gegen....gegen Darbrod von Zweifelfels. Randolph von Vairningen erhält Adran von Oppstein als Gegner. Gleich haben wir es. Darpatia von Vairningen. Matissa von Bregelsaum. Praiosmin von Bregelsaum muss sich dem Lohfarbenen Ritter stellen. Cordovan von Bregelsaum reitet gegen Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum. Wieder mal ein Familienduell. Und zu guter letzt werden wir Silvana von Firnsjön beim Lanzengang mit Welfert von Mersingen sehen. Ich danke dir, Bardo...Lass dir von Alboran noch einen Apfel geben, du hast ihn dir verdient."

 

Haldana war ein wenig verunsichert. Sie hatte nicht gewusst, welche Art Gaukelei dargeboten wurde. Um diesen Teil der Feierlichkeiten hatte sie sich nicht selbst gekümmert. Jetzt hoffte sie nur, dass niemand den derben Humor der Sichellande missverstand. Eine empfindliche Seele aus Rommilys hätte jetzt vielleicht etwas von kultureller Aneignung gesprochen, die Feenhaften Wesen auf solche Weise darzustellen. Die Baronin hoffte, dass der Grüne und der Braune Ritter sich jetzt nicht verärgert zeigen würden. Oder machte Haldana sich zu unrecht Sorgen? Waren manche neurommilyser Denkweisen doch etwas zu empfindlich? Oder hätte man bei der Auswahl der Gaukler doch mehr darauf achten müssen, dass niemand sich irgendwie auf den Fuß getreten fühlen könnte? Nun, jetzt war es ohnehin zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, dass unlängst eine Rommilyser Druckerei eine Novelle abgelehnt hatte, weil die darin erwähnten Trollberger vermeintlich zu hinterwäldlersich dargestellt waren. Aber Haldana zwang ihre Gedanken beiseite, konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. 

Die Baronin ließ ihren Blick über die Gäste schweifen. Einige schienen ihr zudem schlecht geschlafen zu haben. Oder auch nur zu kurz geschlafen und am Vorabend zu lange gefeiert oder zu viel gebechert. Nein, eigentlich war das nicht anzunehmen. So früh am Morgen war die Auslosung der Paarungen ja auch nicht gewesen. Nun, so war sie bemüht, die morgendliche vielleicht noch nicht so ausgelassene Stimmung zu heben. Aber selbst die elbische Bardin schien ein wenig bedrückt zu sein. Und Elben sagte man ja nach, ganz ohne Schlaf auch eine längere Zeit auszukommen. Oder war das nur ein Märchen? Haldana wusste es nicht. Aber sie war selbst Bardin genug, um sich nichts anmerken zu lassen von der leichten Verunsicherung und ihre Stimmung und Mimik unter Kontrolle zu haben. 

„Insbesondere möchte ich mich bedanken bei seiner Gnaden, dem Ritter der Göttin Deggen von Baernfarn, der sich bereit erklärt hat, auch heute wieder als Turnierrichter zur Verfügung zu stehen, und der mit der ihm zueigenenen Gerechtigkeit und Kenntnis des Kämpferhandwerks über die Einhaltung der Regeln zu wachen.“

Die Gäste und Turnierteilnehmer applaudierten höflich. 

 

Baron Adran von Oppstein applaudierte nur höflich und zum Schein mit. Als Ziehsohn Redenhardts von Oppstein hatte er keine gute Meinung von dem Rondrapriester aus Gallys. Und ob dieser im Zweifel auch gegenüber einem Oppstein neutral war, nun, darauf wetten würde er nicht. Die gegenseitige Abneigung Redenhardts und Deggens seinerzeit war ihm bekannt. Nun, aber auch ein Turnierrichter würde ihm einen erfochtenen Sieg nicht abspenstig machen können. Und Vertrauen in seine Kampffertigkeiten hatte Adran allemal. 

Ohnehin war auch Adran schlecht gelaunt und übermüdet. Auch die Entwicklung des Sichelbundes machte ihm noch zu schaffen. Er war einmal überrumpelt worden, ein zweites Mal sollte das nicht passieren. Um so mehr hoffte er, dass Roderick von Oppstein auf dem Turnier heute eine gute Figur machen würde und seine Qualitäten beweisen würde, Oppsteins Qualitäten beweisen. Grimmig blickte er über das Feld der Teilnehmer. Auch der Auftritt der Gaukler hatte ihn nicht besonders amüsiert… aber das lag vermutlich an seiner ohnehin schlechten Laune. 

 

Tjost

Erste Runde

 

Eröffnungskampf

 

  1. Alrik von Sturmfels vs. Grüner Ritter

 

"Auf der liiinkeeen Seiiiiteeee...seeeht Iiihrrrr...den Grüüüüneeenn Ritteeer. Ein fürnehmer Edelmann aus fernen Landen, der seinen Namen nicht offenbaren möchte. Aus ehrenvollen Gründen, wie uns die Herren Turnierrichter versichern!" Ârmarsland deutete auf den hünenhaften Kämpfer in vollem Gestechharnisch, dessen Helm als Eberkopf gestaltet war. Das Streitross schmückte eine grüne Schabracke, den Turnierschild zierte ein goldener Baum auf grünem Grund. Die silberne Rüstung glänzte und schimmerte überderisch, ganz so, als wäre ihr Erz – oder gar der Träger selbst ?– nicht von dieser Welt.

"Zur Reeeechteeen - Heeeerr Alriiiiik vooon Stuuuurmfeeels. Hochehrbarer Ritter aus einem der größten Häuser unseres Reiches!" Der Kämpfer mit dem rotsilbernen Wappen nickte und tippte mit dem schweren Panzerhandschuh an seinen Helm. Auch wenn unter dem Visier das Gesicht nicht zu sehen war, konnte man den Respekt vor dem riesigen Gegner spüren. Alriks Pferd wich immer wieder schnaubend zur Seite aus, und musste mühsam gezügelt werden.

Die schwarzgoldblau gewandeten Fanfarenbläser bliesen mit dicken Backen in ihre fahnengeschmückten Instrumente. Ârmarsland hob seinen Heroldsstab und senkte ihn ruckartig. Die Menge auf den Zuschauertribünen tobte.

Die Ritter lenkten ihre Pferde an die Turnierbahn, legten ihre grüngolden oder rotsilbern gebänderten Lanzen ein und gaben Sporendruck. Dann stampften die Rösser auch schon los, schnaubend, mit Schaumflocken um die Mäuler und dumpf dröhnendem Hufschlag. Erdbatzen sprühten hoch.

Beide Kämpfer zielten kunstvoll auf den Schild des jeweils anderen, beide schienen erfahrene Turnierkämpfer zu sein, wenn nicht gar Meister im Tjost. Alriks Lanze prallte am kreisrunden Handschutz des Kontrahenten ab, die Waffe des "Grünen Ritters" zersplitterte am Wappen des Sturmfels in tausend Stücke. Das Volk johlte.

Unentschieden. Schnell wurde die Lanze des Eberritters gewechselt.

Zweiter Anlauf, die stumpfen Krönlein an den Lanzenspitzen rasten aufeinander zu. Erneut hielten beide Kämpfer unter der Wucht des Anpralls stand, auch wenn dies kaum als menschenmöglich erschien. Johlen und aufgeregtes Rufen brandete hoch. 

Dritter Lanzengang. Die Rösser galoppierten los. Es knallte metallisch. Beide Lanzen brachen, Splitter flogen durch die Luft, wie Spreu beim Worfeln. Der eine wie der andere Ritter wankte schwerfällig im Sattel, fiel aber nicht in den Schlamm. Also musste der rondrianische Fußkampf entscheiden.

Rasch wurden die Pferde beiseite geführt. Die Kämpfer zogen blank, wankten in überschwerer Rüstung aufeinander zu, mit wehender Helmdecke. Klinge prallte sirrend gegen Klinge, Funken sprühten. Stahl sang sein uraltes Lied. Der Grüne Ritter schien über unbändige Kraft zu verfügen, wie ein wilder Keiler drang er auf den Sturmfelser ein. Ritter Alrik schien dafür etwas wendiger zu sein. Hieb wurde mit Hieb gekontert, aber immer wieder gingen Treffer durch und hinterließen tiefe Dellen in den Harnischen.

Der wuchtige, schnelle Schlagabtausch war kräftezehrend, die Kombattanten wankten. Am Ende verharrten die Zweikämpfer im Wehrheimer Block, versuchten sich keuchend zurückzudrängen, aber auch ein wenig Atem zu schöpfen. Am Ende wurde dem Eberritter seine Massigkeit zum Verhängnis. Nach einem Beintreffer rutschte er im Schlamm aus, torkelte und ging zu Boden. Fast schon schien es, als wolle er sich vor seinem Bezwinger verneigen, mit einem kehligen Grunzen. Alrik vom Sturmfels hob das Schwert zum Zeichen des Sieges. Völlig erschöpft riss sich der schweißgebadete Sturmfelser das Visier hoch. Der Grüne Ritter verzichtete darauf, sein Gesicht zu zeigen, das weiterhin unter der stählernen Maske des Wildschweins verborgen blieb. Der erste Sieger der Turnei stand fest: "Alrik vom Sturmfels!" Die Menge tobte.



  1. Wando von Richtwald vs. Finyara von Zweifelfels

Schwerer Treffer durch die Zweifelfelserin im ersten Lanzengang, doch konnte sich der Richtwalder aufgrund seiner meisterlichen Sattelfestigkeit halten. Dennoch war er sichtlich geschwächt. Abermals schwerer Treffer durch die Zweifelfelserin, wonach Wando von Richtwald vom Pferd gestoßen wurde. Rondra war der Zweifelfelserin gewogen, galt doch Wando von Richtwald als der erfahrenere der beiden. Sieg von Finyara von Zweifelfels.

 

  1. Jadvige von Kressenbrück vs. Firunian von Firnsjön

Im ersten Lanzengang konnten sich beide auf dem Ross halten. Schwerer Treffer durch Jadvige von Kressenbrück im zweiten Lanzengang, doch kann sich Firunian von Firnsjön noch halten. Im dritten Lanzengang jedoch wurde Firunian von Firnsjön durch einen starken Angriff getroffen, stürzte aus dem Sattel und ging leicht verletzt zu Boden. Sieg von Jadvige von Kressenbrück.

 

  1. Oda von Vairningen  vs. Merovahn von Mersingen

Nach zwei unaufregenden Lanzengängen wurde Oda von Vairningen von dem Mersingen getroffen und stürzte von ihrem Pferd. Klarer Sieg von Merovahn von Mersingen.

 

  1. Tiro von Friedwang-Havensgaard vs. Reto von Nierenfeld

Zwei meisterliche Lanzenführer standen sich hier gegenüber. So waren die ersten beiden Lanzengänge durch gekonnte Manöver geprägt, ohne einen Sieger zu finden, und das Publikum applaudierte. Schwerer Treffer durch Tiro von Friedwang-Havensgaard im dritten Lanzengang, doch die Sattelfestigkeit von Reto von Nierenfeld zeigt sich standhaft. Erst der Übergang zum Fußkampf brachte nach zwei Kampfrunden mit Tiro von Friedwang-Havensgaard einen klaren Sieger.

 

  1. Glyrana von Mersingen vs. Mirl von Mees-Mersingen

Auch wenn sich Mirl von Mees-Mersingen technisch besser als Glyrana von Mersingen zeigte, so ließen jeweils schwache Lanzengänge beider Kontrahentinnen keine Siegerin erkennen. Erst der Fußkampf, im Gegensatz zum Lanzengang wesentlich spannender und dynamischer geführt, brachte Mirl von Mees-Mersingen den Sieg ein.

 

  1. Storko von Gernatsborn-Mersingen vs. Roderick von Oppstein

Kaum erfolgreicher als seine Gattin konnte Storko von Gernatsborn-Mersingen abschneiden, denn bereits im ersten Lanzengang konnte sein eigener Dienstritter einen schweren Treffer landen, wonach der Märkische Wehrvogt geschwächt vom Pferd stürzte. Manche behaupteten, dass dieser nach dem gestrig guten Abschneiden bei den Zweihändergefechte zu viel vom Meth genossen hatte. Sieg von Roderick von Oppstein.

 

  1. Oleana von Bregelsaum vs. Gerbold von Zwölfengrund

Zwei ähnlich erfahrene Gegner traten hier an, allen war Olena von Bregelsaum etwas defensiver angelegt. Drei gekonnte Lanzengänge konnten keinen Sieg herbeiführen, sodass ein langer und zehrender Fußkampf folgte. Erst im vierten Schlagabtausch konnte Gerbold von Zwölfengrund die Oberhand gewinnen, was ihm schlussendlich den Sieg einbrachte.

 

  1. Lares von Mersingen vs. Inpolt von Binsböckel 

Ein doch erfahrenerer und offensiv kämpfender Inpolt von Binsböckel stand Lares von Mersingen gegenüber. Allein das defensive Verhalten des Mersingen war es zu verdanken, dass dieser drei Lanzengänge heil überstand. Der Fußkampf brachte jedoch letztlich rasch mit Inpolt von Binsböckel einen klaren Sieger hervor.

 

  1. Basin von Richtwald  vs. Alboran von Binsböckel 

Ein kurzer Kampf, der bereits zu Ende ging, kaum hatte er begonnen. Alboran begann gleich im ersten Lanzengang einen groben Panierfehler, stürzte von seinem Ross und zog sich dabei leichte Verletzungen zu. Sieg von Basin von Richtwald.

 

  1. Alrik Eckbert von Baernfarn vs. Darbrod von Zweifelfels 

War der erste Lanzengang noch ein vorsichtiges Herantasten, so trafen beide Lanzen die Gegner im zweiten Lanzengang mit einer derartigen Wucht, dass beide von ihren Rössern fielen und der Turnierrichter den Fußkampf anordnete. Darbrod von Zweifelfels schien jedoch sichtlich geschwächt zu sein und konnte sich nur zwei Kampfrunden halten, sodass Alrik Eckbert von Baernfarn den Sieg davontrug.

 

  1. Randolph von Vairningen vs. Adran von Oppstein

Bereits im ersten Lanzengang konnte Randolph von Vairningen einen schweren Treffer landen, sodass Adran von Oppstein vom Ross stürzte, worauf dieser unverletzt jedoch geschwächt sich wieder erhob. Sieg von Randolph von Vairningen.

 

Auf in die Schranken

  1. Darpatia von Vairningen vs. Matissa von Bregelsaum

 

“Ich werde auf dich setzen, meine Amazone”, sprach Ilgar zu seinem Weib, nachdem die Verlosung beendet war.

Die Angesprochene verzog jedoch wie so oft das Gesicht, wenn ihr Gemahl sie derart betitelte.

“Verrat mir lieber, ob du diese Darpatia kennst?”, erwiderte Matissa leicht gereizt. Ilgar erkannte die Anspannung in ihrer Stimme. War sie etwa nervös? Er senkte die Seinige, um ihr zuzusprechen.

“Nein, ich kenne wie auch du nur das weit verbreitete Haus Vairningen. Darpatia, diesen Namen mag ich hingegen lediglich einmal gehört haben, doch verbinde ich mit ihm nichts.”

Nach einer kurzen Pause ergänzte der Galebfurtener: “Hab vertrauen in dich, so wie ich es habe. Du hast in den Jahren der Wildermark vielen den Tod gebracht mit der Kriegslanze.”

Die Bregelsaumerin schnaubte schicksalsergeben und stapfte bereits schwer gerüstet los, während Ilgar ihr in Festtagsaufmachung und einem Weinkelch in der Hand nachsah. Sein bevorzugtes ‘Schlachtfeld’ war mittlerweile ein anderes. Neugierig und freudig erregt schaute er sich nach einem der Schreihälse um, die die Wetten anboten, als sein Weib außer Sichtweite war.

 

Wenig später bereits saß die erfahrene Ritterin auf ihrem Streitroß. Dort, auf dem Rücken ihres massigen Kaltblüters, fühlte sich Matissa wohl. Dies war ihr ‘Parkett’. 

Mehr als ein Jahrzehnt hatte sie die Kriegslanze im Dienste des Raulschen Reiches in die Reihen der Feinde geführt, um den Rahja des Kontinents Stück für Stück von den Anhängern des Sphärenschänders und ihres Einflusses zu befreien. Mit weitaus mehr Glück denn rondrianischem Können hatte sie all die Jahre überlebt. So viel Glück hatten viele ihrer Freunde nicht gehabt. Eine schwermütige Empfindung drohte, wie so oft von ihr Besitz zu ergreifen, wenn sie an die Vergangenheit dachte. 

Dann war es aber auch schon soweit, der Turnierrichter gab das Zeichen und winkte sie herbei. Die dunklen Gedanken wichen der Aufregung des bevorstehenden Duells. Ihr Blut kam in Wallung und begann zu sieden, so schien es Matissa. So war es immer gewesen. 

Sie senkte ihr Visier und die Geräusche um sie herum wurden dumpf, schienen ihr weit weg. Das einzige, was sie klar und deutlich vernahm, war ihr eigener, schwerer Atem. Sie fokussierte sich und sprach ein kurzes Stoßgebet, so wie sie es stets vor der Schlacht getan hatte.

"Unbesiegte. Donnernde Alveransleuin. Schenke mir deine Gunst. DIR zu Ehre streite ich. DIR zu ehren werde ich fallen, wenn du befiehlst, dass meine Zeit gekommen ist.”

Die Bregelsaumerin rollte noch einmal die Schultern und straffte ihre Haltung, legte den Schild an und ließ sich die Turnierlanze reichen.

Kaum einen Herzschlag später senkte sich das Fähnchen des Rondrianers und Matissa gab ihrem Streitross mit sachtem Druck ihrer kräftigen Schenkel zu verstehen, dass es antraben sollte. Das gefechtserfahrene Tier setzte sich sachte in Bewegung, wissend, dass seine Reiterin voll gerüstet war und eine lange Lanze auszubalancieren hatte.

Mehr und mehr nahm ‘Answin’- so der Name jenes treuen Rosses, Geschwindigkeit auf und wurde durch erneuten, diesmal regulierendem Schenkeldruck behutsam in die Schranken gelenkt.

Dann, als das Pferd zu seiner linken registrierte, dass die Lanze sich zum Gefecht absenkte, streckte es ohne ein dazutun seiner Reiterin den Kopf nach vorn und beschleunigte auf die größte, ihm mögliche Geschwindigkeit.

 

Der Aufprall erfolgte. Er war hart und presste die Luft aus Matissas Lungen.

Sie hatte verfehlt, ihre Gegnerin jedoch ihre Lanze satt ins Ziel geführt. Deren Spitze war am Schild der Rabenmärkerin zerbrochen, hatte aber zuvor eine lange, breite Schramme hinterlassen und das Wappen derer von Galebfurten verunziert. 

Matissa stieß die Luft aus und versuchte, sich im Sattel aufzurichten. Sie war nach hinten gedrückt worden durch den Stoß und saß schief im Sattel. Ihr Rücken schmerzte, ihr Arm und die Schulter fühlten sich taub an.

Answin trabte geübt durch und ließ sich vom Waffenknecht am Ende der Bahn einfangen. Wenigstens auf ihr Streitross war Verlass.

Matissas Benommenheit schwand langsam, aber da wurde ihr bereits wieder die Lanze für den zweiten Durchlauf gereicht. Keine Zeit zum Durchschnaufen, auch wenn ihr Schädel dröhnte. 

Answin tänzelte und drehte sich, um sich wieder den Schranken zuzuwenden. Hierfür war nur eine sachte Aufforderung Matissas von Nöten. 

Erneut trabten die schweren Rösser mit donnernden Hufen aufeinander los und die Lanzen senkten sich. 

Der zweite Zusammenstoß erfolgte für die Bregelsaumerin mit nur wenig Widerstand. Die Lanze Darpatias glitt an Matissas Schild ab. Ihre Turnierkrone jedoch fand satt ihr Ziel und traf ihre Gegnerin in einem Moment, da sie ihr Schild nicht in optimaler Position hielt.

Es krachte und Darpatia von Vairningen stürzte vom Pferd. 

 

Die Menge jubelte und Matissa wusste, dass das Duell entschieden war, auch wenn sie kaum hatte wahrnehmen können, dass ihre Gegnerin auf den Boden neben den Schranken gefallen war, zu schnell war sie vorüber geritten.

Am Abend dieses Tages sollte sich Matissa bei ihrer Gegnerin nach ihrem Befinden erkundigen, da ihr zu Ohren gekommen war, dass sie sich leicht verletzt hatte bei dem Sturz. Dies jedoch wusste die Rabenmärkerin zu diesem Zeitpunkt noch nicht und da Darpatia die Turnierbahn verließ, nachdem ihr aufgeholfen worden war, tat sie auch keine weiteren Gedanken in diese Richtung.

 

Ein viertel Wassermaß später trat Ilgar ins Zelt, wo sein Weib bereits dabei war, die Rüstung abzulegen. Sie hatte ihm den breiten Rücken zugewandt. Dennoch erkannte der Krieger, dass ihr Gesicht immer noch gerötet und ihre Haare nass von Schweiß waren.

“Kurz glaubte ich, ich hätte unser Gold verloren. Kaum jemand hätte sich nach dem ersten Stoß im Sattel gehalten, du jedoch…” Er ließ den Satz unbeendet. In seiner Stimme hatte ehrliche Anerkennung mitgeschwungen.

“Lass das Geschwafel und hilf mir”, forderte sie ihn fast ein bisschen zu barsch auf. Ihr Lächeln jedoch verriet sie, denn auch wenn ihre Knochen sich beschwerten, das Feuer der Erregung des Kampfes brannte noch immer in ihren Adern und linderte den Schmerz.

“Wie ihr wünscht, tapfere Maid”, sprach Ilgar als Erwiderung, erntete jedoch nur spöttisches Kopfschütteln. Dennoch ging er ihr von da an zur Hand bei der beschwerlichen Arbeit.

“Du sollst nicht auf mich wetten, das habe ich dir bereits mehrfach gesagt”, tadelte sie ihn, als sie fertig waren und sie Matissa endlich ohne das ganze Metall am Leib strecken konnte. 

"Wir werden mit einem Einachser hinter einem der Pferde und einigen Sack Saatgut nach Haus reiten”, entgegnete Ilgar achselzuckend und ergänzte lapidar: “Ich denke Madalbirga wird sich darüber freuen.' Na und der Herumtreiber sicher auch."

Matissa nickte. Dieses Argument ließ ihren Ärger verrauchen, denn die Intention war eine gute gewesen.

"Tu mir trotzdem einen Gefallen", bat sie ihren Mann. "Nenn Wunnemar nicht so. Du weißt, dass er als Familienoberhaupt auch in den Nordmarken gebraucht wird. Tälerort braucht das Silber der Ländereien an der Galebra und dem Koschmassiv."

"Wer wüßte das nicht besser als ich?", lamentierte der Herold des Markgrafen. "So argumentiere ich stets, wenn ich in Altzoll bin. Doch er muss sehen, dass er nicht nur Freunde unter seinesgleichen besitzt am Hofe des Mersingers.”

“Das weiß Wunnemar. Du tust recht daran, ihm den Rücken frei zu halten”, antwortete die Bregelsaumerin. “Aber jeder Kreuzer, der hilft, die Rabenmark wieder aufzubauen, ist gut investiert, das ist auch die Meinung des Markgrafen und deswegen lässt er ihn gewähren. Zudem wird Wunnemar seinen Eid stets in Ehren halten. Der Mersinger braucht sich auch bei ihm nicht um seine Lehnstreue sorgen, ganz so wie es bei seiner Großmutter war- eisern und aufrecht zu ihrem Wort stehend, bis zum Ende. Boron möge sie in Frieden ruhen lassen.”

Ilgar nickte. An dieser Stelle gab es keinerlei passende Widerrede. 

 

  1. Praiosmin von Bregelsaum vs. der braune Ritter 

Im ersten Lanzengang können sich beide auf ihren Rössern halten. Harter Treffer von Praiosmin im zweiten Lanzengang. Der braune Ritter scheint verletzt vom Pferd zu fallen und muss vom grünen Ritter vom Turnierplatz geführt werden, dennoch nimmt er seinen Helm nicht ab. Sieg von Praiosmin von Bregelsaum.

 

  1. Cordovan von Bregelsaum vs. Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum

Im ersten Lanzengang können sich beide auf ihren Rössern halten. Im zweiten Lanzengang stürzte jedoch Praiodan Reto von Föhrenstieg-Bregelsaum leicht verletzt vom Ross. Die Menge raunt, der Bregelsaumer wäre wohl ein besserer Schwertkämpfer als Tjoster. Sieg von Cordovan von Bregelsaum.

 

  1. Silvana von Firnsjön  vs. Welfert von Mersingen

Nach drei eher unspektakulären Lanzengängen wurde zum Fußkampf übergegangen. Hier hatte die noch wesentlich weniger erfahrene Silvana von Firnsjöhn keine Chance gegen den Heermeister der Rabenmark und wurde im zweiten Schlagabtausch eindeutig besiegt. Sieg von Welfert von Mersingen.

 

Alborans Ritterspiele

“Was Basin von Richtwald für ein Kämpfer ist, fragst Du? Nun, er ist ein fürchterlicher Kämpfer. Manche nennen ihn auch Basin von Hinrichtwald.”

Sylvana schaute Alboran todernst an, mit ihrem dunkelbraunen Gesicht. Dann lachte sie herzhaft auf, mit dem Stolz des Fremdländers, dem ein Wortwitz in einer erlernten Sprache gelungen war. Lachte und hielt sich sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite. Dort, wo sie erst vor kurzem ein Zweihänder getroffen hatte.

Der Baron von Schlotz stand unter einem Vordach vor seinem Zelt, neben einem Tisch, auf dem das Stechzeug aufgereiht war. Der Mund des Bastards war trocken, sein Herz schlug schon beim Anblick des blankpolierten Stahls schneller. Nicht unbedingt vor Vorfreude.

Die Efferdsritterin hatte sich ein Liebfelder Wams übergestreift, mit gepufften Ärmeln, und sah nun endgültig aus wie eine junge, vornehme Horasierin. Eine ziemlich braungebrannte Horasierin.

Albo war froh, seine Kousine irgendwelchen Grades an der Seite zu haben. Einen eigenen Knappen hatte er ja noch nicht. Er, der erst vor wenigen Wochen zum Ritter geschlagen worden war. Woher auch? Es war allerdings sonnenklar, dass er nicht ohne fremde Hilfe in dieses Ungetüm von Gestechrüstung gelangen würde.

Firuz stand neben dem Zelt, die Arme auf den Rücken verschränkt und wartete auf Befehle, mit einer biederen Kappe auf der Stoffhaube. Das aufmerksame, ansonsten reglose Gesicht unter den graubraunen Haaren sah aus, als hätten seine Eltern bereits den vollkommenen Diener zur Welt bringen wollen. Aber mit einem rondragefälligen Knappen oder Pagen war der treue Firuz nicht zu vergleichen. Eine friedwanger Büttelin war derweil beschäftigt, Alborans Streitroß zu satteln, das unter der prachtvollen Schabracke und der Stirnpanzerung unwirklich aussah, wie ein Fabelwesen aus der Feenwelt. Streng genommen war das Ungetüm nicht sein eigenes Streitross. Weder besaß er eines, noch vermisste er es. Dem schwarzbraunen Fell nach zu urteilen handelte es sich vermutlich um Feuerflocke, das beste Pferd im Stall seines Vaters. Albo war froh, dass das Tier mit der markanten schneeweißen Flocke auf der Stirn maskiert war. Sozusagen. Ein wenig peinlich wäre es ihm schon gewesen, für jedermann erkennbar auf Papas feurigen Hengst ins Gestech zu reiten.

Immerhin, Sylvana, die verhinderte Lanzenstecherin, schien sich mit der Welt der Ritterrüstungen auszukennen. Sie begann, die Einzelteile zu sortieren. Lächelnd klopfte sie auf die Stechtartsche, die aus Holz bestand und als zusätzlicher, nach innen gekrümmter Schild an der Rüstung festgebunden werden würde. Das Material der harten, bräunlichen Plättchen, mit dem er belegt war, kannte Alboran nicht. War das Hirschhorn? Vermutlich. Passte irgendwie zu den Schröterhörnern als Helmzier, den stilisierten Zangen eines Riesenhirschkäfers.

“W...Was hast Du gesagt?” Alboran war tatsächlich geistesabwesend gewesen. Es war, als gäbe es keine Welt mehr jenseits der Turnierschranken von Burg Gernatsborn. Seine Stimme klang belegt.

“Ich sagte, der Richtwalder ist ein fürchterlicher Kämpfer. Manche nennen ihn Basin von Hinrichtwald, verstehst du?" stichelte Sylvana. Ihr schien das Wortspiel ungemein zu gefallen, das sie gerade erst erfunden hatte.

“B...B...Basin...vom Hinrichtwald?” wiederholte Alboran und versuchte, vor der Dienerschaft nicht allzu feige zu klingen. Zu stottern hatte er auch wieder begonnen. Eine alte Schwäche aus Kindertagen.

“Ich mach nur Spaß”, sagte das Halbblut. Die Efferdsritterin zeigte wieder ihre perlfarbenen Zähne. “Basin soll ein schlechter Lanzenreiter sein, hab ich gehört. Ganz hundsmiserabel.” Sylvana war nicht anzumerken, ob sie ihn aufmuntern oder erneut foppen wollte.

Alboran stülpte sich die wattierte Kapuze über den Kopf. Das ebenfalls wattierte Untergewand hatte er sich bereits angezogen. Ihn irritierten die Bänder, die an den Ärmeln herunter hingen. Ach so. Sie waren sicher dafür gedacht, die Ellenbogenkacheln zu befestigen.

“Mein Angebot steht noch”, sagte Sylvana und klang diesmal ernst. “Ich könnte an deiner Stelle am Tjost teilnehmen. Niemand würde es merken, unter so einer schweren Rüstung.” Sylvana klopfte auf das garetische Froschmaul, mit den schmucken Hörnern und den schwarz-blau-roten, nach hinten wallenden Straußenfedern.

“D...d...da...das wäre nun wahrlich ehrlos. A...a..außerdem, der Herold würde das merken. De...der sieht alles. D...d...das ganze Zeltlager ha...hat tausend Augen.” Alboran biss sich auf die Zunge, und wusste nicht, ob er Scham, Furcht oder beides empfinden sollte. Was für ein elendes Gestammel. Es war, als hätten die Götter beschlossen, dass sie ihm zuviele Wohltaten erwiesen hatten, in letzter Zeit. Man konnte bei einem Turnier durchaus sterben, selbst dann, wenn man ein hervorragender Reiter war. Sterben oder sich ein paar Knochen brechen. Welcher Kobold hatte ihn geritten, sich beim Tjost anzumelden? Haldana hatte er imponieren wollen, natürlich. Was für eine närrische Idee. Sollte sie ein paar Tage nach der Hochzeit gleich wieder zur Witwe werden?

Alborans Kopf war feuerrot, was nicht nur am weichen, aber viel zu warmen Untergewand lag. Der Baron schaute sich um. Firuz sah aus wie eine magische Statue, die auf ihr Zauberwort wartete. Aber Perainike, die Büttelin, konnte sich ein wissendes Grinsen nicht verkneifen. Hastig zwang sich die Waffenmagd ein Boltansgesicht auf. Dienstbeflissen wandte sie sich wieder dem schweren Turniersattel zu.

“V...verletzt bi...bi...bist du..du außerdem”, sagte Alboran. Nur mühsam bekam er das Stottern in den Griff. Aber er würde es in den Griff bekommen, bei seinem Namenspatron, dem Heiligen Alboran! “Ich ho...hoffe, d...du ha...hast den Hieb einem F...Feldscher gezeigt. Ni...nicht, dass ei...eine Rippe gebrochen ist.”

“Ist nur ein schwarzer Fleck. Den sieht man bei mir kaum.” Sylvana lächelte selbstironisch. Dann zuckte sie mit den Schultern, nicht ohne erneut das Gesicht zu verziehen. "Du stotterst doch nicht etwa vor Angst, oder?"

"N...n...nein. Ein a...altes Laster...so...sozusagen. M...manchmal...i...i...ist es d...da U...und m...manchmal n...nicht."

“Ein bisschen klingt es wie Ta-Haya, die Sprache, die ihr Mohisch nennt.”

"I...ich w...weiß n...nicht. E...es klingt erbärmlich.” Alboran senkte den Blick. Gut, dass Haldana nicht in der Nähe war. Seine Gemahlin hatte ihn noch nie richtig stottern hören. Eigentlich merkwürdig. Irgendwie wurde ihm jetzt erst bewusst, wie wenig sie beide sich eigentlich kannten, Haldana und er. Nun, die Schwarze Sylvana hatte er bis gestern überhaupt nicht gekannt. Dennoch herrschte eine merkwürdige Vertrautheit zwischen ihnen. Sie waren beide Bastarde von Geburt, Sylvana noch dazu ein Halbblut. Er liebte Haldana, aber seine Angetraute hatte keine Ahnung, wie es war, in zwei Welten gleichzeitig leben zu müssen. Oder zumindest ständig zwischen zwei Welten hin und her zu wechseln.

Bishdarielons Tochter musterte ihn.

“Singen hilft gegen Stottern, hab ich mal gehört. Und gegen Angst.”

“I...ich ha...habe g...gar kei...keine Angst...” protestierte Albo, eine Spur zu hastig.

“Du hast ja auch eine schwere, dicke Stahlrüstung.” Sylvana klang schon wieder spöttisch. “Probier es einfach mal mit einem Lied. Mohakrieger singen, bevor sie in die Schlacht ziehen".

“I...ich ke...kenne ke...kei...kein mo...mo...mohisches Lied.” Alboran wurde heiß und kalt zugleich. Sein Stottern ließ nicht nach, wie er es von früher gewohnt war, ganz im Gegenteil. Er kramte in seinem Kopf nach ein paar vertrauten Reimen, aber irgendwie fiel ihm nichts ein. Obwohl damals, in Gießenborn, wirklich viel musiziert und gesungen worden war, von den Barden und Gauklern auf Mutters Gutshof. Dann kam ihm doch ein Liedchen in den Sinn.

Gu...Gu...Gu...

“Ja?”

Gu...Gute Nacht...Gute Nacht, klei...kleiner Zwerg.” Alborans Sprechgesang begann stockend. Dann wurde er mutiger. “Ba...bald ist Ru...Ruhe im Berg. Träum von Silber und Gold, da..das schönste Glück der We...Welt.

Plötzlich war es, als würde sich eine Klammer um seine Brust lösen. Alboran sang. “Gute Nacht, kleiner Zwerg, morgen geht’s frisch an’s Werk. Mit Deiner Hacke fein, suchst Du auch Edelstein. Gute Nacht kleiner Zwerg, die Nacht ist nicht mehr lang. Mach die Äuglein zu, dann wird Dir nicht bang....” Alboran strahlte über beide Wangen, als hätte er seinen Lanzengang bereits gewonnen. Das Stottern war verschwunden!

“Wunderbar”, Sylvana klatschte. “Kein Schlachtgesang, aber trotzdem - eine schöne Melodie. Vielleicht bringst du Basin damit zum Einschlafen?! Dann fällt er einfach so aus dem Sattel. Scherz, Scherz”.

“Meine Mutter hat mir das immer vorgesungen. Als Gutenachtlied, ja.”

Sylvana blickte ein wenig düster. Natürlich, ihre Mutter...

”Verzeih!” sagte Alboran hastig.

“Schon gut. Ich glaube,  Rim würde es dir wirklich krumm nehmen, wenn du ihm sowas vorsingen würdest.”

“Rim?”

“Der Gnomenfürst von dieser Gauklertruppe. Der Mensch, der nicht größer ist als ein Zwerg. Ich hab mich ein bißchen mit ihm unterhalten. Rimhold von Zwerch heißt er...”

“Sicher nur ein Künstlername. Rimhold von Birkenbruch, das war mal der Landvogt von Zwerch. Bevor er in der Schlacht von Drachweiler getötet worden ist. Durch einen verirrten Armbrustbolzen...”

Das Halbblut hob eine der Stahlschuhe und öffnete die Schnalle des Fersenbands. “Davon weiß ich nichts. Rim ist nett. Hat eine Zeitlang bei Zwergen gelebt. Als es ihm gereicht hat, ständig von den Großen angestarrt zu werden. Angestarrt und verspottet...”

“Ja, verstehe ich. Ich hab mich in Rommilys oder im Oppsteinschen auch immer wohler gefühlt als in Friedwang.”

Sylvana zog ruckartig den Lederriemen aus der Schnalle. “Ich weiß nicht, ob du es wirklich verstehst. Auch beim Kleinen Volk hat Rim es nicht lange ausgehalten...” Sie strich sich über das Kinn. “Zwerge nehmen niemanden ernst, der keinen Bart trägt. Seltsam. Die Völker Aventuriens sind so unterschiedlich...und sich doch so ähnlich.”

Alboran versuchte es mit einem Scherz. “Was würden die Angroschim wohl sagen, wenn sie mal einer schwarzen Zwergin begegnen würden?”

Sylvana schaukelte mit dem Kopf, als würde ihr eine Antwort auf den wulstigen Lippen brennen. Sie erwiderte aber nichts. “So langsam müssen wir dich mal einkleiden, kleiner Zwerg.”

Albo atmete tief durch. Nun wurde es also wirklich ernst. Ein kleiner Schemel stand bereit, um die Stahlschuhe überzustreifen. Sylvana griff sanft nach seiner linken Ferse, packte den ersten Schuh am Schnabel und schob ihn über seinen Fuß. Geschickt schnallte sie ihn fest. Es fühlte sich irgendwie sinnlich an. Sylvana tröstete ihn nicht nur. Sie roch auch noch gut, stellte er aus der Nähe fest. Hübsch war sie ebenfalls. Außergewöhnlich hübsch.

Der junge Baron rief sich zu Ordnung. Nicht nur, dass das Turnier zu Ehren seines Traviabunds stattfand. Es war widerlich, rahjagefällige Gefühle für eine derart nahe Verwandte zu empfinden. Gernot, sein falscher Großvater, sollte in Blutschande mit Gilia von Gießenborn gelebt haben, der eigenen Nichte. Tsalinde, die wollten sie jetzt mit ihrem Vetter ersten Grades verheiraten, einem acht Götterläufe alten Kind. Nur, um das Haus Mersingen in Friedwang an die Macht zu bekommen. Es war alles so erbärmlich. Nein, als echter Ritter stand er über derart widernatürlichen Dingen.

“Ich hoffe, du hast vorher gepisst?” Sylvanas Stimme lenkte ihn.

“B...Bitte?”

“Du wirst die nächste Stunde nicht mehr dazu kommen. Zum Pinkeln.”

“Wie? Ach so, ja ja.  Hab ich. Firuz, mach dich mal nützlich und schütte den Eimer in den Fluss.” Alboran war nun wieder Herr seiner Zunge. Höchste Zeit, die heimlich feixenden Diener daran zu erinnern, dass er auch ihr Herr war, durch Praios Wille. Es war leichtsinnig, in ihrer Nähe über derart vertrauliche Dinge zu sprechen, wie er es gerade mit Sylvana getan hatte. Geschweige denn herum zu stottern wie Grome, der Dorfnarr von Friedwang.

 "Beeile dich, Firuz, was gibt es noch?"

Sein “Pinkelpage” nickte und ging eilfertig ins Zelt, ohne das leiseste Anzeichen von Widerwillen.

Sylvana wiederholte die Prozedur mit dem Stahlschuh am rechten Fuß, während Albo mit der Stirn runzelte. Das Gestotter kam nicht von ungefähr. Hieß es bei empörenden Vorfällen nicht: Es hat ihm die Sprache verschlagen? Er hätte Baronet von Friedwang werden sollen, wie es ihm seit vielen Götterläufen bestimmt war. Dann wäre Haldana die nächste Freifrau von Friedwang geworden, statt im doch etwas trolligen, hinterwäldlerischen Schlotz zu versumpfen. Aber jetzt war der falsche Augenblick, um sich auch noch über friedwängische Hausmachtpolitik aufzuregen.

Die Efferdasierin war bei der zweiten Beinröhre angekommen. Sie stellte sich wirklich geschickt an. Die Diechlinge, die seine Oberschenkel schützen sollten, wurden mit einer Art Strapse am Gürtel des Untergewands befestigt. Sylvana forderte ihn auf, ein paar Schritte zu gehen, was er scharrend tat. Seine Beine waren schwer wie Blei. Als würde er durch unsichtbaren Mörtel waten. 

Die Cavalliera korrigierte den Sitz der stählernen Beinkleider.

Alborans Blick ging zu den goldenen Sporen auf dem Tisch, die wie kleine Praiosscheiben in der Sonne blitzten. Auf die Zeichen seiner Ritterwürde war er besonders stolz. Sylvana griff bereits zur Rückenplatte. Albo wollte schon nachfragen, dann verstand er, warum sie die Sporen noch aussparte: Die spitzen Dinger hätten sie beim Festzurren der Harnischteile, der Geschübe und Armschienen behindert.

Seine “horasische Schneiderin” kleidete ihn Stück für Stück ein. Obwohl es ein frischer Herbsttag war, begann er unter dem dicken Untergewand und den Stahlplatten zu schwitzen wie in der Badstube. So ähnlich musste sich eines der Krebstiere aus dem Reich des Meeresgottes fühlen, dem sich die Efferdsritterin verbunden fühlte. Oder diese Schildkröte, die sie im Wappen führte, was auch immer das für ein merkwürdiges Geschöpf sein sollte. Ein Hexentier, das eine rondrianische Rüstung trug?!

Sylvana ließ ihn zwischendurch immer wieder einmal in die Knie gehen oder die Arme heben. Es gelang ihm erstaunlich gut, mit erneutem Scharren und Klirren. Aber jede Bewegung kostete  Kraft. Schnell kam er außer Atem. Der Schweiß sorgte dafür, dass es ihm an den unmöglichsten Stellen juckte. Nun, kratzen konnte er sich jetzt nicht mehr.

“Du hast sogar einen Rüsthaken” stellte Sylvana anerkennend fest und klappte den Metallhaken an der rechten Brustseite aus. “Das gibt richtig...wie sagt man...Rums beim Lanzengang.”

Alboran nickte und schluckte zugleich. Ob dieser Basin von Richtwald ebenfalls so einen Haken  hatte, für mehr “Rums”? Das neumodische Teil verhinderte das Durchrutschen der eigenen Lanze beim Aufprall, soviel hatte er auf der Knappenschule gelernt. Im Moment hätte er nicht einmal gewusst, wie er seine Waffe darin einlegen oder halten sollte. Trotzdem, er fühlte sich einige Herzschläge lang rondrianisch, stark und sicher in seiner zweiten Haut. Hoffentlich war er das auch wirklich.

Sylvana schlug ihm scheppernd auf die Rüstung. “Gut schaust du aus. Den Helm legen wir erst am Pferd an, dann scheut es nicht. Sporen, Schild und Handschuhe, wenn du im Sattel bist. Ach ja, dein Waffenrock und das Schwert .”

Firuz und das Halbblut zogen ihm das Tuch über den hochroten Kopf, in den noch ungewohnten Farben Schwarz-Blau-Rot. Dann folgte das Schwertgehänge.

Der Sattel...in den Sattel musste er auch noch irgendwie kommen. Die nächste Tortur?! Ein Kran zum Hochhieven stand jedenfalls nicht bereit.

Der Baron stapfte ungelenk auf Flocke zu, mit strömendem Schweiß, Juckreiz und schweren, keuchenden Atemzügen. Zu Pferden hatte er nun wirklich eine "besondere" Beziehung. Als er zwei oder drei Götterläufe alt gewesen war, hatte ihn Alrik regelrecht verschleppen lassen, vom Hofe seiner Mutter. Ein Oppsteiner Reiter sollte ihn auf Burg Friedstein gebracht haben, hilflos in einem Sack, zappelnd wie ein Fisch...Alboran konnte oder wollte sich nicht mehr daran erinnern. Vermutlich war dieses Erlebnis der Grund, warum er eine fast schon körperliche Abneigung gegen Pferde entwickelt hatte. Warum er plötzlich wieder stotterte wie seit der Pagenzeit nicht mehr. Selbst in Kurgasberg hatte ihm seine Zunge gehorcht, und da war sein Leben nun wirklich in höchster Gefahr gewesen, ebenso wie seine Seele.

Flocke musterte ihn mit dunklen Augen, durch die Löcher in der Roßstirn. Perainike beruhigte das nervös stampfende Schlachtross seines Vaters, dass Turniere nicht gewöhnt zu sein schien. Das hatten sie beide, Roß und Reiter, schon einmal gemeinsam.

Sylvana begab sich auf die gegenüberliegende Seite. Alboran begriff, was sie vorhatte. Sie würde sich an den anderen Steigbügel hängen, um ein Verrutschen des Sattels beim Aufsteigen zu verhindern. Die Rüstung fühlte sich an, als wäre sie quaderschwer. Das Bein anzuheben und den linken Stahlschuh in “seinen” Steigbügel zu bekommen, war eine Heldentat für sich. Natürlich, Flocke wollte ausweichen, zum Glück hielten Perainike und die Efferdsritterin dagegen. Firuz wuchtete seinen Herrn hoch, der sich einen Moment lang wirklich wie ein an Land geworfener Krebs vorkam. Ein Riesenkrebs, der eine Steilküste zu erklimmen versuchte. Warum kam er nicht über den Hinterpuschen? Ah, endlich. Es dauerte eine Weile, bis sich sein Atem etwas beruhigt hatte. Er saß oben – wie ein steingefüllter Sack. Aber er saß oben. Schnell noch den zweiten Schuh unterbringen und die gepanzerten Handschuhe überstreifen. So langsam fühlte er sich wie ein echter Ritter. Ein Ritter aus Leidenschaft.

Was tat Sylvana jetzt? Sie reichte ihm nicht etwa den Froschmaulhelm. Sondern ihren eigenen, fein ziselierten Visierhelm horasischer Machart. Alboran blickte erstaunt.

“Gekämpft wird nach Bomeder Regeln, mein Freund. Das heißt, es könnte nach drei Lanzengängen einen Fußkampf geben. Als eiserner Frosch machst du da keine großen Sprünge. Ich weiß nicht, warum Onkel Alrik dich gleich in einen Belagerungsturm verwandeln wollte...”

“Das sagst du jetzt? Warum hast du mir nicht deine Rüstung geliehen? Sie ist sehr viel leichter...”

Sylvana lachte ihr wildes Mohalachen. “Es trifft sich schon gut, dass das übrige Stechzeug deine Maße hat, Hochgeboren. Ich bin kleiner und zierlicher als du.”

Alboran musste zugeben, dass Bischs Tochter Recht hatte. Seinem allwissenden Vater hätte das doch klar sein müssen. Die sündhaft teure Gestechrüstung würde seinen Sohn bei einem Lanzentreffer schützen, mehr aber auch nicht. In einem Fußkampf wäre er mit einem Froschmaulhelm nahezu blind. Aber auch der Herold hatte ihm dazu geraten?! Offenbar rechneten alle damit, dass er diesen Schutz brauchen würde, beim Lanzengang. Nur dort, und vermutlich nur ein einziges Mal...

Immerhin, Sylvana schien es ernsthaft für möglich zu halten, dass er es beim Tjost bis in den Fußkampf schaffen würde. Alboran nahm den schon etwas zerbeulten, leicht rostigen Helm, stülpte ihn sich über und öffnete das widerspenstige Visier. “Blasebalg” nannte man die gelöcherte Maske, vor der Schaller. Auch der Kinnriemen wirkte ziemlich morsch, die Schnalle war ebenfalls kratzig vom Rost. Wenigstens würden die schönen Federn und die herrliche Zimier seines eigenen Helms heute keinen Schaden nehmen. Aber dieser Kopfschutz hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen.

Er saß sehr eng, war dafür aber angenehm leicht. Dennoch passte er nicht zur übrigen Rüstung, weder der Machart noch der Metallfarbe nach. Zum Glück kaschierte der Waffenrock das Flickwerk gnädig. Auch die Tartsche bekam er nicht festgebunden, sondern einen Schild in Drachenschuppenform gereicht, mit der schwarzen Axt auf rotblauem Grund.

“Ziemlich rostig, dein Helm”, maulte Alboran, durch die Löcher hindurch. “Müffelt auch ein bisschen.”

“Jetzt siehst du wenigstens aus wie ein alter, erfahrener Haudegen”. Sylvana lachte. “Das Salzwasser ist ihm nicht gut bekommen, fürchte ich.”

“Du polierst ihn mit Salzwasser?”

“Nein, ich trage ihn am Meeresgrund.  Zum Tauchen gibt es nichts Besseres als eine Ritterrüstung. Die eine Delle, da hat mal ein Hai reingebissen. Außerdem braucht man keine Bleigewichte.”

 

“Du willst mich auf den Arm nehmen? Du läufst damit im Wasser herum?”

“Nicht im Wasser. Unter Wasser. Mit einem umgelegten Tau, zum Hochziehen. Kajubo macht es möglich.”

Alboran öffnete das Visier erneut, gegen leichten Widerstand, und war ehrlich verdutzt.

“Was glaubst du, warum man mich die Efferdsritterin nennt? Ich bin damit wirklich mal in ein Wrack gestiefelt. Lag nicht tief. Zehn oder zwölf Schritt vielleicht. Aber der kleine Krakenmolch in der Kapitänskajüte war ziemlich übel gelaunt und das ganze Riff voller Haifische.“

“Kein Mensch kann solange die Luft anhalten ?!””

“Eine Blaßhaut vielleicht nicht. Die Haipu auf Altoum schon, dank dem Kajubostrauch. Kajubo heißt in unserer...heißt auf Ta-Haya Hand atmet frei. Wenn man die Knospen kaut, dann braucht man eine ganze Zeitlang nicht mehr zu atmen. Je mehr, desto länger braucht man keine Luft mehr.”

“Nein, sowas. Was es alles gibt.” Alboran klappte das Visier wieder herunter. Im Inneren roch es tatsächlich eigenartig, nach Rost und brackigem Salzwasser. Seine Beunruhigung wuchs. Irgendwie weckte der Helm in ihm auch noch den unerfreulichen Gedanken ans Ertrinken.

“Was hast du denn....in diesem Wrack gesucht?”

“Das ist eine andere Geschichte”, sagte Sylvana und klang plötzlich abweisend. “Lenkt dich nur ab. Wir sollten uns beeilen.” Tatsächlich war vom Turnierplatz her Johlen, das Stampfen der Pferde und das Splittern von Lanzen zu hören. Der Lärm hatte schon die ganze Zeit über gedröhnt, aber irgendwie hatte es Alboran geschafft, ihn aus seinem Bewusstsein zu verbannen.

“Laaares von Mersingen....tritt an...gegen… Inpolt von Binsböckel.”

Gejohle und Geschrei brandete hoch. Es klang wie bei einer öffentlichen Hinrichtung. Gleich danach würde er an der Reihe sein.

Firuz reichte ihm die Lanze, während Sylvana, sein guter Geist, ihm die Sporen umschnallte. Was eher symbolisch war, durch die wallende Kuvertüre seines Streitrosses würde er nicht durchkommen. Flocke zockelte los, mit dem spürbaren Widerwillen eines Reittieres, das einen anderen Herrn gewohnt war. Albo verkniff den Mund unter dem Helm. Schon das Reiten bereitete ihm eine Goblinangst, von dem Verhängnis namens “Basin von Richtwald” ganz zu schweigen.

Sie hatten das Anlegen der Rüstung gerade im richtigen Moment beendet. Inpolt hatte den Mersingen im Fußkampf bezwungen, die beiden Kampfhähne stolzierten frohgemut vom Kampfplatz, als hätten sie gerade nichts weiter als einen Becher miteinander geleert. War der Sieg des Binsböckel ein gutes Omen?

“Wertes Publikum, begrüßt mit mir den frischgebackenen Baron von Schlotz, Seine Hochgeboren Alboran Raul Praiosin von Binsböckel. Sein Gegner ist niemand Geringeres als Seine Hochgeborene Exzellenz Basin Ucuriad von Richtwald Baron zu Vairningen und Landvogt der Mark Rommilys. Freut Euch nun auf einen ganzen besonderen Kampf: Einen Kampf der Barone!” Der marktschreierische Turnierherold klang tatsächlich hellauf begeistert, als würde er ein Duell Raidri Conchobair gegen Waldemar den Bär ankündigen.

Alboran schluckte zum wiederholten Mal. Der Kinnriemen würgte ihn plötzlich wie eine Al´Anfanische Garotte. Natürlich, Basin von Richtwald war zugleich Herr der Stadtmark Rommilys. Nach einem lausigen Lanzenstecher hörte sich das nicht gerade an.

Perainike führte ihn an den Rand des Turnierplatzes und gab Flocke dann einen Klaps auf die Schabracke. Fanfaren schmetterten, als hätte der Tag des Zwölfgöttlichen Gerichts begonnen.

Alboran ritt schicksalsergeben los. Jubel brandete hoch, der durchaus ihm galt. Arme und gut gefüllte Humpen wurden hochgerissen, sogar die eine oder andere Schlotzer Fahne geschwenkt. Ein Dudelsack und eine Drehleier legten los, untermalt von Trommelwirbeln. Zumindest die anwesenden Schlotzer waren begeistert, dass nun endlich ihr eigener Baron in den Zweikampf ritt.

Ein dumpfes Stampfen war zu hören, dann wurde über Kopf geklatscht. Nun fing auch das Volk das Singen an.

He-hoo, wir fahren nach Schlotz...He-ho...He-ho...echote die Menge, gefolgt von einem tiefen, kehligen Schlotz! Schlotz! Schlotz!

Fremdartig hörte sich der Gesang an, wie aus einem anderen, längst vergangenen Zeitalter. War das Trollgesang?

Schlotz! Schlotz! Schlotz!

Der Name der Baronie, der ihm bislang immer ein wenig lächerlich vorgekommen war, klang nun plötzlich nicht mehr nach süßem Brei im vollgekleckerten Trollbart. Seine Hochgeboren grüßten in Richtung der Menge, die völlig ausrastete.

Schlotz! Schlotz! Schlotz!

Flocke schritt zur Planke. Auf der anderen Seite trabte der Rommilyser Landvogt an, mit den gekreuzten goldenen Schwertern und den vier grünen Eicheln auf schwarz-silbernem Schild unschwer als Richtwalder zu erkennen. Alborans Blasebalgvisier machte seinem Namen alle Ehre, ob seines keuchenden Atems. Flocke schnaubte und stampfte unruhig. Der Hengst war mehr im Kampfstimmung als sein Reiter. Alles fühlte sich unwirklich an. Er saß gar nicht wirklich auf einem massigen, rassigen Ungetüm von Pferd, eingehüllt in wallenden Stoff und Eisen, um in wenigen Herzschlägen mit eingelegter Lanze auf eine stahlglänzende Kampfmaschine am anderen Ende der Schranke zuzupreschen. Und umgekehrt. Alboran kämpfte mit Panik. Er bekam Tunnelblick.

Basin grüßte ihn lässig, fast schon enttäuscht ob des sichtlich schwächeren Gegners. Alboran hob seine Lanze. Nun merkte er, dass sich der Rüsthaken wieder eingeklappt hatte, vermutlich beim Hochklettern in den Sattel. Um ihn wieder auszuklappen, war er viel zu nervös, mit Schild und Lanze in den Händen. Die ganze Situation war völlig verrückt. Ein Mißverständnis. Gleich würden Pagen herbei eilen und ihn, den Hochzeiter, in Sicherheit geleiten, zu seiner Gemahlin. 

Deggen hob seine rotsilberne Turnierfahne. Es wurde totenstill, nur das Schnauben und Stampfen der Rösser war zu hören, sowie das zarte Klirren von Zaumzeug.

Was war das nun wieder? Alboran merkte, wie ein kleiner, goldener Lichtpunkt über die Rüstung seines Gegners tanzte, und dessen Visier suchte. Dann huschte das winzige Irrlicht über die Roßschiene von Basins Streitross, das tatsächlich nervös wurde, zur Seite auswich und sogar zu steigen versuchte.

Sandten ihm die Götter ein Wunder? Alborans Augen irrten hinter dem Visierschlitz hin und her. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Nun sah er seinen Vater, der in seiner prachtvollen, pelzbesetzten Schaube auf der Tribüne saß, bei den Ehrengästen, und mit seiner Schnupftabaksdose hantierte. Natürlich, darin befand sich ein kleines Spiegelchen, das wusste er. Vater versuchte allen Ernstes den Rommilyser Landvogt und sein Pferd zu blenden?

Zur Furcht gesellt sich bei Alboran nun auch noch Scham. Alriks Verhalten war ehrlos, um nicht zu sagen schändlich. Als wäre Herr Praios selbst schamerfüllt ob dieses Betrugs, verdeckt er sein strahlendes Antlitz hinter einer dunklen Wolke. Die Lichtblitze ließen nach und verschwanden.

Deggen wartete, bis Basin sein Pferd wieder beruhigt hatte. Zum Glück schien der Turnierrichter die Ursache nicht bemerkt zu haben. Beide Ritter senkten ihre Lanzen. Die Fahne ging nach unten.

Schenkeldruck. Flocke trabte an, wurde schneller. Begann zu fliegen. Alboran merkte, wie er durch das Gewicht der Rüstung nach vorne gedrückt wurde, und die verdammte Lanze sich nach unten senkte, in Richtung Kopf des gegnerischen Pferdes. Basin preschte auf ihn zu, wie ein wilder Eber, der aus dem Tannicht fegte. Die Hufe dröhnten, die Schranke rauschte an Alboran vorbei. Dann begann er zu schweben, als ritt er auf einem Himmelsross in Richtung Rondras Hallen. Der Zeitfluss wurde langsamer. Die Lanze, die Lanze, er musste irgendwie die Lanze...Der junge Ritter lehnte sich nach hinten, blickte einen Moment in den wolkenverhangenen Himmel. Die nackte Angst verschwand, wich einer Art heißem Nebel.

Basins Rennspieß zersplitterte an Alborans Schild, in tausend Stücke, die zeitlos durch die Luft tanzten, als spiele Satinav mit ihnen Fangen. Seine eigene Lanze knallte genau zwischen die Schwerter und die Eicheln auf dem Schild des Richtwalders. Alboran glaubte, einen Laut der Verblüffung zu hören, als sein Gegner aus dem Sattel gehoben wurde und seitlich zu Boden stürzte. Feuchte Erdbatzen wirbelten hoch.

Der junge Baron konnte es kaum fassen: Er hatte den Landvogt zu Rommilys besiegt?! Nein, nicht besiegt. Er hatte ihn mit Rums aus dem Sattel gefegt. Ein unglaubliches Triumphgefühl durchflutete den Herrn von Schlotz, als er Flocke zügelte.

 

Schlotz! Schlotz! Schlotz! Die Menge war völlig aus dem Häuschen.

 

Freudestrahlend wollte Alboran sein Visier öffnen. Er brauchte Luft, endlich Luft. Irgendwie gelang ihm nicht. Das Visier klemmte. Sein Kopf dröhnte, als wäre der Helm der Hauptgong der St.Alboran-Siegesbasilika, und würde gerade tüchtig geschlagen.

Das Visier öffnete sich wie von Zauberhand. Licht drang von außen herein. Selig lächelnd sah Alboran in die Augen Haldanas. Natürlich, seine Gemahlin würde ihn als erstes gratulieren, zu diesem unfassbaren, herrlichen Erfolg.

Warum sah sie so besorgt drein? Sylvanas schwarzes Gesicht tauchte neben der Hochzeiterin auf, ebenfalls mit einem Stirnrunzeln. Die beiden Frauen sagten etwas, was Alboran nicht verstand. Ihre Gesichter verschwammen, verdoppelten und verdreifachten sich, als wäre er heillos betrunken. Dazu kam heftiges Ohrensausen.

Überhaupt, warum lag er auf den Rücken, und warum roch der warme, klebrige Schweiß in seinem Gesicht so süßlich und metallisch?

Albos Lächeln erstarb, als er matt seine Hand hob.

Er lag auf dem Rücken, seine schöne neue Rüstung war völlig zerdellt und mit Schlamm bespritzt. Flocke ragte wie ein Berg über ihm auf, mit herabhängenden Zügeln. Ich bin nicht schuld, schien sein Blick sagen zu wollen.

“Ha...hat...Basin mich auch erwischt?!” wollte Alboran wissen. Seine Stimme klang merkwürdig verzerrt, als stünde er selbst neben sich.

Sylvana seufzte. “Niemand hat dich erwischt. Du bist aus dem Sattel gefallen. Einfach so. ”

“Aber...ich habe doch...” Albo verzog das Gesicht, nicht nur vor Schmerz. Ein Traum. Das alles gerade eben war nur ein schöner Traum gewesen. Zumindest das ruhmvolle Ende des Lanzengangs.

“Schtt.” Haldana kniete sich neben ihm, soweit es ihr tsagesegneter Unterleib zuließ. “Nicht bewegen. Du blutest ziemlich stark.”

Das Halbblut überprüfte, ob ein Arm oder Bein gebrochen war. Das schien nicht der Fall zu sein. Die Schmerzen taten gleichmäßig weh, am ganzen Körper. Der Kopf brummte wie ein Bär, die Wunde brannte.

Der Kinnriemen wurde geöffnet, der Helm verschwand. Haldana tupfte seine Schläfe mit ihrem Taschentuch ab. “Scheint nur eine Platzwunde zu sein. Wo bleibt denn der Medicus?”

“Aber...ich habe Basin doch...”

“Nein, hast du nicht, Liebling. Er war noch eine halbe Lanzenlänge entfernt, als du aus dem Sattel gekippt bist. Vielleicht ein Hitzschlag. Aber das mit dem Lanzenhalten...irgendwie hat das auch nicht geklappt.”

“Verlangst...verlangst du jetzt...die reichsrechtliche Scheidung, Haldana?”

“Red keinen Blödsinn, bei Travia. Basin ist ein harter, erfahrener Turnierkämpfer. Du hattest Glück, dass du gar nicht erst in seine Nähe gekommen bist." 

Alboran versuchte stöhnend aufzustehen. Vergeblich.

“I...ich...ich ko...komm nicht hoch...bin ich gelähmt?”

“Du musst dich auf den Bauch rollen”, sagte Sylvana.

Alboran tat, wie ihm geheißen worden war und ruckte zur Seite. Es tat gut, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren, sie lenkte ihn von seiner Schmach ab. Scheppernd und klirrend kam er auf die Beine, unterstützt von den beiden Frauen. Ein zerbeulter Ritter, der von einer Halbmoha-Kriegerin und einer schwangeren Baronin aufgerichtet wurde, das hatte das Volk wohl auch noch nicht gesehen. Irgendetwas Metallfarbenes ragte aus der Erde. War er da mit dem Kopf drauf gefallen? Der Helm hatte auf Stirnhöhe eine ziemliche Delle. Offenbar war zu seinem fehlenden Glück auch noch gehöriges Pech hinzu gekommen.

Tatsächlich, Basin von Richtwald saß fest im Sattel, auf der anderen Seite der Schranke. Selbst die Lanze war vollkommen heil. Ârmarsland erklärte ihn scheinbar ungerührt zum Sieger. Das Volk spendete höflich Beifall.

Schwankend sah sich Alboran um und hob seine Hand, zum Zeichen, dass der Sturz einigermaßen glimpflich ausgegangen war. Nun eilte Vater herbei, seinen weißhaarigen Magierfreund im Schlepptau.

“Verdammt, Albo, wo ist der Helm, den ich dir geschenkt habe? Warum hast du ihn nicht aufgesetzt?”

“Viel su schwer für den Fuschkampf” nuschelte Alriks Sohn, dem das Blut nun auf den Harnisch troff und sich dort mit dem Dreck der Turnierbahn mischte.

“Einen Moment” Hesindian stellte seinen Stab an die Schranke und krempelte rechterhand den Ärmel seiner Festtagsrobe zurück. “Das haben wir gleich.”

“Keine...keine Hesinderei” Alboran hob abwehrend die Hand. “Bitte. Keine Magie. Alles gut...hab mir nichts gebrochen...glaub ich...” So langsam vermochte er das Durcheinander an Schmerzen zu sortieren. An seiner Stirn hatte er ein üble Platzwunde, die linke Hand und das Knie waren irgendwie geprellt. Ein paar blaue Flecken hatte er sicherlich auch davongetragen. Die Sporen waren beim Sturz abgerissen worden. Die Lanze und der Schild lagen ein ganzes Stück entfernt, wie auf einem Schlachtfeld.

Das Volk, das ihn gerade eben noch begeistert gefeiert und angefeuert hatte, wirkte mit einem Mal verdrießlich. Der neue Baron von Schlotz verstand die Enttäuschung vollauf. Schließlich war er genau das: Der neue Baron von Schlotz. Der peinliche Sturz konnte leicht als böses Vorzeichen gewertet werden, für seine künftige Herrschaft. Sich dann auch noch schnell per Heilmagie kurieren zu lassen. Nun, das hätte protzig und weichlich gewirkt. Um nicht zu sagen dekadent. Ganz abgesehen davon, dass er der Neffe eines seligen Praioshochgeweihten war.

Mit einem Mal fühlte sich Alboran schwach und elend, was nicht nur am Blutverlust lag. Wenn er wenigstens aus dem Sattel gestochen worden wäre. Natürlich, alles war viel zu glatt gelaufen, seit ihrer Verlobung. Die Götter konnten einem Sterblichen jederzeit ihre Gunst gewähren, aber ebenso schnell wieder entziehen. Sicher war sein Missgeschick auch die Strafe für die Sache mit dem Spiegel.

Was tat sein Vater jetzt schon wieder? Er wühlte das rostige, gebogene Metallstück aus dem Boden. Ein Hufeisen. Hatte es eines der Streitrösser verloren? Das Ding sah ziemlich rostig aus, und war merkwürdig geformt. Vielleicht ein Kuheisen, oder ein Ochsenschuh, der beim Burgenbau verloren gegangen war, im Frühjahr. Alborans Kopf hätte an tausend Stellen aufprallen können, ausgerechnet dort musste er landen. Vermutlich war das Eisenstück durch den Regen freigelegt worden. Mit irgendeinem der Unsterblichen hatte er es sich wohl verscherzt.

 

Zu allem Überfluss reckte Alrik das Eisen nun auch noch in die Höhe und verschaffte sich mit einem lautstarken “Höret, Höret!” Aufmerksamkeit.

“Liebe Schlotzer. Ich wollte Euch nur sagen. Ihr könnt unbesorgt sein, Euer Baron ist wohlauf. Bis auf eine kleine Kopfnuss, sozusagen...Ein Kopfstüber und ein paar Schrammen. Da hat sein treues Streitross doch glatt ein Hufeisen verloren. Sonst wäre es niemals zu diesem unglücklichen Sturz gekommen.”

Alboran zwinkerte sich etwas Blut aus den Augenwinkeln. Er versuchte mit dem rechten Handrücken darüber zu wischen, aber der war gepanzert. Sein getrübter Blick wanderte zu Flocke. Unter der Schabracke war nur schwer auszumachen, wieviele Eisen das Streitross trug. Aber Sylvanas Blick sprach eine eindeutige Sprache. An einem verlorenen Hufeisen hatte sein Sturz nicht gelegen.

“Heißt es nicht, Glück im Spiel, Pech in der Liebe?” Sein Vater beschwatzte das Volk unverdrossen weiter. “Nun, mein Sohn ist glücklich verheiratet. Dafür hatte er heute ein wenig Pech beim...äh, bei den Ritterspielen. Möge Ihm dieses Hufeisen fortan mehr Glück im Sattel bringen. Möge es Alboran daran erinnern, dass es seine Pflicht ist, ab und an etwas Blut für seine Untertanen zu vergießen. Ein Hoch der Baronie Schlotz und der Schwarzen Sichel! ”

Ein mattes “Hoch” antwortete auf den Rängen und den “billigen Plätzen”. Immerhin, die Stimmung schien sich ein klein wenig zu bessern. Viele Leute glaubten den Schwindel, ganz einfach, weil sie ihn glauben wollten.

Alboran wollte nur noch runter vom Turnierplatz, der ihm jetzt vorkam wie ein Pranger. Sein Stechzeug fühlte sich plötzlich an wie schändliche Tracht. Selbst dem Dümmsten musste doch klar sein, dass ein Reiter nicht wegen eines verlorenen Hufeisens stürzen und dann geradewegs auf das Eisen selbst fallen konnte. Mal abgesehen davon, dass das Ding schon völlig verrostet war. Selbst als Phexensdiener war der Herr Baron von Friedwang schon besser in Form gewesen.

“Das ist ein alter, rostiger Ochsenschuh, Papa!” sagte er leise, fast schon flehentlich. “Ein Klaueneisen. Nichts weiter.”

“Ist es nicht!” Alrik klappte den Rüsthaken am Harnisch auf und hängte das Hufeisen ein. “Ein Ochsenschuh hat eine geschlossene Platte. Hier, als Erinnerung an deinen ersten Lanzengang. Was soll ich sagen? Wenigstens bist du in die richtige Richtung galoppiert.”

“I...ich danke dir, Vater.” Alboran hätte selbst nicht sagen können, ob diese Worte sarkastisch klingen sollten.

“Schon gut. Dass du kein Feigling bist, hast du mir zur Genüge bewiesen, in den Trollzacken. Serwa wird sich um deine Wunde kümmern. Sie hat ja immer ein paar Kräutlein bereitliegen, in ihrer Hausapotheke.” Alrik klang schon wieder vergnügt. “Rovik beult dann den Rest aus, mein Sohn.”



Nordmärkischer Lanzengang 

Eckbert von Baernfarn fühlte sich unwohl in all dem Trubel. Er war einfach kein Mensch für Turniere und Festlichkeiten. Das Gedränge, die Menschenmassen, das fröhliche Treiben überforderte ihn einfach. Aber das allein war es nicht.

Tsalinde half ihm, die Rüstung anzulegen. „Das ist doch ein Heimspiel für Dich, Eckbert.“ sagte sie, die Verunsicherung ihres Knappenherrn bemerkend. „Hier in der Sichel, deiner alten Heimat.“

„Heimat, naja“, nickte Eckbert. „Eine Heimat, die ich seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen habe. Eine Familie, die ich ebenso lange nicht mehr gesehen habe. Sieh dort, die Baronin von Gallys. Als ich in die Nordmarken gegangen bin, hatte sie noch nicht einmal Praios Antlitz erblickt. Eine Familie, die die meine ist, die ich aber kaum mehr kenne. Nein, Tsalinde. Wenn mir diese Reise in die Heimat eines klar gemacht hat, dann dass ich ein Nordmärker bin… Der Gernat und der Jargel sind nichts, wenn man den Großen Fluss kennt…“

Tsalinde verstand, wass Eckbert meinte. Besser, sie lenkte das Thema auf den bevorstehenden Kampf. „Dein Gegner, kennst du ihn? Kannst du ihn einschätzen?“

„Darbrod von Zweifelsfels? Nein, ich weiß nicht, wie gut er ist. Aber er wirkt souverän und ruhig, er scheint erfahren zu sein. Ein wenig konnte ich ihn beim Training beobachten. Ich sollte ihn nicht unterschätzen.“

„Hast du eine Taktik? Wie willst du ihm begegnen? Worauf können wir Dich vorbereiten?“

„Nun, schwierig. Bei der Flussgarde ist das Lanzenreiten nicht die Königsdisziplin. Der bewaffnete Zweikampf ist eher mein Ding. Aber das hilft mir auch nicht weiter. Erst muss ich den Tjost überstehen. Beim Lanzengang sehe ich ihn mit einem leichten Vorteil.“ Eckbert blickte ausdruckslos auf das Turnierfeld. „Ich sehe zwei mögliche Arten, den Tjost zu gestalten. Entweder ich bleibe sehr defensiv, um mich in den Bodenkampf zu retten… aber wenn er mich dabei durchschaut, wird Darbrod das ausnutzen und kann viel mehr ins Risiko gehen. Dann werde ich im zweiten und dritten Gang ein Problem damit bekommen, mich im Sattel zu halten. Vermutlich eine unlösbare Aufgabe.“ Eckbert legte eine Kunstpause ein.

„Oder?“

„Nun, oder wir gehen beide aus dem Sattel. Ich gehe voll ins Risiko und hoffe, ihn mitzunehmen.“

„Das wäre ein Vas-Banque-Spiel.“ meinte Tsalinde.

„Sicher. Nun, ich werde mich für eines von beiden entscheiden. Aber ein Nordmärker zaudert nicht. Ich bin nicht hier her gekommen, um nach einer Runde auszuscheiden. Ich denke, ich werde meine beiden Taktiken kombinieren. Denn nur defensiv sich über die Runden retten, das ist nicht die rechte nordmärker Art.“

„Was meinst du damit, Eckbert?“

„Na warte es ab, Tsalinde. Aber wenn ich verliere, dann wird wenigstens niemand sagen, dass Nordmärker keinen Mut hätten. Und jetzt hilf mir mit der Rüstung. Der Schlotzer Baron ist schon auf dem Kampfplatz, und danach bin ich schon an der Reihe.“

Eine kurze Weile später lenkte Eckbert sein Ross im gemächlichen Schritt zum Turnierplatz. Eckbert war spät, fast zu spät. Darbrod war bereits im Sattel und wartete. Der Herold hatte ihn bereits zum zweiten mal ausrufen lassen. Wäre Eckbert nach dem dritten Aufruf nicht erschienen, dann wäre er ausgeschieden und Darbrod zum Sieger gekürt worden. Aber die Verspätung, mit der Eckbert erschienen war, war beabsichtigt. Er war nicht zu spät gekommen, weil er mit dem Anlegen der Rüstung nicht hinterher kam, nein, er war zu spät gekommen, weil er das wollte. Eckbert hatte in seinem Zelt auf den zweiten Aufruf gewartet, bis er den Herold zum zweiten mal gehört hatte. Bis Tsalinde laut gerufen hatte, ´Herr Eckbert, Ihr müsst jetzt aufsitzen!` Eigentlich hätte ihm das unangenehm sein müssen, so zauderlich zu wirken. Das Zelt Darbrods war nicht weit weg von seinem Zelt. Sicher hatten die Gefolgsleute Darbrods alles mitbekommen. Sollten sie.

Mit einem schicksalsergeben ausdruckslos wirkenden Gesichtsausdruck brachte er sein Ross auf den Turnierplatz vor dem Turnierrichter zum Stehen. Höflich nickte er dem Turnierrichter – seinem Vater Deggen – zu und verneigte sich auch ehrerbietungsvoll vor seinem Gegner.

„Nun, ich sehe, beide Ritter sind erschienen, rechtzeitig…“ begrüßte Deggen Darbrod und Eckbert, mit einem vorwurfsvollen Blick auf seinen Sohn. Unpünktlichkeit war etwas, das der alte Rondrianer nicht mochte. Seinen Gegner warten zu lassen, das konnte auch zu leicht als Anflug von Feigheit interpretiert werden. Das hätte Deggen bei seinem Sohn nicht erwartet. Aber als Turnierrichter war es nicht seine Aufgabe, jetzt etwas bei der ritterlichen Ausbildung seines Sohnes nachzuholen, was sein Knappenherr vielleicht früher versäumt hatte.

Eckbert und Darbrod folgten der Aufforderung sich in die Ausgangspositionen zu geben. Der Nordmärker wirkte dabei steif und ungelenk.

Auf das Zeichen des Turnierrichters trieben beide Kontrahenten ihre Reittiere an. Eckbert hatte sich leicht nach hinten gebeugt, den Oberkörper leicht gedreht, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten und die Lanze des Gegners leichter abgleiten zu lassen. Auch Darbrod schien eine vorsichtige Taktik für den ersten Lanzengang gewählt haben. Ein Abtasten, Fähigkeiten und Mut des Gegners zu erfahren.

Beide Lanzen berührten ihre Gegner, ohne jedoch einen von ihnen ernsthaft in Gefahr zu bringen, aus dem Sattel zu rutschen.

Im Vorbeireiten nahm Eckbert wahr, dass Darbrod einen Tjosthaken verwendete, um die Lanze darin einzuhängen und einen kräftigeren Stoß ausüben zu können. Eckbert hatte damit gerechnet. Vielmehr, er hatte darauf gehofft, denn das war ein Bestandteil gewesen, auf dem seine Plan fußte.

Wieder stellten sich beide Teilnehmer auf, wieder trieben sie ihre Pferde an, wieder nahm Eckbert eine leichte Rücklage ein.

Darbrod trieb sein Pferd schneller an, senkte die Lanze, beugte sich nach vorne.

Darauf hatte Eckbert gehofft. Auch er senkte seine Lanze, trieb sein Pferd an, blieb aber in einer defensiven Körperhaltung. Er hatte gehofft, seinen Gegner zu einem sehr offensiven Tjost zu veranlassen. Einen zu offensiven Tjost. Es schien zu gelingen.

Die Pferde näherten sich einander. Noch dreißig Schritt. Noch Zwanzig.

Eckbert brachte seinen Körper in Vorlage, brachte den Schild in Position.

Noch zehn Schritt.

Auf seine eigene Lanze achtete Eckbert kaum. Er hielt sie nur grob in die Richtung des Gegners. Stattdessen spähte er auf die Lanzenspitze des Gegners, versuchte zu erahnen, wo diese einschlagen würde. Zentral mittig zum Oberkörper hin, sehr ritterlich, um den Kontrahenten nur aus dem Sattel zu heben ohne ihn unnötig zu verletzen.

Aufprall.

Eckbert wich mit dem Oberkörper nach rechts aus und ließ die Lanze Darbrods unter seiner Schulter, zwischen Arm und Brust, hindurchgleiten, Mit dem Ellenbogen klemmte er die Lanze des Gegners fest, ließ sie – und damit den Gegner – nicht aus.

Gleichsam wie Loren, die auf der selben Schiene aufeinander zu rasten, rasten die beiden Ritter, verbunden durch eine im Haken an Darbrods Rüstung und unter Eckberts Arm eingekeilt, aufeinander zu. Die in Eisen gewandeten Recken würden unmittelbar zusammen stoßen!

Darbrod und Eckbert prallten unmittelbar zusammen, wie eine unlösbare Verbindung hatte die eingefangene Lanze Darbrods die beiden Ritter aufeinander zu geführt. Beide verkeilten sich ineinander, rutschten aus dem Sattel.

Beide Pferde galoppierten reiterlos weiter.

Eckberts Schädel dröhnte. Die Luft blieb ihm weg, sein Schildarm schmerzte. Dann der Aufschlag auf dem sandigen Turnierplatz. Irgendwie kam er zum liegen. Sein Helm war verrutscht. Er konnte nichts sehen. Eckbert kämpfte den Schmerz nieder, der in seiner Schulter pochte. Hoffentlich hatte er sich keine Knochen gebrochen.

Mühsam brachte er sich in Bauchlage, stemmte sich hoch.

Diese verdammten Schmerzen.

Er schob sich mit der unverletzten Rechten seinen Helm zurecht.

Noch immer konnte er sich kaum orientieren. Irgendwie fühlte er keinen Unterschied zwischen oben und unten. Aber er konnte sehen, das Visier gab einen Blick frei. Wo er den Himmel sah, da musste wohl oben sein, dachte Eckbert, auch wenn sonst kaum ein Gedanke in seinen vor Schmerz pochenden Schädel Platz fand.

Nun, vermutlich ging es Darbrod nicht anders. Nur, dass Eckbert darauf vorbereitet gewesen war. Eckbert sah, dass auch der Zweifelsfelser sich aufgerappelt hatte.

Deggen gab mit einem Wink seiner Fahne den Zweikampf am Boden frei. Beide Kontrahenten zogen ihr Schwert. Darbrod war sichtlich angeschlagen vom Sturz, und Eckbert war durch seinen jahrelangen Dienst in der Flussgarde ein guter Schwertkämpfer geworden. Nach einem kurzen Klingenkreuzen traf Eckberts Klinge mit einem wuchtigen Schlag auf die Klinge Darbrods, knapp über der Parierstange. Durch die Wucht des Hiebes wurde dem Zweifelsfelser das Schwert aus der Hand geschlagen.

Eckbert setzte dem entwaffneten Gegner nicht nach. Der Zweikampf war entschieden.

Zweite Runde

 

  1. Alrik von Sturmfels vs. Finyara von Zweifelfels

Die erste Paarung der zweiten Runde begann mit Beifall. Die ersten zwei Lanzengänge waren von starken Angriffen und gekonnter Sattelfestigkeit beider Kontrahenten geprägt. Was die Zweifelfelserin gegen den Sturmfels an Erfahrung hinterher lag, konnte sie durch ihr offensives Verhalten wettmachen. Der erste Stoß gar war derart wuchtig, dass Alrik von Sturmfels nach der Parade sichtlich geschwächt wirkte. Im dritten Lanzengang ballte der Sturmfels alle Kraft in einen Angriff, der jedoch sein Ziel gar nicht treffen musste. Die offensive Art von Finyara von Zweifelfels wurde ihr zum Verhängnis und sie fiel in einem hohen Bogen vom Ross, konnte sich jedoch glücklicherweise völlig unverletzt wieder erheben. Sieg eines erschöpften Alrik von Sturmfels.

 

  1. Jadvige von Kressenbrück vs. Merovahn von Mersingen

Nach einem ersten sich aneinander herantasten, begann der technisch überlegene Mersingen mit derart starken Angriffen, sodass die zähe Kressenbrück mühe hatte nicht vom Pferd zu fallen, was sie ihrer defensivens Kampfart verdankte. Sieg von Merovahn von Mersingen schließlich nach einem langen zehrenden Zweikampf zu Fuß, bei dem sich zwei ebenbürtige Gegner gegenüberstanden und nur aufgrund der Erschöpfung der gealterten Jadvige diese unterlegen war.

 

  1. Tiro von Friedwang-Havensgaard vs. Mirl von Mees-Mersingen

Drei Lanzengänge vergangen ohne großes Spektakel, nur im zweiten versuchten beide verbissen den anderen vom Pferd zu stoßen, doch aufgrund der beiderseitigen meisterlichen Sattelfestigkeit vergebens. Im Fußkampf jedoch konnte der Friedwang recht bald die Oberhand gewinnen und entwaffnete Mirl von Mees-Mersingen im zweiten Schlagabtausch. Sieg von Tiro von Friedwang-Havensgaard.

 

  1. Roderick von Oppstein vs. Gerbold von Zwölfengrund

Der Lanzengang begann wenig ruhmreich, aber verwegen. Der Oppsteiner zeigte sich unerwartet offensiv, der Zwölfengrunder vorsichtig zurückhaltend. So traf eine wuchtige Turnierlanze von Roderick das Schild von Gerbold und das Holz zersplitterte. Gerbolds Lanze war derart unglücklich gelegen, dass sie bei der Parade plötzlich nach unten zeigte und ihn vom Pferd warf. Roderick war von dieser seltsamen, ihm erschienen Finte derart verwirrt, sodass er mit dem Körper zu stark zur Seite wich und wie ein Stück Metall herunterfiel. Beide unverletzt begannen sodann den Fußkampf, wobei Roderick von Oppstein seine geringere Erfahrung bald zum Verhängnis wurde und ein dennoch erschöpfter Gerbold von Zwölfengrund im zweiten Schlagabtausch siegte. 

 

  1. Inpolt von Binsböckel vs. Basin von Richtwald

Nach einem gekonnten Lanzengang beider Kontrahenten ging die offensive Strategie des Binsböckel im zweiten Lanzengang zunächst auf und ein kräftiger Stoß ließ Basin von Richtwald fast vom Pferd fallen, dennoch konnte er sich sichtlich geschwächt halten. Im dritten und entscheidenden Lanzengang jedoch setzte der Richtwalder mit einem kräftigen Angriff an. Inpolt von Binsböckel fokussierte auch selbst auf die Offensive und vernachlässigte grob seine Sattelfestigkeit, sodass der Binsböckel direkt getroffen wurde und vom Pferd stürzte. Nachdem er reglos am Boden lag, stürzten sofort Knechte herbei und riefen die Medica, da er blutüberströmt und schwer verletzt schien. Sieg von Basin von Richtwald.

 

  1. Alrik Eckbert von Baernfarn vs. Randolph von Vairningen 

Die ersten beiden Lanzengänge zwischen Alrik Eckbert von Baernfarn und Randolph von Vairningen. Weder konnte der Baernfarn mit seiner offensiven Art punkten, noch konnte der Herr von Vairningen etwaige defensive Schwachstellen ausnutzen. Im dritten Lanzengang jedoch setzte Randolph eine Perfektion in der Lanzenführung wie Sattelfestigkeit an - wie sie das Publikum bisher im Turnier noch nicht gesehen hatte und mit großem Jubel begleitet wurde -, sodass Baernfarn wenig glanzvoll und leicht verletzt vom Ross gestoßen wurde. Sieg von Randolph von Vairningen.

 

  1. Matissa von Bregelsaum vs. Praiosmin von Bregelsaum 

Auch wenn die beiden Bregelsaumerinnnen als ähnlich erfahren galten, so trat Matissa bereits etwas erschöpft von der ersten Runde an. Praiosmin setzte gleich im ersten Lanzengang mit einem starken Angriff an, fast so, als würde sie die Zähigkeit ihrer Gegnerin testen wollen. Matissa konnte sich kompetent halten, doch die Parade des Stoßes ließ ihre Kraft tatsächlich weiter schwinden. So nahm Matissa all ihre Kräfte zusammen und setzte selbst alles auf einen starken Angriff an, während sie die Defensive hintanhielt. Praiosmin dagegen tat es ihr gleich, doch waren ihre verbliebenen Kräfte ungleich stärker. Geschwächt und mit schließlich wenig Vorsorge in der Parade wurde Matissa vom Ross gestoßen und zog sich unglücklich schwere Verletzungen zu, sodass sie gleich ins Zelt der Medica gebracht wurde. Sieg von Praiosmin von Bregelsaum.

 

  1. Cordovan von Bregelsaum vs. Welfert von Mersingen

Zwei meisterliche Lanzenführer traten in der letzten Paarung der zweiten Runde gegeneinander an und so konnten sich beide drei Lanzengänge gekonnt am Ross halten. Als zum Zweikampf zu Fuße übergegangen wurde, so war Heermeister Welfert von Mersingen dem Bregelsaumer weitaus überlegen. Dennoch schaffte es Cordovan, ganze drei Schlagabtäusche seine Position zu halten, bis er schließlich gekonnt von Welfert von Mersingen besiegt wurde.



Wie gewonnen, so zerronnen

 

Schmerz. Unsäglicher Schmerz. Pein in ihrem gesamten Körper. Dies war die erste Empfindungen, welche Matissa heimsuchten. Ohne Orientierung und Kontrolle über ihren Körper, kam sie zu sich. Hufe donnerten dumpf in ihrer getrübten Wahrnehmung. Sie musste kurz die Besinnung verloren haben. Ihr schwindelte und sie verkrampfte sich in einem trockenen Hustenanfall auf dem Boden, während der Tumult um sie ausbrach. 

Da waren Stimmen, viele, doch sie verstand sie nicht. Der erste Versuch, sich zu aufzurichten, scheiterte kläglich. Ihr Körper gehorchte ihr nicht, oder nur unzureichend. Matissa drehte sich auf die Seite. Dann spürte sie erstmals den stechenden Schmerz unter ihrem rechten Arm und sie tastete mit der linken dorthin, schrak aber sogleich zurück. Unterhalb ihrer Schulter, dort wo nur das Kettenhemd sie schützte, steckte etwas in ihr und ihre Finger waren von Feuchtigkeit bedeckt, welches nur ihr eigenes Blut sein konnte.

Matissa hätte fluchen wollen, doch ihre Zunge war wie gelähmt, klebte träge an ihrem Gaumen. Immer noch sah sie verschwommen durch das Visier ihres Helms, erkannte nur wage Umrisse von Menschen, die auf sie zueilten und dann Hände, die sie sanft, aber bestimmt wieder zu Boden drückten, bis sie ruhig auf dem Rücken lag. Dies war der Moment, wo die Besinnungslosigkeit Matissa erneut niederrang.

Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, lag die Rabenmärkerin auf einer Liege in einem Zelt aus sandfarbenem Planen, die sich über sie erstreckten. Dies war das erste, was sie wahrnahm. Dann roch sie die Antiseptika und die unverkennbare Note von Eisen. Sie roch Blut. 

Müde und benommen ließ sie ihren Kopf zur Seite rollen. Sie stöhnte auf, denn selbst diese Bewegung schmerzte. Ein Schemen, der neben ihr saß, erhob sich. Noch bevor sie die Stimme desjeniegen vernahm, roch sie ihn und sie verzog spöttisch, aber zugleich erleichtert die Mundwinkel.

“Ilgar…”

“Schweig”, fiel er ihr sogleich ins Wort. “Du hast viel Blut verloren.' Der Splitter der Lanze drang tief in dein Fleisch. Er verkeilte sich aber in deinen Rippen und drang nicht hindurch. Du hast Glück gehabt.

Ein Magus hat sich deiner sofort angenommen. Die Wunde ist versorgt. Du wirst bald wieder auf die Beine kommen, wenn du anständig isst und trinkst. Du musst zu Kräften kommen.”

“Ein Magus…? Wie?”, stammelte sie und hustete, was erneut Schmerzen in ihr aufwallen ließ. 

“Ruhig”, beschwichtigte Ilgar Matissa sogleich und legte ihr eine Hand sanft auf die Stirn. Mit der anderen begann er ihr vorsichtig einen starken Tee einzuflößen.

“Ja, er war nicht billig, zugegeben. Aber der Wettgewinn reichte aus, um seinen Dienst zu begleichen. Ich war überzeugend genug.”

Wieder verzogen sich ihre Mundwinkel vor leichtem Spott. Dennoch war sie froh, ihn an ihrer Seite zu wissen- wie stets. Dennoch, ‘wie gewonnen, so zerronnen.'

 

Dritte Runde - Viertelfinale

 

  1. Alrik von Sturmfels vs. Merovahn von Mersingen 

Sowohl der Sturmfels als auch der Mersingen galten als meisterlich im Umgang mit der Lanze wie in der Sattelfestigkeit, jedoch betrat Alrik von Sturmfels bereits leicht angeschlagen das Feld der Ehre. Im ersten Lanzengang konnte Alrik einem gekonnten Angriff ebenso gekonnt eine Parade entgegen setzen, ohne selbst punkten zu können. Im zweiten Lanzengang zeigte sich die Erschöpfung und die Sattelfestigkeit war nicht ausreichend, sodass Alrik von Sturmfels durch die Mersinger Lanze getroffen vom Pferd stürzte und sich leichte Verletzungen zuzog. Sieg von Merovahn von Mersingen.

 

  1. Tiro von Friedwang-Havensgaard vs. Gerbold von Zwölfengrund 

Die zweite Paarung des Viertelfinales war von ungleichen Kontrahenten geprägt. So galt der an Turniererfahrung weitaus kompetentere Tiro von Friedwang-Havensgaard als meisterlich sowohl beim Tjost als auch im abgesessenen Zweikampf und pflegte einen defensiven Kampfstil. Gerbold von Zwölfengrund war zwar erfahren, aber ragte nicht an seinen Gegner heran, noch dazu war er erschöpft von der vorherigen Runde. Unter Beifall des Publikums konnte sich der Zwölfengrunder jedoch drei Lanzengänge auf dem Ross halten, sodass zum Fußkampf übergegangen wurde.Selbst dort konnte er sich gegen den Friedwanger ganze drei Schlagabtausche beweisen, wurde schließlich von Tiro von Friedwang-Havensgaard in die Enge getrieben und letztlich besiegt.

 

  1. Basin von Richtwald vs. Randolph von Vairningen

Bereits in der vorherigen Runde war Basin von Richtwald mit starken Angriffen im aufgefallen und so setzte er gleich bei der ersten Konfrontation mit einem glanzvoll perfekten Lanzengang die Aussichten eines unterlegenen Randolph von Vairningen ein jähes Ende, welcher leicht verletzt getroffen vom Ross stürzte. Man einer im Publikum wollte den Richtwalder gar “Basin von Hinrichtwald” genannt wissen. Sieg von Basin von Richtwald. 

 

  1. Praiosmin von Bregelsaum vs. Welfert von Mersingen

Welch letzter Kampf im Viertelfinale! Die Bregesaumerin und der Mersingen vollführten im ersten Lanzengang ein Duell begnadeter Vollendung und Kraft, was nicht nur den Zuschauern, sondern auch dem Turnierrichter und Rondrageweihten Deggen von Baernfarn als fast heiliger Moment der Leuin vorkam. Im zweiten Lanzengang setzten beide abermals (!) mit größter Intensität nach, jedoch begann ihre Sattelfestigkeit aus Erschöpfung leicht zu schwächeln. Der dritte Lanzengang war demnach weniger spektakulär. Im Schwertkampf war der Heermeister der Rabenmark der Bregelsaumerin weitaus überlegen. Auch wenn sie sich eine Zeit lang wehren konnte, wurde sie schließlich eindeutig von Welfert von Mersingen besiegt.

 

Vierte Runde - Halbfinale

 

  1. Merovahn von Mersingen vs. Tiro von Friedwang-Havensgaard 

Ein ungleiches Paar stand sich hier gegenüber - weniger in der Kampferfahrung, die durchaus vergleichbar war, als vielmehr von der Herkunft her. An der einen Seite Tiro von Friedwang-Havensgard, der als Bürgerlicher aufgewachsen war; an der anderen Seite Merovahn von Mersingen, zu einem der ältesten Adelshäusern des Mittelreiches gehörig und von Klein Auf hochadelig für höhere Weihen erzogen. 

Drei Lanzengänge führten dabei zu keinem Sieger. Der defensive Kämpfer Tiro zeigte unüberwindbare Sattelfestigkeit und es war fast so, als würde der Mersinger strategisch ebenfalls eine vorsichtige Art einschlagen, als erwartete er selbst nicht, seinen Gegner im Lanzengang zu besiegen. Seine Strategie schien aufzugehen, denn im dann übergegangen abgesessenen Kampfe zeigte sich Merovahn tatsächlich überlegen. Der Friedwagner schlug sich wacker, drei Schlagabtäusche lang, wurde jedoch zusehends bedrängt durch Finten und versuchte Windmühlen des Mersingers, sodass dieser letztlich die Verteidigung durchbrechen konnte und die Mersinger Klinge an der Kehle von Tiro landete. Sieg von Merovahn von Mersingen als erster Finalist.

 

  1. Basin von Richtwald vs. Welfert von Mersingen

Das zweite Gefecht des Halbfinales führte wesentlich rascher zu einem Ende. Im ersten Lanzengang tasteten beide noch vorsichtig aneinander heran. Im zeiten Lanzengang jedoch setzte der Richtwalder - wie schon überraschend mehrfach in diesem Turnier - einen starken Lanzenstoß an. Der geschwächt wirkende Welfert von Mersingen versuchte mit dem Schild zu parieren, Holz zersplitterte, und der Mersinger fiel mitsamt glänzender Rüstung vom Ross. Zum Überdruss schien er sich leichte Blessuren geholt zu haben und musste etwas humpelnd von einem Pagen gestützt das Feld verlassen. Der zweite Finalist stand mit Basin von Richtwald somit fest.

 

Fünfte Runde - Finale

Alboran nippte an seinem herbsüßen Gernatsqueller Met. Der junge Baron versuchte die pochenden Kopfschmerzen ebenso zu vergessen wie die peinliche Schmach, gleich beim allerersten Lanzengang aus dem Sattel gekippt zu sein. Zu Boden geplumpst wie dieser lächerliche Gnomenfürst, beim Scherzturnier. Der Baron von Schlotz saß in der überdachten Loge, die in der Mitte der Tribüne aufragte, auf dem Ehrenplatz neben Haldana sowie dem Herren und der Herrin von Gernatsborn. Sein Blick ging zu den Zaddeln, mit denen der Baldachin verziert war, und von denen gerade etwas Herbstregen herabtropfte. Um ihn herum hatten sich die übrigen Anverwandten und Ehrengäste versammelt, darunter auch die hohe Geistlichkeit. Der einzige Nachteil hier oben war das ständige Tröten der Fanfarenbläser, die zwischen Treppe und Absperrung standen. 

 

Sein hochgeborenes Haupt war mittlerweile dick bandagiert, durch Serwas fachkundige Hände. Der junger Baron fragte sich, ob es so etwas wie eine Schlotzer Baronskrone gab, und er demnächst noch zum Herrn des Landes gekrönt werden würde. Mit dem Verband würde das schwierig werden.... Zu Hause in Friedwang, da hatten sie so einen perlenbesetzten Reif in der Schatzkammer. Aber die Friedwang-Glimmerdiecks nahmen sich gerne wichtiger, als sie im Reiche Rauls des Großen waren. Die Vorstellung, so ein Ding auf den schmerzenden Schädel gestülpt zu bekommen, war irgendwie unangenehm. 

 

Die übrigen Schmerzen waren leichter zu verkraften. Außer dem Kopfbrummen war ein leichtes Hinken zurückgeblieben, ein paar blaue Flecken und ein allgemein flaues Gefühl. Ebenso die verstauchte Hand, die Serwa dick mit einer schmerzlindernden Salbe bestrichen hatte. Hoffentlich nicht mit irgendeinem sokramurischen Hexenzeug...Dieser Luminifer Ucurian schnupperte schon die ganze Zeit mißtrauisch in seine Richtung. 

 

Albo schielte zu seiner Gemahlin, Haldana, die schon wieder etwas besser gelaunt war. Sein Reinfall - oder besser gesagt sein Runterfallen - schien nicht mehr von Bedeutung zu sein.

Es hatte wahrlich schwerere Verwundungen gegeben, bei den krachenden Lanzengängen. Vor allem hatte sich Basin wirklich als "Hinrichter" für seine Gegner erwiesen, im Tjost. Einen Kontrahenten nach dem Anderen hatte der Landvogt aus dem Sattel gehoben. Albo nicht, das durfte er mit Fug und Recht von sich behaupten...die Schmach wog da am Ende nicht mehr gar so schwer?!

 

Immer wieder traf dem "Herrn Baron" sogar ein anerkennender Blick aus den Reihen des einfachen Volkes. Ganz so, als habe der todesmutig gegen einen unüberwindlichen Riesen seinen Mann gestanden. Papa hatte schon Recht. Der Plebs war wankelmütig...Die Himmlische Leuin hatte offenbar beschlossen, ihm nur eine Warnung, vielleicht auch Mahnung zukommen zu lassen. Seine Gedanken schweifte zu dem Meckerdrachen, dem seine hexische Stiefgroßmutter ihm geschickt hatte, im Sommer. Seitdem hatte er nichts mehr von dem merkwürdigen Boten gehört. Knister vom Drachenwald...hatte der Geschuppte damals nicht "in ein paar Tagen" zurückkehren wollen? Ein paar schöne Wochen und Monde waren vergangen, ohne dass dieses flatterhafte Lästermaul wieder aufgetaucht war. Natürlich, die Göttin hatte ihn strafen wollen, weil er dem Abgesandten des Hexenvolks zugehört hatte. Statt ihn sofort aus der Rondrakapelle von Burg Schlotz zu verjagen. Wahrscheinlich hatte sich das kleine Untier irgendwo krachend in ein Schwefelwölkchen aufgelöst oder war von einem Greifen gefressen worden. Alboran lächelte selbstzufrieden und griff nach Haldanas schönen, zarten, langen Fingern, die auf der Nachbarstuhllehne lagen. Finger, die nicht nur für das Lautenspiel hervorragend geeignet waren...Haldana lächelte ihn an und erwiderte den Händedruck. Mit dem leichten Herbstregen endete auch jedwedes Kümmernis zwischen ihnen beiden. 

 

Unten auf der Turnierbahn nahte nun das große Finale. Merovahn von Mersingen gegen Basin von Richtwald. Ein wahrlich hochkarätiges Duell, wie man es selbst zu Rommilys nicht alle Tage zu sehen bekam.

 

Der Pfalzgraf ritt ein wie ein Held aus altvorderen Zeiten, in seiner nachtschwarzen Rüstung. Blass war er, großgewachsen und ein wenig düster, jeder Spann ein furchtloser Edelmann. Es war schwer zu sagen, was hinter der hohen Stirn des Mersinger Familienoberhaupts vor sich ging, der wohl um sämtliche Meisterpläne seines Hauses wusste. Stolz zeigte er seinen Schild, beim "Heimspiel". Auf den drei schwarzen Balken vor goldenem Grund prangte ein roter Greif. Im Vergleich zu Merovahn wirkte der Richtwalder klein und gedrungen, aber Alboran musste zugeben, dass der Landvogt mit seinem Mehrtagebart ziemlich gutaussehend war. Verdammt gut aussehend. 

 

Der Baron von Schlotz konnte kaum glauben, dass er vor wenigen Stunden noch einen Sieg gegen dieses schöne, zweibeinige Raubtier aus den Nordmarken für möglich gehalten hatte.

 

Glyrana und Syrenia sahen bewundernd in Richtung ihres Bruders Merovahn und klatschten dezent Beifall. Glyranas Page, der kleine Ravenhart, der wohl nicht zufällig mit dem Ausschenken betraut war, oben auf der Tribüne, strahlte in Richtung seines Onkels. Sicher war es das erste Turnier, das er erlebte. Alboran blickte wieder ein wenig säuerlich. In Ravenharts Alter hatte er zu Parinor Rukus von Oppstein aufgeblickt, seinem eigenen Onkel, dem Inquisitionsrat. Sein Vorbild gab es nicht mehr. Nun musste er froh sein, in den hohen Adel einheiraten zu dürfen. Alboran bedauerte es, nicht das geweihte Sonnenamulett angelegt zu haben, dass ihm der spätere Märtyrer der Schlacht auf dem Mythraelsfeld geschenkt hatte. 

 

Mervovahn verneigte sich knapp vor den Zuschauern und hob seinen Schild. Ehrlicher Jubel brandete auf, schließlich war Gernatsborn Mersinger Lehensland. Es würde sicher Götterläufe dauern, bis wieder ein Kämpfer dieses Schlages eine Lanze in der Gegend brechen würde, wenn überhaupt. Der Richtwalder erntete eher pflichtschuldigen Beifall (ebenso wie heimlich schmachtende Blicke der Damenwelt).

 

Alboran seufzte und wandte sich wieder dem Met zu, um den Gedanken an sein frühes, schmerzliches Turnieraus endgültig zu verdrängen. Die Recken stülpten sich ihre Helme über, klappten die Visiere herunter und lenkten die schwer stampfenden Streitrösser in Richtung Schranke. Erneut schmetterten die Fanfaren. 

 

Aarmarsland warf sich schon wieder in Pose. 

 

"Volk von Schlotz, werte Gäste von nah und fern, Edle und Niedergeborene! Der Augenblick der Entscheidung ist gekommen. Ihr alle wisst, wer hier gegeneinander antritt. Seine Hochwohlgeboren Merovahn von Mersingen, Pfalzgraf zu Weidleth und Baron zu Schnattermoor" - eine formvollendete Verbeugung - "gegen Seine hochgeborene Exzellenz Basin von Richtwald, Baron zu Vairningen und Landvogt der Mark Rommilys." Ein weiterer Kratzfuß. "Nun wird sich zeigen, wer der Sieger des Tjosts sein wird, beim großen Turnier zu Gernatsborn im Jahre 1043. Euer Gnaden, waltet bitte Eures Amtes, in Rondras Namen."

 

Das galt Deggen von Baernfarn. Der Geweihte warf gerade seine Fahne in die Höhe, fing sie auf, schwenkte sie, schleuderte sie erneut hoch, fing sie wieder auf und quittierte den Extraapplaus des Publikums mit einem Lächeln. Dann reckte er das rotsilberne Tuch mit dem Löwenwappen seiner Kirche in die Höhe.

 

Einen Augenblick lang wurde es auf dem Turnierplatz mucksmäuschenstill. Irgendwo lallte und stammelte ein kleines Kind. Das Volk drängte sich an den Absperrungen. Selbst die ausdauerndsten Zecher senkten ihre Becher, Humpen und Trinkhörner.

 

Die Kontrahenten preschten los, leicht gebeugt und mit erhobenen Lanzen, die geschmückte Schranke entlang. Aus der Bewegung heraus senkten sie ihre schweren Waffen. Beide stießen sauber und gekonnt zu, aber es blieb bei einem Abtasten. Die Krönlein glitten vom geschickt vorgehaltenen Schild des jeweils anderen ab.  Das Publikum raunte, fast ein wenig enttäuscht.

 

Zweiter Anritt. Jetzt gerieten sowohl Basin als auch Merovahn  ins Torkeln, die Lanze des Mersingen zersplitterte, aber auch der Richtwalder machte keine allzu gute Figur. Der Schild mit den gekreuzten Schwertern und den Eicheln hing Basin halb vom Arm. Offenbar war die dicke, lederne Ellenbogenschlaufe der Innenseite gerissen. Rasch wurde Ersatz herbeigeschafft. 

 

Alboran runzelte die Stirn. Es war Tjost auf hohem Niveau, was er da erlebte (soweit er als Anfänger das beurteilen konnte). Dennoch hätte er gerade den Pfalzgrafen als stärker eingeschätzt. Lag es an beginnender Erschöpfung, in den überschweren Rüstungen? Immerhin steckten die Finalisten schon seit Stunden in ihrer stählernen Haut. 

 

Die Fahne senkte sich zum dritten Lanzengang. Die Hufe dröhnten, die Schabracken und Federn wehten. Diesmal zerstoben beide Lanzen in Dutzende Splitter. Die Reiter wankten und schwankten unter der Wucht des Aufpralls, wie Eichen im Sturmwind. Es war kaum zu glauben, dass keiner der beiden Kämpen stürzte. Nun war die Menge doch begeistert, johlte, trampelte und schrie.

 

Auch Aarmarsland war ganz aus dem Häuschen und rühmte in blumigen Worten die gezeigte Sattelfestigkeit. 

 

Die Ritter stiegen ab, für den entscheidenden Fußkampf, zogen scharrend ihre Turnierschwerter und umkreisten sich lauernd, in respektvoller Entfernung. Jeder wusste nur zu gut um die Stärke des Anderen. Spätestens jetzt. 

 

Merovahn schlug als erster zu. Verbissen drangen beide aufeinander ein. Beide Streiter erwiesen sich rasch als gleichwertig, im klirrenden Schlagabtausch.  Der Mersinger wirkte erfahrener, aber bei manchen Hieben, Schnitten und Stichen ein wenig unbeherrscht. Sein jüngerer Gegner war schnell und beweglich, aber zugleich geduldig. Schaukämpfer waren sie nicht, keiner wollte sich einen größeren Fehler erlauben. Alboran hätte nicht zu sagen vermocht, wem er den Sieg wünschte, seinem "Bezwinger" Basin oder Merovahn, dessen Neffe Ravenhart ihm den Titel als friedwanger Baron abgefuchst hatte. Finte, Schlag, Gegenschlag. Der Kampf zog sich über die vollen drei Runden. 

 

So langsam gewann Basin doch die Oberhand, wenn auch nach Punkten. Als Deggen den Sieg des Landvogts verkündete, reckte der fast schon erstaunt die Klinge nach oben. Ein mühsamer Arbeitssieg, aber - der Nordmärker hatte gerade den Pfalzgrafen von Weidleth bezwungen? Unglaublich. Das Volk spendete langanhaltenden Beifall. 

 

Siegerehrung

 

"Das ist das Schöne" brummte Alboran, eher, um überhaupt etwas zu sagen, "bei so einem Turnier sind die verrücktesten Sachen möglich."

 

Haldana lächelte nachsichtig, entgegnete aber nichts, sondern klatschte vornehm.

 

Unten versuchten die Bauernkinder bereits, möglichst viele Holzsplitter und vor allem die Krönlein der zerbrochenen Lanzen zu ergattern, mit einigem Gezanke. Wenig später stieg der Sieger die Treppe nach oben. Eigentlich sollte die Ehrung erst morgen, beim Abschlussbankett, stattfinden. Aber wer wusste schon zu sagen, wie dann das Wetter sein würde. Alrik und Storko hatten mit leisen Getuschel beschlossen, dass der Baron von Schlotz schon jetzt die kleine Zeremonie übernehmen sollte. Vor den Augen der Menge, als Zeichen nobler, rondragefälliger Gesinnung. 

 

Alboran passte es gut in den Kram, dass nun sein heutiger Angstgegner vor ihm kniete, mit hochrotem Kopf und noch immer schwer atmend. Sein Gegenüber war nur wenige Jahre älter war als er selbst. So aus der Nähe sah er gar nicht mehr so bedrohlich aus. Die tiefschwarzen Stoppelhaare waren völlig verschwitzt, die rechte Augenbraue verunzierte eine Narbe. Der Blick aus den moosgrünen Augen ließ sich nur schwer deuten. Vermutlich war Basin selbst "bass erstaunt", gerade einen Gegner wie den Herrn von Mersingen bezwungen zu haben. Der Richtwalder kratzte sich am Kinn, mit dem feschen "Feldlagerbart". Alboran kämpfte mit einem Anflug von schnödem Neid. Rasch verbannte er dieses Gefühl als unsinnig. Letztlich war er einer der Gastgeber, die Adeligen waren auch ihm zu Ehren beim Turnier angetreten.

 

 "Ich beglückwünsche Euch, Basin von Richtwald, zu Eurem heutigen Erfolg", sagte er laut. Der Binsböckel nahm den Lorbeerkranz, den ihm Ravenhart auf einem Kissen reichte, und hielt ihn Basin über den Kopf, als wolle er ihn krönen. Dann senkte er den bosparanisch anmutenden Kopfschmuck auf das Haupt des Landvogts. 

 

"Ihr habt Euren Sieg wahrlich verdient, ebenso wie Euch dieser Siegeskranz gebührt. Es ist uns eine Ehre, einen derart vortrefflichen Streiter in unserer Baronie als Gast zu haben. Die Rüstung Bakshan Arvos vermag ich Euch leider nicht in einem Stück zu überreichen. Man wird sie Euch beizeiten ins Quartier tragen!" 

 

Geisterjagd

 

Ehrwürden Falkwart hatte eine höchst zwiespältige Beziehung zu Kerkern. Natürlich war es ein Grund zur Freude, wenn ein Übeltäter dingfest gemacht und bis zu seinem – hoffentlich - gerechten Urteil sicher verwahrt werden konnte. Leider waren Gefängnisse oft finstere Löcher, erfüllt von Gestank, Schmutz und Fäulnis. Ein Ort der rostigen Ketten, herumwuselnden Ratten und bissigen Flöhe, wie er eher dem Namenlosen als dem Himmlischen Richter Alverans gefällig sein konnte

 

Der Kerker von Burg Gernatsborn war erfreulich anders. Falkwart bemerkte den Unterschied sofort, kaum dass der Pfahlgardist die schwere, eisenbebänderte Eichenholztür geöffnet hatte, nach einem kurzen Blick durch die vergitterte Fensteröffnung. Das kleine Gewölbe wirkte sauber, die Steine waren neu gefügt, auf dem Boden lag frisches Stroh. Es gab sogar ein kleines Lichtloch unter der Decke.

 

Sie traten geduckt ein, der Wächter zuerst. Die glosenden Fackel in seiner behandschuhten Linken brachte zusätzliche, wenn auch unstete Helligkeit in den Raum. Die Ketten der Gefangenen schienen erst vor kurzem geschmiedet worden zu sein, sie zeigten zumindest keinerlei Spur von Rost, ebensowenig wie die Hand- und Fußschellen. Der Schmied hatte deren eisernen Kanten sorgfältig abgerundet, was eine Erleichterung für die Gefangenen war, die sich so schwärende Wunden an den wundgescheuerten Gelenken ersparten. In dieser Burg herrschte eindeutig ein tsagefälliger Geist. Der Hilfsinquisitor war sich nicht ganz sicher, ob ihn dieser Gedanke wirklich erfreute. Wer gegenüber Verbrechern zuviel Milde zeigte, lockte sie womöglich erst an, durch fehlende Abschreckung.

 

Der Kopf des “bösen Büttels” steckte in einer klobigen, schweren Praioskrause, die mit den heiligen Symbolen des Götterfürsten - Greif, Sonne und Allessehendem Auge - verziert war. Die Hände waren an die Wand gekettet. Valpo trug noch immer das Livree eines Gernatsborner Dieners. Der Mann mit den graubraunen Haaren starrte scheinbar teilnahmslos vor sich hin. Seine Körperhaltung hatte etwas Lauerndes, mehr noch der Blick aus den eisgrauen Augen. Als der Praiosgeweihte eintrat, verzog der einstige Gesetzeshüter von Rübenscholl geringschätzig den Mund. Das blieb seine einzige Reaktion.

 

Etwas besser wurde Gilbert verwahrt, der verhinderte Dieb aus dem Turnierlager, der auf einer Decke saß, vor einem Napf und einem Wasserkrug. An den Händen und Füßen des Halbstarken rasselten schwere Ketten. Nichtsdestotrotz konnte der Beutelschneider sich im Kerker frei bewegen und den Latrineneimer nutzen. Offenkundig hatte er das bereits getan. Der Erzpriester presste sich ein parfümiertes Tüchlein an die Nase. Dem Geruch nach heiligem Praiosandelholz sagte man nach, schlimmere Einflüsse zu vertreiben als üblen Gestank. Auch Hesindian von Orweiler, der hinter dem Commisarius eingetreten war, rümpfte die Nase.

 

Der Kerkerwächter steckte die Fackel in eine Halterung, und ging mit knapper Verbeugung in Richtung der Besucher hinaus. Mit dumpfen Klonk stieß er mit der Sturmhaube gegen den Türrahmen, fluchte leise und schickte hastig noch ein “Tschuldigung” hinterher.

 

Gilbert war geblendet vom Licht und versuchte seine Augen zu schützen. “Ehrwürden, seid Ihr das? Den Göttern sei Dank, dass Ihr da seid.” Der junge Mann hustete theatralisch. Aber es funkelte echte Furcht in seinen blutunterlaufenen Augen. Der Bursche wirkte bleich und übernächtigt. Der Abstand, den er zu seinem götterlosen Mitgefangenen hielt, war unübersehbar.

 

Hesindian hätte gerne Nasrûlgin, seinen Magierstab aufflammen lassen, aber er wollte den Geweihten nicht provozieren. Jedenfalls nicht noch mehr. Heute morgen hatte der Edle von Orweiler den Zelttempel aufgesucht und ein paar Silbertaler in den Opferstock geworfen, wohl wissend, dass ihm diese Buße zu Unrecht auferlegt worden war. Es war offenkundig nicht sein Elixier gewesen, mit dem Valpo die Baronin vergiftet hatte. Somit hatte der Graumagier den Praioten auch nichts verschwiegen.

 

Eine Entschuldigung war Falkwart dennoch nicht über die Lippen gekommen, das hatte Hesindian auch gar nicht erwartet. Stattdessen schienen Ehrwürden überrascht zu sein, dass der Magus dennoch dem Sonnengott geopfert hatte. Hesindian wusste selbst nicht genau zu sagen, warum. Vermutlich hatte er den Erzpriester ein wenig beschämen wollen, ob des ungerechtfertigten Verdachts. Womöglich wollte er aber auch sein Verhältnis zu Falkwart verbessern, für den die Quanionsqueste kein Fremdwort zu sein schien. Immerhin hatte er ihm, den “Madaverfluchten”, den Zutritt zu einem Heiligtum des Götterfürsten erlaubt. Nicht nur erlaubt, sondern ihn ausdrücklich dazu aufgefordert. Das war selbst bei einem Feld- und Wiesen-Heiligtum keine Selbstverständlichkeit.

 

Nun, Falkwart hatte die Gefühle hinter Hesindians Mienenspiel schnell durchschaut.

 

“Behauptet ja nicht, dass ihr mir gestern wirklich die ganze Wahrheit erzählt habt. Ihr und Euer hochgeborener Gönner, Baron Alrik. Der sich selbst Fuchs von Friedwang nennt.” Hesindian sah Falkwart immer noch vor sich, wie er da zwischen Räucherschalen mit Weihrauch und Sandelholz gestanden hatte, den Blick nicht ihm, sondern der kleinen Greifenstatue auf dem lichtergeschmückten Altar zugewandt. “Insofern erscheint mir eine kleine Pönitenz angebracht zu sein. Nebst der Bitte um Vergebung Eurer Sünden, die Ihr besser kennt als ich. Nun nehmt Euch schon ein paar Kerzen und vermehrt damit das Licht der Welt, entsprechend Eurer Spende. Die großen kosten einen Silbertaler, die kleinen einen Heller, zuhause in Marktfriedwang. Falls Ihr ein Stückchen Bernstein ins Feuer legen wollt, müsste ich dafür zwei Dukaten verlangen. Genug. Ihr ward in den Schwarzen Landen unterwegs und kennt Euch sicher mit Borbaradianermagie aus?! Heiliger Gilborn, steh uns bei gegen das verfluchte Erbe deines Foltermeisters....”

 

Das mit der borbaradianischen Magie war zu Hesindans Erstaunen eine Frage und keine Feststellung gewesen. Alriks ehemaliger Hofmagier hatte irgendeine stolze Antwort geben wollen. Etwas in der Art, dass er sich selbstverständlich nicht mit den verbotenen Formeln des Bethaniers auskannte. Stattdessen hatte er nur knapp genickt. Vor dem Altar sah Falkwart wahrlich wie eine Respektsperson aus. Hesindian hatte sich ja wirklich eine “lässliche Sünde” erlaubt, als er unsichtbar gelauscht hatte, neben einem Altar des Praios. Eine lässliche Sünde aus seiner Sicht. Aus Sicht des Allessehenden Götterfürsten aber dennoch eine Sünde. Vermutlich. Das Gebet des Edlen von Orweiler war ernst gewesen.

Ehrwürden hatte ihn aufgefordert, ihn zu begleiten, hinauf auf die Burg: “Damit Ihr seht, wohin fehlende Praiosfurcht einen Sterblichen zu bringen vermag. Ich denke, Gilbert hat seine Lektion bereits gelernt. ”

 

Nun standen sie in Storkos Kerker, während in der Ferne die Fanfaren des Turniers schmetterten. Die elfte Stunde hatte begonnen. Der Dieb starrte flehentlich in Falkwarts Richtung und schien tatsächlich völlig verstört zu sein. “Holt mich hier raus, hoher Herr, ich bitte Euch!”

 

Der Erzpriester lächelte überlegen. Als Valpo seinem Blick auswich, hob er dessen stoppelbärtiges Kinn etwas an, mit dem Sonnenszepter. Boernegard grinste merkwürdig.

 

Bssss. Sssss.

 

Eine einzelne Fliege schwirrte im Raum umher, angelockt vom Gestank.

 

“Hört Ihr sie?” sagte der einstige Büttel von Rübenscholl und verdrehte die Augen. “Sie ist da...” Ein leises keckerndes Lachen. Eingezwängt in die Praioskrause sah Valpos Kopf aus, als wäre er bereits abgeschlagen worden und würde nun auf einem eisernen Tablett präsentiert.

 

Falkwart hielt das Sonnenszepter halb drohend, halb abwehrend in die Höhe. “Wer ....ist da?”

 

“Die Herrin der Fliegen.” Valpos Stimme klang unangenehm grell. Nach beginnendem Wahnsinn. Der Gefangene kicherte erneut. “Sie ist überall, wo es summt und brummt, kreucht und fleucht. Auf vielen,  kleinen Beinchen”. Die Finger in den schweren eisernen Handschellen bewegten sich wild durcheinander, als wollten sie vielbeiniges Gekrabbel oder schwirrende Flügelchen darstellen.

 

“Der Kerl ist irre”, jammerte Gilbert. “Richtig unheimlich ist der. Keine Stunde länger halte ich es mit dem Verrückten aus! Wenn der nicht mit den Niederhöllen im Bunde ist, dann...”

 

“Schsch...schsch...schsch...”Der Praiot hob kurz und gebieterisch die Hand. Das Streunerlein verstummte.

 

“Ich ahne, von welcher erzdämonischen Wesenheit du sprichst, Valpo Boernegard. Du verehrst die Widersacherin der guten Göttin Peraine, nicht wahr? Offenbar gehörst du zu diesem Kultistennest in Rommilys, das wir vor kurzem ausgehoben haben. Ein Zirkel verdammter Seelen, der es gewagt hat, gleich vor den Toren der Grafenstadt ein Unheiligtum zu errichten. Helbers Hof, der Name sagt dir doch sicher etwas. Nun, das Insanctuarium wurde bereits den reinigenden Flammen übergeben. Ebenso das Götzenbild dieser sogenannten Bienenkönigin. Hast du deswegen versucht, einen Bienenkorb mit Borbaradmoskitos auf die Hochzeitsfeier zu schmuggeln? Sollte das ein Racheakt sein?”

 

Valpo grinste und kicherte in sich hinein, ohne zu antworten. Mit seinem Verstand schien es wirklich nicht mehr zum Besten bestellt zu sein.

 

“Das eigentliche Opfer sollte Haldana sein, nicht wahr? Ich glaube, ich verstehe...ihr mischt Baronin Haldana diesen...diesen Giftverstärker in den Saft. Dann lasst ihr die Borbaradmoskitos frei. Die verfluchten Chimärenfliegen verfügen über ein leichtes, aber überaus schmerzhaftes Venenum. Erschlägt man sie, leidet man fürchterliche Qualen...Vom Erinnerungsverlust ganz zu schweigen. Euer Plan ist allerdings gescheitert. Ebenso dein heimtückischer Mordanschlag auf Baron Alrik von Friedwang. Antworte mir. Dienst Du der erzdämonischen Herrin der Fliegen, Würmer und Ratten? Ja oder nein?” Falkwart schlug mit dem Szepter ein Schutzzeichen in die Luft, den Schaft mit beiden Händen fest umschlossen.

 

Valpo drehte den Kopf weg und wand sich heftig hin und her, wie bei einem Exorzismus. "Besorgs dir selber und verpiss dich!"

 

“Die Folter wird deine Zunge schon noch lockern...Sichtbare Dämonenmale haben wir nicht gefunden. Aber du kannst zaubern, was du sicher nicht auf einer Magierakademie gelernt hast. Glaub mir, ich werde deine Seele ausgiebig prüfen. Du magst dich für etwas Besonderes halten...für einen harten Hund. Aber ich habe deinesgleichen schon so oft gesehen. Viel zu oft. Möchtest du die Namen deiner Hintermänner und Mitverschwörer aus freien Stücken nennen? Oder braucht es dazu die Peinliche Befragung?”

 

Valpo griente und ließ sich nun doch zu einer Antwort herab: “Ihr könnt einer Fliege jedes Bein einzeln ausreißen, und die Flügelchen noch dazu. Den Schwarm besiegt ihr nicht. Niemals. Sie ist überall...und nirgends...Goblinide, so hat Euch der Meister genannt. Genau das seid Ihr. Abergläubische Kriecher, die Angst haben vor wahrer Macht und grenzenloser Freiheit. Den Weg dazu hat uns Borbarad gewiesen. Den Weg, Eure Götter vom  Thron zu stoßen und selbst darauf Platz zu nehmen!”

 

Der Vorsteher der Friedwängischen Praioscommission blickte Boernegard fest in die Augen, der entschlossen zurück starrte, wenn auch mit verschleiertem Blick.

 

“Wahre Macht, grenzenlose Freiheit...” Falkwart gelang es, ein wenig Traurigkeit in seine Stimme zu legen, gefolgt von einem leisen Seufzen. Der Erzpriester ließ seinen Blick durch den Kerker wandern. “Die Götter willst du vom Thron stoßen, so so, von hier aus. Deine Verblendung und dein Wahnwitz machen dich zu etwas Besonderem, mehr nicht. Wie gesagt, ich kenne Euresgleichen zur Genüge. Ihr seid diejenigen, die bis zur Tortur dritten oder vierten Grades durchhalten, in der Fragstatt. Auf dem Scheiterhaufen zittert Ihr dann wie Espenlaub, jammert, bittet und bettelt darum, dass Euch der Scharfrichter gnädig erwürgt.”

Falkwart tippte an seinem Hals. “Nein. Wer vor Erzdämonen kriecht, ist nicht frei, sondern der elendste aller Knechte. Geschweige denn, wer den götterlosen Tharsonius von Bethana seinen Meister nennt. Wer hätte gedacht, dass ich noch einmal einen von Euch Narren zu sehen bekommen würde, nach dem Sturz des Sphärenschänders. Der Bethanier ist schon lange besiegt und wurde in den Abgrund der Niederhöllen gestürzt. Auf diesem Weg wirst du ihm folgen, nichts weiter. Erleichtere zuvor deine Seele, dann mag dein Sturz nicht gar so tief sein.”

 

Valpo gluckste : “Auspacken soll ich? Aber gerne doch. Wo soll ich anfangen? Bei gewissen Machenschaften des Adels etwa...Das wird die Heilige Inquisition sicher ebenfalls brennend interessieren....Auch in Oppstein beten sie zu Gehörnten...und anderswo...”

 

Mit großen Augen beobachtete Hesindian die Fliege, die ihm um die Nase schwirrte, mehr hörbar als sichtbar. Das Tierchen weckte unangenehme Erinnerungen in ihm. Schweiß trat ihm auf die Stirn.

 

Der Magier zuckte zusammen, als ihn das Sonnenszepter traf, mit der flachen Seite auf den Umhang. Falkwart hatte seine Ritualwaffe wie eine Fliegenklatsche eingesetzt und die Unruhestifterin mit einem Schlag erlegt. Zurück blieb nur ein rötlicher Fleck auf dem schweren Herbstmantel des Magus.

 

Der Erzpriester kratzte das Insekt von der Waffe und hielt es mit den Fingern in die Höhe. Es war ein stattlicher, rötlich gefärbter Moskito, dessen Unterleib plattgeschlagen war, der aber immer noch wütend mit den purpur schimmernden Flügeln, dem Stechrüssel und den vorderen Beinchen zuckte.

 

“Valpo Boernegard. Wir wissen mehr über dich als du selbst. Also versuch nicht, Verwirrung in unseren Reihen zu stiften, mit deinem borbaradianischen Schandmaul. Los ging es mit der Zucht von Borbarad-Moskitos, nicht wahr. Hast du geglaubt, ein Handlanger des Dämonenmeisters zu sein? In Wirklichkeit ward Ihr von Anfang nichts weiter als Schergen des Dreizehnten, und wusstet es nicht mal. Borbaradmoskitos sind eine wichtige Zutat des Dunklen Trosts. Ein Gifttrank, der den Rechtgläubigen seinen wahren Glauben vergessen lässt, ihn zu einem stumpfen Sklaven namenloser Einflüsterung werden lässt. Später hast du giftige Grünbienen und fleischfressende Fliegen im Drachenforst ausgesetzt, um weiteres Unheil zu stiften...Für schmutziges Gold. Nun wirst du deine gerechte Strafe erhalten.”

 

Falkwart zerdrückte knackend den Moskito, ließ ihn scheinbar ungerührt fallen und verrieb den Rest an den Fingern.

 

Valpo blickte stur geradeaus. “Der Namenlose...Auch ER ist nur ein Gott unter vielen. Es gibt nur eine Sünde auf dieser Welt. Götter anzubeten. Jeder Mensch kann ein Magier werden, und jeder Magier kann ein Gott werden. Gold, was ist schon Gold... Ich habe es nicht bereut, das Gläserne Bildnis berührt zu haben. Keinen Herzschlag lang...”

 

“Worte, nichts als Worte. Was ich noch nicht ganz verstehe. “Der Commissarius schritt in der Zelle auf und ab, mit wedelndem Zeigefinger. “Wo ist bei dem Ganzen die Verbindung zum Anschlag auf Glyrana von Mersingen und dem Sturm, der das Kupferbergwerk zerstört hat? Yasinthe Dengstein war eine Anhängerin des Nicht zu Nennenden. Wusstet Ihr das? Ich glaube, Sie hat Euren Zirkel an der Nase herumgeführt wie einen Darpatbullen. In diesem Fall sollte es wohl so aussehen, als würden die Sokramorier gegen die Schändung der Erde rebellieren. Soviel habe ich verstanden. Die angebliche Schändung, durch das Haus Mersingen. Sumus heiliger Leib, und so weiter..Es ging darum, einen offenen Zwist zwischen den Rechtgläubigen und den Alten Kulten hervorzurufen, das ist sonnenklar. Um noch mehr verirrte Seelen für den Namenlosen zu gewinnen. Was zuvor in Rommilys geschehen ist, bedarf noch einer eingehenden Klärung. Aber so wie es aussieht, hatte bei den falschen Zorganpocken Yasinthe ebenfalls ihre Hand im Spiel.”

 

Hesindian staunte. Falkwarts Schlußfolgerung war gar nicht mal so abwegig, für einen Inquisitor. Nun ja, für einen Hilfsinquisitor. Ein blindwütiger Eiferer war der Erzpriester schon mal nicht.

 

“Die Attentäterin weilt nicht mehr Dere und Feste, der Heiligen Lechmin sei Dank. Ein weitere Ratte weniger. Yasinthe Neunfinger ist nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Burghof. Allerdings stellt sich die Frage, wer dir an ihrer Stelle den Auftrag mit den Moskitos gegeben hat, und zu welchem Zweck?”

 

Falkwart hatte eine weitere aufsässige Antwort erwartet. Stattdessen legte sich ein Schatten über das Gesicht des “Bösen Büttels”. Valpo schwieg. Leise summend wiegte er seinen Kopf hin und her. Womöglich spielte er den Wahnsinnigen aber auch nur, um dem Henker vielleicht doch noch zu entkommen.

 

Mit Kettenrasseln machte sich Gilbert bemerkbar. “Herr...Herr Falkwart...ich bitte Euch...lasst mich hier raus...da war heute nacht...jemand...etwas in diesem Kerker...ich habe es gesehen...und ganz deutlich gespürt.” Die Stimme des Halbwüchsigen wurde zu einem flehentlichen Wimmern. “Keine Stunde länger halte ich es hier aus.”

 

“Etwas… war in dieser Zelle?” Der Erzpriester würdigte den Dieb keines Blickes.

 

“Ein Schatten", wisperte es von unten. “Ein Schatten, mit purpurroten Augen.”

 

“Kann es sein, dass du einfach...schlecht geträumt hast, in deiner neuen Herberge?”

 

“Herr, das...das Ding ist auf Valpo losgegangen.'' Er hat geschrien. Dann ist es....irgendwie abgeprallt. Ich glaube, von der Halskrause. Es war...dunkler als die Nacht. Vollkommene Finsternis.”

 

“Womöglich war es dein schlechtes Gewissen, das dir erschienen ist?” Falkwart blickte nun doch nach unten. “Oder einfach nur ein Alptraum. Wahrscheinlich beides.”

 

“Kein Auge habe ich neben....neben Valpo zugemacht.”

 

Der Erzpriester verstaute sein Sonnenszepter wieder im Gürtel, nachdem er es ausgiebig mit dem Taschentuch gesäubert hatte. Gilbert umklammerte dem Geweihten die Füße und küsste ihm den Robensaum. “Bitte, Herr...nehmt mich mit. Ich werde mich bessern, das schwöre ich bei Praios.”

 

“Wir werden sehen. Wache!”

 

Die Tür öffnete sich knarrend: “Ehrwürden?”

 

“Hat er heute nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt?”

 

“Etwas Ungewöhnliches?”

 

“Einen Schrei gehört oder dergleichen? Hat er jemanden in den Kerker eingelassen?”

 

“Nein, Herr...” Die Stimme klang unsicher. “Aber ich hatte auch keine Wache. Ich war oben auf der Mauer, um den Brennenden Gernat zu sehen. Wie die anderen Gardisten. Es ist aber auch nicht üblich, die ganze Zeit vor der Kerkertür zu stehen", fügte er hastig hinzu. “Ich meine, die Gefangenen sind ja in Eisen gelegt.”

 

Der Commisarius nickte. Das bedeutete, dass im Grunde jeder in den Kerker hätte schleichen können. 

 

“Nun gut. Euch war die Bedeutung und Gefährlichkeit dieses Gefangenen wohl noch nicht ausreichend bewusst. Ab sofort steht jederzeit eine zuverlässige Wache vor der Tür. Ich werde den Malefikanten mit nach Rommilys nehmen, und ihn dort ausgiebig verhören lassen. Der da kommt gleich mit...Entfernt ihm die Ketten. Aber nur die an seinen Händen.”

 

Falkwart packte den jugendlichen Strolch am Hemd und zerrte ihn auf die Beine. Der Pfahlgardist eilte mit dem Schlüssel herbei und öffnete die Handschellen.

 

“Was habt ihr mit mir vor?” Gilbert rieb sich die Handgelenke. “Kann ich jetzt endlich gehen?”

 

“Du wirst bis zum Ende des Turniers in den Block geschlossen, vor unserem Schrein. Der Regen hat nachgelassen, du wirst dir heute also nicht die Blaue Keuche holen."”

 

“Herr, Ihr wollt mich an den Pranger stellen? Allein der Herr Junker darf mich aburteilen. Ich kenne meine Rechte.”

 

“Wer redet von Pranger? Herr Storko hat gerade besseres zu tun, als sich um jeden dahergelaufenen Strauchdieb zu kümmern. Ich möchte nur wissen, ob dich vielleicht jemand wiedererkennt, von den Gästen. Es würde mich wundern, wenn der Diebstahlversuch deine einzige Schandtat gewesen ist.”



Wenig später gingen die beiden Besucher im gemächlichen Tempo den Burghang hinab, was auch am schlurchenden, stolpernden Gilbert lag, der einige Schritte voraus taumelte, mit schweren Ketten an den Füßen.

 

“Nun, Herr Magister, was wissen wir nun?”

 

Der Edle von Orweiler sah hinüber zum Zeltlager, wo das Turnier im vollen Gange war. Das Dorf wirkte wie ausgestorben, auch in der Burg herrschte weniger Leben als sonst. Nur in der Küche wurde unverdrossen weiter gearbeitet, wie der Rauch über dem Schornstein bewies. Gilbert hatte beschlossen, schief zu pfeifen, durch eine seiner Zahnlücken, und Däumchen über seinen Händen zu drehen

 

“Ihr fragt mich nach meinem Rat. Mich, den zwielichtigen Zauberer?”

 

“Den fachkundigen Zauberer. Valpo saß gestern Nacht hinter Schloss und Riegel. Ohne Magie war die Tür nicht aufbekommen, egal ob die Burgwachen nun auf den Gernat geschaut haben oder nicht.”

 

“Der passende Schlüssel hätte genügt...”

 

“Ihr meint, es gibt einen Verräter unter den Pfahlgardisten?”

 

“Die Burgmannen und -Frauen stehen noch nicht lange in Gernatsborner Diensten. Nicht solange, als dass sie ihre Treue zweifelsfrei unter Beweis hätten stellen können. Von der Kressenbrück einmal abgesehen. Ein voller Dukatenbeutel bewirkt in der verarmten Mark mitunter mehr als jeder Foramen.”

 

“Formwas?”

 

“Ein Zauber, mit dem sich Türen aufsperren lassen.”

 

“Ein Zauber für Einbrecher, so so. Wie wäre es damit. Das Schreckgespenst versucht auch Valpos Handschellen magisch zu öffnen, bekommt die Macht der Praioskrause zu spüren – und nimmt in Panik Reißaus...”

 

“Das klingt ja fast schon wieder, als würdet Ihr mich verdächtigen...” Hesindian wich einem einsamen Schwein aus, das grunzend auf dem Weg stand.

 

“Nein.  Ihr verdächtigt mich gerade, Euch ständig zu misstrauen. Nach allem, was man so hört, habt Ihr Euch einige Meriten um das Reich und Darpatien erworben. Trotz allem.”

 

“Ja, trotz allem...Ihr sagt es.”

 

“Was könnte der Grund gewesen sein, Haldana erst diesen Trankverstärker zu verabreichen und dann die Moskitos auf sie loszulassen? Das ist alles mehr als rätselhaft.”

 

“Nun, dieser Amplipot, wie ich ihn nenne. Er hätte zumindest das Moskitogift verstärkt. Ein Gift, das sehr schmerzhaft ist. Womöglich hätte das eine Fehlgeburt ausgelöst.”

 

“Das hätte man leicht auch mit einem anderen Gift bewerkstelligen können.” Falkwart grüßte ein altes Mütterchen, das vor einem der Häuser die gackernden Hühner fütterte. Die Gernatsbornerin bekam große Augen. Vermutlich hatte sie noch nie einen Praiosgeweihten gesehen, der zusammen mit einem Magier den Burgweg herab spazierte, vertieft in eine angeregte Plauderei.

 

“Praios tecum!” Großmütig spendete ihr der Erzpriester einen Segen, den die Dörflerin mit tiefen Verbeugungen und gefalteten Händen beantwortete. “Praios tecum, gute Frau! Nun denn. Könnte es sein, dass der Trankverstärker...nicht allein auf das Opfer, sondern auch auf die Moskitos wirkt? Immerhin schlürfen die kleinen Biester Erinnerungen. Vielleicht können sie ihrem Opfer dadurch mehr von seinem Gedächtnis rauben als ohnehin schon?”

 

“Interessante Theorie.” Hesindian deutete mit dem Zauberstab auf den Praioten, wie er es von Disputationen unter Magiern gewohnt war. Mit einem Räuspern nahm er den Stab wieder in beide Hände.  “Ich habe keine Ahnung, wie sich Thaunisander-Blatt und andere alchimistische Substanzen auf Insekten auswirken würden. Allerdings, ich kann mich gut erinnern, wie der Amplipot damals gewirkt hat, in Celerions Labor. Der Wein hat tatsächlich verlockender gerochen und geschmeckt als zuvor. Womöglich löst der Trankverstärker ähnliches aus, in der Wahrnehmung eines Moskitos. Oder er kann durch den Amplipot wirklich mehr Erinnerungen saugen als sonst.”

 

Falkwart nickte bedächtig, so dass seine langen blonden Locken unter der Filzkappe wackelten. Das “Rohalsche Gespräch” schien ihm zu gefallen. Was Wunder bei einem derart unphilosophischen Weggenossen wie Ucurian Lansborn de Mott.

“Ja....ja...so langsam ergibt das alles einen Sinn. Valpo hat für seine Auftraggeber Schadinsekten gezüchtet. Das weiß ich aus den Akten des friedwanger Bleyturms. Dämonenfliegen, Giftbienen, Orkenkäfer, und eben auch den Culex Borbaradiensis, als schlimmste Kreatur von allen. Folglich kennt Valpo sich mit Borbaradmoskitos aus”. 

 

Der Commissarius blieb für einen Moment stehen und genoss den Blick über den herbstlichen Gernat. Im Wald dampften die Reste des Morgennebels, während die Sonne freundlich herabblinzelte.

“Womöglich hat dieser Schurke auch die gemeine Reblaus ausgesetzt, die unserem guten Friedwanger Wein den Garaus bereit hat.”

Die Stimme des Praioten zitterte vor Empörung. Hesindian sagte lieber nichts. Als gebürtiger Almadaner wusste er einen guten Tropfen zu schätzen. Einen wirklich guten Tropfen. Die Friedwangen waren stolz auf ihre Weinstöcke gewesen, die angeblich schon von den Alhaniern in den Sichelhag gebracht worden waren. Um dort in Praioslage, auf wärmespeicherndem Schiefergestein zu gedeihen. Das heilige Getränk der Rahja hatte es bis in das Wappen der Baronie gebracht, das heute nur noch selten zu sehen war. Laut der Traviakirche verherrlichten die Trauben neben dem goldenen Bockskopf Trunksucht, Unmäßigkeit und Wohlleben. Einige Frömmler hielten das Wappenbild sogar für eine Anspielung auf den lüsternen Rahjasohn Levthan.

Entsprechend wurde heutzutage fast nur noch das barönliche Familienwappen gezeigt, mit einem silbernen Ziegenhaupt, ohne Rebe. Zuletzt hatte Junker Gernot versucht, Weinstöcke im Gießental zu kultivieren, ebenso Ismena, rund um den Rahjatempel von Gießenborn. Eine Zeitlang war es in der Baronie Mode gewesen, einen kleinen Wengert sein eigen zu nennen, mit klangvollen Lagen wie Friedsteiner Schlossrebe, Marktfriedwanger Ogerling oder Rübenscholler Dämonenschreck. Böse Zungen spotteten, dass Weine wie der Zaberger Ewigleben ihr Bukett vor allem dem Alaunsalz verdankten, das in der Mine nebenan abgebaut wurde. Wie die Friedwangen dem Geschmack ihres Rebensafts überhaupt mittels allerhand Kräutern, Gewürzen oder Honig auf die Sprünge geholfen haben sollten. Ihrer Plörre, wie Hesindian fand, der lieber auf einen ordentlichen Yaquirtaler zurückgriff, aus seiner alten Heimat.

Wieder einmal schien Falkwart seine geheimsten Gedanken zu lesen. Zumindest runzelte er die Stirn. “Der gemeine Rebengoblin, wie unsere Friedwangen das Ungeziefer nennen. Eine heimtückische Waffe, wenn man eine ganze Baronie in die Armut stürzen möchte.”

“Mit Verlaub Ehrwürden. Aber es war wohl eher der fürchterliche Winter von `28, der dem friedwanger Weinbau den Garaus bereitet hat. Ebenso wie die Söldnerhorden, die viele Rebstöcke als Brennmaterial missbraucht haben.”

“Ihr klingt, als würdet Ihr das keineswegs bedauern?”

“Nun, streng genommen handelte es sich beim Friedwanger Wein nur um Würzwein. Ein ziemlich saures Tröpfchen, wenn ich mich recht entsinne. Die Schwarze Sichel scheint mir nicht wirklich für die Winzerkunst geeignet zu sein. ”

“Und doch zieren Trauben das Wappen unserer Baronie. Seit Jahrhunderten schon.”

“Manche behaupten, dass damit Feenwein gemeint ist. Ich meine, ein Steinbock ist ein Tier, das im Hochgebirge lebt. Inmitten von Steinen und Schnee. Wenn ein Wanderer dort plötzlich vor Weinreben steht, in Sokramurs Reich...nun, für einen Altvorderen war das ein untrügliches Zeichen, dass er die Anderwelt erreicht hat. Vermutlich sollen die Trauben vor dem Maul einer Gebirgsziege einfach etwas Unerreichbares symbolisieren. Einen fernen Traum. Das Schlemmerland der Feen, wo Wein, Milch und Honig im Überfluss fließen...”

 

“Jaja. Kälte und Luftmangel bewirken oft die tollsten Halluzinationen.” Falkwart ordnete seine beiden Sphärenkugeln. “Nichtsdestotrotz hat die Reblaus enormen Schaden angerichtet, während des Bethanierkriegs. Allein dafür sollte Valpo brennen.”

 

“Der unheilige Valpo. Ein merkwürdiger Name für einen Weinfrevler. Wenn wir ehrlich sind, lag es doch eher an verschiedenen Hausmittelchen, dass der Friedwanger überhaupt genießbar war. Der Wein wurde damals mit den wundersamsten Zutaten gepan...gestreckt. Vermutlich war Celerions Trankverstärker da nur ein Nebenprodukt.”

“Wie auch immer, wir schweifen ab. Zurück zu Valpo und den Borbaradmoskitos”. Falkwart wischte sich ungehalten einen Strohhalm vom Schuh, der ihn vom Kerker her begleitet hatte. “Gut möglich, dass er Celerions Trankverstärker gestohlen und zur Zucht eingesetzt hat, als Lockmittel.  Aber bevor wir uns in Spekulationen ergehen, sollten wir erst einmal die Scharfe Befragung abwarten.”

 

Hesindian hob die Augenbrauen. Wir? dachte er. Das klang ja fast nach einer Einladung in die Hallen der Heiligen Inquisition – nicht auf, sondern neben der Streckbank. Er beschloss, die leutselige Stimmung des Praioten zu nutzen und das Spiel einfach mitzuspielen.

 

“Natürlich. Recht und Gesetz muss Genüge getan werden, Ehrwürden. Stellt sich natürlich die Frage, warum Haldana überhaupt ihr Gedächtnis hätte verlieren sollen...”

 

“Wie ist das überhaupt, verschwinden beim Saugen erst die frischen Erinnerungen, und dann die alten? Oder geht das willkürlich durcheinander?”

 

“Erst die frischen, würde ich sagen, oder?”

 

“Das heißt, Haldana hätte die Erinnerung an den schönsten Tag ihres Lebens verloren, nebst der Erinnerung an die Hochzeitsfeier?!”

 

“Nicht zuletzt auch die Erinnerung an ihr Ehegelöbnis. Cui dolet, meminit...”

 

“???”

 

“Der Wahlspruch des Hauses Friedwang. Der fällt mir da spontan ein. Wer Schmerz erleidet, erinnert sich daran. Vielleicht müssen wir den Anschlag...symbolisch sehen...als eine Art Botschaft an Haldana...”

 

“Ihr sprecht in Rätseln?!”

 

“Nun, vor einigen Monden wurde Haldana zwangsverheiratet, auf der Flußhexe. Einem Treidelkahn, wo sie Golo von Friedwang-Glimmerdieck in die Hände gefallen ist. Der die Binsböckel partout ehelichen wollte. Die Umstände waren alles andere als traviagefällig, und die Hochzeitszeremonie gewiss ungültig. Aber gut möglich, dass dies irgendjemand anders sieht.”

 

Falkwart blieb erstaunt stehen. “Ihr meint...Golo steckt dahinter? Aber der ist doch ebenfalls tot? Erschlagen mit einer Laute?”

 

“Nun...Alrik meinte, ich hätte ihn gewarnt...äh, dass Golos Geist noch immer hinter Haldana her wäre...”

 

“Ah, und woher hattet Ihr dieses Wissen, wenn ich fragen darf?”

 

“Gar nicht. Es war ein Wahrtraum, im Wutzenwald, in dem ich meinem Freund erschienen bin. Ein uralter Feenwald. Er beginnt gleich da drüben. Das alles ist ohne mein Zutun geschehen...”

 

Nun war Falkwart einen Moment lang perplex. Seine Sympathie für den scharfsinnigen Magier schien wieder zu schwinden. Dessen Worte kamen ihm gerade wohl ziemlich wirr vor. Das zarte Band des Vertrauens zwischen ihnen begann sich wieder zu lösen, kaum dass es richtig geknüpft worden war.

 

“Ein Wahrtraum? In dem Wald dort, soso.” Falkwarts Lächeln war vernichtender, als es jeder Tadel gewesen wäre. “Habt nun Ihr mit Seiner Hochgeboren gesprochen? Oder war es eine gute Fee? Waren es die Bäume selbst? Das müsst Ihr mir schon genauer erklären... ”

 

Hesindian biss sich auf die Lippen. Hatte er zuviel gesagt? Wie sollte er Falkwart erklären, dass es bei Zauberei gerade darum ging, Dinge zu beherrschen, die für “nichtmagische” Menschen vollkommen unerklärlich waren.

 

“Nun, das würde zumindest den nächtlichen Eindringling erklären, oder? Der keines Schlüssels bedarf, um nachts in einen Kerker zu spazieren. Aber durch praiosgefällige Symbole gebannt wird.“

 

“Ihr meint, Golo wollte Valpo befreien?”

 

“Womöglich wollte er einfach einen lästigen Mitwisser beseitigen.”

 

Der Erzpriester verwandelte sich wieder in einen unnahbaren Hilfsinquisitor, je näher sie dem Tempelzelt kamen. “Ich weiß nicht. Das ist mir doch ein wenig viel Spekulation. Nun denn. Dass Golo von Friedwang offiziell Alborans Vater ist, bereitet uns ebenfalls Sorge. Die Seele eines jungen Mannes lässt sich leicht verwirren. Auch deshalb sind wir hier. Um unsere schützende Hand über den Baron zu halten, der den Namen des Heiligen Alboran trägt.”

 

Hesindian schluckte. Das wir und uns schien ihn, den Magier, nun nicht mehr einzubeziehen.



Bishdarielon von Suunkdal beendete sein Gebet und erhob sich. Der Ordensritter der Golgariten hatte sich mit schneeweißem Mantel vor dem Schwert niedergekniet, das er vor dem Altar in den Grasboden gestoßen hatte, und eine stumme Zwiesprache mit dem Götterfürsten gehalten. Der Landmeister war ein Diener des Schweigsamen, aber das schloss Ehrfurcht vor anderen Göttern nicht aus.

 

Der Turnierlärm ließ kurz seinen Mundwinkel zucken, während er Jasperion neben seinem geschwärzten Kettenhemd in die Schwertscheide schob. Dann rückte er den Rabenschnabel zurecht. Widersprüchliche Gefühle kämpften mit ihm. Einerseits beneidete er die Adeligen, die sich heute dem rauhen Lanzenstechen widmen durften. Anderes fehlte es ihm bei der Tjost schon ein wenig am borongefälligen Ernst. Bishdarielon wusste, dass er ein meisterlicher Reiter und Schwertfechter war, der das Kriegshandwerk von der Jugend an gelernt hatte. Gelernt und angewandt.

 

Der Erbvogt von Friedwang war nicht stolz darauf. Irgendwie hatte er das Gefühl, immer für den falschen Herren gekämpft zu haben. In Schlachten, die selten einmal die seinigen gewesen waren. Für Answin von Rabenmund. Amir Honak. Oderin du Metuant. Allein der Gedanke, einmal der Schuhputzer, Waffenträger und Laufbursche des heutigen Procurators der Schwarzen Allianz gewesen zu sein, hatte etwas Befremdliches an sich. Ob sich Oderin noch an ihn erinnern konnte? Oder Amir, der stets gelangweilte Patriarch. Vermutlich schon. Der gekrönte Rabe ließ nichts mehr los von dem, was er einmal in den Klauen gehalten hatte.. Das Auftauchen seiner Tochter auf diesem Turnier war sicher kein Zufall.

 

Der Waffenlärm, aber mehr noch die dampfenden, glimmenden Räucherbecken ließen Bildfetzen und Erinnerungen durch seinen Kopf schwirren. Erinnerungen an den Khômkrieg. Einen Moment lang stand er wieder in der trockenen, heißen Wüste, durch die ein freundlicher, warmer Wind wehte. Kleine Echsen huschten zwischen Geröll oder auf einsamen Bäumen umher. Käfer krabbelten über den ausgedörrten Boden. Der dunkelhäutige, schwarzbärtige Novadi kam ihn wieder in den Sinn, der ein kupferfarbenes Feuer entzündet hatte, mit dornigen Akazienzweigen, um irgendwelchen Abfall zu verbrennen. Das Feuer war unbeaufsichtigt geblieben, als ihr Spähtrupp weitergezogen war. Die Al´Anfaner hatten den würdevollen Kamelführer verspottet: Ob er nicht Angst habe, das Feuer unbeaufsichtigt zu lassen. “Das ist meine Wüste”, hatte der Rastullahanbeter auf kehligem Novadisch geantwortet. Bishdarielon hatte diese stolzen Worte nie vergessen, auch wenn seine Kameraden von einst sie nur mit höhnischem Gelächter quittiert hatten. Der Ordenskrieger hatte auch an diesen einfachen, unerschrockenen Mann gedacht, als er seinem stolzen Streitross den Namen Novadi gegeben hatte.



Die Zeltplane, die den Eingang verschloss, wurde beiseite geschlagen. Ehrwürden Falkwart trat ein, zusammen mit Hesindian, dem Magierfreund seines Bruders. Der Erzpriester nickte wohlwollend, als er die leuchtenden Kerzen sah, die dank Bishdarielon hinzugekommen waren, auf dem Altar.

 

“Verzeiht. Ich wollte Euch nicht beim Gebet stören, Euer Wohlgeboren. Allerdings erstaunt es mich, einen Rabenritter auf den Knien vor dem Allerhöchsten zu sehen. Es erstaunt und erfreut mich zugleich.”

 

“Ich verneige mich gerne vor dem Herrn der Sonne. Sein Weg über den Himmel gleicht dem Lauf des Lebens selbst. Er lehrt uns, bereits am hellen Mittag an den kühlen Abend zu denken. An die Stunde des Sonnenuntergangs, in der selbst noch das Praiosrad gebrochen wird und die große Dunkelheit beginnt. Was könnte borongefälliger sein?”

 

Der Senkenthaler sprach mit ruhiger, milder, fast schon sanfter Stimme, die nicht recht zum Harnisch und den Waffen, aber auch den  sichtbaren Narben des Veteranen passen wollte. Hesindian fröstelte. Landmeister Bishdarielon besaß wahrlich zwei Gesichter, wie der namensgebende Sendbote der Träume. Der blasse Friedwanger war einst in die Al´Anfaner Sklaverei entführt worden. Tar Honak selbst hatte den Baronet mit dem Stab des Vergessens berührt, in Unau, um dessen wahre Herkunft zu verbergen. Eine Zeitlang hatte der Heimatlose dem Imperium im Orden des Schwarzen Raben gedient, bevor ihm Amir Honak, der Sohn des alten Patriarchen, das Gedächtnis wiedergegeben hatte. Das Gedächtnis ebenso wie das Dasein als Sklave, dem er später mit seinem Zwillingsbruder Francesco entkommen war – dem heutigen Freiherren Alrik von Friedwang. Auf der Flucht vor den Sklavenfängern waren beide getrennt worden, Bishdarielon hatte Zuflucht bei einem Mohastamm gefunden, und Alrik-Francesco zuhause Bishdarielons Rolle übernommen. Natürlich nur, um den Verlust der Baronie für das Haus Friedwang zu verhindern....Die Golgariten ehrten ihren von Boron berührten Mitbruder ebenso, wie sie ihm als entlaufenen Nemekathäer misstrauten. Wie überhaupt Raben eine wichtige Rolle in Bishdarielons Leben zu spielen schienen. Zuletzt hatte er vor Gareth auf der Seite des Usurpators Answins von Rabenmund gekämpft, seines einstigen Schwertvaters, in der “Schlacht der Drei Kaiser”. 

 

“Weise Worte, Euer Wohlgeboren.” Falkwart faltete seine Hände. “Auf die Nacht folgt aber auch stets ein neuer Morgen. Sei es nun hier auf Dere oder im Lichte eines der Zwölfgöttlichen Paradiese. Es würde mich ehren, wenn ich Euch zu einem kleinen Mittagsmahl einladen dürfte, drüben im Geweihtenzelt.”

 

Nach einem Gebet wurde das Essen  aufgetischt. Die pummelige junge Lichtsucherin, deren Namen Hesindian vergessen hatte, übernahm die Bewirtung. Es war einfache Kost, mit weißer Hechtpastete, weißer Hühnerbrust, weißer Forelle, weißem Wein und weißem Brot (offenbar war Lichtweiß die Lieblingsfarbe des Commissarius).

Falkwart schien anders als Prätor Garafanion kein Schlemmer zu sein. Dem Golgariten war es recht. Er griff nach einem Glaskelch mit hellgoldenen Wein, und prostete seinem Gastgeber dezent zu. Ehrwürden ließ sein feingeschliffenes Gefäß klirren, mit sphärenem Klang. Für Hesindian gab es nur ein Fernprost, was womöglich an der Größe des fein säuberlich gedeckten Tischs lag.

Von Ucurian und den übrigen Geweihten war weit und breit nichts zu sehen. An diesem Tag regierte “Königin Tjost”. Offenbar sollte sogar das gemeinsame Mittagsgebet der Praioten und Edelleute entfallen.

 

“Wir speisen allein?” fragte der Landmeister, mit Blick auf das fast ausgestorbene Zeltlager. Eine Gauklerin, die mit bunten Bällen die Jonglage übte, war die einzige Menschenseele weit und breit. Von den beiden “Büßern” einmal abgesehen, die gerade umständlich den Block aufbauten, während Gisbert kopfschüttelnd am Boden saß und mit der schweren Fußkette spielte. Vom Turnierplatz her dröhnte Johlen, Wiehern, Krachen und Scheppern, gefolgt von Trompetenstößen.

 

“Habt Ihr den Backwagen gesehen? Es gibt dort Pasteten, Brezeln, belegtes Fladenbrot. Ein Bauchladenkrämer mit Würsten läuft ebenfalls herum. Bruder Ucurian ist ganz verrückt nach schneller Küche. Er wird nicht hungern, Alfhildr ebensowenig. Vermutlich tunkt sie ihre Rommilyser Würstchen gerade in Honig oder süße Grütze.” Der Praiot lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Die Thorwalsche Küche ist fürchterlich”, fügte der Erzpriester hinzu und klang ehrlich angewidert.

 

Bishdarielon lächelte höflich. “Ich muss sagen, bei meiner Seel. Eure Bewirtung ist vorzüglich...dafür, dass ich gar nicht eingeladen war.”

 

“Bitt euch, wir sind im traviagefälligen Darpatien. Für mich ist es eine große Ehre, einen Landmeister des Golgaritenordens an meiner Tafel zu wissen. Allerdings muss ich gestehen, ich habe ein wenig vom gestrigen Festbankett abgezweigt. Das Privileg des Klerus. Der Wein stammt aus meinen persönlichen Vorräten. Ein 1027er Zaberger Ewigleben...”

 

“Ein guter Jahrgang.” Bishdarielon war anzumerken, dass auch ihm der Geschmack des Ewigleben ein wenig “alaunig” vorkam. “Der letzte Jahrgang, so weit ich weiß. Es ist wahrlich ein kleines Wunder des Tsa, dass noch einige Flaschen den Krieg überdauert haben. Natürlich, Ihr stammt ja aus dem Hause derer von Zaberg. Falkwart von Zaberg, den Namen habe ich schon gehört.”

 

“Von Zaunberg. Falkwart Malachanias von Zaunberg. Ich bevorzuge den alten Namen unserer Familie. Ein Name, der anders als der Dorfname nicht in die Irre führt”.

 

“Die Geschichte vom Alboranszaun, ich verstehe.” Bishdarielon verbarg ein Schmunzeln hinter der Serviette, mit der er sich die Lippen abtupfte. “Fürwahr, die alten Mundartnamen unserer Dörfer haben einen guten Klang”, fügte er rasch hin. “Deswegen nenne ich mich lieber von Suunkdal, nicht von Senkenthal. Ähnlich wie Ihr.”

 

“Ich habe Euch gestern gar nicht bei der Kapelleneinweihung gesehen?” Falkwart, dem das Mienenspiel des Rabenritters nicht entgangen war, klang schon wieder ein wenig ungnädig.

 

“Nun, der Platz schien mir beengt zu sein. Da wollte ich Berufenen den Vortritt lassen. Wenn Ihr so wollt, habe ich das Versäumte gerade eben nachgeholt. Das Gebet zu Praios, dem Hüter der Ordnung und Schutzherren unseres Standes, ist mir keinesfalls fremd.” Versonnen drehte Bishdarielon das Glas in seinen Händen. Seine Stirn runzelte sich, ohne dass der Grund dafür sofort ersichtlich war.

 

“Das freut mich zu hören”, sagte Falkwart “von Zaunberg” und tunkte sein Brot in die Pastete. “Stellt Euch vor, selbst unser hesindegefälliger Herr von Orweiler hat heute zum Allerhöchsten gebetet. Den wahren Adeligen erkennt man daran, dass er durch ein unsichtbares Band mit seinen Standesgenossen verbunden ist. Unabhängig von seinem Glauben...oder seiner sonstigen Weltsicht. Ein Band aus Verdiensten und göttlicher Gnade.” Ein huldvolles Nicken in Richtung Hesidian. Der hatte sich gerade mit Pastete vollgekleckert und tupfte sich hektisch die Robe ab.

 

Bishdarielon schien einen Entschluss gefasst zu haben. “Nun, um ganz genau zu sein, bin ich auch aus...einer gewissen Beunruhigung heraus vor den Altar des Praios getreten. Wie Ihr wisst, ist Bishdarielon mein Schutzalveraniar und Namenspatron. Ich schlafe für gewöhnlich gut, mein Bett auf Burg Gernatsborn steht dem auf Suunkdal in nichts nach. Heute nacht hat allerdings etwas meinen Schlaf gestört.”

 

“War es ein Schrei aus dem Kerker?” wollte Hesindian wissen.

 

Bishdarielon schüttelte den Kopf. “Nein...ich habe unruhig geträumt. Was ungewöhnlich ist. Mir war, als würde ich auf Bishdariels Rücken über Gernatsborn fliegen, auf der Suche nach Schlafenden, denen der Sendbote Borons schlechte oder gute Träume bringt. Je nachdem, wie sie es sich am Tag durch ihre Sünden oder Wohltaten verdient haben.”

 

“Gewiss. Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Auch darin sind sich unsere beiden Kirchen einig.” Falkwart beugte sich einige Fingerbreit vor.

 

“Wie soll ich sagen. Der Rabe war empört. Jedes Mal, wenn wir in eines der Zelte geflogen sind. Da kauerte bereits ein dunkler Schatten auf dem Schlummernden, verwirrte ihm die Haare oder verknotete sie. Eine Kreatur der Finsternis, die ihre Opfer mit den schrecklichsten Alpträumen heimgesucht hat. Diese purpurroten Augen waren...beängstigend. Glaubt mir, ich bin kein furchtsamer Mensch, aber ich bin...schweißgebadet aufgewacht. Mir dünkt, der Rabe hat mir einen Wahrtraum gesandt. Vielleicht war es sogar eine Warnung der gütigen Marbo selbst”.

 

“Ein Wahrtraum, so so.” Falkwart blickte erst zu Hesindian und dann zum Schwarzen Ritter. “Ich möchte ja nicht despektierlich klingen, aber...Was macht Euch so sicher, dass nicht allein das üppige Festbankett der Grund war? Auch ich musste gestern Abend ein wenig Bitterpulver zu mir nehmen. Um mein hochloderndes Magenfeuer zu beruhigen.”

 

“Als ich mich heute Morgen unter den Gästen umgesehen habe, nun, da habe ich einige verschlafene Gesichter gesehen. Unter zerzausten Frisuren. Selbst der Turnierrichter, Herr Deggen von Baernfarn, scheint mir heute ziemlich unausgeschlafen zu sein...”

 

Der Erzpriester nippte an seinem Weinkelch. Mit einer Handbewegung sorgte er dafür, dass die Lichtsucherin außer Hörweite verschwand. Falkwart atmete tief durch.

 

“Wollt Ihr....andeuten, dass ein...Nachtalp in diesem Zeltlager umgeht?”

 

Bishdarielon blickte zum offenen Platz vor dem Tempelzelt, wo der schimpfende Gilbert gerade in den Block eingeklemmt wurde, mit Händen und Füßen. Zum Glück ebenfalls in einiger Entfernung.

Dann sah der Senkenthaler wieder zu Falkwart: “Ein Nachtalp, ja. Die Seele eines Verbrechers, die nach dem Tod keine Ruhe gefunden hat und nun die Lebenden peinigt.”

 

Hesindian blickte fragend zu seinem “neuen Freund”, dem Erzpriester. Dieser nickte, mit geschlossenen Augen. Der Magus berichtete vom Besuch im Kerker und ihren eigenen Vermutungen.

 

Bishdarielon hob die Augenbrauen: “Gut zu wissen. Es könnte wirklich Golo sein, der hier sein Unwesen treibt. Bei meiner Seel. Eine derartige Wesenheit muss unbedingt vernichtet werden. Traum, Schlaf und Erholung sind Gaben Borons. Die Störung durch einen nächtlichen Aufsitzer stellt einen ungeheuren Frevel dar. Möge die Heilige Etilia uns beistehen. Ich werde mich sofort mit Welfert von Mersingen beraten.”

 

“Ihr wollt den Heermeister der Rabenmark einweihen?”

 

“Glaubt mir, die Boronkirche kennt sich mit derartigen Dingen aus.” Bishdarielons Hand legte sich auf den geweihten Rabenschnabel.

 

“Die Gemeinschaft des Lichts nicht weniger”. Falkwart ruckte sein Sonnenszepter zurecht. “Bislang ist es allerdings nur ein Verdacht. Ich gebe Eurem hochgeborenen Bruder ja nur ungern Recht. Aber ich denke, unser diskretes Vorgehen in dieser Angelegenheit hat sich bewährt. Es geht ja nicht nur darum, eine Beunruhigung der Hochzeitsgäste zu vermeiden. Bedenkt, Golo ist offiziell der Vater des Barons von Schlotz, dessen Traviabund wir hier feiern. Alboran steht vor einem guten, zwölfgöttergefälligen Weg. Sein Ruf sollte nicht unnötig Schaden nehmen, nicht ohne zwingenden Grund. Unser Feind ist in der Lage, sogar mit der Wahrheit zu lügen, um die Schar der Rechtgläubigen zu spalten,”

 

“Ich soll Stillschweigen üben? Gegenüber meinem eigenen Heermeister?” Bishdarielon atmete tief durch. “Versteht mich Recht, aber bislang dachte ich immer, die Kirche des Praios tritt in allen Belangen für Klarheit und Offenheit ein.”

 

Falkwart antwortete nicht sofort.

 

“Meine Aufgabe ist es, Valpo zum Greifenplatz nach Rommilys zu bringen”, antwortete der Geweihte schließlich. “Das Verhör wird die ganze Wahrheit ans Licht bringen. Seine hochgeborene Exzellenz Welfert von Mersingen ist Heermeister der Rabenmark, gewiss. Aber damit ist eigentlich schon alles gesagt. Wir befinden uns in der Markgrafschaft Rommilys...da sollten wir die Zuständigkeiten nicht unnötig verwirren.”

 

“Nach Rommilys ist es ein weiter Weg. Bis dorthin kann viel geschehen.” Bishdarielon schnaubte ein wenig, durch seine friedwanger Bocksnase. “Wir Golgariten könnten, wenn nicht schnelle Abhilfe leisten, so doch für den Schutz des Transports sorgen.”

 

Falkwart deutete auf den Käfigwagen, aus dem die Leibwächter gerade den Block geholt hatten. Einige Kisten und Säcke wiesen darauf hin, dass er momentan als Fuhrwerk “zweckentfremdet” wurde.

“Der gute alte Hexenwagen von Markt Friedwang sollte Valpo sicher verwahren. Was den Nachtalp angeht....wenn ich die einschlägigen Schriften richtig verstehe, kann sich ein derartiger Geist nicht weiter als eine Meile vom Ort seiner Beschwörung oder seines Ablebens entfernen. Die geweihte Praioskrause scheint Valpo geschützt zu haben. In unserer Obhut dürfte der Malefikant vollkommen sicher sein. Bis zu seinem Prozess.”

 

“Der Nachtalp darf keinen Tag und keine Nacht  länger über Dere wandeln.” Der Rabenritter strich sich eine einzelne Locke aus der Stirn. “Er will Valpo befreien oder meucheln? Warum nutzen wir diesen Umstand nicht, um diesen bösen Geist ein für alle mal auszutreiben. Sperrt den Gefangenen heute nacht in den Wagen dort, nehmt ihm die Praioskrause ab...und seht, was passiert.”

 

“Ich verstehe, worauf ihr hinaus wollte. Ein Hinterhalt? Da sei Herr Praios vor!  Solches Handeln ist mir nicht erlaubt, Spuk hin oder her.”

 

“Nun, bei meiner Seel´. Ich verabscheue dieses Wesen nicht weniger als ihr. Wie wäre es, wenn ich mich an Eurer Stelle auf die Lauer legen würde? Damit wäre beiden Seiten Genüge getan.”

 

“Warum eigentlich nicht?” Falkwart schob sich einen Kanten Brot in den Mund. “Solange Ihr die Rabenmark aus der Sache heraushaltet, soll es mir Recht sein. Auch ich habe Kirchenobere, denen ich dies und das erklären muss...Früher oder später.”



“Seid bedankt”. Der Rabenritter prostete seinem Gegenüber ein weiteres Mal zu. “Es wäre mir Recht, Hesindian an meiner Seite zu wissen. In dieser Angelegenheit könnte auch Magie vonnöten werden. Alfhildr und zwei, drei Büßer könnte ich ebenfalls gut gebrauchen. Womöglich wird es einen rein derischen Befreiungsversuch und Schwertarbeit geben.”

 

Im Turnierzelt des Siegers

 

Nachdem der Praioslauf hatte schier nie enden wollen, sammelten sich nun endlich die Anzeichen das noch Hoffnung bestand. Dem Ende seiner Kräfte nahe stand Basin von Richtwald in seinem Turnierzelt und nahm einen tiefen Schluck aus dem Kelch, den ihm sein Page Yalsin von Aimar-Gor soeben gereicht hatte. Wohltuend rann das kühle Nass seine Kehle hinunter, wie es den Tag über bereits viele weitere Schlucke getan hatten. Nass das sich inzwischen vermutlich vollständig in seinen Gambeson wiederfand.

 

Helm und Panzerhandschuhe hatte Maura ihm bereits abgenommen und auf dem Rüstungsständer abgelegt, während sie derzeitig damit beschäftigt war Schnalle für Schnalle zu öffnen und die restlichen Rüstungsteile von ihm zu entfernen. Da klappte die Zeltplane zur Seite und sein Waffenmeister betrat sein Zelt. Wando von Richtwald war ein Vetter Basins und hatte bereits in der ersten Runde eine Niederlage einstecken müssen. Dennoch machte der alte Ritter nicht den Eindruck sonderlich Betrübt zu sein. 

 

„Meinen Glückwunsch Vetter!“, polterte er stattdessen und klopfte dem jüngeren Verwandten auf die stählerne Schulterplatte. „Von Hinrichtwald! Den muss ich mir merken. Wenn Erpho erst davon erfährt wird er Euch ein Lied zu Ehren dichten.“ Wando lachte polternd auf. „Lasst Euch aus Eurer Rüstung schälen und wir reden später weiter.“ Damit wandte er sich auch zum gehen und verließ das Zelt. 

 

Allerdings währte die Ruhe nur kurz. Basin waren nur wenige Atemzüge der Ruhe und Zeit für einen weiteren Schluck aus seinem Kelch geblieben, als ein weiterer Gast das Zelt betrat. Herein kam Oda von Vairningen, eine Base seiner Gattin. „Rondra war mit Euch Hochgeborene Exzellenz. Darauf meinen Glückwunsch und Dank!“ Mit einem verschlagenen Zwinkern deutete sie einen Knicks an. „Ihr seid ein hervorragendes Turnier geritten und mit Merovahn von Mersingen hattet Ihr gewiss keinen leichten Finalgegner.“ Wenn auch erschöpft, war sein Geist noch immer hell wach: „Ihr müsst es wissen, schließlich war er Euer erster Gegner.“ Nahm er ihren Dank auf, was sie dazu veranlasste seinen Satz fortzuführen: „Und mein letzter.“ Auch wenn sie dem Richtwalder dankte, war deutlich zu sehen, dass sie diesen Sieg lieber selbst errungen hätte – doch Rondra hatte anders entschieden. „Wie ich sehe, braucht Ihr noch etwas bis ihr wieder vorzeigbar seid. Aber lasst Eure jubelnden Anhänger nicht zu lange warten.“ Womit auch sie das Zelt wieder verließ. 

 

Inzwischen hatte Maura ihm die Armschienen abgenommen und war dabei auch die zweite Schulterplatte zu lösen, als erneut ein Besucher das Zelt betrat. „Glückwünsche an den von Rondra erkorenen Sieger.“ Begrüßte ihn Darpatia von Vairningen mit der Kriegerfaust über den Herzen. „Zu Beginn nannten sie Euch von Hinrichtwald, doch am Ende meinten sie es auch. Meinen Respekt für diese Leistung.“ Damit verneigte auch sie sich vor dem Richtwalder, auch wenn Darpatia tatsächlich einen vollendeten höfischen Knicks vorwies und nicht nur andeutete.

 

Die Ritterin klappte soeben die Zeltwand zur Seite um das Zelt zu verlassen, als bereits ihr Zwillingsbruder hineintrat. „Seid gegrüßt Herr.“ Eröffnete Randolph von Vairningen sogleich. In der letzten Zeit hatte der Ritter dem Landvogt begleitet und gedient, während seine Schwester dessen Gemahl und ihrem gemeinsamen Familienoberhaupt zur Seite gestanden war. Als er sich anschließend leicht verbeugen wollte, musste er unwillkürlich die Miene verziehen. „Wie geht es dir? Etwas gebrochen?“ Erkundigte sich Basin sogleich, war es doch mit Nichten in seinem Ansinnen jemanden ernsthaft zu verletzten, auch wenn dem bei einem Turnier nur schwer nachzukommen ist. „Nur eine Prellung, nichts Schlimmes.“ Versuchte er seinen Zustand herunter zu spielen, was ihm jedoch nur leidlich gelang. Als Basin mit einem: „Sicher?“ nachfragte, musste Randolph dann auch eingestehen, dass sich die Prellung gefühlt über seine gesamte linke Brust erstreckte. Matt lächelte daraufhin der Richtwalder und merkte erleichtert, wie seine Knappin damit begann die Beinschienen zu entfernen. „Es war ein guter Ritt den du gegen den Baernfarn gezeigt hast und auch gegen Adran von Oppstein konnte sich dein Stoß sehen lassen.“ Lobte er seinen Dienstritter, der sich um eine Antwort nicht scheute: „Danke Herr, ich bin froh, dass Ihr mich nicht wie den Binsböckel in den Staub geschickt habt.“ Der Richtwalder zog daraufhin die Augenbrauen zusammen und blickte sein Gegenüber besorgt an. „Hast du etwas von ihm gehört?“ Fragte er sogleich, schließlich war Inpolt blutüberströmt zu Boden gegangen. Doch Randolph verneinte indem er langsam den Kopf schüttelte. „Yalsin“, rief der Landvogt daraufhin seinen Pagen herbei. Dieser hatte soeben die Waschschüssel für seinen Herrn mit warmen Wasser gefüllt und heilte sogleich herbei. „Ja Herr?“ Fragte er dienstbeflissen und ahnte bereits welche Aufgabe auf ihn wartete. „Hole Erkundigungen für mich ein wie es dem Herrn Inpolt von Bregelsaum geht und richte bereits meine besten Genesungswünsche aus. Ich werde später versuchen dies auch persönlich zu tun.“ Yalsin nickte, denn genau dies hatte er bereits erwartet und so verließ er gemeinsam mit dem Vairninger das Turnierzelt. 

 

Endlich war ein wenig Ruhe eingekehrt. Maura nahm Basin den Kelch ab und stellte ihn neben der Karaffe mit frischem Wasser ab. „Herr, ich habe die Schnallen soweit geöffnet. Wenn Ihr bitte behilflich sein könntet, dann könnten wir Euren Brustpanzer ablegen.“ Nachdem der Ritter kurz genickt hatte, hoben sie gemeinsam den Panzer über den Kopf und legten ihn auf dem Rüstungsständer wieder ab. Nun endlich fühlte sich Basin leicht und unbeschwert, auch wenn das helle Beige seines Gambesons vom Schweiß dunkel gefärbt war. Es bedurfte einiger Mühe und gemeinsamer Anstrengungen das durchnässte und schwere Kleidungsstück abzulegen, doch letztlich glückte auch dies. 

 

Nur noch in seiner Untergewandung gekleidet und vollkommen verschwitzt stand der junge Richtwalder da, als schon wieder die Zeltklappte zur Seite schlug und jemand das Zelt betrat. Als der Ritter jedoch seinen Besuch erblickte, hellte sich seine Miene auf. „Mein Gemahl.“ Begrüßte ihn eine schöne hochgewachsene Frau mit einem bezaubernden Lächeln. „Ihr hattet vor der Turnei um einem Unterpfand gebeten und wir befanden es für angemessen, nach dessen verbleib zu fragen.“ Fuhr Vea Timerlain von Vairningen fort. „Nun verehrte Dame, Ihr habt Glück. Mein Pflichtbewusster Page hat Euren Pfand dort drüben für mich abgelegt.“ Dabei wies er hinüber zu einem Stuhl auf dessen Lehne das weiße Taschentuch lag. Fein säuberlich hatte jemand in dessen Zipfel das Bocksgehörn derer von Vairningen gestickt, doch leider war es während der Kämpfe mit etwas Blut besprenkelt worden. Besorgt blickte Vea zu ihrem Gatten hinüber, als sie bei ihm jedoch keine Verletzungen erblickte wirte sie erleichtert. „Nun Liebster, hast du deine Männlichkeit nun zur Genüge unter Beweis gestellt?“ Stichelte sie, legte zugleich jedoch ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich sanft an ihn. Fast berührten sich ihre Nasenspitzen und Basin ließ es sich nicht nehmen, den Arm um ihre Hüfte schlang und sie an sich heranzog um ihr einen Kuss von den weichen, sinnlichen Lippen zu stehlen. „Meiner Männlichkeit genügte getan? Ich habe Werbung für meine Person und meine Vorhaben gemacht!“ Stellte er die Bemerkung seiner Gattin richtig. „Und wie möchte der Herr Landvogt das Wehrheimer Land und die Baronien der Sichel mit seinem Turniersieg finanziell unterstützen?“ Bohrte Vea nach, was Basin unbekümmert beantwortete. „Indem der Herr Tjostsieger mit vielen Leuten ins Gespräch kommt und so die Möglichkeit erhält über die Entwicklung in den Regionen zu reden und wie der Wiederaufbau vorangetrieben werden kann.“ Sich an seine Schulter schmiegend und ein wenig schmollend musste die Baronin von Vairningen dennoch das letzte Wort haben. „Aber musst du das auf so gefährliche Weise tun?“ Sie auf die Stirn küssend, flüsterte Basin: „Die Beiz ist ungefährlich, dort werde ich dann über Falken vom Richtwald verhandeln.“



Knappenturnier

Tsalinde von Friedwang  gab Illkhold einen kräftigen Knuff in die braune Flanke.

 

Ausgerechnet heute musste ihr Radromtaler bocken. Er benahm sich so störrisch wie die Gebirgsziege, die seit altersher das Wappentier des Hauses Friedwang war. Auf ihrem Waffenrock trug Tsalinde allerdings nicht den silbernen Bockskopp auf blaurotem Grund. Noch nicht. Stattdessen prangte dort das Zeichen ihres nordmärkischen Schwertvaters, Alrik Eckbert von Baernfarn. Zum ersten Mal seit langem weilte sie wieder auf Besuch in ihrer Sichelhager Heimat, zusammen mit ihrem Herrn. Alrik Eckbert diente in der Herzöglichen Flussgarde, so dass das befreundete Haus Schrötertrutz einen Gutteil ihrer Ausbildung übernommen hatte, auf Gut Gauhaven an der Ambrôcebra. Die Verhältnisse im Hause Friedwang waren leider kompliziert, so auch bei ihr. Der Spruch vom “Friedwanger Flickwerk” kam nicht von ungefähr. Wie auch immer. “Baroness Tsalinde von Friedwang”, wie sie sich jetzt laut ihrem Vater nennen durfte, trug den schwarzen Bären vor goldener Sonne auf rotem Grund mit Stolz. Es war das altehrwürdige Wappen des Hauses ihrer Mutter, Baronin Serwas von Friedwang. Alrik Eckbert, ein Sohn des Rondrageweihten Deggen von Baernfarn, war doppelt so alt wie sie selbst, aber gemäß Stammbaum ihr Vetter. Nun, zumindest ihre Gewandung war kein Flickwerk. Der Waffenrock kam frisch aus dem Wäschezuber und roch nach Seife, ebenso wie die Reithose und das Untergewand. Ihre Stiefel hatten sie eigenhändig auf Hochglanz poliert, ebenso das Kurzschwert und die silbernen Knappensporen. Selbst die verschnörkselte Gürtelschnalle funkelte in der Herbstsonne.

 

Die Baroness von Friedwang zog die fein rasselnde, metallisch riechende Kettenhaube über ihre braunen Haare, ruckte das Kurzschwert zurecht und kontrollierte noch einmal den Gurt sowie den Sitz ihres Sattels. Der saß wie angegossen und rutschte kein bisschen. Sehr gut.

 

Illkhold hob den Kopf, seine Nüstern bebten. Der Braune würde doch jetzt nicht auch noch anfangen zu koppen? Das nervöse “Rülpsen” hatte sie ihrem vierbeinigen Gefährten mühsam abgewöhnt. Nein, der Wallach schnupperte nur aufgeregt in die Runde. Offenbar hatte er Blitz und Donner erspäht, die Wolfsjäger ihres Onkels Bishdarielon, die dieser wieder einmal völlig frei auf dem Turnierplatz herumstreunen ließ. Ihr künftiger Schwiegervater, rücksichtslos wie eh und jeh.

 

Die junge Adelige zwang sich selbst zur Ruhe. Wenn ein Pferd nervös wurde, dann lag es oft genug am Reiter. Gerade erst hatte sie an ihr Abenteuer im Traviakloster Alveranskuppen denken müssen. Anfang des Monats war es gewesen, als…

 

Tsalindes Blick schweifte über den Turnierplatz, als könne ihr gerade ein jeder, ob Edelfrau oder Bauernlümmel, die geheimsten Gedanken von der hohen, leicht gewölbten Stirn ablesen. Die Friedwang wollte immer noch nicht glauben, was sie oben in der Vorsichel, in der Abtei, erfahren hatte. Was sie dort selbst getan hatte! Alveranskuppen. Besser nicht an das Kloster denken. Am besten überhaupt nicht denken. Selbst die beiden Winhaller Wolfsjäger trotteten davon, in Richtung der Zelte, um dort das Hinterbein zu heben.

 

Sie tätschelte Illkholds Hals, der wegen seiner zotteligen Mähne so genannt wurde, stellte sich mit dem Rücken zu seinem Kopf und schob ihren linken Fuß in den baumelnden Steigbügel. Mit halber Drehung schwang sie sich in den Sattel. Es tat gut, den warmen, lebendigen Körper zwischen ihren Beinen zu spüren. Natürlich hatte sie ihr Knappenpferd ausgiebig gestriegelt und das wirre Roßhaar in Zöpfchenform gebracht, ebenso wie den Schweif. Heute war schließlich ihr Tag, ihr beider großer Tag. 18 Götterläufe war sie nun alt, fast 19. Zwei oder drei Jahre würde es noch bis zum ersehnten Ritterschlag dauern und sich damit das Tor in das wahre Leben einer Adeligen öffnen. Aber die goldenen Sporen musste sie sich erst noch verdienen.

 

Von hier oben sah die Welt schon ganz anders aus. Ein Schwarm Zugvögel glitt über den Turnierplatz hinweg, es war ja Herbst. Tsalinde versuchte einfach die Festtagsstimmung zu genießen. Schon der allgegenwärtige herbe Geruch nach Pferd, Leder und Metall war aufregend. Heute mischte er sich auch noch mit dem Duft nach bäuerlichem Essen an den Ständen und dem Rauch der Zwergenschmiede. Einen kräftigen Schluck Rotwein, den hatte sie sich vorhin gegönnt, zur Aufmunterung. Sie schmeckte ihn noch immer auf ihren Lippen.

 

Das Ringstechen würde ihr erster großer Auftritt bei einem Turnier sein, zumindest der erste vor einem derart großen und erlesenen Publikum. Dass die Markgräfin nicht anwesend war, löste gemischte Gefühle in ihr aus. Einerseits wäre die Ehre eines Siegs dann noch größer gewesen. Andererseits, eine etwaige Blamage würde in Abwesenheit von Erlaucht Swantje nicht gar so sehr schmerzen. Tsalinde runzelte die Stirn und korrigierte mit beiden Händen den Sitz ihrer Kettenhaube.

 

Warum musste sie hier eigentlich die ganze Zeit an Blamage, Heimlichtuerei und Niederlage denken? Sie war eine von Friedwang, und die Tochter einer Baernfarn noch dazu, bei allen Zwölfen. 1200 Jahre Familiengeschichte standen hinter hier. Nahm man die uralten Legenden ernst, stammte Tsalinde von Sankt Alboran ebenso ab wie von der Heiligen Artema. Beide Häuser waren auf jeden Fall alteingesessener Sichelhager Landadel. Ihr Blick ging zu den Kontrahenten. Travian von Schnayttach-Binsböckel stand in Oppsteiner Diensten, Gyldare war eine echte von Aschenfeld, jeder Halbfinger eine Rondrianerin. Da drüben sattelte Maura vom Schwarzen Quell auf, dem rosigen Mädchengesicht nach zu urteilen die Jüngste in ihren Reihen. Bei Hartuwal von Vairningen wusste sie im Moment nicht zu sagen, wem er die Stiefel putzte und die Ritterrüstung polierte, das Wappen war verdeckt. Rowan war ein Sturmfelser, der wie Frumir dem Haus Zweifelfels diente, im Zeichen der Einhörner. 

 

Gisla von Zweifelsfels wiederum stand in Obhut Glyranas von Mersingen, ihrer aller Gastgeberin. Die klugen, blauen Augen blitzten herrschaftlich unter blonden Haaren. Die kleine Rondraheilige, so nannten die übrigen Knappen die Waldsteinerin hinter vorgehaltener Hand, voller Bewunderung, aber auch mit ein klein wenig Neid. Das Pferd der Baroness von Zweifelfels war tadellos aufgezäumt. Gisla selbst hätte man sofort als Statue in einem Tempel der Himmlischen Leuin aufstellen können. Vielleicht auch als leuchtende Tempelkerze. Das hübsche, kerzengerade Edelfräulein strahlte jedenfalls mit der goldenen Traviasonne um die Wette.

 

Die Ränge auf der Tribüne waren jetzt, nach der Tjoste, nicht mehr randvoll besetzt. Aber es tat gut, die bewundernden Blicke der Kinder zu spüren. Die schmutzigen kleinen Gesichter schauten ehrfürchtig und demütig zu den blutjungen Reitern auf. Ähnlich wie die Schildknappen zu ihren Dienstherren aufsahen, sobald die echten Ritter als wandelnde Festungen auf ihren Streitrössern lostrabten.

 

Ein Gernatsborner Diener reichte Tsalinde die Lanze, die anders als beim vorangegangenen Tjost sogar eine scharfe Spitze hatte. Die Baroness stellte den Lanzenschuh auf dem Steigbügel ab. Mit einem Schnalzen lenkte sie Illkhold in die Richtung der insgesamt acht Ringstecher. Die Knappin landete auf der Position zwischen Frumir und Gisla. Die Gesichter ihrer Nebenleute waren angespannt, aber ansonsten ausdruckslos. Sie kannten sich meist nur vom Sehen oder Namen her, und empfanden sich nicht ernsthaft als Gegner.

 

Gisla schien Travian sogar ein wenig anzuhimmeln, den Bruder der Schlotzer Baronin. Mit seinen blonden Haaren, deren Strähnen keck unter der Kettenhaube hervorlugten, sah er der Zweifelsfelserin sogar ähnlich. Gutaussehend waren die beiden, wahrhaft Werbung für den mittelreichischen Adel. Tsalinde empfand sich im Vergleich dazu als pummeliges, unscheinbares Landei. Mit großen, runden Froschaugen. Als ein nordmärkischer Backfisch, dem das Rahjaglück bislang versagt worden war. Woran sich so schnell auch nichts ändern würde. Ganz im Gegenteil. Ravenhart von Mersingen war gewiss nicht die große Liebe ihres Lebens. So groß war ihre Liebe zu Kindern nämlich auch wieder nicht.

 

Die Meisten von ihnen standen bereits kurz vor dem Ritterschlag. Die Zeiten, in denen sie auf einem Holzpferdchen mit Rollen das Lanzenstechen auf einen Strohsack geübt hatten, waren lange her. Der eine oder andere war schon in sein erstes scharfes Gefecht geritten, hatte Blut und Tod aus der Nähe gesehen. Gesehen, gehört und gerochen. Vielleicht sogar mehr als einmal. Gisla von Zweifelfels sollte sogar bei der Befreiung von Rommilys mitgekämpft haben.

 

Tsalinde wusste zumindest, wie sich das Pfirren und Zischen von Pfeilen anhörte, oder das abgründige Stöhnen und Schreien der Verwundeten. Auf dem Großen Fluss war es mit der Herzöglichen Garde in den Kampf gegen Flußpiraten gegangen. Einer der Ruderer war getroffen worden, hatte geschrien und sich auf dem Deck gewälzt. Kurzentschlossen hatte sie dessen Riemen übernommen, war im schlüpfrigen Blut umher geschlittert und hatte dennoch versucht, sich dem Takt der Galeere anzupassen. Keine echte Heldentat. Man hatte die unerfahrene Knappin rasch wieder ausgetauscht, im Hagel der Geschosse, nachdem sie ständige “Krebse gefangen", sprich, das Ruderblatt sich ein paar Mal im Wasser verkantet und sie das Schiff eher gebremst als angetrieben hatte. Dennoch, Alriks Eckberts Belobigung hatte sich ein klein wenig angefühlt wie ein vorgezogener Ritterschlag. Ein Pfeil hätte sie beinahe gestreift, daran konnte sie sich noch erinnern. Der scharfe Luftzug und das zarte Streicheln der Befiederung an ihrer Wange waren verstörender gewesen als jede schmerzhafte, offene Wunde. Als ob Golgari sie versehentlich berührt und hernach erstaunt angesehen hätte, aus dunklen Rabenaugen. Verzeih, ich wollte dich noch nicht mitnehmen, Tsalinde. Doch nicht gleich bei deinem allerersten Waffengang.

 

Rabenaugen besaß auch der kleine Mersingen, das Golgaritensöhnchen. Die wurden jedes Mal groß, wenn ihm seine Zukünftige die Geschichte mit dem Fast-Streifpfeil und dem verwundeten Ruderer erzählte. Glyranas Pagen zuliebe hatte sie noch ein paar Pfeile im Schild dazugedichtet, statt eines harmlos abgeprallten Schleudersteins, der ihrem Herrn gegolten hatte. Hätte sie der Pirat ins Gesicht getroffen, wäre sie zumindest aufs Scheußlichste entstellt worden. Womöglich würde sie jetzt eine Augenklappe tragen, wie ihr Vater. Der korgefällige Krieg vermochte einen Menschen nicht nur zu töten oder leiden zu lassen. Sondern ihn auch häßlich zu machen. Das hatte sie bereits gelernt. Nein, als Knappen waren sie allesamt keine Kinder oder Halbstarke mehr.

 

Der Turnierherold gewährte den jungen Adeligen drei schmetternde Fanfarenstöße, als sie in lockerer Linie losritten, um vor der Tribüne ihre Lanzen und Häupter zu senken.

 

Tsalinde versuchte sich einen Überblick über ihre Aufgabe zu verschaffen, beim Ringelstechen. Fünf rotgolden gebänderte Ringelbäume standen hintereinander, direkt an der Schranke. An einer Art Galgen hingen Strohkränze, unterschiedlich hoch und leicht versetzt, was den Ritt anspruchsvoll machte, zumal durchgehender Galopp gefordert war. Zehn Lanzenproben wurden verlangt, nach mittelländischen Regeln. Es würde also mindestens zwei Durchgänge geben.

 

Travian war als erstes an der Reihe. Ein traviafürchtiger junger Mann, dem die Ähnlichkeit zu Haldana ins Gesicht geschrieben war. Vor allem aber kam er nach seiner traviafürchtigen Mutter, Adginna, der bisherigen Vögtin von Schlotz. Traviafürchtig. Beim Gedanken an dieses Wort wurde Tsalindes Seelenleben erneut aufgewühlt, wie das Ochsenwasser bei Sturm. Aber sie wollte ja nicht mehr an die Ereignisse im Kloster denken. Nicht ausgerechnet jetzt.

 

Der Schnayttacher vollführte mit seinem dumpf stampfenden Pferd einen großen Bogen. Obwohl er den undankbaren ersten Ritt vollführen sollte, ließ er sich keinerlei Unruhe anmerken, als blasser, vornehmer Jungedelmann. Travian blickte demütig nach oben, und murmelte ein Gebet. Dann vollführte er eine Geste, von der Tsalinde nicht zu sagen wusste, ob sie eine Gans oder ein Schwert darstellen sollte, und gab dem Pferd die Sporen. Reiten konnte er, aber seine Lanze führte er ziemlich ungeschickt. Die Spitze schwankte viel zu sehr hin und her, den hinteren Teil hatte er nicht fest genug unter die Armbeuge geklemmt. Den ersten Ring verfehlte Travin vollständig. Der zweite Reif rutschte glücklich den Schaft hinab auf den Handschutz. Der dritte, vierte und fünfte Stoß gingen völlig fehl. Mit unglücklichem Gesichtsausdruck und gesenktem Haupt ritt der Oppsteiner zurück. Er hatte noch Glück, dass sein Ritt anerkannt wurde. Der Galopp war am Ende alles andere als sauber gewesen.

 

Ein pausbackiges Bauernmädchen eilte herbei, stellte sich auf ein wackelndes Fässchen und hängte einen neuen Strohring auf den Haken.

 

“Mit Pfeil und Bogen ist er besser”, sagte Gisla. Es klang entschuldigend. “Ebenso mit der Armbrust. Hab ich gehört.”

 

Im Mienenspiel der Übrigen war keinerlei Regung, geschweige denn Häme oder Spott zu sehen. Sie alle waren beseelt von den Idealen des rondragefälligen Rittertums. Dazu zählte, großmütig gegenüber einem schwächeren Gegner zu sein. Zumal sie selber noch nicht wussten, wie sie bei dieser Prüfung abschneiden würden. Als nächster war Hartuwal an der Reihe, der kurzentschlossen lospreschte. Das sah schon bedeutend besser aus. Der Vairninger holte sich drei von fünf möglichen Ringen. Zufrieden lächelnd trabte er zurück und erlaubte sich einen selbstbewussten Gruß in Richtung Volk, das dankbar applaudierte. Nun hatten Storkos Unfreie ein wenig mehr zu hantieren, beim Neuaufhängen der Kränzlein.

 

Gyldare von Aschenfeld spießte zwei Ringe auf. Mit Rowan preschte der erste der beiden Zweifelfelser Knappen los und bereitete den Einhörnern in seinem Wappen alle Ehre. Vier Kränze hingen hernach als Ausbeute am Eschenholz. Der Sturmfelser strahlte über das ganze Gesicht. Frumir Leuwyn war anzumerken, dass er da gerne mitgehalten hätte. Der zweite Zweifelfelser stach aber etwas zu verbissen auf die Ringe ein. So eine Lanze war kein Schwert, mit dem man nach Belieben herumstochern konnte. Am Ende bestand Frumir nur zwei Lanzenproben.

 

Nun war Tsalinde an der Reihe. Gerne hätte sie zu Travia gebetet. Nun, im Grunde musste sie die Barmherzige um Vergebung anflehen. Statt sie auch noch dreist um Beistand zu bitten. Es war ohnehin Rondra, deren Hilfe sie bedurfte. Die Baroness lenkte Illkhold zum Ausgangspunkt, der dankenswerter Weise als Furche im Boden markiert worden war, und senkte die Lanze. Der jungen Friedwang war bewusst, dass sie eine ziemlich durchschnittliche Knappin war, wenn es ums Fechten oder den Kampf mit dem Flinken Ferdoker ging. Ihre Vorliebe war die Musik. Es gab auch keine Brautwerber, deren Aufmerksamkeit sie mit einem Sieg erwecken konnte. Leider.

 

Aber die Baroness wollte beweisen, dass sie anders als ihr künftiger Verlobter kein Kind mehr war. Auf jeden Fall den “albernen Alboran” übertreffen, der beim Tjost aus dem Sattel gefallen war wie ein nasser Sack. Ein scheppernder nasser Sack. Die Farben des Hauses Baernfarn, die sie auf ihrem Waffenrock trug, glaubte sie fast schon körperlich zu spüren. Sie war ja auf der Gallyser Lindwurmburg geboren worden, in einer kalten Winternacht, angeblich sogar während eines firunsgefälligen Schneesturms. Tsalinde fühlte sich der Familie ihrer Mutter noch immer tief verbunden, nicht nur als Knappin Alrik Eckberts.

 

“Rondra befohlen!” murmelte Tsalinde und fällte die Lanze. Illkhold erhielt leichten Sporendruck, was beinahe unnötig war. Der Braune kannte das Spiel schon zur Genüge, von den Waffenübungen. Es machte ihm sogar Spaß. Fast schien es Tsalinde, als wolle er seiner Reiterin helfen. Beide verschmolzen in Windeseile miteinander, wurden eins. Nach wenigen Schritten gallopierte ihr vierbeiniger Freund. Sie fasste den ersten Strohring ins Auge, korrigierte die Zielrichtung der Lanze, hielt den hinteren Teil aber fest eingeklemmt. Dann hatte sie schon den ersten Kranz vom Haken gerissen. Die Lanzenspitze wanderte nach oben, nahm auch den nächsten Kranz mit. Das klappte weit besser als gedacht. Jetzt bloß nicht leichtsinnig werden. Tatsächlich flog der nächste Kranz beiseite wie ein aufgescheuchter Vogel. Gestreift! Egal, da waren noch zwei Ziele. Der vierte Ring glitt fast wie von Zauberhand geworfen auf ihre Lanze, auch der letzte Stich gelang ihr mühelos.

 

Als Tsalinde Illkhold zügelte, vermochte sie ihr Glück kaum zu fassen. Vier von fünf möglichen Ringen gestochen! Sie hatte auf Anhieb mit dem feschen Rowan gleichgezogen, und genoß den Applaus aus dem Publikum. Illkhold hob den Kopf, stellte die Ohren auf und tänzelte. Er schien ebenso stolz zu sein wie seine Herrin. Tsalinde tätschelte ihm dankbar den Hals und kehrte zurück. Wohin mit den vier Strohringen, die an der Lanze schlackerten wie Brezeln auf der Stange eines Bäckers? Eine echte Ritterin hätte sie sicher ihrem Liebsten gewidmet. Aber sie dem schmächtigen, totenbleichen Ravenhart vor die Füße zu legen, dazu hatte sie nun wahrlich keine Lust. Eine echte Brezel, die hätte sie dem Kleinen noch gegönnt. Ah, dort drüben stand ein Korb bereit. Der Persevant machte vier Striche auf seiner Schiefertafel und nickte ihr anerkennend zu. Beschwingt ließ sie die Kränze von der Lanze gleiten. Die Götter zürnten ihr heute nicht. Zumindest nicht derart, dass sie ihr gleich das Turnier zu Gernatsborn verhagelten. Tsalinde murmelte ein Dankgebet zur Himmlischen Leuin.

 

Gislas Ritt, den hatte sie komplett verpasst. Drei Ringe an der Lanze, nicht schlecht. Aber es waren nicht soviele wie bei ihr und Rowan. Tsalinde wollte fast schon ein wenig hochmütig blicken. Dann sah sie, wie Maura vom Schwarzen Quell sämtliche fünf Ringe abräumte. Ein traumhafter Ritt, als hätte sich eine Amazone in den Sattel geschwungen. Applaus brandete hoch. Dennoch, Tsalindes Ehrgeiz war erwacht. Zum Glück gab es ja noch einen zweiten Durchgang.

Travian wollte die Scharte auswetzen, schließlich war das Ringstechen für ihn ein Heimspiel. Es gelang ihm nicht wirklich. Ein weiterer Ring, mehr war für Haldanas Bruder nicht drin, auch wenn er diesmal ein bisschen Pech hatte. Zweimal streifte er den Kranz, der wild hin und her schaukelte. Hartuwal brachte es erneut auf drei Ringe, ebenso Gyldare. Rowan “das Einhorn” hatte Kummer mit seinem Pferd, dass auf halber Strecke verweigerte, so dass sein Reiter wutentbrannt abbrechen musste. Frumir holte sich ein weiteres Mal nur zwei Kränze.

 

Lässig wie eine Svelltaler Viehtreiberin lenkte Tsalinde Illkhold an den Startpunkt. Werd bloß nicht übermütig, ermahnte sie sich. Noch ist nichts entschieden. Sie drückte ihr Kreuz durch und hielt Zwiesprache mit ihrem Pferd. “Jetzt gilts, mein alter Freund! Mach mir bloß keine Schande!” Illkhold schnaubte.

 

Ungeduldig sah die Baroness zu, wie die Bauern an den Ringelbäumen herumhantierten. Warum dauerte das Austauschen der beiden gestochenen Ringe so lange ?! Sie wollte die Tölpel zur Eile antreiben, verkniff es sich aber. Jetzt bloß nicht arrogant wirken, oder am Ende gar die Contenance verlieren. Irgendwie schienen die halbwüchsigen Bauernkinder kaum weniger nervös zu sein wie die künftige Ritterin. Ein Bursche ließ seinen Ring vom Haken fallen und hob ihn umständlich auf. Himmelrondrablitzundwolkenbruch! Tsalinde spürte, wie, ihrem sanftmütig klingenden Namen zum Trotz, der friedwanger Jähzorn in ihr hochkochte. Es fehlte nicht viel, und sie würde diesen täppischen Goblins mit der Lanzenspitze Beine machen. Die Ringe pendelten zu allem Überfluss hin und her. Die Gehilfen hatten wohl vergessen, sie mit der Hand zu beruhigen. Es war aber auch wieder ziemlich windig geworden.

 

Tsalinde ritt an. Ein wenig zu früh, wie sie nun merkte. Die Ringe schaukelten noch immer. Den ersten Kranz verfehlte sie völlig, begleitet von einem enttäuschten Raunen der Zuschauer. Irgendwie spornte dieser Laut sie aber eher an, statt sie zu entmutigen. Das Publikum fühlte mit ihr! Der nächste Lanzenstoß war ein sauberer Treffer, ebenso der dritte, vierte und fünfte. Acht Ringe hatte sie gestochen. Ihre Wut legte sich sofort, was auch an dem Unfreien lag, der am Ende der Bahn Reißaus genommen hatte. Sie grüßte ihn mit wölfischem Grinsen. Eigentlich durfte sie nicht klagen, derzeit führte sie das Feld an.

 

Gisla von Zweifelfels ritt ebenfalls grandios, holte sich alle Ringe bis auf den letzten. Sieben Ringe, sehr gut, auch in Tsalindes Sinne. Das reichte nicht zum Gleichstand oder Sieg. Jetzt blieb nur noch Maura übrig, ihre wahre Gegnerin. Natürlich, in diesem Fall strengten sich die Ackermäuse an, alles bestens und hurtig vorzubereiten.

 

Auch die Schwarzquell verfehlte einen Kranz, den mittleren, wenn auch nur knapp. Der Strohreif fiel zu Boden. Ansonsten stapelten sich die übrigen Ringe auf ihrer Lanze. Neun gegen acht Ringe. Die Baroness von Friedwang war auf dem zweiten Platz gelandet. Tsalinde zwang sich zu einem Lächeln. Wenigstens war kein dritter Durchgang mehr nötig. Sie schüttelte erst der strahlenden Maura, dann der ein wenig mißmutig blickenden Gisla die Hand.

 

Nach dem Absatteln und Trockenreiben der Pferde folgte eine kleine Siegerehrung. Maura war wirklich noch sehr jung. Die Friedwangerin zweifelte, ob das Mädchen überhaupt schon den 14. Götterlauf erreicht hatte, in dem junge Adelige für gewöhnlich aus dem Pagen- in den Knappendienst wechselten. Tsalinde biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich gerade einem halben Kind geschlagen geben müssen. Ob ihr Travia vielleicht doch etwas sagen wollte? Zumindest der Schwertvater von Maura schien ein Recke zu sein, hatte doch der Richtwalder gerade vorhin den Tjost gewonnen.

 

Die Knappin Basins von Richtwald erhielt aus den Händen Storkos und Glyranas den Siegerkranz sowie einen gut gefüllten Dukatenbeutel. Die Gastgeber waren großzügig, auch die Zweit- und Drittplatzierte würden ein paar Münzen erhalten. 

 

Friedwanger Watsche

Neben dem Junkerpaar standen Alboran und Haldana mit ihren Schwiegereltern und klatschten Beifall. Alboran war bei der Siegerehrung zugegen? Sein Kopf war dick bandagiert, was ihn ein wenig wie einen bartlosen Novadi aussehen ließ. Ansonsten schien er munter zu sein. Ihr, hmja, geliebter Halbbruder erinnerte Tsalinde daran, dass man sie schon öfters auf den zweiten Platz verwiesen hatte, in ihrer eigenen Familie. Tsalinde die Zweite. Selbst auf ihren Amtsnamen würde das zutreffen, als Baronin von Friedwang.  

Dabei war sie die erste der Geschwister, die legitim geboren worden war. Zumindest galt Tsalinde als legitim, vor aller Welt. Nichtsdestotrotz hatte ihr Vater seit Albos Geburt davon geträumt, seinen Bastard zum Baronieerben zu erheben, unter den fadenscheinigsten Begründungen. Vorbei an jedweder Tradition und Sitte, von den Hausgesetzen und dem Recht des Raulschen Kaiserreiches ganz zu schweigen. Tsali hätte das Ansinnen selbst dann nicht verstanden, wenn nicht sie die Benachteiligte hätte sein sollen. Ihr Vater war eigentlich ein weltgewandter Tatsachenmensch. Ein verschmitzter Realist. Wenn es um Alriks Sproß mit der Rahjajungfer Ismena von Oppstein ging, dann benahm sich Seine Hochgeboren  wie ein halbwüchsiger Bürgersohn im Liebeswahn.

Glyranas Schwester Syrenia, die sogenannte Erbvögtin von Friedwang, und ihre eigene Mutter hatten es erst vor kurzem geschafft, Vater seinen verrückten Plan auszureden. Ein für alle mal auszureden. Stattdessen war Alboran Baron von Schlotz und ein waschechter Binsböckel geworden. Immerhin. Das war weit mehr, als das Sorgenkind und schwarze Lamm der Familie noch vor ein paar Monaten hätte erwarten dürfen.

Tsalinde würde dereinst Platz auf dem friedwanger Steinbockhtron nehmen, wie es ihr seit Geburt zustand. Eigentlich musste sie zufrieden sein. Selbst das Ringstechen war besser gelaufen, als sie befürchtet hatte. Aber der angestammte Platz eines Steinbocks war nun einmal ganz oben auf dem Gipfel. Die Baroness verspürte leichtes Mißvergnügen.

Ein Lederbeutel wechselte in ihre Hand, der mit Silbermünzen gefüllt war. Serwa, ihre Mutter, sah sie aus unergründlichen blauen Augen an, die auf viele Menschen hexisch wirkten. Alrik, mit seinen graumelierten schwarzen Locken, dem Viertagebart und der Augenklappe, zeigte echten Stolz. Endlich einmal. Vater war blass, seine Hand zitterte. Den Schwächenfall von gestern hatte er noch immer nicht ganz verwunden. “Bist gut geritten, Tsali”, sagte er mit anerkennendem Nicken. “Hast dir deinen Siegespreis mehr als verdient. Damit meine ich nicht nur die Taler."

"Ich danke dir, Vater." Tsalinde blickte ehrlich besorgt. 

Der Friedwanger gab einem der Fanfarenbläser ein Zeichen. Der Mann schmetterte los, mit dicken Backen.

“Jetzt knie nieder”, kommandierte Alrik knapp.

Verdutzt tat Tsalinde, wie ihr geheißen worden war. Gehorsam war sie als Knappin gewohnt, auch wenn sie den Sinn hinter den Worten nicht wirklich verstand.

"Höchste Zeit, dir deine Ohrfeige abzuholen.” Der Baron grinste breit.

“Weil ich nicht die erste Siegerin geworden bin?” Tsalinde senkte schuldbewusst den Blick.

“Unsinn. Ich hoffe sehr, du machst dir nicht wirklich was aus etwas derartig Flatterhaftem und Unbeständigem wie dem Beifall des Volkes. Heute rufen sie Hoch, Hoch, Hoch und morgen schon Hochverrat.“ Alrik hob die Hand, zum Zeichen, dass er zum Publikum sprechen wollte. Zum Publikum, das er gerade noch geschmäht hatte.

“Werte Turniergäste, hochverehrte Besucher aus Nah und Fern! Wenn ich einmal kurz um eure geschätzte Aufmerksamkeit ...Vielen Dank. Nun, es kommt leider viel zu selten vor, dass sich derart edle Namen in so großer Zahl an einem einzigen Ort versammelt finden. Lasst mich die Gelegenheit nutzen, eine Neuigkeit zu verkünden. Eigentlich sind es zwei Neuigkeiten. Erst gestern musste ich erleben, wie sehr mich bereits die Last des Alters niederdrückt. Sicher verstärkt durch die Unbill der vergangenen Jahre, von deren Strapazen und Herausforderungen ich Euch nichts mehr zu berichten brauche.”

Auf der Tribüne wurde wieder geraunt. Last des Alters? Auch wenn der “Fuchs von Friedwang” schon ein wenig ergraut war, greisenhaft wirkte er mit seinen 50 Götterläufen noch lange nicht. Womöglich hatte er die letzten Tage einfach ein wenig zu viel über den Durst getrunken. Oder zuviel Pfeifenkraut geraucht?

“An uns allen ist die Last der Schlachten und Kämpfe der letzten Jahre nicht spurlos vorüber gegangen. Ich habe daher beschlossen, es künftig ein wenig ruhiger anzugehen, und mehr Zeit im schönen Rommilys zu verbringen. In der Nähe des Hofes unserer geliebten Markgräfin. Mögen die unsterblichen Zwölfe Ihre Erlaucht allzeit behüten! Nun denn. Im Praiosmond wurde die Thronfolge im Hause Friedwang geklärt, im Einvernehmen mit Erbvögtin Syrenia von Mersingen. Baroness ist nun meine geliebte Tochter Tsalinde, die mir heute mit ihrem Turniersieg...ihrem Beinaheturniersieg...sehr viel Freude bereitet hat. Sobald Wohlgeboren Tsalinde ihren Ritterschlag in den Nordmarken erhalten hat, wird sie meine Nachfolge auf dem Steinbockthron antreten. Ich werde mich dann nach Rommilys zurückziehen.”

Das Raunen wurde lauter. Alrik räumte vorzeitig den Baronsthron? Womöglich war doch etwas daran an den Gerüchten, dass Bishdarielon von Senkenthal, sein golgaritischer Zwillingsbruder, einmal der "wahre Alrik" gewesen war. Durch verworrene Umstände, die niemand außerhalb Friedwangs richtig verstand, sollte der Alrik, der dort unten stand, in die Rolle des Erstgeborenen geschlüpft sein. “Rohaja und Yppolita”, so wurden die ungleichen Brüder bisweilen spöttisch genannt. Wie es hieß, hatte sich Alrik, der echte und entrechtete Alrik, unter dem Namen Bishdarielon in den Orden des Golgari zurückgezogen. Dass Bruder Bishdarielon im Bürgerkrieg auf Seiten der Answinisten gekämpft hatte, als ehemaliger Knappe Answins von Rabenmund, machte die Sache nicht einfacher. In Rommilys war man offenbar weder an einem handfesten Skandal, noch an answinistischen Verwicklungen oder einer allzu phexischen Handhabung der Hausgesetze in Friedwang interessiert. Die Frage war, ob sich der Senkenthaler, der selbst einen Sohn mit Syrenia von Mersingen hatte, mit einer derartigen Erbregelung zufrieden geben würde. Ob sich das Haus Mersingen damit zufrieden geben würde...

“Das wäre die eine Entscheidung, die sich seit dem Sommer vielleicht schon herumgesprochen haben mag. Desweiteren möchte ich hier und jetzt eine Verlobung bekannt geben. Auf dass wieder Frieden und Eintracht in unserer Familie Einzug halten mögen, wie es Frau Travia gefällig ist...Nun, zu diesem hehren Zweck wird Ravenhart von Mersingen, der Sohn meines werten Bruders Bishdarielon von Senkenthal, Tsalinde zur Gemahlin nehmen...sobald er das heiratsfähige Alter erreicht hat.”

Tsalinde verzog das Gesicht, was nicht nur an ihrem schmerzenden Knie lag. Sie ruckte ihr Kurzschwert zurecht. Erneut wurde Gemurmel laut. Die frisch bestätigte Baroness von Friedwang konnte das Volk nur zu gut verstehen. Ravenhart war ein Kind, noch keine neun Götterläufe alt, der treuherzige Page Glyranas von Mersingen. Ebenso wusste jeder, was “der Sohn meines werten Bruders” bedeutete. Hier sollte ein Kousin seine eigene Kousine ehelichen. Es war ein schlechter Handel, für alle Beteiligten, bei dem es nur darum ging, nicht schlechter wegzukommen als die anderen. Fast schon ein Kuhhandel.

“So es der Barmherzigen Mutter gefällt, wird das Erhabene Paar in Rommilys selbst seinen Segen über die Verlobung sprechen. Über den künftigen Traviabund” Alrik klang salbungsvoll, als spräche er von einer besonderen Ehre für Tsalinde und Ravenhart. Und nicht etwa von einem kirchlichen Dispens, der bei einem Traviabund zwischen nahen Blutsverwandten nötig war. So er überhaupt erteilt werden würde, durch die Hohe Mutter und den Hohen Vater in der Friedensstadt. Das Haus Friedwang würde der Kirche zumindest eine bedeutende “Wohltat” erweisen müssen. Das war jedem der anwesenden Adeligen klar, der ernsthaft darüber nachdachte.

Tsalinde versuchte möglichst ausdruckslos zu blicken. Zum Glück wurde nicht auch noch der blasse, kleine Page auf den Turnierplatz gerufen, der fast ein Jahrzehnt jünger war als seine Versprochene. Wo stand der Räbling überhaupt? Sicher irgendwo oben auf der Tribüne, bei seiner Mutter und der Tante, die das alles ausgeheckt hatten. Die drei Pfähle im Wappen des Hauses Mersingen kamen der Baroness vor wie Gitterstäbe. Wie die Gitterstäbe ihres künftigen Kerkers.

Die Knappin senkte den Kopf noch ein wenig mehr. Sie ahnte, welches Ritual nun folgen würde.

Cui dolet, meminit. Der Wahlspruch des Hauses Friedwang. Wen es schmerzt, der erinnert sich daran. Oder, freier übersetzt: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Manche behaupteten, das Motto der Friedwang-Glimmerdiecks würde bis auf die Zeit ihres legendären Vorfahren Alboran zurückgehen. Dem in der Schlacht von Veratia, gegen die Orken, ein Stück Ohr abgehackt worden sein sollte. Nun, das war ziemlich sicher eine fromme Sage. Die Alboranskerbe war ein Erbfehler, der sich ab und an unter den männlichen Nachkommen des Praiosheiligen zeigte. Vielleicht ein Fluch. Aber gewiss nicht die Generationen überdauernde Hinterlassenschaft eines Orksäbels. 

Wahrscheinlich stammte der Spruch vom Kopflosen Barne, einem Thronräuber, Verwandtenmörder, Intriganten und Verschwörer gegen das Haus Rabenmund. Als Freiherr Barnhelm in Wehrheim sein Haupt vor dem Henker hatte beugen müssen, vor mehr als 250 Jahren. Da hatte sich ihr Vorfahr angeblich noch Aufschub für ein letztes Gebet gewünscht. Er werde dem Scharfrichter sagen, sobald er bereit sei für den tödlichen Hieb. “Vergesst es aber nicht”, sollte der Kapuzenträger im grimmigen Scherz entgegnet haben. “Seid unbesorgt”, war Barnhelms stolze, gefasste Antwort gewesen: “Wen es schmerzt, der erinnert sich daran.” Die bosparanische Weisheit galt seither als Mahnung an Barnes Nachkommen, künftig nach den Geboten der Götter wie der Menschen zu leben. Die Worte klangen aber auch ein klein wenig rachsüchtig. Nach einer besonders düsteren Deutung hatte der Kopflose Barne damit seine Rückkehr als Gespenst angekündigt. Bis heute sollte er die Baronie als nächtliche Spukgestalt heimsuchen, verwirrt und orientierungslos, an allen möglichen Orten. Was Wunder, so ganz ohne Kopf. Selbst durch den Springenden Steinbock war er angeblich schon marschiert, im Schweinekoben aufgetaucht, auf der Latrine, im Weinkeller oder in der Burgküche.

Wen es schmerzt, der erinnert sich daran. Das gleiche Prinzip galt auch für die Friedwanger Watsche. Wer immer zum Baronieerben, oder zur Baronieerbin auserkoren wurde, erhielt eine saftige Ohrfeige, als kleine Gedächtnisstütze, vor möglichst vielen Zeugen. Gefürchtet hatte Tsalinde diesen Moment schon lange. Weniger wegen der Schmerzen als wegen der Bloßstellung. Nun, wie es aussah, würde es heute sehr viele Zeugen geben.

Alrik holte aus, mit der Handfläche, und sah mit leicht spöttischem, vielleicht auch pervalischem Grinsen, wie Tsalinde zusammenzuckte.

“So wenig Göttervertrauen, meine Tochter?”

Tsalinde schluckte. Wenn Alrik wüsste, was sie wusste.

Erneut hob sich die Hand mit dem schweren Siegelring. Diesmal ließ die Baroness alles mit sich geschehen. Die “Ohrfeige” erwies sich als besserer Klaps. Fröhliches Gelächter wurde laut. Alrik, der Streunerbaron. Für ihn war im Leben alles nur Gaukelspiel und Täuschung. Hauptsache, am Ende konnte er herzhaft darüber lachen. Selbst wenn es nur eine angedeutete Maulschelle war.

“Erhebe dich, Baroness Tsalinde von Friedwang! Meine erwählte Baronieerbin!” Alrik umarmte die Knappin, Alboran blickte missmutig über die Schulter seines “Adoptivvaters” hinweg. Schließlich hatte er jahrelang selbst Thronfolger von Friedwang werden sollen. Nun, mit der Herrschaft über Schlotz und den friedwanger Gütern war er wahrlich gut entschädigt worden, ebenso mit seinem Traviabund.

Auch Serwa nahm Tsalinde in die Arme. “Unsere erwählte Baronieerbin!”

Tsalinde blickte sich um, nahm aber nur mehr die flatternden Fahnen des versammelten Adels wahr, nicht mehr die einzelnen Gesichter. Irgendetwas würde sie nun sagen müssen.

“Ich danke Dir, Vater.” Die Stimme der Baroness klang laut und fest, den Zwölfen sei Dank. “Ich danke Dir , Mutter. Glaubt mir, ich werde eine würdige Baronin von Friedwang sein, egal ob mein Leben nun lang währen möge oder kurz. Meine Treue gehört fortan dem Sichelhag und der Rommilyser Mark.” Tsalinde hob ihre Hand und winkte in Richtung der Menge.

 

Nachmittagsschläfchen

 

Die Burgherrin, Glyrana von Mersingen, hatte sich noch am Nachmittag zu Bett begeben. Die letzten Tage, nicht erst seit Beginn des Turniers, waren anstrengend gewesen. Jetzt eine Stunde ruhen, bevor am Abend noch der Abschlussball stattfindet, tat ihr sicher gut. Es würde ein langer Abend werden, und sie musste konzentriert bleiben. Schließlich galt es mehr, als nur eine gute Figur auf dem Ball zu machen. Es würde sich weisen, ob ihre vorsichtig angestoßenen Planungen aufgehen könnten oder nicht. Glyrana schloss die Augen. Rasch fiel sie in einen unruhigen Schlaf. 

`Habt Ihr gemeint, mich überrumpeln zu können?` Adrans Vorwurfs Stimme klang schrill. `Was sollte das mit dem Trutzbund? Du weißt genau, dass Schlotz ohne meine Zustimmung nicht in den Bund aufgenommen werden kann. Ich bin der Kanzler des Bundes!` Adran hatte seinen Kopf auf dem Hals schief gelegt und durchbohrte die Mersingerin mit einem kalten, stechenden Blick. `Deine Familie hereingeschmeckter Speichellecker wird hier nie etwas zu sagen haben im Sichelhag!` 

`Das werden wir noch sehen`... durchfuhr ein trotziger Gedanke Glyrana. `Warte nur ab, lange nennst du dich nicht mehr von Oppstein…` dachte Glyrana, um sich sofort zu bremsen. Was dachte oder sagte sie da? Sie musste sich mehr zurückhalten, durfte sich nicht in die Karten schauen lassen.

Ein keckerndes kaltes Lachen. 

´Aha, daher weht der Wind´ frohlockte Adran. Adran? Das Gesicht des Oppsteiners zerfloss zu einer schaurigen Grimasse, die nichts mehr mit dem Antlitz des lebenslustigen Barons gemein hatte. 

Glyrana wurde bewusst, dass die Szenerie nicht real war. Sie wusste, dass sie schlief und träumte und kämpfte vergeblich darum, aufzuwachen. Allein, es gelang nicht. Ein blasses Gesicht auf einem schiefen Hals grinste die Mersingerin frech an. 

Irgendwie schien es Glyrana, die blasse Fratze habe bereits erfahren, was sie wissen wollte. Wer war das? Kannte sie das Gesicht? Sie konnte es gerade niemandem zuordnen, an den sie sich erinnern konnte. 

Aber das musste sie ja auch nicht. Schließlich träumte sie. Mit einem Ruck wollte Glyrana sich aufsetzen. Aufwachen. 

Sie kam jedoch nicht hoch. Glyrana fühlte das weiche Bett unter sich, wusste, sie wusste, wo sie lag. Aber alles Wissen half ihr nichts. Die hämisch grinsend gezeigten Zähne des fratzenhaften Gesichts verschwanden nicht aus ihrem Sichtfeld. Hatte Glyrana immer noch die Augen geschlossen? Hielt diese alptraumhafte Gestalt sie gefangen? 

`Metze, Ihr wacht erst dann auf, wenn ich es Euch erlaube! Ebenso wie diese Bänkelsängerin von Baronin diesen eitlen Gecken nicht heiraten kann, egal was für eine Scharade ihr hier alle veranstaltet! Der Güldene wird diese Ehe nie anerkennen! Und dennoch tun doch letztlich alle SEINEN Willen, mögen sie sich auch noch so sehr dagegen wehren!`

Ein Schrei fuhr aus Glyranas Kehle, so sehr erschrak sie über die Worte, die sie vernehmen musste, Worte, die ihr in ihrer unheiligen Bedeutung durch den ganzen Körper fuhren. 

Ein Schrei, den niemand hören konnte, da die Mersingerin nur im Traum geschrien hatte und kein tatsächlicher Laut aus ihrer Kehle drang. 

`Was immer ihr tut, Mersingerin, wird SEINEN Ruhm mehren. Ob Ihr es wollt oder nicht. Und jetzt, liebes Kind, jetzt dürft Ihr aufwachen.` 

 

Schweißgebadet, fröstelnd und zitternd schlug Glyrana die Augen auf. Was war geschehen? Hatte sie das wirklich geträumt? Als Glyrana sich aufrichten wollte, durchfuhr sie ein ziehender Schmerz an der Kopfhaut. Ihre langen Haare waren wirr um das Bettgestell verknotet und verfitzt, so dass sie im Aufstehen zurück gerissen wurde. Mühsam entwirrte sie ihre Frisur, befreite sich. 

Die Landjunkerin zu Gernatsborn griff nach Bürste und Kamm. Soweit käme es noch, als dass sie sich einschüchtern ließ von Ammenmärchen und schlechten Träumen. Glyrana atmete tief durch und sammelte ihre Gedanken. 

Angst war ein Ratgeber für gefährliche Situationen, nicht aber ein Handlungsleitfaden, auf dem die Panik sich ihren Willen brach. Nein, dachte Glyrana. Sie würde sich nicht von irgendwelchen düsteren Träumen beeinflussen lassen.

 

Abschiedsgedanken

 

Waldemar von Binsböckel stand am Fenster und sein Blick streifte über den Horizont der sich senkenden Sonne. Er hatte das familiäre Spektakel genossen und würde morgen nach dem Frühstück aufbrechen, um sein Glück im Westen des Reiches zu suchen. Schon früh würde er direkt in der Küche seinen Beutel üppig mit den Resten der letzten Tage füllen und sich vielleicht ein paar neue Stiefel in einem günstigen Moment "borgen". Bei den alten löste sich bereits die Sohle. Sein Plan war, die Westmeerküste nördlich des Lieblichen Feldes näher zu erkunden. Im fernen Windhag soll der Wein, ob des rauen Klimas, den Gaumen zwar nicht ganz so mild umschmeicheln, wie ein lieblicher von der Sonne verwöhnter Aranier, doch seine Faszination für ihm weniger bekannte Rebsorten übte eine unwiderstehliche Neugier aus. Wein war seiner Auffassung nach das schönste Geschenk der Götter an die Menschen und am meisten floss er auf familiären Festen aus vollen Krügen.  Solche Familienfeiern beschworen alte Bande, knüpften neue oder begründeten Begehrlichkeiten, die zu späteren Komplotten und Zerwürfnissen führten. Sie waren notwendige Pflichtveranstaltungen des sich selbst feiernden Adels; ein nicht endendes Bühnenstück der Selbstdarstellung und Möglichkeit aufstrebender Kreise ihren Einflussbereich zu erweitern oder Wunden leckend zu zeigen, das eigene Haus sei noch nicht ganz abgeschrieben. Waldemar war nie Freund dieser Spielchen. Er liebte die Freiheit und das Abenteuer. Und auch wenn mit seiner Familie deswegen ein ambivalentes Verhältnis bestand, so gerne hatte er jeden einzelnen trotz ihrer Fehler und Eitelkeiten. Er war das schwarze Schaf der Familie - sicherlich. Weder strebte er nach Ruhm, Ehre noch kam es ihm in den Sinn, sich bestmöglich zu verheiraten, wie dies für einen Binsböckel üblich war. Insbesondere der aufstrebende darpatische Teil der Familie konnte dies nicht nachvollziehen. Aber das war ihm egal. Spätestens in einem halben oder dreiviertel Jahr würde er wieder eine Hochzeit seiner Verwandten uneingeladen mit seiner Anwesenheit beglücken, sich den Bauch auf deren Kosten vollschlagen, den Gerüchten lauschen und dem Brautpaar ein kleines exotisches Geschenk aus fernen Landen hinterlassen. Bei dieser Hochzeit war es eine farbige Kette einer Schamanin aus den Sümpfen im tiefen Süden in der Nähe der Regengebirge und soll angeblich die Fruchtbarkeit anregen und Mehrlingsgeburten fördern. Ein für Binsböckel zumindest nützliches Geschenk. 

 

Traviabundsball

 ​​

Praios hing bereits tief über dem Horizont und der Himmel war in abendliches rot gefärbt. Einige Stunden waren seit den Turniergefechten vergangen, um den Recken die notwendige Zeit zu geben, das Eisengewand gegen festliche Kleidung zu tauschen, sich ausgiebig frisch zu machen und auf das Bankett und das anschließende Tanzfest vorzubereiten. Bänke und Tisch waren bereitet und reichhaltig gedeckt und uförmig vor einer Bühne positioniert.  

Burgherrin Glyrana hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Die Küche von Burg Gernatsborn hatte alle Arbeit geleistet und Speisen bereitet, die auch einem Fest in der Markgräflichen Residenz zu Rommilys zur Ehre gereichen würden. Der logistische Aufwand war immens gewesen. Ein so großes Fest hatte sie noch nie organisiert. Aber es schien, als habe sie die richtige Anzahl Mägde und Knechte eingestellt, die korrekte Menge an Mastschweinen bestellt und auch für ausreichend Fässer Meth, Bier und Wein gesorgt. 

Die Musikanten - die gleichen wie schon auf der Eröffnungsfeier - hatten begonnen, zu spielen. Zuerst eine Polonaise, einen Schreittanz, den wirklich der unbegabteste Tänzer mitmachen konnte, wie üblich, um einen jeden von seinem Platz zu erheben und mittanzen zu lassen. Bei der Polonaise ging es ja weniger um das Tanzen, sondern mehr darum, einen Jeden und eine Jede zu sehen, die auf dem Tanzball waren, ihnen freundlich zuzunicken und von den anderen Gästen gesehen zu werden, das ganze bei Musik, denn mehr als ein Gehen im Takt war die Polonaise ja auch nicht. Zum Schluss waren alle Gäste in einem Kreis versammelt und kamen, nach dem die Musik geendet hatte, zum Stehen. Man wartete gespannt auf das, was kam. 

Aarmarslands leichte Schritte klangen durch die Stille. 

“Willkommen, ihr Gäste, die ihr von nah und fern zur Turnei und zum Fest angereist seid, abermals willkommen!” begrüßte der Herold, dessen helle, klare Stimme, obwohl er nicht schreien musste, von jedem gehört wurde. “Ich danke Euch, im Namen der Baronin und des Barons zu Schlotz und ebenso im Namen der Burgherrin und des Burgherrn zu Gernatsborn, für Eurer kommen, Eure warmen Worte und Geschenke, Euren Einsatz beim Turnei und dafür, dass ihr alle zum Gelingen dieses Festes beitragt. Niemand, das ist dank Euch bewiesen, kann sagen, dass man im Sichelhag schlechter feiern könne als in Rommilys oder Gareth! Vivat Aarmarien!”

Aarmarsland legte eine Pause ein, bis sich der Applaus der Gäste beruhigt hatte. Aarmarsland war ein guter Redner, nicht umsonst war er zum Herold des Sichelbundes bestimmt worden. Mit einer geschickt pointierten Rede zog er die Gäste in seinen Bann, während im Hintergrund auf der Bühne der nächste Programmpunkt vorbereitet wurde. 

“Ehrenreiche Gäste! Dies ist nicht nur der Abschlussball eines Turniers, nein, es ist auch ein Hochzeitsball zu Ehren unserer frisch vermählten Gastgeber, Haldana und Alboran von Binsböckel, denen natürlich der Eröffnungstanz gebührt!” Aarmaarsland wies mit der Hand in Richtung Bühne. 

Haldana und Alboran standen, sich anlächelnd, mittig vor der Bühne, auf der Baronin Serwa von Friedwang, Baroness Tsalinde von Friedwang und Odilon Wildgrimm von Baernfarn sich mit Harfe, Gutbrander Fidel und Viola versammelt hatten. 

Ein kurzer Moment der Stille kehrte ein, und die Augen der Gäste richteten sich mit gespannter Erwartung auf das Hochgeborene Paar. 

Haldana schloss für einen Moment die Augen und wartete auf die einsetzenden Klänge der drei Musiker. Sie würden einen Vinsalter Walzer spielen, einen klassischen Höfischen Paartanz, anders als bei der Hochzeit im kleinen familiären Kreis zuvor, auf Burg Schlotz, als sie den sicheltypischen Bo-Ham-Bo tanzten. Irgendwie war es das gleiche Gefühl wie einige Tage zuvor, und doch anders. 

 

Rückblick auf den Tanz beim Traviabund 

 

Haldana fühlte sich jetzt sicherer, die Anspannung und Nervosität ließen nach, als ihr Blick auf die Musikanten fiel, die gleich zum Tanz aufspielen würden. Tanzen, da fühlte sie sich wohl, das war ebenso wie die Musik ihre Welt. Ein wenig war sie überrascht, als sie erkannte, wer da aufspielte. Nun, dass der Friedwanger Baronin der Ruf voraus eilte, gut auf der Harfe spielen zu können, das hatte sie gewusst. Eine Überraschung, dass die Ehefrau ihres Schwiegervaters, Baronin Serwa, an ihrem und Alborans Ehrentag musizieren würde, war es dennoch. Sie hatte das nicht erwartet. Nicht zuletzt musste es ein sonderbares Gefühl sein für die Friedwangerin, den Sohn aus einer Liebelei ihres Mannes mit einer anderen auf dessen Hochzeit zu begleiten. Dennoch, Haldana bemerkte schon bei den ersten Griffen in die Saiten der Harfe, dass Alriks Gemahlin eine gute Musikerin war, die ihr Instrument wahrlich beherrschte.

Auch Serwas Tochter Tsalinde Dian Artema, so schien es, hatte von ihrer Mutter nicht nur eine Baronie zum Erbe auserkoren bekommen, sondern auch deren musikalisches Talent erhalten. Die braunhaarige, stupsnasige junge Frau hatte eine Gutbrander Fidel zur Hand genommen und strich behende über die vier Klangsaiten, wobei die vier gleich gestimmten, darunter befindlichen, unter den Steg durchgeführten Bordumsaiten, in Schwingung versetzt wurden und ein melancholisch-fröhliches Klangbild entwarfen. Tsalinde, auch das wusste Haldana aus den Erzählungen ihres Schwiegervaters, war von klein auf von der Mutter musikalisch unterrichtet worden. Ebenso wie ihre Mutter war sie in Friedwanger Tracht gekleidet.

Ein wenig hob sich von den beiden der dritte Musikant ab, der in traditioneller Gallyser Tracht gewandet war. Und das war für Haldana zugleich die größte Überraschung. Denn dass der alte Gallyser Waidmann Odilon ebenfalls ein Streichinstrument spielen konnte, hatte sie nicht gewusst. Aber der alte Odilon hatte sich eine Gutbrander Viola zwischen Kinn und Schulter geklemmt und strich den Nachschlag im Rhythmus zur Musik der beiden Friedwangerinnen.

Haldana konnte gut einschätzen, dass der alte Jäger nicht das gleiche musikalische Talent hatte wie Serwa und Tsalinde. Er spielte ja auch nicht die Melodiestimme und musste nicht mit großer Fingerfertigkeit seine Finger über die Saiten springen lassen, um die richtigen Griffe zu finden und die Saiten an den richtigen Stellen auf das Griffbrett zu drücken. Nachschläge… eine gute Methode, einen zwar mit einem musikalischen Gehör, aber nicht dem finalen Talent und der Übung ausgestatteten Musikanten in ein Orchester oder eine Musikgruppe zu integrieren. Als Bardin und Musikantin – sie selbst spielte ja ebenfalls Laute und Viola – wusste Haldana, dass man, um Nachschläge zu spielen, immerhin einiges über Musiktheorie wissen musste. Man musste die Tonart aus der Musik hören (oder auch wissen, in welcher Tonart die anderen Musikanten spielten) und dazu hören, wann die Musik von den auf dem Grundton basierenden Dreiklängen auf die von Quint oder Quart sprang. Und während die Musikanten der Melodiestimme den ersten Schlag im Dreiertakt betonten, pausierte der Nachschlagspielende auf dem ersten Schlag und strich zum zweiten und dritten Schlag Terz und Quint des jeweiligen Akkords mit dem rosshaarbespannten Bogen an.

Noch etwas fiel Haldana auf – Odilon spielte auf Haldanas Gutbrander Viola. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie einem Musikanten Haldanas Viola zur Verfügung stellen würde. Die meisten Musikanten verliehen ihre Instrumente ungern, aber Haldana hatte ihrer Mutter vertraut, dass sie wusste, wem sie das Instrument anvertrauen würde. Aber Haldana sah, dass Odilon ihre geliebte Viola gut in der Hand hielt und sachte spielte. Ebenso wie bei Tsalindes Fidel klangen auch bei der Viola die Bordumsaiten im Klang der angestrichenen Saiten mit. Somit klang es, obwohl nur drei Musikanten zum Tanz aufspielten, als würde ein kleines Orchester ein Konzert geben. Ein Klangbild, das typisch war für die ländliche Instrumentalmusik des Sichelhag.

Bereits nach den ersten Takten des Vorspiels hörte Haldana, dass die drei Musiker zum Bo-ham-Bo aufspielten, einem traditionellen Sichelhager Tanz.

„Auf der Knappenschule haben wir aber nur höfische Tänze gelehrt bekommen, wie man sie auf den Schhlössern von Rommilys über Gareth bis nach Vinsalt tanzt… Alboran, mit Dir habe ich den Bo-ham-Bo noch nie getanzt, kannst du denn überhaupt die Schritte?“ hatte Haldana ihren Bräutigam überrascht gefragt.

„Natürlich, Liebes. Der Tanz ist auch im Friedwangschen bekannt. Außerdem ist Odilon mit mir die Schritte extra noch einmal durchgegangen.“ Mit einem liebevollen Lächeln hielt er ihr seine rechte Hand hin, auf die Haldana ihre Linke legte. Es war eine Ewigkeit her, als sie zuletzt einen Bo-ham-Bo getanzt hatte. In Rommilys, da hielt man nicht viel von solchen ländlichen Tänzen, soweit man sie überhaupt kannte. Hier aber, in der Sichel und im Sichelhag, waren sie Teil der Landeskultur, und es stand der Herrschaft gut zu Gesicht, sich auch daran und nicht nur am höfischen Leben im fernen Rommilys zu orientieren.

Das Vorspiel ging zu Ende. Mit der ersten Note des ersten Taktes schwangen beide ihre Innenfüße mit einem leichten elegant federnden Schwung nach außen und grüßten mit einem Nicken die umstehende Festgemeinschaft. Mit dem zweiten Takt schwangen sie ihre Außenfüße nach innen, zueinander, und nickten sich gegenseitig liebevoll zu.

Im dritten Takt liefen beide, mit den Außenfüßen beginnend, drei Schritte nach vorne, immer noch ihre linke Hand auf seiner Rechten aufliegend, ehe dann der Teil des Rundtanzes begann. Ein Rundtanz, der vielleicht ein wenig mit dem Vinsalter Walzer gemein hatte, zumindest was den ungeraden Takt betraf, der aber dann doch irgendwie anders aussah.

Alboran drehte sich, während er seinen rechten Fuß, leicht ins Knie gebeugt, vor Haldana setzte, vor seine Braut hin und fasste sie mit seiner Rechten an der Hüfte, während er seine Linke Haldana hin hielt, in die sie ihre Rechte legte, zur geschlossenen Tanzhaltung, wie es der Tanzlehrer an der Knappenschule formuliert hätte. Zeitgleich setzte Haldana ihren rechten Fuß hinter den Linken, ebenfalls leicht das vordere Knie gebeugt, fast so, als würden beide voreinander in die Knie gehen und sich damit Ehre und Respekt bezeugen.

Mit dem zweiten Schlag des ungeraden Taktes drehte Alboran weiter gegensonnen um Haldana und setzte seinen Linken weiter in Drehrichtung vor Haldana, während Haldana, ihr Gewicht weiter auf dem Linken ruhen lassend, abermals den rechten Fuß gegensonnen weiter drehte, beide wieder aus der leichten Kniebeuge nach oben kommend.

Auf den dritten Schlag des ungeraden Taktes setzte Alboran seinen rechten neben den linken Fuß und drehte sich dabei im Stand gegensonnen auf den Ballen weiter, während Haldana ihren linken Fuß in Drehrichtung weiter setzte, und so setzten sich die Bewegungen in den weiteren Takten fort. Für Zusehende wirkte es dabei, als würden Tänzer und Tänzerin einander umkreisen und abwechselnd laufen, während der andere kurz stand. Verwirrend, wenn man den Tanz nicht selbst beherrschte, war auch, dass beide im Takt zweimal hintereinander den rechten Fuß bewegten - nur nicht gleichzeitig, sondern nacheinander - und dann einmal den linken und die Füße nicht durchgehend abwechselnd setzten, was die Eigenheit des außerhalb des Sichelhags wenig bekannten Tanzes ausmachte. Zugleich waren Tänzer und Tänzerin so sehr aufeinander eingestimmt – auch wenn sie den Bo-ham-Bo noch nie zuvor zusammen, sondern nur mit jeweils anderen Tanzpartnern geübt hatten – dass man ein Tablett mit einem Krug Meth auf beider Köpfe abstellen und balancieren hätte können, ohne dass es herunter gefallen wäre.

Haldana war glücklich. Den Bo-Ham-Bo hatte sie als Kind gelernt, später noch auf der Galbenburg hin und wieder getanzt, aber seit ihrem Fortgang aus dem Sichelhag an die Knappenschule nach Rommilys nicht mehr. Dabei war dieser Tanz, gerade in Verbindung mit der gefühlvollen Musik, die traurige und fröhliche Elemente so herrlich verband, solchermaßen Ausdrucksstark und gefühlsbetont, dass es ihr immer eine Freude gewesen war, ihn zu tanzen. Jetzt diesen Tanz zu ihrem Hochzeitstanz zu wählen, das hatte, wer immer sich daran erinnerte, wirklich gut geplant und nicht zuletzt dafür gesorgt, dass Alboran heimlich Gelegenheit bekommen hatte, die Schritte zu üben. Die Überraschung war wirklich gut gelungen.

Mehrere Abfolgen der Figuren des Bo-ham-Bo gebührten allein dem Brautpaar. Dann, auf ein Wink Odilons, wurde das Parkett im Thronsaal von Burg Schlotz freigegeben auch für die anderen Gäste. So tanzte ihr Schwiegervater mit Ismena – man merkte Alrik an, dass er sich ein wenig der Führung der Edlen anvertraute, die im Tanzen sicherlich geübter war als er. Tante Valyria von Binsböckel tanzte mit ihrem Ehemann, Gerbold von Zwölfengrund. Der alte Rondrianer Deggen von Baernfarn hingegen führte ihre Mutter zum Tanz. Deggens Bruder, Magister Veneficus von Baernfarn, schwang das Tanzbein mit einer der Artemareiterinnen, die in seinem Gefolge aus Gallys gekommen war.

Der Musik folgend bewegten sich die Tanzpaare durch den Thronsaal, lange, minutenlang, bis die Musiker in ihrem Spiel verstummten und nur noch der Klang der ausklingenden Bordumsaiten zu hören war, der nach und nach schwächer wurde und schließlich ganz verhallte.

 

In ihren Gedanken verklangen die Töne des Bo-Ham-Bo, als Serwa mit einem grazilen Fingerstreichen die Einleitungsakkorde des Vinsalter Walzers schlug, Odilon mit dem Nachschlag auf der Viola begleitete und Tsalinde zwei Takte später mit der Melodiestimme einsetzte. 

Haldana und Alboran hatten das “Sicheltrio”, wie sie die drei adeligen Musikanten neulich im Scherz getauft hatten, ja schon erlebt. Für die Gäste war es hingegen etwas Neues… und auch durchaus überraschend. Dass die Friedwanger Baronin und ihre Tochter sehr musikalisch waren, hatte sich zwar schon herumgesprochen. Der alte Gallyser war indes den meisten als Jäger und Bogenschütze bekannt, nicht jedoch als Musiker. 

Nun, sicherlich war er kein Musiker im eigentlichen Sinne. Aber die jahrelange Ehe, die der Gallyser mit einer Waldelfe pflegte, hatte sicherlich dazu beigetragen, dass der alte Jäger nicht nur die Bogensehne streichen konnte. 

Allboran lächelte seine Gemahlin an, zog kurz an der Führungshand und nickte der Gemahlin zu. Mit eleganter und schwungvoller Drehung unter dem Arm des Tänzers hindurch glitt Haldana vor den Tänzer und legte ihre rechte Hand zur geschlossenen Tanzfassung auf seine Schulter. Taktsicher zog sie Alboran in Bewegung - oftmals hatte sie bereits während der Tanzstunden in der Rommilyser Knappenschule Alboran den Einsatz gegeben, damit dieser nicht zu früh mit dem Schritt begann. Und das Tanzpaar drehte sich im Takt des Vinsalter Walzers - sie tanzten, ungewohnterweise für die Gäste - entgegen der Tanzrichtung links herum. Die Brautleute hatten es vereinbart, entgegen der Tanzrichtung den Eröffnungswalzer zu beginnen. 

Die zupfenden Harfenseiten, die glockenhellen Saiten von Tsalindes Fidel und die etwas tieferen Saiten der Viola durchdringen den Tanzboden. Bordumklänge schwangen in der Musik mit, die der klassischen horasichen Komposition eine aarmarische Klangfarbe verliehen. Ungewohnt mindestens für nicht aus der Region kommende Gäste, aber auf alle Fälle melodisch und eine harmonische Verbindung der fröhlichen horasischen Musik mit einer kleinen schwermütigen Note, die die Musik der Schwarzen Sichel sonst oft prägte. 

Tiefere Saitenklänge ergänzten die Klänge des Sicheltrios. Saitenklänge, die von der anderen Saite des Tanzbodens erklangen und sich mit den Bordumklängen von Viola und Fidel vermischten. Unbemerkt von den Gästen, die gebannt auf das Tanzpaar und die drei Musiker auf der Bühne sahen, hatte sich eine weitere Musikantin angeschlossen. Aus dem Sicheltrio war ein Sichelquartett geworden. 

Eine Cellistin strich mit dem rosshaarbespannten Bogen die Saiten eines Cellos… eines Gutbrander Cellos, konnte man wohl sagen, hätte es ein solches Instrument bereits gegeben. Und doch war das die einzige Bezeichnung, die man diesem Instrument zukommen lassen konnte. Vom Korpus her ein Cello, wie man es von einem klassischen Streichquartett kannte. Jedoch ein Cello, das, ebenso wie die Fidel Tsalindes und die Viola Odilons mit acht Saiten statt derer vier bespannt war. Vier frei schwingende Bordumsaiten, unter Steg und Griffbrett angebracht, schwangen mit den vier Spielsaiten mit und erfüllten den Raum mit einer doppelt klangvollen, tiefen Begleitstimme zur Vinsalter Musik. 

Auffällig an Gutbrander Cello war die Schnecke, das hölzerne Gehäuse, in dem die Saiten mit Wirbeln aufgedreht und in der richtigen Spannung gehalten waren. Die gewundenen Hörner eines Steinbocks waren in der Form unschwer zu erkennen. Ganz unverkennbar die Hörner des Steinbocks des Familienwappens des Hauses Friedwang. 

Ebenso auffallend war der Stachel des Violoncellos, mit dem das Instrument auf dem Boden aufgestützt statt nur zwischen den Knien der Musikantin eingeklemmt war. Statt - wie sonst allgemein üblich - einen metallenen Stab als Stachel zu verwenden, war hier ein längliches, gerades Horn wie das eines Einhorns eingebaut. 

Ganz zweifelsfrei war dieses Gutbrander Cello explizit für diese Vermählung zwischen den Häusern Friedwang und Binsböckel gefertigt worden. 

Mit Intarsienarbeiten auf dem Griffbrett waren die Wappen der Baronien Friedwang und Schlotz eingearbeitet. Helle und dunkle Holzplättchen waren kunstvoll in das schwarze Holz des Griffbretts eingelassen. Ein Kunsthandwerker hatte sicher länger daran gearbeitet. 

Die Musikantin, die das Gutbrander Cello spielte, strich gefühlvoll und harmonisch zu den drei Musikanten auf der Bühne ergänzend, über die Saiten. Eine junge Frau mit langem, hellblonden, fast weißen Haar - zu einem mit mehreren eingeflochtenen Bändern gebundenem Pferdeschwanz, der über die linke Schulter hin und bis über die Hüfte hinab reichte - saß auf dem Schemel. Mit geschlossenen Augen und ganz in der Musik aufgehend, spielte sie. Eine junge Frau… so schien es. Aber ein Blick auf die von den langen Haaren umspielten Ohren offenbarte, dass die junge Frau eine Elfe war, deren Alter für die Augen von Menschen ja nur sehr schwer einzuschätzen war. 

Die Elfe trug ein Gewand, das aus Leder und Bausch geschneidert war. Als Schmuck trug sie lediglich eine aus eisernen Kugeln bestehende Halskette sowie ein Dutzend eiserner Armreife um das rechte Handgelenk, die im Rhythmus des sich bewegenden Bogens klangen. 

Alboran und Haldana wiegten sich weiter im Tanz, genossen ihre Ehrenrunde, während der ganze Tanzboden ihnen beiden allein gehörte. Erst nach der ersten Tanzrunde, und auf einen Wink Odilons, war der Tanzboden frei gegeben für die Gäste, die sich nach und nach zum Tanz fassten und in den Vinsalter Walzer einstiegen. 

“Ehrenreiche Gäste, liebes Brautpaar!” erklang die ruhige, dunkle Stimme Odilons, als der Tanz beendet und die Musik verklungen war. “Eine Hochzeit, so wie sie Haldana und Alboran eingegangen sind, ist etwas besonderes und einmaliges. Etwas, zu dem wir alle Euch, lieber Alboran, liebe Haldana, alles Gute wünschen. Denn Liebe ist die Musik des Lebens, und wir wünschen Euch, dass diese Musik, anders als die Tanzweise gerade eben, nie verklingen wird. Daher möchten wir Euch, Haldana und Alboran, etwas schenken. Meine liebe Jirka…” Der vollbärtige Hüne legte eine Kunstpause ein. Mit der Hand wies er auf die Elfe mit dem Gutbrander Cello, die sich ebenfalls erhoben hatte, die, da der Vorname der Elfe ausgesprochen war, von den Gästen als Jirka Athrawaneja, die Gemahlin Odilons, erkannt wurde. Die Elfe, die so viel jünger aussage wie der alte Gallyser auf der Bühne, die aber vermutlich um mindestens so viel älter als er war, wie sie jünger aussah. 

Das Gutbrander Cello wie einen übergrößen Säugling vor sich her tragend, schritt Jirka zur Bühne. Die Gäste machten in der Mitte eine Gasse frei für die Elfe. 

“Wir möchten Euch zu Eurer Hochzeit dieses eigens für dieses Fest gefertigte Cello schenken, damit die Musik Eurer Liebe immer wieder von neuem zum Klingen gebracht werden kann", sagte die Waldelfe mit ihrer glockenhellen Stimme. “Eigens für das Fest gewachsen, sollte ich vielleicht besser sagen. Bei uns Elfen wird das Holz für Instrumente ja nicht nur geschlagen, nein, es wächst so, wie es wachsen soll, um in einem Instrument seinen Klang vollends zu entfalten.”

Haldana stand überrascht und mit geöffneten Mund da. Sie war mehrfach überrascht. Zuerst von der Anwesenheit von Odilons Gemahlin - dass diese unter den Gästen war, hatte sie noch gar nicht bemerkt, sie musste wohl erst zum Abschlussball angekommen sein - und dann über das Geschenk, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Ein elfisches Instrument, das anders als die Musikinstrumente menschlicher Geigenbauer wirklich über eine Seele zu verfügen schien, war etwas ganz besonderes. Und ein Cello nach der Gutbrander Bauweise zu bauen war ohnehin etwas neues, originelles, das sie so noch nie zuvor gesehen hatte. Die Musikanten der Sichel, die ja oftmals von Ort zu Ort zogen, bevorzugten tragbare Instrumente, ein Cello war einfach zu groß für einen fahrenden Musiker. Und in die höfische Musik hatte die Gutbrander Bauweise bislang nicht wirklich Einzug gehalten. Nun, das konnte sich ja ändern. Haldana war in der Laute erfahrener, auf der Fidel oder auch dem Cello hatte sie nicht viel Übung. Aber das ließ sich ja ändern. 

Sie sah der Gemahlin Odilons in die Augen. Es war das erste Mal, dass sie der Elfe begegnete. Und doch wirkte sie sehr vertraut, als blicke sie in die Augen einer alten Freundin. Ein seltsames Gefühl durchfuhr sie. Oder war es nur die Freude über das kostbare Geschenk? 

Jirka lächelte. 

“Die Legende berichtet, dass vor Jahrhunderten die Heilige Artema und der Heilige Alboran die Menschen vor dem Schwarzpelz retteten und gemeinsam mit ihnen eine neue Heimat, hier an den Hängen und im Vorland der Sichel aufbauten. Und dass Alboran und Artema, obwohl einander so ähnlich und so vertraut, doch nie zusammenfinden konnten. Nun, bei Euch, so scheint es mir, gibt das Schicksal der Liebe eine neue Chance. Vielleicht seid ihr Alboran und Artema der Gegenwart, vielleicht könnt ihr die Liebe erleben, die die Ahnherrin und der Ahnherr des Landes selbst nicht finden konnten. Ich wünsche es Euch!”

 

Kupfer bringt Glück

 

Auch der Burgherr wollte dem Brautpaar und damit Baronin und Baron zu Schlotz ein Geschenk machen - wenn auch eher ein symbolisches. Jedenfalls war es ein Gernatsborner Geschenk. 

„Eure Hochgeboren!“ begann Storko von Gernatsborn-Mersingen mit lauter Stimme und trat dabei in die Mitte vor die Tafel, an der die Ehrengäste saßen. „Auch wir - unsere Mersinger Familie - wollen Euch ein bescheidenes Geschenk reichen, das euch immer an diese schönen Tage auf unserer Burg erinnern wird.“ 

Mit etwas hektischen Gesten deutete er seinem Neffen und Pagen Ravenhart von Mersingen nach vorne zu treten. Der zarte Junge trug ein blaues Samtkissen vor sich her, als würde die Kaiserkrone selbst darauf ruhen. Jedoch war kein Schmuck oder Diademe, kein verzierter Dolch oder Ähnliches zu erkennen. Vielmehr sah man eine schlichte Kupferplatte darauf liegen, die poliert im Schein der Kerzen glänzte. Ein Raunen ging zunächst durch die Gäste, aufgrund dieses profanen Geschenkes. 

„Diese Kupferplatte ist die allerletzte kupferne Dachschindel, die aus dem gewonnen Kupfererz unserer Grube gegossen wurde, bevor der Gernat sie heuer überflutete. Ein kupfernes Dach bewahrt eine Burg vor Blitz und Feuer, sie hält eine Belagerung stand.“ begann der Märkische Wehrvogt zu erläutern und legte eine kurze rhetorische Pause ein. „So soll sie auch ein Symbol für die Stärke und den Bestand Eures Traviabundes sein. Und denkt immer daran, auch selbst wenn ein Kupferdach mit der Zeit von Grünspan übersät sein wird und auch die Ehe sich nach junger Liebe wandelt, so ist das Kupfer darunter stark und widerstandsfähig wie eh und geh.“ Storko lächelte ein wenig verschmitzt, während sein Page sich fast übertrieben niederkniete und die kupferne Gabe in Richtung Haldana streckte. 



Bräutigamentführung

 

Vier Cousinen auf Vormarsch

 

Die Mutter des Bräutigams, Ismena von Oppstein, stand mit einem Trinkhorn auf der Terrasse von Burg Gernatsborn und blickte hinaus auf den abendlichen Gernat. Sie wollte einen Moment frische Luft schnappen. Es ging hoch her, im Festsaal: Haldana und Tsalinde sangen eine schwarzsichler Weise, in Mundart, Serwa zupfte Harfe, Odilon der Bär machte seinem Namen keine Ehre. Der alte Gallyser Haudegen strich durchaus elegant über die Saiten einer Gutbrander Fidel.

Es ging mehr als ausgelassen zu, beim Traviabundsball. Nach einer etwas steifen Kuslikana, mit storchenhaften Schreitbewegungen und hochgehaltenen Tüchlein, war gerade wieder uriges Sichelhager Brauchtum angesagt. Dazu zählten auch die Trinkhörner mit Gernatsqueller Met. "Tanz der Riesen" nannte sich das schwerfällige Stampfen, Klatschen und Drehen, das jedem Liebfelder die Tränen in die Augen getrieben hätte. Beinahe hätte man sich auf einer Bauernhochzeit wähnen können. Oder waren sie schon beim Steinböckler, bei dem die Tanzpaare ein Aufeinanderprallen mit den Köpfen andeuteten, die Hände auf dem Rücken.  

 

Die Oppsteinerin dachte wehmütig an ihre Zeit in Belhanka zurück. Nun, mit dem Horasreich durften sich Lustbarkeiten in der Mark sicherlich nicht vergleichen. Aber immerhin, es wurde überhauot mal wieder gefeiert, getanzt und gelacht, nach all den Entbehrungen der Vergangenheit. 

Während nun die letzten Strahlen des Praiosmals mit rotem Leuchten hinter dem Wehrheimer Forst unterging, wallten bereits die ersten Abendnebel über dem Fluss, die Hügel und die Wälder. Eigentlich musste sie zufrieden sein. Abgesehen vom Schreck heute auf dem Turnierplatz war das Fest reibungslos verlaufen. Ihr Blick ging über das Zeltlager, die Wägen, die großen Lagerfeuer und die Pferdekoppeln - ein Bild, das den Eindruck einer friedlichen Belagerung erweckte. Nur die Turnierbahn war bereits leer. In Gernatsborn herrschte ebenfalls buntes Festtreiben zwischen den Hausdächern. Vor allem rund um die Herberge schien einiges los zu sein. 

Alborans vertraute Stimme lenkte sie ab. Das kam vom Burghof her. Sollte Ihr Sohn nicht oben im Tanzsaal weilen, bei Haldana?  Tatsächlich, dort unten stand der Baron von Schlotz, umringt von einigen vornehm gekleideten Gestalten. Hätte er nicht seinen Kopfverband getragen, sie hätte ihn auf Anhieb gar nicht erkannt. Das Grüppchen steuerte zielstrebig das Haupttor an. Zu dieser späten Stunde wollte Albo noch einmal ins Zeltlager? Ismena verstand - eine Bräutigamentführung. Die Schwester des einstigen Stadtvogt von Rommilys verzog den Mund, was nicht nur am herben Nachgeschmack des Honigweins lag.

Mit einer Brautentführung, so hatte auch ihre unglückselige Ehe mit Golo angefangen. Dahinter hatte Gernot gesteckt, ihr schwarzroter Schwiegervater. Allerdings war das mit der Verschleppung todernst gemeint gewesen. Irgendwelche finsteren Schergen unter schwarzen Kapuzen hatten sie hernach in einer einsamen Berghütte bewacht. Als wäre sie das Opfer einer Diebesgilde geworden. Der Friedwanger hatte damit ihren Bruder erpresst. Er sollte Friedwanger Haustruppen in seine Baronie einladen, vorgeblich im Kampf gegen räuberische Goblins, insgeheim, um sich dem Handlanger des Dämonenmeisters zu unterwerfen.

Das hatte sie allerdings erst später erfahren, oder besser gesagt, sie hatte es sich mühsam zusammenreimen müssen. Redenhardt war schlau genug gewesen, sich gleich auch noch die Waffenknechte anderer Nachbarn ins Haus zu holen. Aber ein schrecklicher Verdacht hatte sich damals bei Ismena eingeschlichen, der nicht mehr gewichen war: Dass ihr geliebter Bruder schon vor der Blutnacht auf dem Friedstein von den borbaradianischen Umtrieben des Gastgebers gewusst hatte. Die Friedwanger Bluthochzeit war gewissermaßen das Vorspiel zu den Gräueln in Rommilys gewesen, als 1022 Rabenmunds und Bregelsaums aufeinander los gegangen waren. Damals hatte Gernot Serwa von Baernfarn geehelicht, die drinnen gerade die Saiten zupfte, mit durchaus schöner Gesangsstimme. Seinerzeit wäre die Baernfarn um ein Haar als Menschenopfer geendet, für ein sinisteres Zauberritual.  

Wie auch immer.  Ismena hatte ein überaus zwiespältiges Verhältnis zu Hochzeitsfeiern im Allgemeinen und eine tiefe Abneigung gegen Brautentführungen im Besonderen. Nun wurde Alboran entführt. Die Rahjajungfer spürte, wie Angst in ihr hochkroch, um ihren einzigen Sohn. Aber auch Wut. Erst vor ein paar Monden hatten echte Räuber den armen Jungen in die Trollzacken verschleppt. Der "Hochzeitsspaß", den sich die Unbekannten da gerade erlaubten, war da irgendwie unpassend. So es denn nur ein harmloser Scherz sein sollte... 

Kurz entschlossen übergab sie ihr Trinkhorn einem der Diener, und eilte mit gelüpftem Gewand die Freitreppe nach unten. Raschen Schrittes durchmaß sie den Hof, stieg mit knappem Nicken zu den Wachen über die hohe Schwelle der Mannpforte nach außen und wich erst einmal einer schlammigen Pfütze aus.

Sie hätte eine Laterne mitnehmen sollen. Draußen war es schon ziemlich dunkel, nass und kalt. Die Oppsteinerin rief sich in Erinnerung, was sie über Braut- und Bräutigamsentführungen wusste. Sofern sie nicht in den Klauen von Dämonenbündlern endeten. Es ging wohl darum, irgendeine Zeche bezahlt zu bekommen. Nach Lage der Dinge würden sie Albo also ins Gasthaus Gerbaldsrast schleppen, und sich alle ordentlich volllaufen lassen. Einen Moment lang plagte Ismena die Schreckensvision, wie sie den Jungbaron sternhagelvoll auf die Burg zurückschleppen würden, zur Blamage seiner Gemahlin und sonstigen Familie.

Wenig später stieß sie bereits die Tür zum Gasthaus auf. Der Schankraum war immer noch bis zum Bersten gefüllt, die Luft zum Schneiden dick, das Gedränge und Lärmen fast schon mit den Händen greifbar. Becher und Humpen klirrten, Tabakrauch, Bier- und Weindunste hüllte alles ein. Nein, ausgeschlossen, dass hier gerade eben noch ein Tisch frei gewesen war, Adelige hin oder her.  Schon bis zum Tresen war kaum noch ein Durchkommen.

Ismena eilte weiter. Ihr Blick wurde hektischer. Sie wusste, dass ihre Furcht unbegründet war, zumindest hoffte sie das. So viele Möglichkeiten, ein "Entführungsopfer" zu verstecken, gab es rund um die Burg auch nicht. Dort drüben in der Scheune vielleicht? Naja, ein ziemlich unstandesgemäßer Ort, um länger zu verweilen. Das große Lagerfeuer auf dem Festplatz sah da schon einladender aus, wo sich das Waffengesinde und das gemeine Volk vergnügte.

Ismena lief einige Schritte hin und her. Im nächsten Moment hatte sie ihren Liebling entdeckt, dank seines markanten, hell leuchtenden Stirnbands. Er stand vor einem Block, in dem irgendein halbstarker Vagabund geschlossen worden war, neben seinen neuen Freunden. Auf Anhieb erkannte Ismena nur Lares von Hochfels, den Bediensteten ihres Neffen Adran, der irgendwoher einen Napf und einen Becher aufgetrieben hatte. Mit übertriebener Verbeugung stellte der junge Adelige Essen und Trinken vor dem Gefangenen ab.

"Er soll nicht leben wie ein Hund, während wir feiern!" verkündete Lares vergnügt. Der Oppsteiner Adelige schwankte.  "He du, welchen Vergehens hast du dich schuldig gemacht?"

Der Halbwüchsige schwieg verstockt. "Gebettelt hat er", antwortete es aus der Runde, die im Halbdunkel am Lagerfeuer stand. "Gestohlen wohl auch. Aber er wills nicht gestehen. Also haben ihn die Pfaffen die Holzkrause umgelegt." Der Mann, der gesprochen hatte, wies mit dem Kopf auf das benachbarte Tempelzelt. 

"Gebettelt und gestohlen hat er also" Lares grinste breit, drückte dem Jungen einen Kuss auf die Wange, riss sich einen silbrig glänzenden Knopf vom Wams und steckte ihm dem Häftling in die Hosentasche, nicht ohne ihm kräftig aufs Gesäß zu patschen.

"Hier, damit du nicht völlig leer ausgehst." 

"Lares, du kannst diesen Herumtreiber doch nicht auch noch belohnen", lallte eine junge Frau. 

"Stimmt...dann...dann...schenks deinen Freunden von der Praioskirche, beim Herren des Waldes. Stehst ja schon rum wie ein Opferstock,  hahaha."

 

Die Umstehenden lachten. Vermutlich waren es junge Oppsteiner Adelige, Kinder der Ritter vom Steine, wie die treuesten Diener der Baronsfamilie genannt wurden. Ismena stellte mit Erschrecken fest, dass sie kaum noch einen von ihnen kannte, zumindest dem Gesicht nach. Viel zu lange war sie aus ihrer Heimat fort gewesen. 

Alborans Mutter runzelte die Stirn. Lares tätschelte nun auch noch ihrem Sohn die Schulter und prostete ihm kumpelhaft zu .

Die Rahjajungfer hatte nichts gegen die amazonische oder elfische Spielart der Liebe. Auch wenn ihr eigener Gemahl sich als "Dunkelelf" herausgestellt hatte. Unter den Kavalieren und Säbeltänzern in Gießenborn war es völlig egal gewesen, wer gerade wen geküsst hatte. Was zählte, war allein Rahjas Geschenk, und natürlich der Anblick zweier schöner Körper. Alrik war da schon ein bisschen spießiger gewesen, damals, als seine Kousine Daride ihre Framka geheiratet hatte. 

Ismena beunruhigte etwas Anderes. Lares war ein treuer Gefolgsmann Adrans, sein Günstling und vermutlich weit mehr als das. Womöglich warf er sich nur deswegen an Alboran heran, um ihn auszuhorchen. Das Verhältnis des regierenden Barons von Oppstein zu seinen Nachbarn stand schon seit längerem nicht mehr zum Besten. Mit dem Turnier hatten sich die Dinge gewiss nicht verbessert.

Außerdem mussten der Herr von Oppstein und seine Gefolge aufpassen, die Praiosgeweihten nicht zu sehr zu provozieren. Jeder wusste, dass sich Adran gelegentlich sokramurischen Riten hingab. 

"Ah, sieh an, unsere schlauer Plan ist schon gescheitert" Lares strahlte Ismena an. Alboran sah ein wenig erschrocken drein.

"Tadel deinen Sohn nicht, Ismena. Meine liebe Ismena. Wir haben ihn zu allem gezwungen..."

Die Gießenbornerin lächelte, etwas bemüht, "Eine Bräutigamsentführung?! Muss das denn unbedingt sein, Lares, nach allem was meine Junge in den Trollzacken mitgemacht hat?"

"Der arme Albo hatte ja noch nicht einmal einen ordentlichen Junggesellenabschied. Aber gut, dass du uns gefunden hast, Ismena. Jetzt haben wir wenigstens eine Unterhändlerin… irgendwo hier auf dem Platz" Lares wies unbestimmt um sich, "haben wir ein Zelt aufgebaut, wo wir mit Alboran weiterfeiern werden. Wenn Haldana ihn wiederhaben will, muss sie ihn schon auslösen. Ein Fässchen Bier oder Wein wäre Recht, zur Feier des Tages."

 

Haldana blickte unwillig um sich. Wo war Alboran? Gerade jetzt, da die Musikanten sich anschickten, die Allgemeine Garether Horaise zu spielen. Einen Tanz, der sicher zu Haldanas Lieblingstänzen zählte. Und da war ihr Gemahl und Tanzpartner nicht da? Die Baronin blickte sich um? Hing Albo irgendwo bei einem Krug Meth an der Bar? Nein, sie erblickte ihn nicht.

„Eure Erscheinung überstrahlt das ganze Fest“ ein wenig affektiert verbeugte sich Adran, als er Haldana mit diesem Kompliment bedachte. Haldana drehte sich zum Oppsteiner. Sie lächelte, auch wenn sie mit dieser Art übertriebener Schmeichelei nicht viel anfangen konnte. „Eine wunderbare Musik. Ich wusste noch gar nicht, dass nicht nur Ihr, sondern auch Baroness Tsalinde eine so schöne Stimme habt. Nun… ihr blicktet Euch um? Ihr sucht Euren Gemahl, nehme ich an.“

Haldana nickte. „Gerade jetzt, da die Horaise gespielt wird. Alboran hat mir versprochen, sie mit mir zu tanzen. Das ist doch eigentlich nicht seine Art, jetzt einfach zu verschwinden.“

„Ich bin sicher, es gibt einen guten Grund, der seine Abwesenheit erklärt. Im Oppsteinschein, aber nicht nur bei uns, gibt es ja den Brauch des Brautentführens. Nun, angesichts dessen, dass in Eurer Ehe ja zweifellos Ihr die Hosen anhabt, musste man wohl eher den Bräutigam entführen.“

Hinter ihrem gleichbleibenden Lächeln verbarg Haldana, dass sie einem solchen Brauch nicht viel abgewinnen konnte. Jedenfalls nicht, wenn gleichzeitig getanzt wurde, was ja neben der Musik ihre liebste Beschäftigung war.

„Soso, eine Bräutigamentführung.“ Haldana dachte kurz nach. Steckte der Oppsteiner dahinter? War er gekommen, um über eine Auslöse zu verhandeln oder sonst eine Forderung zu stellen? Haldana konnte das nicht einschätzen. Plötzlich durchfuhr ein Gedanke die junge Baronin, und sie musste grinsen. „Na dann ist es ja gut, dass ihr jetzt da seid, Adran. Wenn schon mein Tanzpartner mich versetzt, da würde ein galanter Herr wie Ihr sich doch sicher dazu bereit erklären, einzuspringen, nicht wahr?“ Ohne eine Antwort abzuwarten griff sie den Oppsteiner am Arm und zerrte den überraschten Edelmann aufs Tanzparkett. Haldana hatte jetzt keine Lust, sich in ein Gefeilsche über eine Auslöse zu verstricken. Und ob Adran höfische Tänze beherrschte… nun, da Haldana annahm, dass er in die Entführung involviert war, konnte sie ihm ruhig zeigen, dass sie das Tempo der Verhandlungen vorgab und nicht er.

„Verzeiht, Haldana, ich bin mit den Figuren der Horaise nicht so vertraut…“ begann Adran überrascht. „Ach, das macht nichts. Es gibt ja einen Vortänzer.“ Haldana ließ den Einwand nicht gelten und schob Adran auf seine Ausgangsposition. Mit einem Lächeln bedachte sie den Oppsteiner, der, wollte er nicht unhöflich sein, nicht ablehnen konnte. Adran fühlte sich dabei unwohl. Sicherlich war auch er nicht unerfahren im Tanz, aber die Horaise war nicht sein Metier, zu höfisch und zu streng in seinen Bewegungen. Die Begrüßungen zum Tanzpartner und zu anderen Tänzern erfolgten in einer festgelegten Reihenfolge, bei der man, tanzte man zum ersten mal die Horaise, trotz Vortänzer leicht durcheinander kommen konnte. Mehr als einmal verbeugte Adran sich in die falsche Richtung oder setzte zu früh mit dem Tanzschritt ein. Der schrittsicheren Baronin schien das nichts auszumachen, sie lächelte weiterhin mit ihrem zauberhaft unschuldigem Blick den Tanzpartner an.

Der Tanz schien Adran endlos zu dauern, bis alle fünf Teile – die da Été oder Pantalon hießen, getanzt waren. Und daran, über die Bräutigamentführung zu reden, war nicht zu denken. Fast ein Fünftel eines Wassermaßes zog der Schreittanz sich hin.

„Seid bedankt, dass ihr meinen Tanzpartner so vortrefflich vertreten habt.“ sagte Haldana artig. Dass er zahlreiche Schrittfehler gemacht hatte und des Öfteren zu spät oder zu früh mit seinen Bewegungen eingesetzt hatte, wusste Adran selbst. Doch er hatte sich im Griff, ließ sich seine leichte Verärgerung nicht anmerken. „Nun, es war mir eine Ehre… Doch kommen wir zurück auf Euren Gatten. Ich sah ihn im Gasthaus unten im Dorf.“ Der Oppsteiner wusste im gleichen Moment, als er das gesagt hatte, dass das ein schlechter Anfang war. Wie hätte er jemanden im Dorf sehen können, wenn er hier auf der Burg war. Haldana musste jetzt wissen, dass er etwas von der Bräutigamentführung wusste, dass er involviert war. Es schien ihm jetzt, als wäre das keine gute Idee von Lares gewesen. So sehr Brauchtum in Schlotz gepflegt wurde, so wenig schien Haldana darüber begeistert zu sein. Nun, vielleicht würde wenigstens Lares im Gespräch mit dem unbedarften Alboran einiges über die Pläne und Zukunftsvorstellungen von Schlotz heraushören können.

Tsalinde trat hinzu. Die gekürte Erbin den Steinbockthrons hatte sich in den Tagen während der Feier und auch davor während der Vorbereitung – sie war ja schon zuvor mit ihrem Vater angereist – gut unterhalten. Mit ihrer gemeinsamen Liebe zur Musik hatten die beiden Mädchen immer ein Gesprächsthema gehabt. Und sie hatten sich entschlossen, einige Stücke zusammen auf der Feier darzubieten. Bislang war das ja auch ganz gut gelungen. „Dann werden wir wohl in der Gerbaldsrast nachsehen müssen, Dana.“ Tsalinde hatte der Freundin einfach den Spitznamen Dana verpasst, und Haldana hatte nichts dagegen einzuwenden. „Ich schätze mal, wir werden dort schon fündig werden. Hier spielen jetzt ohnehin erst einmal die Musiker aus Rommilys. Die brauchen uns im Augenblick nicht. Tsalinde nahm die Freundin bei der Hand und zog sie mit. Haldana ließ sich gerne mitziehen.

„Sollen wir uns noch Unterstützung mitnehmen?“ sinnierte Haldana? „Vermutlich sind dort mehrere, die Albo festhalten.“

Tsalinde nickte. „Aber das sollten wir Mädels unter uns ausmachen. Das ist jetzt unsere Angelegenheit. Dort drüben unterhalten sich Alrike und Ismena Rondria… Ich denke, das sind die Richtigen.“

 

Die vier jungen Frauen - allesamt Cousinen direkten oder angeheirateten Grades, Haldana von Binsböckel, Tsalinde von Friedwang, Alrike von Baernfarn, und Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein - steuerten den Tsaschrein an, der dank mehrerer Ewiger Lichter in regenbogenfarbenen Schimmer gehüllt war. Vor der kleinen Kapelle stand Haldanas Schwiegermutter, Ismena von Oppstein, und sah versonnen auf das bunte Farbenspiel. Die Baronin von Schlotz berichtete kurz, was geschehen war.

 

Die Oppsteinerin seufzte. “Ich habe gerade mit Lares gesprochen. Sie wollen ein Fäßchen, Gerstensaft oder Wein, als Auslöse.”

Haldana schnaubte. “Das können sie vergessen. Hier gehts ums Prinzip. Wo haben sie Alboran hingebracht?”

“In eines der Zelte, mehr haben sie nicht gesagt. Aber davon gibt es ringsum wahrlich genug.” Die Rahjajungfer sah unbestimmt um sich. “Vermutlich hat wirklich Adran den Streich ausgeheckt.”

Die junge Binsböckel fasste sich an den gewölbten Unterleib. Ihr schwindelte. Einen Moment lang fühlte sie sich erschöpft. Sorgfältig verbarg sie ihre Schwangerschaft ebenso wie das Tanzgewand unter ihrem Umhang. “Das mit dem Beitritt meiner Baronie zum Sichlerbund behagt ihn wohl nicht. Sie wollen Albo ein wenig auf den Zahn fühlen ?!”

“Es ist ein Hochzeitsspiel, trotz allem. Ich hoffe nur, dass er sich nicht restlos betrinkt. Oppsteiner sind ausdauernde Zecher.” Ismena blickte wieder zum Tsaschrein. “Mein Alboran. Kurz nach der Geburt hat er in allen Farben des Regenbogens geleuchtet, weißt Du? Das Gleißende Kindlein von Gießenborn. Geboren am ersten Tag der Tsa...”

Haldana nickte, sagte aber nichts. Wie oft hatte sie sich diese Geschichte schon anhören müssen? Die Baronin strich sich versonnen über ihren Kugelbauch. Keine Angst, mein Kleines, wir werden deinen Papa schon finden. Haldana stutzte. Hatte sie gerade in Gedanken mit ihrem Ungeborenen gesprochen? Fast noch verwirrender war es, eine Art von Antwort...nun, nicht zu hören, aber deutlich zu fühlen. Kein Strampeln, keine Bewegung, das noch nicht. Ein zartes Flattern vielleicht. Da war etwas, da wuchs etwas in ihr, das mehr war als nur Fleisch und Blut an einer Nabelschnur. Eine zarte Seele. Ein kleines Menschlein, das bald atmen, lachen, weinen, nach ihr greifen würde. Tsa lächelte milde, in ihrem Schrein, als hätte sie in diesem Augenblick das Kind erweckt. Womöglich hing das Gefühl wirklich mit dem göttliche Funken zusammen, der da im Regenbogenlicht schimmerte. Haldana fühlte sich plötzlich überglücklich. Was für ein unglaubliches Geschenk das Wunder des Lebens war! Sie schluchzte vor Rührung und hätte die Statue am liebsten umarmt.

Alrike, die Haldanas Schluchzen und deren feuchten Augen missverstand, berührte sacht ihre Schulter. “Keine Sorge, liebe Kousine. Wir finden Alboran. Lares und Adran werden es nicht schaffen, uns die Feier zu verderben.”

“Schon gut...den Brauch gibt es ja wirklich.”

“Wir müssen planvoll vorgehen”, verkündete Tsalinde, die Arme in die Seite gestemmt. “Eine von uns sucht die Zelte in der Mitte ab, zwei die Zelte an der Seite, und die Vierte beginnt am anderen Ende des Zeltlagers? Auf dem Platz treffen wir uns dann?”

“Wir sollten aber auch diskret sein” sagte Alrike leise, und schaute scheu zum großen Lagerfeuer hinüber, wo ein Fest im Fest stattzufinden schien. Ein großer Ochs, der sich an einem Spieß gedreht hatte, war schon halb verputzt.

“Ich rede mit Lares”, sagte Ismena Rondria bestimmt. “Vielleicht geben sie Alboran freiwillig heraus.”

“Also gut. Dann würde ich sagen, Alrike übernimmt das Zentrum, ich die rechte Flanke, du die linke Flanke am Gernat. Tsalinde fängt auf der Gegenseite an zu suchen.” Haldana klang tatsächlich, als würde sie eine kleine Streitmacht befehligen. “Wirst du uns helfen, Ismena?”

Eigentlich hätte ihre Schwiegermutter den Entführern heimlich folgen können, dachte Haldana. Das hätte ihnen jetzt viel Arbeit erspart. Sie hegte den leisen Verdacht, dass Alborans Mutter mit den anderen Oppsteinern unter einer Decke stecken könnte. Zumindest gefühlsmäßig.

“Also, an Eurer Stelle hätte ich keine Probleme damit, Albo gegen ein Faß zu tauschen”, sagte die einstige Rahjajungfer. “Was ist denn schon dabei?”

“Wenn wir das Spiel mitspielen, dann richtig”, sagte Haldana, und klang ein wenig streitlustig. “Da geht es auch um die Ehre.”

“Spiel um die Ehre, Feier verderben...ist das nicht ein wenig heftig? Eine kleine Neckerei, um mehr geht es nicht.”

“Es ist ein Brauch, wie ihn eigentlich nur die Bauern feiern.” Tsalinde meldete sich zu Wort. “Hab ich gehört. Wegen dem Recht der ersten Nacht.” Die frischgebackene (oder frischabgewatschte) Baroness zu Friedwang war sichtlich stolz darauf, im Monat der Allwissenden Göttin Hesinde geboren worden zu sein.

“Das Ius Primae Noctis, gewiss”, sagte Ismena von Oppstein. Die Rahjadienerin musterte die friedwanger Thronfolgerin kühl. “Machen wir uns nichts vor. Wenn Bauern heiraten, geschieht das ebenfalls nur selten freiwillig. Geschweige denn aus Liebe. Nicht nur im fernen Andergast.”

Serwas Tochter hatte die Anspielung auf die Verlobung mit Vetterchen Ravenhart verstanden. Zumindest verzog sie leicht ihren Mund. Andergaster galten als Hinterwäldler, die in Sachen Blutschande oder Verwandtenhochzeiten überaus tolerant sein sollten.

Ismena hatte eine harsche Reaktion erwartet, aber die junge Friedwangerin zwang sich zu einem artigen Lächeln. “Ich verstehe. Klar doch. Variatio delectat.

“So ist es. Abwechslung erfreut.” Auch Ismena lächelte. “Niemand speist immer nur Rebhuhn, heißt es bei den Horasiern. Mir ist gerade entfallen, welcher König seinem Hofkaplan jeden Tag den immergleichen Braten vorsetzen ließ. Nachdem der ihn für seine rahjagefälligen Seitensprünge getadelt hatte. Ich meine, wer sagt, das es allein der böse Grundherr ist, der beim Ius primae noctis gewinnt? Schaut euch doch mal die Ehemänner in den Dörfern an. Von mir aus auch die Ehefrauen.”

“Recht der Ersten Nacht, sowas gibts doch nur im Bornland.” Ismena Rondria errötete ein wenig. “In zivilisierten Gegenden dürfen sich die Grundholden freikaufen. Bei uns in der Mark wird nicht mal Schongeld verlangt. Da ist die Traviakirche dagegen.”

“Schongeld, ein schönes Wort.” Alborans Mutter spöttelte unverdrossen weiter. “Fragt sich, wer bei diesem Verfahren mehr geschont wird, der Jungmann oder die Jungfrau...oder der  Edelmann, der seine Unfreien ansonsten jede Nacht beglücken müsste.”

“Wie auch immer. Die Verschleppung ist ein Affront.” Haldana merkte, wie ihre Gefühle wieder überzuschwappen drohten. Am liebsten hätte sich ein Streitgespräch mit ihrer Schwiegermutter geliefert. Aber eigentlich verstand sie sich mit der freiheitsliebenden Ismena ganz gut, Oppsteinerin hin oder her. “Das alles wirkt wie eine Beleidigung. Auch der guten Frau Travia. Ich meine, eine Bräutigam-Entführung...durch den heimlichen Geliebten des Herrn Baron von Oppstein? Albo ist kein Elfchen, anders als sein Stiefvater. Sondern überaus praiosgläubig. ”

“Als Grundherrin hätte ich nichts gegen einen solchen Brauch”. Alrike versuchte, ebenfalls einen Scherz beizutragen, verhaspelte sich allerdings. “Das mit dem Bräutigam entführen...meine ich.”

“Na komm schon, Haldana” Ismena von Oppstein klang wieder milde. “Wir sollten den Tempel im Dorf lassen.  Die Zeiten, als schon Händchenhalten zwischen Männern als Selemie angesehen wurde, als Sittenverfall und Wahnsinn. Die sind selbst in Darpatien lange vorbei. In den Augen der Schönen Göttin gibt es nur die eine Liebe.” Die Vögtin zu Gießenborn ruckte ihr kelchförmiges Rahja-Amulett zurecht. “Ganz so praiosfürchtig und sittenstreng ist mein Albo auch wieder nicht, glaub es mir. Er hat bei uns in Gießenborn viel gelernt, schon als Kind...über das Leben...und die Liebe. Die sich beide ähnlich sind, als unergründliches Mysterium der Götter.”

“Um Liebe geht es gar nicht”, sagte die Bardin entschieden. “Adran stört, dass Alboran kein Oppstein mehr sein soll, nicht wahr? Kein Oppstein und auch nicht mehr Erbe von Friedwang? Das soll wohl seine Retourkutsche sein...”

“Meine liebe Haldana, Adran war die rahjagefällige Liebe immer wichtiger als irgendwelche Hausmachtspolitik.” Die ältere Ismena zog sich fröstelnd den Mantel über die Schulter. “Sogar wichtiger als bloße Levthanslust. Dafür ist er mir sympathisch, auch wenn er viel Unheil in unserem Stammlehen angerichtet hat. Liebe ist Geben und Nehmen, kein Festhalten von Besitz. Sie erfordert stete Wachsamkeit und Aufmerksamkeit. Man nennt Rahja nicht umsonst die Spielerin. Aber wie ihr das Spiel spielen wollte...das bleibt natürlich euch überlassen.”

Haldanas Schwiegermutter wandte sich in Richtung Burg. “Wie auch immer. Dann werde ich oben bescheid geben, dass die jungen Damen... ein wenig flanieren gegangen sind. Sagt mir bescheid, wenn Albo wieder aufgetaucht ist.”

 

Eine Weile später gingen die vier jungen Frauen ins Dorf. Ismena Rondria, die älteste von ihnen, ging voran. Ihre rotbraunen Haare waren hochgesteckt, die Sommersprossen ein wenig weggeschminkt. Sie war die einzige der vier, die weder Baronin war – wie Haldana und Alrike – noch ein Erbe direkt vor Augen hatte – wie Tsalinde, auch wenn sie sich selbst so manche Hoffnungen machte. Die junge Gallyser Baronin und die Friedwangerin, beide ungefähr gleich groß und mit langen brünetten Haaren, folgten. Haldana ging als letzte der Gruppe. Vielleicht war es ganz gut, dass sie den anderen den Vortritt ließ. Von der Bräutigamentführung war sie durchaus ein wenig genervt.

 

Das Geheimnis der Zahlen

 

Die Cousinen schwärmten aus und schlenderten tatsächlich ungezwungen durchs Lager. Haldana hatte das Gefühl, dass ihre Gefährtinnen froh waren, einmal aus den engen Standesgrenzen ausbrechen zu dürfen. Zumindest tat ihnen allen die feuchte und vernebelte, aber frische Herbstluft gut, nach dem stickigen Tanzsaal mit den unzähligen Kerzen. Ihr besonders, auch wenn sie die letzten Tage kaum noch von Übelkeit geplagt worden war. Einen Moment lang blieb sie stehen und versuchte noch einmal Zwiesprache mit dem Kindlein zu halten. Aber da war gerade nichts, nur ein mattes Glücksgefühl. Ebenso die verwirrende Erkenntnis, dass sie ab jetzt wirklich zu zweit durchs Leben gehen würde. Hoffentlich bald wieder zu dritt...

Wie verabredet, übernahm sie die rechte Seite von “Neu-Gernatsborn”. Dort ging es etwas ruhiger zu als in der Mitte und am Flussrand - wo die großen, bunt gestreiften oder prachtvoll bestickten Zelte der Herren aufgestellt waren, gleich neben den Bannern.  Manche Zelte sahen aus wie Glocken oder Kegel, andere waren viereckig. Darum herum waren die Diener und die Waffenknechte untergebracht, in einfacheren Behausungen aus Tuch und Holz, die mehr an einer Feldlager erinnerten. Überall flackerten kleinere und größere Feuerstellen, teilweise überdacht. Sie beschloss, sich das Ganze erst einmal von außen anzuschauen. 

Die Baronin hatte sich die Suche einfacher vorgestellt. Es würde schwer werden, sich den hochherrschaftlichen Zelten unbemerkt zu nähern, geschweige denn hinein zu spähen. Die Unterkünfte der Adeligen waren symbolisch umzäunt, mit tuchgeschmückten Schnüren und Pflöcken, so dass regelrechte Höfe entstanden waren. Die Außenseite des Lagers war nicht wirklich befestigt. Aber die vielen Karren und Gauklerwägen waren so aufgestellt worden, dass sie mit den bereits vorhanden Gräben und Flechtzäunen für  ein wenig Schutz sorgten. Einen überraschenden Sturmangriff brauchten die Zeltbewohner nicht zu fürchten.

Einige Pfahlgardisten streiften zudem als Wachen umher. Eine Doppelstreife hatte sie gerade entdeckt, aber schnell als eigene Landesherrin erkannt. Leicht erstaunt und mit einer Verbeugung zogen die Bewaffneten von dannen. Haldana überlegte, ob sie die beiden nach Alboran fragen sollte, aber irgendwie wäre das schon wieder peinlich gewesen: Die Baronin vermisste auf dem Junkergut der Gernatsborn-Mersingens ihren frisch angetrauten Gemahl.

Wie sollte sie nun vorgehen? Aus der Unterweisung in Etikette wusste sie, dass Zelte von Adeligen genauso unter Travias Schutz standen wie feste Häuser oder Burgen. Ungefragt in den Hof einzudringen, war in höchsten Maßen ehrenrührig, zumal für die Gastgeberin. Ebenso wäre es für Alboran schmählich gewesen, unstandesgemäß am Lagerrand einquartiert zu werden, dem Platz für die niederen Stände. War das Adrans Plan? Wollte er sie wirklich provozieren oder gar bloßstellen? Womöglich hatte Ismena Recht, und sie interpretierte gerade zu viel hinein. Die gelangweilten höheren Stände kamen mitunter auf die merkwürdigsten Ideen, um sich die Zeit auf Festen zu vertreiben.

Über dem Fluss ballte sich Nebel zusammen. So langsam wurde es richtig dunkel. Der Widerschein der Lagerfeuer war fast die einzige Lichtquelle. Nun gut, die Nacht hinderte sie ebenso bei der Suche, wie sie ihr beim verdeckten Anschleichen helfen würde. Irgendwie fühlte sie sich gerade selbst beobachtet. Oder schüttelte sie bereits das Al´Anfanische Fieber, gemeinhin Verfolgungswahn genannt?

“Na, Bar-on-in, läufst du wieder Bar-ohne-jede-Ahnung herum und hältst Maulauffen feil ? ”

Haldana zuckte zusammen, als die grollende, grummelnde Stimme in ihrem Kopf erklang. War das wieder Golo, der sie peinigte? Ihr geisterhafter ehemaliger Gemahl?

Nein, die Stimme war hinter ihr erklungen, genauer gesagt schräg über ihr. Offenbar aus dem Wipfel einer alten, krummen Buche heraus, deren rotgoldene Blätter sich tapfer gegen den Herbst wehrten. Zumindest wuchs noch erstaunlich viel Laub auf den knorrigen Ästen. Aber sonst war da nichts, außer Nebelschwaden.

Tsalinde schrie auf, als sie etwas an der Schulter traf, eher erschrocken als schmerzerfüllt. Etwas Rundliches kullerte in das feuchte Gras und raschelnde, nasse Laub davon. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Eine Kastanie?! Tatsächlich, die beblätterten Baumfrüchte lagen hier überall herum.

Ihr Blick folgte der Fallrichtung. Sie stand gerade neben einer schönen Rosskastanie, ohne es bemerkt zu haben. Das rotgrüngelbe Farbenspiel war jetzt, im matten Feuerglanz, nur zu erahnen. Alles wirkte ein wenig unwirklich und melancholisch, das halblaute Stimmengewirr von den Zelten her, Klänge von Flöten und Lauten, der Lichtschein, die Nebelfetzen, der Wald. Es dauerte eine Weile, bis sie den Spötter (und Kastanienwerfer) entdeckt hatte.

Im ersten Moment dachte Haldana, oben auf dem Ast säße eine große, braune Eule. Aber die Umrisse passten nicht so richtig, sie sahen eher nach einer Mischung aus Echse und Fledermaus aus. Tatsächlich war es ein graubrauner Drache, der dort kleine Rauchwölkchen ausstieß, mit gelben Katzenaugen und grünem Rückenkamm. Die Löcher in seinen Nüstern glommen rötlich, wie Pfeifenköpfe.

 

“Knister”, rief Haldana freudig erstaunt. “Knister vom Drachenwald?! Bist du jetzt ein Baumdrache? Wo warst Du die ganze Zeit?”

Der Drache verneigte sich artig. "Guten Abend, werte Baronin von Schlotz. Soll ich dir ein paar Maronen rösten?” Tatsächlich hielt Knister bereits die nächste Kastanie in den Klauen.

Haldana lächelte. Der Meckerdrache, nein halt, Hausdrache, konnte zur Abwechslung freundlich sein?

“Nein, ich habe leider keine Zeit zum Naschen...”

“Ja, stimmt, du hast Recht.” Knister kniff seine Echsenaugen zusammen. “Solltest besser ein wenig abnehmen. Hast nämlich eine ganz schöne Wampe bekommen, seit unserer letzten Begegnung.”

“Ach Knister” Die junge Baronin schüttelte den Kopf. Soweit scheint es mit der Höflichkeit des kleinen Drachen doch wieder nicht her zu sein. “Ich bin in gesegneten Umständen...guter Hoffnung...schwanger halt. Wir haben uns auf Burg Schlotz darüber unterhalten, wenn ich mich recht entsinne.”

“Wie lang dauert es denn noch bis zur Eiablage?” Knister zeigte seine gar nicht mal so kleinen Zähne. Lachte er sie aus?

“Wir bringen unsere Kinder ohne Ei zur Welt.”

“Niemand ist so ganz vollkommen, Schätzchen.”

“Ich bin nicht dein Schätzchen”. Tsalinde Blick ging zu ihren Gefährtinnen, die jetzt deutlich sichtbar im Lager umherstreiften. Zum Glück waren sie weit genug entfernt. Den jungen Adeligen und Verwandten ihre Bekanntschaft mit einem geschuppten Feuerspucker zu erklären, das wäre nun wirklich schwierig geworden. Ismena, Alrike und Tsalinde würden Augen machen, wenn sie ihre Gefährten hätten sehen können, als Drachenjungfer. Nun ja, Jungfrau war sie nicht mehr.

“Dann bist du eben Alborans Schätzchen.”

“Wo bist du gewesen? Du wolltest doch schon in ein paar Tagen zurückkehren? Mir scheint, der Herr Knister vom Drachenwald ist ein wenig unzuverlässig...”

“Drachen halten ihr Wort. Ich bin auf schnellstem Weg zurückgekehr t...Ihr habt mich nur nicht gesehen. Wer, glaubt Ihr, hat dafür gesorgt, dass Ihr unbeschadet durch den Wald reisen konntet?” Knister klang ein wenig prahlerisch und setzte gleich noch eins drauf. “Selbst die Wutzen fürchten mein Feuer.”

“Na, da sind wir dir aber zu Dank verpflichtet.” Haldanas Gedanken wanderten zurück zu den glühenden Augenpaaren, die damals in der Nacht aufgeleuchtet hatten. Gut möglich, dass da auch Knisters Bernsteinaugen darunter gewesen waren.

“Ich glaube, ich muss euch beiden gratulieren. Oder wie man das nennt. Ludwina hat es mir erklärt. Ihr beide seid einen Bund fürs Leben eingegangen. Da muss ich euch wohl beglückwünschen...”

“Ach, das ist ja gerade das Problem. Mein Bräutigam wurde entführt.”

Knister klappte seine lidlosen Augen auf und zu. “Entführt, verschleppt, das kann nicht sein. Ich habe ihn vorhin erst herumlaufen gesehen...Sah aus wie der Dorfdepp von Gernatsborn, mit seinem Kopfverband.”

“Ich muss schon bitten, Albo ist mein Gemahl und ziemlich klug...für sein Alter. Manchmal wenigstens. Du hast ihn gesehen?”

“Gesehen und gerochen, so hacke wie der war. Also Räuber haben den nicht mitgenommen. Was will man auch mit so einem Selemer Sauerbrot? Schienen alle bestens gelaunt zu sein.”

“So eine Bräutigamentführung ist ja auch nur ein Spiel...das man manchmal bei Hochzeiten spielt.”

“Ein Spiel, soso. ” Der Hausdrache blickte lauernd. “Na, dann will ich kein Spielverderber sein, und deinen Gemahl nicht verpetzen. Dann kann er sich noch mehr volllaufen lassen, und seinen Frust ertränken.”

“Albo hat keinen Frust. Sondern offenbar Durst, wie alle Männer. Na komm schon, wo ist mein Ehemann?”

“Ihr Schuppenlosen habt schon seltsame Spiele. Hab es heute mit angesehen...sich mit irgendwelchen Bratspießen vom Pferd stoßen, das es kracht und scheppert. Wie dumm muss man eigentlich sein? Alboran hat sich ganz schön den Kopf angehauen, jaja. Klang irgendwie hohl. Wie bei all den anderen Klappergestellen. Alboran, schon der Name hört sich irgendwie albern an...”

“Nun werd nicht gleich wieder frech. Du weißt, wo sie Albo hingebracht haben?!”

Knister kratzte sich mit der Klaue am gehörnten Kopf, unter einer aufgestellten Schuppe. “Wenn Drachen spielen, dann stellen sie meistens ein Rätsel. Einen Moment...muss mir erstmal eins ausdenken.” Der Hausdrache blickte geistesabwesend.

 

"Des Rätsels Lösung liegt im Zelt,

befreist den Albo nicht mit Geld

Die Wahrheit liegt allein im Klang,

doch nicht von Laute oder Sang.

 

Am großen Feuer musst du stehen.

dich Richtung Sonnenauge drehen.

Den Ort findest du sofort - mein Wort.

Steuer einfach frei zum Bord.

 

Hab Acht auf Zehn, mal Zweie

Beim Gange durch die Reihe.

Zähl Vier dazu, dann Fünf und Sechs.

Das ist der Ratschlag von der Echs.

 

Doch sei gewarnt vor meiner Worte List.

Erst wenn nach alter Art gerechnet ist

Wirst du die ganze Wahrheit sehen

Und vor des Liebsten Kerker stehen.”

 

 

Haldana sah den Drachen mit großen Augen an. Als Bardin war sie es gewohnt, sich Verse zu merken, und hatte die Worte in Gedanken mitgesprochen. Nicht, dass die Reime besonders viel Sinn ergaben.

Sie wollte noch einmal nachfragen, als Knisters Bild vor ihr verschwamm. Die Konturen des Drachen wurden eins mit Holz, Blättern und Nebeldunst, genau in dem Moment, als der flackernde Schein einer Lampe über die Baumreihen geisterte. Der Grund waren zwei dick eingemümmelte Gestalten, die sich vom Lager her näherten. Haldana beeilte sich, ihre Kapuze über den Kopf zu ziehen, immerhin trug sie noch ziemlich auffallende Festtagsgewandung.

“Yendar Leuendan ay...ay...Keshal Ronnar. Heißt er. Hat damals das Perricumer Turnier gewonnen.” Der Mann mit der Laterne hustete, wobei er eine große Dampfwolke ausstieß, als wäre er ebenfalls ein Drache.

“Ja, ein Ritter der Löwin. Einer vom Orden der Schwerter zu Gareth. Keshal Ronnar, das meint die Feste Aarenstein, gar nicht so weit weg von hier. Oben im Aartal soll es gerade Scharmützel geben, mit Arngrimms Gesindel. ”

“Hoffentlich ziehen sie dem Wolf endlich mal das Fell über die Ohren...”

Die beiden Plauderer stellten sich jeweils an einen Busch, während der “Drache” seine Lampe an einen Baum hängte. Sie waren so vertieft in ihrer Gespräch über Yendar Leuendan, dass sie die Baronin von Schlotz überhaupt nicht bemerkten. “Schau mal da, an dem Stamm hat ein Biber genagt”, sagte der Andere beiläufig.

 

Haldana suchte lieber nach Anzeichen des echten Drachen, aber der schien keine Lust zu haben, sich noch einmal zu zeigen. Aarenstein, das war gar nicht so weit weg, oben im Weidenschen. Es wäre sicher interessant gewesen, den beiden zu lauschen, irgendwie hatte sie schon seit längerem keine Neuigkeiten aus der “großen weiten Welt” mitbekommen. Aber es half alles nichts. Sie musste Albo finden.

 

Das mit dem “großen Feuer” war noch am eindeutigsten gewesen, bei Knisters Rätsel. Also ging sie geradewegs auf den Festplatz zu. Erst jetzt bemerkte sie den jungen Burschen, der dort in den Block geschlossen worden war. Irgendein Spaßvogel hatte einen Becher und einen Napf mit Grütze vor ihm abgestellt. Nicht weit weg vom Tempelzelt war ein Käfigwagen aufgestellt, in der eine dunkle Gestalt lauerte. Nach Alboran sah der Finsterling allerdings nicht aus...Haldana verspürte ein leichtes Unbehagen, ob des Umstands, dass die Praioten Gefangene zur Schau stellten, auf ihrem Fest. Das hier war zwar Mersinger Lehensland, aber man konnte das durchaus auch als strenges Räuspern in ihre Richtung interpretieren: Wir sehen, was ihr in Schlotz so treibt. Die Zeiten der Wildermark sind ein für alle mal vorbei, im Sichelhag und anderswo.

Sie sollte sich also ans Feuer stellen und Richtung Sonnenauge drehen? Auch das war ziemlich eindeutig Und dann? Zelt...Klang...Wort...

Zelt, Zeelt, Zeeelt...Zählt? Ging es ums Zählen? Offenkundig, es war ja einige Zahlen genannt worden. “Zähl vier dazu, dann fünf, dann sechs...” Zu welcher Zahl sollte sie das dazu zählen? “Hab Acht auf Zehn, mal Zweie” Meinte Knister dass sie vorsichtig sein sollte, mit ihren Zehen, angesichts der vielen Zeltschnüre und Stolperfallen? Oder war das eine Anspielung auf Alborans Tanzkünste?

Anderseits, wenn es ums Zählen gehen, ließ Acht auf Zehn auch als 8 + 10 interpretieren: Das ergab 18.

18 mal 2, das war 36. Nun wäre langsam ein Rechenknecht vonnöten gewesen. Haldana nahm ihre Finger zu Hilfe, 36+4+5+6, da kam, frei nach Aarmar Riese, 51 heraus.

51 was? Schritte vielleicht, aber in welche Richtung? “Steuer frei zum Bord”. Hm – waren damit die Boote gemeint, die am Ufer des Gernat lagen? Besonders hochbordig sahen die allerdings nicht aus. Von der “Flusshexe” her wusste sie, dass Steuerbord die rechte Seite eines Schiffs meinte. Also sollte sie 51 Schritte nach rechts gehen?! Eigentlich ganz einfach.

 

Allerdings, wenn sie sich die Zelte rechterhand des Feuers so ansah, würde sie keine zehn Schritt weit kommen, ohne durch den Pavillon eines anderen Adeligen marschieren zu müssen. Außerdem, Knister war ein Freund der Hexen. Die Töchter Satuarias liebten alles, was mit bloßen Gefühl, dem Dunklen und der Nacht zu tun hatten. Soviel hatte sie bereits verstanden. Verkopfte Zählmeister und Buchhalter waren die Diener Aarmars, Levthans und Sokramurs sicher nicht. Die Redensart mit “Aarmar Riese” bezog sich ja gerade auf einen tumben, einfältigen Pflüger und Ackerer, der die schmutzigen, dicken Finger zu Hilfe nehmen musste, beim Ausrechnen seines gewaltigen Tagwerks.

Bord, das meinte allgemein einen Rand, etwa den Schildrand eines Wappens. Nun wusste Knister kaum, wie sich Menschen vermehrten. Haldana wollte nicht glauben, dass sich der Hausdrache da ausgerechnet mit den Feinheiten der Heraldik auskannte.

Wollte ihr geschuppter Freund sie am Ende auf den Arm nehmen? Meinte er die Quersumme von 51, die 6? Nun ja, das war die heilige Zahl der Allweisen Hesinde, aber half ihr das wirklich weiter?

Haldana schlenderte zum großen Feuer, und fühlte sich ein wenig wie der Kalif der Tulamiden, der sich bisweilen nächtens unter seine Untertanen mischte. Angeblich. Zum Sonnenauge sollte sie blicken? Nun, das war eindeutig die Fahne der Gemeinschafts des Lichts, die schlaff an ihrem Mast hing. Vom Mast aus ging ihr Blick nach “Steuerbord”. Tatsächlich, dort öffnete sich eine kleine Gasse zwischen den Zelten. Die Baronin schlenderte scheinbar gleichmütig in die Richtung, auch wenn es eigentlich gar nicht ihr Revier war.

 

51, auf alte Weise gerechnet. Im nächsten Moment fiel es ihr wie Drachenschuppen von den Augen. Das weiße Rundzelt dort war mit roten Balken unterteilt und dazwischen mit V-förmigen Mustern verziert: VIVIVIVI. VI war eine 5 und eine 1, in bosparanischen Ziffern geschrieben. Gleichzeitig stand das Zeichen für die 6. Oder?

Sie hatte Glück, dort drüben lag ein großer Stapel Feuerholz, der teils aus Scheiten, teil aus Reißig und allerhand Ästen oder Bruchholz bestand. Haldana tat so, als würde sie sich einen kleinen Vorrat aussuchen. Ein schwerer Prügel rutschte herunter und fiel ihr geradewegs auf den Schuh. Haldana unterdrückte einen Schmerzenslaut. Hab Acht auf Zehn?! War das Rätsel am Ende eine Prophezeiung gewesen. Drachen waren magische Kreaturen...

Haldana humpelte mit ihrer Last los, und wäre um ein Haar tatsächlich auch noch über eine Zeltschnur gestolpert. Vermutlich war das hier einfach eine selbsterfüllende Prophezeiung....

Vorsichtig nach weiteren Gefahrenquellen spähend, ging sie an “Alborans Kerker” vorbei, als wolle sie Nachschub für irgendein Küchenzelt liefern. Zumindest spürte die Baronin, dass sie sich auf der richtigen Spur befand.

Aus dem Zelt leuchtete es hell. Es war ein großes Hauszelt, mit Vorraum, dessen Eingang geöffnet war. Noch auffallender war, dass hier kein Wappenbanner wehte, weder vor dem Zelt noch auf dem Dach.

Auch dieses Zelt war von einem schlichten Zaun aus Pflöcken und Schnüren umgeben, der den traviageschützten Bereich markierte und mit orangefarbenen Tüchlein geschmückt war. Zwei Fackelhalter links und rechts des Eingangs verbreiteten heimeliges Licht, auch wenn eine Fackel bereits verloschen war. Erneut stand Phex, der Lieblingsgott ihres Schwiegervaters, ihr bei.

Die Türplane zum Innenzelt wurde aufgeschlagen. Ein Diener trat heraus, der tatsächlich das Drachenwappen der Oppsteiner trug. Der Mann stutzte, als er die rauchende Pechfackel sah und verschwand wieder im Inneren. Tatsächlich, dort saß Alboran, neben Lares von Hochfels, der rechten Hand des Barons von Oppstein (der rechten und der linken Hand, nach allem, was man so hörte). Schwere Teppiche mit Allerweltsmotiven lagen auf dem Boden oder hingen an den Wänden. Ein Kastenbett, Waffen und ein Tischchen, mehr nahm Haldana auf die Schnelle nicht wahr. Albo schien irgendein Brettspiel mit dem Hochfelser zu spielen. Dann schob sich wieder der Oppsteiner Lakaie ins Bild. Er hatte eine neue Fackel in der Hand und tauschte sie mit der alten aus, die er achtlos ins Gras warf. Der Waffenknecht schaute sich ein wenig angespannt um. Haldana, die kurz stehen geblieben war, nahm wieder Fahrt auf.

“Ihr gestattet”, sagte sie leichthin und bückte sich nach der verloschenen Fackel an, um sie aufzuheben. Der Oppsteiner musterte sie, verwundert und etwas überrumpelt, verbeugte sich und hob für sie das Holzstück auf. Haldana vollführte einen Knicks. Immerhin, im Zelthof war sie schon einmal drin.

“Seid bedankt, auch im Namen meiner Herrschaft!” sagte sie mehrdeutig und sah ihrem Konterpart über die Schulter. Im geräumigen Zelt standen mehrere Höflinge beiderlei Geschlechts, tranken oder würfelten am Nachbartisch. Lares schob eine Spielfigur nach vorne. Ah, die Schlacht von Jergan. Die Marschälle, Hauptleute und das Fußvolk waren prachtvoll geschnitzt, wie sich das für die Hofhaltung eines Adeligen gehörte. Alboran wartete lange mit dem Gegenzug, offenbar schien er mehr als nur beschwipst zu sein. Immerhin hatten sie ihn nicht bis zur Oberkante Unterkiefer abgefüllt. Lares schien auch keinerlei “Selemie” im Sinn zu haben, für höfliche Distanz war am Tisch gesorgt.

“Es wäre schon schade, wenn du die Heimat deiner Mutter vergessen hättest” sagte Lares gerade und genehmigte sich einen Schluck. Haldana schaffte es geschickt, ein paar Holzstücke fallen zu lassen. Der galante Diener bückte sich erneut. Die Spionin hatte einige wertvolle Augenblicke gewonnen. Nun sah sie, dass einige vergilbte Zettel neben dem “Schlachtfeld von Jergan” lagen, die mit verschnörkselter Schrift beschrieben waren. Haldana zählte vier, fünf, sechs Papierstücke. Auf dem obersten war das Stierkopfwappen der Mark zu sehen, als Stempelabdruck, geschmückt mit Hammer und Eisen.

“Natürlich bin ich in meinem Herzen ein Oppstein geblieben, ein klein wenig” antwortete Alboran, der gut gelaunt zu sein schien, mit schwerer Stimme.

“Dank Corelian sind sogar wir beide verwandt.” Lares strahlte, ganz gut aussehender, aber schon etwas gealterter Lebemann. “Ein klein wenig".

Im nächsten Moment sah Alboran genau in Haldanas Richtung, und wirkte schon wieder erschrocken. Offenbar hatte sie gerade ein Komm-du-mir-mal-nach-Hause-Gesicht aufgesetzt. Fast war es wieder so wie damals im Kurgasberg, in der Höhle. Sie wollte Alboran verschwörerisch zuzwinkern, da ragte auch schon wieder der Oppsteiner wieder zwischen ihr und ihrem Gemahl auf. “Einen schönen Gruß an Eure Herrschaft!” sagte der Lakai, mit einigem Nachdruck in seiner Stimme. Das klang nun doch mehr nach Rausschmeißer oder Türsteher als nach einem Kavalier.

“Danke sehr. Einen schönen Gruß an den hübschen jungen Mann da drinnen” Haldana lächelte naiv und zog von dannen. Lares schien nichts bemerkt zu haben. “Bitte, dein Spielzug”, hörte sie ihn noch sagen, bevor sich der Zugang zum Zelt schloss. “Die Schlacht ist noch nicht...”

Hinter dem nächsten Zelt lud sie das Holz klappernd ab und steuerte im großen Bogen wieder den Feuerplatz an. Corelian, der Name meinte Corelian Falconor von Hochfels. Der Edle von Blauweiher war Lares Bruder und wiederum mit der Schwester ihres Schwiegervaters verheiratet. Also Alborans Tante. Richtig eingeweiht war sie nicht, in friedwanger Familienverhältnisse, aber wer war das schon. Gunelde von Friedwang nannte sich heutzutage Landedle von...wie hieß das Dorf noch gleich. Ähnlich wie Schlotz. Schnitz? Schratz? Nein. Schni...Schna...Schnu...Schneiß. ja, Schneiß.

Alrik, Bishdarielon und Gunelde waren die drei noch lebenden Kinder Baronin Tsalinde Kalmanderias von Friedwang. Gunelde hatte bereits eigene Nachkommen, die ziemlich weit oben in der friedwanger Erbfolge rangierten, und zur Hälfte Hochfelser waren. Die junge Binsböckel beschlich das Gefühl, dass auch Adran Pläne hatte, von denen sie wenig wusste. Oder vielleicht gerade dabei war, Pläne zu schmieden?

 

Andererseits hatte sie gehört, dass sich Corelian und Lares nicht besonders mochten, was wohl mit den Ereignissen im Krieg um das Oppsteiner Erbe zusammenhing. Während Gunelde, eine fromme Therbûnitin, und Serwa, die Medica, sich bestens verstehen sollten. Nach der Macht über die ganze Baronie, für sich selbst oder ihre Kinder, strebte die Schneißerin wohl nicht. Ihre älteste Tochter Serwine war sogar nach der amtierenden Freifrau von Friedwang benannt worden, die ihr in der Schwangerschaft und bei der Entbindung geholfen hatte.

Mehr Sorge bereiteten Haldana die Papiere, die offen auf dem Tisch gelegen hatten, neben dem Spielbrett. Die Scheine hatten offenkundig mit Bergbau zu tun. Mit der Hochzeit war Haldana Junkerin von Gießenborn geworden, und damit unmittelbare Nachbarin der Baronie Oppstein. Laut Ehevertrag bestand ihre Mitgift zu nicht geringen Teilen aus Gießenborner Silber. Soweit Haldana wusste, besaß die Markgräfin den Löwenanteil an der Ausbeute, etwa die Hälfte. Den Rest teilten sich bislang die Friedwangs, Oppsteins und die Magnatenfamilie Karrer. “Kuxe”, so wurden die Anteilsscheine genannt, aber es gab auch gestempelte “Zubußzettel”, mit deren den Eignern mitgeteilt wurde, welche Summen an Verbindlichkeiten und Investitionen von ihm gezahlt werden mussten. In den letzten Jahren waren einige Dukaten in die Mine geflossen, im Kampf gegen Grundwasser und schwindende Erträge. Schwer zu sagen, was Lares gerade mit ihrem Gemahl besprochen hatte. Jedenfalls schien es bei der Bräutigam-Entführung um weit mehr als nur ein Faß mit berauschendem Inhalt zu gehen. Auch wenn sich Haldana da noch keinen rechten Sinn dahinter sehen konnte. Dass das Haus Oppstein eine Intrige erfolgreich führen konnte, das wusste sie. Nur was Adran sich von dem Manöver versprach, das konnte sie nicht erahnen. Die neue Baronin von Schlotz als Verbündete zu gewinnen, konnte es ja wohl nicht sein. Denn dass sie nicht erfreut war, erst den Gemahl nicht zum Tanzen vorzufinden und dann sturzbetrunken zurückzubekommen - auf der eigenen Hochzeitsfeier!!! - das hätte sich auch der dümmste Intrigant ausrechnen können. 

Überhaupt, der Gedanke daran, den Gemahl in seinem trunkenen Zustand den Gästen in weiteren Tänzen präsentieren zu müssen, störte sie noch mehr als alles andere. Wenigstens hatte Lares nichts traviawidriges im Sinn. Sei es dem Levthan gefällig oder nicht, in diesem Punkt war das Schlotzer Land der Herrin Travia ergeben. 

Die junge Baronin schüttelte den Gedanken daran ab. Sie musste sich konzentrieren. Es ging um mehr… um die Einnahmen der Mine in Gießenborn. Was konnte passieren? Welche Namenloserei heckte Adran aus? Wollte er Alborans Unterschrift unter irgendein Dokument bekommen und hatte ihn daher abgefüllt? Jetzt, rechtzeitig bevor sie, Haldana, die Feinheiten ihrer Mitgift erfuhr und etwas verhindern konnte, wozu man Alboran in seiner gelegentlichen Leichtfertigkeit überreden konnte? Hatte Alboran etwas eingesetzt, in der Schlacht von Jergan? Ging es um eine Wette? Ohnehin schien es ihr ungewöhnlich und unangemessen, eine Silbermine zu besitzen und fünf sechstel davon anderen abtreten zu müssen. Die Verträge hierzu würde sie mit ihrer Mutter durchgehen müssen, bei Gelegenheit. 

Jedenfalls ging es nicht darum, hier um ein symbolisches Lösegeld zu verhandeln. Sonst hätte Lares sie ja nicht hinauskomplimentieren lassen. Offenbar hatte Haldana das Zelt früher gefunden, als es dem Hochfelser lieb war. Haldana musste annehmen, das Lares noch nicht fertig war mit dem, was er sich vorgenommen hatte, dass er von ihrem frühen Auftauchen überrascht worden war. 

Die Schlotzerin war froh, durch herannahende Schritte aus ihren Gedanken gerissen zu werden. Alrike, Ismena und Tsalinde nahten, offenbar waren sie durch die lauten Stimmen auf das richtige Zelt aufmerksam geworden. 

“Bist du fündig geworden, liebe Kusine?” erkundigte sich Alrike. 

Haldana nickte. “Sitzt drin, ist betrunken und spielt die Schlacht von Jergan!” murrte Haldana. 

“Ach komm schon.” munterte die Gallyserin sie auf. “Ab und zu muss man den Männern ihre Freiheit lassen. Ein Brettspiel ist doch harmlos. Du solltest mal sehen, wie viel mein Mann säuft, wenn er mal in die Schänke geht.” 

“Naja, ein Albernier halt.” ergänzte Ismena. “Trinkfest sind sie doch alle, diese Bennains.” Ismena erinnerte sich noch Brautschau für den albernischen Prinzen, dem auch sie als mögliche Braut angepriesen worden war. Damals hatte sie einige Mitglieder des Hauses Bennain getroffen. Nun, die Bennain hatten sich für ihren Thronfolger dann doch anders entschieden. Dennoch hatte man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den jungen Alrik Gaspard ui Bennain mit der Gallyser Thronerbin zu versprechen. 

Haldana nickte mit einem Seufzen. “Na denn, gehen wir mal rein.” Die Schlotzerin fasste sich, ein energischer Gesichtszug umschlich ihren Mundwinkel. Noch einmal würde sie sich nicht von einem Lakai abspeisen lassen. 

Tsalinde zog die Zeltbahn auf. Sie kannte Haldana inzwischen gut genug, um zu wissen, dass die Schlotzerin geladen war wie eine horasische Armbrust - und dem Rivalen Adran aus der nördlichen Nachbarbaronie Oppstein, oder auch dessen Vertrauten Lares, gönnte sie, was da kommen würde. 

Auch Ismena lächelte. Das schien sich gut zu entwickeln. 

 

Der Diener, der sich zuvor Haldana in den Weg gestellt hatte, war überrascht. Hatte er vorhin Haldana schlicht überrascht und knapp abgefertigt, so hatte er jetzt gar nicht damit gerechnet, die junge Baronin gleich wieder zu sehen - und diesmal ungleich elanvoller. Hektisch erhob der schlaksige Mann sich von der Truhe, auf die er sich gesetzt hatte. Aber Haldana würdigte ihn mit keinem Blick, sondern schritt schnurstracks auf das innere Zelt zu. Mit einer verächtlichen und gleichermaßen kräftigen stieß sie die flache rechte Hand gegen die Brust des Lakais - dieser wollte sich mit einem Ausfallschritt nach hinten im Gleichgewicht halten, stieß dabei jedoch gegen die Kiste, auf der er eben noch gesessen hatte, und stürzte laut scheppernd hintenüber. 

Es hatte doch unbestreitbar einen Vorteil, klein und gedrungen von Gestalt zu sein, dachte Haldana. Der Schlaks mit seinem hoch liegenden Schwerpunkt hatte mit seinem schlechten Standpunkt und in seiner Überrumpelung keine Chance gehabt, stehen zu bleiben. Haldana würdigte ihn keines weiteren Blickes, sondern stieß mit der linken Hand das schwere Tuch zum Innenraum zur Seite. 

“Ihr solltet besser auf die Manieren Eures Personals achten. Herr von Hochfels", blaffte sie den Oppsteiner Adeligen an. “Und auch auf seine Ausbildung. Wie wollt Ihr denn mit mir über die Freigabe meines Angetrauten verhandeln, wenn Euer Lackaf… Euer Lakai mich noch nicht einmal erkennt?” Dass Haldana annahm, es ginge um mehr als nur eine Auslöse, wollte sie sich nicht anmerken lassen. “Oder wollt ihr lieber noch länger dem Brettspiel frönen, anstatt einen Humpen Gernatsqueller Meth zu trinken?” 

Als wäre sie gelangweilt von Brettspielen, ließ die Baronin einen desinteressiert wirkenden Blick über das Spielbrett schweifen. Natürlich kannte sie die Schlacht von Jergan, hatte es gelegentlich mit ihren Mitschülern auf der Rommilyser Knappenschule gespielt, und auch danach in diversen Schenken. Eine Abart des tulamidischen Spiels der roten und weißen Kamele - nur dass es dabei nicht nur auf die Spieltaktik ankam, sondern auch, ähnlich wie beim Boltan, darauf, die Taktik und Spielweise des Gegners zu durchschauen. Die Marschälle, Hauptleute und Soldaten auf dem Spielfeld sahen alle gleich aus, allein, die Stärke der Einheiten war unten auf der Standfläche der Figuren eingeschnitzt, und nur der Spieler wusste um die Stärke seiner eigenen Figuren bescheid. Es kam also darauf an zu erkennen, welche Figuren des Gegners stark und welche schwach waren, bevor es zum Kampf kam. Zu erkennen, ob der Gegner tatsächlich seine kampfstarken Figuren nach vorne schob, um durch die Linien zu brechen und den feindlichen General gefangen zu nehmen, oder ob man nur bluffte, um die starken Einheiten des Gegners auf die falsche Brettseite zu locken, um dann unerwartet mit einer einzelnen, aber kampfstarken Einheit ins Ziel zu gelangen. 

“Nun, ja, gewiss. Die Auslöse….” Es dauerte einen Moment, dann hatte sich der Hochfelser wieder gefasst. Dann setzte er ein gewinnendes Lächeln auf. “Nun, wie üblich…”

“Seid so gut und verhandelt mit Baroness Tsalinde von Friedwang” unterbrach Haldana Lares. “Ich muss mich erst einmal versichern, ob ich meinen Gemahl in einwandfreiem Zustand zurück bekomme. Er muss nachher noch tanzen.” 

Haldana warf Tsalinde einen kurzen Blick zu und zwinkerte sie an. 

Tsalinde verstand, dass Haldana ein wenig Zeit brauchte. Die wollte sie der Freundin verschaffen. 

“So ist es” begann Tsalinde, Lares zuzutexten. “Zuvor hat schon Euer Lehensherr einspringen müssen und mit Haldana die Horaise tanzen müssen. Nun ja, das trifft sich doch passend, schließlich hat er ihr ja den Tanzpartner genommen. Da ist es doch nur gerecht, dass er selbst der Braut den Wunsch erfüllt, bei der Horaise nicht ohne Tanzpartner zu sein.” Die junge Friedwangerin redete ohne Punkt und Komma auf Lares ein. 

Haldana vertraute auf den Redefluss ihrer Freundin und sah Alboran an - vielmehr sah sie zugleich auf das Spielfeld und die daneben liegenden Papiere, die Lares hastig unter das Spielbrett zu schieben versucht hatte. Zart umarmte Haldana Alboran - nicht nur, damit Lares keinen Verdacht schöpfte. 

In der Akademiezeit hatten beide gelegentlich die Schlacht von Jergan gespielt. Haldana wusste daher die bevorzugte Taktik ihres Gatten einzuschätzen. Aber konnte Lares das auch? Wusste er, wie Alboran spielte? Nun, wenn Lares tatsächlich im Auftrag Adrans irgendetwas unternahm, dann hatte er sicherlich Erkundigungen eingezogen. Oder ging es um etwas anderes, und das Spiel war nur Beiwerk? 

Während Tsalinde - Haldana hörte nur mit halben Ohr zu - über Ogerbier oder Gernatsqueller Meth verhandelte, versuchte die Baronin, sich einen Reim auf die Pergamente zu machen, die hier herum lagen. Tatsächlich schien es um Handelskontrakte zu gehen. Auf dem Kopf stehend und teilweise verdeckt konnte sie das Pergament nicht gänzlich entziffern… ging es darum, zu welchem Preis Gießenborner Silber in Oppstein auf den Markt kam? Wurde hier um den Preis für das Silbererz gespielt? 

“Und? Tuzaker Eröffnung?” erkundigte sich Haldana leise. Einer von Alborans Marschällen war leicht rechts positioniert, ein paar Gemeine befanden sich in der Nähe. Alboran nickte. Ein erkennbarer Geruch von Alkohol ging von ihm aus. Haldana selbst trank ja weder Bier noch Meth, und auch auf ihrer Hochzeitsfeier hatte sie sich zurückgehalten, und wich ein wenig zurück. Die Tuzaker Eröffnung zielte darauf ab, den Standort seiner starken Figuren vor dem Gegner verborgen zu halten, ähnlich wie die Kampftaktik  maraskanischer Rebellen, stellte man auf eine Überrumpelung des Gegners ab, wenn dieser seine Kräfte am falschen Ort zusammengezogen hatte. 

“Ich nehme an, er spielt praiotisch.” erwiderte Alboran, ebenfalls flüsternd. Haldana war angenehm überrascht, dass ihr Ehemann nicht lallte. Immerhin, er war offenbar nicht gänzlich trunken. Praiotisch, das bedeutete, seine Kräfte zu zentrieren, so dass der Gegner immer mit einem Angriff rechnen musste und es daher risikobehaftet war, die eigenen starken Figuren nicht zur Verteidigung im Zentrum zu haben. 

Aber ging es tatsächlich um das Brettspiel? Konnte sie Alboran jetzt danach fragen? Das würde nicht unbemerkt bleiben. Aber wenn sie Recht hatte, war es Lares egal, ob er gewinnen oder verlieren würde… Vermutlich wäre auch ein höherer Verkaufspreis für das Silber - ging es denn darum? - immer noch attraktiv. Wollte Lares lediglich Alborans Spielleidenschaft dazu nutzen, einen Kontrakt abzuschließen? Oder zu verlängern? 

Aber wenn Haldana sich an das Gefeilsche zwischen ihrer Mutter und Baron Alrik recht erinnerte, sollte mit der Hochzeit auch die Mine tatsächlich von seinen Eltern an Alboran übergehen und somit in das Vermögen der Eheleute eingehen. Es war also tatsächlich erst jetzt möglich, mit ihrem Ehemann, anstatt mit seinem bekannt phexgewandten Vater, zu verhandeln. Ließ sich Alboran hier gerade über den Tisch ziehen? Wollte Lares ihn gezielt gewinnen lassen, damit er sich über einen nachteiligen Vertrag als vermeintlich gut freute? 

“Also Haldana…  ich fasse zusammen. Ein Fass Ogerbier und ein Dutzend Flaschen Meth als Auslöse? Das ist das Angebot von seiner Hochgeboren Lares von Hochfels  für die Auslöse…”

Die Baronin wurde aus ihren Gedanken um Gießenborner Silber und schlechte Handelskontrakte gerissen. Stimmt, die Auslöse für den entführten Ehemann… deswegen war sie ja hier. Eigentlich. Darum ging es ihr ebenso wie Lares. Vordergründig. 

Da kam ihr ein Gedanke. Eine alte Streunerweisheit besagte, dass beim Spiel nicht der bessere Spieler gewinnt, sondern derjenige, der die Regeln festlegt. 

Sie würde Lares beim Jerganspiel genauso besiegen, wie sie damals Alrik in Rommilys im Flussschiffer überlistet hatte, als er sie von drei Karten den Wahrsager suchen ließ, obwohl doch gar kein Wahrsager sondern nur drei Söldner verdeckt auf dem Tisch lagen. Indem sie zwei Söldner gleichzeitig aufgedeckt hatte, während sie sagte, der Wahrsager läge verdeckt in der Mitte. 

Wo natürlich auch ein Söldner gelegen hatte, aber hätte der Streunerbaron Alrik denn zugeben wollen, beim Kartenspiel gemogelt zu haben? Natürlich nicht! Mit diesem einfachen Kniff hatte sie den heimlichen Mondschatten schlicht ausgetrickst. Alrik hatte notgedrungen bestätigt, dass Haldana gewonnen hatte, und die dritte Karte wurde nie umgedreht.

Würde Lares zugeben, Alboran übervorteilen zu wollen? Niemals. Das konnte er nicht tun. Also würde er darauf eingehen müssen, was sie ihm vorschlagen würde. Es war egal, wer das Jerganspiel gewinnen würde, solange nur der Einsatz ein anderer war. 

Haldana schenkte Lares ein einnehmendes Lächeln. “Ein Faß Bier und ein Dutzend Flaschen Meth…” Sie legte eine kunstvolle Pause ein, als dächte sie darüber nach, ob sie noch feilschen müsse. 

“Ach was, spielen wir drum. Doppelt oder nichts. Ich übernehme Alborans Figuren, Wohlgeboren. Gewinne ich, kommt Alboran ablösefrei mit. Gewinnt Ihr, gibt es den doppelten Unterpfand.” Und schon war der Wetteinsatz, was auch immer es in Wirklichkeit gewesen war, ausgewechselt. 

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Haldana Alborans Marschall diagonal auf das gegnerische Feld. 

Ein oder zwei Fässer… das war Haldana herzlich egal. Aber Lares konnte der Braut auf ihrem Hochzeitsfest den Wunsch nach dem Spiel nicht abschlagen, wenn nicht herauskommen sollte, dass er gerade den Bräutigam übervorteilen wollte. 

Nach einer nur einen Augenblick kurzen Phase der Überraschung hatte sich der Hochfelser gefasst und lächelte. Der Geliebte Adrans von Oppstein wusste, dass er das eigentliche Spiel, um das es ging, verloren hatte. Aber er war ein guter Verlierer und lächelte die Baronin an. 

“So soll es sein!” bestätigte er. 



Das Schweigen der Oppsteins

 

“Lares hat....Lares hat mich gar nicht ausgehorcht”. Alboran schwankte leicht, während er sich ein Stück geröstetes Stockbrot in den Mund schob. Dann spülte er mit heißem Tee nach. “Bäh, ist der bitter.”

"Starker Tee ist gut, der macht dich wieder nü....munter". Haldana ließ ihren Angetrauten nicht aus den Augen. Zum Glück schien dessen Trunkenheit beherrschbar zu sein. Auch wenn das glänzende, leicht aufgedunsene Gesicht und die glasigen Augen eine deutliche Sprache sprachen. Sie war im richtigen Moment im Zelt eingetroffen. Auch wenn das Ganze nur ein Scherz der Oppsteiner gewesen sein sollte - es war doch ein Scherz auf ihre Kosten. 

 

Albos Gemahlin nickte huldvoll in Richtung der Umstehenden, die das junge Brautpaar scheu anhimmelten, am großen Lagerfeuer. Die Binsböckel fragte sich, welches Gerücht zuerst bei ihrer Mutter ankommen würde: Dass sich ihr Ehemann bei der Hochzeitsfeier mit gemeinem Volk betrunken hatte. Oder das sich die Frischvermählten zwanglos unter die niederen Stände gemischt hatten.

Zumindest bei den einfachen Schlotzern - es waren nicht nur Gernatsborner auf dem Fest anwesend - kam der vermeintliche Ausflug ins Zeltlager gut an. In Windeseile hatte man sie mit Brot und den letzten Resten vom Ochs ausgestattet, der sich gerade noch über der Glut gedreht hatte, sie mit Tellern und Getränken ausgestattet und ihnen schüchtern zugeprostet. Auch Haldana gönnte sich erst einmal einen Tee. 

Die junge Baronin hatte gerade die "Schlacht von Jergan" verloren, auf kunstvolle Weise, und Lares die doppelte Auslöse versprochen. Sie würde noch solange auf dem Festplatz ausharren, bis das "Lösegeld" eingetroffen war - ein willkommener Vorwand, um ihren schwankenden Albo ein wenig trockenzulegen. Immerhin schien ihr Schatz noch Herr seiner Sinne zu sein. Er hatte sein Ehrenwort gegeben, dass er nicht eher auf die Burg zurückkehren würde, bis das Bier und der Ogermeth eintraf. 

"Du hättest nicht einfach  mittappen sollen, bei dem Hochfelser" sagte die Herrin von Schlotz ebenso leise wie vorwurfsvoll.

 "Als isch gemerkt habe, was die wolln, war ich doch schon längscht sum Burgtor draussn", sagte Alboran und nagte an einem Stückchen Ochsenbraten, den er sich auf ein Brot gelegt hatte. "Aber du kanscht...kannst unnesorgt sein. Das Trinkn hamir meine Mutter beizeiten beigebracht, in Gießenborn" Der Herr Baron stieß auf und lächelte bier- und weinselig, bevor er sich die fettigen Finger sauber leckte.

"Sehr gut, sehr gut..." nickte er in die Runde. Das Volk strahlte zurück. So ganz war das heutige Debakel auf der Turnierbahn zwar noch nicht vergessen. Dafür schien Herr Albo seine schmähliche Niederlage mit um so größerer Leutseligkeit wieder wett machen zu wollen. Es war anrührend, die Bewunderung der einfachen Schlotzer zu spüren. Eine Bardin fing schon an, Reime auf das Turnier und die Hochzeit zu schmieden. Haldana war sich keinesfalls sicher, ob sie überhaupt schon Baronin war. Vermutlich würde ihr neues Amt erst dann rechtskräftig, wenn sie den Treueid auf die Markgräfin geleistet hatte. Aber in dieser Runde galten sie bereits als Herr und Frau Baronin.

"Sagt an, Herr...wie konnte das passieren, mit dem Hufeisen? Da habt Ihr aber nun wirklich großes Pech gehabt" fragte ein Bauer und klang ein wenig vorwitzig.

"Womöglich hat mei...mein Vater da was...fla...falsch verstanden...es liegt noch sehr viel rum, vom Schturm", sagte Alboran, mit der Offenherzigkeit, aber auch der Konzentration des Angetrunkenen, der jedes Wort einzeln betonte.

"Es wird doch kein Vorzeichen sein", sagte eine ältere Frau. "Die Zeiten sind wahrlich schwer, und wir alle werden schon so lange vom Unglück verfolgt. Etwas Most, edler Herr?"

"Danke, Danke, Ihr seid zu gütig. Neinnein, seid unbesorgt. Sow...sowas geschieht bei Turnieren nun einmal...ich woll...wollte nur...eine besondere Art...von Attacke ausführen...das war leichtsinnig..."

"Schmerzt Euch Eure Wunde noch sehr?"

"Nicht der Rede wert." Alboran plusterte sich schon wieder auf. "Wir Friedwangen ham...haben einen dicken Schädel und füh...führn nicht umschonst das Haupt des Steinbocks im Wappn." Der Freiherr deutete auf seinen Kopfverband.

"So seht Ihr Euch also immer noch als Spross des Hauses Friedwang, Euer Hochgeboren?" Die Minnesängerin hatte gesprochen, eine hübsche Frau unter einem kecken Federbarrett. "Ich frage für meine künftigen Zuhörer in den Wirtshäusern?"

"Mein Gemahl ist nun ein waschechter von Binsböckel" sagte Haldana schnell. Sonst würde die Bardin morgen gleich wieder hinausposauen, dass Schlotz seit neuestem friedwängisch regiert wurde.

"Vom Bock sum Böckel, das is nun wahlich kein...so groscher Schprung." Albo lachte und kam sich ungeheuer schlagfertig vor. 

"Vom Bock zum Böckel - das klingt gut". Die Minnesängerin nickte, scheinbar ebenfalls begeistert, und zupfte auf ihrer Laute. "Weiß man eigentlich schon, wann die Geburt sein wird, bei Eurer Gemahlin?"

"Vierter...ah, heiß...viervierter Mond..."

"Sehr interessant, danke...und was genau hat sich da gestern auf dem Burghof ereignet? Eurem Vater soll unpässlich geworden sein. Man sagt, er wäre im letzten Moment von seinem Hofmagier gerettet worden. Oder war es doch ein Zaubertrank seiner thorwalschen Leibwächterin?"

"Gerüchte, nichts als Gerüchte..." Haldana schob Albo ein wenig beiseite. Jetzt wurde er nicht mehr von den Oppsteins ausgehorcht, aber dafür von irgendwelchen Gemeinen? Sowas nannte man wohl vom Regen in die Traufe geraten.

"Die dunkelhäutige Schönheit...die schwarze Ritterin, was hat es mit der auf sich?" rief die Bardin hinterher.

"Sinn doch nett", beschwerte sich Alboran matt. 

"Du solltet aufpassen, was du gegenüber Barden und Minnesängern sagst. Die drehen dir was Wort im Mund um und machen eine nette Ballade draus". Stirnrunzelnd sah Haldana zur Sängerin, die tatsächlich bereits mit einem Stift zugange war, auf einem Zettel. Schon die Laute auf ihren Knien rief unschöne Erinnerung in der Binsböckel hoch.  "Fast so wie früher die Schmierfinken vom Landboten."

Erst jetzt merkte Haldana, dass ihr Liebster seinen bekömmlichen Tee mit irgendeinem Most vertauscht hatte. Der vermeintlich schwache Trunk hatte es ebenfalls in sich, das wusste Haldana von früheren Dorffesten zur Genüge.  

"Also, was hat Lares von dir gewollt?" Elegant, aber resolut nahm die Baronin ihren Mann den Becher ab.

"He, he...Dasch...Das war eine ganz...ganz normale Plauderei...nee, also...eigentlich langweilig. Irgendwie sind wir dann auf das Gischborner Berchwerk gekommen. Er hat irgendwas von Fuxen erzählt, von Zubs...upps...tschulligung...Zubussen... und dem Sillerpreis...so richtig verstann hab ichs nicht, was er... er wollte..."

"Von Fuxen? Du meinst Kuxe? Anteilsscheine am Bergwerk?"

"Kann schon sein....war ziemlich heiß und stickig da drin. Aber ausgehorcht haben die mich nich. Eher umgekehrt. Hab nämlich auch ein bischn was erfahren. Adran baut sich gerade eine schmucke Rest...Resu... Residenz, mitten in Oppschtein und braucht Silber. Wusche gar nich, dass sei...seine Burg komplett zerstört worden ist, damals vom Drachen Arlopir...her mit dem Most!"

"Nichts da, das reicht für heute!" Haldana schüttete den Most in Richtung eines Karren - und merkte erst jetzt, dass sie bereits neben dem Gitterwagen standen, mit dem Gefangenen.

"Hoppla, junge Dame." Der Insasse des Käfigs wischte sich einige Spritzer von seinem Livree, in den Gernatsborner Wappenfarben Schwarz, Gold und Blau. "Ich wusste gar nicht, dass ich ebenfalls am Pranger stehe, und besudelt werden soll." Ein stoppelhaariges, bleiches Gesicht wurde gegen die eisernen, leicht angerosteten Gitterstäbe gedrückt.

"Nein sowas, Haldana und Alboran von Schlotz. Was verschafft mir die Ehre?" Valpo grinste schmierig und klirrte mit den Ketten. "Hab ich Euch eigentlich schon zum Traviabund gratuliert? Sieht aus, als hätten wir seit neuestem etwas gemeinsam, nicht war, edler Herr Albo? Bei der Zeremonie werden einem doch auch die Hände gebunden, meine ich." 

Die Baronin runzelte die Stirn. Das musste der ungetreue Diener sein, der gestern in den Kerker geworfen worden war. Offenbar hatte der sich als gesuchter friedwanger Verbrecher herausgestellt. Ihr Schwiegervater hatte sich derart über das Wiederauftauchen des Mannes aufgeregt, dass er einen Schwächeanfall erlitten hatte. Viel mehr hatte Haldana in all dem Hochzeitstrubel nicht mitbekommen. Valpo, ja, das war wohl der Name des Inhaftierten. Das passte irgendwie zu Alborans Zustand.

"Komm Halda...wir genn wieder ans Feuer...der isch mir nich ganz geheuer...Sicher irgendein Langfinger oder Landstreicher."

"Kann das sein?" Der Gefangene sprach mit eindringlicher, fast schon einschmeichelnder Stimme. "Ich habe gestern versucht, Baron Alrik von Friedwang zu meucheln, und ihr wisst nichts davon? Als Adoptivsohn und Schwiegertochter...Was sind denn das für Zustände in eurer Familie? Was hat man Euch noch alles verschwiegen?"

 

"Meinen Vater wolltescht...wolltest du tönn?" Alboran trat einen Schritt auf den Käfig zu.

"Ja, natürlich. Mit schwarzer Magie...Ich bin Borbaradianer, hat Euch das niemand gesagt?" Zufrieden grinsend sah Valpo, wie der junge Baron wieder zurückwich.

"Um ein Haar hätte ich es geschafft. Ich musste doch verhindern, dass Alrik Eure Schwester zur Baroness ernennt, vor allen Leuten. Ich habe es für euch getan, für Eure älteren Rechte auf Friedwang...nur dumm, dass dieser Hesindian...und dieses rothaarige Luder, wie heißt es noch gleich..."

"Alfhildr", entschlüpfte es Haldana.

"Ja, wirklich schade, dass mir die beiden ins Handwerk gepfuscht haben. "

"Für mich hast du es getan?" Alboran schaute um sich, aber nirgendwo konnte er eine Wache entdecken. Der Häftling schien gefährlich zu sein. "Was redest du für ein wirres Zeug?" Der Baron merkte, dass er schlagartig nüchtern geworden war. 

"Wirres Zeug? Seit zwanzig Jahren helfen wir dir, wo wir nur können." Valpo lächelte, allerdings grausam. "Der Gleißeraufstand, das waren wir, weißt du, Barönchen? Wir wollten dich schon als ganz kleines Kind auf den Steinbockthron heben. Weil du auserwählt bist...durch deinen Vater Golo..."

"Der Kerl redet wirklich irre", sagte Albo, in Richtung eines gar nicht vorhandenen Zuhörers.

"Soviele Menschen sind für dich gestorben, Alboran Raul Praiosin von Oppstein-Glimmerdieck. Und wie dankst du es Ihnen? Indem du jetzt Alboran von Binsböckel wirst, Gemahl der Frau Baronin von Schlotz" Eine hämische Verbeugung in Richtung Haldana. "Dabei könnte Haldana sehr gut auch Baronin von Friedwang werden, wenn du es wirklich möchtest. Wie es dir durch deinen Vater Golo bestimmt ist."

"Golo ist nicht mein Vater."

"Ach, ich möchte gar nicht wissen, was für Lügengeschichten sie dir aufgetischt haben...wegen dem da?" Valpo tippte sich ans rechte Ohr.   "Mit Lares von Hochfels hast du dich unterhalten, nicht wahr? Ich habe alles gesehen. Schweigen sie noch, die Oppsteins? Nein, du hast sie ja ausgehorcht. Nun weißt du also bescheid? Über Rimhold von Birkenbruch und den Armbrustbolzen in der Schlacht von Drachweiler?  Die  Verzweiflung seiner Tochter Thahira, als sie langsam begriffen hat, auf welche Weise sie Landvögtin von Zwerch geworden ist...ihr Verschwinden ist doch kein Zufall, genauso wenig wie es damals das Verschwinden deines Vaters war. Deines wahren Vaters, den du hier ständig verleugnest."

Valpo klang mit einem mal scharf und streng. Zugleich hob er seine Stimme, wie ein halbverückter Schulmeister. 

"Als Golo von seiner Bußwallfahrt zurückgekehrt ist, nach Balträa...da haben ihn übrigens die Firunslichts verschwinden lassen. Wusstest du das? Die alten Feinde des Hauses Oppstein. Weil sie wissen wollten, was damals  geschehen ist...was damals wirklich geschehen ist. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Darüber solltest du dich einmal mit Lares unterhalten..."

Haldana unterdrückte eine Antwort. "Das müssen wir uns nicht anhören", sagte sie. Sie entdeckte ihre Gefährtinnen, die mit dem "Lösegeld" im Anmarsch waren. Zwei Diener hatten rumpelnde Schubkarren mit Fässern und Flaschen dabei. 

"Das musst du dir nicht anhören. Schweig Stille, götterloser Abschaum. Gut, dass du im Käfig sitzt. Die Praioten werden sich deiner schon annehmen."

"Vielleicht sollten wir uns zuvor noch einmal ausgiebiger unterhalten." Valpo griente. "Einstweilen wünsche ich euch noch eine schöne Hochzeitsfeier, mit euren Freunden. Gut, dass die Bösewichter alle hinter Gitter sitzen, ja, und die Anständigen regieren, in diesem Land...Ich wünsche Euch alles Gute, für eure Ehe. Habt Ihr eigentlich schon einen Namen, für das Kindlein? Ihr könnt es ja Valpo nennen" Die Stimmlage des Borbaradianers klang nun endgültig nach Noionitenspital.

"Du solltest wirklich aufpassen, wo du hinläufst", schimpfte Haldana, als sie außer Hörweite waren. "Nicht überall ist es so sicher wie oben auf der Burg. Was für ein impertinenter Kerl!"

"Du hast ihn den Most in den Käfig gekippt, nicht ich." Alboran tat so, als wäre er amüsiert. "Ich muss Alrik fragen, was da genau geschehen ist. Sieht so aus, als wollte er uns nicht über Gebühr beunruhigen..."

 

"Wenn, dann ist ist ihm das gründlich misslungen."

"Ach was. Der Strolch hat irgendwas aufgeschnappt, mehr nicht, und will sich nun aufblasen, wie eine Kröte. Aber in einem hat er recht. Wir sollten uns langsam mal Gedanken über einen Kindernamen machen..."

"Wie kommst du jetzt ausgerechnet darauf? Wir wissen ja nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird."

"Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Alrik. Wenn es eine kleine Binsböckel wird, Adginna...Die Großeltern, da macht man nichts falsch."

"Alriks gibt es wie Sand am Perlenmeer."

"Adginnas auch?"

Da reicht mir ein Sandkorn im Getriebe, dachte Haldana. Laut sagte sie: "Hast du gehört, was er gesagt hat - Hesindian und Alfhildr haben deinem Vater das Leben gerettet. Ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn stand."

"Dann wird es wohl auf Hesindian oder Alfhildr hinauslaufen. Beim Namen, meine ich..."

"Sehr witzig..."

"Irgendwie musst du die Retter deines Schwiegervaters ehren."

"Warum nicht Nengarion, Tsafried oder Tsafriede?"

"Ismena würde auch passen."

"Ich kann jetzt schon kaum Ismena von Baernfarn-Oppstein, meiner Cousine, und Ismena von Gießenborn-Oppstein, meiner Schwiegermutter, auseinander halten." Haldana nickte in Richtung der Erstgenannten, die gerade das Zelt des Herrn Lares von Hochfels mit der versprochenen Ablöse ansteuerte. 



Keine Verlobung ohne Oppsteiner Beleidigungen 

 

Der Abend war bereits fortgeschritten und die meisten Gäste vom reichhaltigen Dessert satt, als auch die Musikanten die Gelegenheit beim Schopf packten und in einer Pause sich an den Resten der Kuchen hermachten. Anstelle der Musik drang nun eine fast gemütlich anmutende Geräuschkulisse von Plauderei und Gelächter durch den Raum. Dabei war der Festsaal der Burg dicht gefüllt und die Luft stickig vom Schweiß der Tanzenden und des Rauches der Pfeifen, die mehrere Gäste nach den Süßspeisen genossen. Dazu gingen auch noch zwei Knechte und eine Magd mit kupfernen Tabletts durch den Saal, um kleine Kupferbecher mit Schnäpsen oder Likören zu reichen.

 

Die einen plauderten über den vergangenen Turnierhergang und so manche Zweit- oder Drittplatzierten rühmten sich fast Sieger geworden zu sein, die anderen freuten sich schon morgen in heimatliche Gefilde aufzubrechen, denn der herannahende Winter stand bereits vor den Toren. So auch ein etwas genervt wirkender Baron Adran von Oppstein, der etwas abseits an der schmalen Treppe lehnte, die zur oberen Balustrade des Saales führte. Der durchaus gutaussehende, doch mit grauen Strähnen im schulterlangen Haar bereits etwas gealterte, Mann holte eine flache, silberne Kiste aus seinem edlen Wams und zog einen importierten chababischen Zigarillo heraus. “Gib mal Feuer” befahl er mit etwas gelangweiltem Blick seinen Knappen. 

Der Bruder der nunmehrigen Schlotzer Baronin - Travian von Binsböckel, war schon seit fast zehn Jahren als Page und Knappe im Dienste Oppsteins und konnte bald auf die Schwertleite hoffen - reichte seinem Herrn sogleich wortlos eine Kerze, die an einem kupfernen Wandgehänge angebracht war. Adran ließ das Feuer in den Tabak glühen und zog dann den Rauch tief und genüsslich in seine Mundhöhle. 

“Warum so verdrießlich, Adran? Man kann nicht immer gewinnen” kommentierte sein Vertrauter und Gefolgsmann Lares von Hochfels etwas verschmitzt. “Na du hast beim Turnier ja nicht einmal mitgemacht …” Adran zog wieder an seiner Zigarre. “Abgesehen davon, wie konnten wir wissen, dass dieser Friedwanger Bursche doch nicht so ein Tölpel ist wie gedacht, selbst wenn man ihn abfüllt.”

Tavian zog sich reflexartig einen Schritt zurück. Der aufrichtige und trotz all den Jahren am Oppsteiner Hof weiterhin im Herzen traviafromme Adelsspross, wollte eigentlich gar nicht wissen, über was die beiden sprachen - ging es noch dazu nun um seinen Schwager. Nein, er wollte sich bei all den Spielchen von Adran raushalten. Nicht mehr lange werde er endlich Ritter und würde seinen Herren verlassen wollen.

“Und dann noch seine Gemahlin, wie die uns so rasch finden konnte…” kommentierte Lares, während er einem Pagen her winkte, um zwei Schnäpse vom Tablett zu nehmen.” 

“Das zusätzliche Silber aus Friedwang hätten wir gut gebrauchen können. Ich bin ohnehin der Ansicht, dass die Silberader bereits in Oppstein beginnt und ich das Recht darauf hätte.” Der Oppsteiner Baron kippte sich den Schnaps in die Kehle und räusperte sich dann darauf. “Soll der Opspteiner Bergadel mehr zahlen, die Almwirtschaft soll diese Jahr sehr üppig gewesen sein.” Der Hochfelser nahm einen kräftigen Schluck aus dem Kupferbecher. “Bäh, da gelobe ich mir unseren Zirbenbrandt” sprach er etwas angewidert aus und stellte seinen halb geleerten Schnapsbecher wieder auf ein Tablett zurück. “Ob die Oppsteiner Residenz ein Jahr früher oder später fertig wird, ist doch einerlei … und den Bergadel solltest du nicht so pressen, sonst gibt es einen Aufstand” “Also bitte Lares!” unterbrach ihn der Baron, “Nach fast zehn Jahren Bauzeit sollte sie endlich fertig werden, ich will ja nicht erst als Greis dort hausen.” Lares schmunzelte, “Ja wie konnten wir nur wissen, dass die Oppsteiner Bauleute nicht so einfach einen horasischen Palazzo erbauen können.” Adran schüttelte den Kopf, denn der Witz war von seinem Vertrauten schon so oft gekommen. “Zumindest wird der Badetrakt endlich fertig sein, wenn wir zurückkommen," fuhr der Hochfelser fort. “So kommen wir dann gut durch den Winter. Ich kann es kaum erwarten, diesem Schlotzer Hinterland den Rücken zu kehren - draußen kriecht schon der feuchte Nebel vom Fluss heran.” Adran nickte nur stumm und zog tief an seiner Zigarre. 

 

Das gemütlich heitere Geplauder wurde unterbrochen, als drei Klänge eines kupfernen Triktrichters, an der mit einer ebensolchen Gabel geschlagen wurde, durch den Raum hallten, wohl um die Musikpause ausnützend eine Rede zu schwingen. 

“Nicht noch eine Rede,” seufzte Adran, “lass uns ins Zelt gehen, dass wir morgen gleich aufbrechen können, der Weg ist lang genug.” “Nein warte,” unterbrach ihn Lares und legte seine Hand fast unangemessen vertraut an die seines Lehnsherrens. “Es ist die Mersingerin, warten wir noch ab.”

Tatsächlich stand die Gastgeberin und Burgherrin Glyrana von Mersingen an ihrem Platz an der Tafel - die Mersinger Familie war an der Flanke platziert, um dem Brautpaar als Ehrengäste, das nach einer längeren Abwesenheit auch wieder vollständig Platz genommen hatte, anlässlich des Traviabundsball das Zentrum zu überlassen - während sich die Blicke der Gäste ihr zuwandten und bis auf Gemurmel verstummten. Die Mersinger Edeldame war in ein feinstes Kleid gewandet und wusste sich zu inszenieren. Ganz in den Mersinger Farben war es schwarz mit gelb-goldenen Einsätzen bei den aufgepufften, weit ausladenden Ärmel, die an die goldenen Mersinger Balken des Wappens erinnerten. Viel weniger Stoff wurde bei ihrem Dekoltee verarbeitet, welches für die traviafrommen Lande fast zu unsittlich weit geschnitten war und in dem eine Kette mit einer großen Perle dieses zierte. Die Gastgeberin wirkte frisch und ausgeruht - was jeder geübte Höfling erkannte, von denen es gar nicht viele in unter den Gästen waren, hatte sie sich wohl gerade vorhin wieder frisch geschminkt und ihre dunklen Haare neu flechten und hochstecken lassen, um eine gute Figur zu machen. Die dunklen Augen der gerade einmal 30 Götterläufe zählenden Burgherrin blickten in die Runde der Gäste, als sie mit einem Lächeln zu sprechen begann. 

Adran von Oppstein hörte nur mit einem Ohr zu, ging es in der Rede doch zunächst um nochmalige Glückwünsche an das Schlotzer Brautpaar und Tsas Segen für den reichen Nachwuchs, gefolgt von einem ausladenden Resümee des Turnierhergangs, bei dem mehrere Kontrahenten hervorgehoben und mit Beifall gewürdigt wurden. “Das ist doch belanglos, vielleicht gehen wir doch schon in unser Turnierzelt” kommentierte Lares von Hochfeld. Doch dann schien die Rede auf die Politik umzuschlagen - die Heiratspolitik. 

“Es ehrt meinen Gemahl”, der mittlerweile ebenfalls aufgestanden war und in die Menge lächelte, “und mich zutiefst, dass unser Fest und Turnier nicht nur den Traviabund der Schlotzer Baronin als Zeichen hat, sondern auch, dass bereits eine Verlobung in unserer Familie angekündigt wurde.” Sie blickte kurz auf Alrik von Friedwang, der neben dem Brautpaar saß. “Wir wünschen den Segen der Götter den heute Verlobten Tsalinde von Friedwang, der zukünftigen Baronin, und meinem Neffen Ravenhart von Mersingen.” Die versammelten Gäste prosteten auf das Glück der Versprochenen an. Tsalinde stand etwas abseits und bedankte sich leicht verbeugend für die Glückwünsche, der junge Ravenhart stand jedoch als Page seiner Tante fast im Zentrum der Tafel und die Aufmerksamkeit an ihn schien ihn noch blasser werden zu lassen. “Ich versichere den Friedwangern, dass wir aus ihm einen stattlichen Ritter machen werden” fügte Glyrana noch hinzu, was Ravenharts Nervosität nicht gerade reduzierte.

 

Der nun fast zweifache Brautvater, Alrik von Friedwang, hob ebenfalls den Becher. Er hatte die kleine Stichelei verstanden, die wohl mehr Glyranas Schwester Syrenia galt, der ebenso ehrgeizigen Mutter des Verlobten. Die Erbvögtin von Friedwang blickte tatsächlich ein wenig verdrießlich. “Sei bedankt, liebe Glyrana” sagte der Baron. “Ich bin überzeugt, die Liebe wird in diesem jungen Paar wachsen und gedeihen.”

 

“Zusammen mit Tsalindes Vetter? Was für eine Liebesheirat, ich bin gerührt! ”, spöttelte Adran. Vielleicht waren Adrans Worte doch etwas zu laut gewesen - der Schnaps war ja doch stärker als gedacht - denn ein paar Gäste drehten sich um und wohl auch der Brautvater Alrik musste das gehört haben.

 

“Manche sagen, dass schon ein gewisser Grad an Verwandtschaft unter Verlobten für Zuneigung sorgt, gewiss”, sagte der Friedwanger ernst. “Die Zuneigung, wie sie innerhalb einer großen, weitverzweigten Familie herrscht oder herrschen sollte. Die dauerhafte, wahre Liebe der Travia ist bekanntlich von der reinen Rahjalust zu unterscheiden, die oft nur von kurzer Dauer ist. Leider” fügte Alrik Tsalind mit anzüglichem Grinsen hinzu.  

 

Der Oppsteiner quittierte die schnelle Riposte mit einem feinen, wissenden Lächeln. Seinem Knappen Travian gefiel das alles ganz und gar nicht und in seinem Pagenkopf begann das Blut zu brodeln. Wie konnte sein Herr nur hier als Gast sich so benehmen? In Oppstein konnte er walten, aber hier wurde Travias Gastfreundschaft auf die Probe gestellt. Zuerst ein Getuschel über seine Schwester und seinen Vetter und nun über seine Cousine, und Cousin - eigentlich war er mit recht vielen jungen Adligen am Fest direkt oder indirekt verwandt. Dass es bei derart weit verzweigten Familien im Sichelhag auch einmal zu einem Traviabund unter Cossin und Cousine kommt, ist doch nichts dagegen einzuwenden, zumal wenn das Heilige Paar darauf den Segen spricht. 

 

Die Burgherrin lächelte in die Runde und schien dieses Intermezzo einfach zu ignorieren. “Doch dürfen wir hier heute noch eine weitere Verlobung ankündigen!” hob sie hervor. Im selben Moment begann neben ihrem Gemahl ihr ältester Sohn aufstand, worauf die Gästeschar mit Getuschel und zustimmenden Geraune reagierte. 

Der kräftige und auch wohlrundliche Bursche von etwa zehn Götterläufen stand steif aufrecht und blickte mit bestimmtem Blick in die Menge. Sein Wams hatte an den Armen ein ähnliches Schnittmuster in den Mersinger Farben, passend zu seinem dunkelbraunen Haar als Pagenschnitt geschnitten und braunen Augen, wobei die weit ausladenden Arme in Landsknechtmode ihn älter und noch kräftiger wirken ließen. 

“In Travias Namen und Tsas Segen” fuhr seine Mutter nach einer rhetorischen Pause fort, “dürfen wir die Verlobung unseres geliebten Sohnes, Giborn Hal von Mersingen, älteres Haus, verkünden, der derzeit als Page am Kaiserlichen Hofe zu Halligen dient und Erbe des Landjunkertums Gernatsborn ist.” 

 

“Page, Erbe, älteres Haus…” vergnügte sich Adran gegenüber Lares, “...hätte der Bursche beim Zechen in der Schenke gewonnen, würde sie ihn als Zechmeister zu Barken oder so anpreisen.” De Oppsteiner Baron zog wieder kräftig an seiner Zigarre. “Ich bin schon gespannt welches Kind seine Holde sein sollte”, antwortete der Hochfelser, während er sich umschaute. Auch wenn ihre Stimmen nun bewusst leiser war, so waren Travians Sinne geschärft und er lauschte hinter den beiden Oppsteiner stehend und ihm gefiel das nicht. Zumindest war der junge Gisborn Hal - sofern der Knappe die Familienbande vollständig verstand - nicht unter seinen Cousins oder Vettern. Noch.

 

Auch die anderen Gäste blickten sich bereits fragend um, welche angemessene Braut es denn sein konnte und das Raunen wurde stärker. Nun aber ergriff der Burgherr und Märkische Wehrvogt Storko von Gernatsborn-Mersingen das Wort, der nicht nur ein, wie seine restliche Familie, pluderndes Wams anhatte, sondern auch eine überdimensionierte dunkelblaue Feder an seinem Barrett trug. "Niemanden Geringeren reichen wir die Hand unseres Sohnes als Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein!”

Das Geraune und Getuschel wurde von Beifall und Glückwunschrufen abgelöst, als die junge schlanke Frau Anfang Zwanzig neben Storko an die Tafel herantrat und zuerst ihre zukünftigen Schwiegereltern und dann die Menge anlächelte. Nach ihrem Ausflug zur Bräutigamauslösung war sie frisch geschminkt und ihre rotbraunen Haare waren neu hoch gesteckt worden, sodass das traviagefällige Gänseamulett an ihrem Hals besonders gut hervorstoch. Bemerkbar stolz blickte auch Vater Deggen von Baernfarn auf ihre älteste Tochter.

“Ismena Rondria …” Der Burgherr sprach ihren zweiten Namen in der bosparanischen Version aus, obwohl ihre Eltern ihr aus reiner Mode die vermeintlich maraskanische Namensvariante Rondrija gaben, die wohl nicht mehr in die Zeit der Rommilyser Mark zu passen schien. “... ist von edelstem Geblüt. Die Baroness zu Gallys und Oppstein wuchs am Hofe zu Gallys und dann in den Wirren der Wildermark hier in der Baronie Schlotz im benachbarten Gut Gernatsquell auf. Seitdem wir mit ihr vor einigen Jahren nach Havena zur albernischen Brautschau zogen und sie als Hochzeitskandidatin des albernischen Thornfolgers gehandelt wurde...”

 

Den restlichen Details des Lebenslaufes von Ismena Rondira hörte Baron Adran von Oppstein nicht mehr zu, denn in seiner Kehle kroch Argwohn und Misstrauen hervor. Baroness zu Gallys und Oppstein? Was hatte das zu bedeuten? Wollte man so einen Anspruch auf die beiden Baronien herleiten?

Na gut, sie wurde tatsächlich als Tochter des Barons in Gallys geboren, des damaligen Barons Deggen von Baernfarn. Dass damals nicht sie - als älteste Tochter, aber noch Kind - Baronin zu Gallys wurde, sondern Deggens leiblicher Neffe und adoptierter Sohn Raul von Baernfarn, daraus konnte man wohl einen profunden Erbanspruch ableiten. Doch schien die ähnlich alte, heutige Baronin zu Gallys, Alrike von Baernfarn, die nicht weit abseits an der Tafel saß, wenig besorgt zu sein und spendete gerade Beifall. Ismena und Alrike kannten sich bereits gut aus der frühen Jugend, wuchs doch Ismena mit ihr bei Alrikes Mutter Valyria von Baernfarn-Binsböckel gemeinsam auf. Diese und auch Deggen von Baernfarn schienen dem allen zuzustimmen. Nein, dachte Adran, die Erwähnung als Baroness zu Gallys diente wohl nur der Untermauerung ihrer edlen Herkunft.

Doch warum dann auch Baroness zu Oppstein? Der Oppsteiner Baron grübelte nach, denn er hatte dieses Kind Ismena völlig aus den Augen verloren. Nachdem er vor etwa zwanzig Jahren als Vogt die Macht in Oppstein erlangt hatte und später als Baron bestätigt wurde, war er einige Jahre lang versiert gewesen, alle Oppsteiner Konkurrenten mit potentiellen Ansprüchen aus dem Weg zu schaffen, wie beispielsweise Roderick von Oppstein, den er als Knappe nach Friedwang abgeschoben hatte. Welch Zufall, dachte er, dass genau dieser nun auch im Dienste der Mersingen war.

“Lares!” sprach Adran mit ernster und direkte Stimme - während manch Gäste immer wieder ein “Hört, hört” bei besonderen Details des jungen Lebens von Ismena riefen, die ihr zukünftiger Schwiegervater ausschweifend gerade zum besten gab -  “Wie ist nochmals die Oppsteiner Abstammung dieser Ismena Rondria?” Der Hochfelser griff sich über seinen Dreitagebart, während er nachdachte. “Wenn ich mich recht erinnere, nahm Deggen von Baernfarn als Gallyser Baron die Schwester von Redenhardt von Oppstein, Irmena Darina von Oppstein zur Frau”. Redenhardt von Oppstein war bis zu seinem Tode der vorherige Baron, jedoch als geachteter Stadtvogt von Rommilys kaum im Oppsteiner Land gewesen. “Lares! Irmena ist doch die älteste Schwester von Redenhardt?” überlege Adran hastig. “Ja?” antwortete sein Gefolgsmann. “Und diese Ismena ist ihre älteste Tochter?” “Ähm, ja ich denke schon,” stimmte Lares mit Nicken zu.

Adran wurde blass und rief wutentbrannt “Die wollen mir MEIN Oppstein streitig machen!” und seine halb gerauchte Zigarre viel ihm dabei aufgrund energischer Gestikulierung aus der Hand, gerade als die Gallyser Baronin an der Seite ein “Hört, hört!” lauthals rief, da die höfische Erziehung Ismenas zur Sprache kam - nur die Ohren von Knappe Travian waren gespitzt. Adran wusste, dass sein (Erb-)Anspruch auf Oppstein auf wackeligem Boden stand, und immer gestanden war, aber er hatte dafür gesorgt, dass es nicht so aussah - und solange das Oppsteiner Silber nach Rommilys floss, hatte man seine Stellung bislang nicht angezweifelt. Immerhin wurde er von Redenhardt von Oppstein adoptiert, das konnte er durch Dokumente bezeugen. Dazu hatte er noch Redenhardts ehemalige Geliebte Thahira von Birkenbruch geheiratet und dann noch deren uneheliches Kind Praiodane, als die seine anerkannt und sie zur Erbin gemacht - alles, um seine Macht zu untermauern. . Über diese Details wussten aber nicht viele. 

“Also Adran, rege dich nicht so auf, denken wir uns das noch gut durch.” Sein Vertrauter Lares versuchte ihn zu beruhigen, was zunächst nicht viel half. “Diese Göre hat mit Oppstein so viel zu schaffen, wie ich mit der Oase in Kheft. Die hat doch noch nie ihren Leben einen Fuß ins Oppsteiner Tal gesetzt, noch es gesehen, und nennt sich Baroness zu Oppstein!? In meinem Palazzo würde sie vielleicht die Latrinen reinigen dürfen, das würde weit besser zu dieser hageren Gestalt passen”.

Für den Oppsteiner Baron schien die Sache klar zu sein. Ein großangelegten Komplott gegen ihn im Sichelhag. Zuerst das ganze Spektakel um den Sichelhager Bund, bei dem er abseits gestellt wurde, und nun das hier. Er blickte in die Runde und sah zustimmende Adelige aus Schlotz, Friedwang, Gallys - sogar die Baronin zu Rosenbusch, Oleana von Bregelsaum, klatschte. Und im Zentrum standen die Mersingen, aus seiner Sicht wie ein schwarze Spinne im Netz, das ihn fangen wollte. 

“Schuld an allem sind diese Mersingen. schau nur Lares, wie sie so selbstherrlich lächeln und ihre Mode ist dabei von Vorgestern mit den geschlitzten Pluderblusen - wie ein Pfau, der in eine Pechgrube gefallen ist.” Adran begann sie nachzuäffen. “Entschuldigt” sprach Lares zu ein paar Gästen neben ihnen, die sich über das seltsame Verhalten Adrans nur wunderten, ohne ihn richtig zu verstehen, “der Oppsteiner Baron fühlt sich nicht so wohl, wir entschuldigen uns.” Er begann seinen Vertrauten aus dem Raum zu führen, um nicht größeren Schaden an seiner Person anzurichten. “Bitte gehen wir in unser Zelt und denken das genau durch, es gibt doch keinen Grund anzunehmen, dass hier ernsthaft ein Anspruch gestellt werden kann.” Mit einer Überzeugung und beruhigenden Art, die nur ein enger Freund oder Geliebter auf eine andere Person hat, konnte er den Oppsteiner überreden, das Fest zu verlassen.  “Übrigens Mersingen bist du ja genauso” flüsterte er Adran zu als sie aus dem Saal der Burg traten, “genauso wie ein Berlînghân.”

Die meisten Gäste hatten von all dem nichts mitbekommen. Nicht so aber Adrans Knappe Travian von Binsböckel, der all den Beleidigungen und Sticheleien gelauscht hatte. Mit Scham und voll Peinlichkeit in sein Gesicht geschrieben, stand er blass an der Mauer des Saales. Das Verhalten seines Schwertvaters spöttete über jede Gastfreundschaft und Travias Sitten. Auch ihm war nicht mehr zum Feiern zumute und bald sollte er sich in sein Zelt begeben.




Nächtliche Alpträume

Travian von Binsböckel

 

Travian wälzte sich unruhig auf seinem Feldbett hin und her. Die Halme des Strohs raschelten und knisterten. Nach seinem allabendlichen Gebet an die Himmlische Mutter hatte er keinen tiefen Schlaf gefunden, was nicht nur am schweren Braten des Abschlussbanketts lag. Immer wieder war er aus wirren Träumen aufgewacht, um zu grübeln. Der Kälte im Zelt nach zu urteilen schien die Nacht schon ziemlich fortgeschritten zu sein. 

Der Knappe haderte mit seinem Schwertherren, Adran von Oppstein, wie schon so oft seit seiner Ankunft am Oppsteiner Hof. Welch lose Schmähreden der Baron an der Festtafel geführt hatte, den traviagefälligen Pflichten eines Gastes zum Trotz! Beileibe nicht alle Gäste hatten die bösen Worte mitbekommen, die Spöttereien und Schmutzeleien, die sich kein ungehobelter Bauer herausnehmen würde.  

In welch abgründige Gesellschaft war er da geraten. Dass sich Seine Hochgeboren früher auf Hexenfesten herumgetrieben hatte, mit kaum mehr als einer Hirschmaske als Gewandung. Nun, das mochten ja noch böswillige Gerüchte sein.

Ebenso, dass bei dieser Gelegenheit ein Kind entstanden sein sollte, ehebrecherisch gezeugt mit Serwa von Friedwang, der rechtmäßigen Gemahlin des dortigen Freiherren. Niemand wusste, ob es dieses Kind der Schande wirklich gab oder was daraus geworden war. Welch Sakrileg, welch Traviafrevel! Wenn es denn stimmte. Nun ja. Wo Rauch wehte, da gab es zumindest  Feuer. Soviel Lebenserfahrung hatte er.

Travian war nicht naiv, er wusste, dass in den Sichelbergen zur "Schwarzen Bergmutter" gebetet, für Satuaria manch berauschendes Kräutlein verbrannt, oder dem Grimmen Schnitter gelegentlich ein Waffenopfer an den Heiligen Baum gehängt wurde. Wer konnte schon sagen, welch alter Brauch den Segen Alverans hatte, welcher zu verdammen war oder geradewegs in die Niederhöllen führte?

Aber selbst mit den "Altgläubigen" hatte es sich der Herr gehörig verscherzt. Nachdem der Drache Arlopir die Baronie verbrannt und die Rommilyser Reiterei das Lehen befreit hatte, allesamt darpatische Fahnenflüchtige in Liebfelder Diensten...Nun, seither wollte Adran von seiner Vergangenheit nicht mehr gar soviel wissen. "Sokramorisch", das klang heutzutage wie "schwarztobrisch", "Sokramorier" nach einem Spitzel oder Handlanger der Herzogsmark im Osten. 

 

Stattdessen kehrte der Adoptivsohn des hochgerühmten Redenhardt den Herren "von Berlinghân" heraus. Den feinen Namen verdankte er allein der Ehe seines Stiefvaters, des vormaligen Barons und seligen Stadtvogts zu Rommilys. Dessen offenkundiges Töchterchen Praiodane hatte Adran mitsamt der Mutter, Thahira von Zwerch bei sich aufgenommen und als eigenes Kind ausgegeben. Allein das war eine abscheuliche Sünde! Was Wunder, dass Praiodane Answina Eugenie von einem Schandmal verunziert wurde, das Travian selbst an einem Badetag gesehen hatte, natürlich in keuscher Entfernung. Das Zeichen an der Schulter sah aus wie ein verdrehtes Gehörn. Auch wenn jeder, der darüber sprach, behauptete, es wären die Eidechsen der Jungen Göttin Tsa. Womöglich handelte es sich dabei gar um ein Dämonenmal? "Sokramorier" gab es wahrlich auf beiden Seiten der Berge.

 

"Es ist alles noch weit schlimmer!"

Der junge, zerlumpte Bursche sah ihn aus traurigen, blutunterlaufenen Augen an. Travian merkte, dass er mitten in einem nebligen Wald stand, in den sumpfigen Gernatsauen. Sein Gegenüber hielt ein grobes Seil in den zitternden Händen, und knotete es beflissen, mit verbitterten Gesichtszügen, zu einem Galgenstrick. Der Halbwüchsige wirkte erschöpft, buchstäblich todmüde. 

"Hör auf, lass das!" hörte sich Travian sagen. "Sich selbst zu entleiben ist auch eine Sünde!"

Der junge Mann lächelte melancholisch. "Ich habe keine Wahl. Adrans Schergen lassen jeden verschwinden, der zu viel weiß. Egal, ob einer unschuldig hineingeraten ist, so wie ich, oder nicht. Am Ende sieht dann immer das Opfer wie der Bösewicht aus. Sei auf der Hut. Du bist adelig, der künftige Baron von Schlotz vielleicht, und dadurch ein wenig geschützt. Aber nicht immer und überall. Horasier sind überaus geschickte Meuchler, Giftmischer und Rufmörder. Ebenso wie ihre Freunde in der Schwarzen Sichel”.

Dem Baronet von Schlotz fröstelte. Er merkte, dass er nur ein Schlafgewand trug und barfuß war. Die Kälte war wie ein Alptraum und sog ihm regelrecht die Wärme aus dem schlotternden Körper.

"W-wer bist du?"

"Mein Name ist Gilbert, aber das ist nicht so wichtig. Meine Mutter war Dienstmagd deines Herrn Barons, mein Vater ist früh gestorben. Mutter war hübsch, weißt du. Aber auch stolz. Zu hübsch und zu stolz für Seine Hochgeboren. Also hat er sie fortgejagt. Ach, was hat sie mir alles über die Schandtaten der beiden Oppsteins erzählt. Sie hätte sich schon beide Ohren zuhalten müssen, um nichts davon zu erfahren. Oben, auf der verfluchten Burg. Meine arme Mutter. Im Elend ist sie zugrunde gegangen, an den Bettelstab hat sie Adran gebracht."

Travian zitterte. Diese schauerliche Wald kam ihm vor wie das genaue Gegenteil von Travias Paradies. Die finsteren, verdrehten, knarrenden, seufzenden Bäume schienen zu wandern, sich zu verändern, unruhig zu seufzen wie ein Trauerchor. Überall waberte faulig stinkender Nebel.

 

"Die beiden Oppsteins?"

Gilbert knüpfte einen merkwürdigen Knoten in den Strick und kletterte dann auf einen Ast, wo er das Seil sorgfältig befestigte. Dann prüfte er den Halt mit einem kräftigen Rucken. 

"Gewiss. Redenhardt, dieses intrigante Scheusal, war keinen Deut besser als sein famoser Adoptivsohn. Sogar mit dem Verräter Gernot hat der alte Baron unter einer Decke gesteckt. Er wusste über alles Bescheid, lange vor dem Gemetzel auf Burg Friedstein, an den unschuldigen Gästen von Gernots Hochzeitsfeier. Macht, Macht, es ging Herrn Redenhardt immer nur um Macht, Ämter und Titel. Dafür hat er Meineide geschworen, Ehrenleute verleumdet. Als ihn der friedwanger Kanzler, Herdmund, erpressen wollte, mit Gernots Notizbuch, damit seine jüngere Schwester Ismena von Oppstein seinen niedergeborenen Sohn zur Frau nehmen würde. Da hat er Ismenas Gemahl Golo im Kerker von Burg Oppstein verschwinden lassen, das Gesicht verborgen unter einer Eisernen Maske. Golo war Gernots unschuldiger Sohn, der einfach zuviel wusste. So wie ich..."

 Gilbert seufzte und legte sich die Schlinge um den Hals.

"Hör auf, lass das. Es gibt immer einen Ausweg!" rief Travian und hob abwehrend die Hände.

"Natürlich gibt es einen Ausweg, ich beschreite ihn ja gerade. Adran ist einfach zu mächtig. Er wird mich beseitigen lassen, ebenso wie er es bei meiner armen Mutter getan hat. Nichts weiter als einen Knopf mit dem Oppsteiner Wappen hat sie mir vererben können. Und natürlich ihr Wissen. Sie hat Adrans Gemahlin gut gekannt. Thahira von Birkenbruch. Glaubst du, der Pfeil, der Thahiras Oheim getroffen hat, in der Schlacht, war Zufall? Nur durch Rimholds Tod wurde sie überhaupt Landvögtin von Zwerch. Aber unrecht Gut gedeiht nicht. Wie lange wurde die Baronin von Oppstein schon nicht mehr gesehen? Niemand weiß, was aus ihr geworden ist. Vermutlich schmachtet sie längst in einem verborgenen Kerker, wie der unglückliche Golo. Keiner hört ihre Schreie, jeder hält sie für verschollen. Stattdessen besudelt Adran nun jeden Tag aufs Neue den heiligen Traviabund, mit seinem Spielzeug Lares. Auf besonders selemitische Weise..."

Travian nickte aufgeregt. Die Tändelei zwischen dem Hochfelser und Adran war nun wirklich schwer zu übersehen. 

"Geh fort aus Oppstein, bevor dein Seelenheil Schaden nimmt! Niemand kann die unglückliche Thahira noch retten, sie wird elendig in ihrem Verlies zu Grunde gehen. Niemand kümmert sich mehr um ihr Geschick. Wenn sie Glück hat, wird sie bald schon vom gnädigen Wahnsinn erlöst. Lebe wohl, Travian. Du bist ein anständiger Mensch, das kann ich spüren. Mögen wir uns in einer besseren Welt wieder sehen..."

"Nein, tu das nicht!" Der Knappe schrie. "Das alles ist nur ein böser Traum, nicht wahr? Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sprichst? Adran hat seinen Schwiegervater ermordet? Die eigene Gemahlin verschwinden lassen? So verdorben ist nicht einmal er.”

"Beweise kann ich dir nicht geben, denn sie wurden alle beseitigt, ebenso wie die Mitwisser." Der bleiche Galgenvogel lächelte merkwürdig und sah Travian schief an. "Aber ich werde dir bald schon ein Zeichen schicken. Lebewohl, unglücklicher Knappe!"

Dann sprang Gilbert und flog geradewegs über das Nirgendmeer.

Travian ruckte keuchend hoch, mit schmerzendem Hals, und hielt sich den steifen Nacken. 

 

Adran von Oppstein

 

Die Nacht war heiß wie ein Backofen. In der stickigen Luft waberte Schwefeldampf. Unbarmherzig walzte sich der Schwarze Drache durch die Baronie. Seine Baronie. Arlopir, das Grauen von Schwarzenfels, magisch gebundener Knecht der Kriegsherrin Varena von Mersingen.

Drachweiler, eines der schönsten Dörfer der Oppsteiner Ländereien, brannte im niederhöllischen Feuer. Adran kroch in voller Rüstung über das Schlachtfeld. Blutverschmierter Stahl klirrte. Höhnisch starrten ihn zwei blutrote Augen an. Der dazugehörige Schatten war finsterer als jede Nacht. Ein Wesen, das er nicht kannte und für das er keinen Namen hatte, sah ihn schief an. Schief und anklagend.

Purpurne Finger wiesen auf den starren, leichenblassen Leib des Landvogts von Zwerch. Der Tod des Landvogts, das war doch eine ganze andere Geschichte gewesen? Die Oppsteiner Fehde hatte überhaupt nichts mit Varenas Feldzug in der Sichel zu tun. Vogt Rimhold von Birkenbruch war damals für seine Nichte Thahira in die Schlacht gezogen, Adrans jetzige Gemahlin. In die Schlacht um das Erbe von Oppstein, gegen Adrans Erzfeind Edorian. Der verirrte Bolzen hatte Rimhold genau an der Stelle zwischen den grünen Augen und den grauen Haaren getroffen. Erst jetzt merkte der Baron, dass er eine Armbrust in Händen hielt. Das sah nun wirklich verfänglich aus. Entsetzt ließ er die Waffe fallen, taumelte zurück. "Ich....ich habe nicht geschossen!" rief er mit hallender Stimme ins Leere. Der Schatten kicherte.

"Was soll nur aus der armen Thahira werden?" flüsterte er.

"Vermutlich die nächste Landvögtin von Zwerch". Der Oppsteiner lachte nervös. Erst jetzt bemerkte er die Hexen, die wie ein zerzauster Krähenschwarm über den Nachthimmel schwirrten, der erfüllt war vom widernatürlichen Rauch und dem Widerschein des Feuers. Statt eines Turnierhelms ragte plötzlich ein Hirschkopf zwischen seinen gepanzerten Schultern auf. Natürlich, der hämische grinsende Herold hatte den Helm heruntergestoßen. Nun war er nur noch ein brünstiges Tier. Luft, Luft, er bekam keine Luft. Verzweifelt versuchte Adran die Maske abzustreifen, aber es gelang ihm nicht. Seine Haare klebten daran fest, begannen sich immer mehr zu verwirren und zu verknoten. Arlopir kroch auf ihn zu. Nur noch wenige Herzschläge, dann würde der Feuerodem des Höhlendrachen den keuchenden Baron einhüllen und verbrennen.

Plötzlich stand Serwa neben ihm und nahm ihm den Hirschkopf ab. Sanft küsste ihm die Baronin von Friedwang auf die zitternden Lippen, mit ihren wallenden, blonden, nach Sommerwiese duftenden Haaren. Was für eine rahjabegnadete Frau! "Mein armer, stolzer, närrischer Adran… Du solltest nicht der Gehörnte sein. Sondern allein mein ungetreuer Gemahl. Sag, was ist aus unserem gemeinsamen Kind geworden? Dem Kultkind, wie es die Sichelhager nennen?"

Das lichterloh brennende Dorf wurde zu einem Hexenfeuer, die wilde Schlacht zu einem heiteren Fest. Selbst der Drache verwandelte sich in eine harmlose Eidechse, ringelte sich am Feuer zusammen und musterte ihn mit purpurn glühenden Augen.

"Ja, jetzt wo du es sagst. Da war mal etwas." Adran dachte angestrengt nach. "Wir waren die Hüter der Alten Kulte in der Schwarzen Sichel, nicht wahr? Bevor der Drache kam und alles zerstört hat. Das Wappentier unseres Hauses. Ausgerechnet ein Drache."

"Das ist lange her." Serwa verwandelte sich unvermittelt in Lares, der betreten auf den Blumenstrauß in seinen Händen starrte, mit einem blutigen Schnitt am Hals. "Wir müssen uns in allem vertrauen. Antworte mir, Geliebter. Hast du ein gemeinsames Kind mit Serwa? Was ist aus ihm geworden? Ist vielleicht Serwas Tochter Tsalinde die Auserwählte?"

"Tsalinde, die kam doch viel früher zur Welt. Ein halbes Jahr vor der Hexennacht und der Schlacht um Drachweiler." Adran kicherte erneuert, was auch an dem Rahjalieb lag, dass überall um das Feuer herum blühte, im sinnlichen Rot. Levthanstreu, Rote Rettung, Unschuld...das Kräutlein mit den gekräuselten Blättern hatte viele Namen. Es diente den Kundigen nicht nur zur Luststeigerung, als Rahjaicum, sondern gleichzeitig auch zur Empfängnisverhütung. Rahjalieb verband das Angenehme mit dem Nützlichen, sozusagen. Auch wenn die Traviagläubigen unkten, das Kaiserin Cellas "zweitliebstes Gewächs" zu Unfruchtbarkeit und Impotenz führte, bei übermäßiger Anwendung. Sicher nur ein Gerücht...Es war wie bei jedem Gewürz, auf die richtige Dosierung kam es an. Bei Serwa hatte die Menge gestimmt, damals, als er der Baronin ein wenig Rahjalieb in den Wein gestreut hatte. Die Liebesnacht war atemberaubend gewesen, aber das Kind, dass neun Monde später zur Welt gekommen war, konnte gar nicht von ihm sein. Es sei denn, Adran hatte versehentlich irgendein Unkraut anstelle von "Roter Rettung" verwendet.

"So ist das Kultkind also nur eine Legende der abergläubischen Bauern?" Lares begann wie eine Kuh am Blumenstrauß zu kauen, der zur Gänze aus prallrotem Rahjalieb bestand.

"Was weiß ich, was sich die Diener der Alten Kulte erzählen?" sagte Adran unwillig, und trank seinen Rotwein aus, der widerlich schmeckte, fast schon wie Jauche, Pisse oder Galle. Ein einzelnes gekräuseltes Blatt schwamm darin, das er missvergnügt herauszupfte.

"Was ist mit Praiodane, deiner Tochter mit Thahira?" Lares von Hochfels legte seinen Kopf schief, die Augen leuchteten rötlich. "Ist wenigstens sie deine Tochter?"

Der Baron von Oppstein schüttelte unwillig den Kopf, den, wie er jetzt merkte, zwei schwere, verdrehte Widderhörner zierten. Die fast so aussahen wie das Geburtsmal auf der Schulter Praiodane Answinia Eugenies von Birkenbruch, der künftigen Herrin der Baronie.

"So war Redenhardt also wirklich ihr leiblicher Vater?" 

Adran runzelte die Stirn. Irgendwie hatte er das Gefühl, gerade ausgehorcht zu werden. Die Widderhörner wuchsen immer weiter, ringelten sich um seinen nackten Oberkörper, bohrten sich in seine Brust.

"Das Mal könnte auch zwei Eidechslein zeigen", keuchte er. Die Hornspitzen wühlten sich schmerzhaft durch sein Fleisch. Adran schrie auf.

"Interessant..." zischte eine Stimme in seinem Ohr. "Dann ist womöglich Praiodane das geheimnisvolle Kultkind des Sichelhag." Wer hatte da gesprochen? Lares klang anders, nicht so herzlos, kalt und lauernd. "Wer hätte so etwas vom Rommilyser Stadtvogt gedacht?"

"Ich sage kein Wort mehr", maulte der Oppstein. Die blutverschmierten Hörner begannen sich zu allem Überfluss auch noch zu verknoten. Aus den Wunden wuchs Rahjalieb. "Hör auf damit. Lass das. Wer bist Du? Es sind nur zwei Eidechsen, da bin ich mir ganz sicher. Ein tsagefälliges Zeichen."

Der Kopf des Drachen, der gerade noch neben dem Feuer geschlummert hatte, friedlich wie eine Katze, ruckte hoch. Das Wort Eidechse schien ihn zu reizen. Wutschnaubend kroch das Ungetüm auf ihn zu, riss sein Maul auf, zeigte dolchgroße Zähne. Adran hob die Hand, die vom Saft des Rahjalieb verschmiert war, um sich vor dem alles vernichtenden Feuersturm zu schützen. Aber nichts dergleichen geschah. Das Maul des sechsbeinigen Drachen klappte auf und zu, auf und zu....auf und zu...als wäre es irgendeine seelenlose Apparatur aus der Werkstatt Leonardos des Mechanicus. Der Oppstein ahnte, was ihm die Rieseneidechse gleich abbeißen würde, zur Strafe für seine travialästerlichen Untaten. Adran bettelte, wimmerte und flehte, aber es half nichts. Oben auf der Tribüne stand der versammelte Adel der Rommilyser Mark, tobte, höhnte und schrie.

"Runter damit, runter mit der falschen Pracht des Hauses Oppstein! Setzt den Hurenbock auf die Turnierschranke, dann hat er wenigstens noch was zwischen den Beinen." Dröhnendes Gelächter. "Adran von Deppstein! Was für ein widerlicher Lustmolch! Schnapp, schnapp, schnapp, Arlopir, beiß es ihm ab!"

Das Untier schnappte zu, einmal, zweimal...dreimal...Ein blutverschmierter Helm rollte in die Nacht. Oder war es Edorians Hand, die er abgehackt hatte, um Lares zu retten? Lares, den der Thronräuber als Geißel genommen hatte, am Ende der Schlacht? Der Drache ragte jetzt über Adran auf wie ein Verhängnis. Dann biss sich Arlopir endgültig fest.

 

Schreiend fuhr Adran hoch. Es dauerte eine Weile, bis der Oppsteiner merkte, dass er in seinem Zelt lag, schweißgebadet neben einem kokelnden Feuerbecken. Die Bettstatt war vollkommen zerwühlt und der Platz an seiner Seite zu seiner Überraschung leer. Er fühlte sich müde, ausgelaugt und erschöpft. Immerhin, im Schritt war noch alles vorhanden, wie er erleichtert feststellte.

Seine nassen Haare, irgendetwas stimmte mit der Frisur nicht. Sie war völlig verstruppelt. Matt tastete der Baron hinein, und merkte, dass zwei Strähnen fein säuberlich verknotet waren, auf durchaus schmerzhafte Weise. Mit den Fingern versuchte er den Knoten zu entwirren, aber es gelang ihm nicht. 

 

Deggen von Baernfarn

 

Der endlose Heerwurm wälzte sich unaufhaltsam von der Ogerklamm herunter, nichts, nicht einmal die Festungsstadt Gallys selbst, würde ihn aufhalten können. Raul, sein Neffe Raul, der ihm auf den Artemathron nachgefolgt war, würde ein aussichtsloses Gefecht gegen die Heerscharen untoter Kreaturen kämpfen. Niemand würde ihm helfen. Noch nicht einmal er selbst, Deggen, der seine Familie so schändlich im Stich gelassen hatte. Dessen Hochmut, von einer vereinigten Grafschaft Schwarze Sichel zu träumen, ihn zur Persona non grata werden ließ, was ihm die Verbannung aus Darpatien eingebracht hatte. Dabei hätte er es wissen müssen, hätte auf seinen Oheim hören sollen, hätte sich mäßigen müssen. Er selbst hatte es verbockt, hatte dem viel zu jungen Raul die schwere Bürde der Herrschaft über Gallys aufgeladen und konnte ihm nun noch nicht einmal beistehen in der finsteren Stunde, in der eine schwarztobrische, unheilige Übermacht sich Artemas Berg näherte und nieder zu walzen drohte. 

Eine niederhöllische Gluthitze machte das Atmen zur Qual. Es war mit fast übermenschlichen Kraftanstrengungen verbunden, noch das Schwert zu heben, noch den Bogen zu spannen, noch die todbringenden Pfeile von der Stadtmauer auf die angreifenden Horden zu schießen. Ohnehin würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Verteidiger auf der Mauer unterliegen würden. 

Da öffnete sich das Tor der Stadt Gallys. Raul, Deggens Neffe Raul, ritt an der Spitze der Artemareiter durch das Warunker Tor hinaus, fuhr wie Rondras Blitz in die anstürmende Heerschar, den Belagerungsring zu durchbrechen. Rauls Schwert schlug nach rechts und nach links, mähte zahllose untote Feinde nieder, ließ Skelette zerbersten und Zombies zu einer unförmigen Fleischmasse zergehen. Allein, die Übermacht der Angreifer war zu groß. Ein Bolzen aus der Armbrust einer Söldnerin schlug Raul in den Rücken. 

Raul, dem er eine so schwere Last aufgebürdet hatte, und dem er in der Stunde ärgster Not nicht beistehen konnte, stürzte vom Pferd und wurde von der Masse anstürmender Skelette nieder getrampelt. Der Ausfall endete so schnell, wie er angefangen wurde. Auf einen Wink Tibor Krands, des Gardehauptmanns der Artemareiter, wurde der Rückzug angetreten, wurde der Schutz der Stadtmauern gesucht. Ein Schutz, der nicht mehr lange anhalten würde. Die Niederlage der Artemastadt war nur noch eine Frage von Tagen. 

Sein Bruder Veneficus leitete die Verteidigung weiter an. Seinen Bruder, den er in Gallys ebenso im Stich gelassen hatte wie seinen Neffen, wie dessen Frau und Witwe, Valyria. 

“Interessant.” vernahm Deggen eine unbekannte, tonlose Stimme. “Dann ist es also doch wahr. Der Rondrianer hat sich an die Witwe seines toten Neffen rangemacht. Weiß der Anhänger des gehörnten Levthan eigentlich, dass ein Rondrianer ihn gehörnt hat?” 

Natürlich wusste der das, durchfuhr Deggen der antwortende Gedanke. Valyria! Aber wie hatte er seinem Neffen das antun können? Hatte er sich von den Göttern versündigt mit dieser verbotenen Rahjatändelei? 

Warum fühlte er sich auf einmal ertappt? Wieso kamen ihm diese Gedanken? Das mit Valyria und ihm hatte doch erst Jahre später begonnen, diese verlorene Schlacht gegen den endlosen Heerwurm hatte doch nichts damit zu tun, was mit ihm und Valyria später geschehen war! Später, viel später, als Deggens Verbannung längst aufgehoben war und er seiner Familie von Gernatsquell aus dabei unterstütze, zurück nach Gallys zu gelangen. 

“Ist Brin eigentlich Dein Sohn oder der des Zwölfengrunders?” bohrte sich eine Frage tief in sein Gewissen. 

Gerbold von Zwölfengrund. Der zweite Gemahl Valyrias! Der loyale Gemahl, der gesucht und gefunden wurde, als sich zeigte, dass die Witwe Valyria guter Hoffnung war. Ein loyaler Gemahl gegenüber dem Hause Binsböckel und der Schwester der Vögtin von Schlotz gegenüber, der so dringend gebraucht wurde, um die Edle von Gernatsquell nicht zum Gespött der Traviafrömmler zu machen. Und der seinerseits von dem Ruf als traviagefälliger Ehemann profitierte, ging er doch insgeheim so manchen Liebschaften nach und war vor den alten Kulten längst verheiratet - weder standesgemäß noch zwölfgöttergefällig - mit einer Anhängerin Satuarias, was auch nicht offen bekannt werden durfte. 

“Warum hast du sie nicht selbst geheiratet?” bohrte die tonlose Stimme weiter. Deggen, an klare Antworten auf klare Fragen gewöhnt, kam nicht auf den Gedanken, eben diese vor der unheimlichen Stimme zu verschließen. 

Deggen hätte Valyria ja nicht selbst heiraten können, war er doch mit Irmena Darina von Oppstein verheiratet, der Schwester Baron Redenhardts… die er zwar schon seit einer schieren Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, und die ihrerseits mit dem Edlen von Weißentraut in einer Liebschaft verbunden war… Aber die Traviakirche hätte ihn niemals von seinem Ehegelöbnis entbunden. 

“Sieh an…. dann ist der Rondrianer gar nicht der echte Vater des Storko von Baernfarn…” bohrte die unheimliche Stimme nach. 

Deggen ging nicht weiter in seinen Gedanken dieser Frage nach. Zu sehr war er in Gedanken mit Valyria beschäftigt. Hatte er der Travia gefrevelt, mit seiner heimlichen Liebschaft mit der Gernatsquellerin? Oder überwog das rahjagefällige Opfer? Und warum quälten ihn diese Fragen? 

“Warum ist eigentlich seine Gemahlin, Redenhardts älteste Schwester, nicht ihrem Bruder auf den Oppsteiner Thron gefolgt, wenn dieser keine eigenen Kinder hatte? Dann würde ihre älteste Tochter Ismena bereits auf dem Oppsteiner Hof als Baroness residieren.”

Wieder eine bohrende, quälende Frage. Woher kamen diese Fragen? Warum beschäftigte ihn das so? Er hatte ohnehin keine Antwort. 

Urplötzlich schreckte Deggen hoch, als ein kalter Lufthauch durch das offene Fenster wehte. Das schweißverklebte, wirre, ergraute, schulterlange Haar des Rondrianers war völlig verfilzt. Offenbar hatte Deggen sich unruhig im Schlaf hin und her gewälzt. 

 

Geisterstunden

 

Gernatnebel

 

Hesindian lehnte sich im knarrenden Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete die Kerzen auf und neben dem Altar, von denen viele bereits herunter gebrannt waren. Die Luft roch nach Weihrauch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nachts in einem Praiosheiligtum auszuharren. Im Hinterhalt. Als Magier der Grauen Gilde. Aber genau das tat er gerade. Nicht einmal sein alter Feind Ucurian Lansborn hatte dagegen Einwände erhoben, ganz im Gegenteil. "Ihr werdet noch ein Weißmagier werden, und mit Praios Hilfe die Wahrheit erkennen", hatte der Luminifer allen Ernstes gesagt, und seine Hände zum Abendgebet gefaltet. Dann waren die Praioten hinaus marschiert und hatten das Heiligtum den Nachtwachen überlassen. 

Bishdarielon bereitete derweil sein "Feldbett", mit klirrendem, dunklen Kettenhemd, gleich neben einer der kokelnden Räucherschalen. Die beiden einfachen Büßer, ein Söldling und eine Soldfrau, hatten sich bereits scheu auf ihre Mäntel und Strohsäcke gesetzt. Sie blickten ehrfürchtig zum Landmeister der Golgariten, und furchtsam in Richtung des weißhaarigen Zauberers. Am meisten Respekt schienen sie vor Blitz und Donner zu haben, den großen Winhaller Wolfsjägern, die zu Füßen ihres Herren Bishdarielon kauerten. Alfhildr, die rothaarige Thorwalerin, hatte an einer Ecke die Verschnürung des Zelts etwas geöffnet und linste vorsichtig hinaus.

Durch die wirren Geräusche und das unruhige Lichterspiel ließ sich zumindest erahnen, was draußen gerade geschah. Auf dem Lagerplatz brannte ein großes Feuer, an der eine Lautenspielerin ihr Instrument zupfte und leise sang. Gelächter war zu hören, und Stimmengewirr. Irgendwo in der Nähe wurde Holz gehackt. Wenig später warf es irgendjemand in die Flammen, die funkensprühend in Richtung Nachthimmel loderten. In der Nähe schnaubte und stampfte eines der Turnierpferde.

Der Rabenritter sah zur Olporterin hinüber, die zum Hexenwagen gespäht hatte. Alfhildr schüttelte kaum merklich den Kopf. Draußen herrschte einfach noch viel zu viel Leben, um einen ernsthaften Zwischenfall zu erwarten. Leichte Abschiedsstimmung lag in der Luft. Morgen schon würde der bunte Festreigen zu Ende gehen.

“Wir müssen nicht alle zusammen Wache schieben”, verkündete Bishdarielon, der eine große Sanduhr in Händen hielt, mit fein gedrechseltem Rahmen. “Hesindian übernimmt die erste Wache, ich die zweite. Die Geisterwache. Alfhildr, du wärst dann bei der Hundewache dran. Ich glaube aber nicht, dass wir so lange warten müssen. Falls heute Nacht überhaupt etwas passiert.”

Der Golgarit stellte das klobige Zeitmessgerät auf den Altar. Feiner, roter Sand rieselte durch einen der Glaskolben nach unten, wenn auch nicht sehr viel. Bishdarielon wollte nur testen, wie schnell Satinavs Element in diesem Stundenglas verrann. Er schien sich immer noch nicht ganz sicher zu sein und tippte mit dem Finger dagegen.

“Müsste eine Stunde sein....seltsam, das die Sanduhr mit dem Praiosmal geschmückt ist.” Tatsächlich zierte die Oberseite eine prachtvolle Sonne mit zwölf wellenförmigen Strahlen.

Hesindian gähnte in die Hand. “Warum nicht? Zeitmessung ist nun mal das ureigenste Metier des Götterfürsten. Alles im Leben ist dem Lauf der Sonne unterworfen. ”

“Der Sand ist rot. Scheint aus der Wüste Gor zu sein.” Bishdarielon drehte sich um. Der Lichterglanz spiegelte sich in seinem vornehm blassen Gesicht. “Die Gor. Seltsam, wenn man gleichzeitig einen gefangenen Borbaradianer bewacht.”

"Wenn, dann einen Neo-Borbaradianer." Der Magier trat ans Guckloch. Der Käfigwagen war im Widerschein des Feuers deutlich zu sehen, Valpo kauerte als Schatten in einer Ecke. “Hab mal gehört, dass er in einer Pfanne gebrannt wird.”

“Der Verräterbüttel?”

"Der Sand. Wegen der Farbe.”

Bishdarielon blickte noch immer auf die glitzernden Körnchen, auf ihrem Weg in das untere Gefäß. “Bin nicht ganz sicher, ob das Ding nun eine Stunde anzeigt oder nur eine Dreiviertelstunde.”

Hesindian sah zum Altar. “Müsste eine Inquisitionsuhr sein. Die zeigen für gewöhnlich eine halbe Stunde an.” Bishdarielon, aber auch die übrigen Wachen, sahen fragend.

“Wegen der Dauer der Folter”, fügte der Magister unschuldig hinzu. “Muss ja alles seine Ordnung haben.”

“Mit Verlaub, hohe Herren”. Der Söldling, ein recht manierlich aussehender, braunhaariger Bursche mit Spitzbart und Lederkoller, meldete sich zu Wort.  “Die Stundengläser zeigen ein ganzes Wassermaß. Ist eine Bannstrahler-Uhr...”

“Eine Bannstrahleruhr”, sagte Bishdarielon, scheinbar vergnügt, während er von oben auf den Deckel klopfte. “Sehr praktisch. Das heißt, wir müssen nur noch warten, bis der Sand...zurückgerieselt ist...dann muss die Sanduhr bei jeder Wache zweimal umgedreht werden. Und dann noch einmal zur Hälfte durchlaufen. Zweieinhalb Stunden mal drei, das müsste bis zum Morgengrauen hinkommen.”

Hesindian sagte nichts. Fast schon bemitleidend sah er die beiden Wachen an, die ein wenig wie verkleidete Stadtbürger aussahen. Womöglich waren sie das auch. Der Krieg hatte so manchen Normalsterblichen alles verlieren lassen und ihm selbst ein Dasein als Korgeselle aufgezwungen. Der Blutige Schnitter erntete und säte zugleich. Das ewige Lied. Der Krieg ernährte den Krieg, solange, bis es selbst für den Rondrasohn nichts mehr zu fressen und verschlingen gab.

“Die kleine Uhr da soll eine ganze Stunde anzeigen?”

“War selbst dabei”, sagte der Mann leise, und drehte seine Sturmhaube in den Händen hin und her. “Glaubt mir, hoher Herr, sie zeigt die volle Stunde an.”

“Wie ist dein Name?”

“Ulmhart. Ulmhart Fronbauer.”

"Warum bist du ein Büßer? Für wen hast du früher gekämpft?”

“Fragt mich lieber, für wen ich nicht gekämpft habe. Außer für den götterlosen Abschaum im Osten natürlich. Answin war der letzte.” Der Spitzbärtige senkte schuldbewusst den Kopf. “Wie konnte ich nur auf diesen eitlen Verbrecher reinfallen. Diesen gewissenlosen Blender...”

Bishdarielon sah den Söldner merkwürdig an, drehte den Kopf mal hierhin, mal dorthin, sagte aber nichts.

Hesindian lächelte milde. Ulmhart sah dem Thronräuber auffallend ähnlich. Seine Abscheu klang ein wenig gespielt. “Verstehe. Wie heißt deine Waffengefährtin?”

“Radost” Die Soldfrau hatte selbst geantwortet. Ihre Stirn zierte eine markante, rosige Narbe. Auch ihr Plattenpanzer war ziemlich zerdellt. “Radost Borkenwald. War bei der Wehrheimer Garde, aber das ist verdammt lange her. Bin abgehauen...irgendwann hatte ich einfach die Schnauze voll. Wenn das Faß voll ist, läuft es über. Verzeiht, Herr. Bin nur ehrlich, wies uns der Herr Praios befiehlt.” Radosts Blick ging zu der Greifenstatue. 

“Angenehm, Radost. Mein Name ist Hesindian. Ich war schon immer ein Rohalsjünger.”

“Sehr wohl, Euer Edelgeboren. ”

“Wenn, dann müsste es Wohlgeboren heißen. Wir können Du sagen, denke ich. Schließlich sind wir hier auf Geisterjagd. Nicht bei einer Audienz.”

Die beiden Söldner blickten erstaunt, sagten aber nichts. Vermutlich hielten sie das Ganze für die Grille eines hohen Herren, dem schon vor Beginn seiner Wache langweilig geworden war.

“Ich heiße für Euch Bruder Bishdarielon” sagte der Rabenritter. “Hesindian hat Recht. Ihr werdet heute Nacht einen Einblick in die Welt der Geister erhalten. Vor Boron sind wir alle gleich. Die Spukgestalt, die wir mit seiner Hilfe über das Nirgendmeer schicken werden, weiß es nur noch nicht.”

Zumindest, was die Blässe anging, glichen die beiden Angesprochenen nun wirklich dem Herrn von Suunkdal. Auch wenn es eine furchtsame, keine vornehme Blässe war. Was haben wir damit zu schaffen, schienen ihre flackernden Augen fragen zu wollen.

“Kann ebenso gut sein, dass es Futter für eure Schwerter gibt, bei Swafnirs Flossen", sagte Alfhildr schnell.

“Ja”, sagte Bishdarielon. “Es stimmt. Wir wissen gar nicht so genau, mit was für einem Gegner wir es zu tun haben. Ob wirklich eine Kreatur aus der jenseitigen Welt erscheint. Aber ich verspreche Euch...sollten wir Erfolg haben, werde ich euch bei Ehrwürden Falkwart lobend erwähnen. Hauptsache, ihr haltet bis dahin den Kopf unten und die Füße still.”

Das “Fußvolk” nickte schicksalsergeben. Hesindian hatte das Gefühl, dass sie schon öfters mit “Kreaturen aus der jenseitigen Welt” zu tun gehabt hatten. Vermutlich waren sie gerade deswegen so furchtsam. Blitz hechelte treuherzig, Donner nagte an irgendeinem Knochen vom Festbankett.

Dass mit dem Kopf unten halten war ein guter Ratschlag, dachte Hesindian. Es brannten immer noch einige Lichter. Womöglich würde jedes Herumgehen im Zelt zu einem deutlich sichtbaren Schattenspiel führen, beim Blick von außen. “Zelttempel”, der Name war übertrieben. Mit dem Heiligen Zelt von Keft, in dem sich einst Rastullah selbst offenbart haben sollte, war der einfache Pavillon nicht zu vergleichen. Im Grunde stand hier nur ein Feldaltar unter einem Zeltdach. Vermutlich aus Bannstrahler-Beständen, dem schlichten Ordenszeichen auf einer der Kisten nach zu urteilen. Der doppel gerandete Schild war ins Holz eingebrannt worden, natürlich. Alles, was die “Geißler” taten, hatte irgendwie mit Brennen zu tun.

“Wie auch immer. Ist noch ein bisschen früh für die Nachtwache.” Bishdarielon winkte Hesindian zu sich heran. “Da draußen ist viel los. Ich würde mich gerne noch ein bisschen umschauen...Kommst Du mit?”

Hesindian nickte schicksalsergeben. Der Magier wollte das Zelt durch den Haupteingang verlassen, aber Bishdarielon hatte die Zeltwand an der Seite geöffnet und schlüpfte ins Freie, ins Dunkle. Der Magier folgte, und zog erst einmal bibbernd seinen Mantel um die Schultern.

So langsam wurde es draußen doch ruhiger, im Turnierlager, auch wenn immer wieder Gestalten zwischen den Zelten hin und her gingen. Hesindian sollte es recht sein, so würden sie zumindest nicht auffallen.

Hie und da brannten weitere, kleinere Lagerfeuer vor den Zelten, um die sich einzelne Menschentrauben gebildet hatten. Auch vom Dörfchen Gernatsborn und der Burg her war noch Licht zu sehen. Die Stimmung war eindeutig zwangloser als am gestrigen Tag.

Sie schlenderten ein wenig durch die engen Zeltgassen. Der Praiostempel leuchtete matt in Richtung Feuerplatz, aber in seinem Inneren waren keine Schatten auszumachen. Das war schon mal gut.

“Was hältst du von unserem Plan?” fragte Bishdarielon unvermittelt.

“Ich? Bin kein Rondrianer...warum fragst du nicht diesen Ulmhart, Radost oder Alfhildr?”

“Thorwaler hauen drauf, bis nur noch einer steht. Walwütige, bis keiner mehr steht. Wenn Alfhildr überhaupt eine Schildbeißerin ist. Was ich nicht recht glauben will. Die andern beiden... Ein ungetreuer Diener Answins und eine Fahnenflüchtige... ” Bishdarielon klang ein wenig verächtlich. "In der Wildermark haben sie den Praiossöldnern wenigstens eine weiße Schärpe umgebunden. Das da sind doch alles Lückenbüßer. Keine Büßer." 

"Der Blutzoll der Bannstrahler und Sonnenlegionäre war hoch...jetzt müssen sie eben nehmen, was sie kriegen können."

"Die Golgariten haben auch gelitten, glaub mir. Wäre manchesmal froh gewesen, einen Magier an der Seite zu haben...Statt vor mir..."

“Vielleicht sollten wir unsere Wachen an verschiedenen Orten positionieren? Damit wir von mehren Seiten zugreifen können?”

“Damit habe ich schlechte Erfahrungen gemacht”, sagte der Golgarit. “Jedenfalls bei Nacht. Sobald sich die Posten untereinander sehen, sieht sie auch der Feind. Wenn nicht, verpassen sie gerne mal ihren Einsatz. Oder nehmen sich gegenseitig unter Beschuss. Nein. Mir ist es lieber, wenn ich meine Streitmacht zusammen habe. Vor allem, wenn sie gerade mehr Angst als Boronsfurcht haben. Angst vor dem Nachtalp. Ausschwärmen lassen kann ich sie dann immer noch. ”

“Hm. Deine Hunde könnten ein Problem werden. Sicher, die Wolfsjäger warnen uns, mit ihren feinen Sinnen, wenn sich...jemand...oder etwas nähert. Dieser Jemand...oder dieses Etwas wird dann allerdings auch gewarnt.” Hesindian wich einer Wäscheleine aus, an der feuchte Umhänge und Mäntel zum Trocknen hingen. Irgendein Diener mit schiefem Federbarett leuchtete ihm mit der Laterne ins Gesicht. Als der Unbekannte den Golgaritenmeister sah, wich er mit einer hastigen Entschuldigung zwischen die Zelte aus.

“Blitz und Donner....ja, da hast du natürlich Recht. Kannst du in dem Altarzelt einen Zauber wirken? Ich meine, zur Not, falls es unbedingt nötig ist." Bishdarielon hatte seine Stimme gesenkt.

“Kann ich. Ucurian wird das aber überhaupt nicht gefallen.” Hesindian spähte hinüber zum Geweihtenzelt. “Der Altar ist geweiht, und die Statue natürlich. Ich spüre da irgendwie... eine Gegenkraft. Eine starke Gegenkraft. Aber das Zelt ist kein echter Tempel. Kein praiosheiliger Boden oder so. Ein Silentium müsste möglich sein. Ein Zauber, der vollkommene Stille schafft. Aber es dauert einen klitzekleinen Moment, bis das Sprüchlein wirkt. Wahrscheinlich einen klitzekleinen Moment zu lange.“

Bishdarielon nickte und steuerte wieder den Platz an. “Es stimmt leider. Wolfsjäger sind elende Kläffer, gerade bei Nacht. Gut zu gebrauchen, um einen Hof zu bewachen, das vielleicht...aber nicht in der Wildnis. Habe es selbst schon erlebt. Schlagen bei jeder Fledermaus an und bei jedem Rotpüschel. Wer weiß schon, wie sie da auf was Überderisches reagieren?“

Am Lagerfeuer herrschte mittlerweile eine gemütliche Stimmung, Humpen kreisten, Stockbrot wurde über die Flammen gehalten. Der Geruch nach Trollzacker lag in der Luft. Auch ein Bierfässchen war aufgebockt und angezapft worden. Ein Liebespärchen kuschelte, die Bardin zupfte noch immer ihre Laute. Leise wurde über die Ergebnisse des Turniers debattiert. Die beiden “Streifposten” beachtete kaum jemand, mit einer Ausnahme.

 

“Kss. Ksss.” Das kam von Gilbert, der noch immer in den Block geschlossen war. “He, edler Herr Magus...und werter Diener Golgaris. Könntet Ihr mal kurz...rüberkommen? ”

Die beiden Adeligen lenkten ihre Schritte, nicht allzu eilfertig, in Richtung des Gefangenen, der aussah wie ein Gaffkopf an einem vornehmen Rommilyser Bürgerhaus. Sein Gesicht heischte mit blutunterlaufenen, schweren Augen nach Mitleid, als er seine Hände in Richtung Besucher reckte.

“Ich bitte Euch, lasst mich raus, in Frau Travias Namen. So habt doch Erbarmen. Die Nacht ist kalt, ich friere wie ein Schneider...und zu Essen gab es heute auch noch nichts. Bis auf das da” Gilberte deutete mit dem Kopf auf einen Tonbecher und einen Napf mit Brei, der vor ihm auf dem Boden stand, nah und doch unerreichbar fern. Der Bursche zitterte tatsächlich am ganzen Körper. “Auf die Latrine müsste ich auch mal. Bitte, werte Herren...so langsam reichts...niemand hat mich heute des Diebstahls beschuldigt. Der gnädige Herr Praios allein weiß, warum ich hier die Weinbeergeiß spielen soll. Vor allen Leuten.”

“Du weißt es nur zu gut.” Bishdarielon lachte geringschätzig. “Hat dich Junker Storko schon zur Tracht Prügel verurteilt, die du verdienst? Schon deinem Gesicht nach?”

“Nein, Herr. Alle waren mit dem Turnier beschäftigt...und mit ihren eigenen Blessuren...Bitte, Herr, es ist wirklich bitterkalt.”

“Die Weinbeergeiß? Sei froh, dass sie dir nicht die Levthanslust bereitet haben.” Bishdarielon tastete nach dem Vorhängeschloss. “Kriegst du das auf, Hesindian? Ach, was solls...” Kurzentschlossen zückte der Edle von Senkenthal seinen Rabenschnabel. Zwei, drei gezielte Hiebe. Pläng! Päng! Das Schloss sprang funkensprühend entzwei. Der Schwarze Ritter hob den Holzblock an. Erst ungläubig, dann mit freudigem Rundumblick bemerkte der Halbstarke , dass er frei war. Ächzend rieb er sich den Nacken und die Handgelenke.

Die Runde am Lagerfeuer blickte nur kurz auf. Mit krummen Rücken ging Gilbert auf und ab, das Gesicht theatralisch verzerrt. Dann stürzte er sich auf den Becher und die Grütze. “Habt...habt Dank Herr”, nuschelte er unterwürfig.

“Bedanke dich nicht bei mir, sondern der Milden Marbo”, sagte der Golgarit leichthin und verstaute seinen Rabenschnabel wieder am Gürtel.

“Kann ich nun gehen?”

“Nicht ganz! Blitz, Donner!” Ein Pfiff. Wenige Augenblicke später eilten zwei dunkelgraue Schatten herbei. Gilbert schrie erschrocken auf, als ihn die “Kälber” hechelnd umtanzten. Eher freudig als aggressiv. Einer der beiden Hunde versuchte das völlig verstörte Streunerlein sogar abzulecken.

“Wenn du dir zur Freiheit noch ein ordentliches Frühstück verdienen willst, dann darfst du mit meinen Lieblingen Gassi gehen. Da drüben liegen Stricke. Nimm sie als Leinen. Sei unbesorgt, sie sind gutmütig wie die Lämmer. Üblicherweise. Es sei denn, du versuchst sie zu stehlen, oder behandelst sie sonstwie schlecht. Übernachten kannst du mit ihnen da drüben, in der Scheune...”

“Aber Herr, die sind ja riesig. Die werden mir niemals gehorchen.”

“Alles im Leben beruht auf dem Gleichgewicht von Geben und Nehmen.” Bishdarielon öffnete seine Gürteltasche und zog etwas heraus, was nach getrocknetem Fleisch und einem Schweineohr aussah.

Irritiert sah Hesindian, wie Gilbert sich mit einer Hand eine der Hundeleckereien in den eigenen Mund stopfte, mit der anderen Hand seine neuen Freunde fütterte. Zuckerbrot und Peitsche...

“Habt Dank, Herr! Ihr seid überaus großzügig.”

“Lass es dir eine Lehre sein!” sagte Bishdarielon knapp und setzte seinen Rundgang fort. “Falls du Dummheiten machst, werden dich Blitz und Donner zerfetzen.”

 

Mit gehobenen Augenbrauen folgte Hesindian dem Erbvogt von Friedwang. Gewiss, Gilbert war nichts weiter als ein gemeiner Dieb. Vor allem aber war ein armer Kerl. Der endlose Krieg hatte genug von solchen Elendsgestalten und Gelegenheitsschurken hervorgebracht. So ganz gefiel es Hesindian nicht, wie der Senkenthaler den armen Schlucker “abzurichten” versuchte, als wäre er ein aufrecht gehender Hund. Aber der Magier kannte den hochgemuten Bishdarielon gut genug, um zu wissen, dass es keine Debatte geben würde.

“Was ist denn eigentlich eine Weinberggeiß?” fragte der Edle von Orweiler, mehr, um überhaupt etwas zu sagen. Irritiert zwinkerte er mit den Augen, als ihn graue Schwaden einhüllten. Erst dachte er, es wäre Rauch vom Lagerfeuer, aber es fühlte sich kühl und nass an. Tatsächlich, vom Gernat her wallte dichter, schwerer Nebel heran.

“Sieh an, es gibt Dinge, die nicht einmal unser Herr Magus weiß”. Bishdarielon blickte kurz hinüber zum Hexenwagen, aus dem Valpo herausstarrte, wie ein böses, lauerndes Raubtier, das an diesem Abend noch nichts zu fressen bekommen hatte.

“Was Levthanslust ist, das weiß ich.”

“In dem Fall wohl nicht. Wenn die Friedwangen einem Delinquenten die geile Levthanslust bereiten...nun, dann schließen sie ihm die Füße in den Block und bestreichen sie mit Salz. Anschließend lassen sie eine Ziege dran lecken. Sehr kitzlige Angelegenheit, bei meiner Seel. Auch Levthanslachen genannt. Eine Strafe, die gegenüber...tadelnswerten Frauen verhängt wird, oder bei allzu spöttischer Rede gegen die Obrigkeit. Also unsereins.”

“Ah so...hmja...Wenn die friedwanger Untertanen sonst schon nichts zu lachen haben.”

Bishdarielon blickte den Magier kurz, von der Seite her an. Dann ging er hinüber zum prasselnden, knisternden Feuer, um sich die Hände aufzuwärmen. Hesindian tat es ihm gleich.

“Und die Weinberggeiß?”

“Weinbeergeiß. Nicht Weinberggeiß. Nun, so nennt man es, wenn man einen hilflosen, hungrigen Gefangenen Speis und Trank vor die Nase stellt. Er sie aber nicht erreichen kann.”

“Schon ein wenig pervalisch.” Hesindian verzog das Gesicht, was nicht nur am Hitzeschwall und dem Funkenflug aus dem Feuer lag. Dankbar nahm er einen Bierhumpen entgegen, den ihm ein Bauernmädchen reichte, und stieß mit ihr an. Die hübsche Brünette lächelte beglückt und ziemlich angeheitert, wurde dann aber zu ihren Gefährten gerufen – vielleicht aus Scheu vor dem hohen Herren, vielleicht aus Furcht vor dem Magier. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Auch Bishdarielon hatte höflich Gerstensaft angeboten bekommen, aber ebenso freundlich wie bestimmt abgelehnt.

“Ja, ich mag sowas auch nicht. Die Quälerei wird manchmal auch Friedwanger Festmahl genannt...habe ich gehört. Eine Beleidigung für unsere Baronie steckt also auch mit drin. Als ob wir seit dem Krieg nur noch Hungerleider wären.”

“Wir nicht”, sagte Hesindian. Diesmal entging Bishdarielon sein Sarkasmus. Der Magier nahm einen kräftigen Schluck und prostete seiner Gönnerin zu, die ihn scheu anlächelte, leicht schwankend und mit glasigen Augen. Was sollte das jetzt werden? Liebelei am Lagerfeuer? Fand die Besucherin seine schneeweißen Haare interessant? Die Spenderin wich seinem Blick aus, murmelte etwas von Krugpfand und legte noch etwas Holz ins Feuer. Sie schien verwirrt über sich selbst zu sein. Vielleicht ergriff sie nun selbst wieder die alte Magierfurcht. Schade eigentlich. Nun, er war ohnehin liiert. Das Gernatsborner Bauernmädchen sah Janne sogar ein wenig ähnlich, in ihrer bunt bestickten Tracht. Mit dem Blumenkranz auf ihren wallenden Haaren wollte sie vermutlich der Markgräfin nacheifern. “Svantje” war mehr als nur beschwipst, aber auch nicht gerade sternhagelvoll. Ein hübsches Mädchen, deren Festtagstracht mit perainegefälligen Symbolen bestickt war: Ähren, Störche, Früchte...Nein, es half alles nichts. Hesindian war in festen Händen und “Gänsestechen” in der Rommilyser Mark ein gefährliches Spiel.

“Und wo steckt sie jetzt, die Weinbeergeiß?” fragte er, über den Bierkrug hinweg.

“Ach, die Geiß. Wieder mal so eine Sage über unser gehörntes Wappentier”. Bishdarielon winkte ab. “Für die einen zeigt das friedwanger Wappen ja bekanntlich den Ziegenkopf des Yalsicor. Für die anderen Levthan, den Widdergehörnten. Mir hat man als Kind gesagt, dass das Baroniewappen von Bastan Glimmerdieck erfunden worden ist. Der Stammahn unserer Familie und ihr erste Baron. Nun, Bastan soll Nordmärker gewesen sein, der beim großen Berggeschrei in unsere Gegend gekommen ist. Der berüchtigte Silberrausch gegen Ende der Rohalszeit...Vermutlich war er ein Müllersohn aus der Kyndocher Gegend. Wo es bis heute die Sage von der Weinbeergeiß gibt. Eine heilige Ziege aus dem Gefolge der Rahja, die dafür sorgt, dass die Weinstöcke reiche Frucht tragen. Bastan Glimmerdieck, der Bergwerksverwalter. Als ihn Kaiser Eslam zum Baron von Schratenwald ernannt hat, war er schon Edler vom Bockshorn und Geißenbach. Ein Edelmann ohne Land, aber mit einem schönen Titel. Und einem noch schöneren Wappen, das unserem Lehen erhalten geblieben ist. Egal ob Ziege, Steinbock oder Widder. Das arme Tier blickt seither vergebens zu den süßen Weintrauben der Rahja...” Bishdarielon seufzte und schien einen Moment in fernen Erinnerungen zu schwelgen.

“Ah. So langsam verstehe ich. Die weiße Rebe soll den großen Silberrausch symbolisieren?!” Hesindian schnippte mit den Fingern und erntete leicht beunruhigte Blicke, ob der vermeintlichen Zaubergeste. “Wieviele Leute haben seither versucht, den Weinbau in der Sichel zu kultivieren....weil sie ihn für etwas Urfriedwängisches gehalten haben. Schuld ist das Wappen?”

“Die Gießenborner Rahjageweihte, ja...” Bishdarielon blickte betrübt, während er ein glimmendes Aschestückchen von seinem weißen Mantel wischte. “Weinbau im Sichelhag, das konnte nicht gut gehen. Aber das ihr Tempel ein derart schreckliches Ende finden musste....”

“Nun, manche sagen, dass Lacertinus, der Diener des Lebens, den ersten Wein nach Friedwang gebracht hat.” Hesindian hätte beinahe Dein Vater gesagt, räusperte die Bemerkung aber weg. “In unseren Tagen, meine ich. Nach der Pilgerfahrt in den Silaser Eidechsengarten muss er ganz verzückt gewesen sein, von der horasischen Lebensart. Jedenfalls hat Tsalindes Hofkaplan einige Setzlinge mitgebracht, ich glaube, edelsten Biancese Sulvesia...aus dem Sikramtal. Bis heute gedeihen noch einige zähe Weinstöcke im Tempelgarten. Wo sich Smaragdeidechsen wohlfühlen, wächst auch der Zaberger Ewigleben..”

Bishdarielon runzelte kurz die Stirn. Dann winkte er ab: “Der Biancese Sulvesia wächst im Yaquirbruch...was du meinst, ist weißer Sikramtaler. Eine hervorragende Rebe, gewiss. Aber sowas kurz vor der Weinbaugrenze anzupflanzen, das ist Frevel. Es waren ja nicht nur die kalten Winter, die Marodeure oder die frierenden Bauern, die den Weinbau in Friedwang zerstört haben. Die Krähen haben ihn endgültig auf den Ork gebracht. Sie müssen in ganzen Schwärmen über die Rebstöcke hergefallen sein”.

“Der Dutlinger in Rappenfluhe soll einigermaßen genießbar sein. Auch wenn ich da meine Zweifel hege...Angeblich haben ja schon die Alhanier die Weinrebe in die Südsichel gebracht. Oder die Barnfarnis, die eher Trollberger waren. Womöglich waren es auch die Bosparanier. Ich meine, Schiefergestein speichert wirklich Wärme. Manche sprechen auch von heiligen Levthanskrügen, in denen Quellwasser in Wein verwandelt worden ist. Quellwasser und manches saures Tröpfchen. Während der Dunklen Zeiten soll Leuthanios über göttliche Macht verfügt haben. Der bocksbeinige Herr des Rausches und der Brunst”.

Hesindian merkte, wie sich seine Zunge immer mehr löste. “Das Gießenborner Wappen zeigt bis heute einen Krug...einen blauen Krug. Die Geschichte von der gestohlenen Quelle des Gießen gibt es ja auch noch. Die durch den Kobold Ziegenbart in einen magischen Krug gesperrt worden ist. Bevor die Gießenborner auf seinen Namen gekommen sind, und er vor Zorn das Gefäß zerschmettert hat. So dass der Gießen- oder Geißenbach jetzt einige Meilen nördlich, auf Oppsteiner Gebiet entspringt. Und nicht mehr beim Dorf.”

“Zweifelsfrei ein Missgeschick” Der Rabenritter schüttelte den Kopf. “Aber warum soll deswegen Wein von den Alhaniern angebaut worden sein? ”

“Nun, ich vermute, es waren die bosparanischen Legionäre, die ihnen die Winzerkunde gebracht haben. Von denen war eine ganze Kohorte im Castellum Barnfarnia stationiert. Dem späteren Nordenheim. Früher nach Belen-Horas benannt, dem Gründer der Rahjastadt Belhanka. Angeblich sollen die Trauben im Friedwanger Wappen bis auf diese Zeit zurückgehen. Wein war damals ein beliebtes Getränk und die Verehrung des Leuthanios beim Militär weit verbreitet. Der Centurio trug sogar einen Rebenstock als Amtszeichen, den Vitis. Einen Prügel aus dem Holz eines Weinstocks. Irgendwie sehe ich gerade eine Art Zapfenstreich vor mir, bei der ein wütender Hauptmann die Krüge seiner Soldaten zertrümmert.”

“Wahrlich, du hast ein hesindegefälliges Wissen. Vor allem aber eine blühende Phantasie.”

“Stimmt. Das habe ich mir ausgedacht. Laut Chronik sollen es die ersten Traviamissionare gewesen sein, die sämtliche Levthanskrüge in Scherben verwandelt haben. Am Übergang vom Alten in das Neue Reich. Die Geschichte vom wandernden Gießenborn wiederum... Nun, die Sage erinnert an den Gernat, der sich ursprünglich viel weiter nördlich, bei Barken und Auen durch die Lande geschlängelt haben soll” Hesindian blickte auf den nebligen Fluss. “Aber durch einen Feenfluch, manche sagen auch  Efferdsfluch, nun in Schlotz entspringt.”

“Die Traviadiener haben wahrlich gut daran getan, einen derart faulen Zauber zu beenden.” Bishdarielon wandte sich wieder in Richtung Altarzelt. “Wein in der Schwarzen Sichel? Bei meiner Seel. Da kann man genauso gut Ananas auf Yetiland anbauen...”

“Anawas?”

“Eine leckere Frucht aus dem Südmeer. Ist honigsüß und sehr saftig. Die Scheiben sind ein beliebtes Naschwerk bei reichen Al´Anfanern.”

 

Hesindian trank aus und schaute sich um. Er wollte dem Bauermädchen den Humpen in die Hand drücken, von wegen Krugpfand. Aber da war niemand mehr. Spätestens mit ihrer Fachsimpelei über erlesenen aventurischen Wein hatten sie die letzten Nachtschwärmer vergrault. Späten Zechern war das Thema vermutlich ähnlich unangenehm wie das gebrochene Rad mit schwarzen Schwingen auf Bishdarielons Mantel. Oder das Gildensiegel in Hesindians Handfläche. Vielleicht war es auch einfach nur der dichter werdende Nebel, der die ausdauerndsten “Feierbiestinger” in ihre Zelte trieb.

Verdammt, das Bier war ganz schon kräftig gewesen. Er hätte es nicht in einem Zug herunterstürzen dürfen, kurz vor seiner Nachtwache. Hesindian taumelte. Der Magier stutzte kurz, als er etwas Rundliches unter seinem Schuh spürte. Er beugte sich danach, und hielt ein kleines, zapfenförmiges Etwas in der Hand. Ein kegelförmiges Stück Holz mit Rillen, in denen nun, nach dem Tritt, etwas Erde klebte.

“Ein Peitschenkreisel”. Bishdarielon schaute belustigt auf das Fundstück, und ein wenig besorgt auf Hesindian. “Ein paar Kinder haben das heute gespielt...”

Hesindian nickte. Bei dem Spiel ging es darum, kleine Holzkreisel mit der Peitsche über eine Ziellinie zu treiben. Der Magier wunderte sich über sich selbst. Sie rechneten mit dem Angriff eines grausamen Nachtalps, und er sammelte hier leicht angetrunken Kinderspielzeug auf. Kopfschüttelnd steckte er den kleinen Zapfen ein. Wenn er morgen die Kinder sah, würde er ihnen den Kreisel zurückgeben...den guten Onkel spielen. Vielleicht wuchs da ja gerade eine Generation heran, für die Magier keine Aussätzigen mehr waren. Keine Praiosverfluchten, die an einer Art unsichtbaren, aber ansteckenden Seelenfäule litten.

Der Nebel wurde immer dichter. Wenige Herzschläge später standen sie bereits in einer einzigen, großen Waschküche. Hesindian sollte es Recht sein, so konnten sie ungesehen in das Praioszelt schlüpfen. Wie sie in dieser Milchsuppe den Käfigwagen im Auge behalten wollten, war allerdings eine andere Frage.

Bishdarielon schien seinen Gedanken erraten zu haben. “Durch den Nebel sehen wir einen wandernden Schatten vielleicht sogar besser.”

Sie traten wieder gebückt ins Zelt, durch den “Hintereingang”. Die drei Büßer hatten sich gerade leise unterhalten und verstummten nun wieder. Radost  hustete nervös. 

“Alles ruhig. Wir bekommen aber dichten Nebel. Besser als Selemische Finsternis. Habt keine Furcht, Boron ist auf unserer Seite.”

Der Rabenritter zeichnete einen Segen über die Wachen, in Form von Bishdariels Schwingen. Bis auf Alfhildr schien das die Büßer nur unwesentlich aufzumuntern. Der Senkenthaler drehte die Sanduhr um, legte sich auf den eigenen Strohsack und zog sich seinen schneeweißen Mantel als Decke über dem Kopf. Sein Schwert legte er in Griffweite neben sich, ebenso den Rabenschnabel. “Zweieinhalb Stundengläser” sagte er, drehte sich um und deckte sich zu. Alfhildr grinste nur in Hesindians Richtung und machte sich dann ebenfalls lang.

Der Magier staunte. Er hatte Bishdarielon die ganze Zeit für arrogant gehalten. Aber nun schlief der Landmeister des Golgaritenordens hier neben Gemeinen, als gäbe es nichts Selbstverständliches auf der Welt. Die Boronsritter waren im Grunde ihres Herzens Soldaten. Vor, im und nach dem Kampf zählte für sie nur die Gemeinschaft? Im Schlaf waren für sie vermutlich alle Menschen gleich.

Hesindian linste nach draußen. Der Käfigwagen hatte sich in einen dunkelgrauen Schemen verwandelt, war aber noch einigermaßen sichtbar.

Der Magier schlenderte zum Altar und zündete noch ein paar weitere kleine Kerzen an, deren Docht er zuvor zurechtgeschnitten hatte. Das Gute an ihrem “Versteck” war, dass Licht ausdrücklich erlaubt war. Dann zog er den Kreisel aus der Tasche und stellte ihn auf den abgedeckten Feldaltar. Der rote Sand der Gor lief durch das Stundenglas. Mit zarten Fingern brachte Hesindian das Holzspielzeug zum Rotieren. Als Kind hatte er nie Kreiselpeitschen gespielt...wenn, dann hatte er den Kreisel ohne Peitsche angetrieben. Das Kegelchen schwirrte um die eigene Achse, wie eine Tänzerin, und kippte nach einer Weile einfach um. Warum hatte er das Ding nochmal aufgehoben und mitgenommen? Egal. Der Magus zuckte mit den Schultern, verneigte sich knapp vor dem Greifen und nahm dann auf dem Stuhl Platz, den Zauberstab wie eine Waffe über die Knie gelegt. Alrik wusste bescheid, was er hier tat. Aber sein barönlicher Freund wollte lieber nicht zuviel wissen. Wenn es um Praios ging, wurde der Freiherr von Friedwang schnell nervös. Ein wenig schien es den Streunerbaron auch zu beunruhigen, was Valpo in Rommilys so alles ausplaudern würde.

Der Sand lief und lief.

Hesindian war es einfach nicht mehr gewohnt, Wache zu halten. Der Stuhl war unbequem für langes Sitzen und sollte es wohl auch sein. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem leisen Schnarchen seiner Schicksalsgefährten. Das heißt, eigentlich konnte er nur von Alfhildr und Bisch wirklich mit Sicherheit sagen, dass sie schnarchten. Womöglich bekamen Radost und Ulmhart gerade vor Angst keine Augen zu. Vermutlich war es bei einem Nachtalp auch ratsam, nicht einzuschlafen.

Hesindian öffnete die Augen. Sein Blick ging wieder auf die Sanduhr. Ihr Staub rann geduldig durch die Engstelle zwischen den beiden Gläsern. Der Magier stand auf, blickte hinaus auf den Wagen. Der Nebel war nicht weniger geworden, aber Valpo saß noch immer hinter Gittern, eingehüllt in eine Decke.

Der Magier ging zum Altar, griff wieder zum Kreisel und ließ ihn drehen.

Er versuchte, auch mit seinem siebten Sinn, ins graue Nichts hinauszuhorchen, aber er fühlte keine Störung im Astralraum. Der Kreisel drehte sich und drehte sich.

Drehte sich in einem fort.

Hesindian hob die Augenbrauen. Wie konnte das sein? Der Kreisel schien sich aus irgendeinem Grund in ein Perpetuum Mobile verwandelt zu haben.

 

Hesindian merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Seine Gefährten schlummerten selig. War er selbst eingeschlafen, und nun in einem Traum gefangen? Sowas war nicht ungefährlich, im Kampf gegen eine Nachtalp...Sollte er sich zwicken?

Es dauerte eine Weile, bis sich der Kreisel unrund drehte und klackernd zur Seite kippte. Hesindian atmete erleichtert auf. Kein Traum...Mit Traummagie kannte er sich nur wenig aus. Er wusste nur soviel, dass diese Welt kaum weniger gefährlich war als das Feenreich oder, Hesinde bewahre, die Niederhöllen.

Nun begann es tatsächlich zu zwicken, wenn auch nur zwischen seinen Beinen. Der Druck wurde rasch größer. Der verdammte Bierhumpen.

Hesindian versuchte, den Drang zu ignorieren, was auch eine Zeitlang gelang. Immerhin würde er so wach bleiben. Unruhig ging er im Zelt auf und ab. Langsam wurde sein kleines Bedürfnis schmerzhaft. Der Sand rann quälend langsam dahin. Das erste Glas war noch nicht mal zur Hälfte durchgelaufen. Anderthalb weitere würden folgen.

Es half alles nichts, er musste nach draußen. Vielleicht war es ganz gut, einmal nach dem Rechten zu sehen. Hesindian nahm den bewährten Hinterausgang. Der Nebel war wirklich dicht, er sah kaum das Gildensiegel in seiner Hand. Wohin jetzt? Sich direkt am Praioszelt zu erleichtern, das wollte er nicht. Am besten, er würde sich in Richtung Gernat begeben.

Ein kurzer Blick zum Käfig. Der Schatten namens Valpo war noch immer vorhanden. Sehr gut. Also schnell in Richtung Schilf. Verdammt, Mäntel und Magierroben waren einfach nicht für eine “Opfergabe an Sumu” geschneidert. Er stellte seinen Zauberstab in die Luft. Wenig später durfte er sich plätschernd erleichtern. Ah, welche Wohltat. Gewohnheitsmäßig ging er ein paar Schritt flußaufwärts, tauchte seine Hände ins kalte, leicht brackige Wasser und wusch sie. Dann trocknete er sie mit ausgerupftem Gras. Er wollte schon wieder aufstehen (sein Stab schwebte noch immer am Schilf), als ihn ein Geräusch vom offenen Fluss her ablenkte. Ein schwer deutbares Geräusch, gefolgt von einem Platschen.

Geduckt huschte er zu seinem treuen Gefährten Nasrûlgin, nahm ihn an sich und ging hinter dem Schilf in Deckung.

Irgendwie war die ganze Situation unwirklich...wie in einem Traum. So ganz sicher war sich Hesindian nicht, ob er wirklich noch wach und bei Sinnen war. Oder vielleicht doch selig vor sich hinschlummerte. Der Kreisel hatte sich ein wenig zu ausdauernd gedreht. Warum war der Nebel so hell, obwohl es doch eigentlich finsterste Nacht sein musste? Andererseits stand das Madamal ziemlich gut sichtbar im Helm, was vielleicht den silbrigen Glanz erklärte. Irgendwie fühlte er sich beobachtet. Konnte es sein, dass er gerade schlief, und der Nachtalp in seine Träume eingedrungen war? Um ihn auszuforschen? Machte das überhaupt Sinn? Der Magier zwickte sich in den Arm. Nichts geschah.

Das merkwürdige Geräusch auf dem Gernat wiederholte sich nicht. Hesindian schüttelte unwillig den Kopf. Wer sollte sich da draußen schon nähern - Prinz Gerbald? Ein dumpfes Röhren ließ ihn erneut zusammenzucken. Ein röhrender Hirsch? War der nicht ein bisschen spät dran, Mitte Travia?

Leicht unsicher steuerte er die Nebelschwade an, hinter der er den Käfigwagen vermutete.

Ah, da vorne, das musste das Banner der Praioskirche sein. Was war denn das? Hesindian ging hinter einem Karren in Deckung. Tatsächlich herrschte am Hexenwagen mehr Bewegung, als er erwartet hatte. Valpo war gerade dabei, die Gitterstäbe auseinanderzubiegen, als wäre er der starke Mann der Gauklertruppe. Das Metall schien butterweich geworden zu sein, der Gefangene zog es auseinander wie eine Ziehharmonika. Hesindian verstand. Hartes schmelze, Weiches erstarre...Klassische Borbaradianerformel. Nun, damit hätte er rechnen müssen. Anderseits, die Knechte des Bethaniers zauberten mit ihrer eigenen Lebenskraft, und davon besaß Valpo sicher nicht mehr allzu viel. Eigentlich hätte ihn das viele praiosgesegnete Metall stören müssen. Tatsächlich klirrten an den Händen und Füßen immer noch schwere Ketten. Der “Starke Valpo” verwandelte sich jetzt in einen Schlangenmensch, und zwängte sich bedächtig durch die Lücke im Gitter.

Hesindian überlegte. Er konnte Alarm geben, einen Zauber auf den Ausbrecher sprechen, beides, oder aber...Kurz entschlossen murmelte er einen Visibili. Es war, als würde er sich im Nebel auflösen. Den Unsichtbarkeitszauber beherrschte er mittlerweile so gut, dass sich auch sein Gewand in ein Nichts verwandelte. Leider nicht der treue Stab, den er gegen ein Zelt lehnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die eigene Hand wirklich nicht mehr vor Augen zu sehen, und bei jeder Bewegung kleine Nebelwirbel zu verursachen.

Valpo plumpste nun den Hexenwagen hinunter ins Gras. Den Magier hatte er nicht entdeckt. Mißtrauisch spähte der “Böse Büttel” um sich, und stand mühsam auf. Wie es Hesindian erwartet hatte, musste sich der Flüchtling langsam bewegen, nicht nur wegen der Fesselung, sondern auch, um ein allzu lautes Klirren der Ketten zu vermeiden. Ungelenk wie ein “Kalter Alrik” aus der Warunkei kroch und krabbelte der Rübenscholler los. Hesindian folgte ihm auf dem Fuße. Interessant war es schon, herauszufinden, wohin sich Valpo nun wenden würde. Ob es womöglich Komplizen in der Nähe gab.

Nach kurzer Zeit wurde klar, wohin Valpo wollte: zu den Booten der Lichterprozession, die am “Bergwerkssee” an Land gezogen worden waren. Der Magier war fast ein wenig enttäuscht. Das sah nach einer eher ungeplanten Flucht aus. 

Im nächsten Moment stolperte er an einem der Zelte auch schon über ein Spannseil , und schlug der Länge nach hin. Auch das war ein altbekanntes Problem – wenn man sich selber nicht sah, wusste man auch nicht, wohin man gerade trat, erfahrener Magier hin oder her. Hesindian keuchte, als er hart in Sumus Armen landete. Valpo drehte sich erschrocken um. Im nächsten Moment stand ein Schatten neben dem Frevler und schlug zu. Hesindian begriff nicht sofort, was der Büttel da gerade abwehrte, mit der blitzschnell hochgerissenen Handkette. Metall klirrte, Funken sprühten.  Es war eine Art Streithacke, die sich in der Kette verhakte. Der Angreifer riss sein Opfer um. Valpo stürzte auf den Rücken. Bei den nächsten Attacken hatte er weniger Glück. Der nächste Hieb traf seinen Brustkorb, ein weiter Hieb seinen Kopf. Der “Meuchler” hob noch einmal die Waffe, die mit einem schwarzen Vogelkopf verziert war. Ein Rabenschnabel?

“Lass ihn in Ruhe” rief Hesindian und stürzte sich auf den Angreifer. Das heißt, er wollte sich auf den Angreifer stürzen, stolperte aber erneut, diesmal über einen Ast. Als er sich erneut aufrappelte, war der geheimnisvolle Unbekannte verschwunden. Die Waffe hatte er erschrocken fallen gelassen, zumindest lag sie vor Hesindian auf den Boden. Valpo war schwer getroffen worden, ein Hieb hatte ihm die Brust aufgerissen, der zweite Schlag das Gesicht zertrümmert. Das Gras war voller Blut, auch die Bootswand hinter ihm vollgespritzt. Hesindian fluchte. Eigentlich hätte er nun den Angreifer verfolgen müssen, aber der Borbaradianer schien seine Aufmerksamkeit weitaus nötiger zu haben. Hesindian legte ihm die unsichtbare Hand auf den Körper und sprach den Balsamsalabunde. Der Edle von Orweiler war so in den Heilzauber vertieft, dass er nur mit Verzögerung merkte, wie er wieder sichtbar wurde. Magische Kraft floss durch seine Fingerspitzen, ein Gefühl, dass er eigentlich über alles liebte: Leben spenden, heilen, zusammenfügen. In diesem Fall fühlte es sich merkwürdig an, wie bei einem Nekromanten, der einen Untoten erweckte. Er “rettete” Valpo  für nichts weiter als ein scharfes Verhör und die grausame Hinrichtung auf einem Scheiterhaufen. Dennoch, rein handwerklich durfte er mit seiner Kunst zufrieden sein. Die Bresche in Valpos Gesicht schloss sich wieder, ebenso die klaffende Wunde unter seinem Hals.

Puh, das war knapp gewesen. Keuchend sank Hesindian auf beide Knie, säuberte seine Hände und atmete schwer. Erst nach einigen Augenblicken realisierte er, dass er sich vielleicht nicht gar so sehr hätte verausgaben sollen. Valpos “Dank” kam prompt, in Form eines wütenden Hiebs mit der Kette.  Als Hesindian erwachte, hatte der putzmuntere Büttel ihm bereits die Handfessel um den Hals gelegt und drückte zu, kalt und grausam, ohne jede Gefühlsregung. Undank war eben der Welt Lohn...Der Magier zappelte hilflos, röchelte, griff nach den Kettengliedern. Alles war so absurd schnell gegangen. 

“Lass es einfach zu” flüsterte Valpo, der nach Kerker stank. “Gleich ist es vorbei, Tolpatsch.” Ein wenig schien der Büttel seinen Mord nun doch zu genießen. Hesindian hatte furchtbare Halsschmerzen. Luft...Luft...so ähnlich hatte sich also Alrik gefühlt. Der Magier keuchte. Die Nebel vor seinen Augen waren längst nicht mehr nur derischer Natur.

Im nächsten Moment schwirrte Nasrûlgin herbei, mit sorgfältigen Kurven um die Zelte herum. Hesindian konnte sich gar nicht erinnern, ihn gerufen zu haben. Vermutlich hatte er den Stab einfach nur herbeigewünscht. Der Magier fing seinen Zauberstab, und nutzte ihn als Querstange, mit der er beidhändig nach hinten schlug. Das harte Holz traf den Würger genau an die Stirn. Die eiserne Schlinge um Hesindians Kehle lockerte sich etwas. Irgendwie schaffte er es, seinen Kopf herauszuziehen. Überall tanzten Sternchen. Hesindian wankte hin und her. Er wollte um Hilfe schreien, und Alarm geben, aber aus seinem Mund drang nur ein heiseres Krächzen. Valpo hatte sich auch wieder aufgerappelt und die Stakstange eines der Schelche gepackt. Nun, einen Stockkampf gewährte Hesindian seinem Gegner nicht.

Mit metallischem Surren verwandelte sich Nasrûlgin in ein Flammenschwert. Blaues Feuer umwaberte die Klinge, die plötzlich vor Hesindian schwebte und mit jedem angedeuteten Hieb den Nebel zerteilte. Schon der erste Schlag zerteilte Valpos Waffe in rauchende Trümmer.

“Gib auf!” wollte Hesindian schreien, aber erneut brachte er nur ein mattes Röcheln zustande. Valpo warf die beiden Knüppel auf ihn und taumelte in Richtung Gernat. Der Magier zögerte einen Moment mit dem tödlichen Hieb. Valpo torkelte patschend in das Wasser, versank nach wenigen Schritt in den Fluten. Knallende Dampfexplosionen fauchten dort hoch, wo die Feuerklinge in die Wellen schlug. Das würde Valpo zwar nicht verletzten, aber vielleicht doch Verstärkung herbeirufen. Wo war der Mistkerl? Kurz entschlossen zog Hesindian seine Robe über den Kopf und stürzte sich ins "kühle Nass". Die firunische Kälte traf ihn selbst wie eine grausame Folter.

Unter seinem hektischen Tritt kollerten Steine. Wasser spritzte hoch. Nebelschwaden. Kälte. Wasser. Da vorne war Valpo, der tatsächlich zu schwimmen versuchte, trotz seiner steinschweren Fesselung. Hesindian packte ihn, wurde selbst nach unten gedrückt. Schluckte Wasser. Hustete. Grundberührung. Aufstehen. Eine Kette drosch auf ihn herab. Hesindian duckte sich weg, das Metall traf schwer und schmerzhaft seine Schulter. Der Magier konterte mit einem Fausthieb. Beide rangen miteinander, wie die Seeungeheuer. Valpo war kräftig, was Wunder bei dem großzügigen Balsam. Hesindian versuchte ihn an Land zu zerren, aber je mehr der Büttel wieder Boden unter den Füßen bekam, desto geschickter gelang es ihn, sich zu wehren. Irgendwann keuchte Hesindian erneut im Würgegriff, wurde erbarmungslos nach unten gepresst, landete mit dem Gesicht im Brackwasser. Dunkelheit. So sah also das Ende aus. Ersäuft beim großen Turnier zu Gernatsborn, während Dutzende Gäste selig in Hörweite schlummerten. Jämmerlich ertränkt wie eine Katze.

Im nächsten Moment glitt etwas Gewaltiges über ihn hinweg, rumpelnd und polternd. Der Griff ließ schlagartig nach. Hesindian stieß mit dem Kopf nach oben, schlug gegen etwas Hartes. Er tastete nach Holz, hielt sich japsend, keuchend, hustend und nach Luft ringend an einem Bootsrand fest.

Als würde Aflhildr einen albernischen oder nostrianischen Strand stürmen, stapfte sie durch das hüfthohe Wasser, die Skraja drohend erhoben. Sie packte den Büttel und hieb ihm ein paar Mal den Schaft der Axt gegen die Stirn. Dann zog sie ihn an Land. Hesindian taumelte schlotternd hinterher. Im Nebel tauchten weitere Schemen auf. Zwei Pfahlgardisten, die wohl Streife gegangen waren, nahmen Valpo mit gesenkten Hellebarden in Empfang. Das war beinahe unnötig. Der Büttel hatte für diese Nacht genug. Hesindian allerdings auch. Röchelnd sank er in den Schlamm. Alfhildr stellte ihn wieder auf die Beine, im Wortsinn. “Ein bisschen frisch, das Wetter, für ein nächtliches Bad” dröhnte sie vergnügt.

Erst nach und nach verstand Hesindian, was geschehen war. Alfhildr hatte den Schelch zu Wasser gelassen und ihn wie einen Rammbock gegen seinen Peiniger geschoben. Nun hatte die Thorwalerin auch ihm das Leben gerettet. Rothaarige brachten offenbar wirklich Glück. 

“Ich...ich danke dir...Weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll...”

“Schon gut!” Ein kräftiger Hieb auf die Schulter (genau dorthin, wo ihn die Kette getroffen hatte) ließ ihn beinahe erneut in die Knie ging. Die Thorwalerin schienen seinen Schmerz kaum zu bemerken. “Wenn du eine Tochter hast, darfst du sie gerne nach mir benennen. Alfhildr Hesindiansdotter, das klingt gut.”

“Ich g...g...glaub...ich m...muss ins W...Warme!” Hesindians Zähne klapperten. “Meine Füße sind nur noch Eisklumpen.”

“In Olport würden wir jetzt eine schöne, warme Robbe aufschneiden und dich reinstellen". Die Rothaarige lachte. Dampfwolken drangen aus ihrem Mund und vermischten sich mit dem Nebel. Das nordländische Wetter schien ihr zu gefallen.

“W..w...wo kommst du eigentlich her?”

“Das ist schnell erzählt, Zauberer. Ich bin aufgewacht, und habe gesehen, dass weder du noch der Ravnridder mehr im Zelt waren. Also wollte ich nachsehen...dann hab ich schon Kampflärm gehört...” Alfhildrs Augen leuchteten vor Begeisterung. “Leider war der kleine Holmgang viel zu schnell vorbei. Die beiden anderen müssten auch gleich da sein.”

Hesindian runzelte die Stirn und sah zum Rabenschnabel, der noch immer am Ufer lag. Bishdarielon war nicht im Zelt gewesen? Was dort lag, war eindeutig seine Waffe. Hatte er versucht, Valpo boronsgefällig zum Schweigen zu bringen? Der Gefangene wusste viel über den friedwanger Adel, das hatte er selbst gesagt. Zuviel?

Im nächsten Moment tauchte der Landmeister der Golgariten auch schon auf, einen dunklen Umhang in der Hand. “Was ist denn hier los?”

Alfhildr erstattete kurz Bericht.

Hesindian zog seine nassen Sachen aus, unter dem halb interessierten, halb spöttischen Blick der Thorwalerin, und zog seine Robe über. “Und wo warst du, Bruder Bishdarielon?” fragte er, vielleicht eine Spur zu misstrauisch.

“Das Gleiche könnte ich dich fragen, Herr Nachtwächter” Bishdarielon griff nach seinem Rabenschnabel und sah irritiert auf den blutigen Schnabel. “Warum bist du verschwunden? Und hast dabei auch noch den hier mitgenommen?”

“Ich?” Hesindian tanzte barfuß umher und versuchte wenigstens ein bisschen Leben in seine Glieder zu bekommen. Nun tauchten  die beiden Büßer im Nebel auf, Radost und Ulmhart. Sie schienen ziemlich verschlafen zu sein. 

“Ich bin aufgewacht, unser Wächter war weg und mein Rabenschnabel auch.” Bishdarielon putzte die Waffe ungerührt an Valpos Gewandung sauber. “Der Käfigwagen war ebenfalls leer...dafür lag der Mantel hier auf dem Boden.”

Der Magier schüttelte den Kopf, mit den nassen Haaren. Er tropfte, triefte und roch nach Flusswasser. Eigentlich wollte er nur noch ins Warme. Aber sein jäher Verdacht gegen Bishdarielon ließ ihm keine Ruhe. Golgariten hatten ein überaus entspanntes Verhältnis zum Sterben...ebenso wie zum Töten?! Zumal, wenn sie vorher in Al´Anfanischen Diensten gestanden hatten?

“Ist vermutlich der Mantel von der Wäscheleine dort drüben” sagte Bishdarielon. Täuschte Hesindian sich, oder schwang ein Hauch zuviel Rechtfertigung, ja, Unsicherheit, in der Stimme des stolzen Landmeisters mit? Ein wildfremder Mordbube hätte es nicht nötig gehabt, sich solcherart zu tarnen. Bishdarielon mit seiner markanten Gewandung schon. 

“Ulmhart, Radost...schaut nach, ob ihr noch eine Spur des Angreifers findet” sagte der Rabenritter, über seine Schulter hinweg. Tatsächlich trug er selbst keinen Umhang. “Hesindian, ich schlage vor, du gehst erstmal rüber in die Scheune, zu Gilbert. Das Heu ist warm, da kannst du dich abtrocknen und aufwärmen. Ich schau mal, dass ich in der Zwischenzeit ein Lagerfeuer anbekomme. Ihr beide” - das galt den Gardisten - “nehmt den Dreckskerl mit auf die Burg und verpasst ihm wieder einen Praioskragen. Aber gebt ihm vorher ebenfalls trockene Kleidung. Wäre schade, wenn ihn am Ende die Blaue Keuche erwischen würde.”

Fändest du das wirklich schade, dachte Hesindian. Im Moment war er völlig verwirrt. Bishdarielon zog seine Stiefel aus und warf sie dem Magier zu. “Zieh sie dir an...du holst dir sonst auch den Tod, bei meiner Seel´. “



 

Rübengeistern

“Aufgeschnittene Robbe...Heuhaufen...Das ist nichts für mich.” Hesindian schüttelte unwillig den Kopf, während er sich Bishdarielons trockene Stiefel anzog. Er war Magister höheren Grades. Hätte ihn dieser verfluchte Büttel nicht derart überrumpelt, würde er jetzt nicht dastehen und zittern wie ein begossenes horasisches Schoßhündchen.

Er ließ Nasrûlgin herbeifliegen und verwandelte ihn mit einem kurzen Gedankenbefehl wieder in ein blauleuchtendes Flammenschwert. Zufrieden sah er die erschrockenen Gesichter der Umstehenden – sie sollten ruhig merken, über welch arkane Macht er verfügte. Die Büßer wichen zurück, Radost schlug hastig das Praioszeichen.

Behutsam lenkte Hesindian die magische Klinge zu seinem Kopf und spürte einen angenehmen Hitzehauch. Es fühlte sich ein bisschen an wie der “Feenwind” im Sichelhag, ein warmer, wilder Fallwind. Der offenbar immer dann entstand, wenn der Gebelaus von Nordosten, von Tobrien und dem Perlenmeer her über das Gebirge strich. Dann herrschte meist ein beeindruckendes Wolkenspiel, das die Sichelhager den Luftgeistern zuschrieben. Ein Wind, der angeblich die Sinne trübte, mitunter Kopfschmerzen und schlechte Laune hervorrief.

Der Magier ließ die Klinge in knapp einem Spann Entfernung um sein Haar streichen und genoss den trockenen Gluthauch. Dann setzte er die Prozedur am übrigen Körper fort, den Rücken eingeschlossen. Hesindian schnurrte wie eine Katze am Kachelofen. Natürlich, ein Caldofrigo wäre der passendere Zauber gewesen. Aber die Kunst, einen Gegenstand magisch zu erhitzen, beherrschte er nicht allzu gut, abgesehen davon, dass er keinen passenden “Ofen” in der Nähe hatte.

Schließlich fühlte er sich trocken und ließ Nasrûlgin in die rechte Hand zurückkehren, wo er sich wieder in seinen vertrauten Stab verwandelte. Die Gernatsborner Wachen sowie Radost und Ulmhart hatte er schon einmal vertrieben. Zurückgeblieben waren Alfhildr, die ihn mit großen blauen Augen musterte, und Bishdarielon, der es offenbar schon bereute, seine Stiefel abgegeben zu haben, mit seinen feinen Strümpfen. “Im Friedwanger Zelt stehen noch zwei von meinen Reitstiefeln”, sagte er schnell. “Bin heute ein bisschen ausgeritten, mit Novadi. Da werde ich mich erstmal hinbegeben.”

Hesindian hob mit dem Zauberstab den Meuchlermantel auf, der auf den Boden gefallen war. Ein Allerweltsumhang mit Gugelkapuze, aus dunkelblauem, nicht schwarzem Stoff, wie er zunächst gedacht hatte. Die Wolle war nass, weswegen der Träger sie vermutlich nicht bei sich im Zelt aufgehängt hatte. 

Hesindian schnupperte kurz am Mantel, der, wenig überraschend, einfach nur nach nasser Wolle roch, und ein wenig verschmutzt war. Etwas anderes fiel ihm ein. “Hm...eigentlich müssten doch Blitz und Donner eine Spur aufnehmen können, oder?”

Bishdarielon sah nicht allzu begeistert aus. Hatte er Angst, dass die Fährtensuche schneller zu Ende sein würde, als ihm lieb sein konnte? Weil er der Wolf gewesen war, im Schafpelz, sozusagen?

“Na, ich weiß nicht...vermutlich führen uns die beiden geradewegs zum Besitzer der Mantels. Der irgendwo da hinten schläft. Nicht zum Meuchler. Es sind Jagdhunde, gewiss. Aber sie richten sich immer nach dem stärksten Geruch.”

“Einen Versuch wärs doch wert”, sagte Hesindian.

“Gut, bring die beiden hierher, und Gilbert”, sagte Bishdarielon. “Ich hol mir erstmal die Stiefel. Alfhildr, du begleitest die Pfahlgardisten zur Burg. Nicht, dass es noch einen weiteren Überfall gibt. Und unserem Valpo doch noch etwas zustößt.”

Die Thorwalerin blickte gerade in den Nebel. “Sollten wir nicht besser Ehrwürden Falkwart wecken? ”

Die Piratin, die aussah, als würde sie es allein mit der Besatzung einer Al´Anfaner Schivone aufnehmen, wirkte tatsächlich ein wenig unsicher. Sie schien zu glauben, dass gerade der Nachtalp höchstselbst zugeschlagen hatte. Nervös musterte sie den Mantel, der am Zauberstab wirklich aussah, als hätte Hesindian einen Heshtot zur Strecke gebracht. Dabei bedeutete ihr Name doch sogar Geisterkämpferin, wenn dem Magus gerade nicht seine Thorwalsch-Kenntnisse in Stich ließen.

“Nachtalpen tragen keine derischen Mäntel”, sagte Bishdarielon. “Und sie stehlen auch keine geweihten Rabenschnäbel.”

“Wer macht sowas dann?” sagte Hesindian.

“Das sollten wir herausfinden. Die Alptraumbringer verwandeln sich wieder in Menschen...wenn sie genügend Opfer ausgesaugt haben. Nicht wahr?”

“Du meinst...?”

“Ja. Womöglich haben wir es gerade mit dem wiedererstandenen Golo zu tun. Der hätte ein Motiv, den Verdacht...auf andere zu lenken.” 

“Interessante Theorie”, sagte Hesindian gedehnt. Der Landmeister schien nun endgültig gemerkt zu haben, dass ihm der Magier misstraute. “So schnell geht das allerdings nicht, mit der Wiederauferstehung...”

“Wie auch immer. Langsam bekomme ich kalte Füße.”

“Und schmutzige Socken?”

“Auch das.” Der Golgarit wandte sich steif in Richtung des Friedwanger Zelts.

Hesindian wandte sich der Scheune zu, die am Rande von Gernatsborn aufragte. Allerdings musste er sich ganz nach dem Gedächtnis orientieren, denn der Nebel wurde dichter und dichter. Zum Glück verfügte das Gebäude über einen markante Dachgaube, die wohl dazu diente, Heu einzulagern. Das Gebäude bestand teils aus Holz, teils aus Fachwerk, und war mit Stroh gedeckt.

Schließlich stand er vor dem großen Tor, das in die Tenne führte, und in das ein kleineres Brettertürchen eingelassen war, mit Schlupfloch für die Katze. Hesindian wollte schon einen sanften Flim Flam aufscheinen lassen, wie er es sich an feuergefährdeten Orten angewöhnt hatte. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Tenne bereits erleuchtet war, in einem flackernden, gelblich-arangefarbenen Licht.

 

Erstaunt trat der Magier ein und wunderte sich gleich noch mehr. Gilbert saß auf einer Truhe, herzte und knuddelte die beiden Wolfsjäger. Überall in der Scheune hatte er Rübenlichter aufgestellt, die aus dicken, runden Herbstkohlrüben geschnitzt waren. Offenbar waren sie von Kindern mit gespenstischen Fratzen geschmückt und hier abgestellt worden. Hesindians Blick wanderte zur eigentlichen Scheune, die sich neben der Tenne anschloss, und jetzt, im Traviamond, mit der eingebrachten Ernte gefüllt war – Körbe voller Kohl, Rüben, Äpfeln, Birnen, Getreidesäcke, und ähnliches mehr. Dazu gesellte sich jede Menge Stroh und Heu, das sich vor allem im Dachboden häufte, und in langen Strähnen herunterhing. Eine große Leiter führte hinauf. An den Wänden lehnten oder hingen Dreschflegel, Worfelkörbe und andere bäuerliche Gerätschaften, deren Zweck er auf den ersten Blick nicht verstand. Auf dem Boden knirschte Spreu, der sich wohl erst vor kurzem vom Korn getrennt hatte. Für jeden Perainejünger war das hier ein Prachtbau. Es roch zudem herrlich. Aber eigentlich war es ein Frevel, im "Allerheiligsten" eines jeden Bauern offenes Feuer zu entfachen. Mehr oder weniger offenes Feuer. 

Was Hesindian besonders irritierte, war das große Messer, das der Dieb in Händen hielt. Damit weidete er gerade ein pelziges, langschwänziges Etwas aus. Eine Ratte, oder zumindest eine große Maus. Auf dem Boden lagen die Überreste weiterer Nagetiere. Gilbert fütterte Blitz und Donner mit den Filetstückchen der kleinen Delikatessen, und lächelte Hesindian merkwürdig an. Hatte er am Block etwa den Verstand verloren? Irgendwie sah der Taugenichts auch ein wenig verrenkt aus, was nach ein paar Stunden “Krummschließen” aber nicht wirklich überraschte.

Im Moment schien er glücklich zu sein, ebenso wie seine Gefährten. “Feines Leckerle, gell? Noch ein bisschen Ratte? Noch ein feines Leckerchen?”

Hesindian ließ für einen Moment die merkwürdige Szene, eingehüllt in flackerndes Rübenlicht, auf sich wirken. “Rübengeistern” war ein Herbstbrauch, der von der Traviakirche nicht sonderlich gerne gesehen wurde, sich aber im Sichelhag immer mehr ausbreitete. Vor allem in Rübenscholl wurde er jedes Jahr nach der Ernte ausgiebig gefeiert, was Wunder ob des Dorfnamens. 

“Ich sehe, du hast es dir gemütlich gemacht” sagte Hesindian. “Mit deinen neuen Freunden. Hast du die Ratten alle selber gejagt?”

Gilbert deutete unbestimmt um sich: “Überall Rattenfallen...seht mal, hier.” Der Streuner hob ein hölzernes Etwas hoch, das wie eine Miniaturarmbrust aussah. Genauer gesagt eine kleine Doppelarmbrust. Gilbert demonstrierte die Funktion. Er klappte die Falle auf, spannte dabei den oberen Holzbogen mittels einer Sehne, und sicherte ihn mit dem Auslöser, in Form einer schmalen Holzstange. Mit der Messerspitze löste er die Schlagfalle aus. Patsch!

“Die armen Tiere”, sagte Gilbert. “Wäre schade, das gute Fleisch einfach umkommen zu lassen.”

Hesindian war sich nicht ganz sicher, ob der hungrige Strauchdieb am Ende nicht selbst “genascht” hatte.

“Ich weiß nicht, ob es Herrn Bishdarielon gefällt, wenn du seine Lieblinge mit irgendwelchen...namenlosen Kadavern fütterst. Wir bräuchten die Hunde mal. Gibt eine Fährte unten am Fluss.”

“Ist was passiert?”

“Nicht, dass es dich etwas angeht. Aber da du offenbar zum Hundeführer des Landmeisters aufgestiegen bist. Valpo hat versucht zu türmen und wurde angegriffen, im Nebel.”

“Von jemanden? Oder ...Etwas?” Gilbert bekam große Augen und wischte sich seine Hände am ohnehin schmuddeligen Wams sauber.

“Das wollen wir gerade herausfinden. Los, beeil dich. Unser Etwas hat schon einen ganz schönen Vorsprung. Und mach gefälligst die Festtagsbeleuchtung aus. Wenn die Scheune brennt, dann richtig.”

“Der Winter naht, gewiss” Gilbert nickte eifrig und kicherte, warum auch immer.

Hesindian sah sich bereits nach den beiden Führstricken um. Ah, da drüben lagen sie, zusammengerollt auf einem Haufen. Der Magier hob sie an, und erblickte ein kleines, reinweißes Säckchen. Als er mit dem Stab dagegen stieß, hörte er ein leises Klackern. Waren da Nüsse drin? Reflexartig griff er danach. Aus dem halb aufgeschnürten Beutelchen fiel ein honigfarbener Klumpen. Ein Bernstein?

Einen Moment lang erstarrte er in der Bewegung.

“Es ist seltsam”, hörte er Gilberts Stimme hinter sich. “Gerade die Sünder beherrscht man nie so richtig.”

"Ein Dieb, natürlich." Der Magier stellte sich wieder gerade, und wog das Säckchen in der linken Hand. “Bernstein aus dem Feldheiligtum...Es hat dir wohl nicht genügt, den  Rabenschnabel zu stehlen.”

“Seine Hand ist von alleine dorthin gewandert. Du musst wissen, dass ich sie niemals zwinge. Niemals so ganz.”

“Daran zweifele ich nicht.” Hesindian drehte sich langsam um. 

“Abgesehen davon, dass heiliger Bernstein wirklich wunderbar brennt.” Gilbert, der nicht mehr wie Gilbert klang, sondern greller, weibischer, lächelte irrsinnig, mit schiefem Hals. “Nicht nur in den Hallen eures erbärmlichen Götterfurzes...pardon, eures ehrwürdigen Götterfürsten. Nein, er brennt nicht nur dort.”

Der Dieb wandte sich wieder den Hunden zu, die immer noch begeistert hechelten und ihm die Hände leckten. Dann sah er nach oben. “Ach so. Du bist erstaunt, weil die beiden Wolfsjäger nicht winseln, oder jaulen? Weil sie die Gegenwart des Bösen spüren?” Der Mann, dessen Körper “Gilbert” genannt wurde, gluckste. “Genau das Gegenteil ist richtig. Tiere verstellen sich nicht. Sie ahnen, wer die Welt am Anfang aller Zeiten beherrscht hat. Wer Dere und Feste am Ende wieder unterwerfen wird. Mit ihren feinen Sinnen spüren sie es. Nur ihr, ihr müsst es wieder lernen. Was haben eure Pfaffen euch nicht alles erzählt...” 

“Golo von Oppstein-Glimmerdieck” sagte Hesindian. “Der Purpurne Junker. Wer sonst...Ich hätte mir den Dieb genauer ansehen müssen, als ich heute im Kerker war. Er wurde durch keine Praioskrause geschützt. Du hast Besitz von Gilbert ergriffen, nicht wahr? Schon im Verlies?”

“Neinneinein. Ganz so einfach ist es nicht. Der Fehler war, als ihr Gilbert in den Block geschlossen und Valpo gleich daneben eingesperrt habt.” Der Streuner griff erneut zur Rattenfalle und begutachtete sie von allen Seiten. “Ich meine, es war doch...dermaßen offensichtlich.” Ein blasiertes, stoßartiges Lachen. “Mit seinen Augen habe ich dann alles gesehen. Den Beweis, dass es ein Hinterhalt war. Wie gesagt, ich kann sie nicht zwingen. Er muss kurz eingenickt sein...und ich habe ihm einen Handel vorgeschlagen. Glaub mir, ich mag es nicht, wenn wahrhaft Berufene in Ketten gelegt und gemartert werden. Nur weil sich...Euresgleichen für Etwas Besseres hält. Das widerspricht fundamental meinem Glauben.”

Hesindian verstaute die Bernsteine in seiner Tasche. “Berufene? Oder meintest du Berufsverbrecher?” Der Magier überlegte, wie er die Sache beenden konnte. Zu einem kräftigen Fulminictus würde es noch reichen. Ein Ignifaxius war im Anbetracht der Umstände nicht zu empfehlen.

Sein Blick sprach offenbar Bände, denn “Gilbert” runzelte seine Stirn: “Du willst...Gilbert töten? Ernsthaft jetzt? Nur um...Golo auszutreiben? Warum habt ihr den armen Jungen überhaupt freigelassen? Seinen wirklich hübschen Körper, meine ich. ”

Hesindian trat auf den Besessenen zu. Sofort fletschten die Wolfsjäger ihre Zähne, knurrten und sträubten ihr Fell, als wären sie auf die Seite der Wölfe gewechselt. An den ekligen "Leckereien" lag ihr Verhalten nicht, soviel stand fest. Fast könnte man meinen, sie litten an Tollwut. Golo war kein gewöhnlicher Nachtalp, wenn es so etwas gab. Eher ein Dämon, der sicherlich irgendeinen Zauber auf die ansonsten so sanften Riesen gewirkt hatte. 

“Brav, Blitz, brav Donner. Bei mir...dürft ihr so sein...wie ihr wirklich seid. Eure wahre Natur zeigen, statt auf Eure eigenen Brüder und Schwestern gehetzt zu werden. Wolf-Jäger dürft ihr sein, statt geknechtete Wolfsjäger. Ein Befehl von mir, und sie werden dich packen. Sicherlich wird es dir gelingen, einen, vielleicht auch beide zu töten. Auch wenn du das dann irgendwie deinem Landmeister erklären musst. Frag Bishdarielon, ob es auch ein Paradies für seine Lieblinge gibt, auf der anderen Seite des Nirgendmeeres...”

Der Magier entspannte sich wieder etwas, rein körperlich. 

“So ists brav. Platz, meine Hübschen. Ich mag es, wenn ihr mir gehorcht.” Der Dieb lächelte sinister, mit starrem Blick. In seinen Augen waberte ein purpurner Glanz. "Ohne dass ich euch die Peitsche geben muss!" 

“Was willst du eigentlich...Golo? Deinesgleichen an Hunde verfüttern, die du sicherlich behext hast? Ratten aus Fallen kratzen?”

"Behext? Du klingst schon wie dieser Ucurian, der dich sicher bald zu einem praiosgefälligen Magier abrichten wird." Der Streuner grinste schief und verstaute das Messer am Gürtel. "Wuff, wuff, wuff. Sitz, Platz. Mach Männchen! Hol das Stöckchen, hol dein Zauberstäbchen. Spring drüber, sobald wir es dir hinhalten...Hauptsache, du bist gehorsam. Am Ende werden sie Magister Hesindian Silpho ya Phaitos dann nicht verbrennen....nur ausbrennen, mit einer wunderbaren Purgation. "

Gilbert fasste sich an den Kopf, wankte für einen Moment. Offenbar schienen zwei Seelen in seinem Körper miteinander zu kämpfen. Ein leises Wimmern, dann gewann Golo wieder die Oberhand.

"Sich beugen ist eine Ehre, sich beugen lassen eine Schande. Dieser Spruch der Praioskirche gefällt mir von allen am besten. Also, was willst du von uns - Schiefhals?"

“Du hast es also immer noch nicht verstanden.” Sein Gegenüber verzog das Gesicht zu einer übertriebenen Grimasse. “Es ist die Nacht der Rübengeister. Eine alter Heischebrauch....geh raus aus mir, geh raus, ich mach da nicht mehr mit....du tust mir weh, du tust mir weh..." Golo-Gilbert sprach jetzt mit zwei verschiedenen Stimmen. Die Augen rollten, als wolle er seine eigene Stirn betrachten. Ein wenig Schaum trat ihn auf die Lippen.

"Halt die Klappe, Gilbert. Wo war ich stehen geblieben? Das ist mein Körper, verschwinde. Du hast ihn....Hilfe....Hilfe...." Gilbert begann zu schreien, legte sich die Hand auf den Mund und brachte sich selbst zum Verstummen. Es war, als würde er buchstäblich mit sich selbst kämpfen. Jeder Außenstehende hätte den Halbstarken sofort für einen Wahnsinnigen gehalten. Einen Verrückten auf Rauschkraut.

"Das Bürschchen hat wirklich einen starken Willen. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, der alte Heischebrauch. Bei dem die Kinder von Haus zu Haus gehen und sich eine kleine Gabe erbitten dürfen, mit der Rübenlampe in der Hand.  Für sich und ihr Gespenst. Kein Angst, es ist wirklich nur eine Kleinigkeit, die ich von dir erheische.”

“Golo, du bist vollkommen geisteskrank.” Hesindian verzog den Mund. Die munteren Rübenlichter sahen nun wirklich aus wie ein irres Pandämonium, mit grausamen Schreckensfratzen. Golo war den Niederhöllen bereits näher als der Geisterwelt. Den Niederhöllen und der Sternenbresche. War das der Grund, warum sich der Kreisel so merkwürdig verhalten hatte, auf dem Altar des Praios? Weil der Nachtalp da bereits um das Zelt geschlichen war, in Gilberts Gestalt? 

“Nein, es ist Gilbert, der an meinem Geist krank ist. Ich bin die helle Kerze in seiner trüben Rübe.” Wieder ein nervöses Kichern, gefolgt von Gesichtszuckungen. Der Körper des Halbwüchsigen schien sich erneut gegen die Besessenheit wehren zu wollen. Diesmal erlahmte sein Widerstand schneller.“Ah...hrg...ah...Ich will euch doch nur helfen...”

“Helfen? Du hast den Rabenschnabel aus dem Zelt gestohlen, nicht wahr, und versucht, damit Valpo umzubringen. Warum? Weil er zu viel über deine Schandtaten weiß? Gleichzeitig wolltest du den Verdacht auf Bishdarielon lenken ?! Schlau, aber nicht schlau genug.”

“Immer diese eitle Selbstgerechtigkeit von euch Rechtgläubigen. Na, sagen wir, Mehr-Schlecht-als-Rechtgläubigen. Valpo weiß auch zuviel über eure Schandtaten. Nach allem was man so hört, hat er früher kein Hexenfest ausgelassen, in Friedwang und vor allem oben in Oppstein.  Da hört man so einiges, was nicht für die Ohren der braven Zwölfler bestimmt ist. Wir ziehen also wieder einmal an einem Strang. Das mit dem Rabenschnabel diente nur, sagen wir, zur Verdeutlichung. Unserer...wie soll ich es ausdrücken...Interessenüberschneidung. Glaub mir, Valpo wird Rommilys nicht lebend erreichen.“

Der falsche Gilbert kramte in seiner Tasche. “Wo habe ich es denn...nun, was ich sagen wollte. Im Moment sieht es so aus, als hätte Bishdarielon versucht, den Büttel zu erschlagen. Auf der Flucht beseitigt, bevor er plaudern kann. Ist es nicht so? Was werden die Büßerlein wohl nachher ihrem Herren berichten. Du scheinst nass geworden zu sein? Hat da jemand versucht, den armen Valpo zu ertränken? Als es mit dem Erschlagen nicht geklappt hat? Der friedwanger Hofmagier womöglich? Andererseits...heutzutage könnte sowas auch ein Angriff unter falscher Flagge gewesen sein. Wie man in Al´Anfa so schön sagt. Die Leute sind anspruchsvoller geworden. Verlangen nach dem passenden Sündenbock. Vor allem, wenn es Krieg geben soll. Schau mal, was ich vorhin in der Opferschale gefunden habe. Man glaubt es nicht.”

Golo-Gilbert zog ein kleines, münzenähnliches Etwas hervor und warf es Hesindian zu. Der Magier wollte die Scheibe auffangen, aber diese fiel auf den gestampften Lehmboden und rollte davon.

“Du...bist so ungeschickt, Hesindian.” Golo ließ sein Opfer schon wieder das bleiche Gesicht verziehen, als wäre es eine Bauchrednerpuppe.

“Was ist das?”

“Ein Knopf...mit Drachenhaupt und drei Ähren. Das Oppsteiner Wappen, um genau zu sein. Da scheint doch wirklich ein Gardist oder gar ein Edelmann in kleiner Münze gezahlt zu haben, beim Eintritt ins Tempelzelt. Soviel Geringschätzung eures Herrn Praios muss bestraft werden. Oder etwa nicht? Ich bin sicher, du wirst den Wappenknopf finden, Hesindian. Am besten, du lässt ihn dezent fallen, am Kampfplatz, neben dem Boot, wo sie bei Tageslicht alles absuchen werden. Mehr verlange ich von dir gar nicht...oft genügt ein einziger Tropfen, um das Fass überlaufen zu lassen. Es kommt nur darauf an, welches Faß.  Das habe ich jetzt aber schön gesagt. Schreibt das eigentlich jemand auf?” Der "Hundejunge" blickte  in der Scheune umher, als säße irgendwo, gut versteckt, ein Schreiber. 

“Du bist wirklich vollkommen wahnsinnig. Wie das Ungeheuer in der Sternenleere, zu dem zu betest. Was, wenn ich es nicht tue?”

Versonnen hob “Gilbert” eine der Rübenlampen auf und drehte sie in der Hand. “Hesindian, Hesindian. Hast du denn immer noch nicht gemerkt, was gespielt wird? Deine Herren, denen du gehorsamer bist als diese Köter hier es je sein werden. Sie planen den Machtwechsel in Oppstein. Zu ihren Gunsten. Er wird stattfinden, mit oder ohne deiner Hilfe. Natürlich ist so ein blinkendes Knöpfchen noch kein Beweis. Aber es könnte das entscheidende Gran auf der Waagschale der Macht sein.”

“In solche Dinge mische ich mich nicht ein. Schon gar nicht mit solchen Methoden.”

“Dann hättest du besser Akademiemagier werden soll, hinter verstaubten Folianten, in einer ruhigen, warmen, entrückten Studierstube. Was ist denn schon dabei, die Wahrheit, die ohnehin schon jeder weiß, noch ein wenig zu verdeutlichen? Du brauchst dazu nicht einmal zu lügen. Nur borongefällig zu schweigen. Der scharfsinnige Falkwart wird seine eigenen Schlüsse ziehen. Schon allein, weil er auf diese Weise einem Streit mit dem Golgaritenorden entgeht. Weil er Oppstein vom Unglauben säubern möchte und Macht über den dortigen Praiostempel gewinnen will. Am Ende geht es immer nur um Macht. ”

Golo hob die Rübenfratze noch etwas an, so dass sie nun wie eine goldene Maske seine Gesicht verdeckte. “Ich weiß, dass dich Skrupel planen, Magierlein. Wir alle haben unsere Schwächen. Das Haus Oppstein hat nie davor zurückgeschreckt, Beweise zu fälschen, um Titel anzuhäufen und seinen Gegnern zu schaden. Als sie mich damals in den Kerker geworfen haben, das Gesicht unter einer eisernen Schandmaske verborgen. Da haben sie ebenfalls falsche Spuren gelegt. Spuren, die zu den Baernfarns geführt haben. Diesmal führt die Spur zu ihnen. Oder bist du derart untreu gegenüber dem Hause Friedwang? Gegen Serwa und Alrik? Ich möchte wetten, dass es dir sogar völlig gleichgültig wäre, wenn diese Scheune hier niederbrennen würde. Mit der kostbaren Ernte, so kurz vor dem Winter...Die armen Menschen...”

“Was erzählst du da?” Hesindian überlegte, welchen Zauber er anwenden sollte, während ihn die Wolfsjäger noch immer anknurrten wie die Straßenköter. Ein Geister austreiben vielleicht? Aber der brauchte Zeit.

Wahnsinnig lächelnd warf der gekaperte Gilbert die Rübenlampe ins Stroh.

“Packt euch den Narren! ”

Mit wütendem Gebell, geifernd und schnappend stürzten sich Blitz und Donner auf den Magier.

“PARALYSIS STARR WIE STEIN!”

Die dunkelgrauen Rüden erstarrten mitten im Sprung und fielen erstarrt zu Boden. Im Stroh züngelten bereits die ersten, grellen Flammen. Hesindian erspähte einen leeren Strohsack, und schlug wie von Sinnen auf das prasselnde Feuer ein. Nach und nach erstickte er den Brand. Mit dem Zauberstab stocherte er die letzten Glutnester auseinander. Der Magier hustete, aber er hatte Glück. Das gelbrote Glimmen verwandelte sich in Asche und  Rauch. Wäre das Wetter weniger feucht gewesen, es wäre nicht ganz so glimpflich abgelaufen.

Aus der offenstehenden Tür drang Nebel herein. Der Nachtalp und sein gestohlener Leib waren verschwunden.

 

Nachtalp und Rabenmünder

Es war ziemlich dunkel im Friedwanger Zelt und das wärmende Feuer im nietenbeschlagenen Eisenkorb längst verloschen. Lediglich ein kleine Laterne hing am Stützpfahl des Zeltes, über dem Schild mit der Schlotzer Axt, und dunstete schummriges Licht aus. 

Bishadrielons Blick ging zum Rabenschnabel, der blutverklebt an einer Truhe lehnte. Kors dunkler Saft begann bereits zu gerinnen und zu verkrusten. Das Blut war eklig den Schaft des Reiterhammers heruntergeronnen, dem eisernen Beschlag entlang bis zum Handschutz. Vom Schlagdorn war ebenfalls Blut getropft, auf den mit Stroh bedeckten Grasboden.

Die friedwanger Waffenmagd, die das Zelt bewachte, hatte einen schönen Drückposten: Alborans wertvolle Gestechrüstung hing nicht mehr am Gestell, sondern befand sich gerade zum Ausbeulen beim Schmied. Der Büttelin war ein wenig langweilig geworden, also hatte sie sich die Zeit mit Schuhputzen vertrieben - und Bishdarielon in seine großen, schwarzen Reitstiefel geholfen, mit Hilfe eines Stiefelknechts. Perainikes Blick folgte den schwarzen Augen des Golgariten. Dann entdeckte sie die dunkelroten Flecken auf Bishdarielons Handrücken und Fingern. Die Spritzer mussten irgendwie von der Lederschlaufe am Griff dorthin gelangt sein. Auch am weißen Waffenrock waren rostrote Streifen zu sehen, wie eine Selbstbezichtigung.

Die Büttelin, die noch ein halbes Mädchen war, erschauerte. Sicherlich hatte sie im Leben nur wenige scharfe Waffengänge erlebt. Wenn überhaupt. Nun, Bishdarielon war einiges gewohnt. Sein treuer Hammer war öfters auf Untote herniedergefahren. In mürbe Zombieschädel, morsche Knochen, welkes Fleisch und Gekröse. Was ihn weitaus mehr irritierte, war, dass der Mann, der reichlich von seinem Blut hinterlassen hatte, auf widernatürliche Weise noch unter den Lebenden weilte. Ebenso, dass es wirklich so aussah, als habe er den Bösen Büttel als lästigen Mitwisser beseitigen wollen. Womöglich würde Perainike morgen schon als Zeugin gegen ihn aussagen.

Der Golgarit nahm etwas Stroh vom Zeltboden auf und säuberte sich die Hand. "Der Kerl lebt noch", brummte er. Dann genehmigte er sich erst einmal einen Schluck Wein und wartete auf Hesindian. 

Draußen hustete es.

Im nächsten Moment flackerte am Zelteingang ein gespenstisches rotes Licht auf, gefolgt von erneutem Husten. Verschüchtert wich die Steinbock-Gardistin zurück, als der Magier eintrat und einen Geruch nach Lagerfeuer verbreitete. Der Edle von Orweiler war ziemlich angesengt und rußverschmiert, ganz so, als habe er einen Tag lang an einem der Gernatsborner Kohlemeiler ausgeholfen.

“Jetzt bin ich trocken” sagte der Magister, über dessen Handfläche eine kleine orangefarbene Lichtkugel schwebte. Die Burgwächterin sah entsetzt auf das hereinschwebende Irrlicht. Der Magus ließ die magische Lampe elegant verlöschen und packte Nasrûlgin, seinen Stab, mit beiden Händen. Hesindian war froh, das Zelt überhaupt wieder gefunden zu haben. Sein Weg hatte ihn zunächst in den Wald geführt, dann auf einen Acker, an den "Sturmsee" und schließlich gegen einen der buntbemalten Gauklerwägen prallen lassen.

“Wo...sind Blitz und Donner?” fragte Bishdarielon, mit fast schon kindlicher Besorgnis in der Stimme, die so gar nicht zu dem stahlklirrenden Veteran passen wollte. Hesindian wusste, dass geborene Aristokraten sentimental werden konnten, wenn es um ihre Lieblingstiere ging. Womöglich lag diese Marotte daran, dass Hochadelige in ihrer Kindheit nicht eben mit Liebe und Zärtlichkeit verwöhnt wurden.  “Hesindian, was ist passiert?”

“Ich...nun ja..musste... einen, äh, Beruhigungszauber auf deine Hunde werfen. In der Scheune. Sei unbesorgt. Es ist ihnen nichts geschehen. Also fast nichts. Mir zum Glück aber auch nicht.” 

“Was soll das heißen. Fast nichts?” Bishdarielon sprang auf, halb erbost, halb erschrocken. “Wo sind sie? Wo ist dieser verfluchte Tagedieb Gilbert? Wenn er ihnen auch nur ein Haar gekrümmt hat....?!!!”

Hesindians Blick wanderte zu Perainike.

Der Golgarit verstand und warf der Büttelin nacheinander zwei Putzlappen zu. “Gehe sie zum Gernat und säubere den Rabenschnabel. Nicht im Fluss, sondern mit einem feuchten Tuch. Trockne sie ihn hernach gründlich ab. Wehe, wenn ich hernach einen einzigen Rostflecken entdecke...”

Auch wenn draußen eiskalte Nacht und dichtester Nebel herrschte, schien Perainike froh zu sein, das Zelt verlassen zu dürfen. Hastig entzündete sie eine Fackel, packte den Reiterhammer leicht angeekelt mit einem der Lappen und eilte nach draußen.

Der Magier schloss die Plane am Zelteingang und berichtete, was in der Gernatsborner Scheune geschehen war.

Bishdarielon hörte geduldig zu, nur ab und an unterbrach er den Magier mit einer kurzen Zwischenfrage. Der Edle von Orweiler hatte zwischendurch seinen Stab und den Feuerkorb mit einer Handbewegung entflammt. Nun wärmte er sich ein wenig an den knisternden Flammen.

Der Rabenritter nahm wieder auf dem fellgedeckten Stuhl Platz. “Also steckt tatsächlich Golo dahinter? Marbo steh uns bei gegen die bösen Geister! Was ist mit dem Knopf?”

“Leider habe ich ihn nicht mehr gefunden. Die Scheune war völlig verräuchert.”

“Hm. Golo mag völlig irrsinnig sein. Aber sein Wahn hat doch Methode, dünkt mir. Du solltest den Knopf also am Gernat platzieren. Um den Verdacht von mir auf das Haus Oppstein zu lenken? Ein wenig Zwietracht und Verwirrung könnte man damit sicher stiften.” Der Golgarit lächelte dünn. “Hättest du´s getan?”

“Natürlich nicht”, sagte Hesindian, vielleicht eine Spur zu schnell.

 

“So ist dir mein Schicksal völlig gleichgültig?” stichelte Bishdarielon.

 

“Ich könnte falsch liegen, aber...Die Sache mit dem Knopf. Ich habe im Nebel ein wenig nachgedacht. Ich mag mich irren, aber irgendwie wirkt das für mich wie eine Anspielung auf die Verschwörung von Gareth. Hast Du schon einmal vom Barden Odilbert gehört? Beim Großen Turnier des Jahres 997...oder war es 998? Nun, da hat er von einem Raben gesungen, der das Fuchsenkind töten will. Wenig später wurde er ermordet. Ein Wappenknopf in seiner Hand hat damals auf Kunibald von Ehrenstein hingedeutet, als Mitverschwörer. Damals, als sich Kronprinz Brin mit Prinzessin Emer verlobt hat – und Answin von Rabenmund diese Verbindung unbedingt verhindern wollte. Mit Gift.”

 "997 oder 998? Da haben wir doch alle noch in die Windeln gemacht." Bishdarielon hob die Augenbrauen. “Stimmt, da war mal etwas. Odilbert hieß der Minnesänger? Liebe Güte, wie lange ist die Geschichte nun wieder her. Mutter war der Meinung, dass das alles nur eine Intrige war. Um Answin zu kompromittieren, unseren geliebten Grafen. Den einzigen Mann, der das Reich noch hätte retten können. ”

“Und, hätte er das Reich retten können?” Hesindian legte noch einige Holzstücke ins Feuer. Als ein paar rot glimmende Bröckchen seitlich hinausfielen, trat er die Glut im Stroh sorgfältig aus. Einen Moment lang roch es brenzlig.

“Auch Adrans Eltern waren treue Gefolgsleute des Rabenmünders.” Bishdarielon goss etwas Wein in einen Becher und bot ihn Hesindian an, bevor er sich selbst einen Schluck genehmigte. “Ja, natürlich erinnere ich mich an die Verschwörung von Gareth. Das war ja der Grund, warum ich meine Knappschaft quasi in Arrest verbringen musste. Und schon damals schief angeschaut wurde: Alrik, der Page eines Giftmischers und Hochverräters. Onkel Henno war seinerzeit Haushofmeister auf Answins Burg...Keine Ahnung, wie genau ich mit ihm verwandt war. Er hat wohl dafür gesorgt, dass Answin mein Schwertvater wurde, auf Burg Rabenmund. Für uns Halbwüchsige war er weiterhin der Graf von Wehrheim, auch nach seiner Absetzung, da hatten wir nicht den geringsten Zweifel daran. Hab ihm einen Eid geschworen. Ein Versprechen, dass ich nicht brechen konnte. Ich meine, im Vergleich zu seinem Nachfolger Helme. Da war Answin gar nicht mal so schlecht. Als Graf, meine ich.”

“Gut möglich, dass Golo dich daran erinnern möchte. An deine Dienste für den Rabenkaiser. Daran, dass er eigentlich selbst Baron von Friedwang werden sollte. Dass ihn Redenhardt von Oppstein entmachtet und ihn wahrscheinlich in den Kerker geworfen hat. Auf widersinnige Weise ist Golo ein Moralist. Für ihn seid ihr die wahren Thronräuber und Sünder, die Strafe verdient haben. Die Oppsteins ebenso wie die heute herrschenden Friedwangs.”

Bishdarielon drehte den Becher in der Hand. “Vielleicht stimmt das sogar...ein klein wenig. Der Unterschied zu ihm ist, dass ich meine Buße angenommen habe. Statt mich mit den Mächten der Finsternis einzulassen”

Hesindian nickte, trank den Würzwein aus und stellte ihn auf ein Tischchen. “Ich werde sofort zu Ehrwürden Falkwart gehen und ihm alles berichten.”

Bishdarielon überlegte und schüttelte dann den Kopf.

“Gemach. Gemach. Es könnte auch eine Falle sein. Womöglich ist eine offenherzige Beichte genau das, was Golo von dir erwartet. Wir würden uns erst recht in ein schlechtes Licht rücken. Jeder Rufmord lebt davon, dass ein Verdacht zumindest glaubwürdig erscheint. Ucurian Lansborn gibt es auch noch, den wir nicht unterschätzen sollten. Ganz abgesehen davon, dass dir die Praiosdiener ersteinmal glauben mü....”

 

Ein klägliches Winseln von draußen lenkte Bishdarielon ab. Zwei große, graue Hunde schlichen geduckt ins Zelt, die eher wie geprügelte, völlig verängstigte Straßenköter, denn stolze Winhaller wirkten. Hesindian wich zurück, schließlich hatte er Blitz und Donner als wahre Bestien in Erinnerung. Aber sie schienen ihm ebenfalls zu misstrauen und erst einmal ihr Gleichgewicht wieder finden zu müssen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bishdarielon herzte und knuddelte seine Lieblinge, die nun doch nach und nach auftauten, ihrem Herrn das Gesicht leckten und freudig kläffend um seine Beine strichen. Im Zelt verbreitete sich ein strenger Geruch nach nassem Hund.

“Wie gehen wir dann vor?” Hesindian hustete erneut. “Da draußen herrscht ein Nebel wie in der Havener Unterstadt. Es macht wenig Sinn, Golo zu verfolgen. Deine Hunde scheinen auch wenig Lust auf eine Pirsch zu haben.”

Bishdarielon tätschelte erst Blitz, dann Donner die Flanken. “Irgendwo Büßer zu sehen?”

"Zu hören. Am Geweihtenzelt scheint es einige Aufregung zu geben. Sie bewachen jetzt die Pferde und die Boote, scheint mir. Zu Fuß wird Gilbert nicht weit kommen.”

 

“Ich denke, wir sollten uns ersteinmal zurück auf die Burg begeben. In diesem feuchten Brodem möchte ich nicht übernachten. Du würdest dir vermutlich das Fieber holen, nach deinem Bad im Gernat. Hm. Dort oben sind wir einstweilen vor Nachfragen sicher.”

Bishdarielon stand auf und gürtete sein Schwert um.

“Kommen wir überhaupt noch rein?” fragte Hesindian.

“Das Passwort ist Brennender Ortlieb. Kennt nicht jeder.” Der Rabenritter lächelte hochmütig. “Besser, wir schlafen erstmal drüber. Ich bin hundemüde, du sicher auch. Müde Männer machen Fehler.”

 

Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, schritten der Golgarit und der Magier durch das Turnierlager. Das eine oder andere Zelt war bereits eingelegt, es herrschte Aufbruchstimmung. Noch immer lagen mächtige Nebel über den Wäldern und dem Fluss selbst, aber am Morgen schien das Wetter ein wenig aufklaren zu wollen. Vermutlich würde es nicht den ganzen Tag so sonnig bleiben.

Der Golgarit war gut gelaunt und dachte versonnen an die gemeinsame Nacht mit Syri zurück. Seine Gemahlin hatte Laute von sich gegeben, die überaus sinnenfroh gewesen waren. Fast schon ein wenig unschicklich...Als Boronsdiener war er es gewohnt, seinen Pflichten schweigsam nachzukommen. Dennoch, so nahe wie auf Gernatsborn waren sie beide sich schon lange nicht mehr gewesen. Ein paar Kratzer hatte er ebenfalls davon getragen, von Syrenias Rabenkrallen. Das Liebesspiel war wie ein schöner Traum gewesen, und doch sinnliche Wirklichkeit. Genau so, wie er es mochte. Es war eine gute Idee gewesen, auf der Burg seiner Schwägerin zu übernachten.

Am “Festplatz” wurde bereits zusammengeräumt. Ein paar gefleckte Schweine liefen herum, auf der Suche nach Fressbarem, ebenso verirrte Hühner. Die Luft roch nach Mist – aber so roch es auf dem Land immer – und dem Rauch aus den Hütten und Koten der Bauern. Majestätisch ragte Burg Gernatsborn aus den dunkelhgrauen Nebeln auf, und erinnert mehr an ein entrücktes Feenschloss in der Anderwelt.

Der Block war bis auf einige wenige Balken verschwunden, der Rahmen eingelegt. Erst jetzt merkte Bishdarielon, dass dort ebenfalls heilige Zeichen eingeritzt gewesen waren. 

Der klobige Käfigwagen, mit seinen verbogenen Gittern, war schon wieder halb beladen. Gleichzeitig waren die Vorbereitungen für den Dankgottesdienst zur neunten Stunde im vollen Gange. Falkwarts Bedienstete hatten das Tempelzelt weit geöffnet und Stühle aufgestellt, so dass die Vornehmen nahe am Altar Platz finden konnten, wie in einem Chorgestühl. Das gemeine Volk hatte Gelegenheit, den Riten von außen zu folgen. Noch immer wehte die Kirchenfahne mit dem Allessehenden Auge über allem.

Das große Lagerfeuer brannte und qualmte tapfer gegen das nasse Herbstwetter an, umringt von einigen frühen Besuchern. Ein Knappe schleppte Gernatwasser herbei, mit dem Holzeimer. Im Kessel köchelte Tee oder irgendeine Frühstückssuppe. Luminifer Ucurian ließ gerade weitere Klappstühle ins große Zelt tragen, für die Honoratioren, ebenso einen auf Hochglanz polierten kleinen Stundengong.

Aus irgendeinem Grund schien er ebenfalls bestens gelaunt zu sein. Fast schon vergnügt musterte er die Neuankömmlinge. “Was ist denn mit Euch passiert, Herr Magister. Ihr seht ja aus, als wärt Ihr gerade noch vom Scheiterhaufen gesprungen? Im allerletzten Moment ?!”

Hesindian schniefte, nieste und presste sich ein Taschentuch vor die rote Triefnase. Tatsächlich war er verschnupft, in beiderlei Wortsinn. Der Rabenritter antwortete an seiner Statt. “Herr von Orweiler hat einen Scheunenbrand gelöscht – und das wahrlich im allerletzten Moment. Vermutlich wurde dadurch ein Großteil der Gernatsborner Ernte gerettet.”

“Ist das so?” Der Luminifer musterte den Magier und herrschte dann einen der Novizen an. “Die Stühle müssen in einer geraden Reihe stehen, Jarielon. Nicht durcheinander, wie Kraut und Rüben. Und warum ist das Stundenglas nicht umgedreht? Der Praiosdienst muss genau zur Perainestunde beginnen. Auf die Praiosuhr ist bei einem derart nebligen Wetter leider kein Verlass.”

Mit vor der Robe zusammengefalteten Händen wandte sich der Priester wieder den Besuchern zu. “Der Scheunenbrand, ja. Wir haben das angerichtete Unheil bereits gesehen. Ein einziger Alptraum. Ehrwürden Falkwart möchte Euch sprechen. Dringend.” Der Geweihte wies auf den halb geöffneten Altarraum.

Bishdarielon nickte kurz. “Lass mich reden” raunte er in Richtung Hesindian. “Ich bin der bessere Rethoniker von uns beiden.” Er zwinkerte den Magier aufmunternd zu. "Wenn du nicht lügen darfst, musst du alles von der Wahrheit weglassen, was dir gefährlich werden könnte."

Der Magier schneuzte sich lautstark. “Meine...Stimme ist sowieso...weg”, krächzte er. "Ich höre auch schlecht..."

“Gibts nicht einen Zauber gegen sowas?” fragte der Senkenthaler mitleidig.

“Ohne ein paar Kräutlein... hätte ich jetzt schon...die Blaue Keuche...”

 

Vor dem Zelt standen zwei Söldner Wache, in bunter, geschlitzter Landsknechtstracht, mit zerzausten Federbaretten und altertümlichen Plattenharnischen. Beide hielten zwei Hellebarden abgewinkelt, als würden sie gerade das Tor zur Stadt des Lichts hüten, und blickten mit grimmigen Gesichtern geradeaus. Falkwarts Geltungsdrang war beachtlich.

Bishdarielon musterte die “Büßer” kurz. Würden sie ihn gleich festnehmen, wegen versuchten Mordes? Nein, das wagten sie nicht. Das Mienenspiel des Rabenritters schien genau diese Botschaft zu vermitteln. Erst schluckte der eine Söldling, dann der andere.

“Boron zum Gruße!” sagte der Golgarit betont gelassen, ruckte sein Schwert zurecht und ging zwischen den Posten hindurch. Hesindian folgte ihm auf dem Fuße. Goldenes Licht bereitete ihnen einen freundlichen, warmherzigen Empfang. Auch wenn sie beide keine allzu eifrigen Praiosanhänger waren, merkten sie doch, wie sich ihre Seele hob.

Ehrwürden Falkwart stand am Altar und kürzte den Docht einer der Kerzen mit einer großen Schere. Kein Rußen und kein Qualmen sollte die Praiosandacht stören. Vor allem sollte die vergoldete kleine Greifenstatue nicht eingeräuchert werden. Außer natürlich durch den Weihrauch, der bereits aus Schalen aufstieg, und alveranischen Wohlgeruch verbreitete.

Als er Bishdarielon eintreten sah, beendete der Hohe Commisarius das Lichtputzen, legte die Dochtschere beiseite und drehte sich gemessen um. Beiläufig scheuchte er die Novizen aus dem Zelt, die gerade den Reisegong des Marktfriedwanger Tempels aufgestellt hatten.

“Praios und die übrigen Elfe zum Gruße!”

Bishdarielon nickte schweigend. Auch Hesindian verbeugte sich kurz vor dem Altar und lüpfte dabei seinen Magierhut.

“Ich habe gehört, Eure Geisterjagd gestern Nacht war überaus aufregend? Von besonderem Erfolg scheint sie ja nicht gekrönt worden zu sein. Nach allem, was mir meine Büßer erzählt haben. Nun würde ich gerne Eure Version hören.”

Der Rabenritter berichtete, rethonisch knapp, ohne überflüssige Worte. Vor allem erwähnte er nur das Nötigste zu Golos Gespräch mit Hesindian. Den Teil mit dem Wappenknopf ließ er vollkommen weg.

“Ein Nachtalp, der Besitz vom Corpus seiner Opfer ergreift? Vom ganzen Leib, nicht nur von seinen Träumen? Davon habe ich noch nie gehört.”

Falkwart ordnete einige getrocknete Sonnenblumen neu, die in einer Vase auf dem Altar standen. “Heißt es nicht, dass diese Spukgestalten allein an dem Ort erscheinen, an dem sie verstorben sind...? Golo scheint sich nicht einmal mehr an die Regeln zu halten, denen Totengeister unterworfen sind.”

“Golo ist kein gewöhnliches Gespenst. Falls es so etwas gibt. Was wissen wir schon von der Macht ruheloser Seelen, die mit dem Namenlosen selbst im Bunde sind?”

“Was weiß ich über die Gründe Eures Verhaltens?” Falkwart richtete die Blume auf, die in der Vase unschön zur Seite hing. “Aus welchem Grund genau habt Ihr diesen Gilbert befreit? Befreit und dabei auch noch unser schönes Strafinstrument beschädigt?”

“Nun, vor Gilbert stand ein Abendessen bereit. Dafür sollte jeder hungrige Mensch seine Hände frei haben.” Bishdarielons Stimme zitterte ein wenig. Mühsam rang er um boronsgefällige Gelassenheit. Tatsächlich hasste er jede Art unnötiger Marter, zumal wenn sie im Namen einer der zwölfgöttlichen Kirchen verübt wurde. Seit Al´Anfa verabscheute er Folter. Weil er selbst zur Genüge daran beteiligt gewesen war, als Häscher des Patriarchen. Die Abscheu stand ihm wohl erneut ins Gesicht geschrieben, denn Falkwarts Augen begannen zu blitzen.

 

“Ah, ich verstehe. Ihr dachtet, meine Wachen würden in diesem Fall unnötige Grausamkeit üben? Da habt Ihr etwas gehörig missverstanden. Die Verwahrung des Herumtreibers diente dazu, die Festgäste vor Diebstahl, Bettelei und sonstiger Belästigung zu schützen. Ebenso zur Abschreckung anderer Vagabunden. Gilbert wurde keinesfalls der peinlichen Befragung unterzogen, wenn Ihr das meint. Er hätte etwas zu Essen bekommen, sobald er seine Untaten gestanden hätte. Etwas zu Essen, ein warmes Schlafplätzchen im Kerker und ein paar wohlverdiente Rutenhiebe. Zur Läuterung seiner Seele.”

“Nun, viel zu stehlen oder zu gestehen gab es für ihn zu dieser späten Stunde nichts mehr. Ich muss mal schauen. Irgendwo habe ich noch ein Reserverschloss, für die Truhen. Wenn es das ist, was Euch verärgert, Ehrwürden.”

“Herr Landmeister, ich bitte Euch. Seid wann sind die Diener Borons zu Scherzen aufgelegt? Euer Rabenschnabel hat gestern Nacht weit mehr zerschlagen als nur ein Stück Eisen.”

“Wie ich bereits sagte. Es war Golo, der in Gilberts Leib geschlüpft ist, um Verwirrung zu stiften. Ebenso wollte er seinen Handlanger zum Schweigen bringen. Der Mordanschlag sollte dann wiederum mir in die Schuhe geschoben werden. Wenn auch auf äußerst fadenscheinige Weise.” Bishdarielon gab Hesindian ein Zeichen, der, wie besprochen, ein klackerndes Säckchen hervorzog.

“Diesen Beutel mit Bernstein konnte Herr von Orweiler sicherstellen, in der Scheune. Er wurde im Heiligtum gestohlen.”

Falkwart deutete mit wedelnder Handbewegung auf ein Kredenztischchen. Hesindian legte das Beutelchen ab. Der Geweihte, der sich bereits die Priestermütze aufgesetzt hatte, nahm die Bernsteine an sich, schüttete sie auf den Altar und zählte sie sorgfältig mit dem Finger durch. Dann nickte er anerkennend in Richtung des Magiers, wenn auch ein wenig über ihn hinweg.

“Niemand beschuldigt Euch hier irgendeines Verbrechens, Landmeister. Euer Ruf als Ehrenmann ist untadelig. Man kennt und schätzt Euch als Beschützer des wahren Glaubens. Was im Bürgerkrieg geschehen ist, in der Schlacht der drei Kaiser...nun, hier vertraue ich ganz auf das gerechte Urteil Eurer Ordensherren. Zumindest halte ich Euch nicht für derart dreist, einen Mordanschlag zu begehen und dann die Tatwaffe einfach liegen zu lassen. Bislang deutet für mich alles auf einen gewöhnlichen Diebstahl hin.”

“Ein gewöhnlicher Diebstahl? Bedenkt die Bosheit der Taten! Hier treibt eindeutig ein namenloser Nachtalp sein Unwesen.”

“Der sich nicht gemäß den Regeln verhält, denen ein Nachtalp unterworfen ist. Heilige Lechmin steh uns bei. Bislang erkenne ich nur die Handschrift Gilberts, den leider Ihr von der Kette gelassen habt. Sicher aus den besten Absichten heraus. Aber der Weg in die Niederhöllen ist allzu oft mit guten Vorsätzen gepflastert. Wenn Ihr mir das Sprichwort gestattet, Landmeister.”

Bishdarielon hob die Augenbrauen, antwortete aber nicht.

“Allein mit Logik vermögen wir die Wahrheit zu ergründen, innerhalb der wohlgefügten göttlichen Ordnung. Wo alles ineinander greift wie in einem Uhrwerk. Warum sollte sich Golo von einem geweihten Magierkragen abschrecken lassen? Nur um sich von hernach in den Block schließen zu lassen? In der Hoffnung, dass Ihr ihn wenig später daraus befreien würdet? Gleich danach ist er in ein Praiosheiligtum eingebrochen. Um dort Euren gesegneten Rabenschnabel zu stehlen? Dessen Stahl ihm eigentlich die Hand hätte verbrennen müssen? Das alles ergibt wenig Sinn.”

“Nun, der Nachtalp befand sich in diesem Fall bereits geschützt in einem Wirtskörper.” Bishdarielon griff nach einem der honigfarbenen Steine und deutete darauf. Tatsächlich war ein kleines Insekt darin eingeschlossen, das aussah wie eine Ameise. “Wer in unsere Träume einzudringen vermag, die nun einmal der Spiegel unseres Seelenlebens sind...Nun, der vermag irgendwann vielleicht auch unseren Geist und damit unseren Leib zu beherrschen. Auf diese Art war es Golo möglich, sich vom Ort seines Todes zu entfernen?! Zudem scheint er über weitere zauberische Kräfte zu verfügen. Die alten Schriften berichten, dass Geister ihrem Opfer einen Auftrag geben können. Eine Art Zauberzwang...womöglich hat er mich am Pranger ebenso behext wie meine Hunde?”

Falkwart nahm den Bernstein an sich, hielt ihn ins Sonnenlicht und betrachtete die Ameise. “Selbst wenn der Nachtmahr bei seiner Befreiung nachgeholfen hat. Warum sollte er sich zuvor freiwillig....einschließen lassen?

“Golo ist verrückt. Es bereitet ihm eine wahnsinnige Freude, uns alle an der Nase herumzuführen.  Er will Schrecken  verbreiten und seine vermeintliche Macht zeigen.”

“Praios Wahrheit ist stets einfach und schnörkellos. Ein Mantel, eine Ritualwaffe und ein Säckchen Bernstein wurden gestohlen, in der Wirklichkeit, nicht in irgendeiner Traumwelt. All das deutet auf das Werk eines derischen Verbrechers hin. Glaubt mir, ich habe mehr als genug Sünder erlebt, die ihr frevlerisches Verhalten auf irgendwelche....Einflüsterungen geschoben haben.” Falkwart legte den Ameisenstein in eine Räucherschale und sah zufrieden zu, wie das erstarrte Baumharz in Flammen aufging.

Die Ignoranz und Borniertheit dieses scheinscharfsinnigen Praioten waren bemerkenswert, dachte Bishdarielon. Gut, dass er ihm nicht die ganze Geschichte erzählt hatte.

“Mit Verlaub, Hesindian hat er sich gegenüber eindeutig als Golo der Nachtmahr erkennen gegeben.”

“Warum sollte sich Golo ohne Not offenbaren, als Schattenwesen, das von Heimlichkeit lebt?” Falkwart zählte die übrigen Bernsteinbröckchen erneut, die teilweise nur erbsengroß waren, beförderte sie mit spitzen Finger wieder in den Beutel und schnürte ihn zu.

“Neinnein. Da erscheint mir schon weitaus wahrscheinlicher, dass der Dieb unser Gespräch belauscht hat. Gestern, bei unserem Mittagsmahl. Von wegen, dass wir einen gefährlichen Spuk namens Golo jagen wollen. Ich fürchte, wir alle waren da ein wenig leichtsinnig. In der Scheune, als der Herr von Orweiler den Diebstahl von Opfergaben aufgedeckt hat, der ein verbrecherischer Frevel  ist. Da hat ihm Gilbert eben den Besessenen oder Verrückten vorgespielt, um sich selbst zu entlasten...Der Trick ist nicht schlecht, aber uralt, glaubt es mir. ”

“Immerhin hat Gilbert es geschafft, meine treuen Hunde auf Hesindian zu hetzen.”

“Auch da gibt es Tricks und Kniffe. Manche Einbrecher sind überaus geschickt, im Umgang mit Wachhunden. Ich verstehe Eure Besorgnis, zumal die Welt der Nacht und der Träume in die Zuständigkeit der Boronskirche fällt. Die Aufgabe eines Donator Lumini ist es, die Dinge so zu sehen, wie sie im Lichte des Praios klar und offen zu Tage liegen. Dazu gehört auch, keine falschen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir sollten nicht immer die große Verschwörung hinter allem wittern. Nach Lage der Dinge haben wir es hier lediglich mit einem seelisch verwirrten Einzelgänger zu tun.”

“Der versucht hat, Valpo zum Schweigen zu bringen?” Bishdarielon blickte ungläubig. “Mit dem Reiterhammer?”

“Ein flüchtiger Verbrecher hat versucht, einen Schelch zu stehlen und wollte ihn nicht mit einem Dämonenknecht teilen. Verständlicherweise.” Falkwart lächelte selbstgefällig. “Das Opfer war ein ehemaliger Gesetzeshüter, und daher bei Gilbert besonders verhasst? Die Gosse von Rommilys oder Gareth ist voll mit solchem Gesindel, glaubt es mir, Landmeister. Oft ist Rauschkraut der wahre Name des Dämons, der diese Unglücklichen plagt...Rauschkraut, das die Sinne eines Sterblichen ebenso zu schärfen wie zu trüben vermag.

“Zu Gilberts Beweggründen sollten wir ihn vielleicht besser selbst befragen? Es gibt hervorragende Spurenleser unter den Festgästen. Wenn ich allein an den Schwarzen Bären denke. Weit kann Gilbert, Golo oder wer auch immer nicht gekommen sein.”

“Das ist er wahrlich nicht.” Falkwart wurde wieder ernst. “Wir haben ihn bereits aufgespürt. Glaubt mir, auch meine Büßer können Fährten lesen. ”

“Sehr gut”. Bishdarielon klang ebenso erstaunt wie erfreut. “Wo ist er jetzt? Weist er noch Anzeichen von Besessenheit auf?”

“Nein. Wir haben ihn im Wald gefunden, aufgehängt an einem Baum. In nicht einmal einer halben Meile Entfernung.”

 

Die beiden Nichtpraioten blickten ehrlich betroffen.

“Ja, Euer Gilbert hat sich selbst gerichtet, mit einem Strick. Es gibt keinerlei Anzeichen eines Kampfes oder sonstiger Gewalt.“ Falkwart seufzte. “Ich habe es Euch ja gesagt, mein lieber Landmeister. Falsch verstandene Milde oder übertriebene Nachgiebigkeit bewirkt oft weit mehr Unheil als das rechte Maß an Strenge. Diesen einen Vorwurf kann ich Euch leider nicht ersparen. In der Verwahrung unserer Kirche wäre der Missetäter sicher gewesen. Ebenso wie unsereins vor seinen Umtrieben.”

“Golo hat ihn dazu gezwungen” Hesindians Stimme krächzte. “Hat seinen Wirtskörper einfach geopfert, dieses Scheusal. Vermutlich hält der Schiefhals das auch noch für witzig. Anderen den Nacken zu krümmen...” Der Magier wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.

Bishdarielon bedeutete Hesindian, sich zu mäßigen. “So gab es keinerlei auffallende Spuren? Nichts Ungewöhnliches?”

“Ein Nachtalp saß nicht auf ihm, wenn ihr das meint.” Der Commisarius nahm das Sonnenszepter an sich, das auf dem Altar bereit lag. “ Das heißt. Ein paar Dinge waren schon ungewöhnlich. In einer versteckten Tasche hatte er Pilze bei sich.”

“Pilze?”

“Ja. Getrocknete Pilze. Nicht sehr groß, krummstielig, mit kleinen, schiefen Kappen. Wie Zipfelmützen, oder Elfenohren. Koboldsmützen vielleicht, oder Waldläuschlinge. Allesamt Rauschpilze, die Sinneseindrücke verstärken, aber auch verzerren. Manche Sokramorier verspeisen sie, um eins mit Sumus Natur zu werden, wie sie es nennen...und dem Wispern des Kleinen Volks zu lauschen. Das würde Gilberts Verhalten erklären, nicht wahr? Den geschärften Hörsinn ebenso wie die Seelenspaltung oder den Angriff auf Valpo. Ach ja. In der linken Faust haben wir einen Knopf gefunden. Einen Wappenknopf. Mit Drachen und Ähren...”

“Das Oppsteiner Wappen?”

“So ist es. Diese Knöpfe werden manchmal als kleine Münze verwendet. Gut möglich, dass unser Gilbert aus dem Oppsteinischen stammt. Im Strick befand sich wiederum ein seltsam geschlungener Knoten. Ein Führstrick für Pferde. Es dürfte sich dabei um einen Hexenknoten handeln. Keinen echten Hexenknoten, da sei Herr Praios vor. Ein alter Aberglaube. Die Sokramurier binden gerne Zauberknöten, in Taschentücher, Weidenruten, Haare, Pferdemähnen oder Seile. In Grashalme, Stroh...eben überall, wo man Knoten hinein binden kann. Knöten, die so verschlungen und verwickelt sind wie die Gedanken dieser Wirrköpfe. Angeblich lassen sich damit Feenwesen anlocken, die sich daran festklammern.... Sie sollen Glück bringen und Wünsche erfüllen. Wenn man stirbt, vermag die eigene Seele daran emporzuklettern, wie an einer Strickleiter, geradewegs ins Licht der Anderwelt. In diesem Fall sollte der angebliche Zauber vielleicht ein Reißen des Stricks verhindern. Oder Gilberts geplagte Seele ins Feenreich aufsteigen lassen. “ Falkwart verzog sein Gesicht vor Abscheu ob des närrischen Gedankens.

“Ich erwähne das alles nur, um Euch zu zeigen, welches Chaos in den Köpfen dieser sogenannten Sokramorier herrscht. Heiliger Gilborn von Punin, bitt für die Sünder... Es ist höchste Zeit, dass der Sichelhager Adel gegen diese Glaubensverwirrung vorgeht. Bevor wirklich noch der Namenlose von ihren Seelen Besitz ergreift. ”

“Sobald der Irrglaube offen zu Tage liegt, gewiss”. Bishdarielon klang ein wenig frech, fast wie sein Bruder. “Im Lichte des Praios, meine ich.”

Der Praiot sah sein Gegenüber mit flammenden Augen an. “Es wäre bereits ein Anfang, wenn gewisse Adelige das Problem ernst nehmen würden, Euer Wohlgeboren. Thron und Altar sollten gemeinsam dafür sorgen, dass die reine Lehre wieder Gehör findet, in den Sichelbergen. Andernfalls müsste die Gemeinschaft des Lichts....eigene Maßnahmen ergreifen.”

“Wegen dem Oppsteiner Knopf, der in Gilberts Hand gefunden wurde...?”

“Auch das wird nur irgendein abscheulicher Aberglaube sein. Wegegeld ins Jenseits oder etwas ähnliches. Ein wüster Aberglaube wie diese irrleuchtenden Rübenschädel. Rübenschädel... Muss ich deutlicher werden? In Marktfriedwang nennt man die Schreckensfratzen sogar Galottaköppe.”

Hesindian schniefte. “Nun...verzeiht...tssiii. Entschuldigt, Ehrwürden!”

Der Praiot wich vor dem heftigen Niesanfall des Magiers zurück. Dieser schniefte erneut.

“Verzeiht. Was ich sagen wollte. Das Rübengeistern ist eindeutig eine Verspottung des gefallenen Dämonenkaisers. Ein harmloser...tssi...verzeiht...Kinderspaß...Keine Verherrlichung! Ähnlich wie die gebackenen Schmalzoger am 10. Praios, dem Gedenktag der Schlacht gegen die...die Menschenfresser.”

“Kommen wir lieber auf Gilbert zurück”, sagte Bishdarielon. “Was haben wir in der Hand? Sein Tod ist schon ein wenig rätselhaft, findet Ihr nicht? Kaum gelingt es ihm zu fliehen, entleibt er sich?”

“Der Führstrick gibt uns vielleicht einen Hinweis. Womöglich war Gilbert enttäuscht, keines der Pferde stehlen zu können. Es gab in der Nacht einige Unruhe im Pferch. Offenbar hat der Langfinger geahnt, dass er seiner gerechten Strafe nicht mehr entkommen würde, und beschlossen, Praios Gerechtigkeit zuvorzukommen."

“Die Signatur des Künstlers”, brummte Hesindian, hinter dem Taschentuch.

“Wie meinen, Herr Magister?”

“Ach nichts.”

 

“Wo ist...sein Leichnam jetzt?” fragte Bishdarielon tonlos. “Ich würde gerne ein Totengebet sprechen. Damit wenigstens seine Seele Ruhe findet.”

 

“Aufgebahrt in der Scheune. Es wird sicher einen Platz auf dem Arme-Sünder-Anger geben.” Falkwart winkte ab und schob sich die Ritualwaffe in die Schärpe. “Hauptsache, der Praiosdienst wird nicht gestört, durch diese bedauerliche Geschichte. Sei´s drum, so langsam muss ich mich wieder um die Vorbereitungen kümmern....Herr von Orweiler, Ihr seid ja des Schreibens kundig. Vielleicht könnt Ihr mir in Marktfriedwang noch einen schriftlichen Bericht zukommen lassen. Ansonsten muss ich Euch dringend ersuchen, künftig nicht mehr auf eigene Faust zu handeln, Herr Landmeister. Wenn Angelegenheiten der Praioskirche betroffen sind. Ich hoffe, wir sehen uns nachher ?!”

“Sehr gerne.”

Konsterniert verließen Hesindian und Bishdarielon den Tempel, an den Wachen vorbei.

Der Magier schüttelte den Kopf, sobald sie außer Hörweite waren. “Ich verstehe Falkwart nicht. Er ist doch derjenige, der die ganze Zeit Verschwörungen wittert. Er hat sogar einen Wahrheitskasten am Tempel aufstellen lassen, wo jeder seine Beschwerden einwerfen kann. Oder besser gesagt Denunziationen. Kaum bekommt er ernsthafte Hinweise auf namenloses Wirken, winkt er ab. Was ist denn in den gefahren?”

Bishdarielon blickte hinüber zum Gernat, der jetzt, im Morgendunst, aussah wie gemalt. Eigentlich wäre es ein schöner Anblick gewesen, aber seine Stimmung war getrübt. Der Vorwurf des Praiosgeweihten, mitschuld an Gilberts Tod zu sein, hatte ihn durchaus getroffen.

“Ich verstehe, was du meinst. Nun, streng genommen sind es nicht seine Verdächtigungen. Ich habe gehört, dass Falkwart als Archivarius auf irgendein wichtiges Schriftstück gestoßen ist, in Gareth oder Rommilys. Das Tagebuch des ehemaligen Inquisitionsrats Selbfried Rabensang...”

Hesindian nickte. “Ich habe Rabensang gekannt. Wir waren ja zusammen auf Schwarzmaraskan. Vor einigen Götterläufen wurde er von Orks zu Tode gefoltert. Genauer gesagt von den wiedererstandenen Mallachai.” Der Magier schniefte, als übermannte ihn die Trauer. Meister Selbfrieds Ableben bekümmerte ihn tatsächlich. Besser, ein ehrlicher Gegner benahm sich ab und an wie ein Freund. Als wenn scheinheilige Opportunisten Macht, Ämtern und Karrieren hinterher jagten. So wie Ucurian oder Falkwart.

“Du scheinst Selbfried zu vermissen? Ein Mitglied der Heiligen Inquisition?”

“Sagen wir, man konnte mit ihm reden. Das mit dem Vierteilen, in der Schlacht am Eibsee, das hatte er nicht verdient.”

“Ich habe da ein paar Gerüchte gehört. In seinem Diarium soll Selbfried einige Sachen aufgeschrieben haben, die ohnehin schon die Raben von den Dächern krächzen. Boron, verzeih mir das Wortspiel. Es geht um weitreichende Verdächtigungen, gegen den Sichelhager Adel, aber auch bestimmte Praiosgeweihte. So nach der Art, dass die Umtriebe Gernots des Verräters nie wirklich aufgeklärt worden sind, zwischen Wolkenried und Oppstein. Vor allem Golo wollte Selbfried zu Strecke bringen, als Gernots Nachfolger...die Namen Parinor Rukus, Adran oder Redenhardt von Oppstein sollen ebenfalls in dem Büchlein stehen”

“Oha. Ein Amtskollege, der heutige Baron von Oppstein und der verblichene Stadtvogt von Rommilys?“

“Genau so ist es.  Wenn es um die Belange des Hauses Oppstein ging, war Inquisitionsrat Parinor irgendwie auf beiden Augen blind. Aber wie heißt es so schön: Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus. Mittlerweile heißt es, dass die Bannstrahler, die das Büchlein überbracht haben, zuvor bei den Albuiniten gesichtet worden sein sollen...”

“Albuin von Bregelsaum, der vermeintliche Sohn des Lichts. Herabgesandt von seinem Vater, Praios selbst, und seiner Mutter, der Heiligen Hildemara. Um deren Kirche gründlich zu reinigen und zu säubern.” Hesindian grinste sarkastisch. Die Praioten müssen was sagen, von wegen Wahnsinn der Magie, dachte er. “Allen weltlichen Unrat wollen seine Jünger aus den Tempeln herausfegen...um ein Reich der Sonne zu errichten. ”

Bishdarielon nahm einen einzelnen kleinen Ast und warf ihn hinaus auf den Gernat. “Ein echter Glücksfall, das mit den Ketzern als Überbringer. So lässt sich das Tagebuch notfalls als plumpe Fälschung abtun. Zumindest lässt sich alles als Provokation und Intrige darstellen. Von irgendwelchen Schwärmern, die leuchtender sein wollen als der Bote des Lichts...”

"Ist ja kein Geheimnis, dass Falkwart nächster Prätor der Siegesbasilika werden will. Da sollte er besser nicht zu sehr anecken, in seinem künftigen Sprengel...”

"Wahrscheinlich hat der Commisarius gemerkt, dass er selbst über einige Ecken mit Golo verwandt ist.” Versonnen sah Bishdarielon dem Stöckchen nach, das sich in der Strömung drehte und gemächlich den Fluss hinab schwamm. “Die Welt regiert der Nutzen, werter Herr Magister. Sind wir denn am Ende so viel besser? Jeder hat doch größere oder kleinere Sünden zu verbergen, und so manche Schwachheit.”

Hesindian schwirrte der Kopf, nicht allein aufgrund der Triefnase. So viele Namen, so viele Zusammenhänge. Alles war heillos verworren und doch miteinander verknüpft, wie bei diesen sokramurischen Zauberknöten.

"Gewiss. Die Wahrheit ist derart kostbar, dass man überaus sparsam mit ihr umgehen sollte.”

"Sagt Hesindian von Orweiler?”

Der Angesprochene lächelte. “Nein. Hat Gernot von Friedwang-Glimmerdieck mal gesagt.”



Tag der Abreise

Der Jungen Göttin zu Ehren

Es war zwar sonnig, aber kühl. Unübersehbar wurde es herbstlich. Der Wutzenwald mit seiner gelbroten Farbenpracht bot ein majestätisches Bild.

Der morgendliche Himmel hatte das gleiche Blau wie die Augen von Delonah Bundschuh, der Dienerin der ewig jungen Göttin. Delona Bundschuh, wie ihr bürgerlicher Name war, nannte sich seit ihrer Weihe zur Hochgeweihten Kukina Elfenwald die Fünfte. Bereits vier Geweihte vor ihr hatten in Schlotz den Weihenamen Kukina getragen, die erste dieses Namens hatte zu Zeiten der Priesterkaiser in Schlotz gewirkt. Die Priesterin in ihrer engen, regenbogenschillernden Robe begrüßte mit salbungsvollen Worten die Gäste, die zur Heiligen Messe erschienen waren. Sogar einige Turnierteilnehmer gaben sich die Ehre, die sonst mit der milden, friedliebenden Tsa wenig am Helm hatten. Es war einigen anzusehen, dass sie zu kurz oder auch schlecht geschlafen hatten.

Auch Haldana und Alboran hatten Mühe gehabt, wach zu werden. Das Fest am Vorabend war lang gewesen, und beide hatten zudem schlecht geschlafen. Haldana war sich selbst nicht sicher, ob sie, nach all dem Ärger mit der Entführung ihres Bräutigams und den nächtlichen Umtrieben Golos wieder einen Alptraum gehabt hatte oder nicht. Am liebsten hätte Haldana sich noch einmal für zwei Stunden hingelegt. Aber, anders als Alboran, der krampfhaft ein Gähnen unterdrückte, hatte Haldana sich vollständig unter Kontrolle und ließ sich die Müdigkeit nicht andeuten. Sie hatte nur einen schwarzen, starken Mohacca getrunken, der ihre Lebensgeister geweckt hatte.

Aber den Abschlussgottesdienst durfte sie natürlich nicht verpassen. Nicht zu erscheinen wäre ein Affront gegen die Kirchen gewesen, egal wie gerne sie noch im Bett geblieben wäre. Zumal es ohnehin schwer genug gewesen war, diesen Gottestdienst in die Wege zu leiten. Denn die Praioskirchlichen Würdenträger hatten unmissverständlich klar gemacht, dass sie es als ihre Aufgabe betrachteten, eben diesen durchzuführen. Was den Absprachen zwischen der Burgherrin und den Geweihten der Tsa widersprach, denen bereits zugesichert worden war, nach der Weihe des neuen Schreins auf Burg Gernatsborn auch hier mitmischen zu dürfen. Letztlich war es ihr gelungen, die Würdenträger beider Kirchen zu einem, wenn nicht gemeinsamen, so doch gleichzeitigen Festgottesdienst zu überreden. Die Geweihtenschaft des Praios konnte ja schließlich nicht leugnen, dass man ein Versprechen – das man der Tsageweihtenschaft gegeben hatte – nicht brechen konnte. Und die Diener der Eidechsengöttin hatten still gelächelt und von einem Neuanfang des Verhältnisses zwischen beiden Kirchen gesprochen, das ja mit Ysilda von Schlotz Liebschaft mit einem Praioten ohnehin schon begonnen hatte.

Delonah, die für die Tsakirche mit dem Gottesdienst am frisch geweihten Schrein begonnen hatte, predigte von der Sonne, die alltäglich einer Wiedergeburt gleich auf ihren täglichen Weg über das Dererund kreiste. Will sie sich nun den anwesenden Praiosdienern andienen und gefallen, oder adaptiert sie den Praiosglauben in die Tsariten zur Wiedergeburt? fragte sich Haldana, der dieses Brückenschlagen zwischen den doch sehr unterschiedlichen Riten der Praioskirche und des Tsakultes doch verwunderte. Andererseits… irgendwie war es passend, angesichts der Verbindung zwischen ihrem aus dem praiosgläubigen Friedwanger Land stammenden Gemahl und dem tendenziell tsagläubigen Schlotz. Vielleicht war es ein Versuch, dem neuen Schlotzer Baron den Tsaglauben schmackhaft zu präsentieren. Haldana lächelte. Die sanften Worte Delonahs drangen in die Herzen der Gläubigen ein. Haldana fand, dass Delonah Bundschuh geschickt redete und den Würdenträgern der Praioskirche dabei auf eine Art schmeichelte, dass sie nicht wirklich etwas gegen die eigene Deutung des Sonnenritus sagen konnten.

 

„… denn ist es nicht ein tsaheiliges Wunder, dass die Helligkeit und Wärme alltäglich wieder geboren wird?“ fuhr Delona Bundschuh fort. „und ebenso, dass alljährlich nach dem Winter, der Frühling wiederkehrt, dass die Pflanzen wieder sprießen…“

Haldana hatte Mühe, der Predigt zu folgen. Irgendwie verschwammen die Bilder vor ihren Augen. War es die Müdigkeit? Haldana lehnte sich leicht haltsuchend an Alboran. Sie spürte ein Ziehen und Drücken in ihrem Bauch. War es Zufall, dass das neue Leben in ihr sich gerade während eines Tsagottesdienstes zum ersten mal richtig bemerkbar machte?

„Wir sind hier beisammen, um die Ehe der jungen Baronin und ihres Angetrauten zu feiern. Dafür habt ihr, liebe Gäste, den weiten Weg auf Euch genommen. Und oft, wünscht man jungen Eheleuten… Was Travias Segen empfangen hat, das möge auch die Herrin Tsa segnen. Nun, das ist ein geflügelter Wunsch, gerade hier in der Rommilyser Mark. Doch allzu oft ist es doch vielmehr so, dass Travia segnet, was bereits von Tsa gesegnet wurde. Denn, so ist es, liebe Gäste. Das Leben bricht sich seinen Weg, immer und überall. Und wo immer ein Weg endet, beginnen zwei neue Wege…“

Haldana setzte zwar ihr aufmerksames Gesicht auf, aber sie hörte nicht weiter zu. Es war ihr, als drang gleichzeitig mit der hellen Stimme Delonahs eine finstere, schnarrende, kaum wahrzunehmende Stimme an ihr Ohr. Eine Stimme, die sie nur zu gut kannte. Hielt der Praiot, der sich im Hintergrund hielt und den Worten der Tsapredigerin lauschte, den Kopf schief? War es Zufall oder sah sie schon eine Gefahr, wo keine war? Was wollte dieser unsägliche Rachegeist Golo von ihr?

 

„mein Kind…. Mein Sohn…“

 

Auch die heilige Zeremonie an diesem Herbstmorgen konnte den unheiligen Golo offenbar nicht fernhalten. Wieder umfing sie eine beklemmende Angst. Was brachte diese geisterhafte Kreatur dazu, ständig anzudeuten, dass das Kind, das sie unter dem Herzen trug, sein Kind wäre? War es nur eifersüchtige Rechthaberei, nachdem Golos und Gerrichs Pläne im vergangenen Sommer gescheitert waren? Oder steckte mehr dahinter, wusste Golo etwas, von dem sie nichts ahnte?

 

“Mein Sohn….”

 

Die Baronin fing Alborans erschrocken wirkenden Blick auf. Kein Zweifel, auch er hatte das unheilige Flüstern gehört.

Oder war damit jetzt gar nicht ihr Ungeborenes gemeint, sondern Alboran, dem Golo ja auch immer einreden wollte, dass er sein Sohn war. Obgleich es doch offenbar war, dass Alboran ganz nach dem Vater, Baron Alrik, geraten war.

Haldana wurde schwindlig. Lag das an der Schwangerschaft? An der Müdigkeit? Oder an der Angst?

Fantasierte sie, oder hielt nun auch Delonah den Kopf schief?

Denn ist es nicht auch der Herrin Tsa gefällig, dass der Kreislauf jedes mal erneut beginnt? Dass in einer neuen Generation das fortgeführt wird, was in der vergangenen Generation begonnen wurde? Das die Geschichte sich in einem fortlaufenden Kreislauf wiederholt? Die Edle Ismena von Gießenborn empfing ein Kind von dem, der immer wieder auf ein neues erscheint, doch sie wollte glauben, es sei vom Erben des Friedwanger Throns. Nun erwartet die Herrin von Schlotz ein Kind, das ebenfalls vom immer neu erscheinenden stammt, und will es ebenfalls nicht wahrhaben, nein, sie will glauben, es stamme von einem der Erben Friedwangs? Hat das die Herrin Tsa nicht wunderbar gefügt, dass die Geschichte sich wiederholt? So wie jedes Jahr ein neuer Frühling den Niedergang des Winters beendet, so wie jeden Tag die Sonne auf ein Neues, die Dunkelheit und Kälte der Nacht beendet und ein neuer Tag beginnt… ebenso hat jede Generation auf ein Neues die Chance, die Wahrheit zu erkennen und einen Weg zum wahren Herrn zu finden, der in seiner Güldenen Güte den Menschen immer wieder eine neue Möglichkeit bietet, zu ihm zu finden?

Ein Aufschrei brachte Haldana wieder zu sich. Es war ihr eigener Aufschrei. Sie war in sich zusammen gesunken und wäre zu Boden gerutscht, hätte sie nicht an Alboran gelehnt, der sie stützte.

„Was ist, Liebes? Fragte Alboran. „Ist dir schwindlig?“ Sein Blick fiel auf ihren, leicht gerundeten Bauch.

Haldana nickte erkennbar. Rasch hatte sie sich wieder gefangen. Die Gäste sollten ruhig glauben, dass die Schwangerschaft Ursache für ihren Schwächeanfall war. Ihre Erlebnisse mit der weiterhin ruhelosen Seele Golos behielt sie besser für sich.

 

Praios Werk und des Namenlosen Beitrag

Welch herrlicher Duft!

Falkwart Malachanias sog genießerisch den Geruch des weißen Rauchs ein, der aus dem rotglühenden Sandelholz emporstieg. Einzelne Flämmchen züngelten. Das Dreibein mit der güldenen Schale stand vor dem hell erleuchteten Altarzelt, dem Herbstwetter zum Trotz. Der Erzpriester fächerte noch ein wenig Luft in das knisternde Feuer und reichte das handbeschriebene Papier dann an die Novizin weiter. Gegen eine kleine Spende hatten die Gläubigen ihre Fürbitten niederschreiben lassen dürfen, die nun, beim Abschlusspraiosdienst, verbrannt werden sollten. Auf dass die demütigen Wünsche der Sterblichen mit den wohlriechenden Schwaden gen Alveran aufsteigen würden. Allein die flirrende Luft über der Schale hob Ehrwürden Falkwarts Stimmung. 

Auch wenn der Erzpriester das Feuer gerne mit einem Brennglas entzündet hatte – was angesichts des bewölkten Himmels leider nicht möglich gewesen war – erfüllte tiefe Zufriedenheit sein Herz.

Nicht zufällig hatte er die Schale mit dem Bildnis des Greifen Jermoran gewählt, der mit feurigen Schwingen den Sommer in die Zwölfgöttergefälligen Lande brachte. Blüte, Wachstum und Gedeihen lagen allein in Praios Hand, was auch immer die übrigen Kirchen behaupteten.  Alles Leben auf Dere hing von der Sonne ab.

Nun war der nasse, kühle Herbst  angebrochen und der dunkle Winter nicht mehr fern. Man musste nur in die Augen der Bauern blicken, um Angst darin zu erahnen. Die ewige Winterangst. Das Grauen vor Schnee, Eis und Kälte, die Furcht vor dem Hunger und den schwindenden Vorräten. 

So langsam füllte sich der Vorplatz des Tempelzelts mit Besuchern, nachdem der Ritus der Tsakriche am Schrein geendet hatte. Das Stundenglas auf dem Altar war noch nicht ganz durchgelaufen. Falkwart beschloss, noch einmal in das Geweihtenzelt hinüber zu gehen, und sich ausgiebig im Spiegel zu betrachten. Selbstverständlich nicht aus Eitelkeit oder Hoffart, sondern um noch einmal den korrekten Sitz seines Ornats zu überprüfen, einschließlich des Sonnenszepters und der zwei Sphärenkugeln. Die eine wirkte ein wenig fleckig, auch seine Kegelmütze hatte einen unschönen Knick. Der Erzgeweihte faltete die Hände vor dem Bauch und eilte an der Jermoransschale vorbei auf das Schlafzelt zu. 

Hatte er den Verdacht des Landmeisters zu schnell beiseite gewischt, bezüglich der namenlosen Umtriebe des Nachtalps? Oder war das genaue Gegenteil richtig: Hatte er zu sehr auf die Worte des Golgariten sowie des Graumagiers gehört? Mehr, als es sich für einen Diener des Lichtes und der Wahrheit geziemte? 

Nein, es war ohne jeden Zweifel Gilbert gewesen, der sie zum Narren gehalten und sich am Ende selbst gerichtet hatte. Alles andere ergab überhaupt keinen Sinn. Falkwart Malachanias verzog den Mund, während er auf das langgestreckte Zelt mit den Sonnenzeichen zuging, das aus den Beständen des Bannstrahlordens stammte. “Sich selbst richten”, hinter diesen Worten verbarg sich ein ungeheuerlicher Frevel.

Das Richteramt gebührte allein denjenigen, die durch den Willen des Allerhöchsten dazu berufen waren. Hoffentlich gab es neben dem Gernatsborner Friedhof eine Arme- Sünder-Ecke, auf der man die sterblichen Überreste des Langfingers verscharren konnte, mit einem kurzen Gebet, aber selbstverständlich in ungeweihter Erde. Abschreckung musste sein. Das Leben war hart, im Sichelhag und anderswo. Gerade deswegen durfte niemand das Geschenk Alverans einfach von sich schleudern, nur weil es ihm gerade eine untragbare Last und Bürde zu sein schien.

Das Heil der Seele, nur darauf kam es an. Boron, der grimme Schnitter, wusste allein, wann die Zeit reif war, die Seele vom sterblichen Leib eines Menschen zu trennen. Diese Ernte gebührte den Zwölfgöttern und niemand sonst. Manchmal verdarb eine der Seelen, dann musste sie von den übrigen abgesondert werden, in die ewige Verdammnis, wie Spreu vom Weizen oder fauliges vom gesunden Korn. 

Natürlich, die Priester des Dunklen Gottes strebten danach, Verstorbene möglichst borongefällig beizusetzen. Nur so war zu erklären, wie ein erfahrener Ordensritter wie Bishdarielon von Suunkdal überhaupt auf die Idee hatte kommen können, Gilbert wäre besessen gewesen. Falkwart hatte die Schriften zu Dämonen und Geistern ausgiebig studiert.

Das Verhalten des Streunerleins widersprach allem, was von den Kundigen zum Treiben der “Nachtalpen” niedergeschrieben worden war. Sie drangen in Träume ein, nicht in fremde Leiber und entfernten sich nicht weit vom Ort ihres Todes. Selbst wenn Golo dazu in der Lage wäre, durch Berührung Besitz von einem Wirtskörper zu nehmen, in der unmittelbaren Nähe eines Praiossanctuariums wohlgemerkt. Nun, gerade dann hätte es für ihn keinen Sinn ergeben, sein Opfer nachts im Wald aufzuhängen. Wie hätte er sich in diesem Fall einen neuen Corpus verschaffen sollen? 

 

Falkwart blickte zufrieden auf die Büßer, die sich gerade für den Praiosdienst aufstellten, mit blankgeputzten Stiefeln und Harnischen sowie rotgoldenen Praiosschleifen an den Schwertern oder Hellebarden. Der Commissarius hatte in Rommilys darum gebeten, seinen Leibwächtern ein Erkennungszeichen zu gestatten, ähnlich wie der früheren “Lichtwehr” der Siegesbasilika, die allesamt reinweiße Schärpen getragen hatten. Aber die Kirche war zurückhaltend geworden und die Zeit der Kriegsherren mit ihren Söldnerhaufen vorbei. Die Büßer sollten als kleine Sünderlein keinesfalls glauben, etwas “Besseres” zu sein. Sie sollten einfach nur glauben und büßen. Immerhin, zu besonderen Anlässen waren ihnen die Schleifen gestattet. 

Falkwart schritt in das Zelt, wo der fein säuberlich aufgeräumte Frühstückstisch stand, neben den ordentlich gemachten Feldbetten. Sein eigener Schlafbereich war durch eine Stoffwand abgetrennt, das Privileg eines Erzgeweihten. An einer Zeltstange schimmerte ein spanngroßer Spiegel, trotz der geringen Größe eine Kostbarkeit. Der Commissarius mochte derart praiosgefällige Kunstwerke. Sie erinnerten den Gläubigen daran, das im glanzvollen Lichte des Herrn nichts verborgen blieb. Dass er allzeit gesehen wurde, mit unbestechlichem Blick. Nun, Falkwarts goldrote Robe saß ebenso tadellos wie das Untergewand. Er musste nur noch einmal über obere Sphärenkugel wischen und natürlich die Tiara ausbeulen. Er ging in seine Kammer. Ah, auf einem Tischlein lag das Putzläppchen, gleich neben dem Waschzeug. Die Wasserschale war nicht ausgeleert. Er würde sich eine angemessene Buße für Jarielon ausdenken müssen, den zuständigen Lichtsucher. 

 

Falkwart polierte noch einmal die Kugel, ebenso die Sonnenscheibe auf dem "Heiligen Hut". Was war denn das? Der Blick des Praioten traf den Strick, der neben der geöffneten Truhe auf dem strohbedeckten Boden lag, sich ringelnd wie eine Schlange. Der Strick des Selbstmörders?! Hatte er ihn achtlos dorthin gelegt? Eigentlich hatte er das corpus delicti doch in den Samtbeutel gesteckt, zu den anderen Beweisstücken, den Wappenknopf und den Pilzen. Nun gut, heute früh war es drunter und drüber gegangen, zumindest für die Verhältnisse der Praioskirche.

Ah, da war der Asservatenbeutel ja. Die Pilzlein befanden sich noch drin, ebenso der Oppsteiner Knopf. Ein würziger, aber auch scharfer Geruch breitete sich im Zelt aus. Er griff nach dem Strick, der an einem Ende fein säuberlich abgeschnitten worden war. Das andere Ende zierte ein kunstvoll geschlungener Dorcken-Kragen, wie ihn der Garether Scharfrichter den Malefikanten umzulegen pflegte. In der Mitte hatte Gilbert seinen ominösen Feenknoten hinterlassen. Falkwart strich versonnen darüber. Ob sich wirklich Feen und Geister darin verfingen, hängen blieben und herumschaukelten? Er hob das Seil an und ließ es baumeln, vor seinem Gesicht. Der Galgenstrick pendelte tatsächlich ein wenig, hin, her. Hin, her.

Hin, her.

Schon die graubraune Farbe des alten Führstricks dünstete irgendwie Unheil aus. Oder war es der betörende, scheinheilige Duft der Koboldsmützen und Waldläuschlinge? 

Der Strick ließ ihn schaudern. Vor wenigen Stunden hatte ein junger Mensch darin sein Leben ausgehaucht. Nein, nicht ausgehaucht. Er hatte sicherlich geröchelt, gezappelt, um jeden Atemzug gekämpft. Falkwart hatte im Krieg einige Gehängte gesehen, ihre blaugrauen Gesichter, die heraushängenden Zungen. Gilberts Todeskampf musste ähnlich hart und grausam gewesen sein, den verzerrten Gesichtszügen nach zu urteilen. 

 

Falkwart seufzte und legte den unseligen Strick in den Beutel. 

Dann ging er noch einmal zum Spiegel und brachte seine Gewänder endgültig in Ordnung. Abschließend korrigierte er den Sitz der Tiara und zog das Kopftuch hervor, das auf der falschen Schulterseite herunterhing. Schon besser. So, jetzt noch ein Stäubchen von der Robe wischen.

Der schiefhalsige Schemen tauchte ohne jede Vorwarnung auf, am Rand des Spiegels. Erzpriester Falkwart schrie leise auf und drehte sich um, die Hand am Sonnenszepter.

“Verzeiht, Ehrwürden”. Ulmhart, der spitzbärtige Büßer, hatte den Kopf zum Zelteingang hereingesteckt. “Ich wollte Euch nicht erschrecken.”

Falkwart ruckte erneut seine Robe zurecht und räusperte sich unwirsch. Ulmhart Fronbauer, der Answinist. Er war bei dem kleinen Suchtrupp dabei gewesen, der Gilbert gefunden hatte. Womöglich war der Söldling sogar derjenige gewesen, der den Selbstmörder abgeschnitten hatte. Ob Golo in diesem Moment...Der Praiot rief sich selbst zur Ordnung. Die Erfahrung sprach einfach dagegen, dass ein Nachtalp von Körper zu Körper sprang wie ein Frosch über Steine im Wasser. 

“Was gibt es denn?” fragte er ungehalten.

“Herr Bishdarielon schickt mich. Er lässt Euch ausrichten...nun, er sagt...dass Gilbert verschwunden ist.”

Falkwart stutzte, und strich aufgeregt seinen Ornat glatt, zum hundertsten Mal an diesem Tag.

“Gilbert der Galgenvogel?” Der Erzpriester musste zugeben, dass er nicht allzu souverän klang, für einen höheren Geweihten des Sonnengottes.

“Er war nicht mehr in der Scheune, Ehrwürden.” Ulmhart trat endgültig ein, die Sturmhaube unter den Arm geklemmt.

“Der Dieb war mausetot. Wie die Ratten, die er gestern Nacht ausgeweidet hat, in seinem sokramorischen Wahnsinn.” Die Entschlossenheit kehrte in Falkwarts Stimme zurück.

Er sah die Angst in Ulmharts Augen. Die Angst vor den wandelnden Toten, denen er sicherlich mehr als einmal begegnet war.

Falkwart reckte das Kinn vor. “Irgendjemand wird den Leichnam mitgenommen haben. Immerhin werden in der Scheune die Vorräte für den Winter aufbewahrt. Ein wenig makaber ist es schon, sie als Marbohalle zu nutzen, gewiss.  Die Bauern sind abergläubisch. Gilbert, das klingt ja schon nach Schlachtfeldfieber oder Gilbe.”

 

In Fronbauers Gesicht spiegelte sich der Zweifel.

 

Falkwart musterte ihn eindringlich und stieß die Zunge von innen gegen die Wange.

“Untote meiden das Sonnenlicht”, sagte er sanft. "Auch das haben wir in den schrecklichen Jahren gelernt, die praioslob hinter uns liegen."

“Der Himmel ist heute bewölkt”, sagte Ulmhart tonlos. “Zeit genug hätte Gilbert auch gehabt...als Kalter Alrik zu entwischen. Heiliger Gilborn steh uns bei!”

 

“Ich nehme an, Herr Bishdarielon hat schon die Verfolgung aufgenommen? Als oberster Geisterjäger auf diesem Turnier?” Falkwart klang spöttischer, als er beabsichtigt hatte.

 

“Seine Hunde waren panisch.” Der Büßer selbst schien nicht mehr allzu weit von diesem Zustand entfernt zu sein. “Für eine Verfolgung nicht zu gebrauchen...und Spuren gibt es rund um Gernatsborn wie Sand am Meer.”

 

Der Söldner zuckte zusammen, als Ucurian hinter ihm auftauchte.

 

“Bruder Falkwart...der Praiosdienst?” Der Luminifer wirkte eher erstaunt als ungehalten ob Falkwarts Unpünktlichkeit. “Das letzte Sandkorn ist gerade durchgelaufen.”

Ucurian blickte in Richtung des Büßers: "Gibt es ein Problem?"

"Gilbert ist verschwunden." Der Commissarius antwortete an Ulmharts Stelle. "Genauer seine sterblichen Überreste."

Ucurian kniff die Augen zusammen, so dass er ein wenig wie ein Falke aussah: "Das Werk eines Nekromanten? Nachtalpen werden oft von Magiern beschworen...womöglich hat er erst den Totengeist in Gilberts Körper gebannt, und als der Unglückliche sich dann erhängt hat, auch noch den Leichnam wieder erstehen lassen. Ich will gar nicht wissen, zu welchen finsteren Zwecken."

"Ucurian, du denkst jetzt nicht wirklich an unseren Meister Hesindian? Wir sollten niemals vorschnell urteilen. Ulmhart, nimm Radost und Alfhildr mit. Dann sucht Ihr nach Gilberts Leichnam. Natürlich diskret. Hättet ihr gestern ein Auge auf unseren Landmeister gehabt, wäre es gar nicht erst soweit gekommen. Auf unseren hammerschwingenden Bishdarielon."

Falkwart blickte tadelnd. Dann zog er die beiden Ärmel in Richtung Handgelenke. "Das fehlt noch, dass jetzt auch noch Zombiefurcht ausbricht, kurz vor dem Gottesdienst."

Der kleine Reisegong dröhnte und rief endgültig zum Gebet. 

Falkwart ging, gemessenen Schrittes, hinüber zum Altarzelt. Ucurian folgte ihm. Draußen hatte sich doch einiges Volk versammelt, und natürlich die Schar der adeligen Gäste.

 

Der Hohe Commissarius trat an das Feuerbecken und gab das Zeichen an die Gläubigen, sich vor dem Altar niederzuknien. Lediglich den Geweihten und Novizen, die sich rechter- wie linkerhand  aufgereiht hatten, war es gestattet, weiterhin zu stehen.  Schließlich oblag ihnen der Eröffnungsgesang.

  

Es fährt ein Flammenwagen, am blauen Alv´ranszelt,

Und der den Zügel führet, sieht alles auf der Welt.

Er schaut von Götterhöhe, hinab aufs Derenrund.

Und herrscht in hehrem Glanze zur goldnen Mittagsstund.

 

Er thront in Pracht und Wonne, er thront in reinstem Licht.

Er ist die die goldne Sonne, die jede Nacht durchbricht.

Entweicht vor ihm, ihr finstern Geister all!

Er duldet keine Schatten in Seinem hellen Saal.

 

Wer frei von Schuld und Sünde, der scheut nicht seinen Blick

Der legt in Praios Hände sein Heil und sein Geschick.

Auch in der dunklen Stunde der tiefen Mitternacht

Beschützt der Herr die Seinen und hält getreue Wacht.

 

Doch wehe, wer da wandelt auf unheilvoller Bahn.

Den rechten Weg verlassend in dunkelsinn´gem Plan.

Den wird die Strafe treffen, den trifft der Richterspruch.

Drum zittert all ihr Frevler, vor seinem Bann und Fluch.

 

Er ist der Fürst der Götter, der Gott der Fürstenmacht.

Doch auch der ärmste Bettler, hat Teil an seiner Pracht.

Denn sehet, ach, wie herrlich, wohin sein Auge fällt.

Da färbt sich goldenglänzend und strahlendschön die Welt. 

 

Ehrwürden Falkwart, der am lautesten und kräftigsten mitgesungen hatte, lächelte verzückt. Gewiss, ein wenig hochgestochen wirkte das "Es fährt ein Flammenwagen" schon, für einen Anlass wie diesen. Aber die Schwarzsichler sollten ruhig an die Fürstenmacht erinnert werden, nach den unschönen Vorgängen rund um den "Trutzbund", auch wenn die schon einige Götterläufe zurück lagen. Das mit den finsteren Geistern passte natürlich auch. Nur das Wetter spielte nicht so ganz mit. Heute herrschte Grau in Grau, sowie ein kühler Wind. Bis zum ersten Schnee würde es nicht mehr lange dauern.

 

Falkwart legte einen Bernstein ins heilige Feuer, der sofort zerschmolz. Es roch nach Harz. Eine feierliche Stimmung breitete sich aus. Die Kerzen im Zelt flackerten um die Wette.  

 

"Erhebet Euch und Eure Herzen zu unserem Herrn Praios."

Das Volk stand auf, ebenso der Adel. Zeit für die Predigt. 

 

"Liebe Gläubige, gleich welchen Standes Ihr auch sein mögt. Woher auch immer Ihr in das schöne Gernatsborn geeilt seid. Die Tage des Turniers, die Tage des Feierns und des Festes neigen sich nun ihrem Ende entgegen. Es ist an der Zeit, noch einmal innezuhalten, bevor die Rösser gesattelt und die Wägen angespannt werden. In diesem Moment des Aufbruchs sollten wir an den König der Götter und Gott der Könige denken." Falkwart deutete mit erhobenen Händen gen Himmel,

"An den obersten Herren Alverans, der den großen Himmelswagen lenkt, den Flammenwagen, wie es in dem alten Lied so schön heißt. Manch derisches Zelt mag uns fürstlich erscheinen, manche Kutsche ist reich geschmückt oder das Streitross prachtvoll aufgezäumt...doch vergessen wir nie, wessen Hände in Wahrheit die Zügel unseres Lebens halten." Der Erzpriester blickte scheu nach oben und dann um so strenger in die Runde. "Die Harnische der Ritter unter euch, wahrlich, sie blitzen und glänzen. Aber welche Rüstung leuchtet so herrlich wie der Wagen des Götterfürsten, welcher  Schild glänzt so hell wie der Schild des Praios, der sich jeden Morgen von Neuem über den Horizont erhebt?"

Kunstpause.

 

"Ist das Alveranszelt heute wirklich blau, mag sich der eine oder andere fragen. Ist die Welt wahrhaft goldglänzend ...und strahlendschön? Sie ist es leider nicht. Wir schreiben Traviamond, der Herbst umgibt uns. Die natürliche Ordnung der Dinge, die Harmonie der Sphären will es, dass die unbeschwerte Sommerzeit zu Ende gegangen ist und nun der kalten Jahreshälfte weicht, mit all ihren Schrecken und Kümmernissen. Doch selbst wenn noch schönster Sommer wäre, selbst wenn wir uns noch am Heiligen Monat Praios erfreuen dürften, am Jahresbeginn mit seinen langen, schier endlosen Sonnenläufen. Selbst wenn das Alveranszelt heute leuchtend blau wäre, die Welt goldglänzend und strahlendschön, aber in uns nichts als Dunkelsinn und Bosheit herrschen würde. Wenn Schuld und Sünde in uns überhandnehmen, die bösen die guten Taten überwiegen würden. Dann wäre es doch nur ein falscher Schein, der uns an einem Sommertag umgibt. Wenn die Seele goldglänzend und strahlend schön ist, dann mag uns selbst der kälteste Wintertag sommerlich erscheinen. Lassen wir Licht in unsere Herzen, verbannen wir die Schatten aus unserem Geist. Dann wird uns der Herr Praios auch in den dunklen Tagen, die nun kommen, noch den Weg weisen.  "

Der Rauch des Opferfeuers stieg gerade auf, trotz des Windes. Sicher ein gutes Omen. 

"Rüsten wir uns nun zur Reise, brechen wir auf, voller Vertrauen auf den, der jeden Tag aufs Neue seinen flammenden Wagen über den Himmel lenkt.  Doch vergessen wir nicht: Selbst dann, wenn wir den wahren Lenker der Welt einmal nicht von Angesicht zu Angesicht sehen dürfen. Auch dann noch sieht Sein Auge unsere Fehler, Schwächen und Irrtümer. Bleiben wir allzeit auf dem rechten Weg, so wie der Flammenwagen keine Handbreit die ihm vorgegebene Bahn verlässt. Die Sünder und Frevler aber - wie leicht bricht deren Rad, wie schnell fährt ihr Wagen in den Abgrund! Sie alle sind verdammt und verworfen. Ich rede nicht allein von der ewigen Finsternis, die nach wie vor im Osten dräut. Die noch immer das Heilige Reich Rauls des Großen mit abscheulicher Dämonenbündelei und finsterster Knechtschaft bedroht. Heiliger Gilborn, Heiliger Alboran steht uns bei gegen das wimmelnde Chaos der Niederhöllen! Nein, das Schwanken, der Zweifel, die Zweideutigkeit breitet sich bereits in unseren Reihen aus, der Halbschatten, der Nebel, so wie er an diesem heutigen Tag herrscht...manch Fuhrwerk fährt schon jetzt nicht mehr auf der gut gepflasterten Reichsstraße. Nicht einmal mehr auf dem beschwerlichen Karrenweg, den uns der wahre Glaube mitunter weist. Nein, trunken von Irrwitz sucht manch schlechter Fuhrmann, manch schlechte Fuhrfrau geradezu die Wildnis, das Dickicht, die Einöde, als vermeintliche Abkürzung. Sie alle werden sich darin verirren und zugrunde gehen, mitsamt ihrer kostbaren Ladung. Das ist gewiss."

 

Falkwart ließ seine Stimme drohend klingen. "Ich rede von den Anhängern der Sokramor, der sogenannten Alten Kulte, die altehrwürdiger sein wollen als der Glaube an die Unteilbaren Zwölfe des Silem-Horas-Edikts. Welch törichte Anmaßung, welch frevlerische Verblendung. Leicht könnte man über derartigen Aberglauben lächeln. Dennoch, die Saat des Dämonenbaums wird im Stillen gesät. Die Sternenbresche wächst in der Finsternis. Eine schleichende, unsichtbare Bedrohung ist kaum weniger zerstörerisch als die fliegende Feste oder ein endloser Heerwurm lebendiger Toter. Heute früh erst mussten wir einen jungen Selbstmörder vom Ast schneiden, dessen Seele heillos verwirrt war. Von Rauschkraut, aber mehr noch vom tückischen Gift der Glaubensverirrung. Nicht weit weg von hier ist das geschehen. Das sage ich all jenen, die Levthanskult, die Vergötzung von Wäldern und Bäumen oder Hexentanz für ein harmloses Spiel halten. Nein, das Spiel mit dem eigenen Seelenheil ist niemals ungefährlich. Noch bleibt den trunkenen, verirrten Fuhrleuten Zeit zur Umkehr. Doch die Anstifter dieses schändlichen Treibens können gewiss sein - wir werden die unverdorbenen Seelen zu schützen wissen. Schon bald wird die Ketzer und Häretiker ihre gerechte Strafe ereilen. Jenseits wie diesseits der Berge!" Der Erzpriester hatte seine Stimme  donnernd erhoben.

Ein Raunen und Wispern ging durch die Reihen. Falkwart war zufrieden, aber auch ein wenig erstaunt. Die Menge schien regelrecht Angst vor seinen Worten zu empfinden. Mehr Angst vor ihm als Praiosfurcht? So sollte es eigentlich nicht sein. Sein Kopf folgten ihren Blicken. Hastig schlug er das Tuch an der Priestertiara zurück, das ihm die Sicht behinderte. 

Zwischen den Zelten, nahe am Gernat, stand ein junger Mann, barfuß, in abgerissener, schmutziger Bauerntracht, nein, ein halbes Kind, mit schmutzigem, verhärmtem, totenblassem, pickligem Gesicht. Die Augen waren glasig und weit aufgerissen. Den schiefen Hals verunzierten entsetzliche Würgemale. Ein fürchterliches, tierhaftes Stöhnen drang zwischen den purpurblauen Lippen hervor.

Steif und ungelenk hob Gilbert seine Linke und deutete auf die Schar der Gläubigen, die entsetzt zurückwich.

Erst nach einer Weile begriff Falkwart, dass der Tagedieb geradewegs auf Adran von Oppstein wies, der neben seinem Günstling Lares stand. Die Geste war eine einzige Anklage. "Ooooh..." seufzte der ungerufene Besucher. "Ooooh...Ooohppschtaaaaiiiin!"

Dann drehte sich der Untote steif um und wankte ungelenk auf den Fluss zu, wie ein Betrunkener. Gilbert torkelte ins Wasser, fiel pflatschend hinein und wurde im nächsten Moment von der Strömung mitgerissen.  Nach einer Weile war nur noch die Hand zu sehen, die er ein letztes Mal aus den Fluten hob. Es war, als wolle Gilbert der Festgesellschaft zum Abschied winken.

 

Falkwart war für einen Moment wie erstarrt. Er blickte zu Ucurian, aber der Luminifer schien  ebenfalls ratlos zu sein. Ratlos und sprachlos. 

Alrik von Friedwang trat vor und hob beschwichtigend die Hände: "Kein Grund zur Beunruhigung, werte Festgäste, es ist nichts von Bedeutung vorgefallen. Offenbar hat sich der unglückliche Gilbert nur halb aufgehängt. Sozusagen. In seinem Rauschkrautwahn." 

Der Baron von Friedwang sah in die Runde, die aufgeregt tuschelte und verstört umher blickte. Hie und da wanderte auch schon eine Hand zum Schwertgriff. Praioszeichen wurden geschlagen.

"So Etwas kommt vor, glaubt mir, ich habe es selbst schon erlebt. Das vermeintlich Gehängte plötzlich quicklebendig umherspringen. Eine verwirrte Seele, nichts weiter. Ehrwürden Falkwart" - eine angedeutete Verbeugung - "haben es ja bereits gesagt. Wir sollten nun mit dem Praiosdienst fortfahren. Ich habe bereits meine Wachen angewiesen, nach dem Verrückten zu suchen. Womöglich kann man diesen Lebensmüden ja doch noch irgendwie retten."

 

Der Erzpriester blickte ein wenig säuerlich. Es fehlte nicht viel, und der Friedwanger selbst hatte in den Beweisstücken herumgestöbert. Als "Geheimer Kammerherr der Markgräfin". Das würde zur Unordnung im Zelt passen. Einstweilen hatte ihm der Phexensdiener geholfen, in einer mehr als peinlichen Situation, das musste er zugeben. Der Heiligen Hildmara sei´s geklagt.

"Wir werden den Vorfall prüfen!" sagte Falkwart salbungsvoll in die Menge. "Genauestens prüfen! Ucurian, seht doch bitte nach, ob Ihr für den Störenfried noch etwas tun könnt, der offenbar partout aus dem Leben scheiden möchte. Nehmt einige Büßer mit, und am besten einen Schelch. Ansonsten sollten wir unsere Gedanken und Gebete wieder zum Herrn Praios richten! Der uns vielleicht dieses Zeichen geschickt hat, um uns vor den Folgen eines verdunkelten Geistes zu warnen!"

 

Ehrwürden sprach ein stilles Gebet. Womöglich hatte er den Zauberknoten unterschätzt, im Strick. Es gab immer wieder einmal Fälle, bei denen Menschen von den Toten erstanden, weil im Moment ihres Ablebens Hesinderei getrieben worden war. Der sokramorische Aberglaube war keinesfalls harmlos, er selbst hatte es ja den Leuten gepredigt. 

"Seid bedankt, Hochgeboren, für Eure besonnenen Worte! Ich möchte nicht ausschließen, dass es so gewesen ist, wie Ihr sagt." 

Alrik nickte und trat dann wieder in die Reihe der Adeligen zurück. Adran von Oppstein wirkte eher verwirrt als erschrocken. Nur Lares war totenbleich und ähnelte Gilbert, was aber auch an der gestrigen Zecherei liegen konnte.

"Was könnte...unser Zwischenrufer gemeint haben?" fragte der Friedwanger leise. "Mit diesem...Oppstein?" 

"Was weiß denn ich!" Sein Nachbar schüttelte den Kopf. "Hat der Kerl Oppstein gestöhnt? Ich habe es gar nicht richtig verstanden. Er schien heillos betrunken zu sein. Nun, manche Bauern murren, weil ich ihnen angeblich zu viele Frondienste und Abgaben aufbürde. Die Feldschen nach Oppstein geholt habe, und dergleichen mehr. Als ob ich für jeden zerlumpten Landstreicher im Sichelhag verantwortlich bin."

"Die Feldschen?"

"Die Liebfelder...ich bin ein von Berlinghân, schon vergessen? Die Bösfelder, die Diebsfelder...wie manche Oppsteiner sie nennen. Dabei waren es horasische Söldner, die unsere Baronie von Varenas Horden befreit haben."

"Wo gehobelt wird, fallen Späne."

"Wie meinen?" fragte Lares. "Es war der Feind, der Oppstein verwüstet und geplündert hat."

"Die einen sagen so, die anderen so. Korgeselle bleibt Korgeselle. Ich hoffe, ihr habt das Bier und den Meth genossen..." Alrik legte den Finger auf die Lippen und deutete in Richtung Feuerschale. "Es geht weiter, psst."

“Nun, um genau zu sein, war es die Rommilyser Reiterei, durch die große Teile der Wildermark befriedet worden sind. Unter Befehl von Onkel Gernbrecht.” Adran blickte gerade aus. “Auch wenn die Rommilyser heutzutage im Horasreich stationiert sind, stehen sie unter Oppsteiner Befehl.”

“Ah, verstehe. Dann waren es eigentlich gar keine Liebfelder Söldner. Sondern die Waffenträger eines Verr…Verwandten.” Der Baron von Friedwang faltete fromm die Hände. 

Falkwart verbrannte die letzte Schriftrolle, hob die Hände und sprach ein Gebet in Bosparano, auf das die Fürbitten geradewegs ihren Weg gen Alveran finden würden. Ein Gebet auf "Vinsalterisch", wie die einfältigen friedwanger Bauern gesagt hätten.

 

Der Aberglaube des einfachen Volkes bereitete ihm  Kummer. Die Darpaten waren in den Tagen der Dämonenkriege kopfscheu geworden. Das einfache Volk ebenso wie der Adel.  Was Wunder. Einigen der Besucher war anzumerken, dass sie am liebsten losgestürmt wären und nach der "Erscheinung" gesucht hätte. "Praios, verzeih Ihnen. Denn sie sind unwissend im Glauben und  haben Dein wahres Licht noch nicht gesehen" seufzte er. 

 

 

Der Chor sang nun den Gurvanischen Tageschoral.  Ein kurzer Wink. Novizin Baldenia ging mit dem Klingelbeutel umher, um die Münzen der Gläubigen einzusammeln. Ein kleines Sphärenglöckchen bimmelte mahnend unter dem roten Stoffsack, der mit einer goldenen Sonne bestickt war. 

 

Die Kollekte war erbracht. Zuletzt sprach der Hohe Commisarius eine Segensgebet über die Besucher. Dann erklang das Lied zu Ehren des Greifenkönigs Garafan, das in Markt Friedwang sehr beliebt war.  Mit einem Räuspern bereitete sich der Erzgeweihte darauf vor, noch einige Worte zum Zwischenfall anzufügen. Da eilte auch schon Bruder Ucurian herbei. Jeweils zwei Büßer und friedwanger Wachen trugen den reglosen Gilbert, an Händen und Füßen. Die Hosen und Stiefel der Bewaffneten waren patschnass, die Lumpen des Diebs sowieso. Offenbar war er rasch auf eine der Geröllinseln im Fluss getrieben worden, die in der Strömung ebenso rasch entstanden wie sie wieder verschwanden. 

 

Sie legten den Körper ins Gras. Der Luminifer hielt das Sonnenszepter erhoben, bereit, beim kleinsten Zucken zuzuschlagen. Einer der Praiosgeweihten trat vor. Es war Praiodîn Xerber, der niederkniete, am Herzen horchte und nickte. Dann berührte er Gilberts Hals mit den Händen: "Oh mein Herr Praios, und Ihr, Herrin Peraine, und ihr anderen Herrscher Alverans, schenkt diesem Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist. Denn dieser Leib ist geschlagen mit Bitterkeit und Schmerzen und bedarf der Heilung in Eurem Namen." Klar und kräftig hallte die Stimme von Bruder Feenbein über den Platz.

 

Einen Moment lang tat sich nichts. Plötzlich bäumte sich Gilbert auf, hustete, würgte und spie brackiges Gernatwasser aus.

 

Vor allem das Bauernvolk starrte Bruder Praiodîn an, halb begeistert, halb entgeistert, als habe der den vermeintlichen Selbstmörder gerade von den Toten erweckt. Dann wurde Beifall geklatscht.

 

Falkwart war zufrieden mit dem Ende des Praiosdiensts. Die Rettung eines verhinderten Selbstmörders würde die Kirche in einem guten Licht dastehen lassen. Besonders die Sache mit der uranfänglichen, aber gestorbenen Sumu gefiel ihm. Sollten die Sichler ruhig merken, dass Sumu, die Urmutter, zwar noch existierte, aber gemäß der gültigen Glaubenslehre nur tote Materie war. Aus der das Leben allein durch die Gnade der Götter sproß. Die Anbetung der Lebenden Sumu  hingegen war Irrglaube und zu verdammen.

 

Gilbert schien endgültig zu sich zu kommen. Falkwart hatte es selbst schon erlebt. Hängen war eine recht unzuverlässige Hinrichtungsmethode, im Vergleich zum Enthaupten oder  dem bewährten Verbrennen. Vermutlich hatte sich der Dieb erst an den Ast gehängt, als seine Häscher ihn schon fast gestellt hatten, und nur kurz gezappelt. Alles ergab einen Sinn, wenn man nur lange und sorgfältig genug darüber nachdachte.   

 

Der Erzgeweihte nickte dankend in Richtung Praiodîn, der gerade eine seiner vielen Scharten ausgewetzt hatte.  

Dann wandte sich Falkwart Malachanias  der Menge zu: "Ich habe zum Ende dieses Praiosdienstes eine weitere frohe Botschaft für Euch, liebe Gläubige. Unser sokramorischer Wirrkopf lebt und ist ganz offenkundig kein Gespenst. Fast schon will mir sein Auftauchen als Zeichen des Praios erscheinen: Wo Sein Licht leuchtet, weicht jedweder Dunkelsinn, so schnell wie Schnee in der Sch...Sonne." Falkwart hatte sich ob des Zungenbrechers etwas verhaspelt und räusperte sich. "Es gibt jedenfalls keinerlei Grund zur Besorgnis, unter den schützenden Schwingen des Allerhöchsten. Möge der Himmelskönig allzeit auf Eurem Weg leuchten. Praios vobiscum in aeternitatem! "

 

 Auch wenn immer noch der eine oder andere Kopf gereckt wurde, zerstreute sich das Laienvolk nach und nach. Die Wachen stellten sich vor das Zelt und die Feuerschale, um allzu Neugierige abzuschrecken. 

 

"Mit Verlaub." Bishdarielon von Suunkdal trat vor. "Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich des Tunichtguts annehme. Seelische Leiden fallen in die Zuständigkeit meiner Kirche, bei der Heiligen Noiona."

 

Falkwart lächelte, ebenso milde wie erstaunt. "Ich dachte, Ihr haltet Gilbert für besessen?" Der Geweihte wandte sich dem Söldner zu, der gerade seinen Mantel in einen Busch auswrang.

 

"Ulmhart, hast du eine Erklärung für das Überleben dieses Nichtsnutz? Du hast ihn doch abgeschnitten. Kann es sein, dass er nur kurz am Strick gebaumelt hat? Oder hat sich der Ast durchgebogen, so dass er mit Füßen auf der Erde stand? "

 

"Halten zu Gnaden, Ehrwürden. Der Kerl müsste eigentlich mausetot sein. Nun, wie soll ich sagen. Die Erle hatte ein Feenzeichen, denke ich". 

 

 "Ich muss schon bitten. Das ist nichts weiter als törichter Aberglaube. Genau der Art, vor der ich gerade gewarnt habe." Falkwarte lachte auf. "Ulmhart, das scheint mir ein sprechender Name zu sein, haha."

 

"Ein Baumgesicht hatte der Stamm schon. Die Sokramorier sagen, dass da die Erlenfrau drin wohnt, die ein Tor zur Feenwelt bewacht...und Sterbliche manchmal mitnimmt. Wahrscheinlich hat sich der Hungerleider deswegen dorthin gehängt, mit einem Zauberknoten im Strick. Weil er in ne bessere Welt wollte." 

 

"Erlenfrau?"

 

"Die gelehrten Herren sagen Drude dazu...glaub ich."

 

"Wie? Ah so, eine Dryade. Das wird ja immer toller. Und diese Dryade hat ihn deiner Meinung nach...am Leben gehalten?" 

 

"Vielleicht nur gehalten", schlug der Büßer vor. "Aber ich kenne mich da nicht sehr gut aus."

 

"Das will ich hoffen, andernfalls müsste ich die Zeit deiner frommen Läuterung noch ein wenig verlängern." 

 

"Man sollte diesen verfluchten Baum sofort fällen" Ucurians Blick ging zum Wald. "Zur Sicherheit. Ein wenig merkwürdig sah der Storren schon aus."

 

"Erlen bluten, wenn sie..."

 

"Ulmhart, es reicht nun wirklich!" sagte Falkwart Malachanias knapp. 

 

"Fällen, klein hacken und verbrennen" brummte der Luminifer.

 

"Bitt Euch, Ucurian, bitt Euch. Wir sind doch keine Holzfäller. " Ein herrischer Wink, und Gilbert wurde auf beide Beine gestellt. Der Dieb schwankte, langte sich an den Hals und sah völlig verstört um sich. Der Praiot schnippte mit dem Finger vor Falkwarts Gesicht.

 

"Hast du uns zu den merkwürdigen Vorfällen etwas zu sagen, Gilbert?"

 

"Herr...bitte nicht wieder in den Block...mein Hals...tut schon ganz weh..." Gilberts Stimme klang krächzend. Nur mühsam würgte er die Worte heraus. 

 

"In der Scheune, was war das für ein abscheuliches Ritual mit den Rüben? Deine Selbstbezichtigung, besessen zu sein? Was hatte das zu bedeuten?"

 

 

Der Halbstarke sah Ehrwürden Falkwart fragend an. "Ich muss kurz eingenickt sein...Es hat geregnet...nicht wahr? Mir ist so kalt..." Tatsächlich begann der Bursche zu zittern. "Mehr weiß ich nicht, ich schwörs!"

 

Ucurian legte Gilbert die Hand auf die Stirn, mit Exorzistenmiene, schloss die Augen und bat in einem Gebet um Erleuchtung. "Ich spüre keinen Dämon in ihm und keinen bösen Geist"

 

"Gut, das ist schon mal eine Erkenntnis. Dein versuchter Tsafrevel, Gilbert? Du hast ihn sicher aus Reue begangen, ob deines schändlichen Diebstahls? Kurz bevor dich meine Wachen gestellt haben?"

 

Ein hilfloses Kopfschütteln. "Ich weiß gerade nicht, was Ihr meint, hoher Herr!"

 

"Na wunderbar, jetzt täuscht der Schauspieler auch noch Gedächtnisschwund vor", knurrte der Luminifer. "Ein paar Rutenhiebe werden seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen..."

 

"Oppstein, warum hast du gerade eben Oppstein gerufen und auf den Baron gedeutet?" Falkwart ging ganz in seiner Inquisitorenrolle auf.

 

Gilbert zuckte matt mit den Schultern. "Ich weiß nicht...meine Mutter kam aus Oppstein. Habe ich Oppstein gerufen?"

 

Bishdarielon räusperte sich. "Ehrwürden, wenn ich etwas sagen darf ?! Ich muss zugeben, meine Mutmaßung von heute morgen war töricht. Der Verdacht, Gilbert könnte besessen gewesen sein, entbehrt wirklich jeder Grundlage. Es ist eindeutig, die Rauschpilze haben seine Sinne verwirrt. Waldläuschlinge rufen das Bedürfnis hervor, in den nächsten Wald zu rennen, um dort mit der Natur eins zu werden. Wie die Ketzer es nennen. Koboldskappen weisen angeblich den schnellsten Weg in die Feenwelt. Verzeiht, wenn ich Eure Deutung der Ereignisse angezweifelt habe".

 

Falkwart nickte huldvoll und wirkte ein klein wenig geschmeichelt. "Schon gut. Kümmert Euch um Euren Schnapphahn, Herr Landmeister. Immerhin habt Ihr ihn gestern von der Leine gelassen. Zeit hat er uns wahrlich genug gestohlen. Baldenia, wieviele Wohltaten befinden sich in der heutigen Sammlung?" Das galt der Lichtsucherin, die auf einem Tischlein die Münzen zählte, darunter auch blinkendes Gold. Man merkte, dass sich Adelige unter den Spendern befunden hatten. 

 

 Der Luminifer ließ nicht locker. "Dieser Bursche wartet immer noch auf seine gerechte Strafe. Was ist mit dem gestohlenen Bernstein? Der Störung des Praiosdiensts? Ich kenne diesen närrischen Spruch, auch wenn man ihn kaum verstanden hat: Oppstein, Oppstein, dein kleines Hirn muss versteckt sein. Ungeheuerlich...eine impertinente Schmähung des Adels."

 

"Hängen und Würgen ist Strafe genug. Ebenso das Untertauchen im eiskalten Gernat. Hinfort mit ihm" Falkwart wedelte mit der rechten Hand. "Ihr könnt mir später noch Bericht erstatten, Landmeister Bishdarielon."

 

 

Kurz darauf saß Gilbert neben dem Feuerbecken im  Zelt, halbnackt und eingehüllt in eine Decke, einen Becher Rotwein in den Händen. Es war Rebensaft der Art, wie er ihn nie zuvor im Leben gekostet hatte und vermutlich auch nicht mehr so schnell eingeschenkt bekommen würde. Der Herumtreiber lächelte beschwipst und sah sich das Gefäß genauer an: Ein schwerer Zinnbecher mit dem Steinbockwappen des Hauses Friedwang. Sicherlich hatte das Ding seinen Wert, aber einstweilen wartete er lieber auf die Kleidung, die ihm die nette Büttelin bringen wollte. Gilbert war einfach nur müde und hungrig, sein Hals schmerzte. In seinem Kopf schwirrte alles durcheinander. 

 

Nur mühsam erinnerte er sich, was geschehen war. Er musste eingenickt sein, im Block, trotz der Verrenkungen, der Schmerzen und der Kälte. Von seiner Mutter hatte er geträumt, die Dienstmagd in Oppstein gewesen war. Bevor Adrans Leute sie mit Schimpf und Schande davongejagt hatten. Wegen ein paar läppischer Silbertaler horasischer Prägung, die sie sich eigentlich nur ein wenig genauer hatte anschauen wollen. Welcher Herr ließ einen solchen Reichtum auch unbeaufsichtigt herumliegen, in seinen Privatgemächern? Besonders hübsch war seine Mutter nicht gewesen, nicht einmal der Baron hatte ein Auge auf sie geworfen, trotz aller gegenteiligen Bemühungen. Ein Kind vom Herrn, das wäre es natürlich gewesen...so war Rude eben sein Vater geworden, der gut aussehende Knecht, der sich hernach aber rasch vom Acker gemacht hatte. 

 

Von Bishdarielons riesigen Hunden hatte Gilbert geträumt, glühenden Galottaköpfen in einer Scheune, die er aus irgendeinem Grunde hatte anzünden wollen....durch den Wald war er geirrt, bei Nacht und Nebel, mit pausenlosen Selbstgesprächen, einen Strick in der Hand. Gegen Morgengrauen hatte er sich dann aufgehängt, in seinem wirren Alptraum. Das Schnappen nach Luft hatte sich beängstigend echt angefühlt, das hilflose Gezappel und Gestrampel. Seine Seele hatte den Körper verlassen wollen, aber irgendwie war es ihr nicht gelungen. Es war, als hätte der böse Gilbert mit dem guten Gilbert gerungen, in einem fort. "Oppstein", das Wort war auch gefallen. Mitten im Zeltlager war er dann wieder aufgewacht, umgeben von Praiosgeweihten. Offenbar hatten sie ihn am Ende doch vom Pranger befreit, diese Leuteschinder, auch wenn er jetzt völlig durchnässt und erschöpft war.

 

Nun saß er hier und trank Herrenwein, immerhin. Der junge Oppsteiner sah sich um, ob es noch irgendetwas Wertvolles zum Einstecken gab, nachher, wenn er ordentliche Hosen haben würde, mit hoffentlich großen Taschen dran.

 

Der Vagabund zuckte zusammen, als sich der Eingang zum Zelt öffnete. Ein junger Bursche trat ein, von gedrungener, aber kräftiger Statur, blond und blauäugig. Der Knappe, der das Drachenkopf-Wappen des Hauses Oppstein trug, war nur wenige Götterläufe älter als er, aber ansonsten sein genaues Gegenteil, gut genährt, mit zarten Händen und dem blassen, vornehmen Schnöselgesicht eines jungen Adeligen. 

 

"Travia zum Gruße!" flüsterte der Jüngling und sah sich verstohlen um.

 

Gilbert nickte, ein wenig mißtrauisch. Was hatte das jetzt schon wieder zu bedeuten? 

 

"Das Zeichen" sagte der Knappe feierlich und sah den Bettelknaben an, als wäre es ein geheimes Losungswort. Womöglich war es das auch. 

 

"Mein Name ist Travian von Schnayttach-Binsböckel." Der Besucher sprach schnell, fast hastig. "Ich bin Bruder der Baronin von Schlotz. Wir sind uns gestern im Traum begegnet. Auch wenn ich nicht weiß, warum. Deswegen bin ich hier."

 

Gilbert sah den Fremden, der sich Travian nannte, unterwürfig, aber auch ein wenig spöttisch an. Sollte das eine Liebeserklärung werden? Manche der Adeligen auf dem Fest schienen elfisch veranlagt zu sein. Einer hatte ihn gestern geküsst und einen Knopf zugesteckt, daran konnte er sich nun wieder erinnern. Ebenso an den Dunst von Meth, Bier und Wein. 

 

"Gilbert aus...aus Oppstein. Verzeiht...Herr...mit dem Sprechen...geht es nicht...so gut." Der Dieb langte sich an schmerzenden Hals. Erst jetzt merkte er die tiefen Schwielen, ja, Schnitte. Das kam sicherlich von der hölzernen Halskrause, in der er eingeschlafen war. 

 

"Warum nur hast du versucht, dich umzubringen?" fragte Travian. "Es war wegen deiner Mutter, nicht wahr? Wegen...all der Geschichten?"

 

Gilbert sah Travian mit großen Augen an. Der Knappe war adelig, hochadelig sogar. Hätte er ihn befohlen, Handstand zu machen oder vor ihm zu tanzen, er hätte es vermutlich getan. Adelige durften machen, was sie wollten, solange sie sich an das Recht des Kaisers und die Gebote der Götter hielten.

 

"Ich verstehe nicht ganz, Herr. Ja, ich habe von meiner Mutter geträumt...glaube ich. Woher wisst Ihr das?"

 

"Deine Mutter stand in Diensten des Baron von Oppstein, so wie ich jetzt?" Travian klang aufgeregt. "So stimmt es also doch?"

 

"Ja, ja...das stimmt schon."

 

"Heilige Mutter Travia, ein Wahrtraum. Wie kann das sein? Hast du ihn mir gesandt?"

 

"Ich?" fragte Gilbert verwirrt. "Verzeiht, Herr, ich verstehe Euch nicht. Bin kein Hexer oder sowas, wenn Ihr das meint. Praios bewahre!"

 

"Sicher war es die Gütige Mutter Alverans, die mich warnen wollte." Travian hatte laut nachgedacht, wie er nun merkte. Irgendwo in der Nähe war ein Schnattern zu hören, von einer einsamen Gernatente. Oder gar - von einer Gans? Der Knappe blickte ein wenig verklärt. Zum ersten Mal hatte ihm die Göttin eine echte Botschaft gesandt, daran gab es kein Zweifel. Eine Traumbotschaft mit einer Warnung. 

 

Gilbert wusste ehrlich nicht, was er noch antworten sollte. Mit dem Sprechen klappte es ganz gut, aber einstweilen war er froh, einen Vorwand zu haben, nichts sagen zu müssen. Er würde künftiger vorsichtiger mit diesen Pilzen sein, soviel stand fest. Am besten nur noch mildes Ilmenblatt rauchen.

 

"Du brauchst keine Angst zu haben", sagte Travian. "Recht, Sitte und Anstand sind auf unserer Seite...Erzähl mir alles. Alles, was du über Adran und seine üblen Machenschaften weißt."

 

Gilbert runzelte die Stirn. Was wusste er über "Adran und seine üblen Machenschaften"? Eigentlich gar nichts. Außer, dass er ziemlich knausrig und kleinlich war, wenn es um ein paar Talerchen ging.  

 

Zum Glück öffnete sich erneut der Eingang zum Zelt. Travian zuckte zusammen. Der Knappe sah um so erschrockener drein, als mit Hesindian von Orweiler der weißhaarige friedwanger Hofmagier eintrat, gefolgt vom finsteren, waffenklirrenden Landmeister der Golgariten. 

 

"Travian von Schnayttach-Binsböckel ?!" Hesindian verbeugte sich, und deutete über die Schulter. "Euer Herr hat schon nach Euch gefragt."

 

"N...natürlich" Travian blickte erst zu Gilbert und dann zum Magus, wobei er es vermied, ihm direkt in die Augen zu sehen. 

 

Bishdarielon musterte ihn merkwürdig, mit seinem stechenden Rabenblick. "Was verschafft uns die Ehre dieses unerwarteten Besuches, Travian?"

 

"Verzeiht. Ich wollte mir, das...äh, kleine Wunder einmal selbst anschauen. Ich kann es gar nicht  recht glauben."

 

"Natürlich. Das Zelt deines hochgeborenen Schwagers ist jetzt auch dein Zelt." Der Golgarit klang ein wenig süffisant und trat demonstrativ beiseite. Travian verstand. Mit vernuscheltem Abschiedsgruß und hochrotem Kopf schlüpfte er hinaus, wobei er darauf achtete, den Schwarzen Ritter nicht einmal zu streifen.

 

Gerne hätte der Baronssohn gelauscht, aber draußen stand schon die friedwanger Büttelin, mit Kleidern im Arm, die ihn ebenfalls erstaunt ansah. "Guten Tag" stammelte er verwirrt und eilte davon. 

 

Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

 

"Wer will fleißige Bäuerchen sehen? Klatsch, klatsch, klatsch, Dreschflegel klatsch! Lasst uns schnell zur Ernte gehen. Klatsch, klatsch, klatsch, Dreschflegel, klatsch! Sammeln Halm und Ääähre, fällt uns gar nicht schwere. Klatsch, klatsch, klatsch, Dreschflegel, klatsch! Bringn sie schnell zur Scheune, übers Feld, durch Zäune! Klatsch, klatsch, klatsch, Dreschflegel, klatsch!"

 

Ysilda stand neben dem Tsaschrein und dirigierte den Kinderchor, der gerade das fröhliche Abschlusslied sang. Beim Refrain batschten alle glücklich in die Hände, mit glänzenden Äuglein. Gesungen wurde fast schon im Wettstreit mit dem feierlichen Choral, der vom "Praiostempel" heranwehte, zusammen mit süßlichem Weihrauchgeruch. Der Gernatsborner Nachwuchs hatte seine schönste Tracht angelegt, die Bauernmütter, aber auch manch gestandener Landmann, tupfte sich Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln.

Die Dienerin des Lebens war zufrieden, trotz der kleinen Aufregung rund um den Schwächeanfall der Baronin. Haldana war also wirklich von Tsa gesegnet ?! Welch wunderbares "Ende" der Tsafeier, die in Wahrheit nicht endete, sondern einfach wieder ins Alltagsleben überging.

Sie nahm die bunten Glashüllen von den ewigen Lichtern, rief die Kinder zum Altar und ließ sie die flackernden Flämmchen ausblasen, mit dicken Backen. Einige Gläubige, nicht nur Frauen, eilten herbei und streichelten der gesegneten Tsa demütig über den runden Bauch, was Glück bringen sollte.  

Gleichzeitig wurden die Herbstblumen auf und neben dem Altar unter den Gästen verteilt. Außer dem jungen Baronsehepaar befand sich auch noch Junkerin Glyrana unter den Feiernden, die den "Blumenkindern" huldvoll Äpfel und Birnen schenkte. Die Ernte war ja größtenteils schon eingefahren und die Zehntgarben ausgelegt worden, zur Begutachtung durch den Zehntknecht. Bald schon würde die Wintersaat ausgebracht werden, um im Frühjahr emporzusprießen.  

Delonah hatte ihre Worte sorgfältig gewählt, bei der Predigt, und sich nach Kräften bemüht, das Klischee von den zappeligen Unruhestiftern zu widerlegen, das ihrer Kirche anhaftete. Beinahe hatten ihre Worte seriös geklungen - eine völlig neue Seite an ihr ?! Die Geweihte schien ernsthaft entschlossen zu sein, das Verhältnis zur Gemeinschaft des Lichts zu verbessern. Kein Leben ohne Sonne, kein Regenbogen ohne Licht, am Ende eines fürchterlichen Unwetters.

Ysilda verstand ihre Glaubenschwester. Es war sonnenklar, dass die erstarkte Travia- und Praioskirche  die "Alten Kulte" zurückdrängen wollte, nach der Rückkehr von Recht, Sitte und Gesetz in die märkischen Lande. Eine strenge Ordnung drohte sich wieder über alles zu legen.

Nun, es würde die Aufgabe der Tsajünger und Tsajüngerinnen sein, einerseits mitzuspielen. Andererseits aber auch ein wenig mit den neuen Gegebenheiten zu spielen. Zumindest würde es Vermittler brauchen, zwischen den verfeindeten Lagern. Ebenso diskrete Hilfe für die Feenfreunde, die unter den Anhängern der Alten - was für ein scheußliches Wort - in der Mehrheit zu sein schienen. Was grundsätzlich erfreulich war. 

Ysilda hatte den Eindruck, dass einige neugierige Zaungäste zwischen den beiden Götterdiensten hin und her gewechselt waren, ganz im Sinne der Ewigjungen Göttin. Delonah war listig, durch das scheinbare Zurückweichen vor den Praioten, in Richtung Tsaschrein, hatte sie eine herrliche Unruhe im Zeltlager geschaffen. Aus der "Andacht" an zwei Orten war ein einziges große Fest des Lebens geworden, das nun einmal aus ständiger Bewegung und Neuschöpfung bestand. Vor allem aus der Freiheit eines Menschen, immer zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen. 

Allerdings schien drüben, bei den Praiosgläubigen, gerade deutlich mehr Unruhe zu herrschen als im beschaulichen Hain der Tsa. Das Gerücht verbreitete sich, dass ein junger Selbstmörder in den Gernat gesprungen sein sollte, während der Predigt des Hohen Commissarius.

Einen kurzen Moment lang huschte ein Schatten über Ysildas Gesicht! Selbstmord war einer der scheußlichsten Frevel, den man im Angesicht der Lebensspenderin begehen konnte. So langweilig konnte das Salbadern eines Falkwart Malachanias doch gar nicht sein, dass man sich lieber in die Fluten stürzte, als sich das ständige Geschimpfe gegen "die" Sokramorier anzuhören. 

 Die  Dienerin der Eidechse raffte ihre buntes Ornat zusammen und eilte auf das Turnierlager zu, wo die Zahl der Zelte schon deutlich abgenommen hatte. Die ersten Gäste brachen schon wieder auf zu neuen Abenteuern. Vielleicht konnte sie das Leben des jungen Burschen noch irgendwie retten!

Zu ihrem Erstaunen hatte sich die Menge vor dem "Praiostempel" bereits aufgelöst, nur hie und da wurde noch getuschelt und aufgeregt debattiert. Sie entdeckte Praiodîn, alias Bruder Feenbein, den sie vor ein paar Jahren einmal auf wundersame Weise geheilt und, nun ja, außerdem noch zum Vater gemacht hatte. Der Praiosgeweihte segnete gerade ein stattliches Schlachtross, das ihm von einem Knappen gebracht worden war. Was Ysilda ein wenig erstaunte, aber Bruder Praiodîn, den entlaufenen Tsanovizen, haftete ohnehin der Ruf des Unkonventionellen an.

Ysilda eilte auf ihren "Ehemaligen" zu, der sich gerade umdrehte und sie wenig begeistert anschaute. Dass ihre gemeinsame Tochter Melsine magisch begabt war, dazu konnte sie nun wirklich nichts. Ein heiterer Einfall der Kindlichen Göttin, wie so oft! 

"Ysi" sagte er, mit kühlem Lächeln. "Wir müssen noch über die Geschichte mit dem Informations-Institut..."

"Über Melsines Zukunft sprechen wir besser ein andermal", sagte die Geweihte, durchaus froh, diesem leidigen Thema ausweichen zu können. "Ich habe gehört, es gab ein Zwischenfall beim Praiosdienst ?!"

"Ja, dieser Herumtreiber Gilbert. Er hat die Liturgie gestört und ist in den Gernat gesprungen."

"Ein Selbstmordversuch? Wo ist er jetzt?"

"Vermutlich hatte er einfach zu viele tsagefällige Rauschpilze intus". Bruder Praiodîn klang eher neckisch als streitsüchtig. "Ist wahrscheinlich irgendwelchen Kobolden hinter her gesprungen, in den Fluss. Mit Praios Hilfe habe ich ihn wieder auf die Beine gebracht! Ein Heilungssegen...das dürfte ganz in deinem Sinne gewesen sein."

Ysilda nickte und atmete erleichtert durch. "Gut, das ist gut. Man merkt, dass an diesem Ort der Segen der Jungen Göttin wirkt."

Sie sahen sich eine Zeitlang verlegen an, fast ein wenig unsicher.

"Schade, dass das Turnier vorbei ist", sagte Praiodîn, um überhaupt etwas zu sagen.

"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Jedem Ende zum Glück auch." 

"Komm mir nicht wieder mit Hesinderei. Melsine, sie..."

"Wir reden später darüber" wiederholte die junge Schlotzerin und klang bestimmt. "Wo ist dieser Gilborn jetzt?"

"Gilbert..."

"Wie auch immer. Ich würde ihn mir gerne einmal anschauen..."

"Sie haben ihn ins Friedwanger Zelt gebracht, wo er sich erholt. Keine große Sache, denke ich...Falkwart hat alles im Griuff."

Praiodîn wies mit der Hand die grobe Richtung. Ysildas Augen folgten der Bewegung, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der weißhaarige Hofmagier Baron Alriks und sein dunkler Bruder Bishdarielon das Zelt ansteuerten. Der rabenschwarze Golgarit. Ysilda schauderte und glaubte, den Hauch des Todes zu spüren, der den Landmeister des Ordens umgab. Nun ja, zur Praioskirche ließ sich immer noch eher eine Brücke schlagen als zur Boronskirche. Die war für das Abbrechen sämtlicher Brücken zuständig. Man musste schon Maraskaner sein, um da noch Gemeinsamkeiten zur Lehre der Jungen Göttin zu entdecken. Oder an die Wiedergeburt glauben, wie "Kukina Elfenwald die Fünfte."

Einen Augenblick später eilte ein junger, blondschöpfiger Knappe aus dem Zelt und wäre beinahe in eine friedwanger Büttelin gerannt. Über seinem Wams prangte das Drachenkopfwappen des Hauses Oppstein.

 

Glyrana kam vom Tsaschrein herbei geeilt. "Es gab einen weiteren Zwischenfall?" fragte die Gastgeberin, mit Besorgnis in der Stimme.

"Nichts allzu Weltbewegendes, Euer Wohlgeboren", sagte Praiodîn. "Ein verhinderter Selbstmörder, das war alles. Ich konnte ihn mit einem Heilungssegen und Praios Hilfe rasch wieder auf die Beine stellen. Er wollte sich gestern nacht schon aufhängen, im Wald. Jetzt ist er auch noch in den Gernat gesprungen..."

"Aber das ist ja furchtbar" Glyrana blickte erschrocken.

"Wir leben in verwirrenden Zeiten", sagte der Lichtgeber vieldeutig.

Der Oppsteiner Knappe ging völlig gedankenverloren an ihnen vorbei, als wolle er das Gesagte verdeutlichen. Ysilda erkannte Travian von Binsböckel, den Bruder der Baronin von Schlotz.

"Der junge Herr Travian...Ihr seid beim Tsafrevler im Zelt gewesen? Sagt, befindet sich wohl?"

Der junge Herr von Schnayttach-Binsböckel blickte erschrocken auf. "Oh, verzeiht...ich, äh...ja, er hats überlebt. Ich muss zu meinem Herrn Adran..ich glaube..also...ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat."

Irgendwie wirkte Haldanas Bruder, als hätte er gerade den Rest von Gilberts Rauschpilzen vertilgt.

"Travian? Alles in Ordnung?" fragte Glyrana stirnrunzelnd 

"Ich muss dringend zu meinem Herrn Adran. Er hat schon nach mir gerufen."

"Er ist oben auf der Burg, denke ich, bei den anderen Ehrengästen. Ich wollte dort noch eine kleine Abschiedsrede halten, zusammen mit Storko. Du kannst mich gerne begleiten." 

"Das...das ist sehr nett." Travian sah Glyrana mit großen Augen an. "Unter den Ehrengästen also...ach, Mutter Travia sei´s geklagt."

"Werdet ihr uns begleiten?" fragte die Junkerin in Richtung der beiden Geweihten.

"Ich werde mir noch einmal diesen Gilbert ansehen" sagte Ysilda, kurz entschlossen. 

 

"Ich glaube, Ehrwürden Falkwart drängt zum Aufbruch. Die Sonne steht schon hoch am Himmel." Das kam von Praiodîn.

 

Gilbert Hasenfuß

 

"Herr, ich bitte Euch...Nein, nein!" Gilbert kniete nieder und fasste sich an den Hals mit den schwieligen Würgemalen. Seine Stimme klang noch immer krächzend. "Bitte, edler Herr, in Praios Namen...kein Gezauber in meinem Kopf!" Ängstlich irrten die Augen des Diebs zwischen dem dunklen Golgaritenritter mit blutfleckigem weißem Mantel und dem weißhaarigen Magier hin und her, der ihn mit flammenden schwarzen Augen anstarrte. 

 

"Ich kann mich nicht konzentrieren!" ächzte der graue Zauberer. 

 

"Es ist doch nichts dabei, bei meiner Seel" sagte Landmeister Bishdarielon. "Wir müssen herausfinden, ob Er besessen war oder nicht"

 

"Das weiß ich!" sagte Hesindian, leicht genervt.

 

"Ja, ich meine ja auch ihn. Er meint Du, wenn man mit Gemeinen spricht!"

 

 "Mag sein, ich bin mittlerweile aber auch von Stand!"

 

"Dich meine ich ja auch nicht. Mit Er!" Bishdarielon hob seine Hände zur Zeltdecke. "Gütige Marbo, ist denn das so kompliziert? Das Erzen ist die übliche Anrede gegenüber Standesniederen, und meint in dem Fall ihn da." Der Golgarit deutete auf den schlotternden Halbstarken.

"Er soll wissen, dass wir ihn nur zu seinem Besten examinieren!"  

 

"Bitte keine Hesinderei, hohe Herren! Ich will keinen Ärger mit den Praiosgeweihten mehr. Die merken sofort, dass ich verzaubert  bin, und stellen mich gleich wieder an den Pranger."

 

 "Unsinn!" Hesindian Silpho ya Phaitos raschelte mit der Robe. "Der Block ist doch schon längst abgebaut. Aber wenn Golo gestern Nacht von dir Besitz ergriffen hat, dann muss es noch Residual-Strahlung seines Astralcorpus geben!" Der Magus hob den Stab und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. "Ich werde jetzt mittels eines OCULUS deine Aura untersuchen, nichts weiter. Es tut nicht weh und hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Im Gegenteil, ich möchte nur sicher gehen, dass der Spuk dich auch wirklich verlassen hat."

 

"Herr, lasst meine Aura in Ruhe, ich flehe Euch an, ich brauche meine Seele noch...wenn man gegen seinen Willen verzaubert wird, bringt das 13 Wochen Unglück!"

 

"Dann solltest dich nicht länger dagegen sträuben! Die Aura meint nicht die Seele, sondern eine Art astralen Abdruck im Limbus..."

 

"Werf doch erstmal einen Heilzauber auf ihn!" schlug Bishdarielon vor. "Vielleicht zerstreut das seine Bedenken? Er scheint  Lebenskraft nötig zu haben."

 

Ein scharfes Räuspern war zu hören.

 

Golgarit und Magus drehten sich um. Eine junge Frau in der Regenbogenrobe der Tsakirche war eingetreten.

 

 "Ysilda von Schlotz?"

 

"Zu Euren Diensten!" sagte die Dienerin des Lebens knapp. "Entspricht es eigentlich dem Codex Albyricus, einen Menschen ohne dessen Einwilligung zu verzaubern?"

 

"Es handelt sich hier um die Untersuchung eines Criminalfalls!" sagte Bishdarielon und musterte die Tsajüngerin mit gerunzelter Stirn. "Ich glaube nicht, dass unser ehrloser Gilbert aus Nirgendwo überhaupt rechtsfähig ist." 

 

"Ein Halbwüchsiger, der versucht hat, sich selbst zu entleiben?! So war es doch, oder?" Mitfühlend sah Ysilda in Gilberts Richtung, der langsam und geduckt aufstand. "Ich dachte, Borongeweihte wären Seelenkundler und besäßen mehr Einfühlungsvermögen. Der Bursche ist fast noch ein Kind, und völlig verstört! Seht ihr nicht, dass ihm bereits das Sprechen Schmerzen bereitet? Jetzt wollt Ihr ihm auch noch Magie antun, und seine geplagte Seele endgültig durcheinander bringen? Warum denn eigentlich?"

 

Hesindian blickte pikiert auf die Tsageweihte, von der es hieß, sie hätte in Zaberg ein gemeinsames Kind mit einem Praiosgeweihten in die Welt gebracht. Praiodîn Xerber sollte wiederum ein ehemaliger Novize des Zaberger Tempels sein. Irgendwie übertrieben die beiden es mit der illumnestrischen Gemeinsamkeit, wenn Ysilda jetzt die Magiefeindin herauskehrte... 

 

"Es scheint sich bei den angeblichen Selbstmordversuchen um einen Fall von Besessenheit zu handeln, Euer Gnaden!" sagte der Magier beherrscht. "Insofern handeln wir hier ganz in seinem Sinne!"

 

"Ich glaube nicht, dass ein Todesdiener und ein Magier im Moment der richtige Umgang für diesen Unglücklichen ist!" Ysildas Blick ging zu einem Messer, dass neben einem Teller und einem aufgeschnittenen Apfel auf dem Tisch lag. Gilberts Blick wanderte nun ebenfalls dorthin.

 

Langsam griff Ysilda nach dem Apfelmesser. "Ihr-solltet-ihn-nicht-mit-soetwas-allein-lassen"

 

Gilbert blickte ein wenig enttäuscht. Das Messer hatte er erst jetzt entdeckt, im Halbschatten des Zelts. Ein gutes Beutelschneidermesserchen...Der Apfel sah auch lecker aus. Aber warum versuchte ihn hier jeder zum Lebensmüden zu erklären?

 

Ysilda tippte an ihren Hals. "Ich werde dir erst einmal eine Salbe auftragen, bevor sich das noch mehr entzündet. Meine Sachen stehen noch am Schrein...komm einfach mit."

 

"Ich danke Euch, gute Frau!" Gilbert setzte wieder seinen Hundeblick auf, krächzte und hustete theatralisch. "Ihr seid nicht so grausam wie die anderen..."

 

"Wenn er sich erholt hat, könnt Ihr ihn gerne noch einmal befragen" sagte die Geweihte bestimmt und überreichte Hesindian das Messer. "Passt das nächste Mal ein bisschen besser auf!"

 

"Aber..."

 

Frohgemut ging Ysilda nach draußen, den Arm um Gilbert gelegt. Der ein wenig streng roch, wie sie nun merkte. Nach Gernatwasser, aber auch nach den viel zu großen, schmutzigen Bauerngewändern, die ihn anstelle seiner nassen Lumpen gebracht worden waren.

 

"Ich werde erst einmal dafür sorgen, dass du dich waschen kannst! Sag, was genau ist dir widerfahren?"

 

"Ich wurde unschuldig an den Pranger gestellt!" empörte sich Gilbert.

 

"Deswegen darf sich ein Sterblicher nicht gegen das Geschenk der Tsa versündigen. Man wirft sein Leben nicht einfach weg. Niemals, verstehst du? " Irgendetwas hüpfte vom Herumtreiber auf ihre Robe. Erschrocken ließ Ysilda ihn los. Flöhe?

 

Die Junge Göttin liebte alle Geschöpfe, vor allem wenn sie munter herum sprangen. Aber bei Flöhen war das ein bisschen zuviel des Guten! Im nächsten Moment schrie Ysilda auch schon auf, als sie etwas in die Seite biss. Hektisch wischte sie über ihre Priestergewandung.

 

Es schien nur ein einzelner Blutsauger gewesen zu sein, Tsa sei Dank!

 

"Ich glaube, deine Gewänder müssen wir auch mal ordentlich..."

 

Als sie sich umdrehte, rannte Gilbert auch schon davon, Ysildas kleinen Almosenbeutel in beiden Händen.

 

Die Dienerin der Eidechse glaubte ihren Augen nicht zu trauen, da sah sie auch schon den Grund: Sowohl der Landmeister als auch der Graumagier hatten die Verfolgung aufgenommen, offenbar schon seit einer geraumen Weile. Der Herumtreiber warf dem Golgariten das Beutelchen vor die Füße, ein paar Münzen rollten heraus. Wie Gilbert offenbar erwartet hatte, blieb der galante Edelmann stehen und sammelte die Taler und Heller auf.

 

Hesindian wollte bereits eine Zaubergeste vollführen, dann erstarrte er mitten in der Bewegung - und lächelte entschuldigend den Büßern und Praioten zu, die um ihn herum damit beschäftigt waren, Wägen oder Packpferde zu beladen.

 

Jung-Gilbert indes steuerte mit Hasenfüßen den Waldrand an.



Der Fehdenbecher und ein Abschied

Travian begleitete die Gastgeberin hinauf zur Burg. Es war nur ein kurzer Spaziergang vom Zeltdorf, vorbei an dem Gernatsborner Dorf und dem Tsaschrein, an dem sich noch vom Gottesdienst einige Gläubige aufhielten. 

“Du hast dich ganz wacker geschlagen, beim Knappenturnier” begann Glyrana freundlich ein Gespräch. “Deine Schwertleite wird nicht mehr lange dauern.” Der Bruder der Schlotzer Baronin war jedoch nicht besonders ruhmreich aus dem Ringstechen hervorgegangen, zumindest konnte sich die Gastgeberin nicht wirklich an sein Können erinnern. So waren ihre Worte mehr höflich gemeint, um ein Gespräch zu beginnen. “Habt Dank für das Lob” kommentierte Travian knapp und schritt dann weiter schweigsam in Richtung Burg. Er schien etwas verwirrt zu sein. 

Im Inneren rasten seine Gedanken - sein Traum, Adran, die Gerüchte, die er über ihn erkannte und was er wusste und nun dieser Gilbert, der aus Sicht Travians eine Bestätigung für all seine Befürchtungen über seinen Schwertvater war. In ihm kämpften Sitte und Glaube gegen Loyalität und Gehorsam.  Der Oppsteiner Knappe blickte schuldvoll seine Begleiterin an, ohne weitere Worte zu sagen, als ob sie an ihm alle Makel seines Herren erkennen könnte. Was würde nun Gisla, die Knappin Glyranas, von ihm halten, überlegte er sich, da sich die Eskapaden des Oppsteiner Barons sicherlich bereits herumgesprochen hatten und gut zu den Gerüchten passten. Gisla - die Rondragleiche - wie er sie sich gerade in seinen Gedanken hochstilisierte, würde ihn nun wohl kaum für sittsam und ehrenvoll halten.  

“Nein!” sprach er und hielt im Schritt inne, während er zu Boden blickte und den Kopf schüttelte. “Ich kann nicht mehr in Oppstein dienen, in Travias Namen.”

“Wie?” fragte die Mersingerin erstaunt. Da sie in ihm den Seelenunfrieden erkannte, bückte sie sich fürsorglich vor ihm hin und legte ihre Hand auf seine herunterhängenden Schultern. “Ich sehe dich plagt etwas, sprich frei und löse dich von dieser Bürde.” Auch wenn es schon einige Jahre seit ihrer Zeit in der Klosterschule Noionas Ruh’  her war und sie nicht mehr dieselbe Jungfer war, sie hatte ihr Wissen und ihr Gefühl für seelisch Belastete nicht verloren.

Der junge Mann atmete schwer durch, bevor er zu sprechen begann. Er erzählte Glyrana sodann in einem Redefluss von den üblen Verschmähungen des Oppsteiner Barons am gestrigen Fest, gegenüber den Gastgebern und der Jungfer Ismena Rondria von Baernfarn-Oppstein, aber auch über all die Gerüchte von Adran von Oppstein, die er für wahr hielt, wie schändlich und traviafeindlich sie auch schienen. So verbrachten sie mehrere Minuten ins Zwiegespräch vertieft. 

Glyrana gab sich entsetzt zu Adran und verständnisvoll zu Travian. Die meisten Gerüchte waren ihr zwar bereits bekannt gewesen, doch es waren weitere erschütternde Berichte. Nun kam ihr das nicht ungelegen, war es doch ihr Plan gewesen, an all den Tagen den Oppsteiner Baron möglichst zu reizen und bloßzustellen. So passte Travians Bekenntnis umso mehr in ihre Pläne. 



Auf dem Burghof war gerade ein Abschiedstrunk gereicht worden. Es sollte noch ein kleines Bankett und eine Ansprache für die verbliebenen Gäste geben, hieß es - meist Adelige, die ohnehin im Sichelhag beheimatet waren und keinen weiten Rückweg hatten. Die meisten warteten ungeduldig, bald in die Heimat aufbrechen zu können, da sich die Ansprache der Gastgeber zu verzögern schien.

Adran prostete Ismena Rondria lächelnd zu, ein Lächeln, das ein wenig spöttisch und herablassend wirkte. Diese erwiderte den Gruß höflich, aber kühl.

Deine Ambitionen auf meine Baronie sind lächerlich, dachte der Oppsteiner, und meinte Ismena Rondria. Baernfarner Rachsucht, nichts weiter. Was das Haus Mersingen angeht. Nun, dazu gehöre ich doch schon längst...was habe ich von dieser Seite zu befürchten?

Aufgeregt sog der Freiherr an einer der chababischen Cigarillos, die er gerade großzügig unter den Standesgenossen verteilt hatte. Hektisch blies er blauen Tabaksrauch aus Mund und Nasenlöchern. Sündhaft teuer waren die Dinger. Beinahe bereute er seine Freigebigkeit. Einer der Beschenkten hatte doch allen Ernstes gefragt, ob so eine Ziehkarre deswegen Ziehkarre genannt werde, weil man daran ziehen müsse wie an einem Karren. Ridikül, wie man bei den horasischen Verwandten seiner Stiefmutter gesagt hätte. Der sprichwörtliche Weibel Wüst aus dem Neuen Reich lässt grüßen...

Adran hatte die Spitze der eigenen kleinen Zigarre elegant mit dem Visier eines Ritterhelms gekappt und nichts geantwortet. 

Einen Moment lang musste er an Thahira denken, seine Gemahlin. Adran seufzte. Angeblich schwirrte da draußen ein Gerücht herum, wonach sich die Birkenbruch, als  freiheitsliebende Tochter eines liebfelder Seeoffiziers namens di Mindros, ins Horaskaiserreich abgesetzt hatte, in den Kriegswirren. Wo sie nun incognito weiterleben würde, als ehemalige Präfektin der Fürstlich-Darpatischen Expeditions-Abteilung, kurz FDEA. Geschützt von den Liebfeldern, als sogenannte Flötenbläserin, die alles über die darpatischen und mittelreichischen Geheimnisse ausgezwitschert hatte, was ihr bei Hofe zu Ohren gekommen war. Gelegentlich würde sie ihrem Gemahl noch ein paar Schachteln bester chababischer Rauchware schenken, als Lohn für sein Stillschweigen. 

Der verfluchte Gerüchtekrieg… wenn er nicht aufpasste, würde er den am Ende noch verlieren. Vermutlich wussten die Schwätzer noch nicht einmal, dass es für den Transport von Cigarillos einen Humidor brauchte, eine besondere Kiste aus Südmeerholz, zum Schutz vor zu viel oder zu wenig Feuchtigkeit. Ebenso vor Ungeziefer.

Adran dachte an ihre gemeinsame Tochter und seufzte erneut. Praiodane war in Wahrheit das leibliche Kind des seligen Redenhardt. Dessen Namen hatte immer noch einen hervorragenden Klang. Zumindest in seiner Familie. Es war der Wille des verblichenen Oberhaupts gewesen, dass erst Adran, dann Praiodane den Drachenthron besteigen sollte. So würde es auch geschehen. Da konnte die falsche Ismena von Oppstein mit den Augen klimpern, wie sie wollte, und auf ihre Fastehe mit dem albernischen Thronfolger verweisen. Den Oppsteiner Taladel wusste Adran fest auf seiner Seite, die Ritter vom Stein und selbst den sonst recht eigenständigen Bergadel. 

Der Name Redenhardt stand nach wie vor für das enge Bündnis mit dem Herrscherhaus Rabenmund. Ebenso für hervorragende Beziehungen ins Liebliche Feld. Beziehungen, die sich für die Baronie und seinen Adoptivvater bestens ausgezahlt hatten. Cron-Marineadjutor, Stadtvogt von Rommilys...

Da würden auch die ständigen Schmutzeleien hinter seinem Rücken nichts daran ändern, die Schmutzeleien und das böswillige Gerede. Von wegen, er habe den Levthanskult der Sichel zu Gunsten eines nachgeäfften Horasiertums verraten. In Belhanka wurde der gehörnte Sohn der Rahja seit einigen Jahren ganz offen verehrt. Wenn er allein an dieses amüsante Gemälde von Leonardo della Rahjada dachte. Della Rahjada war ein Virtuose an der Staffelei, aber auch die Aktzeichnungen waren eine Augenweide.

Gernbrecht hatte ihm einmal davon erzählt, oder war es Tante Ismena gewesen, die "echte" Ismena von Oppstein? Der "Überfall auf Levthan", der heute im Palagio Phalaxani zu Toricum hing, sollte ein Meisterwerk sein. Es zeigte ein Rudel hübscher Frauen, das den armen Halbgott bedrängte, nicht umgekehrt. So ähnlich erging es ihm ständig, leider nicht nur im Sinne der Schönen Göttin. Vielleicht würden ihm seine Berlinghân-Verwandten irgendwie eine Kopie beschaffen, um seinen künftigen Palazzo in Markt Oppstein zu schmücken. 

Beiläufig stieß er mit Gisla von Zweifelfels an, etwas zerstreut. "Gratulation, junge Dame, zu eurem hervorragenden Abschneiden beim Ringelstechen", sagte er schnell. 

Die Zweifelfelserin bereitete ihrem Namen wahrlich alle Ehre - sie blickte zweifelnd. Offenbar versuchte sie zu ergründen, ob der berüchtigte Oppstein tiefergehende Absichten hegte. Erst jetzt merkte Gisla, dass etwas Ogermeth auf ihr Gewand geschwappt war.

Adran zückte sein Seidentüchlein und widerstand der Versuchung, der hübschen, hellblonden Knappin persönlich die Brust abzutupfen.

"Es ist ja nur ein kleiner Spritzer!" sagte Gisla artig, wischte etwas darüber und gab Adran das Tuch zurück. Ein wenig senkte sie den Blick ihrer blauen Augen. War das nun keusch oder kokett gemeint? 

"Verzeiht, edles Fräulein, welch Lapsus von mir! Wenn, dann hätte euer Waffenrock feinsten Belhankaner Schaumwein verdient, nicht Ogermeth aus Gernatsquell."

 

Das hatte er laut gesagt. Sollte es Bärenfänger-Ismena ruhig hören. 

Es war ja wirklich nur eine Tolpatschigkeit gewesen. Schon aus Rücksicht auf Lares würde er hier keine Edeldame verführen, geschweige denn eine Knappin in Diensten der Gastgeberin. Schließlich wollte er heute noch Abstand gewinnen, zwischen sich und Gernatsborn. 

Sehr unangenehm, das Ganze. Wie hatte ihm nur diese Ungeschicklichkeit widerfahren können, vor so vielen Augen? Erst jetzt sah er den hässlichen, schwarzen Fleck auf dem ansonsten neu gefügten Pflaster des Burghofs. Offenbar hatte er ihm instinktiv ausweichen wollen. Hatte er ihn gerade  selbst in den Granit gebrannt, beim Rauchen? Nein, dafür war er zu groß, als wäre ein Pechkranz oder sonstiges Brandgeschoss in Burg Gernatsborn gelandet. Aber von einer Belagerung wusste er nichts, die Feste stand ja erst seit einem halben Jahr am Fluss. 

Nun sah er, dass er auch noch auf den Schuh der Zweifelfelserin geascht hatte. Kopfschüttelnd ging er vor der Waldsteinerin in die Knie und tupfte den Schmutz auf.  

Die  junge Adelige hustete theatralisch und verwedelte den Rauch, der von dem brennenden Cigarillo zwischen Adrans Fingern aufstieg. "Contenance, werter Herr von Oppstein. Wenn Ihr nicht aufpasst, zündet Ihr mir auch noch den Waffenrock an." Tatsächlich glühte der Glimmstengel schon bedenklich nahe an dessen Saum.

Adran klemmte sich den Cigarillo zwischen die Zähne. "Unser Wappentier ist nun einmal der feurige Drache, werte Gisla!" nuschelte er und stand mit einer Verbeugung auf.  "Stets zu Euren Diensten. Ihr seht mich untröstlich. Wenn ich Euch irgendwie Wiedergutmachung leisten kann, sprecht frei heraus." 

Im nächsten Augenblick erblickte er seinen Knappen Travian, der neben der Hausherrin Glyrana zum Tor hereinkam. Der verbinsböckelte Schnayttach zog ein missmutiges Gesicht, aber das tat er eigentlich immer. Travian verkörperte in seinen jungen Jahren so ziemlich alles, was Adran an der altdarpatischen Provinz verachtete. Spießige, muffige, verklemmte Traviafrömmelei zum Beispiel. 

Travians Augen leuchteten, als er sah, wie sein Herr vor Gisla von Zweifelfells kniete. Allerdings nicht vor Freude.

"Ein Ritter und Edelmann sollte nicht vor einer Knappin knien" sagte Glyrana, mit mühsam beherrschter Stimme.

"Schon gar nicht vor meiner Knappin." Ihr Stirnrunzeln verriet, was sie sonst noch dachte: Ein echter Baron qualmte und paffte auch nicht wie ein Höhlendrache...oder blies Rauchwölkchen hervor wie ein Wilder im Regenwald. Oder gar wie ein lüsterner Dämon aus der Domäne der Rahjafeindin. Pfeifenrauchen war etwas anderes, Kultiviertes, gut geeignet für einen gemütlichen Abend am Herd. 

Mit eleganter Handbewegung verwedelte die Mersingerin den Rauch, der von einem Windstoß in ihre Richtung gehaucht wurde.

"Wo habt Ihr dieses Krautzeug her?" sagte sie, aufbrausender als beabsichtigt. "Das st...riecht ja wie der Drache aus Eurem Wappen. Sind das etwa die drei Hälmchen, die da brennen? Die Ähren, die Euer Blason ebenfalls zieren?" 

Adran runzelte ebenfalls die Stirn, durchaus ein wenig erschrocken ob des Bebens in der Stimme der Gastgeberin. Was war denn in Glyrana gefahren? Wenn man das Gesagte wörtlich nahm, hatte die Mersingen gerade seine Ehrenhaftigkeit in Frage gestellt - und noch dazu das Wappen des Hauses Oppstein beleidigt? Nein, eigentlich die komplette Familie. Die drei Getreidehalme sollten eine Anspielung auf ein altes Schmähwappen sein, gegen einen vermeintlichen Bauernbaron, der einst die Herrschaft in Oppstein an sich gerissen hatte. Wenn Adran damals in Heraldik aufgepasst hatte. 

Im Horasreich wurde der Rapier schon für weniger gezogen. Allerdings, im traviagefälligen Darpatia geziemte es sich nicht, bei erstbester Gelegenheit auf die Gastgeberin loszugehen. Abgesehen davon, dass seine Gegner schon vom ersten Tag des Turniers an versucht hatten, ihn zu provozieren. Erst das Gerede des Herolds, bei der Helmschau, dann der handstreichartige Beitritt der Schlotzerin zum Sichlerbund, schließlich die offenkundigen Oppsteiner Ambitionen dieser Ismena Rondria ...und nun noch diese erneute unangenehme Szene. Nun, Adran würde nicht in die offene Klinge rennen, auch wenn er einen Moment lang nicht wusste, wie er angemessen reagieren sollte. Düpiert und entehrt wollte Adran eigentlich auch nicht in seine halbfertige Residenz zurückkehren. Er spürte bereits die ersten Blicke im Nacken. Hier und dort wurde getuschelt. 

Lares von Hochfels trat neben seinen Herren, mit entwaffnendem Lächeln. "Der Drache aus dem Oppsteiner Wappen stinkt schon lange nicht mehr. Er wurde von einem deiner Vorfahren im Kampf erschlagen, nicht wahr, mein liebst...lieber Adran?" 

Erst jetzt merkte der Oppsteiner Gefolgsmann, dass sich das, was begütigend und beschwichtigend hatte klingen sollen, wie eine Drohung anhörte. 

"So ist es", sagte Adran, und klang durchaus ein wenig kampflustig. "Ein echter Oppstein ist stolz auf sein Wappen. Wahrlich, nicht jeder darf es guten Gewissens führen. Wer unsere Kornfelder verbrennen will, wie ein gieriger Drache...oder einfach hindurch trampelt, wie eine wilde Wutz oder ein plumper Bär...der sollte besser auf der Hut sein. Ebenso wissen die Oppsteiner Farne und anderes Unkraut auszureißen, das auf ihrem Acker wuchert." 

Der Blick des Barons ging zu Ismena Rondria, die bereits ihr hübsches, allzu hübsches Hälslein reckte. Sollten die Umstehenden ruhig merken, welches Spiel hier gespielt wurde.

 

Dann lächelte er, scheinbar freundlich. "Mohacca ist jedenfalls kein Unkraut...sondern ein edles Gewächs aus den Südlanden, das erhitzte Gemüter beruhigt. Ich nehme an, meine Rauchkrautfreunde können das bestätigen."

Sein Blick wanderte auf dem Hof umher, wo hie und da ein verlegenes Nicken zu sehen war. Dann betrachtete er den kokelnde Zigarillo in seinen Fingern, der schon ziemlich heruntergebrannt war. 

"Verzeiht, wenn Euch der Tabaksrauch missfällt, werte Glyrana. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. 

Adran ließ den Stumpen in seinen halbvollen Kelch mit Ogermeth fallen.

"Travian, schön, dass du dich auch wieder mal sehen lässt, als mein Knappe. Räum das weg...dann kannst du schon mal anfangen zu packen, für unsere Abreise." 

Ein herrisches Winken. Adran hob den Kelch, den er die ganze Zeit in der Hand verborgen gehalten hatte, in voller Pracht hoch.  

Sein Knappe bewegte sich keinen Schritt.  

"Ich...ich werde das nicht anfassen", sagte der junge Binsböckel, mit fast schon schriller Stimme. Stattdessen trat er neben die verdutzte Gisla, ganz so, als wolle er sie beschützen. "Lasst die Finger von Ihr! Was seid Ihr doch nur für ein Unhold und Lüstling! Möge die Heilige Yalsicena Euch bestrafen!" 

"Was zum Namenlosen...??" Der Oppsteiner glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Die Traviaheilige sollte gerne einmal Ohrfeigen verteilt haben, zur Mahnung unverbesserlicher Sünder. Was nahm der halbstarke Binsböckel sich da heraus?

"Eine Maulschelle bekommst du, verfluchter Binsbengel, wenn du nicht sofort meine Befehle ausführst!" 

"Niemals werde ich meine Hand an so etwas besudeln!" Travian verdeckte schamvoll seine Augen. Dann blickte er zum Himmel, dorthin, wo er Alveran vermutete - als wolle er selbst zum nächsten Heiligen seiner Lieblingsgöttin werden.  

Adran starrte auf den Zinnkelch. Er zeigte einen gut bestückten Mann mit Widderkopf, der sich in eindeutiger Absicht einer barbusigen und auch sonst splitterfasernackten Gespielin näherte. Der braune Stumpen des Cigarillos ragte fast genau über Levthans Gesäß auf - und ähnelte dabei auch noch der Mannespracht des Gehörnten. Die Katastrophe war fast perfekt. 

Der Oppsteiner erbleichte. Die Anspielung auf seine "Kulthochzeit" mit Serwa von Friedwang war mehr als eindeutig. 

Adran merkte, wie er rot anlief, ein Gefühl, das er eigentlich nicht kannte. Das Ding in seiner Hand sah aus wie ein Gießenborner Becher. Nun, das sinnenfrohe Dorf war in Varenas Krieg niedergebrannt und brutal geplündert worden, ebenso wie der Rahjatempel. Die Beutestücke konnten überall gelandet sein. Auch in Glyranas Besitz? 

Der Mersinger Diener, der den Met verteilt hatte, grinste anzüglich, fast schon flegelhaft, unter einer schlichten Topffrisur. Auf seinem Tablett standen ansonsten nur kupferne Becher, wie Adran nun merkte. Wie hatte er nur in eine derart offensichtliche Falle tappen können? 

Raunen, Kopfschütteln und Gelächter ringsum. Die ersten Köpfe wurden zusammengesteckt. 

"Nimm-diesen-Kelch, Travian!" Adran schrie fast. "Bring ihn weg!" 

"In Eure Reisetruhe?" fragte Glyrana süffisant. Sie spielte die Überraschte, was den Oppsteiner nur noch mehr aufbrachte. Am liebsten hätte er ihr den Trinkbecher scheppernd vor die Füße geworfen. 

"Dieser Kelch wurde mir untergejubelt!"

 

"Bei einer Hexenfeier?" Das kam von Ismena Rondria, die sich von der Seite heran gepirscht hatte. "Gut getroffen, muss ich sagen, bis in die Einzelheiten! Auch wenn man das Gesicht des Schwerenöters leider nicht erkennen kann, unter seiner Maske." 

"Willst du andeuten, dass diese Dirne da...das dieses nackte Weibstück deine eigene Tante ist?" entfuhr es Adran.  

"Willst du das andeuten?" Ismena schüttelte den Kopf. "Wie kommst du überhaupt auf einen derart närrischen Gedanken? Du solltest weniger tief hineinblicken, in deine Becher...und sie dir lieber mal von außen anschauen." 

"Ich...ich bin nicht betrunken! Travian, du bringst diesen Kelch jetzt dem Diener. Den Kerl dort, der ihn mir gerade eben gereicht hat! Offenbar auf Anweisung, von...von... jemand anderem!!!" 

"Was wollt Ihr mir damit unterstellen, Herr Adran von Oppstein ?!" Nun wurde auch Glyrana laut. "Euer Verhalten ist impertinent. Ihr benehmt Euch hier wie ein Drache im Kornfeld, niemand sonst. Und das schon die ganze Zeit! Ich verlange sofort eine Entschuldigung, sonst..." 

"Sonst was?" Adran reichte den Kelch Lares. "Schaff das weg", murmelte er tonlos. 

"Ansonsten sehe ich mich dazu gezwungen, Genugtuung zu fordern!" 

Adran stutzte einen Moment, dann lachte er lauthals auf. "Travian, wir reisen ab! Das ist ja nur noch lächerlich! Ein abgekartetes Spiel...Travian!!!" 

Der Knappe verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. "Die große Mutter sei meine Zeugin, ich werde Euch nicht folgen! Nirgendwohin! Mögen die Götter Euch bestrafen, für alle Eure Sünden! Was sag ich, Eure Verbrechen!" 

"Travian, du wirst mir gehorchen...oder ich entlasse ich dich aus meinen Diensten, ja ich verbanne euch aus Oppstein!" 

"Dann soll es so sein! Mich macht Ihr nicht zu...zu Eurem Lustknaben!" 

Ein wenig theatralisch riss sich der Knappe den Waffenrock vom Leib und warf ihn Adran vor die Füße.

 

Der livrierte Diener mit Topffrisur, der Adran den rahjagefälligen Trunk gereicht hatte, nutzte die Ablenkung, um sich in Richtung Haupthaus zurückzuziehen. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Aus dem Scherzbecher war ein Fehdebecher geworden…

Unterdessen drängten Fanfarentöne über den Burghof und das Schlotzer Baronspaar samt Gastgeber Storko von Gernatsborn-Mersingen hatten sich an einer Tribüne zusammengefunden, wohl um eine Abschiedsrede zu halten. Glyranas Ritterin, Jadvige von Kressenbrück, rief und winkte ihre Herrin ebenfalls hastig in Richtung Bühne, denn sie sollte dabei nicht fehlen. 

Kurze energische Wortwechsel zwischen Adran, Travian und Glyrana wurden von den Fanfaren und einer klatschenden Menge übertönt, bevor die Gastgeberin sich eilig zur Rede aufmachte und der Oppseiner Baron wutentbrannt mit den Worten “Das lass ich mir nicht bieten, ich reise ab!” in Richtung Burgtor marschierte. 

Adrans Knappe folgte ihm nicht, dessen Waffenrock lag noch immer verschmutzt im Staub des Hofes. Gisela hingegen schritt beiseite, denn Travians Schutz hatte sie wahrlich nicht nötig, jedoch empfand sie sein Verwalten recht ehrenhaft wie auch fürsorglich, und Travians Gefühle waren so doch für sie offenkundig geworden.

Glyrana trat zur Tribüne, die im Wesentlichen aus dem seitlichen Söllner der Burg bestand, von dem ein Gernatsborner Banner herab hing, neben der Schlotzer Trollaxtfahne. 

 

Nur mühsam beruhigte sie sich wieder. Fast hatte sie schon ein schlechtes Gewissen geplagt, ob ihrer ständigen Provokationen gegenüber Adran von Oppstein. Von wegen heiliges Gastrecht. Den Turnierfrieden gab es auch noch, der in der Rommilyser Mark sicher noch strenger gesehen wurde als anderswo. Adran handelte im Grunde nicht einmal ehrenrührig, wenn er ihre Duellforderung ausschlug.  

Aber was Travian gerade erzählt hatte, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen in Sachen travialästerlicher Lebenswandel, drüben im "Oppschweinischen". Hielt der zwielichtige Baron am Ende wirklich die eigene Gemahlin im Kerker gefangen? Nur, warum sollte er das tun? Weil Thahira von Birkenbruch zu viel wusste, was das Ableben ihres Onkels anging, in der Schlacht auf den Blutfeldern von Drachweiler? Über den Levthanskult und die sonstigen Abgründe, die sich da oben in den Oppsteiner Bergen auftaten? Oder weil die unglückliche Thahira ihrem Gemahl ganz einfach im Weg gestanden hatte, bei seinen sündigen Männer- und Weibergeschichten?  

Die Junkerin stellte sich neben Jadvige von Kressenbrück und raunte ihr die Order zu, nach  Gilbert zu suchen und ihn so schnell wie möglich, aber auch möglichst diskret auf die Burg zu bringen. 

 

Erneut schmetterten die Fanfaren. Das junge Baronsehepaar trat auf die "Bühne", winkte huldvoll und bedankte sich artig für die schöne Nachhochzeit, die zahlreich anwesenden Gäste und das wunderbare Turnier. Sie wünschte allen eine gute Heimreise und den Segen der Götter. Gut sah Alboran von Schlotz aus, trotz oder gerade wegen seines Kopfverbands. Auch Haldana wirkte verwegen, der längere Teil ihrer Frisur wehte im Herbstwind. Die beiden machten es zum Glück kurz, nach drei Tagen Turnier hatte sich doch eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen, was nicht zuletzt am immer ungemütlicher werdenden Wetter lag. Und natürlich an den Unmengen von Gebrautem, Gegorenem und Gebranntem, die seit dem ersten Bankett getrunken wurden. 

 

"Ihr habt uns ermöglicht, den darpatischen Traum zu leben!" rief Alboran, ein wenig pathetisch. "Dafür danken wir Euch in Travias Namen!"  

"Fühlt Euch alle umarmt!" rief Haldana, mit der Überschwänglichkeit einer Tsagesegneten. "Wir werden noch lange an dieses Fest zurückdenken, da bin ich mir sicher."

 

Hernach sprach Storko einige Worte, rief den erweiterten Sichlerbund in Erinnerung, der sich fortan mehr dem Turnier und der Jagd widmen wolle, in der Hoffnung auf eine friedliche, aber wehrhafte Zukunft der Mark. Wer immer daran mitwirken wolle, die alten, guten Sitten und Traditionen wieder aufleben zu lassen und zu stärken, in den Landen vor den ersten Bergen Sokramors, dürfe sich eingeladen fühlen: "Ein Hoch der Rommilyser Mark, ein Hoch dem Sichelhag!" Halblaute Hochrufe und langanhaltender Applaus, dann war das Turnier endgültig zu Ende.

 

Glyrana ging vor das Tor, nachdem die treue Jadvige doch ein wenig auf sich warten ließ. Hie und da verabschiedete sie den einen oder anderen Ehrengast persönlich. Auch sie spürte nun die Last und die Anstrengung der vergangenen Tage. Das Zeltlager zu Füßen der Burg, am Ufer des Gernat, wurde kleiner und kleiner - ein wenig fühlte es sich so an, als würde gerade eine Belagerung aufgehoben. Dennoch, vom Eklat mit Adran abgesehen, durfte sie vollauf zufrieden sein. Das kleine Gernatsborn hatte sich einen Namen gemacht, im Schlotzer, aber auch dem sonstigen märkischen Adel.

 

Jadvige von Kressenbrück kam nun doch den Burgweg heraufgeklirrt, die Hand auf den Schwertgriff gestützt. Verlegen hob sie die Arme. 

"Unser Gilbert Hasenfuß ist getürmt", sagte die Befehligerin der Garde. "Ich fürchte, den finden wir so schnell nicht wieder."   

"Steckt vielleicht Adran dahinter?" Die junge Mersingen fluchte innerlich. War die theatralische Abreise des Oppsteiners nur ein Vorwand gewesen, um den lästigen Mitwisser zu beseitigen? 

"Ihre Gnaden Ysilda sagen, der Vagabund wäre vor Herrn Bishdarielon und dem friedwanger Hofmagier geflohen. Die beiden behaupten, der Tunichtgut hätte versucht, der Tsageweihten die Almosenbörse zu stehlen. Danach hätte er das Goblinpanier ergriffen, aber den Beutel zum Glück fallen lassen." Die Rittfrau blickte ratlos. "Soll die Pfahlgarde nach ihm suchen? Die Spuren führen in den Wald. Hat aber schon einen ordentlichen Vorsprung." 

Glyrana schüttelte den Kopf: "Keine weitere Aufregung mehr", sagte sie kurzentschlossen. "Am Ende heißt es noch, unsere Burgwachen würden den dreisten Oppsteiner verfolgen, trotz des Turnierfriedens. "



Von der Mauer Burg Gernatsborns aus sah und winkte Haldana den abreisenden Gästen nach. Die junge Baronin war völlig übermüdet und erschöpft von den drei anstrengenden Tagen. Es stimmte wohl, was viele sagten… Ein Traviafest gefällt zuallererst den Gästen, aber die Brautleute sind froh, wenn es wieder vorbei ist. Nein, so war es nicht. Alles war schön gewesen. Aber Haldana konnte im Stehen einschlafen. Sobald der letzte Gast außer Sichtweite war, würde sie einfach nur ins Bett fallen. 

 

Haldana fröstelte. Sicher lag das mehr an ihrer Müdigkeit als daran, dass dieser Traviatag kühler war als der Vorangegangene. Die Baronin lehnte sich an die Steinmauer. Die Augen fielen ihr zu. 

Eine kalte, finstere Hand griff nach ihr. `Jetzt also sind wir wirklich verheiratet, beim Herrn der Götter` raunte die Haldana inzwischen vertraute, tonlose Stimme. Ein leises Lachen folgte. Haldana sah auf - oder träumte sie nur, dass sie aufsah? Eine schemenlose Gestalt neben ihr hielt ihre Hand. 

Die Schlotzerin war zu erschöpft, um ihre Hand weg zu ziehen… oder träumte sie, sie wäre zu erschöpft? Sie wusste es nicht. Ach, sei es drum, dachte sie. Dieser alptraumhafte, schiefhalsige Geist jagte ihr keine Angst mehr ein. Zu oft hatte sie ihn schon gesehen. Haldana schien eher resigniert und schicksalsergeben die fortdauernde Anwesenheit des unheilvollen Rachegeistes zu erdulden. 

`Du hast recht, liebes, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Jetzt, wo wir vereint sind. Ich werde dich unterstützen, dich beschützen, für dich da sein, wie eine Ehefrau sich es nicht besser wünschen könnte von ihrem rechtmäßig vor dem Güldenen angetrauten Ehemann. Du wirst zufrieden sein mit deinem Gemahl!` 

Haldana war zu müde, um ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen oder auch nur in irgendeiner Form zu widersprechen. 

`Deinen ersten Wunsch werde ich erfüllen. Dieser lästerliche alte Götzenkult der Sichel wird aussterben. Travias Sittsamkeit, die Moral der prüden Dienerin des Güldenen, wird wieder einkehren in der Region. Der Sündenpfuhl Levthans, das liderliche Oppstein, wird untergehen. Ein neues Oppstein wird entstehen, so wie du es dir gewünscht hast.´ 

So etwas habe ich mir doch gar nicht gew….` begann Haldana, zu denken. 

`Ach papperlapapp…´ begann die tonlose Stimme. ´Ich weiß besser als du, was du dir wünschst. Du hast doch keine Ahnung, Liebes. Vertrau mir einfach. Was meinst du, wieso ich mir die ganze Kraft von den Gästen geholt habe, mit den Alpträumen? Um deinen Traum zu verwirklichen. Deinen wahren Traum. Um den Levthansanbeter aus dem Weg zu räumen. Woher meinst du denn, hat Adran seinen Kelch bekommen? Von mir! Ich hatte ihn erschaffen, geschaffen, geformt, mit der Kraft, die ich gesammelt habe. Ich habe den Kelch geformt, habe die Zwietracht geschaffen, die du brauchst, um nach der Macht zu greifen. Es wird dir nun nicht schwer fallen, einen dir genehmen neuen Herrscher in Oppstein zu installieren. Einen uns beiden genehmen Herrscher. Deine Kusine. Sogar das große Haus Mersingen unterstützt die Pläne - und es war wirklich nicht schwer, das zu deichseln. Die ehrgeizzerfressene Glyrana hat meine Pläne begierig aufgenommen. Der Güldene verspricht, der Güldene hält, und du als meine Gemahlin und SEINE wichtigste Figur wirst herrschen an meiner Seite…

`Verschwinde, du übler Geist!` raunte Haldana matt. `Tsa sei dem vor, was du da faselst… niemals```

Der schiefhalsige Schemen lachte. `Ich gehe… vorerst kommst du auch ohne meine Hilfe zurecht. Und ich habe anderes zu tun, bevor in Oppstein das Gemetzel losgeht.` Ein keckerndes, schrilles Lachen durchfuhr Haldanas Kopf und schien endlos wider zu hallen. 

 

Schmerzvoller Abschied

“Bist du soweit?” Die Stimme Ilgars war weich und mitfühlend bei dieser Frage.

“Ja!”, kam die Antwort fast etwas patzig auf dem Fuße. 

Matissa von Bregelsaum wirkte streitlustig wie eh und je, als sie aus dem Zelt trat. Dieser Tage aber war ihre Gereiztheit immer noch dem unsanften Ausscheiden aus dem Turnier geschuldet, auch wenn das ‘Gröbste’ inzwischen überwunden war. Sie würde reiten können.

Der Weg in die Heimat stand bevor. Die Rabenmärker würden auf direktem Wege gen Altzoll ziehen, wo sich die rechte Hand des Kanzlers der Mark am Hofe wieder seiner Arbeit widmen würde. Die Bregelsaumerin hingegen würde nach einigen Tagen der Ruhe am Hofe, von Altzoll aus mit Bedeckung gen Praios nach Tälerort reisen, wo die Schwester Ilgars als Vögtin diente.

Matissa trat an ihr Ross und ließ sich widerwillig von ihrem Gemahl in den Sattel helfen. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, indem sie die Zähne aufeinander biss. Sie war eisern. Ihre Miene jedoch wirkte verzerrt. Matissa konnte die Pein nicht verbergen. Vor allem nicht Ilgar, der nun selbst zu seinem Pferd schritt, um aufzusteigen. 

“Meinst du nicht, wir sollten?”, fragte die Ritterin. “Warten?”, beendete der Herold des Markgrafen der Rabenmark den Satz. “Nein”, fügte er die Antwort sogleich an. “Wir haben das längst besprochen. Die Knechte werden die Zelte abbrechen und nachkommen. Sie werden uns schnell einholen.”

“Vermutlich”, antwortete Matissa deutlich angesäuert. “Weil ich lahm wie eine Schnecke sein werde.”

“Meine liebliche Wildblume”, begann Ilgar einfühlsam, doch nun unterbrach die Bregelsaumerin ihren Gemahl. “Lass das Honiggeschmiere. Bitte!”

Ilgar presste die Lippen aufeinander und nickte. Er wusste, wann es an der Zeit war einer solchen Bitte Folge zu leisten. Er kannte das Temperament seiner Frau nur zu gut.

“Danke.” Matissa blickte zu dem dritten Reiter, der sie begleiten würde und nickte ihm auffordernd zu. 

Dienstbeflissen setzte sich der Bannerträger der Adligen in Bewegung, so dass Ilgar und Matissa sich dem Banner des Hauses Galebfurten und der Baronie Tälerort anschließen konnten, unter deren Farben sie reisten.

“Hat es sich wenigstens gelohnt?”, fragte die Bregelsaumerin, als sie gemeinschaftlich aus dem Burghof ritten. “Was die bare Münze betrifft, so würde ich verneinen”, antwortete Ilgar neutral, dann aber wandte er seiner Frau das Gesicht zu und zwinkerte verschmitzt. 

“Der Fuchs aber lächelt. Ich werde Wunnemar einige Korrespondenz ans Herz legen können. Die Adligen hier haben die Lande jenseits der Trollpforte nicht vergessen und auch hier gibt es noch solche, die von einem vereinten Darpatien träumen und die gewillt sind, uns beim Wiederaufbau zu unterstützen. Dem Wohle der Mark und Tälerorts haben wir einen Dienst erwiesen.”

 

 

13. Kapitel - Ausklang

Markt Friedwang, früher Nachmittag des 7.Praios

 

“So, die Wutz ist verputzt!”

Hochwürden Garafanion unterdrückte einen Rülpser hinter seiner fleischigen, zur Faust geballten Hand, tupfte sich mit der Serviette über die fettigen Lippen und griff nach dem Glaskelch mit Wein. Tatsächlich hatte er den saftigen Wildschweinbraten in Windeseile vertilgt.  Erzpriester Ucurian brauchte ein wenig länger, kaute hoch und versicherte sich, dass seine Serviette noch immer korrekt im Kragen steckte, über seiner roten, goldumrandeten und mit Glaubenssymbolen geschmückten Robe. Etwas verlegen blickte er zu Falkwart von Zaberg hinüber, dem Ehrengast im Wirtshaus Zum Güldenen Greifen, der seinen Braten gerade fein säuberlich mit dem Messer zerlegte.

“Vorzüglich” sagte der hochstirnige, vornehm blasse Geweihte, säuberte sich die Hand mit dem feinen Tuch und griff ebenfalls zum Weinglas. “Fast schon ein wenig zu viel des Guten, was man mir hier kredenzt . Lux triumphat!”

“Lux triumphat!” erwiderte der Custos und prostete der kleinen Runde zu. Ucurian murmelte den Trinkspruch pflichtschuldig mit. Das Licht triumphierte tatsächlich, nachdem es gestern ein überaus windiger und unfreundlicher Sommertag gewesen war. Der leidige, kalte Gallysard, der gelegentlich von der Trollpforte herauf pfiff. Aus der entgegengesetzten Richtung war auch noch ein Sendbote aus Rommilys herbeigeweht worden, zusammen mit mehreren abenteuerlich aussehenden Bewaffneten.  Die ganz gewiss keine Bannstrahler oder Sonnenlegionäre waren. 

Falkwart Malachanias von Zaberg war ein gutaussehender Erzpriester in den späten Dreißigern, ein wahrer Sonnenjunge: mit wallenden, dunkelblonden, leicht gelockten Haaren, strahlend blauen Augen, dem weißen Teint und der selbstherrlichen Attitüde des Aristokraten. Außerdem führte er den Titel “Inquisitions-Commissarius”, was auch immer das genau bedeuten mochte.  An eine Wiederbelebung der “Friedwängisch-Oppsteinischen Praioscommission” war wohl nicht gedacht. Offenbar handelte es sich bei Falkwart um einen der “Hilfsinquisitoren auf Zeit”, die in den letzten Götterläufen häufiger gesichtet wurden, rund um die großen Tempel des Reiches. Unordentliche Inquisitionsräte, wie die Sokramorier spotteten. Selbst Garafanion schmunzelte bei dem Gedanken. 

Sonnenjunge. Diesen Spitznamen hatte Falkwart sich vor einigen Jahren in der St. Alborans-Siegesbasilika erworben, wo er seine Karriere als Lichtbringer begonnen und einmal sogar Koboldsmagie auf dem Marktplatz ausgetrieben hatte. Danach hatte er sich wohl  seiner persönlichen Quanionsqueste gewidmet, auf der Suche nach dem verschollenen Ewigen Licht des Sonnentempels. Wie es hieß, hatte sich der strebsame Falkwart vor allem durch die Archive in Gareth, Rommilys oder  Elenvina gekämpft. Was Garafanion beunruhigte, war der Umstand, dass es sich bei Falkwart um einen Verwandten Falko von Zaberg-Glimmerdiecks handelte, der einst der Blutnacht auf dem Friedstein zum Opfer gefallen war. Damals, als sein Vetter Gernot die Gäste der Hochzeitsfeier massakriert hatte. 

Genau genommen waren Seine Gnaden an einem Hähnchenschlegel erstickt, als die Wirkung des Schlafgifts eingesetzt hatte, beim Festbankett. Hochwürden hustete sich den eigenen Hals frei. Womöglich war es ein Zeichen, dass man ihm im Rommilys ausgerechnet Falkwart schickte. 

Im Moment kehrte Neibhard Garafanion Eulenkuhl ganz gerne den Bauernsohn heraus, um die Reaktion des etwas eitel, glatt und arrogant wirkenden “Sonnenjungen” zu prüfen.  Die von Zabergs waren einmal die Edlen des gleichnamigen Dorfs gewesen. Die meisten Familienmitglieder hatten sich aber für ein Leben in der Reichsarmee oder im Dienste des Herrn Praios entschieden. So wie Falkwarts Mutter, Praiolyn “Geßler” von Zaberg, deren ältere Tante einen “von Friedwang” geheiratet hatte. Diese Linie war bereits mit dem feisten Falko ausgestorben. Der jüngere Zweig hatte wenig Interesse am Grolmen- und Feennest Zaberg gezeigt. Wo nun ohnehin das mächtige Haus Mersingen herrschte.

Lux triumphat. Garafanion lächelte säuerlich. Das Kampfgebet vor der Schlacht, aus dem der Trinkspruch stammte, wurde üblicherweise vom Befehliger angestimmt. Hatte Falkwart bereits Ambitionen auf das Amt eines Prätors in Markt Friedwang? Man stieg heutzutage schnell auf, in den gelichteten Reihen der Gemeinschaft des Lichts, selbst und gerade in jungen Jahren. Andererseits, Großinquisitor Amando Laconda da Vanya zählte selbst weit mehr als 90 Götterläufe. Noch hatte die Kirche Respekt vor dem Alter und den Traditionen. 

Nun saßen sie am sogenannten “Herrentisch” des vornehmsten Wirtshauses in Markt Friedwang. Draußen nahm das Markttreiben wieder an Fahrt auf, am frühen Nachmittag, rund um den plätschernden Gänsebrunnen: Es blökte, muhte, wieherte, gackerte und grunzte, dazwischen erklangen die aufgeregten Rufe der Händler, Fuhrleute und Bauern.  “Greifaxstube”, so wurde das vornehme Nebengemach zum Schankraum genannt.  Kein Geringerer als Seine Eminzenz Pagol Greifax von Gratenfels, Wahrer der Ordnung Mittellande, hatte einmal an diesem Tisch gespeist und oben, im "Güldenen Gemach" des Hauses, übernachtet. Damals, im Ingerimm 1022, am ersten Jahrestag der Dämonenschlacht, als St. Alboran und Gilborn geweiht worden war. Einen Moment lang blinzelte Garafanion ergriffen in die Sonne. Der Tag der Weihe war seit Menschengedenken die herrlichste Stunde des Wahren Glaubens in der Baronie Friedwang gewesen. Leider ein überaus flüchtiger Moment, von dem der Tempel noch heute zehrte. 

Rauline Sockrenmoor, die Wirtin, hatte das "Allerheiligste" ihres schmucken Gasthauses (mit benachbarter Brauerei) längst auch für gemeines Volk geöffnet, nicht allein für Edelleute oder Geweihte. Jeder musste nach den Tagen von Krieg, Not und Hunger schauen, wie er zu seinen Silbertalern kam. Manche Friedwanger kannten die edle Greifaxstube nur noch als "Rübenscholler Tisch". Gemeint war das farbenfrohe Glasbild auf den Butzenscheiben des Fensters: Die Ansicht eines verschlafenen Bauerndorfs, das eine Schriftrolle am Himmel als "Rübenscholl a.d. drey Wegen" auswies, nach irgendeinem uralten Holzschnitt. Sogar der Jahreslauf war in der Landschaft angedeutet, mit Frühling, Erntezeit und Winter, über einem rot-silber-goldenen Wappen, das Garafanion nicht kannte.  

Eine handwerklich schöne Arbeit der Waldglashütte Butzenbinder. Aber die Szene hätte an einem geschichtsträchtigen Tisch wie diesem ruhig ein wenig praiosgefälliger sein können, fand Garafanion. Gemütlich war das Wirtshaus, und dank der Kerzen fast schon taghell erleuchtet. Liebend gerne hätte er sich jetzt ein süffiges "Hergoldsbräu" gegönnt, zum Wildschweinbraten mit Rotkohl und Klößen. Aber vor Falkwart von Zaberg wollte er den Bauernspross auch nicht über Gebühr herauskehren. Nun, Pagol Greifax war nicht gerade für schnelle, geschweige denn voreilige  Entscheidungen bekannt. Vermutlich zog der Greif einfach nur seine Kreise, hoch über Friedwang, und spähte mit scharfen Augen nach Dingen, die sein Mißfallen erregt hatten. Oder noch erregen würden.

Falkwart ahnte Garafanions Gedanken, natürlich, die Gehilfen der Heiligen Inquisition galten als hervorragende Menschenkenner. “Seine Eminenz lässt Euch von Herzen grüßen. Ihr dürft versichert sein, dass ihm der kleine, aber keinesfalls unbedeutende Tempel von Markt Friedwang bestens im Gedächtnis geblieben ist.  Pagol würde Sankt Alboran und Gilborn gerne wieder einmal besuchen. Allein die vielen drängenden Probleme in der Ordo halten ihn davon ab.”

Garafanion beugte sich vor. Hatte der Commissarius gerade drängende oder drängendere Probleme gesagt? 

“Es ist bereits eine große Ehre für einen kleinen Tempel wie den unseren, dass Seine Eminenz in Gedanken bei uns weilt. Darf ich einen Nachtisch servieren lassen? Einen Alboransstollen vielleicht, mit Rosinen und Puderzucker? Der Birnenpudding hier ist auch sehr zu empfehlen...für illustre Gäste streut die Sockrenmoorin sogar ein wenig  Benbukkel darüber. Von den Zimtinseln." Garafanion führte zwei zusammengelegte Finger an die Lippen und schmatzte. "Ein Gedicht, kann ich Euch sagen."

“Sehr gerne. Birnenpudding, das klingt gut, nicht wahr, Bruder Ucurian? Aber lasst mich erst einmal  dieses Festmahl verdauen.” 

Ehrwürden Falkwart lächelte, ein wenig zu glatt und unverbindlich, wie Garafanion fand. 

“Es freut mich ebenfalls außerordentlich, wieder in meinem alten Tempel zu weilen. Wo ich meine frühen Geweihtenjahre verbracht habe.” Der Rommilyser Erzpriester faltete die Serviette fein säuberlich zusammen, als wäre es seine Priesterprüfung, und legte sie auf den mit blütenweisen, goldbestickten Leinen gedeckten Tisch. Während Ucurian ein wenig gekleckert hatte, wie immer, leuchtete die Decke rund um Falkwarts Teller so makellos sauber, rein und weiß, als wäre sie an Praios Tafel daselbst ausgebreitet worden. “Wie viele strahlende Vorbilder sind seither von uns gegangen. Hochwürden Andras Braniborian von Lyngwyn. Hergold Daradorian, sein Bruder und Nachfolger. Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein. Auf die wahren Helden des Glaubens!” Falkwart hob erneut das Glas, aus dem bereits der Wahrer der Ordnung geschlürft hatte.

Garafanion blickte ein wenig pikiert über seinen Schoppen und die blakenden Kerzen hinweg. Auf die wahren Helden des Glaubens? Wer waren in Falkwarts Augen denn die falschen Helden der Kirche?

“Euren Vetter Falko von Zaberg-Glimmerdieck nicht zu vergessen”, sagte Hochwürden, um seinem Gegenüber ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Er hatte wirklich noch nicht verstanden, warum Falkwart in der Baronie gereist war. Wollte er mit seinem neuen Titel gleich mal ein bisschen Inquisitor spielen und damit  in der Basilika anfangen? Vorhin hatte Falkwart recht interessiert in der Chronik und den Rechnungsbüchern geblättert, aber nun gut, er war gelernter Archivarius. 

“Fürwahr, Vetter Falko war mir ebenfalls ein Vorbild. Auch er ist leider viel zu früh nach Alveran gegangen.” Falkwart betrachtete versonnen das Glas, in dem sich das Kerzenlicht spiegelte.

Nun lächelte Garafanion nichtssagend. Der Name war fast die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden entfernten Verwandten und Falko wirklich “fett wie zehn Oger" gewesen, wie Gernot gerne gespottet hatte. Aber irgendetwas an Falkwarts selbstzufriedener, frohgemuter Art erinnerte Hochwürden tatsächlich an den bigotten Ordensgründer.   

"Ich habe von Falkos tragischem Ende gehört." Ucurian blickte schon wieder lauernd. “Ein weiteres Opfer der Intrigen Gernots von Friedwang” sagte der Luminifer von Sankt Alboran. “Die Baronie leidet bis heute unter den Ränken dieses borbaradianischen Verräters. "

Zu Garafanions Erstaunen eilte Falkwart ihm zu Hilfe, gegen den plumpen Seitenhieb seines Stellvertreters.

“Nun, auch der Vetter meiner Mutter hat Gernot bis zuletzt vertraut. Der Abtrünnige war ein Meister des Blendwerks und der Täuschung,  dem Erzheiligen Gilborn seis geklagt". 

Garafanion nickte dankbar: "Eine Zeitlang erschien mir Gernot ebenfalls als bußfertig und reumütig. Nachdem er als frommer Einsiedler im Schratenwald gelebt hat..."

 

Falkwart musterte den Prätor von oben bis unten. Dann legte er die Hände gegeneinander. "Nun, als frommen Einsiedler möchte ich den Geächteten auch nicht gerade bezeichnen. Wirklich aufgeklärt wurden  seine schurkischen Intrigen und Missetaten leider nie. Restlos aufgeklärt, meine ich. "

"Was genau wollt Ihr uns damit sagen?" Ucurian versuchte, möglichst irritiert zu klingen. " "Fürstin Irmegunde hat damals ihr Urteil gesprochen. Ein gerechtes Urteil. Acht und Aberacht, für einen borbaradianischen Hochverräter...Das Urteil Ihrer Durchlaucht war von praiosgefälliger Klarheit und Deutlichkeit, wie ich finde."

"Nun, ich rede selbstverständlich nicht vom Richtspruch Ihrer Durchlaucht. Es waren Gernots nächste Verwandte, die damals mit Samthandschuhen angefasst worden sind. Ihr kennt ja Meister Selbfried Rabensang, den seligen Inquisitionsrat. Nun, vor einigen Götterläufen habe ich dessen Diarium in der Stadt des Lichts entdeckt, durch eine wundersame Fügung des Herrn. Mit einer unverwelkten Quanione als Lesezeichen..." Falkwart lächelte verzückt. "Nein, die heilige Blume war ein Zeichen. Ein Hinweis darauf, das in dieser Angelegenheit dem Ius divinum noch nicht vollständig Genüge getan worden ist. Haben wir die schwarzrote Wunde von damals wirklich ausgebrannt, oder schwärt sie immer noch, im Verborgenen? Womöglich hat sie sich längst in purpurnen Wundbrand verwandelt. Gernots Sohn Golo, der Schiefhals, scheint nach wie vor sein Unwesen zu treiben, und einem Zirkel von Kultisten des Namenlosen nahezustehen. Insanctissmus. Diese Anbeter des Erzbösen versuchen, die sogenannten Alten Kulte in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu verderben. Ist die Herde unseres Herrn erst einmal zerstreut, haben die Wölfe ein leichtes Spiel. Golo war...oder ist der Gemahl Ismenas von Oppstein. Womöglich war es nur der Gipfel eines Firunsbergs, den wir bei der Enttarnung seines Vaters erblickt haben ?!"

"Das sind nun wahrlich ....weitreichende Anschuldigungen, gegen die Familie des seligen Parinor Rukus von Oppstein". Ucurian hatte sein Mahl beendet, zog die Serviette aus seinem Kragen, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Teller. "Immerhin ein Ordentlicher Inquisitionsrat und untadeliger Märtyrer der Praioskirche. Gibt es da denn...irgendwelche belastbaren Hinweise?"

“Nun, es sind wohlgemerkt nicht meine Worte. Sondern die Schlußfolgerungen Meister Selbfrieds. Seine Bedenken waren der Grund, warum er Gernot nach dessen Wiederkehr in Kirchenarrest nehmen ließ, statt die Aberacht zu vollstrecken. Er wollte eigene Untersuchungen in diesem verwickelten Fall anstellen. Leider wurde Hochwürden Selbfried kurze Zeit später in Praios Paradies abberufen. Seine Entscheidung hat in Friedwang leider für Missverständnisse gesorgt.” 

Garafanion hüstelte erneut. "Das sind wirklich Schatten aus der Vergangenheit...alte Geschichten aus der Wildermark…alles sehr lange her."

Der Rommilyser hob beschwichtigend die Hand. "Versteht mich recht, Hochwürden Garafanion. Eure Aufgabe war es, die wilden Tiere von eurer Herde fernzuhalten. Da hattet Ihr wenig Zeit, Euch auch noch um das wild wuchernde Unkraut auf Aarmars Acker zu kümmern. In Rommilys, aber auch in der Wehrhalle von Elenvina, weiß man Eure Standhaftigkeit zu schätzen, in den Zeiten der Verwirrung. Ihr selbst habt den blenderischen Dämon mit einem Lichtstrahl zerschmettert, der zeitweise wohl auch in Gernots Gestalt geschlüpft war, um uns zu foppen. Womöglich hat dieser Gehörnte einige der schlimmsten Verbrechen verübt, die dem Friedwanger hernach zu Last gelegt worden sind. Nach Gernots Ableben habt Ihr Alara enttarnt und den blutigen Aufstand der Sokramorier beendet, durch euer beherztes Eingreifen auf dem Marktplatz. Sollte die Kirche einen Fehler im Umgang mit dem Verräterbaron begangen haben und vielleicht hie und da übergroße Nachsicht geübt worden sein, so wurde diese Scharte von Euch ausgewetzt. Anlass zu Tadel besteht jedenfalls nicht mehr." 

Garafanion blickte selbstzufrieden, faltete die Hände über dem Bauch und linste zu seinem Luminifer. Nun war es Ucurian, der verdrießlich drein sah.

Falkwart griff an seinen reich geschmückten Gürtel und zog aus einem Beutel ein kleines, in Leder gebundenes Buch hervor, das abgegriffen und fleckig wirkte. "Dennoch darf der Praiosgläubige niemals nachlassen, auf der Suche nach der letzten Wahrheit und vollkommenen Gerechtigkeit. Selbfried Rabensang wurde in der Wildermark grausam zu Tode gemartert, durch Orkenhand. Am Ende ist er dem Pfad der Heiligen Lechmin von Weiseprein ebenso gefolgt wie des Heiligen Gilborns von Punin. Kann es ein vortrefflicheres Ende geben? Als ich Selbfrieds Tagebuch gelesen habe, hatte ich das Gefühl, seinem leuchtenden Beispiel folgen zu müssen. Ich möchte die Suche vollenden, die Er nicht mehr zum Abschluss bringen konnte. Wie gern würde ich all das finstere Unkraut auszureißen, das bis heute in der Sichel wuchert. Denn das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie stets neues Unheil muss gebären". 

Ucurian winkte ab. "Gernot wurde abgeurteilt, von Golo fehlt seit Jahren jede Spur. Dass in Wahrheit ein Gestaltwandler hinter den Untaten seines Vaters gesteckt hat – darauf mag es Hinweise geben, aber Beweise gibt es keine. Die  Irrlehren dieser Sokramorier sind an sich schon gefährlich und verdammungswürdig, auch ohne namenlose Einflüsterungen.  Seid Ihr sicher, dass das überhaupt das echte Tagebuch des Inquisitionsrats ist? Womöglich möchte jemand die Saat des Zweifels in unsere Reihen tragen, die auf Aarmars Acker  bereits reichlich gedeiht? "

"Nun, einer von Selbfrieds Bannstrahlern, ich glaube, er hieß Brias oder Salvatore, hat das Büchlein nach Gareth gebracht. Nachdem Meister Selbfried das  Martyrium auf sich nehmen durfte. Ich hege nicht den geringsten Zweifel an seiner Echtheit." Der Commissarius blätterte in den Seiten. Garafanion musste ihm Recht geben. Die fein säuberliche, ordentliche Schrift war eindeutig die Handschrift des Garether Inquisitors. Nur eine Druckerpresse hätte sie noch an Formstrenge und Ebenmaß übertreffen können.  Sogar einige Skizzen hatte Selbfried beigefügt. Garafanion glaubte Foltergeräte zu erahnen, aber auch einen peitschenschwingenden Heshtot unter einer finsteren Kapuze.

"Ein überaus aufschlussreiches Dokument, dünkt mir. Wenn ich allein diese Stelle hier nehme. Als Selbfried damals in Gallys geweilt hat. Nun, da wurde er von einem Zauberer namens Hesindian gewarnt, dass Alara von Friedwang, Gernots Tochter, ebenfalls mit dem Rattenkind unter einer Decke steckt. Also hat er eine Brieftaube in Euren Tempel geschickt, um Euch vor der falschen Baronin zu warnen, Hochwürden Garafanion...aber auch vor Golo, dem Anführer des Zirkels."

Der Angesprochene erbleichte. War er nicht gerade von jeder Schuld freigesprochen worden, an den chaotischen Ereignissen in Friedwang? Außer vielleicht vom Vorwurf, zu milde und nachsichtig mit seinem Zögling Gernot gewesen zu sein?  "Diese Taube ist niemals in der Basilika angekommen, bei den Reliquien von Sankt Alboran. Hätte ich davon gewusst, hätte ich selbstverständlich entsprechende Maßnahmen ergriffen."

Falkwart blickte über das Büchlein hinweg. "Es war ein kurzer Weg...aber wer weiß, welcher Dämon da am Werk war."

"Hesindian hat also den entscheidenden Hinweis auf Alara gegeben, soso." Erzpriester Ucurian legte sein Besteck auf den Teller. "Wir reden von Hesindian Silpho ya Phaitos? Den Hofmagier Baron Alriks von Friedwang, der zuvor in Diensten Baron Gernots gestanden hat? Eine Zeitlang in den Schwarzen Landen verschollen war...und dort irgendwie, auf scheinbar wundersame Weise, überlebt hat? Gezeichnet mit schneeweißen Haaren?" Erzpriester Ucurian machte nicht den geringsten Hehl aus seiner Verachtung.

"Woher hatte Meister Schlangenzunge denn seine famosen Erkenntnisse? Es würde mich nicht wundern, wenn dieser dunkelgraue Hofzauberer selbst mit der Gegenseite unter einer Decke gesteckt hat. Und hernach versucht hat...sich irgendwie heraus zu winden, wie eine Schlange." Ucurians Hand schlängelte sich über den Tisch, während seine Stimme vor Groll bebte.

"Nun, Selbfried mochte Graumagier auch nicht besonders. Aber, glaubt mir, einen doppelzüngigen Häretiker hätte Hochwürden schnell entlarvt. Seit einer gemeinsamen Reise nach Maraskan hat er Hesindian - leidlich - vertraut. Nein. Früher oder später führen alle Spuren zu Gernots Familie, seien es nun leibliche oder angeheiratete Verwandte. Ich habe mir erlaubt, Ismena von Oppstein genauer unter die Lupe zu nehmen..."

"Ismena von Gießenborn? Die war doch seit dem Überfall der Drachenmeisterin verschollen, wie schon zuvor ihr schiefhalsiger Gemahl." Garafanion griff nach der Karaffe und bot dem Commissarius noch etwas Wein ein. Dieser nickte dankbar. 

"Ja, seht Ihr. Genau das hat mir zu denken gegeben. Ebenso die überdeutliche Verbindung des Hauses Oppstein zu den Hexenkulten, die dem Namenlosen oft als Einfallstor in die verwirrten Seelen der Menschen dienen. Des jüngeren Hauses Oppstein. Wenn ich allein an die vielen schändlichen Geschichten denke, die man sich über Baron Adran erzählt. Wir müssen endlich ein Exempel statuieren. Auf dass endlich wieder der rechte, unverfälschte Glaube in den Sichellanden Einzug halten möge. Auch Freiherr Alrik von Friedwang ist unhaltbar, als enttarnter Phexgeweihter. Ihre Erlaucht hat sich dazu entschieden, den Fuchs aus seinem Bau hinauszuloben, gewissermaßen, und ihn zum Geheimen Kammerherrn in Rommilys ernannt. Nun ja, der Markgräfin geht es wohl darum, größere Peinlichkeiten zu vermeiden, und den Ruf des göttergegebenen Adels nicht noch weiter zu beschädigen. Schon bald wird Baroness Tsalinde auf dem Steinbockthron sitzen...aber das kann nur der Anfang einer umfassenden Erneuerung in der Mark sein."

Der Custos hob die Augenbrauen: "So rückt die Amtsübergabe also doch näher? Das habe ich gar nicht mehr zu hoffen gewagt, nach Alriks ewiger Hinhaltetaktik. Das letzte, was ich gehört habe ist, dass Seine Hochgeboren mit Ismena in Schlotz weilt. Um seinen Erstgeborenen Alboran mit der dortigen Baronieerbin zu verehelichen...der tugendhaften Haldana. Weiß Travia, was die Binsböckels reitet,  eine derartige Verbindung zu erwägen".

"Eine reiche Mitgift bewirkt mitunter Wunder. Die Gießenborner Silbermine soll in den letzten Jahren wieder Gewinne abwerfen. Ja, Ihr habt Recht. Diese Verbindung müssen wir auf jeden Fall im Auge behalten." Falkwart nickte entschlossen. "Immerhin könnte Alboran in Wahrheit ein Enkel Gernots von Friedwang sein. Und Golo über seine Gemahlin Ismena verderblichen Einfluss auf ihn  ausüben."

"Gemeinhin wird vermutet, dass Alboran wirklich Alriks Bastard ist", sagte Garafanion. "Eine bedauerliche Geschichte, aber leider nicht ungewöhnlich. Dennoch. Jede Doppeldeutigkeit und Verunsicherung  ist gefährlich, wenn es um den wahren Glauben geht. Gibt es denn Hinweise, dass Ihre Wohlgeboren Ismena namenlosen Einflüsterungen ausgesetzt sein könnte? Steht sie womöglich noch in Verbindung zum Purpurnen Junker? "

"Diese Fragen habe ich mir auch gestellt. Ja, es gibt einige Erkenntnisse in dieser Richtung." Falkwart  griff nach der kleinen Tischglocke,  die mit einem Greifen verziert war, und läutete. "Alfhildur?" Das zweite Läuten war schon ein wenig gebieterischer. "Alfhildur!"

Eine junge Thorwalerin trat ein, mit lederner "Krötenhaut" und Skraja im Schmuckgürtel. Hose und Hemd waren nach Matrosenart gestreift, in grün und weiß. Sie hatte wunderschöne, rotblonde, zu Zöpfen geflochtene Haare, einen rahjagefälligen Vorbau, Sommersprossen und lustige, ein wenig spöttisch blitzende Augen.  

Garafanion zuckte zusammen. Seit den Tagen der Wildermark waren keine Bewaffnete mehr in das "Allerheiligste" des Güldenen Greifen mehr gestapft. Hatte "Alfhildur" vor kurzem eine Verwundung davongetragen oder warum war ihr rechter Oberarm mit einem breiten roten Band umschlungen?

"Alfhildur Swafnidrasdottir", stellte Falkwart die großgewachsene Nordländerin vor, die sich beim Eintreten tief unter dem Holzbalken beugen musste. Sie tippte sich mit zwei Fingern lässig an die Stirn, zum Seemannsgruß. 

"Alfhildr Swafnirdrasdottir" korrigierte die Frau mit fester Stimme, die kraftvoll und melodisch zugleich klang. 

"Alfhildrrrr Swafnirrrdrasdottir" wiederholte Falkwart mit übertriebener Betonung, eher neckisch als herablassend. "Eine Nachkommin der stolzen Hjaldinger aus dem fernen Olport."

"Aus dem Jarltum" sagte Alfhildr und lächelte treuherzig. "Bin eine vom Aurlandfjord, das wohl. Aus Wardby, nicht aus Olport selber." 

Garafanion entging die leichte rahjagefällige Spannung zwischen Praiot und "Piratin" nicht. Alfhildrs Augen himmelten den gutaussehenden Commissarius an, so schien es zumindest. Blonde und rote Haare, das passte sogar zusammen. Aber auch Gegensätze zogen sich bekanntlich an. 

"Swafnir? Swafnir !?" Ucurian blies den Namen über die Lippen. "So ist sie nach dem Fischgott der Thorwalschen benannt?"

"Nach dem Gottwal, ja", sagte Falkwart. "Alfhildr ist ein Swafnirkind. Eine Walwütige, auch wenn man es ihr nicht sofort ansieht. Deswegen musste sie ihre Heimat schon in jungen Jahren verlassen. Das rote Tuch ist in ihrer Heimat ein Warnzeichen." 

Die Thorwalerin lächelte sanft. Oder war sie lediglich krampfhaft um Sanftmut bemüht? "Swafnir zum Gruße, die Herren!" sagte sie, mit der schleppenden Stimme der Fremdländerin, die Garethi erst vor einigen Jahren gelernt hatte. Es klang weich, melodisch und leicht singend, eher nach der sinnlichen Mundart der Horasier als der Mittelreicher. 

Ucurian schluckte. "Walwut? Ist das nicht diese besondere Art von Blutrausch, der manche Thorwaler ab und an befällt? Ein Zustand äußersten Jähzorns - bei dem sie Schaum vor den Mund bekommen und wie von Sinnen auf ihre Gegner einschlagen, mit überderischer Kraft?"

"Ganz Recht. Swafnirs Mutter ist schließlich die Kriegsgöttin Rondra, sein Vater der aufbrausende Efferd. Temperament haben sie nun mal, die Thorwaler, das muss man ihnen lassen."

"Eine Berserkerin also? Werter Falkwart, Ihr erstaunt mich." Auch Garafanion blickte verwundert. "Wie in Sankt Alborans Namen ist ein praiosfrommer Mann wie Ihr zur Gesellschaft dieser W..." Der Custos wollte bereits "Wilde" sagen, aber etwas in den stahlblauen Augen Alfhildrs hielt ihn ab. Sicher war es besser, die Barbarin nicht zu reizen. "Dieser Walwütigen gekommen", fügte er hinzu.

"Nun, vor einigen Monden habe ich mich ins Horasreich begeben, um Ismenas Spur aufzunehmen. In Rommilys war nur noch bekannt, dass sie vom Stadthaus der Oppsteins aus Richtung Yaquir aufgebrochen ist, das Gesicht unter einer Maske verborgen. Mit irgendeinem geheimnisvollen Gegenstand im Gepäck. Mein Ansatz, Gernbrecht von Oppstein aufzusuchen, den Condottiere der Rommilyser Reiterei, der in Liebfelder Diensten getreten ist, erwies sich als goldrichtig. Wenig später ist mir dann dieser Fang ins Netz gegangen." 

Falkwart lächelte Alfhildr zu, ein wenig versonnen. "Alfhildr wurde von ihrer Sippe wegen des...Swafnirfluchs, der sie plagt,  ausgestossen. Seitdem hat sie sich als Seefahrerin und Söldnerin in den Südlanden durchgeschlagen, in Cyclopea, dem Horasreich und im Südmeer...Ich kürze einfach ein wenig ab. In Pertakis, dem Winterquartier der Rommilyser Reiter, wurde mir berichtet, dass sich Alfhildr dort ebenfalls nach Ismena erkundigt hat. Aus nichtigem Anlass ist sie dann in einen blutigen Streit mit den dortigen Brückengardisten geraten. In Walwut...den heiligen Blutrausch, den ihre Leute auch Swafskari nennen."

"Der Neiding auf der Bro war hochnäsig, das wohl!" grollte Swafnidra und blies erregt eine Haarsträhne hoch. "Ich bin gar nicht in Swafskari geraten, nur zornig. Hab dem Samtpuper nur ein wenig in den Arm gehackt, dem Liebfelder Lackaffen...ein paar Zähne kaputt geschlagen und seine feine Nase, das wohl. Kaum angerührt hab ich den Niedlichfelder Nadelpiekser. Dieses gepuderte, pobelbärtige Moosäffchen..."

"Jaja, gewiss. Lässt du mich den Herren bitte deine Geschichte erzählen!" Falkwart klang beschwichtigend, aber auch etwas beunruhigt. Garafanion ahnte, was "Walwut" bei diesem Berserkweibchen bedeuten würde, das durchaus muskulös war. Alfhildr war eine Wildkatze, die sich jederzeit in eine wütende Bärin verwandeln konnte. 

"Angeblich brauchte es ein Dutzend Wachen, um sie zu überwältigen. Alfhildr landete im Kerker, und redete sich dort endgültig um Kopf und Kragen. Verzeih mir, Alfhildr, doch, genau so war es. Erzählte von einem Zauberzeichen, das ihr die Wohlgeborene Ismena von Oppstein hinterlassen haben soll, in Belhanka. Eine Rune, auf einer alten Tonscherbe. Ein göttliches Zeichen des Praios, das die Gießenbornerin durch das Orakel von Balträa erhalten haben will." 

Ucurian hüstelte. "Moment....habe ich das gerade richtig verstanden? Unser Allerhöchster Herr... soll sich der Schwester von Inquisitionsrat Parinor...ernsthaft....in einem thorwalschen Zauberzeichen offenbart haben? Noch dazu in einem seiner wichtigsten Heiligtümer? Ist es nicht schändliche Blasphemie,  etwas derart Widersinniges zu behaupten?"

"Glaubt mir, diese Fragen haben sich die Pertakiser auch gestellt. Meine gute Alfhildr wurde an den Orden der Albigonenser übergeben, der, wie ihr wisst, bei den Liebfeldern die Aufgaben der Heiligen Inquisition wahrnimmt. Dort habe ich sie dann gefunden. Ich muss sagen, sie hat mir ein wenig leid getan, mit den vielen Ketten und dem schweren Magierkragen um den Hals. Offenbar hielten die Brüdern und Schwester im Castell Sanct Aldigon sie für eine dämonisch Besessene. Ich erkannte sofort, dass ich es hier mit einer wichtigen Zeugin in der Causa Oppstein zu tun haben könnte. Offenbar hat Ismena das Orakel von Balträa aufgesucht, um Aufschluss über den Verbleib ihres Gemahls zu erhalten. Sie war felsenfest überzeugt, dass sich ihr Praios in dieser kleinen Scherbe offenbart hat."

"Schärpe?" Garafanion merkte, dass sein Gehör langsam nachließ.

"Scherbe. Von einem zerbrochenen Krug. Darauf war ein Vitkari gezeichnet, ein altthorwalsches Zauberzeichen. Zumindest hat Alfhildr es so gedeutet. Als, äh, wie sagt ihr, Drach…Drug…Drigbanruna. Eine Geisterbannrune..."

Ucurian schüttelte den Kopf. "Kein Wunder, dass sie bei den Albigonensern gelandet ist. Diese magischen Schmierereien finden sich längst auch bei uns, in der Vorsichel. Da soll es sich um alhanisches Zauberzeug handeln. Flüche, Bannzeichen, Schutzzauber. " Der Luminifer spülte schnell seinen Mund mit Wein aus und verzog das Gesicht, was nicht nur an der Säure lag. "Ist diese Alfhilda eine Magierin? Bislang dachte ich, allein die Olporter Akademie praktiziert diese Schwarzkunst. Weswegen sie sogar aus der Grauen Gilde ausgeschlossen worden ist..."

"Nun, das lag wohl eher daran, dass die Runajasko ihre Erkenntnisse nicht teilen wollte. Nicht, weil die Magie derart finster ist. Wie auch immer. In Veliris konnte ich Alfhildr auslösen, kraft meines Amtes. Zur frommen Buße ist sie nun für zwölf Götterläufe in meine Dienste getreten, als Leibwache."

"Ihr solltet Eurer...Dienerin klar machen, dass schon ein geschlagenes Praiosrad über weit mehr Macht verfügt als...diese Alrunen oder wie das thorwalsche Geschnörksel heißt. Ich hoffe, sie lernt schon bald die rechten Gebete. Jede reumütige Anrufung unseres Herrn ist machtvoller als dieses abscheuliche Zaubergeschmiere." 

Alfhildrs Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr Blick hatte bislang an einen vierbeinigen Olporter erinnert (die Hunderasse galt als besonders treu, ruhig und gutmütig), aber nun schien sie doch erbost zu sein. "Die Runias sind kein Zaubergeschmiere...sondern eine Kunst. Außerdem, ich steh vor dir und bin nicht zu übersehen...kannst gleich mit mir reden...und nicht mit  Falkwart über mich. Das wohl, bei Swafnir!"

"Setz dich doch, Alfhildr", sagte Falkwart begütigend. "Möchtest du einen Schluck mit uns trinken?" Die Thorwalerin zögerte kurz. Im nächsten Moment nahm sie auf einem freien Stuhl Platz, der bedenklich unter ihrem Gewicht krachte und ächzte. Mit dankbarem Nicken griff sie nach der Karaffe und schlürfte geräuschvoll. Schon nach wenigen Schlucken prustete sie den Inhalt aus, wie ein blasender Wal. "Bäh, das ist ja nur Traubensaft?!"

Der Commissarius seufzte und klingelte erneut. "Schankmaid?! Noch einen letzten Torkler, für die weitgereiste Dame hier. Aber dann ist wirklich Schluss, Alfhildr. Denk an die Walwut... "

Garafanion tupfte sich pikiert einige Weinpritzer aus dem Gesicht. Das Verstörende war, dass sich die Barbarin keinerlei Verfehlung bewusst zu sein schien. Mit großen, weißen Zähnen griente sie ihren Gegenüber an: "Du bist in Ordnung, glaube ich. Hast jedenfalls einen lustigen Bart. Mein Name ist Alfhildr...nicht Alfhilda, wie der da sagt. Das wohl! Alfhildr Swafnirdrasdottir!"

Dem scharfen Geruch nach zu urteilen, der dem Custos entgegen wehte, hatte die Thorwalerin "ihr Drachenschiff schon ordentlich beladen". Sie reckte ihm ihre Bärenpranke entgegen, aber da sich Garafanion seine Finger nicht zerbrechen lassen wollte, griff er höflich nickend zum Kelch und nippte.

"Hochwürden Neibhard Garafanion Eulenkuhl, Custos Lumini der Sankt Alborans..." Der Hochgeweihte kam nicht weiter. 

Alfhildr prustete erneut los: "Bei Swafnirs Fluke, du hast aber ganz schön viele Namen, Hochwürgen, oder wie dich deine Ottajasko ruft. Wie heißt der da, Hochwürgen?"

"Ucurian ist mein Stellvertreter..."

"Es heißt Hochwürden" tadelte Falkwart sanft. "Das ist ein Ehrentitel, kein Name. Zeig Hochwürden Garafanion doch mal deine Scherbe, bitte..."

"Wie? Ach so." Alfhildr kramte ein buntes Etwas hervor. "Die gehört aber meiner Freundin Ismena, nich mir...Eine feine von und zu. Auch wenn sie nicht so viele Namen hat wie du, Hochwürden. Mit Isi kann man viel Spaß haben. Hätten wir nicht soviel gesoffen am letzten Abend...die hätte ihre heilige Scherbe niemals liegengelassen." Die Thorwalerin schob den Fund über den Tisch. "Lag neben ner umgefallenen Säule, hat sie erzählt. Schaut doch hübsch aus. Is ne Draughbaniruna, glaub ich. Rot und Weiß...die Farben vertreiben böse Geister, bei Swafnir.  Könnte auch ne Alfenbannrune sein, wegen dem Triskal. Aber so richtig kenn ich mich mit den Runias auch nicht aus. Gehör ja nicht zur Runajasko. "

"Wenn das Zeichen wirklich magisch sein sollte, muss es sofort zerstört werden, in nomine Praionis!"

Ucurian wollte nach der Scherbe greifen, aber Garafanion kam ihm zuvor. Alfhildr sah aus, als wolle sie dem Luminifer ordentlich einen "ausschenken", wenn er sie weiterhin reizen würde. Vor allem wollte der Hochgeweihte klar machen, wer die höchste Autorität war, hier in der Greifaxstube. Nach wie vor er. "Wenn es magisch wäre, hätten das die Albigonenser schon längst getan. Ist es wirklich ein Zeichen des Göttergebieters, sollten wir uns hüten, es mit Füßen zu treten. " 

Der Prätor zog das große Binokel hervor und setzte es sich auf die gerötete, breite Nase. Sofort sah er klarer, im  Sonnenschein, der sich mit dem Kerzenlicht auf dem Tisch mischte. Stirnrunzelnd nahm er das vermeintliche Praioszeichen näher in Augenschein. Die Tonscherbe war erstaunlich groß, ein Bruchstück, dass er kaum mit der Hand umgreifen konnte. Die Glasur war vielerorts abgebröckelt und abgeplatzt, hier und da klebte feiner, schwarzer Staub. Natürlich, Baltrea war eine Vulkaninsel. 

Einen Moment lang befiel Garafanion Ehrfurcht. Balträa, das höchste Orakel des Himmelsrichters in Aventurien! Dann mahnte er sich selbst zur Ordnung. Besonders ungewöhnlich oder heilig wirkte diese Tonscherbe nicht. Die Sucht des einfachen Volkes nach Wunderdingen war dem Herrn ebenso ein Gräuel wie die vielen kleinen und großen Sünden der Sterblichen. Nicht jede goldfarbene Hahnenfeder stammte in Wahrheit von einem Greifen, nicht in jedem lichtblitzenden Stückchen Glas spiegelte sich gleich das Antlitz der Heiligen Lechmin von Weiseprein. 

Die Scherbe wirkte bauchig, als stamme sie von einem kleinen Krug. Innen war sie orangefarben glasiert. Garafanion runzelte die Stirn. An irgendetwas erinnerte ihn die halbzerstörte "Rune", die wie rotierende weiße Wellen auf rotem Grund aussah. Auch wenn er in seinem Leben noch niemals nördlicher als Menzheim, geschweige denn im verschneiten, stürmischen Thorwal gewesen war. 

Er rieb ein wenig Vulkanstaub von der Malerei, und stutzte: Waren das Stiefel, an den drei Beinen, die hier im Kreis marschierten? Stiefel, kein Zweifel, mit goldenen Sporen. Unwillkürlich ging Garafanions Blick zu dem Wappen im Butzenglasfenster, das bunt im sanften, hellen Praioslicht leuchtete. Es zeigte ein silbernes Triskele mit drei gestiefelten Füßen. Drei gepanzerte Beine, vor einem roten Wappenschild, die ebenfalls goldene Sporen trugen. Er säuberte das Fundstück noch ein wenig mehr. Kein Zweifel: das hier war die Miniaturausgabe des Wappens im Fenster, wenn auch stark verwittert.

Durch die Tür trat nun Rauline Sockrenmoor, die in Ehren ergraute Gastwirtin, und brachte einen Becher und ein kleines Fläschen mit Schnaps mit. Es roch nach Torkelbeere oder Schwarzdorn, als sie der zufrieden grinsenden Thorwalerin einschenkte. Bornische Torkelbeerenessenz, sowas bekam man selbst  in Rommilys nicht an jeder Ecke kredenzt.

Die Wirtin blickte ein wenig verlegen in die Runde: Drei Praioten und eine Thorwaler Barbarin in der Greifaxstube, das hatte sie auch noch nicht erlebt. "Nachtisch, die Herren – und Dame? Birnenpudding vielleicht, mit Benbukkel?"

Garafanion hob die Scherbe: "Weißt du, was das ist, Rauline? Oder mal gewesen sein könnte? Es zeigt das gleiche Wappen wie auf dem Fenster, denke ich..."

Die Sockrenmoor verkorkte ihre Flasche wieder und trat näher. "Das? Mal sehen...Könnte von ner Reubenszeller Pilgerflasche sein. Das Wappen mit den drei Beinen, ja, das ist das alte Ortswappen von Rübenscholl. Drei Wege und so... Das Perainekloster war mal ein beliebter Wallfahrtsort und hat   solche Kugelflaschen getöpfert, als Andenken. Bevor es von der Sonnenlegion zerstört worden ist, in der Zeit der Priesterkaiser. Tschuldigung, aber so wars. Nichts für ungut....Früher hat man die Flaschen ab und zu noch gesehen, in Friedwang. Gesegnet waren sie angeblich auch.  Gut, um Wasser und Wein frisch zu halten. Junker Golo hat sie alle aufgekauft und zerschlagen lassen. Weil nur Adelige ein Wappen führen dürfen. Hab ich zumindest mal gehört. Rübenscholl war ja sein Dorf. Damals war es das noch. Vor seinem Verschwinden. Halten zu Gnaden, Hochwürden." 

"Zerschlagen, aha." Garafanion nickte. "Alle bis auf eine, vermute ich. Am Ende hat Golo offenbar seine eigene Flasche auf Baltrea zertrümmert, am Ende der Bußwallfahrt. Aus welchen Gründen auch immer." 

"Verzeihung, wie meinen, Hochwürden?"

Der alte Praiosgeweihte blickte zum Fenster und dann entrückt in die Runde. Diese Scherbe war nicht nur ein Beweis, dass Golo wirklich auf der Orakelinsel gewesen war. Der Götterfürst hatte seinen Dienern gerade eine Flaschenpost geschickt. Sozusagen.

Garafanion schloss die Augen und genoss für einen Moment die Wärme der Sonne auf seinen faltig gewordenen Wangen. 

"Es könnte wirklich eine Botschaft unseres höchsten Herren sein. Die drei Wege zu Praios sind seit jeher Veritas, Ordo und Ius. Wahrheit, Ordnung und Recht. Seit der Quanionsqueste wissen wir, dass es noch eine vierte Säule des Glaubens gibt: Integritas. Vollkommenheit, Reinheit und Makellosigkeit. Ebenso, dass Praioslob von Selem, der Begründer der Praiokratie, ein Frevler war, der Zwietracht und Hass in die Reihen der Zwölfgöttergläubigen tragen wollte." 

Der Hochgeweihte faltete die Hände. "Die Prophezeiung von Balträa gilt womöglich auch uns, die wir hier sitzen, nicht nur Ismena. Wir müssen den Glauben wieder zusammenfügen, der in der Schwarzen Sichel zerbrochen und beschädigt ist, wie diese Pilgerflasche. Das Dreibein steht seit jeher für den erhabenen Lauf der Sonne wie des Lebens. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Ebensowenig wie das Wirken der zwölf göttlichen Geschwister in Alveran. Oder was meint Ihr dazu, Falkwart?""

 

Der Inquisitions-Commissarius blickte erst zum Wappen und nahm dann die Scherbe in die Hand, um sie beiläufig abzuwiegen.

"Hm ja...zumindest handelt es sich dabei um kein Zauberzeichen. Ich habe schon den Jubel der Liebfelder Prinzipisten gehört: Praios erteilt in Balträa der Magie endgültig seinen Segen. Wie es angeblich mal im Bosparanischen Reich der Fall war. Lächerlich...Gab es damals nicht  Scherbengerichte, bei denen die Namen der Verbannten in Tonscherben geritzt worden sind? Womöglich bedeutet der Orakelspruch genau das: Golo wurde ein für alle mal aus der Kirche der Rechtgläubigen ausgestossen. Jedenfalls ist Magie nicht praiosgefällig und wird es auch niemals sein." Falkwart gab das Flaschenstück zurück. 

"Vielleicht könnt ihr die Balträische Scherbe ja noch einbauen, in Eure Predigt. Es trifft sich gut, dass morgen Praiostag ist. Beim Gottesdienst können wir den Leuten mitteilen, dass die Friedwängische Praios-Commission zurückgekehrt ist. Sagt den Bauern und Bürgern, dass ein Kasten im Hof der Tempelburg angebracht werden wird, wo sie all das melden können, was Ihnen in dieser Baronie als praiosungefällig oder sonstwie verdächtig erscheint. Danach können wir den sokramorischen Saustall endlich ausmisten". 

Garafanion blickte schon wieder erschrocken: "Eine Aufforderung zur Denunziation?"

"Eine Aufforderung zur Wahrheit, Recht, Ordnung und Integritas." Ehrwürden Falkwart Malachanias von Zaberg prostete Alfhildr zu, die ebenfalls ihre Stirn runzelte: "Bruder Ucurian , was Ihr sagt ist wahr. Du solltest langsam wirklich einige grundlegende Gebete unseres Glaubens lernen, meine liebe Olporterin. In der Zeit deiner Buße."

11. Kapitel - Eine Verlobung und ein Unwetter

11. Kapitel

Eine Verlobung und ein Unwetter



Umgebung von Gernatsborn, gegen Mittag des 6. Praios 1043
Dumpf schlugen die Hufe der Pferde auf den Burgweg, der sich hinunter zu den Obstwiesen und Weiden von Gernatsborn schlängelte. Die Rösser schnaubten unruhig. Adginna, die vornehm im Damensitz im Reisesattel saß, geführt von einem Diener, blickte nach oben. Der Himmel, der heute Morgen noch makellos gewesen war, hatte sich seit den Mittagsstunden zunehmen bewölkt. Als hätte der finstere Rauch, in dem sich diese Meuchelmörderin aufgelöst haben sollte, es vermocht, den Himmel mit deren Bosheit zu vergiften. Das letzte, woran Adginna an einem Schreckenstag wie diesem gedacht hätte, war die Verlobung zwischen ihrer Tochter und Alboran. Ausgerechnet an einem Schrein der Koboldsgöttin Tsa. Tuvok, ihr treuer Forstwart, war zu allem Überfluss auch noch verschwunden. Odilon und Timoin hatten sich auf dessen Fährte geheftet, aber bislang hatte sie noch keine beruhigende Nachricht erhalten. Das alles war mehr als Besorgnis erregend.
Zur Mittagszeit war nun die Tsageweihte aus Schnayttach eingetroffen, um den Heiligen Hain einzuweihen. Also ritten die Adeligen den Hang hinunter, hinein in das kleine Dorf und eskortiert von mehreren Pfahlgardisten. Die Wachen waren durchaus nötig. Aufgeregte Dörfler drängten sich am Wegesrand und starrten auf die Burgherrin, die bleich, aber voller Selbstbeherrschung dem Zug voran ritt. Manche drängelten sich nach vorne, wollten Glyranas Umhang oder Tunika berühren und machten dabei die Pferde scheu. Dann wurden sie mit dem Hellebardenschaft sanft, aber bestimmt zurück befördert. Offenbar hatte es das Gerücht gegeben, Ihre Wohlgeboren wären ernsthaft verletzt oder – Frau Tsa bewahre! - gar ihren Wunden erlegen. Insofern machte es durchaus Sinn, sich als Burgherrin dem Volk zu zeigen, und jene Unerschrockenheit zu demonstrieren, wie sie Adeligen des Raulschen Reiches gut zu Gesicht stand.
Die Unbekümmertheit der Schnayttacher Tsadienerin wunderte die Vögtin von Schlotz allerdings schon: Am späteren Nachmittag sollte es erneut ein Gewitter geben. Hoffte die Dienerin des Lebens auf einen abschließenden Regenbogen, als Höhepunkt der Zeremonie? Und wer wusste schon, was die namenlosen Verschwörer (so es denn mehrere Täter gab) noch alles im Schilde führten. Diese Yasinthe hatte gestern Abend eindeutig Drohungen gegen die Tsakirche ausgestoßen...Die halbe Lanze Leibwachen schien da angeraten zu sein. Auch wenn die Bewaffneten nicht so Recht zur Einweihung eines Heiligtums der friedfertigen Jungen Göttin passen wollten.

Nun fehlt eigentlich nur noch, dass sich Ysilda von Schlotz unter den Tsajüngern befindet, dachte Alrik, der huldvoll zur Seite hin winkte und ein Stück nach vorne ritt, neben die Dienstritterin. Jadvige befehligte die Pfahlgardisten selbst, nachdem Rodericks Pferd immer noch hinkte.
"Gibt es etwas Neues von den Verhören?" wollte Alrik wissen.
"Wir haben diesen Wendelin erst einmal in den Kerker gesteckt", sagte die Dienstritterin. "Vorsichtshalber und zur Ausnüchterung...Der Barde scheint gestern Nacht wirklich heillos betrunken gewesen zu sein. Er kann sich auch nach ein paar Eimern Wassern an nichts erinnern. Behauptet er jedenfalls."
"Ah. Tulamidische Wasserfolter ?" Lächelnd grüßte der Friedwanger erneut.
"Nein. Thorwalsche Morgenwäsche. Unser Minnesänger hat einen ordentlichen Werwolf. Der nicht gespielt ist, beim Heiligen Valpo. Andererseits hat Yasinthe sich in seinem Zimmer versteckt. Und einer der Diener will gesehen haben, wie Wendelin nachts mit irgendwas unter dem Mantel zur Latrine gelaufen ist...Irgendetwas, was durchaus ein Seil hätte sein können. Da wäre er aber schon sternhagelvoll und kaum noch ansprechbar gewesen. "
"Das ist doch seltsam, für einen Mitverschwörer. Musste der Spielmann sich etwa Mut antrinken?"
"Könnte was Magisches sein" Jadviges Blick glitt misstrauisch über die Umgebung. "Aber da kenne ich mich nicht besonders gut aus...Leider oder Praios sei Dank, je nachdem."
"Ja, ich vermisse gerade  Hesindian, meinen Hofmagier. Was ist mit den Wachen auf der Burgmauer?"
"Haben Geräusche im Wasser gehört, kurz vor dem Attentat. Dachten allerdings, es wäre eine Rotte Wildschweine. Die schwimmen in letzter Zeit öfters über den Fluss. Die Küche wirft gerne ihre Abfälle über die Mauer. Muss mal mit Glyrana darüber reden..."
"Und die Leiter?" Alriks Pferd stolperte. Der Baron beruhigte es mit einem Tätscheln.
"Die Diener auf der Terrasse haben sie erspäht, als sie den Baldachin aufgestellt haben. Aber sich nichts Besonderes dabei gedacht. Schließlich war unsere Burg die letzten Monate eine einzige Baustelle, mit Gerüsten und Leitern. Ein schwarzes Eichhörnchen haben sie auch noch gesehen, auf dem Söller...das hat sie merkwürdig angeschaut..."
"Euer Gesinde scheint ein Herz für Tiere zu haben. Weiß von den Dienern jemand etwas über die Wilden Keiler, Wilden Kerle oder wie die sich nennen?"
"Über die Sokramurier redet man hierzulande nicht gerne". Auch Jadvige klang ausweichend. "Die Wilden Kerle tragen ihren Namen wohl zu Recht. Aber allzu gefährlich kommen sie mir nicht vor. Es gab mal eine Rauferei im Gerbaldsrast, böse Streiche und ein paar Schmierereien an Hauswänden. Märsingen geht nach Hause, und so weiter. Märsingen mit ä...Ich frage mich, wie diese Wildsauen da irgendwelche yesatanische Hetzschriften lesen sollen, von denen Valyria schreibt."
"Das heißt, wir haben momentan nichts..." Alrik erstarrte mitten im Satz. Aus dem Menschenauflauf heraus blickte ihn ein bekanntes Gesicht an wie ein Geist. Oder wie ein Untoter. Das Gesicht war mit Ruß und blutverschmiert, die schwarzgrauen Haare hatten heute noch keinen Kamm gesehen, die ledernen Gewänder waren schmutzig und feucht. Am schrecklichsten war der hohle, leere Blick des Mannes, in dessen Augen nun aber doch so etwas wie jähes Erkennen trat.
"Alrik... Alrik?!" Der "Geist" taumelte auf den Baron von Friedwang zu, dessen Reittier scheute und auswich. Eine Pfahlgardistin wollte sich ihm in den Weg stellen, aber der Friedwanger hielt sie mit einer Geste zurück.
"Tuvok?!! Wo warst du die ganze Zeit, beim Heiligen Assaf?"
"Ich...ich weiß es nicht..." stammelte der Forstwart. "Eigentlich wollte ich mir nur mal kurz die Beine vertreten...dann war alles ganz seltsam..."
Verstört starrte Tuvok auf seine Hände, deren Gelenke von rötlichen Striemen verunziert waren, und rieb sie sich über das Gesicht. "Wo, wo kommt ihr jetzt her? Wollt ihr schon zurück nach Burg Schlotz? Wo ist mein Bogen?"
Der Phexgeweihte schüttelte irritiert den Kopf. Auch Jadvige war verwirrt: "Hat der vielleicht gestern die Nacht mit Wendelin durchgemacht?"
Tuvok starrte an Alrik vorbei ins Leere. "Ich, ich kann mich wieder erinnern. Die Trollzacken...ein Geisterdorf...ich glaube es hieß Kurgasberg. Da war eine Grüne Wolke, in der alten Mine. Ja, nun weiß ich es wieder. Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund für alles...Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören...noch heute. Er will...ich soll euch ausrichten..." Mit einem Seufzen sank der barönliche Forstwart zu Boden.  


Da Odilon und Timoin schon am Vormittag umfangreich das Ufer des Gernat flussabwärts abgesucht hatten - wenn auch auf der Suche nach einer Spur von Yasinthe - so war doch klar, dass sich hier keine weiteren Spuren finden würden. Weder von einem Hofjagdmeister noch von sonst jemandem. Also hatte Odilon kurzerhand entschieden, ein wenig stromaufwärts auf gut Glück zu suchen. Es gab keinen Hinweis, wo Tuvok sich aufhalten könne. Hier nach einer Spur zu suchen war die sprichwörtliche Suche nach der Tannennadel auf dem Waldboden. So war es auch kein Wunder, dass sie die Spur des Jägers nicht fanden. Zumal beide wussten, dass Tuvok keine Spuren hinterlassen würde, wenn er darauf achtete.
"Sieh dort, Odilon! Da sind Spuren!" rief Timoin plötzlich aus, der vorangegangen war. Er deutete auf eine lehmige Stelle am südlichen Gernatufer, an einer Stelle, die als Furt über den Gernat bekannt war.
Der alte Jäger eilte zu seinem jugendlichen Begleiter und ließ seine Augen über den Boden gleiten. Er nickte.
"Interessant... Nicht Tuvoks Spur. Aber dennoch eine Fährte, die uns bekannt vorkommt. Sieh Timoin. Wie viele Spuren zählst du?"
"Vier. Das waren vier." antwortete Timoin schnell und sicher. "Gestern waren das noch fünf Spuren, aber einer wurde von einer Armbrusterin in den Rücken geschossen. Jetzt sind es noch vier Goblins.”
Odilon nickte. “Ja, eindeutig vier Spuren. Und von der Eindrucktiefe und den Schuhspuren her sind es Goblins. Die Richtung, in die die vier Rotpelze von gestern aufgebrochen sind, könnte auch passen. Ja, vermutlich sind es die gleichen Goblins, deren Fährte wir gestern gesehen haben.”
“Hilft uns das weiter auf der Suche nach Tuvok?”orakelte Timoin, halb an sich selbst gerichtet. Seine Augen folgten der Spur, sie weiter praioswärts in den Wald führte.
“Keine Ahnung” murmelte Odilon und zuckte mit den Schultern. “Aber eine bessere Fährte haben wir ja nicht, und vielleicht finden wir etwas heraus.” Odilons Stimme war leiser geworden. “Wenn wir hier Spuren sehen, dann haben die Goblins den Gernat erst nach dem Regen überquert. Irgendwann in der Nacht, vermute ich, denn tagsüber traut sich der Rotpelz so nahe an Gernatsborn vermutlich nicht über die Furt. Da wären sie ja vom Bergfried aus zu sehen gewesen. Und sie müssen irgendwann gelagert haben, also sind sie vielleicht nicht weit entfernt.”
Odilon spannte vorsichtshalber die Sehne auf Bavhano Bvaith, und Timoin tat es ihm gleich mit seinem Bogen. Dann folgten sie der Spur in den Wutzenwald.
Es war nicht schwer, der Spur zu folgen. Der Boden war weich genug, und die Goblins hatten sich nicht darum bemüht, ihre Spuren zu verwischen. Eine knappe Meile folgten beide der Fährte durch den Wald. Dann bemerkten sie eine Feuerstelle. Mehrere verkohlte Äste lagen in einem aus Steinen errichtetem Rund.
“Offenbar haben sie hier gelagert.” flüsterte Timoin. Odilon nickte. Der Platz rings um die Feuerstelle war gänzlich platt getreten. Ein paar abgenagte Rotpüschelknochen verrieten Odilon und Timoin, dass die Goblins Jagdglück hatten.
Dann wies Odilon auf eine weitere Spur hin. Odilon erkannte sie eindeutig als Spur eines Menschen. Eines Menschen, der mehr ins Lager geschleift war, als dass er gelaufen war.
“Sieh hier, Timoin. Hier führt eine Goblinspur weg vom Lager, hin zu der Spur des Menschen. Ab dort, wo die beiden Spuren sich kreuzen, endet die Laufspur des Menschen, und die Schleifspur beginnt. Was meinst du, Timoin?”
Der Angesprochene nickte. “Ich würde sagen, der Mensch hat sich zu unvorsichtig angepirscht, wurde erwischt und nieder geschlagen.”
“Ja, so ungefähr” bestätigte Odilon. “Das hätte ich auch so gedacht. Ob das Tuvok war? Immerhin wird sonst niemand vermisst außer dem Hofjagdmeister.”
“Das ist naheliegend… aber ich habe Tuvok noch nie gesehen. Also, wie sollte ich seine Spur erkennen” Odilon nickte. Auch wenn er Tuvok schon kannte, so wusste er doch nicht, welche Stiefel dieser trug. “Lass uns weiter sehen. Zwei Goblins schleifen einen Gefangenen zum Feuer. Dort, diese Eindruckspuren, dort haben sie ihn hingelegt, vielleicht gefesselt. Wer weiß das schon. Es ist alles ziemlich platt getreten. Man tut sich schwer, etwas zuzuordnen. Jedenfalls… dort führt die Spur wieder weg vom Lagerplatz. In diese Richtung scheinen sie gegangen zu sein.”
Timoin eilte in die angegebene Richtung. Sorgfältig untersuchte er den Boden. Dann stutzte er.
“Odilon, da stimmt was nicht.” Der junge Jäger wies auf einen Fußabdruck vor ihm. “Ich sehe vier Goblins und die Spur des Gefangenen. Aber da ist noch eine Spur. Eine Spur geht mit den Rotpelzen vom Lager fort. Eine Spur, die aber nicht zum Lagerplatz hin gegangen ist. Ich kann mir das nicht erklären, aber da ist noch jemand mit dabei gewesen. Eine weitere Spur…lederne Mokassins, schwerer als ein Goblin, leichter als der Gefangene… eine Frau vermutlich. Aber jemand, der nur vom Lager fort geht und offenbar nicht dorthin gekommen ist. Was kann das sein?”
“Nun, am plausibelsten” begann Odilon “ist es, dass die Frau schon vor dem Regen da gewesen ist… hat vielleicht auf die Goblins gewartet. Durch die Luft wird sie ja nicht geflogen sein. Oder jemand… der beim Hinweg darauf geachtet hat, keine Spuren zu hinterlassen. Vergiss nicht Timoin, wir sehen auch nicht immer alles. Gute Waldläufer verstehen sich darauf, keine Spuren zu hinterlassen.”
Der junge Jäger nickte. “Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden” flüsterte er. “Wir müssen der Spur folgen. Immerhin gehen alle sechs in die gleiche Richtung.”
Odilon stimmte seinem Begleiter zu, aber er legte den Finger an den Mund. Timoin verstand. Wer vermochte schon einzuschätzen, ob die Rotpelze weit weg waren oder nicht?
Vorsichtig folgten die beiden Jäger der Fährte, die nicht schwer zu verfolgen war,  tiefer in den Wald, Die Spuren von sechs paar Füßen war tatsächlich kaum zu übersehen für einen auch nur halbwegs geschulten Blick. Odilons Blick hob sich nach dem Stand der Sonne. Es durfte auf Mittag zugehen. Eigentlich hätte er gerne der Verlobung der jungen Baronin mit dem Sohn seines alten Freundes Alrik beigewohnt. Aber die Suche nach Tuvok ging eindeutig vor. Irgendetwas bahnte sich hier an. Odilon hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Der alte Jäger ging voran, und Timoin folgte ihm. Eine gute Meile führten die Spuren Odilon und Timoin tiefer in den Wald. Ein seltsam flirrendes Licht fiel durch die Bäume auf den Waldboden.
Pfifferlinge. Leckere, frische Pfifferlinge. Verborgen in einer schattigen Stelle zwischen moosbewachsenen Steinen. Wären die beiden noch auf ihrer Pilgerfahrt, Odilon hätte die Pilze mitgenommen für das Abendmahl. Jetzt allerdings blieb keine Zeit dazu. Aber noch etwas fiel Odilon auf.
Eine Spur zweigte von der Hauptfährte ab. Allerdings halb in Gegenrichtung, gen Rahja tiefer in das Unterholz hinein. Odilon bückte sich und winkte Timoin ebenfalls herunter. Der Junge verstand intuitiv, dass er schweigen sollte.
Odilon deutete auf die Spur, auf einen Fußtritt, dann auf den nächsten. Dann zeigte er auf zwei Fußtritte auf der Hauptfährte.
Timoin nickte. Die Abstände der Fußspuren auf der abzweigenden Fährte waren größer, tiefer. Ein Goblin, das war klar. Er war auf dem Rückweg gerannt. War er geflohen? Vor was? Aber jedenfalls war nur ein Goblin hier zurückgekehrt.
Odilon schlich vorsichtig weiter, der Hauptspur folgend. Einem fliehenden nachzusetzen schien dem alten Jäger im Augenblick nicht sinnvoll. Die Spur führte weg vom Gernatsborn, tiefer in den Wutzenwald hinein. Und die beiden Menschenspuren, die mit den Goblins unterwegs waren, führten weiter gerade aus. Es schien Odion wichtiger, festzustellen, wohin diese Spuren führten. Sachte auf den Waldboden achtend bewegten Odion und Timoin sich weiter.
Timoin zog leise Luft durch die Nase ein und zeigte nach vorne. Odilon verstand, was sein Begleiter ihm mitteilen wollte. Ein leichter Rauchgeruch lag in der Luft. Und der Wind stand gegen sie. Immerhin, das war vorteilhaft für sie beide.
Aber das sirrende, flimmernde Licht verwirrte beide. War es die verwunschene Aura des Wutzenwaldes? Oder brach sich Praios Schein in der feuchten warmen Luft und zauberte eine vielzahl kleiner Regenbogen?
Odilon und Timoin schlichen, die Deckung des Unterholzes ausnutzen, vorsichtig vorwärts. Wenn nicht weit von Ihnen ein Feuer brannte, dann war dort vorne auch jemand - oder zumindest noch bis vor kurzem gewesen. Mit drei Rotpelzen und zwei Menschen war zu rechnen, aber wer konnte das schon genau sagen?
Langsam wurde der Wald lichter. Odilon hielt inne, legte sich flach auf den Boden und kroch vorwärts. Der Geruch des Rauches hatte ihm verraten, dass es nur noch wenige Schritt waren bis zur Quelle des Rauches. Dennoch war im Waldesdickicht nicht zu sehen. Die Fährte folgte durch das Unterholz - aufrecht gegangen, wie die Rotpelze schienen, hätten ihnen ständig Äste und Zweige ins Gesicht geschlagen, und man hätte sich auch kommen hören. Das war den Rotpelzen offenbar gleichgültig gewesen. Odilon und Timoin hingegen krochen unter dem Unterholz hindurch, sich leise und sorgsam annähernd.

Dann öffnete sich vor ihnen der Wald, und es bot sich ihnen ein Bild des Grauens.

Auf einem Moosbewachsenen, halb mannshohen Felsblock lagen die Leichen dreier Goblins, offenbar erstochen. Überreichlich Blut war über den Stein geflossen und auf den Waldboden getropft. Der alte Waldläufer war dankbar, dass sein junger Begleiter bei diesem Anblick nicht so sehr erschrak, als dass er aufgeschrien hätte. Regelrecht dahin gemetzelt schienen die drei Rotpelze zu sein. Kein Wunder, dass der Vierte in aller Hast geflüchtet war.
Neben dem Felsen machte Odilon eine Feuerstelle aus, von faustgroßen Steinen umringt, in der offenbar noch Glut war. Das unheilige Ritual - als solches würde er alles bezeichnen, was unter Zuhilfenahme von Blutmagie gewirkt worden war - schien noch nicht lange zurück zu liegen. Ob der Urheber des Rituals noch in der Nähe war, vermochte Odilon nicht einzuschätzen war. Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Odilon hatte in seinen fast siebzig Jahren genug gesehen und erlebt, um, auch ohne selbst die Magie zu beherrschen, Blutmagie als solche zu erkennen. Nicht zuletzt während des Krieges gegen den Bethanier waren solche Schauerlichkeiten häufiger geschehen. Wer oder was der Urheber des Massakers an den Rotpelzen war, da konnte er nur vermuten. Immerhin, die beiden Menschenspuren hatten hier nicht ihr Ende gefunden.
Die Rotpelze waren in die Falle gelockt worden!
Vorsichtig spähte Odilon weiter. Den Urheber dieses schändlichen Mordes an Goblins konnte er nicht sehen. Aber eines wusste er: Wer immer hier Blutmagie gewirkt hatte, dem würde er lieber nicht begegnen. Er mochte den Bogen meisterlich und das Schwert immer noch gut beherrschen, aber mit einem Schwarzmagier, Paktierer oder anderen finsterschurkischen Gesellen konnte er, würde er sich auf einen Kampf mit diesem einlassen - nicht auf einen guten Ausgang vertrauen können. Er hätte viel darum gegeben, seine Gefährtin Jirka mit ihrer mächtigen elfischen Magie an seiner Seite zu wissen.
Odilon scheute davor zurück auf die Lichtung zu treten, auch wenn er niemanden mehr dort sah. Vermochte er zu wissen, wie weit weg, die Verursacher dieses Blutbades inzwischen gelangt waren? Waren sie noch in der Nähe?
Immerhin konnte Odilon erkennen, dass zwei Spuren tiefer in den Wald hinein führten. Eine andere Spur - die des zuvor gefangenen, wie Odilon erkannte - führte in die Richtung, in der Gernatsborn lag.
Immerhin wusste Odilon nun, dass jemand hier am Stein - Opferstein, wie er besser sagen sollte, gewartet hatte, um die Goblins in einen Hinterhalt zu locken. Und die Frau war mit diesem mitgegangen.
Wem sollte er folgen? Aufteilen? Kurz dachte Odilon nach. Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Timoin alleine hätte nicht den Hauch einer Chance gegen jemanden gehabt, der sich der Dunklen Pforten bedient. Odilon wusste zumindest, auf was er sich da einlassen würde - was ihn seine Chancen aber auch nicht besser einschätzen ließ.
Also entschied Odilon, der Spur zum Gernatsborn zurück zu folgen. Immerhin konnten sie dann den Burgherrn warnen vor dem, was im Wald unweit seines Lehens vor sich ging.

Timoin bekam von der Sorge seines Lehrmeisters wenig mit. Die Lichtung faszinierte ihn, auf dunkle Art und Weise, nicht nur wegen der toten Rotpelze. Sie war voller Spuren. Genauer gesagt war die Wiese völlig zertrampelt. Mit der fiebrigen Begeisterung eines Jagdhunds, der eine heiße Fährte erspürt hatte, ließ er seinen Blick schweifen und tastete mit der Hand über das eingedrückte Gras, die kleinen Erdmulden, die zerbrochenen Äste, das abgeschabte Moos an den Steinen. Hier lag ein schartiges Schwert, dort ein Knüppel oder ein Speer. Auf den ersten Blick sah das alles nach einem wilden Kampf aus, aber der junge Binsböckel war sich unsicher. Die Goblins hatten ihre Waffen offenkundig fallen gelassen, bevor sie zum Stein gezerrt worden waren. Erst dort waren sie erstochen worden, mit einer spitzen, aber nicht allzu großen Waffe. Fliegen umschwirrten das Blut, das noch ziemlich frisch wirkte und kaum geronnen war. Kleine rote Pfotenspuren führten über den Stein: ein Marder, oder Ratten?
Timoin empfand Abscheu und Ekel, aber wenig Furcht vor der gräulichen Szene. Geschweige denn Mitleid. Goblins. Die Baronie hatte in den letzten Jahren wahrlich genug unter Strauchdieben wie diesen gelitten, die auf dem Stein lagen wie betrunkene Zecher an einer Theke: mit schiefem, hauerbewehrtem Maul und glasigem Blick. Irgendwie sahen sie erschöpft und müde aus. Zu Tode erschöpft und todmüde.
Gerade weil Timoin als Kind eine Heidenangst vor den plündernden, sengenden Götzenanbetern gehabt hatte, wollte er sich jetzt keine Furcht anmerken lassen. Der grausame Räuberhäuptling Chraaz sollte sich heute noch irgendwo in den endlosen Wäldern am Gernat herumtreiben. Nein, das erste Rotpüschel, das er erlegt hatte, hatte ihm mehr leidgetan als diese hingeschlachteten Banditen. Die Rotpelze, die er kannte, waren nichts als Mörder und Räuber (manchmal sogar Frauenschänder).
Nur Odilon schien ehrlich über deren Ableben betrübt zu sein. Aber der Schwarze Bär machte keinen Hehl daraus, Verständnis für die "Suulak" zu empfinden, als wahre Ureinwohner der Sichellande. Der alte Waidmann hatte sicher keine Gründe, selbst wenn Timoin sie nicht recht verstand: Immerhin hatte der Baernfarn in vielen Schlachten gegen die Goblins gekämpft.
Auch die Fußspuren wirkten merkwürdig. Bei einem Kampf gingen sie meist tief, in diesem Fall waren sie oft nur angedeutet, als wären die Goblins halb über die Lichtung geschwebt. Timoin kannte eigentlich nur ein Spurenbild, das dem Chaos hier ähnelte: Junge Rehböcke oder Hirsche, die übermütig durch den Wald sprangen. Auch wenn es keinen Sinn ergab, sah die Szene hier fast so aus, als hätten die kleinen Stinker getanzt – und wären dann mal hier, mal dort nieder gesunken. Was war denn das dort? Am Rand der Lichtung lagen fette, runde, glänzende Eicheln. Sie wirkten frisch, obwohl weit und breit keine Eichen standen und der Herbst noch fern war. Zahlreiche der Baumfrüchte waren bereits angefressen. Tatsächlich, hier waren überall Wildschweinspuren. Timoin roch an einer der zernagten Eicheln, die einen intensiven Geruch verströmte.

"Die Lichtung ist nicht nur eine Opferstätte, sondern auch eine Kirrung", sagte Odilon, der neben seinem Gesellen niedergekniet war. "Ein Ort, wo Schwarzwild mit Futter angelockt wird. Gar nicht so lange her, der Tod der Rotpelze...ein Viertel Wassermaß vielleicht, höchstens. Das Gras hat sich noch kaum aufgerichtet. Siehst du die Abdrücke der Schalen dort? Irgendetwas hat die Wildsauen vertrieben. Ich vermute, die Ankunft der Zweibeiner. Scheint eine ziemlich große Rotte zu sein."
Der Baernfarn, der den Pfeil bereits auf Bavhano Bvaith aufgelegt hatte, spähte um sich. "Das sollten wir übrigens auch tun...so schnell wie möglich verduften."
"Aber Odilon, da führen noch Spuren von Menschen in den Wald?!"
"Wer immer das hier getan hat, hat Blutmagie angewandt...Und wer soetwas tut, ist kein firunsgefälliger Mensch."
"Blutmagie?" Timoin schluckte und langte sich nervös an das Ohr mit der Alboranskerbe. Sein Meister empfand eindeutig Furcht, was ihn verwirrte.
"Ja, zaubern mit der Lebenskraft von beseelten Wesen. Oder sogar Zweibeinern, wie hier."
"Woran erkennt man das?"
"Für die tiefen Wunden befindet sich viel zu wenig Blut auf dem Stein. Die Körper der Suulak sind auch schon völlig kalt, obwohl sie erst vor kurzem gestorben sein müssen."
Odilon merkte, dass er selber gerade erst die Tragweite des Gesagten begriff. Zaubern mit der Lebenskraft von anderen Kreaturen - die Beschreibung traf es ganz gut. Blieb die Frage, worin der Zauber bestanden hatte. Von einem Schwarzmagier im Wutzenwald hatte er noch nie gehört, seit dem Ende der Wildermark. Oben in Hallingen, auf der anderen Seite des Gernat, hatte es mal Ärger mit einem Druiden gegeben, aber das war schon ein paar Jahre her. Wie hatte der Schadenszauberer noch mal geheißen? Barnhelm? Burkhart? Die Leute hatten sich einige Schauergeschichten über ihn erzählt. Mal sollte er schon über tausend Jahre alt sein, mal der ehemalige Hofdruide Answins von Rabenmund. Allerdings hatte man nichts mehr von ihm gehört, seitdem er aus der Nachbarbaronie vertrieben worden war. Burchert vom Ebergrund, das war sein Name gewesen.
"Wir sollten uns jedenfalls beeilen, zurück nach Gernatsborn zu gelangen, um Storko zu warnen. Mit einem Blutmagier legen wir uns hier und jetzt besser nicht an..."
Timoin schluckte.
"Odilon...?"
"Ja?!"
"Da drüben steht ein großer Schatten im Wald. Mit Hörnern...Und schaut in unsere Richtung" Timoin deutete mit dem Bogen ins Halbdunkel zwischen die Baumreihen. Tatsächlich war dort ein Schemen wahrzunehmen, mit Stab, Umhang und Widderhörnern, und, noch undeutlicher, eine zweite Gestalt dahinter. Der unwirkliche Anblick erinnerte den Schwarzen Bären an die Geschichten von Levthan, dem bocksgesichtigen Gott der Hexen.
Überall war nun Rascheln, Knacken, Knistern, Prasseln zu hören. Im Unterholz bewegte sich etwas.

"Levthan" deutete in ihre Richtung, mit einem knorrigen Stab. So schien es zumindest.
Odilon wollte noch den mächtigen Elfenbogen hochreißen und einen Pfeil fliegen lassen, dann brachen die Niederhöllen auch schon los. Ein scharfer Geruch nach Wildsau war fast die einzige Vorwarnung, da walzte bereits ein kapitaler, infernalisch quiekender Keiler heran, genau auf Timoin zu.
Bavhanon Bvaith sang sein vertrautes Lied. Der Pfeil traf das Wildschwein mit voller Wucht und schleuderte es seitlich gegen einen Baum. Zuvor schaffte der Eber es noch, Odilons Schüler den Bogen aus der Hand zu fegen. Leider war es in der Hektik kein sauberer Blattschuss geworden. Quiekend, grunzend versuchte das Untier, seine Hauern in den Unterleib des jungen Jäger zu bohren. Erstaunlich beherzt, fast schon kaltblütig griff Timoin nach seinem Messer und stieß zu, ins Schulterblatt, kurz über dem Pfeil. Ein kurzes Keuchen, dann lag der vierbeinige Angreifer auch schon still.
Das Quieken wurde lauter. Der Wald erwachte. Wohin man sah, tauchten nun borstige Haarbüschel, böse glitzernde Äuglein, trippelnde Hufe, lehmverklebte Rüssel auf. Süßlicher Morastgeruch betäubte die Nasen der Menschen, der Kampruf der Schweine gellte in den Ohren.
"Zurück", rief Odilon und lief los, Richtung Burg oder zumindest dorthin, wo er sie vermutete.
Im nächsten Moment traf ihn auch schon ein massiger Leib und warf ihn mit Urgewalt um. Die Kraft und die Wut der halbstarken Bache waren erstaunlich. Einen Herzschlag später versuchte sie ihm ins Gesicht zu beißen. Odilon hatte keine Zeit, Furcht zu empfinden, geschweige denn nachzudenken. Er ließ seinen Bogen fallen, riss seinen Hirschfänger aus dem Gürtel und stach wie von Sinnen auf die Angreiferin ein. Ächzend brach das Wildschwein über ihm zusammen. Kratziges Fell nahm ihm die Sicht. Stöhnend wälzte der alte Jäger die Last von seinem schmerzenden Körper. Dann raffte er Bogen und Köcher an sich, und merkte, dass er bereits in einem reißenden Strom wütender Sauen und Eber stand, die durch den Wald fegten. Selbst einige gestreifte Frischlinge sprangen an ihm vorbei. Ein panisch fliehendes Reh war vor diesen lebenden, vielbeinigen Rammbock geraten und wurde ebenfalls umgerissen. Der Boden schien zu dröhnen und zu beben. Um Firuns Willen, wo war Timoin?
Jäher Schrecken durchglühte ihn, als er seinen Schützling nicht mehr entdecken konnte. Die Wildschweinstampede wurde langsam bedrohlich. Immer mehr Schweineschnauzen bissen nach ihm und fetzten Löcher in seinen Mantel. Im nächsten Moment hatte er seinen Jagdgenossen entdeckt, der sich auf eine hohe Esche gerettet hatte. Odilon nahm Anlauf, wuchtete sich den Baumstamm hoch und wurde nach oben gezogen, auf einen  rettenden Ast.
Es dauerte eine Weile, bis er einigermaßen sicher saß, neben Timoin, der wie ein Matrose im Ausguck nach den quiekenden Schwarzkitteln spähte. Die erstaunlich große Rotte, die mindestens zwei, eher drei Dutzend erwachsene Tiere und jede Mensche Frischlinge zählte, hielt nur kurz inne und stürmte dann weiter durch den Wald. An ihnen vorbei in Richtung Gernatsborn, voller Kraft und Zorn.
Odilon hatte einen Pfeil eingelegt, merkte aber, dass der Holzschaft angebrochen war, vermutlich durch den Tritt des Wildschweins. Kopfschüttelnd warf er das wertlose Geschoss nach unten.
"Bist du verletzt?" fragte Timoin besorgt.
Der Schwarze Bär langte sich ins Gesicht, das tatsächlich mit Blut verschmiert war. Klebriges, rahjanisbeerfarbenes Wildschweinblut...

Er schüttelte den Kopf. "Du hast mir heute schon das zweite Mal die Haut gerettet, Timoin. Langsam gibt es nichts mehr, was ich dir noch beibringen kann, fürchte ich."
Timoin atmete erstmal durch. "Du hast vorher mich gerettet" sagte er, und sah auf seine zitternden Hände. "Mein Bogen ist aber futsch, fürchte ich. Na, zum Glück sitzen wir ja schon auf Eschenholz..."
"Normales Wildschweinverhalten ist das jedenfalls nicht", brummte Odilon. "Diese Eicheln scheinen ein ganz schönes Kraftfutter zu sein. Das war eine  magische Mast, würde ich sagen...”
Der Baernfarn blickte nach unten. Vom "Gehörnten" fehlte jede Spur. Nur bei den Schwarzkitteln waren immer noch einzelne Nachzügler unterwegs, die im Schweinsgalopp durch das Gestrüpp preschten. Sie schienen wirklich Gernatsborn und die Burg anzustreben, die in der Ferne sogar zu erahnen war. Ein zartes Zirpen lenkte ihn ab. Auf einem Nachbarast saß ein großes nachtschwarzes Eichhörnchen und musterte ihn. Der Waldläufer hätte das Schwarze Feh für possierlich gehalten, wäre da nicht das klebrige Rot an seinen Pfötchen und rund um das Schnäuzchen gewesen. Goblinblut?
Odilon verzog das Gesicht, griff fast schon reflexartig nach einem Pfeil und legte ihn auf die Sehne.
Die Eichkatze fletschte die Zähne und zeigte ein blutverschmiertes Gebiss, das eher an spitze Rattenzähne als einen harmlosen Baumnager erinnerte. Im Sonnenlicht, das nun wieder durch die Wolken durchkam, schien sein Fell leicht purpurn zu glänzen. Aufgeregt trippelte das Tier umher, gab merkwürdige gurrende, kirrende Geräusche von sich. Einen Moment lang hörte es sich an wie "Go´lo...Go´lo...Go´lo..."
Odilon zielte kurz. Das Schwarze Feh machte keinerlei Anstalten zur Flucht. Mit einem Stoßgebet ließ der Gallyser den Pfeil von der Sehne. Auf diese Entfernung hätte er das Eichhörnchen nicht verfehlen dürfen – aber das Geschoss schwirrte eine ganze Handbreit am "Bluthörnchen" vorbei, als würde es von einer unsichtbaren Kraft abgelenkt. Der Blick des Baernfarn folgte dem Pfeil, der für immer im Waldgrün verschwand. Das Eichhörnchen löste sich einfach in Nichts auf, so schien es zumindest.
“Timon, tust du mir einen Gefallen? Erzähl niemanden, dass Odilon der Schwarze Bär an einem Eichhörnchen vorbeigeschossen hat, auf drei Schritt Entfernung…”


Blinzelnd erwachte Tuvok aus seiner Benommenheit, auf einer Holzbank neben dem schmucken Bauernhäuschen unweit des Heiligen Hains. Eine Gernatsbornerin wischte ihm das Blut und den Ruß aus dem Gesicht.
"Gerbald naht...die Zwölfe sind der Grund für alles", seufzte der Hofjägermeister und wusste selbst nicht genau, warum ihm dieser Satz so wichtig war. Einzelne Bilder schwirrten ihm durch den Kopf, ohne wirklich Sinn zu ergeben. Das sachte schaukelnde Wirtshausschild des "Gerbaldsrast". Eine singende junge Frau mit Zöpfen, am Ufer des Gernat. Ismena von Oppstein, die auf einem Besen über ihn und mehrere Baumwipfel hinweg flog (zumindest sah die protzig-rahjanische Gewandung der Frau so aus). Ein entfernt menschenähnliches Ungeheuer mit Wildschweinkopf, das ihn merkwürdig anstarrte. Zuletzt drei Rotpelze, die einen irrsinnigen Veitstanz auf einer Waldlichtung aufführten, vor dem Gehörnten, bis zur vollständigen Erschöpfung. Als hätten sie das schwarze, sichelförmige Sokramurskorn gegessen. Krankes, von den Korngeistern verfluchtes Getreide, das manchmal das grausame "Feenfeuer" auslöste, mitunter auch Halluzinationen. War das leckere Bauernbrot in der Herberge vielleicht verunreinigt gewesen und hatte Tuvok in einen wilden Rausch gestürzt? Aber bis auf den schmerzenden Kopf und die brennende Handgelenke spürte er nichts von den typischen Symptomen. Firun sei Dank.
"Gerbald naht...am Gernat...die Zwölfe sind der Grund", wiederholte Tuvok mit Nachdruck, als würde dieser Satz sein Gedächtnis zurückkehren lassen.  "Der Gehörnte will das Bergwerk zerstören..." Der Gehörnte. Irgendetwas war da gewesen. Irgendjemand. Einerseits wollte er sich das dazugehörige Bild  in Erinnerung rufen, andererseits schreckte er genau davor zurück.
"Jaja, das wissen wir schon" Jadvige musterte die Schläfe, wo eine nicht allzu große, bereits verschorfte Platzwunde zu sehen war. "Er scheint einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben...wahrscheinlich spricht er deswegen wirr."
Alrik begutachtete die wund geriebenen Handgelenke. "Gefesselt war er offenbar auch."
Adginna glitt aus dem Sattel. "Travia sei Dank ist mein Hofjäger zurückgekehrt. Ich denke, das Beste wird sein, du bringst ihn auf die Burg. Er soll sich erstmal ausruhen." Das galt dem Diener, der die Zügel gehalten hatte.
"Aber Euer Hochgeboren..."
"Nichts da. Die paar Schritte zum Schrein kann ich auch im Amazonensattel reiten statt im Damensitz." Der Knechte nickte gehorsam und nahm sich des verstörten Tuvoks an. An der kleinen Menschenmenge vorbei gingen die beiden zurück zur Burg.
"Im Bardenzimmer ist ein gutes Bett frei", rief Jadvige hinterher.
"Und nun?" Das galt Alrik. "Womöglich droht der Kupfergrube ja wirklich eine Gefahr..."
"Ich fürchte, da wirft der arme Tuvok ein bisschen was durcheinander. In den Trollzacken waren wir vor ein paar Wochen in einem alten, halb verfallenen Bergwerk unterwegs. Wo es...hm...am Ende ziemlich dämonisch zuging. Bevor alles eingestürzt ist. Ich vermute, das meint er mit Gehörnter. Mögen die guten Götter uns beistehen!"
Jadvige verkniff das Gesicht und langte sich verstohlen ans Pflaster. "Nun, auch die Gernatsborner Kupfergrube hat Feinde, die zu einem Gehörnten beten."
"Na ich weiß nicht...wie ein Orakel kommt mir unser Jägerfreund nicht vor. Ich meine, wie zerstört man ein Bergwerk? In Kurgasberg hat es dazu ein Erdbeben gebraucht. "
Storko war ebenfalls auf dem Burgweg umgekehrt und ließ sich Bericht erstatten.
"Das ist alles sehr beunruhigend. Offenbar ist die Gefahr doch noch nicht vorüber. Ich werde zwei der Gardisten das Rad bewachen lassen, das die Pumpen der Kupfergrube antreibt. Im letzten Jahr gab es dort schon mal Thorwalismus, gegen das Stangenwerk. Die anderen Wachen halten sich in der Nähe des Heiligen Hains bereit. Zusammen mit unseren eigenen Klingen sollte das als Schutz genügen...und natürlich wird uns auch Frau Tsa beistehen!"
Tatsächlich klarte der Himmel auf, die Sonne kam wieder heraus, erst zaghaft, dann kraftvoll. Fast schien es, als wolle der schöne Praiostag von heute Morgen zurückkehren. Oder einfach nur die Göttin des Lebens ein Zeichen setzen. Nichts ist vorherbestimmt, in Windeseile kann sich alles zum Guten wenden...
Wider Erwarten herrschte tatsächlich eine heitere, fröhliche Stimmung auf der kleinen Festwiese neben dem Schrein. Gerade wurde ein Baldachin aufgestellt, als Wetterschutz für die adeligen Gäste (vermutlich der gleiche wie der von der Terrasse). Kinder tanzten Ringelreigen, für die Gernatsborner Zaungäste gab es sogar ein Fässchen Freibier aus der Herberge, wenn auch nur das dünne Kofent.
Die Pferde wurden auf einer Koppel untergebracht, dann schritten die Vornehmen zum Heiligen Hain hinüber, wo die Tsa-Delegation gerade ein frisch gepflanztes Bäumchen mit bunten Bändern schmückte. Der Schrein selbst war mit einer Art Girlanden und Blumen verziert, einige Kindern malten die Holzbalken der Überdachung und ihre "Altersgenossen" an, deren Figuren rund um die Statue standen. Ein pummeliges Bauernmädchen lauschte am dicken Bauch der Allesgebärenden.
Die "Delegation" selbst bestand aus zwei Dienerinnen der Eidechse, die in regenbogenfarbige Gewänder gehüllt waren. Glyranas Anspannung fiel von ihr an, als eine der Frauen sich zu ihr wandte und mit der Sonne um die Wette lächelte. "Kinder, kommt herbei, ihr dürft angießen!" Der Bauernnachwuchs unterbrach den Ringelreigen und griff zu kupfernen Gießkannen.
"Euer Wohlgeboren, werte Gäste! Wenn ich mich vorstellen darf. Kukina Elfenwald die Fünfte, die neue Geweihte in Schnayttach!" Die Junkerin musste zugeben, dass die junge Frau mit den wallenden, kastanienbraunen Haaren und den lustigen Sommersprossen einer Rahjageweihten Ehre bereitet hätte. Vor allem besass Kukina Charisma, eine entwaffnende Fröhlichkeit und die Frische eines Frühlingsmorgens. Ihre blauen Augen leuchteten mit dem "Himmelsauge" um die Wette, das sich gerade in der Wolkendecke öffnete. Licht und Schatten fielen abwechselnd auf die Gernatsbeuge und schufen eigenartige Farbeffekte in der Landschaft, als hätte Tsa selbst zum Malerpinsel gegriffen. Verrücktes Perainewetter, und das im sonst so ordentlichen Praiosmond...
"Das ist meine Weggefährtin Ysilda von Schlotz, aber Ihr kennt sie ja bereits aus Zaberg." Kukina drückte ihrer Begleiterin einen innigen Kuss auf die Wange, was weniger amazonisch als unbekümmert-mädchenhaft wirkte.  "Sie ist eine unglaublich gute Gärtnerin." Kukina band eine letzte Regenbogenschleife an einem der Zweige fest. "Anders als ich hat sie wirklich den grünen Daumen. Mein Novize Kardanyan ist auch dabei, wo er steckt er denn wieder?"
Ysilda strahlte die Edle von Zaberg an. "Ich habe mir erlaubt, Melsine mitzubringen, meine Tochter. Damit sie beizeiten die große weite Welt kennenlernt. Melsine, würdest du bitte mal herkommen. Du kannst gleich mit den anderen Kindern weiterspielen."
Glyrana nickte. Sehr gut, dass Seine Gnaden Praiodîn oben auf der Burg weilte. Sie beschloss, der Vertrauten der Eidechse erst später von Praiodîn Xerbers Anwesenheit zu berichten. Melsine eilte herbei, ein blasses Mädchen mit lockigen, völlig zerzausten Haaren und einer weißen Tunika, ohne die bunt schillernden Borten einer Novizin. Der Knicks vor den hohen Herrschaften war nicht allzu formvollendet. Ihre Augen waren beunruhigend klug, aber sie wirkte völlig zerstreut und geistesabwesend.
Ysilda tätschelte sie stolz. “Meine Tochter.”
"Sisa sagt, sie will uns alle umbringen" flüsterte die kleine Melsine, die ihrem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Ihre Mutter suchte irritiert die Kinderschar ab. "Wer ist Sisa? Die kleine Rauferin da drüben? Warum sagt sie so schlimme Sachen?"
"Nein, das ist nicht die. Sisa war in einem Spiegel eingesperrt. Ich glaube, sie hat sich verletzt. Aber jetzt gerade sehe sie nicht mehr. Die alte Frau mit den Zöpfen ist sehr nett."
Ysilda blickte entschuldigend in die Runde, während sie an ihrem Armschmuck aus Eidechsenhaut drehte. "Ah..wieder mal zwei ihrer Spielgefährtinnen." Die Priesterin zwinkerte bei diesem Wort, um zu zeigen, dass es nicht ernst gemeint war. "Sie hat wirklich eine blühende Phantasie. Melsine, möchtest du wieder mit den anderen Kindern spielen?" Das seltsame Mädchen nickte und eilte davon.
Adginna, die Vögtin, wandte sich der Schnayttacher Geweihten zu. "Kukina Elfenwald die Fünfte? Das klingt nach adeliger Abkunft?"
"Nicht doch, ich bin nur die fünfte Wiedergeburt von Kukina der Ersten, einer Hexe aus Zaberg. Manche sagen auch, einer Priesterin der Tsatuaria." Kukina die Fünfte klang völlig unaufgeregt, als hätte sie sich gerade als Obermeisterin der Brauergilde von Rommilys vorgestellt.
"Verstehe", log die Vögtin.
"Früher, da war ich mal Delona Bundschuh, aus Rommilys."
"Ah... und dann ist Eure Seele erneut auf Dere zurückgekehrt, Euer Gnaden? Statt Eingang in Tsas Paradies zu finden?"
"Neinnein, ich heiße Delona Bundschuh. Aber ich nenne mich nun wieder Kukina. Auch wenn wir... ich damals ein trauriges Schicksal hatte, zur Zeit der Priesterkaiser. Sie haben mich in den Regenbogenteich geworfen, bei Zaberg, als Hexenprobe. Im gleichen Sack mit meiner Eule. Ihr wisst ja: Wer unterging, war unschuldig, wer oben blieb, wurde dem reinigenden Feuer überantwortet. Was soll ich sagen? Meine Unschuld hat sich zum Glück schnell herausgestellt..." Die Frau, die ihre Worte mit intensiven Gesten begleitete, klang betrübt und erbost zugleich.
"Gräme dich nicht", tröstete sie Ysilda. "Nach deiner Wiederkehr lebst du jetzt in einer besseren Welt, wie wir alle." Sie blickte erklärend in Richtung der Binsböckel. "Wir sind bereits in Tsas Paradies. Nur wissen es viele Menschen leider nicht. Kukina hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Wir haben uns mal zufällig auf einem Konvent kennengelernt. Und bei einer Rückführung gemerkt, dass wir beide Zaberger sind. Sozusagen. Ich war mal Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi. Haben die Wiedergeborenen behauptet. Aber eigentlich zähle ich mich mehr zu den Friedensfreunden. Ein bisschen auch zu den Koboldfreunden. Ach, ist nicht so wichtig."
"Rückführung, so so. Zwergin, Thorwalerpirat und Novadi, aha." Einen Moment lang kam sich die Vögtin vor wie damals bei diesem Wohltätigkeitsbesuch im Noionitenkloster. Auch wenn der Schnayttacher Tempel nicht unbedeutend zu sein schien, wusste die Binsböckel wenig von der Gedankenwelt dieser sanften Verrückten und zappeligen Springsinsfelde. Gerade deswegen würde sie sich nicht auf eine götterkundliche Debatte einlassen.
"Mein seliger Gemahl war ein großer Freund und Förderer der Tsakirche", sagte sie höflich.
"Tsafried von Schnayttach zu Schlotz" Delona (oder Kukina) nickte ernst. "Er ist viel zu früh ins Land hinter den Regenbogen gegangen. Dieses Paradies gibt es schon auch. Nur ist den wenigsten von uns vergönnt, für immer dort zu bleiben. " Die Vertraute der Eidechse blickte zu Glyrana. "Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich noch einmal herzlich für Eure Großzügigkeit bedanken, Eure Wohlgeboren. Möge Tsa Euch segnen und weiterhin gegen die Gefahren beistehen, die auch zum Wunder des Lebens gehören. Wie gut, dass der Zwischenfall gestern glimpflich ausgegangen ist. Ach, lasst Euch einfach mal drücken..." Spontan umarmte sie die Junkerin, was sich Glyrana nicht nur widerstandslos, sondern auch erfreut gefallen ließ.
"Sagt, werte Kukina". Nun meldete sich Ismena zu Wort. "Wann werdet ihr mit der Weihe des Schreins beginnen? Es scheint ein Unwetter im Anmarsch zu sein... Außerdem – die werte Glyrana von Mersingen hat es sicher schon gesagt – ist auch noch eine Verlobung geplant. Welcher Anlass wäre dafür passender als die Weihe eines Heiligen Hains der Lebensspenderin?" Sie deutete auf Alboran und Haldana, die gerade händchenhaltend über die Wiese schritten.
Kukinas Stimmung war schon wieder in Begeisterung umgeschlagen: "Eine Verlobung, ich habe davon gehört. Das ist ja wunderbar, und außerdem noch die Erben dieser Baronie?! Es ist immer gut, wenn Menschen im Angesicht der Tsa den Mut finden, etwas Neues zu beginnen. Der Wetterumschwung, hm ja. Wie heißt es so schön: Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch eine Alveranie pflanzen? Eigentlich findet die Weihe schon längst statt." Sie deutete auf die Kinderschar, die Blumen pflückte, Bäume angoss, Purzelbäume schlug, Fangen spielte oder an dem kleinen Häuschen herum malte: "Die Kreide ist übrigens abwaschbar...Kardanyan hat ihnen doch die abwaschbare Kreide gegeben, oder, Ysilda?"

Wenig später begann die eigentliche Feierstunde. Adginna hatte anfangs verdrießlich geblickt, auf ihrem Ehrenplatz unter dem Baldachin. Aber sie musste zugeben, dass der Tsagöttinnendienst eine gewisse Würde ausstrahlte. Sie merkte, wie die Ruhe und Gelassenheit in ihre Seele zurückkehrte, die sie seit dem gestrigen Abend vermisst hatte. Nein, eigentlich schon seit ihrem Aufbruch aus Gernatsborn. Das Leben war nun wieder ein ruhiger, breiter Fluss mit kleinen Stromschnellen dazwischen, wie der glitzernde Gernat, den sie im Blickfeld hatte. Das Wetter grenzte an ein kleines Tsawunder, nur in der Ferne sammelten sich erneut dunkle Wolken.
Fast fühlte sich die Binsböckel ein wenig schläfrig. Nur halb hörte sie der Predigt Kukinas zu, über den Kreis des Lebens und seine ewige Wiederkehr im Gewand des Neuen und Unerwarteten. Über die Freiheit, loszulassen, um dafür Neues halten, erhalten zu können. Zwischendurch sang ein Kinderchor...Dankesworte der örtlichen Honoratioren...weitere Aufwertung für Gernatsborn...ein lebens- und liebenswertes Wohlfühldorf gerade auch für junge Familien...neue Hoffnung nach den Schrecken der Vergangenheit...mögen die Götter unsere gute Markgräfin...Dank an die Familie Mersingen…
Adginna unterdrückte ein Gähnen. Das alles oder so etwas Ähnliches hatte sie schon hundertmal gehört, zuhause in Schnayttach. Nun spielte ein nervöser junger Bauernbursche Laute und sang dazu mit kratziger Stimme, irgendwelche Volksweisen. Offenbar war der Musicus im letzten Moment für den Barden Wendelin eingesprungen. Haldana hätte das sicher besser gekonnt, aber das wäre nun wirklich unschicklich gewesen, für die künftige Herrin dieses Landes.
Der Blick der Binsböckel wanderte umher. Da war Kardanyan, der Novize, der mit einer Schnapsflasche testete, ob er die quietschbunte Kreide am heiligen Schrein wieder weg bekam. Ismena, die sich leise mit Ysilda unterhielt, und ihr nun, zum Erstaunen der Vertrauten der Eidechse, einen Ring zeigte, in einer Schatulle. Ah, offenbar dieser Feenring. Haldana und Alboran turtelten ganz ungeniert miteinander. Ach, das war in ihrer Jugend doch ein wenig anders gewesen, Frau Travia seis geklagt. Alrik hatte schon wieder einen Humpen Bier aufgetrieben, als säße er im Wirtshaus, Storko tätschelte seiner Glyrana die Hand und schien erst jetzt deren Errettung zu begreifen.
Eine wirkliche Ordnung gab es bei diesem Festablauf nicht. Nun sangen sie alle ein frommes Lied, dessen tsagefälligen Text Adginna nicht kannte. Dann erst fand die eigentliche Weihezeremonie statt. Kukina malte mit einem Gebet den Achtpfeil auf den Bauch der Ewigjungen (hoffentlich mit der richtigen Kreide). Dann ließ sie aus ihrem Prisma Regenbogenlicht darüber gleiten – es sah aus wie eine buntschillernd über die Statue huschende Eidechse. Im gleichen Moment erklang ein Glöckchen. Adginna erschauerte. Ein Kind plapperte aufgeregt dazwischen.
Tsas Finger schwebte durch die Luft und berührte Dere. Alles leuchtete im bunten Hoffnungsschimmer, die Welt atmete ungebändigte Lebenskraft und neue Zuversicht. Die Vögel zwitscherten, bunte Schmetterlinge taumelten über die Wiese, Bienen, Käfer und Hummeln brummten, der Wind streichelte sanft über Adginnas Wangen. Ein Bild vollkommenen, glückseligen Friedens.
Adginna runzelte die Stirn, wunderte sich über ihre Empfindungen und das kleine, erdfarbene Männchen, das ihr vom Waldrand aus zuwinkte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Die Baronieherrin winkte zaghaft zurück. Hatte sie gerade mit einem Kobold Artigkeiten ausgetauscht?
Ein grünes Funkeln lenkte sie ab. Das kam von Ysildas Hand, die den Ring trug, und verzückt einem winzigkleinen Mädchen zuschaute, das vor ihr auf und ab schwebte wie eine verirrte Biene. Einem daumengroßen Mädchen mit Schmetterlingsflügeln, um genau zu sein. Im nächsten Moment sah die Blütenfee sich erschrocken um. Dann zerstob die Erscheinung auch schon in einer glitzernden Wolke aus Feenstaub. Bis auf Adginna, Ismena und die Zabergerin schien niemand die traumhafte, unwirkliche Szene mitbekommen zu haben.
Das letzte Musikstück erklang, vor der Verlobung. Die Stimmung wurde wieder weltlicher, diesseitiger.
"Ich habe mir mal erlaubt, auf der Burg einen Verlobungsvertrag aufsetzen zu lassen", sagte Alrik neben ihr und zog bereits eine Schriftrolle hervor. "Im Wesentlichen steht drin, dass Alboran den Namen Binsböckel übernimmt, die wichtigsten Lehensgüter und das alles Weitere der Ehevertrag regeln wird. Das Wichtige sind die Monogramme der Zeugen und ihr Siegel. Storko und Ismena wissen schon bescheid."
"Alrik, du hast Nerven wie Ankertrossen, nach alldem, was geschehen ist", sagte die Binsböckel, mehrdeutig und leicht indigniert, auch wenn der Friedwanger im Grunde Recht hatte. Mit einem Feensegen allein würde Haldana die künftigen Geschicke ihres Hauses und der Baronie nicht lenken können.
"Wo Odilon nur bleibt?" Der Einäugige blickte unbestimmt zum Wald. "Ich glaube, er wäre gerne bei der Verlobung dabei gewesen…Jetzt ist Tuvok wieder da und dafür unser Fährtensucher verschwunden."
"So ist nunmal das Leben, würde unsere Kukina die Fünfte dazu sagen." Adginna hatte bereits die dunklen Wolken im Blick, die sich von der Trollpforte her näherten. "Es hilft alles nichts, Frau Tsa hat uns nur einen kleinen Aufschub gewährt. Odilon selbst hat uns ja vor Schlechtwetter gewarnt...Wir sollten nun langsam zu einem Abschluss kommen."
Die Vögtin lehnte sich zurück und beobachtete aus der Distanz, wie ihre Tochter vor Alboran nieder kniete. Tatsächlich herrschten in ihr gemischte Gefühle. Was geschah jetzt? Albo streifte seiner Versprochenen, die gerade schon ein "Ja" gehaucht hatte, einen Ring über. Der immer noch grünlich leuchtete, auch wenn der Schimmer schwächer wurde. Das musste dieser Feenring sein, von dem vorgestern im Wutzenwald die Rede gewesen war. Ein Zauberring, hinter dem diese Yasinthe Dengstein her gewesen sein sollte. Laut "Ludwina der Hexe." Eigentlich war Adginna dagegen gewesen, ein magisches Artefakt für die Verlobungszeremonie zu verwenden, hatte sich aber irgendwie durch das Weiheritual einlullen lassen.
Beifall, Händeschütteln, Umarmungen, ein paar verkniffene Tränen. Auch Adginna beglückwünschte das junge Paar, wenn auch nicht als erste. Der Himmel wurde schon wieder graublau und das Wetter kühler, was ganz gut ihrer Gemütslage entsprach. Wind kam auf. In der Ferne grummelte Donner.
Alrik baute ein kleines Tischchen auf, beschwerte den flatternden Vertrag mit Steinen, stellte Tinte, Federkiel und Siegelwachs bereit. Als der letzte Ring der Zeugen in das jeweilige Siegel gedrückt war, hatte sich das Firmament wieder bewölkt. Der erste schwere Regentropfen fiel herab und kleckste genau auf das Monogramm der Vögtin von Schlotz, das sich in einer Art Nebelwolke auflöste...

In einiger Entfernung flatterten bereits die Mäntel der beiden Wachen, die Storko am Radhaus aufgestellt hatte. Die Anlage unweit des Gernat war im Grunde ein besserer Holzschuppen, in den über einen Kanal Flusswasser auf ein unterschlächtiges Wasserrad strömte. Der Zufluss aus dem Kanal war oberhalb des Wasserspiegels vergittert. Auch die Zugangstür war sorgfältig verriegelt, nur ein Klappern zu hören. Auf der anderen Seite führte ein mächtiges Stangenwerk über mehrere Dutzend Schritt in Richtung Grube, und trieb mit ratternden Hin- und Herbewegungen die Pumpen an. Die Pumpenkunst beförderte über einen zweiten Kanal scharf riechendes Grubenwasser zurück in den Gernat, das zweifelsohne giftig war.
Eigentlich war es erstaunlich, dass die "Wilden Keiler" noch nicht versucht hatten, den Holzbau anzuzünden, dachte Perainfried, während er das Gesicht vor dem  Laub schützte, das der Wind aus dem Wutzenwald herbeiblies. Das hätte ein schönes Feuerchen gegeben. Allerdings stand das Radhaus ziemlich nahe am Wald, den diese spinnerten "Sokramurier" verehrten wie anständige Leute ihren Herrn Praios, Frau Travia oder die Himmlische Leuin. Jetzt im Sommer war der ganze, sanft ansteigende Hangwald ziemlich ausgetrocknet und würde sicherlich brennen wie Zunder. Es sei denn, es lag Regen in der Luft, wie gerade jetzt.
Robehild beobachtete kopfschüttelnd das mächtige Stangenwerk: Holzbalken, die aus zwei Fensterschlitzen des Radhauses kamen und sich, eingehängt an Kreuzstangen, rumpelnd hin und her bewegten, über eine ordentliche Strecke hinweg. Die Gardistin klopfte kurz mit der Hellebarde dagegen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass die ganze Mechanik in ihren Augen an Schwarzkunst grenzte. Auch Perainfried kam ins Grübeln. Die Nähe zum Fluss war Fluch und Segen zugleich: Einerseits drang ständig Grundwasser in die Grube ein. Andererseits war genügend Wasser vorhanden, um das mächtige "Kunstrad" anzutreiben, zum Auspumpen. Dennoch lag irgendwie ein Hauch von Yol-Ghurmak in der Luft, im Wortsinn, im sonst so firunsgefälligen Gernatsborn.
Robehild schlenderte näher. "Was meinst du, soll das die Strafe für unseren kleinen Ausrutscher heute sein, auf dem Kupferdach?"
"Ausrutscher? Unsere Knochen haben wir für Storko riskiert, nein, unser Leben, und das weiß Jadvige genau. Ist doch fast schon ein Drückposten hier. Wenn nur das Wetter ein klein wenig traviagefälliger wäre. Hoffentlich lassen die uns noch ein paar Schluck Freibier im Fass. Aber diese Einweihung vom Schrein brauche ich jetzt noch weniger, bei Rondras Klinge!"
"Vom Schwein?"
"Schrein". Perainfried musste tatsächlich lauter sprechen. In der Ferne grummelte das Gewitter, begleitet von Wetterleuchten, während der Wind an Heftigkeit zunahm. Irgendwo in der Nähe klapperte ein Fensterladen.
"Mistwetter" schimpfte Robehild. "Also ein Drückposten ist das nicht gerade. Wo stellen wir uns unter, falls es richtig losgeht?"
Perainfried zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe, die lösen uns rechtzeitig ab. Bei so ´nem Wetter traut sich doch nicht mal ein Wilder Keiler vor die Tür."
Der erste Blitz zuckte herab, gefolgt von Donnern.
Der Pfahlgardist kannte die Radkunst vom Sehen, aber so richtig verstanden hatte er deren Funktionsweise bislang nicht. Ah, dort oben wurde das Wasser im Kanal angestaut, um die "Mühle" anzutreiben. Was war das: Drei Gestalten standen einfach so auf dem hölzernen Laufsteg, der über den "kleinen Nebengernat" führte, und machten sich an den Nadeln zu schaffen: paddelähnliche Planken, die am Oberwasser in den Kanal gesteckt wurden, um es aufzustauen – und dank Griffen jederzeit herausgenommen oder hinzugefügt werden konnten. Im ersten Moment dachte er, die Drei wollten den Wasserzufluss an das nahende Gewitter anpassen. Aber nein, sie zogen eine "Nadel" nach der anderen heraus und warfen sie ins wild rauschende Unterwasser. Erst jetzt sah Perainfried die Wildschweinköpfe unter den Kapuzen, fast gleichzeitig mit Robehild.
"Das sind Wutzen!" schrie seine Kameradin ängstlich, die eine geborene Schlotzerin war.
Auch Perainfried wich einen Moment zurück. Dann merkte er, dass ein "Biestinger" eine Axt in Händen hielt und damit einfach auf die Holzbretter einschlug. Die Hände waren ein wenig zu zart und menschlich für echte Wutzen, vermutlich sogar die einer Frau.
"Das sind Wilde Keiler!" grollte er und rannte los, in Richtung Stauwehr. "Du bleibst hier und sicherst das Haus."
Das rauschende Wasser im Kanal wurde zu einem echten Wasserfall, das sich in einem rauschenden Schwall Richtung Radhaus ergoss und über den mauerbegrenzten unteren Kanal spritzte. Wollten die Sokramurier so etwas das Rad sabotieren, durch Überlastung? Die Kreuzstangen umzuhacken wäre effektiver gewesen. Allerdings auch auffälliger.
Die Saboteure bemerkten den Gardisten und ergriffen Reißaus. Ein dicker, stämmiger Kerl rutschte aus und stürzte ins Unterwasser. Ein weiterer türmte in den Wald. Die Axtschwingerin lief geradewegs Perainfried vor die Hellebarde, der sie mit der Spitze bedrohte. Mit wütendem Mädchenschrei hackte seine Gegnerin gegen die Waffe und schlug sie beiseite.
"Stehengeblieben, im Namen des Wehrvogts! Du bist verhaftet!"
"Leck mich!" hallte es dumpf unter der Maske hervor. "Ihr verdammten Waldmörder!"
Das klang eher nicht wutzisch.
Perainfried versuchte wieder seinen Hakentrick, um die Sokramurierin zu Fall zu bringen: sie war alles andere als eine geübte Kämpferin. Da bekam er von hinten auch schon einen derben Stoß. Der Dritte war unbemerkt zurückgekehrt. Die beiden Kapuzenträger liefen davon, die Frau ließ ihre Axt fallen.
Der Gardist rappelte sich wieder auf und rückte seinen Helm zurecht. Das Helmband war nach unten gerutscht, einige Herzschläge lang behinderte es seine Sicht. Als er sich wieder klar orientieren konnte, waren die Angreifer verschwunden. Er blickte zum Kanal, der nun einem reißenden Wildbach glich. Den strampelnden Dicken hatte es das Unterwasser entlang gespült wie ein Fäßchen, nun hing er mit den “Nadeln” am Gitter des Zulaufs und schrie zum Göttererbarmen. Die Wutzenmaske hatte er längst verloren. Perainfried verstand die Situation: Der Mann wurde langsam unter das Gittertor gedrückt, in Richtung des nun wie verrückt klappernden Mühlrads. Eigentlich hatte er nur noch die Wahl zu ertrinken oder loszulassen und dann "unters Rad zu kommen". Wer anderen eine Grube gräbt...
Robehild war herbeigeeilt und versuchte den Sokramurier mit ihrer Hellebarde aus dem schäumenden Wasser zu ziehen. Der Regen wurde stärker. Der Rettungsversuch war keinesfalls ungefährlich, am rutschigen Mauerwerk des Kanalrands. Perainfried warf seine Hellebarde ins Gebüsch und eilte der Gardistin zu Hilfe, um sie im Notfall festzuhalten.
Ein lautes Quieken lenkte ihn ab. Graubraune Wildschweinleiber fegten den Hang herunter, brachen durchs Unterholz und rannten geradewegs auf die Mühle los. Ihr Ziel war eindeutig das Stangenwerk, das in Richtung der Pumpen führte.

Robehild schlug mit der Beilseite ihrer Hellebarde gegen das mächtige Vorhängeschloss, das die Tür zum Radhaus sicherte. Sie würde den Sokramurier nicht mehr rechtzeitig aus dem Kanal ziehen können, soviel stand fest. Die Gardistin wusste nicht zu sagen, ob sie den zappelnden "Keiler" nun retten oder gefangen nehmen wollte – vermutlich beides. Ihre Axt traf eher die Tür als das Schloss, also versuchte sie den Bügel mit der Spitze aufzubrechen. Der Schlüssel befand sich in der Kupferschmiede, aber dorthin zu laufen hatte sie nun wirklich keine Zeit. Erst jetzt merkte sie, dass die schwere, eisenbebänderte Tür bereits Hiebspuren aufwies. Offenbar hatten die Wachen die Wilden Kerle bei einem Einbruchsversuch gestört und diese ihre sinnlose Wut dann am Stauwehr ausgelassen, wie die Moosaffen.
Pling! Das Schloss  gab endlich nach, und Robehild eilte ins Halbdunkel. Drinnen ratterte das mächtige Kunstrad wie verrückt, dass Wasser schäumte bereits seitlich aus der Führungsrinne heraus. Zerschmetterte Holzstücke klackerten in den Schaufeln. Der Sokramurier hing noch immer strampelnd am Rechengitter, lange würde er sich nicht mehr halten können. Die Wächterin spähte nach einem Hebel – irgendwie musste man dieses Ungetüm doch anhalten können. Ächzend ließ der Mann im Kanal los und wurde hereingespült...
Draußen zog Perainfried sein Schwert und stellte sich einer wütenden Bache entgegen, die nach einem Hieb auf den Kopf auswich und auf die Kreuzstangen zuraste. Was taten die verrückten Wildschweine da...sie begannen an den Holzbalken zu wühlen und zu graben, als würden sie darunter nach Futter suchen. Schräg prasselte kalter Regen herab. Donner grollte, Blitze zuckten.
Einige der Tiere stellten sich auf die Hinterbeine und – Perainfried traute seinen Augen nicht – begannen zu zucken, sich zu verrenken, grotesk in die Höhe zu wachsen. Die Gestalten wurden menschenähnlicher. Ihre Verwandlung schien schmerzhaft zu sein, denn ihr Brüllen klang nicht nur zornig, sondern auch nach Leid und Pein: "Oooaaaarrrrr!" Dampf hachte aus den platten, hauerbewehrten Schnauzen der Kreaturen, die von immer größeren Hagelkörnern getroffen wurde.
Im nächsten Moment standen drei, nein vier grollende, übermannshohe Ebermänner auf der Wiese. Einer der Wutzen griff nach der Axt, die die Sokramurierin fallengelassen hatte, und beschnupperte sie. Perainfried hob die Hellebarde auf und sah sich nach einem Rückzugsweg um. Das war fast schon unnötig. Der ganze Hass der vier- und zweibeinigen Wildsauen galt dem Stangenwerk. Mit Klauenhänden und vereinten, entfesselten Kräften rissen die Urviecher daran, der axtschwingende Wereber (oder wie immer man solche Kreaturen nannte) hackte auf die Nachbarstange ein. Ächzend brachen die schweren Gestelle in sich zusammen.

Reginlind, die nach einigen Methörnern nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne war, hatte sich oben  im Wald auf ihren Besen geschwungen. Nun schwirrte sie jauchzend in Richtung der finsteren Wolken. Krischan, der seine Krallen tief in ihre Schultern gegraben hatte, flatterte auf. Der herrliche graubraune Uhu, dessen Kopf zwei sichelförmige Federohren zierten, hatte etwas im Wald entdeckt, offenbar ein Eichhörnchen.
In Windeseile wurde sie durch die Magie der Flugsalbe in die Höhe gerissen. Spürte den wunderbaren Gegendruck der Luft, das klebrige Holz ihres Besens, vor allem aber Sumus unbändige Kraft zu ihren Füßen, eine Kraft, die sie eher als machtvoll denn bedrohlich empfand. Die Besenreiterin schrie vor Lust und Lebensfreude auf – und pflückte sich ein Zweiglein aus dem wild flatternden roten Haar. Es war wundervoll, den Sturmwind zu spüren, die Nässe des Regens, an den Händen, im Gesicht, den Oberschenkeln, den Brüsten...Jauchzend flog die Schwazerin eine Schleife über den Wutzenwald, sah in einem Augenwinkel Burcherts Hütte, im anderen zwei Gestalten, die weiter unten von einer Erle sprangen und der Schar der Wutzen folgten, hangabwärts, zum Dorf und der Burg hin. Regen, Regen, Regen. Es war, als wolle der große Regen sie reinwaschen, von Gerbolds Berührung und der Demütigung am Sokramurshügel.
Reginlind stieg höher und höher, dorthin, wo die Wolken erst langsam, dann immer schneller zu rotieren begannen: ein gewaltiges Auge bildete sich, eine Windhose, nein, ein regelrechter schwarzer Wirbelsturm, durchzuckt von Blitzen. Nun  prasselte auch noch Hagel herab. Die Hexe merkte, dass die harten Firunsgeschosse auch für sie gefährlich und überaus schmerzhaft waren. Fluchend versuchte sie, dem Sturm seitlich auszuweichen. War dieses Inferno überhaupt noch Burcherts Wille, oder entwickelte das Toben der Elemente gerade ein Eigenleben? Der Riesenkreisel drehte sich jetzt über dem Gernat, wirbelte die ersten zappelnden Fische hoch, darunter sogar den einen oder anderen verblüfft schnappenden Zander, Hecht oder Waller. Das war kein Wirbelsturm mehr, sondern ein Wallersturm ?!
Jetzt wurde auch Reginlind ordentlich durchgerüttelt und regelrecht mit Eisbrocken überschüttet. Die Tochter Satuarias merkte, wie der gigantische Mahlstrom aus Luft, Eis und Wasser an ihr zerrte. Nur wegen von hier! Das magische Holz kämpfte tapfer gegen die Turbulenzen an, trudelte, taumelte. Reginlind fluchte, als ihr ein kalter Karpfen ins Gesicht klatschte, gefolgt von Hagelkörnern. Raus hier, sie musste raus hier, aus diesem Alptraum jeden Wetterkundlers…
Der Sokramurier, der gerade vors Mühlrad gespült wurde und verzweifelt versuchte, sich noch irgendwo festzuhalten, hatte Glück. Robehildes Onkel war Müller, sie kannte sich mit solchen Rädern ein wenig aus. Trotz des Dämmerlichts fand die Gardistin den Bremshebel sofort und legte ihn um. Das Rad stand nach wenigen Augenblicken still, der Schwimmer prallte von außen gegen das Holz. Keuchend und erschöpft versuchte er sich ins Trockene zu ziehen. Draußen dröhnte der Hagel, prasselte der Regen, heulte der Sturm. Im Halbdunkel hatte Robehilde Mühe, überhaupt die Stelle zu finden, wo der Saboteur hing. Eine Abfolge greller Blitze wies ihr den Weg. Im nächsten Moment ertastete sie triefend nasse Kleidung. Er schien dick zu sein, klein und stämmig, mehr nahm sie im Moment nicht wahr.
"Im Namen des Wehrvogts" wollte sie noch schreien, da krachte ihr auch schon etwas ins Gesicht. Wie kann man nur so undankbar sein, dachte sie, dann realisierte sie, dass der Schlag nicht von ihrem menschlichen Gegner kam. Ebenso, dass sich das Dach über ihren Köpfen gerade auflöste.

"Ein Drückposten", dachte Perainefried und lachte überdreht auf, "ein Drückposten???!!" Das Lachen wurde ihm von den Lippen gerissen. Heute Vormittag war er noch auf dem Kupferdach der Burg balanciert. Nun stand er am Bergwerk und sah inmitten eines Jahrhundertsturms einer Horde Wildsauen zu, wie sie den Antrieb der Pumpen verwüstete. Der Gardist überlegte noch, ob er sich dieser Übermacht stellen sollte, da eilten die Schar auch schon davon, auf den Waldrand zu. Gegen manche Urgewalten waren selbst diese Berserker machtlos.
Rasch wurde es dunkel, eiskalte Windböen versuchten den Waffenknecht umzuwerfen. Plängplängpläng. Hagelkörner prasselten auf seinen Helm, für den er nun ungemein dankbar war. Der Gardist hieb die Hellebarde in den Schlamm, hinter einer Wurzel, hielt sich daran fest und legte sich flach auf den Boden, während sein Mantel davon wehte. Im Wald stürzten krachend die ersten Bäume um, Äste flogen als Speere durch die brodelnde Luft, Büsche rollten ins Nirgendwo. Aves Element zischte, orgelte, pfiff, stöhnte, heulte, peitschte. Wer immer diese niederhöllischen Orkanböen entfesselt hatte, dem ging es  nicht um das Zerstörungswerk allein. Die mehrfache Vernichtung des Bergwerks war eine Machtdemonstration, die noch lange in Erinnerung bleiben sollte.
Wie ein Späher unter Zyklopenbeschuss spähte Perainfried zum Gernat, durch den gerade ein brüllender Luftriese tobte und tanzte. Ein Wirbelsturm, im Sichelhag?
Glitzernde Fischschwärme wurden durch den Giganten aus dem Fluss gehoben und mitsamt Hagelschlag und Regenguss über Gernatsborn verteilt. Ein verwirrter Wehrheimer Zander klatschte vor Perainfried in den Schlamm, der bereits mit Wasser und Hagelkörnern bedeckt war. Kleine Zähnchen schnappten nach seinem Gesicht. Der Burgwächter zückte  den Dolch und erlegte den schuppigen Angreifer. Dann sah er, wie die Luftsäule auf das Radhaus zudröhnte. Dessen Holzschindeln wurden einfach weggeblasen, wie der Flugsamen einer Pusteblume. Im gleichen Moment fraß sich das Sturmungeheuer auch schon ins Gebäude, deckte es endgültig ab, ließ es halb in sich zusammen krachen. Die Götter hatten den Untergang Deres beschlossen, daran gab es keinen Zweifel mehr. Robehilde, wo war Robehilde? Hoffentlich hatte sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht...aber wo in dieser Verwüstungsorgie gab es noch Schutz und Zuflucht? Perainfried begann zu beten, flehte Efferd, Rondra und Firun um Verschonung an.
Im nächsten Moment schwamm der tote Zander an ihm vorbei. Das Wasser in der Pfütze begann zu steigen, immer weiter zu steigen...und druckvoll in Richtung Grube zu fließen. Der Pfahlgardist merkte, wie der Griff seiner kalten, blutig geschlagenen Hände um den Hellebardenschaft schwächer und schwächer wurde. Nicht schon wieder rutschen, dachte Perainfried noch, dann rollte die Flutwelle heran.

Haldana hatte sich erhoben…vor ihrem nunmehr Verlobten zu knien war ungewohnt für sie. Von ihrer Mutter war sie dazu erzogen worden, dass sie einmal eine Baronie führen musste, dass sie entscheiden und anzuordnen hatte. Sicherlich, das war ihr manchmal schwer gefallen, aber auch in ihrem knappen Jahr auf Wanderschaft, mit Tuvok und Rovik, war immer sie es, die die Entscheidungen traf und die kleine Gruppe anführte. Auch Rovik, der damals nichts von ihrer adeligen Herkunft wusste, hatte das immer akzeptiert. Nun, es war sicher gut gleich zu lernen, dass ihr künftiger Ehemann eine andere Rolle spielen würde. Dennoch hatte sich das seltsam angefühlt.
Haldana hatte ihren Verlobten dann zu sich gezogen und ihm einen zarten Kuss gegeben - entgegen dem traviagefälligen Protokoll und zum Missfallen ihrer Mutter. Aber darüber setzte sie sich einfach hinweg. Das war schließlich eine Tsapredigt und keine Travienmette.
Ein Windstoß riss Haldanas kunstvoll aufgesteckte Haare - zumindest auf der rechten Kopfhälfte - auseinander. Kalte Regentropfen klatschten mit einem mal über die Festgesellschaft. Haldana löste sich von Alboran, hielt ihn aber an der Hand und zog ihn mit sich, um sich unter dem Baldachin unter zu stellen.
Urplötzlich war Wind aufgekommen und ließ die Äste der Bäume erzittern. Eine Folge starker Böen ließ die Bäume sich im Wind heftig schaukeln. Rasch erwies sich, dass der Baldachin als Schutz vor dem Regen nicht die gewünschte Wirkung hatte - er wurde schlicht umgeweht. Die hölzernen Stützen schlugen, verknotet an dem großen Leinenstoff der Plane, wie eine umschlagende Rah nach einer Patenthalse umher. Wie von einem Knüppelhieb getroffen sank die Vögtin zu Boden. Ein armdicker Stützstab war mit dem freien Ende ihr in den Rücken gefahren. Japsend, wie nach einem heftigen Tiefschlag, versuchte sie, zu Atem zu kommen.
“Zurück in die Burg - das ist ja ein furchtbares Unwetter!” kommandierte der Wehrvogt mit befehlsgewohnter Stimme. Aber tatsächlich war das das vernünftigste. Bei solcherart heftigen Windböen wäre ein Aufenthalt nahe am Wald ein unnötiges Risiko.
Ein Schwall kalten Wassers klatsche Haldana ins Gesicht und auf den Oberkörper, als der Baldachin im Wind peitschte und das darauf befindliche Regenwasser mit einem mal freigab. Der nasse Stoff klebte ihr am Leib und ließ sie frösteln. Vor wenigen Augenblicken war es doch noch ein warmer Tag im Praiosmond gewesen. Es schien, als habe die Luft einen großen Temperatursprung nach unten gemacht - oder lag es nur an dem kalten Regenwasser, das sie bis auf die Haut durchnässt hatte?
Tuvok half der Vögtin auf die Beine. Storkos Aufforderung, zur Burg zu eilen, schien ihm das einzig Sinnvolle zu sein. Er wusste um die Gefahren bei einem solchen Sturm wohl am besten von allen Anwesenden Bescheid. Und dass das nicht nur ein einfaches Wärmegewitter war, das da herein brach, das war Tuvok klar.
“Zurück zur Burg!” rief auch Alrik und winkte die Geweihtenschaft der Tsa heran und nahm die kleine Melsine auf den Arm, was Ysilda dazu veranlasste, dem Friedwanger zu folgen. Ismena hielt die Geweihtenschaft, die verunsichert unter Bäumen Schutz vor dem Unwetter suchte, zusätzlich zum Aufbruch an.
Noch nicht einmal zwei Minuten später waren allesamt bis auf das Untergewand durchnässt. Der Regen klatschte fast waagerecht einem jeden ins Gesicht. Zu allem Überfluss begannen sich Hagelkörner unter den Regen zu mischen. Erst kleinere, dann bis zu Taubeneigroße Firunskörner, die in dem Sturm zu gefährlichen Geschossen wurden. In all dem Geprassel und den aufstiebenden Wasserspritzern, den herumwirbelnden Ästen, Blättern und Steinchen konnte man kaum drei Schritte weit sehen.
“Komm mit” rief Haldana und zog Alboran hinter sich her, in die Richtung, in der sie die Burg vermutete. Unversehens stieß sie mit Glyrana zusammen.
“Wir müssen uns in Sicherheit bringen!” rief Alboran, vielleicht lag ein Hauch Panik in seiner Stimme.
Ein waagrecht fliegendes Firunskorn schlug in Haldanas haarloser Kopfseite ein und verursachte eine Platzwunde. Rotes Blut verschmierte sich auf der regennassen Kopfhaut.
Glyrana packte die Baronin an der Schulter und zog sie und Alboran vorwärts. “Tsa steh uns bei in diesem mörderischen Sturm!” murmelte sie. “Kommt mit!”
Die drei stolperten vorwärts, hoffend, im nahen Wald Schutz vor den Firunskörnern zu finden. Auf freiem Feld wäre man dem wilden eisigen Treiben schutzlos ausgeliefert. Eine weiße Schicht aus Firuns kugelförmigem Element bedeckte bereits den Boden. Schon nach wenigen Schritten war Haldana klar, dass sie in diesem Treiben selbst den kurzen Weg zurück zur Burg nicht finden würde. Es war schlicht nicht möglich, sich zu orientieren in dem nasskalten Inferno, das mit aller Urgewalt über sie hereingebrochen war. Odilon hatte am Morgen noch vor einem Unwetter gewarnt, vielleicht wäre es besser gewesen, Weihe und Verlobung zu verschieben. Doch da half jetzt alles nichts.
Der Pfad, auf den Glyrana Alboran und Haldana führte - war es der Pfad, der zurück zur Burg führte? - war kein Pfad mehr, sondern war zu einem Bachbett geworden, auf dem Knöcheltief das Wasser floss. Glyrana deutete nach links, der Fließrichtung des Wassers folgend.
“Dorthin… da muss es zum Gernat gehen, dort liegt die Burg”
Haldana schüttelte den Kopf. “Nein, Glyrana. Zum Gernat mag es gehen, aber nicht zur Burg, die liegt ein Stückchen höher als hier, meiner Erinnerung nach. Und wenn es hier schon vor Wasser strömt und schäumt, dann möchte ich nicht zum Gernat herunter.”
Glyrana hielt einen Moment inne.
“Du meinst…” begann sie, dann zögerte sie.
Haldana nickte.
“Wenn aus dem ganzen Wald knöcheltief das Wasser fließt… dann ist der Gernat kein beschauliches Flüsschen mehr. Dann möchte ich jetzt nicht im Gernatstal stehen. Nicht, solange dieses Unwetter anhält, man nichts sieht und nicht weiß, welche Urgewalt einen dort erwartet.”
Alboran wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Aber als Kind der Schwarzen Sichel wusste er, wie gefährlich ein aus dem Gebirge herab rauschender Bach sein konnte, wenn Schneeschmelze und Regen zusammen kamen. Vielleicht hatte Haldana Recht. Hier waren sie nass und froren, klar, aber wenn der Gernat über die Ufer treten würde, dann sollte man den Wassermassen nicht im Weg stehen.
Mit unbehaglichem Gefühl sah er die Firunskörner auf dem Regenwasser wegschwimmen, offenbar zum Fluss hin, firunwärts.
“Dann gen Rahja” beschied Glyrana kurz entschlossen. “Dorthin steigt das Land an, zum Wutzenwald. Gehen wir zu den Felsen im Wutzenwald, ich denke, dahin finde ich. Da sind wir zumindest vom Wind geschützt.”
Alboran und Haldana stimmten mit einem Nicken zu. Ein besserer Gedanke, wohin sie sich wenden konnten, war ihnen auch nicht gekommen.
“Hoffentlich finden wir dorthin.” murmelte Haldana, folgte aber der Mersingerin mit entschlossenem Schritt. Alboran fügte sich in den Entschluss der beiden Frauen.

Odilon hatte eine Bewegung in den Augenwinkeln erspäht, wandte unvermittelt den Kopf nach oben. Gerade noch rechtzeitig, um eine Frauengestalt auf einem Besen davon fliegen zu sehen. Rasch deutete er Timoin aufzuschauen, der ebenfalls die Hexe noch erblickte.
“Das muss die Frau gewesen sein, deren Spur wir bei den Goblins gesehen haben!” rief Timoin überrascht aus.
Odilon nickte. “Wahrscheinlich, ja. Die Frau, die die Rotpelze in die Falle geführt hat. Die drei von ihnen einem Ritual der Blutmagie geopfert hat. Hat sie selbst das Ritual durchgeführt? Oder der Unbekannte, dessen Spuren wir auch gesehen haben? Die Satuarientöchter sind eigentlich für vieles bekannt und verrufen, aber nicht für Blutmagie.”
“Ist doch egal, Odilon. Sie hat mitgemacht, egal wie genau. Wenn wir herausfinden wollen, was hier vor sich geht, dann müssen wir ihr folgen.”
Odilon lachte trocken. “Und wie? Welche Spur hinterlässt eine Hexe auf ihrem Besen?”
“Sie fliegt nach Rahja. Die gleiche Richtung, in die sich die unbekannte Spur unten entfernt hat” stellte Timoin sachlich fest. “Wir sollten der Richtung folgen, dann werden wir schon etwas finden. Komm, Odilon, steigen wir wieder runter vom Baum. Die Wildschweine sind weg.”
“Sachte sachte, Timoin.” Odilon zögerte. “Durch Regen und Hagel, in dem kaum etwas zu erkennen ist, willst du vordringen? Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.”
“Ja, Odilon. Ich weiß, ich verstehe nicht viel von Magie. Noch weniger von Blutmagie, wie du sagst. Aber eines weiß ich. Wir haben zwei Spuren, wir haben die Richtung. Und wer immer Blutmagie einsetzt, der hat damit Wettermagie bewirkt. Oder meinst du, diese Gallysardwetterlage wäre Zufall? Nein, Odilon. Wir sind schon einigen Druiden begegnet, das weißt du. Jetzt sehen wir eine Hexe und die Spur eines Unbekannten. Blutmagie, Wetterzauber, das deutet auf einen Druiden hin. Und auf ein Ritual, das weiter fortdauert. Hast du nicht selbst gesagt, dass jeder Zauberer sich auf seine Magie konzentrieren muss? Also wovor hast du Angst, Odilon. Wer immer dieses Unwetter verursacht, der ist beschäftigt. Und der wird nicht auf Verfolger achten. Warum auch, bei diesem Unwetter wird sich jeder, der bei klarem Verstand ist, einen Unterschlupf suchen. Niemand, so wird er erwarten, folgt seiner Fährte. Und genau deswegen haben wir eine Chance. Eine sehr gute sogar, würde ich sagen.”
Odilon dachte kurz nach und nickte.
“Gut… dann zum Henker mit der Verlobungsfeier, die ist ohnehin ins Wasser gefallen. Du hast Recht, Timion. Und da ist noch eines. Dieses Unwetter wird dauern, bis der Urheber sein Ziel erreicht hat… oder bis ihn der Pfeil eines Jägers trifft. Und das wird sicherlich einigen Menschen das Leben retten, denn dass ein solches Unwetter ohne Todesopfer bleibt, das können wir nicht hoffen.” Odilon ließ sich an den Ästen herab und sprang zu Boden - in knöcheltiefes, schäumendes und gurgelndes Wasser. “Sei vorsichtig, mein Junge. Einem so gefährlichen Gegner bist du noch nie begegnet. Du bist jetzt nicht auf der Pirsch, Timoin. Du bist auf dem Kriegspfad.”  

Durchnässt, fröstelnd und abgekämpft vom beschwerlichen Weg gegen den Wind erreichten Glyrana, Alboran und Haldana einen Felsen, knapp vier Schritt hoch und nach Efferd hin leicht überhängend. Immerhin windgeschützt konnte man hier stehen. Alboran stützte sich gegen den Felsen und atmete erst einmal durch. Haldana sah übel aus, obwohl sie kaum verletzt war. Aber das Blut der Platzwunde hatte mit dem überreichlich vorhandenen Regenwasser ihre Leinenbluse blutig verschmiert. Aber immerhin blutete die Wunde nicht mehr. Auch sie war froh, wenigstens vor dem ärgsten Unbill des Wetters Zuflucht gefunden zu haben. Dennoch, auch hier war der Boden völlig durchweicht, und das Wasser rann talwärts.
“Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es jetzt am Gernat aussieht” murmelte Glyrana. Haldanas Bedenken, das hatte sie rasch begriffen, bestanden vollkommen zurecht. Die Burg auf dem felsigen Untergrund mochte sicher sein. Aber dahin müsste man erst einmal kommen, und wie es bei diesem Unwetter um die Hütten der Bauern, Handwerker und Arbeiter am Gernatsufer stand, konnte man sich ausmalen. Die Landjunkerin hoffte nur, dass auch viele der Dörfler auf der Burg Zuflucht gefunden hatten. Wenn die Hütten oder die Uferstraße unterspült oder überschwemmt waren, dann würde davon vielleicht nicht mehr als eine einzige Matschpiste übrig bleiben. Und wer von den Fluten mitgerissen würde, dem möchten die Götter gnädig sein.
“Das… das ist doch kein normales Unwetter” Alboran war immer noch von einer Unruhe erfüllt. Ich meine… so ein Starkregen… mit Hagel, so plötzlich…”
Haldana nickte. “Du hast Recht, Alboran. So etwas haben wir in Schlotz noch nicht erlebt, so lange ich lebe.
`So etwas hat es hier auch nicht gegeben, seitdem ich nicht mehr lebe!` vernahm Haldana Golos Stimme. Die Baronin fuhr erschrocken auf, fasste sich aber wieder.
“Ach, nicht du schon wieder…” murmelte sie.
Glyrana und Alboran sahen sie verwundert an.
“Es ist Golo…” erläuterte Haldana, die die unheimliche Begegnung nicht mehr, wie in der Vergangenheit, geheim halten wollte.
`Das Wetter hast du mir zu verdanken, Schätzchen. Bekenne dich zu IHM, und ich werde dem Einhalt gebieten.`
“Was ist mit Golo?” hakte Alboran nach.
“Seine ruhelose Seele irrt als Nachtmahr umher. Er ist hier”
“Jetzt? Hier? Bei Tageslicht?” wunderte sich Alboran, der nicht wusste was er sagen sollte.
Haldana zuckte mit den Schultern. “Eigentlich müsste ich jetzt Angst haben. Jedenfalls ist es das, was Golo will. Aber tatsächlich friere ich einfach nur.” Einer Intuition folgend beschloss Haldana, keine Angst vor ihrem Peiniger zu zeigen, sondern über ihn statt mit ihm zu reden. “Sein Geist verfolgt mich, seitdem ich ihn damals erschlagen habe… mit der Laute. Ach ja… Laute. Golo war es auch, der gestern die Vorstellung von diesem Barden Wendelin mit seinem schaurigen Liedgut verunziert hat.” Alboran blickte verständnislos. Aber Glyrana, die auch etwas von dem unheiligen Lied vernommen hatte, zeigte sich interessiert.  
´Wenn dir was an den Menschen in deinem Lehen liegt, Püppchen, dann bekenne dich. Eine einzige Lobpreisung des Güldenen reicht, und der Regen wird aufhören. Oder willst du ein dutzend Tote verantworten?´ ätzte Golo nach, aber Haldana ignorierte ihn.
“Golo sagt, er wäre für das Unwetter verantwortlich. Aber ich glaube ihm nicht. Wie könnte ein Geist denn solches bewirken?” Tatsächlich hatte Haldana keine Ahnung, wozu Golo in der Lage war, und ebenso verspürte sie Angst. Allerdings weniger als bei früheren Begegnungen. Sie war nicht allein, und es war Tag.
`Du zweifelst, meine liebe Gemahlin? Du zweifelst? Habe ich Dir nicht auch angekündigt, dass du ein Kind erwartest? Meinen Sohn übrigens? Meinst du, ich muss selbst so eine läppische Beschwörung ausüben, um ein Unwetter zu erzeugen? Meinst du das? Ebenso wenig wie ich selbst kein Kind zeugen muss, um dich zu schwängern, sondern das meinem Sohn überlasse? Ebenso muss ich selbst nicht ein solches Ritual wirken, nein, ich habe genug Anhänger, die mir hörig sind, du ungläubige Göre!´
Haldana hatte den Eindruck, Golo zornig gemacht zu haben. Wieder zweifelte sie an sich, an ihrer eigenen Courage. Tatsächlich, sie war schwanger. Sie hatte das niemandem gesagt, selbst Alboran gegenüber nur angedeutet. Golo hingegen wusste davon. Woher?
“Wie? Ein Nachtmahr bewirkt ein Unwetter? Wie denn das?” fragte Glyrana nach.
“Er sagt, ein ihm Höriger habe ein Ritual oder eine Beschwörung bewirkt.” erläuterte Haldana mit gleichmütiger Stimme. “Mag sein, er selbst kann es jedenfalls nicht. Ein Nachtmahr kann nicht zaubern.” Das letzte hatte Haldana hinzugefügt, um Golo zu provozieren, um ihn aus der Reserve zu locken, auch wenn sie tatsächlich keine Ahnung hatte, wozu ein dem Dreizehnten Geweihter Nachtmahr imstande war.
´Du Ungläubiges Kind! Ich werde die Kupfermine von Gernatsborn vernichten. Du bist schuld daran, Blondchen. Du hättest das alles verhindern können. Einfach nur ein Gebet an den Güldenen richten, und alles wäre überstanden. Du trägst die Verantwortung dafür, für deine eigene Dummheit, deine Überheblichkeit, deine Kleingeistigkeit! Es sind deine Schutzbefohlenen, die sterben werden.´ vernahm Haldana wieder Golos tonlose Stimme in ihrem Kopf.
Dass alles, was am Ufer des Gernat stand, in Gefahr war, das hatte Haldana ohnehin schon geahnt. Und damit auch die Kupfermine. So konnte die Drohung Golos sie nicht zusätzlich erschrecken. Nicht mehr, als sie ohnehin bereits in Sorge war.
“Ist Golo immer noch da?” fragte Glyrana nach? Die Landjunkerin meinte, die unheilige Präsenz zumindest zu spüren, von der Haldana sprach.
Die Baronin nickte. “Ja. Aber… ich glaube, von ihm geht gerade keine Gefahr aus, nicht darüber hinaus, als dass er uns Angst machen will.”
´DU IRRST` gellte eine tonlose Stimme durch Haldanas Kopf. Selbst Glyrana spürte eine Erregung der unheiligen Präsenz. Plötzlich flog die Landjunkerin zur Seite, stolperte und fiel der Länge nach auf den matschigen Untergrund.
Alboran lachte dreckig “Da liegst du nun, Eidechsenanbeterin. Schade, dass meine Söldnerin gestern nicht besser getroffen hat. Na sei es drum, ich werde das nachholen. Und nun zu dir, Metze!” Alboran packte die völlig überraschte Haldana an ihrer Haarhälfte und zog mit einer Urgewalt daran. Haldana schrie vor Schmerz und Schreck auf.
“Keine Gefahr? Mein Weib, du wirst schon merken, wer von uns beiden die Hosen an hat!” Alboran zerrte Haldana zur Seite, stieß sie mit Wucht gegen den Felsen.
“Alboran!” schrie Glyrana auf
“Das ist nicht Alboran. Golos Geist beherrscht ihn!” rief Haldana in einem kurzen Moment, in dem Alboran der sich aufrappelnden Glyrana einen Tritt gab, dass diese einen erschrockenen, sich fast grunzend anhörenden Laut von sich gab, ehe Alboran sich wieder der Baronin zuwandte.
“Du bist mein Weib, du Metze!” rief Alboran mit ebenso hasserfüllter wie auch verächtlicher Stimme. “Ich werde dir schon beibringen, mich zu respektieren, du Trolltochter!” wieder schrie Alboran, zugleich schubste er Haldana mit kräftigem Stoß nach hinten weg, wobei diese über einen Stein stolperte und auf dem Rücken zum Liegen kam.
Wenigstens ist diese Matschbrühe schön weich, dachte Haldana, und drehte sich in Bauchlage, um aufzustehen.
Da schlug sie erneut auf dem Boden auf. Sie spürte einen Schlag auf dem Rücken, dann drückte eine unnachgiebige Hand ihre blonden Haare in den Schmutz und fixierte so ihren Kopf im Dreck.. Erneut versuchte Haldana, aufzustehen, jedoch kam sie keinen Fingerbreit hoch, da Alboran auf ihr lag und sie zu Boden drückte.
Für einen Moment fühlte Haldana sich an ihren Kampf mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges erinnert. Nur für einen kurzen Moment. Jetzt kämpfte sie nicht gegen Alboran, auch wenn ihr Gegner Alborans Körper nutzte. Golo war ihr Gegner.
“So, Püppchen, ich weiß, das gefällt Dir!” rief Alboran. Aber jetzt machen wir das so, wie ich das will. Schwanger bist du ja schon. Du bist doch sonst so eine Elfenversteherin, du Hinterwaldgöre! Da wirst du sicher deine Freude daran haben!”
Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als sie Alborans Zähne in ihrer Schulter spürte. Haldana schrie, übertönte damit ein erneutes Grunzen aus dem Hintergrund. Dann spürte sie ein Reißen an ihrem Kleid.
Doch der stabile Leinenstoff riss nicht so leicht.
Alboran griff nach seinem Messer, schnitt Haldanas Kleid unter dem Gürtel auf.
Ein erneutes Grunzen, diesmal lauter.
Plötzlich fühlte Haldana sich befreit. Das Gewicht auf ihrem Rücken war weg. Die Schlotzerin sprang auf.
Alboran zappelte wild um sich, jedoch fest umschlungen von überraschend kräftigen Armen, die den Gießenborner im Kreuzgriff umschlungen hielten.
Glyrana stand erhobenen Hauptes hinter dem jungen Edlen, ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr sonst so ordentlich gepflegtes Haar stand fast borstig weg.
Haldana konnte sich nicht erklären, wie die tsafreudige Landjunkerin plötzlich so wild und kräftig geworden war. Hatte sich die Gernatsborner Burgherrin einen Krafttrunk zu Gemüte geführt? Aber für Überlegungen hatte die Baronin keine Zeit.

Alboran japste, lief rot an im Gesicht. Hilflos wie ein Maikäfer zappelte er im Festen griff.
“Bring ihn nicht um… es ist Alboran!” rief Haldana Glyrana an, als sie erkannte, dass Alboran keine Luft mehr bekam.
“Er… hat dich angegriffen. Und mich… er ist der Verräter!”
“Golo ist der Feind. Nicht Alboran…” erläuterte Haldana. “Golos Geist kann in fremde Körper fahren, kann Menschen beherrschen, ich habe das selbst schon erlebt.”
Glyrana drückte nicht weiter zu, ließ den gefangenen Alboran einen Atemzug nehmen.
“Aber… wenn er von Golo beherrscht wird, ist er eine Gefahr…” gab Glyrana zu bedenken.
`Du musst ihn küssen` erklang die ruhige, angenehm tief klingende Stimme Nasdjas in Haldanas Kopf. Haldana war froh, die Seele der Seherin wieder zu hören. Sie gewann neue Zuversicht, atmete erst einmal durch. Wenn Nasdja in ihrer Nähe war, hatte Haldana keine Angst mehr. Die alte Norbardin hatte ihr immer hilfreich zur Seite gestanden. Ein Lächeln fuhr über Haldanas Gesicht.
“Wir müssen Alboran helfen, Golos Geist zurück zu drängen.” antwortete Haldana. “Ich glaube, ich kann das. Halte ihn fest… aber nicht zu fest… und lass ihn los, wenn ich ihn habe.”
Glyrana verstand nicht, was Haldana vorhatte. Aber sie nickte.
“Alboran, mein Guter” begann Haldana. “Jetzt weißt du, wie mir der Geist dessen, der nicht dein Vater ist, zu schaffen macht. Jetzt verstehst du es.” Haldana lächelte Alboran an, der hasserfüllt zurück blickte.
“Niemand wird uns trennen, auch dieser Stinkstiefel von Golo nicht.” Sanft umarmte Haldana den Geliebten, drückte ihm einen sanften und zugleich innigen Kuss auf den Mund, knabberte leicht an seinen Lippen.
Alboran würgte erst, rebellierte, wollte sich aus dem Griff Glyranas befreien. Doch zugleich drang ein anderer, freundlicherer Gesichtsausdruck auf sein Gesicht. Haldana sah, dass in Alborans Körper zwei Seelen um die Vorherrschaft rangen. Ein Golo, der sich nichts aus Frauen machte, und der gleichzeitig Alborans Seele niederkämpfen und sich der Zärtlichkeit Haldanas widersetzen wollte als auch versuchte, dem eisenharten Griff Glyranas zu entkommen. Und eine verunsicherte, aber von der Liebe zu Haldana beflügelte Seele Alborans, die sich allein darauf konzentrieren konnte, den fremden Eindringling zu bekämpfen, zu verdrängen. Einen Kampf, bei dem Alboran dank Haldana und Glyrana die besseren Karten hatte.
Der Widerstand in Alborans Armen erlahmte. Im gleichen Maß ließ Glyrana den Gießenborner los.
Haldana schlang ihre Arme um Alboran, fuhr ihm mit den Händen über das schwarze Haar, küsste ihn erneut.
Alboran atmete ruhig, entkrampfte sich, umarmte sanft die Geliebte.
“Verzeih mir” sagte Alboran. Man sah ihm die Erschöpfung an, die der Kampf mit Golo verursacht hatte.

Welch herrlicher Anblick, welch wunderbare Zerstörung!
Mit flatternder Robe und wehenden Haaren stand Burchert dicht unter der Krone der Blutbuche. Die eine Hand war an einem der borkigen Stämme festgekrallt, die andere Hand fest um seinen Stab geschlossen (der selbst einem Ast ähnelte und ein Geschenk des Waldes war). Mit dem Stock dirigierte er schreiend das Unwetter, zumindest bildete er sich das ein. Längst hatte den Druiden so etwas wie heiliger Wahnsinn ergriffen, während Regel und Hagel auf ihn herab prasselten. Auf seine Hörnerhaube und das leicht purpurn schimmernden Blätterdach des Heiligen Baums, ebenso auf dessen dunkles, fast schon schwarzes Holz.
Burchert beruhigte sich nur mühsam. Die Wirkung des Rituals war erstaunlich, nach dem kläglichen, warmen Landregen und lauen Lüftchen gestern Abend. Ein gewaltiger Wirbelsturm hatte sich über dem Gernat gebildet, der unterhalb des Steilhangs mächtig anzuschwellen begann und bereits die Artemafurt überflutete. Es war klug gewesen, den Regen hier, vor der Engstelle herunterstürzen zu lassen, wo das Wasser am meisten Kraft gewann, bevor es sich vor der Gernatsbeuge anstaute. Selten hatte der Name "Blutbaum" besser gepasst als jetzt. Burcherts Robe, Gesicht und Bart waren noch immer rot bespritzt, vom Dolch, der in seinem Gürtel steckte, tropfte der Lebenssaft der hingemeuchelten Goblins.
Burchert hatte zusammen mit Reginlind das alte Wetterritual ausgeführt, hoch über dem Fluss: Erst die Suulak bis zur völligen Erschöpfung tanzen lassen, dann das Leben der keuchenden, wimmernden Kreaturen auf dem Opferstein beendet. Die Abscheu im Gesicht der Hexe war ihm nicht entgangen – wäre es der Schwazerin lieber gewesen, die Lebenskraft der Rotpelze sinnlos zu vergeuden? Sorgfältig hatte er das Blut in einer irdenen Schale aufgefangen, damit den Heiligen Baum besprengt und gezeichnet. Hatte Walderde, Moos und Laub in die Luft geworfen, eine Sturmkrähenfeder aus der Hand geblasen, viermal mit dem Stab auf das Holz der Blutbuche geklopft, im ältesten Garethi befehlend zu den Geistern des Fallenden Wassers wie der Brausenden Luft gesprochen.
Nur Reginlind war von der Menge grunzender Wildschweine erstaunt gewesen, die ohne Vorwarnung im Unterholz aufgetaucht war, begleitet von mehreren Wanderern: Junge Wutzen, die sich in den Namenlosen Tagen gerne in Ebergestalt unter die Tiere mischten, um eine zeitlang unerkannt durch den Wald zu ziehen und das Treiben in der diesseitigen Welt zu beobachten. Im Praiosmond war er ihnen noch nie begegnet. Vermutlich hatte das Wirken von Magie die Feeischen angelockt, ebenso der Geruch von Goblinblut. Zum Glück hatte Burchert einige Handvoll Krafteicheln in seiner Felltasche dabei gehabt, um die Eberbiestinger und ihre Rotte zu beschwichtigen. In stummer Sprache hatte er den Borstenträgern begreiflich gemacht, dass es ihm bei seinem Zauber allein um das Schließen von Sumus Wunde ging. Zu seinem Erstaunen waren die Wanderer fast sofort in Richtung Gernatsborn gestürmt, um das Rumpelholz zu zerstören, das sie beim nächtlichen Suhlen störte, ebenso wie der ätzende Gestank aus der Grube. Heute Nacht würde die Herde zurückkehren, um sich an den Leibern der Rotpelze zu laben.
Nun stand Burchert auf der Blutbuche, die sich im Sturmwind hin und her neigte wie der Mast einer Schivone, die sich durch schwere See kämpfte. Es war schon körperlich schwierig, den Sturm zu lenken, aber die Kräfte, die er hier entfesselt hatte, überstiegen langsam, aber sicher seine magische Macht. Reginlind war mit dem Besen in die Lüfte aufgestiegen, um den herunter brechenden Ästen und dem herumfliegenden Holz oder Laub zu entgehen.
Burchert schaffte es noch, die Windhose in Richtung Bergwerk zu dirigieren, dann musste er das Toben der Elemente sich selbst überlassen. Verwirrt zuckte der Druidenmeister zusammen, als zappelnde kleine Gnitzen neben ihm im Baum einschlugen. Eigroße Hagelkörner fetzten die Blätter von den Zweigen, rissen ihm den Stab aus der Hand. Das Heulen des Sturms wurde zu einem Brüllen, der Tag zu stockfinsterer Nacht. Plötzlich verspürte selbst er Furcht: Welche Urkräfte hatten sie hier entfesselt?

Perainfried erwachte aus seiner schweren Benommenheit, wozu ein Schwall eiskalten Wassers beitrug, das ihm gegen den Hals, nein, ins Gesicht schlug. Der Gardist verschluckte sich, bekam keine Luft mehr, hustete. Mit panischen Bewegungen versuchte er sich aus der Flut freizukämpfen. Nach und nach gelang es ihm, sich hochzuziehen und an irgendeinem abgesplitterten Balken festzuklammern. Erst jetzt merkte er, dass er an einem der Holzgerüste des Bergwerks hing, das ihm im letzten Moment aufgefangen hatte. Genauer am Überrest eines Holzgerüsts. Mehr als einen Moment lang war er völlig überfordert und desorientiert. Nur die Blitze, die immer noch durch die Finsternis zuckten, offenbarten ihm nach und nach seine Lage. Er hing genau an der Abbruchkante eines bräunlichen Wasserfalls, der sich vom Gernat her in die Grube ergoss. Hatten hier die Pumpen nach unten geführt, oder war das einfach nur der Einstieg ins Bergwerk gewesen? Wenn ja, dann war die Anlage nun völlig zertrümmert.
Ein dumpfes Grollen lenkte ihn ab. Perainfried wagte einen Schulterblick zur Seite. Das Geräusch kam vom Hangwald her. Genau genommen war es der Hang, der ihm gerade entgegen donnerte: Die Erde hatte sich im Dauerregen selbstständig gemacht und rutschte los, als Lawine aus Schlamm, Wasser, Baumstämmen, Geröll. Perainfried verstand, dass Sumus Zorn auf dem Weg zur Grube alles unter sich begraben würde, was sich ihm in den Weg stellte. Unter anderem ihn selbst. Nein, das stimmte nicht ganz: Vom Fluss her trieb nun das Mühlrad heran, das sich sinnlos im Wasser um sich selbst wälzte: Es würde ihn vermutlich einige Herzschläge vor der Moräne zerschmettern und über den Rand des Abgrunds fegen.
"Heilige Mutter Sumu, steh mir bei!" hörte er sich brüllen. Ein Baumstämmchen wurde durch die Luft geschleudert und schwirrte genau auf ihn zu. Im nächsten Moment wurde der Gardist auch schon gepackt und mitgerissen. So sieht also das Ende aus, dachte er schicksalsergeben. Er flog, durch die Luft, den Hagel, den Sturm, das Wasser. Irgendetwas hatte ihn am Schlafittchen gepackt: Golgari? Verwirrt blickte er auf: Der Todesalveraniar sah aus wie eine junge, durchaus hübsche Frau mit flatternden roten Haaren, die auf dem Bäumchen, nein, einem Reisigbesen saß. Welch merkwürdige Halluzinationen man hatte, wenn bereits Uthars Pfeil auf einen zu raste. Die Besenreiterin hatte Mühe, Höhe zu gewinnen, kurz hinter der Grube plumpste ihre Last in den schlammigen Boden.
Als der nächste Blitz die Finsternis erhellte, war seine Lebensretterin bereits verschwunden. Für einen Moment schämte er sich, in höchster Not nicht zu den Göttern Alverans gebetet zu haben. Dann sah er, wie Sumu selbst die Wunde in ihrem Leib schloss, zumindest einen Teil, in Form von gigantischen Erd- und Steinrutschen, die in das Loch hinein rutschten, wie ein Erddrache, der in seine Höhle zurück kroch. Ergriffen sank er zurück in den Schlamm und spürte die Kraft der Erde, buchstäblich am eigenen Körper. Dann herrschte eine merkwürdige, gespenstische Ruhe. Selbst der Regen ließ schlagartig nach. War das das berühmte Auge des Wirbelsturms?
Perainfried atmete durch. Die Stille um ihn herum war beunruhigender als es ein erneutes Anschwellen des Sturms gewesen wäre. Wassertropfen pflatschten von den arg zerzausten Bäumen, das war fast das einzige Geräusch. Der Orkan kehrte nicht wieder. Stattdessen kam der Schnee - erst einzelne, zarte Flöckchen, dann schüttelte Frau Travia ihre Kissen aus, von Alveran herab. Der Winter brach über Gernatsborn herein.
Mitten im Schneetreiben spürte er eine zitternde Hand auf seiner Schulter. "Perainfried, du lebst?!", hörte er eine vertraute Frauenstimme, gefolgt von einem Husten. "Hat dich diese betrunkene Hexe auch aus dem Wasser gezogen?"

12. Kapitel - Das Bündnis mit dem Wutzenwald

12. Kapitel

Das Bündnis mit dem Wutzenwald



Im Wutzenwald nahe Gernatsborn, Nachmittag des 6. Praios 1043
Odilons Kriegspfad führte zunächst hangabwärts, zum Erstaunen seines Gehilfen. Der alte Waldläufer musste aufpassen, im Schlamm nicht abzurutschen. Immer wieder suchte sein Blick den Himmel ab, aber außer sturmgepeitschten Baumwipfeln und fein geäderten Blitzen war nichts mehr von der Hexe zu entdecken. Der Schwarze Bär schlug sich seitlich in die Büsche. Timoin verstand: Er wollte die Besenreiterin, vielleicht auch den Druiden oben auf der Anhöhe irreführen.
Sie kämpften sich durch ein kleines Nadelwäldchen wieder nach oben, wobei der Orkan ihr eigentlicher Gegner war. Kleine Sturzbäche flossen herab, die Tannen und Fichten wogen wie ein Kornfeld hin und her. Bäumchen brachen entzwei wie Schwefelhölzer. Dennoch musste Timoin zugeben, dass der Jäger einen klugen Weg gewählt hatte. Umstürzende kleine Nadelbäume waren nicht so gefährlich wie von oben herab brechende Äste. Außerdem waren sie einigermaßen sichtgeschützt, nicht zuletzt durch das Unwetter selbst. Das da vorne, unter einem Steilhang, musste der Gernat sein, dessen stark angestiegenes, aufgewühltes Wasser zu kochen schien, überschüttet von Hagel und Regentropfen.
Odilon warf sich den Bogen über die Schulter und begann zu klettern. Auch wenn er nur mühsam vorankam, schien diese Stelle doch einigermaßen wettergeschützt zu sein. Timoin folgte ihm beherzt. Als er wieder oben auf der bewaldeten Anhöhe stand, merkte er, dass der Sturm tatsächlich nachgelassen hatte. Vermutlich tobte er sich gerade über Gernatsborn aus.
Die Waldläufer atmeten durch und versuchten sich zu orientieren. Die einzige Spur, die es noch zu lesen gab, war die Spur der Verwüstung. Umgeknickte Bäume, kahle oder zersplitterte Äste, Hagelkörner, die unter den Stiefeln knirschten. Bei der kleinen Kletterpartie war Odilon doch warm geworden, aber nun merkte er, welche Eiseskälte hier oben herrschte. Im nächsten Moment wirbelten zart die ersten Schneeflocken herab. Odilon hatte wahrlich schon einiges erlebt und überlebt in den letzten Jahrzehnten. Aber ein Wintereinbruch im Praios gehörte nicht dazu.
Es schneite, kein Zweifel. Die Szenerie war vollkommen unwirklich, als hätte es die beiden Jäger in die Feenwelt verschlagen. Oder ins Reich des Eisigen Jägers? Die Macht des Blutdruiden schien enorm zu sein, aber irgendwie hatte der Baernfarn das Gefühl, dass der Zauberer Kräfte geweckt hatte, die jedes Menschenwerk überstiegen.
Timoin stand mit offenem Mund da, und schloss ihn erst wieder, als die ersten kalten Schneeflocken hinein wehten.
"Hast du sowas schon einmal erlebt, Odilon?"
"Nein, nicht selbst. In Nordenheim soll es mal einen Gallysard gegeben haben, mitten im Sommer. Aber das war kurz nach der Zerstörung Wehrheims, als ohnehin alles drunter und drüber ging."
Der Waldläufer nahm Bavhano Bvaith von der Schulter. Normalerweise liebte er solche kalte Pracht, aber dieser Winterzauber schien ihm wenig firunsgefällig zu sein. Knirschenden Schrittes ging er voran in den Wald. Alles war in graublaues Licht getaucht, zarter Nebeldunst waberte zwischen den gemarterten Baumstämmen.
Da vorne lagen auch schon die struppigen Leiber der toten Goblins am Opferstein, bedeckt mit einem dünnen Leichentuch aus Schnee. Timoin suchte nach seinem Bogen, aber der war tatsächlich entzwei gebrochen, unter dem Tritt der Wildschweine. Langsam wuchs die Schneeschicht unter ihren Stiefeln. Viele Bäume waren durch den Sturm entlaubt worden, so dass man sich wirklich im Firun- oder Hesindemond hätte wähnen können. Nur ein einzelner Baum, eine hohe, knorrige, mehrstämmige Buche, trug seine roten Blätter noch fast in voller Pracht. Odilon gab Timoin ein Zeichen, im Schatten zu bleiben. Es war besser, sie würden beide kein allzu gutes Ziel bieten.
Im Schutz der roten Buche sah Odilon sich um. Erst jetzt merkte er, dass der schwarzgraue Stamm mit Blut beschmiert war. Er blickte hinauf. Einen Herzschlag später schrie er auf, als sich etwas Spitzes, Scharfes von hinten in seine rechte Schulter bohrte, knapp neben dem Köcher, durch den Mantel und den Lederkoller hindurch. Irgendein Geschoss drang wie ein gleißender Blitz in seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Odilon spürte, wie der Bogen aus seinen Händen glitt. Im nächsten Moment wurde die kalte Klinge wieder herausgerissen, wie von Geisterhand. Der Baernfarn krümmte sich zusammen und spähte nach dem Angreifer.
Durch den weißen Schleier des Schneetreibens sah er, wie der Gehörnte auf ihn zukam, aus dem Wald. In seiner Linken hielt er einen knorrigen Stab, in der Rechten einen schwarzen, bluttriefenden Dolch. Das musste die Waffe sein, die ihn gerade getroffen hatte. Aber wie konnte sie so schnell zum Werfer zurückgekehrt sein? Der Dolch war durch die Luft geflogen, hin und wieder zurück, kein Zweifel. Langsam schritt der Druide näher. Dunkelrote Flecken verunzierten seine Robe und das bärtige Antlitz. Der Blutzauberer stand dem alten Graubart buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
"Das...nennst du Klinge?" ächzte Odilon und zog Wandelur blank. Auch wenn die Wunde nicht allzu tief gegangen war, hatte der Blutzauberer ihn äußerst schmerzhaft getroffen. Den mächtigen Langbogen zu spannen, daran war leider nicht mehr zu denken.
Der Schwarze Bär kämpfte sich zurück auf die Knie, spuckte etwas Schnee aus und wechselte den Stahl in die Linke. Wenn der Gehörnte nicht wieder Hexerei anwandte, würde er ihm im direkten Zweikampf noch immer weit überlegen sein.
Der Druide lächelte, dünn und ein wenig grausam. Dann setzte er sich im Schneidersitz auf seinen Umhang in den Schnee und bohrte seinen Dolch in den Boden. Eine beiläufige Bewegung mit dem Stab. Bruchholz schwirrte herbei, wie vom Sturm herbei geweht. Dann schossen wie aus dem Nichts Flammen aus dem Holz empor. Binnen weniger Augenblicke prasselte ein gemütliches Feuer mitten auf der weiß eingeschneiten Lichtung.
"Odilon Wildgrimm von Gallys, nehme ich an? Welch außergewöhnliche Ehre." Die Stimme des Druiden klang nicht nach Ironie. Einladend deutete er nach vorn. "Setzt Euch doch ein wenig ans Lagerfeuer. Der Praiosmond ist kalt in diesem Jahr." Das war nun doch spöttisch.
Mühsam, mit Wandelur als Stütze, kam Odilon wieder auf die Beine. Dann hob er drohend die Klinge. "Elender Blutzauberer... Mich behext du nicht" knurrte er.
Burchert reinigte seinen Dolch mit Schnee. "Sind wir schon beim Du? Warum nicht. Ich bitte dich, Odilon. Männer in unserem Alter haben besseres zu tun, als im Schnee herum zu raufen wie törichte Goblins. Man nennt mich Burchert von dem Born. Ich bin der Hüter dieses Waldes."
"Früher auch bekannt als Burchert vom Ebergrund ?!" Odilon nickte und hinkte näher, vor allem, um den Abstand zwischen sich und seinem Gegner zu verringern. Eine Gestalt schlich sich hinter Burchert an. Das war Timoin, mit einem schweren Holzprügel in der Hand. Tapferer Bursche... vielleicht ein wenig zu tollkühn. Aber der junge Waidmann stellte sich geschickt an, setzte wie eine Katze einen Fuß vor dem anderen. Der leise herab rieselnde, dichte Schnee half ihm beim Anschleichen.
"Liegt der Ebergrund nicht auf der anderen Seite des Flusses?" stichelte der Schwarze Bär, um sein Gegenüber abzulenken. "Warum hütest du den Wald nicht dort, Burchert?"
"Bitte, Odilon, steck dein Schwert ein. Wie nennt man es noch gleich? Wandelbar, oder? Nun, eine Legende wie Siebenstreich ist es nicht, aber immerhin, ein Geschenk des Schwertkönigs. Raidri Conchobair war Freund der Oberhexe Luzelin vom Blautann, sagt man. Er stand also ebenfalls auf unserer Seite. Wandelbar, der Name würde passen. Aber selbst die beste Schmiedekunst ist nichts weiter als ein Frevel wider die Kräfte der Natur. Deine Waffe besteht aus gebundenem Erz, das unserer Mutter Sumu aus dem Leib gerissen worden ist." Burchert legte noch einige Tannenzapfen ins Feuer.
Odilon spähte nervös um sich. Die Gleichmut des Druiden irritierte ihn mehr als jeder offener Angriff. War die Gestalt dort am Ende nur eine Halluzination? Was führte sie im Schilde? Hatte Burchert nicht mitbekommen, dass sie zu zweit waren? Veneficus hatte einmal einen machtvollen Todeszauber erwähnt, die Druidenrache, mit denen die "Weisen des Waldes" eine ganze Gegend verfluchen konnten, um den Preis ihres eigenen Lebens. Burchert sah nicht so aus, als könne man ihn mit einem kräftigen Schwert- oder Knüppelhieb aus dem Weg räumen. Aber vielleicht war er wirklich schon am Ende seiner Kräfte und wollte mit seinem Auftritt nur vortäuschen, unangreifbar zu sein?
"Es heißt Wandelur, Blutzauberer. Mein Schwert heißt Wandelur. "
"Wie auch immer. Du wirfst mir also Blutmagie vor? Gleichzeitig hast du nichts dagegen, wenn Sumus Blut, die Lebenskraft der Welt selbst, geopfert wird, für schnödes Geld und kupferne Dächer?" Echte Abscheu verzerrte das Gesicht des alten Mannes, dessen große, gelbliche Zähne Odilon irgendwie an ein Nagetier erinnerten. "Aber setz dich doch. Wir müssen reden, wie die Bäume miteinander sprechen, wenn dem Wald Gefahr droht." Er wies auf einen umgestürzten Baumstamm. “Verzeih den Flug des Dolches, aber ich fürchte deinen unfehlbaren Bogen.”
Odilon tat ächzend, wie ihm geheißen worden war. Durchnässt vom Regen, der an seinen Gewändern immer mehr gefror, mit einer stechenden Wunde im Rücken, war er froh über ein wenig Wärme, mit seinen fast siebzig Götterläufen. Ebenso über die Ablenkung des Druiden. Timoin, die Katze, hatte sich bereits auf wenige Schritte vorgearbeitet. Fast schon sah sein Geselle drollig aus, mit verkniffenem Mund, beflissenem Gesichtsausdruck und heraus geschobener Zunge. In einem hatte Burchert Recht: Sie waren beide nicht mehr die Jüngsten.
"Nun, ich habe etwas dagegen, wenn mit stählernen Armbrüsten eiserne Pfeilspitzen auf die rechtmäßige Herrin dieses Lehens abgeschossen werden, bei einem heimtückischen Mordversuch. Du offenbar nicht." Der Waldläufer lächelte unbestimmt, wie so oft, wenn er mit Orks, Suulak, Nivesen oder Elfen am Ratsfeuer gesessen hatte, bei schwierigen Verhandlungen. "Aber vielleicht bin ich da einfach etwas altmodisch."
"Du spielst auf die neunfingrige Dienerin des Kor an? Ich habe sie in meinen Visionen gesehen, habe ihre Pläne erspürt. Nun, seit Anbeginn der Schöpfung fließt durch diese Welt Blut. Blut, das Sumu am Leben erhält. Als die Götter damals gegen die Vielleibige Bestie gekämpft haben, mit den Gigantenklingen, da war es der schwarzrote Rondrasohn, der Sokramur geschwungen hat: Das Leben selbst in Gestalt einer gewaltigen schwarzen Sichel. Womöglich ist Kors Name sogar in dem Fluss verewigt, der dort unten rauscht. Irgendwo in der Nähe soll sich sogar eines seiner wichtigsten Heiligtümer befinden, die Blutkerbe. Es ist korgefällig, Blut zu vergießen, im Dienste Sokramurs, für das Leben selbst."
"Ich kenne mich mit der Entstehung von Flussnamen nicht besonders gut aus. Außer beim Großen Fluss vielleicht. Es heißt, dass der Schwarze Prinz der Chimären dem Reich der Dämonen näher steht als den Gefilden Alverans. Ich bin jedenfalls nicht hier, um mich über alte Sagen, Märchen und Legenden zu unterhalten."
Odilon sprach vor allem, um Timoin wertvolle Zeit zu verschaffen. Ebenso, um noch einige Informationen aufzuschnappen. Spielte ihm Burchert etwas vor oder wusste er wirklich nicht, dass Yasinthe eine Dienerin des Namenlosen gewesen war? Sein Zögling hob bereits den schweren Eichenholzprügel. `Schlag zu`, dachte Odilon. `Schlag endlich zu.` Tatsächlich wirkte Timoin unsicher. Er wollte seitlich ausholen, aber da standen ihm die Widderhörner im Weg. Also hob er seinen Prügel über dem Kopf, für einen Wuchtschlag von oben. Sehr gut. Der Jüngling hob den Knüttel ein wenig mehr – und streifte einen Ast, der daraufhin Schnee herabregnen ließ. Odilon verzog das Gesicht.
"Nein." Burchert hob die Hand. "Bevor dein Schüler zuschlägt, dessen Ohr ebenfalls eine Kerbe ziert. Wie bei allen Nachkommen des Heiligen Alboran üblich... Nun, bevor er diese Dummheit begeht, sollte er vielleicht wissen, was es mit seinem Geburtszeichen auf sich hat. Es ist der Sichelschnitt der Sokramur, den Kor Alboran mitsamt seinen Nachkommen verliehen hat, als der Blutfordernde sich in der Schlacht gegen die Orken offenbarte. Wir kämpfen auf der gleichen Seite, Odilon. Diese Grube dort unten wurde vermutlich schon zur Zeit der Ghorinchai gegraben, auf der Suche nach dem heiligen Metall ihres Götzen Tairach. Es waren euer beider Vorfahren Artema und Alboran, die der Schändung der Sumutochter Sokramor ein Ende bereitet haben, in einem blutigen Kampf an der Furt, noch vor der großen Schlacht um Wehrheim. Wollt Ihr euch nach 1300 Jahren nun auf die Seite der Orks schlagen, der blankhäutigen wie der schwarzpelzigen Orken?"
Der junge Jäger hielt für einen Moment inne, mit Schnee übergossen. Verwirrt langte er sich ans Ohr.
Odilon schnaubte verächtlich. "Du solltest wissen, dass deine vermeintliche Kordienerin ihren neunten Finger nicht dem Träger Sokramurs geopfert hat. Sondern dem Namenlosen. Yasinthe Dengstein war eine Geweihte des Dreizehnten. Sie hat sich heute Morgen in Rauch aufgelöst. Nach einem erneuten Anschlagsversuch gegen das Leben Glyranas von Mersingen."
Nun hob Burchert die buschigen Augenbrauen. "Das... das ist nicht wahr..."
"Nun, Burchert, würdest du mich wirklich kennen, würdest du wissen, dass ich öfters die Wahrheit sage als mancher Praiosgeweihter. Nun leg deinen Dolch nieder, und ich verspreche dir ein gerechtes Urteil. Offenbar wurdest auch du von dieser Abgesandten der Sternenbresche getäuscht. Nun sag mir nur noch, wer deine andere Komplizin war. Sicher eine Tochter Satuarias?"
"Ein gerechtes Urteil? Dass ich nicht..."
Im nächsten Moment war ein abgründiges Zischen zu hören. Timoin blickte hinauf zur Blutbuche, gerade noch rechtzeitig, um das Schwarze Feh auf sich zuspringen zu sehen: Ein übergroßes, verwachsenes Eichhörnchen, mir gefletschten Rattenzähnen, grotesken Fledermausflügeln unter den Vorderpfoten, purpurn leuchtenden Augen, Stachelschwanz und einem kleinen Horn auf der Stirn. Dazu erklang ein Knurren, dass nicht mehr von dieser Welt war.
Es war ein grotesker, verrückter Anblick: Timoin, wie er sich durch den sommerlichen Schnee wälzte, im Kampf mit einem Eichhörnchen, das keines mehr war. Sondern ein underisches Geschöpf der Finsternis, mit Klauen, Dämonenflügeln und scharfen Zähnen, das seinem Opfer in die Kehle zu beißen versuchte. Der Junge hatte den Knüppel fallen gelassen. In Panik stach er mit seinem Messer auf das Untier ein. Das Dämonenfeh schnappte nach Timoins Hand. Schreiend ließ der Jäger seine Klinge fallen.
Der Druide rappelte sich mühselig auf, mit Hilfe seines Stabs. Nun wirkte er tatsächlich alt, gebrechlich und kraftlos.
"Sokramund?!" rief Burchert, verwirrt und entsetzt zugleich. "Sokra!"
Ein heftiger Windstoß fauchte über die Lichtung. Die Hörnerhaube rutschte dem Druiden vom Kopf und enthüllte eine runzlige Glatze. Irgendwie sah "Burchert von dem Born" mit einem Mal kläglich aus, überhaupt nicht mehr wie ein machtvoller Zauberer. Dann schwirrte ein großer Schatten aus dem Winterwald herbei, lautlos und mit weit ausgebreiteten Schwingen. Die riesige Eule packte das Feh, durchbohrte es mit seinen Krallen. Schreiend verwandelte sich das dämonische Ungeheuer wieder in eine derische Kreatur. Der Raubvogel, ein großer Uhu, erhob sich mit mächtigem Flügelschlag und steuerte mitsamt Beute auf den Waldrand zu.
"Sokra????"
Odilon hieb dem Druiden erst Wandelurs Knauf in den Rücken, dann die Breitseite des Schwerts über den kahlen Kopf. Wenn dir gebundenes Erz lieber ist, dachte der Schwarze Bär grimmig.
Odilon stand für einen Moment still und keuchte, während ihm das warme Blut über den Rücken rann. Die Schmerzen, die von der Kälte ein wenig gedämpft worden waren, meldeten sich nun um ein vielfaches verstärkt zurück. Timoin starrte mit verzerrtem Gesicht auf seine zerbissene Hand und versuchte, sie mit Schnee sauber zu waschen. Dann sah er schuldbewusst  zum alten Waldläufer: "Bist du schwer verletzt, Odilon?"
Der Baernfarn nahm den schwarzen Dolch des Druiden an sich. "Sagen wir... ich hoffe, dass die Rotpelze, die er zuerst damit durchbohrt hat, keine ansteckenden Krankheiten hatten."
"Was, was war das für eine Kreatur?" ächzte sein Schüler.
"Das Eichhörnchen? Vermutlich ein Daimonid. Früher kam das unheilige Kroppzeug manchmal über die Berge, aus Schwarztobrien. Ein Mischwesen, halb Dämon, halb Tier. Möge die Heilige Artema uns gegen das Gezücht der Niederhöllen beistehen. Was ist mit dir, deine Hand sieht übel aus?"
"Die Wunde ist nicht sehr tief... aber... dieses Schwarze Feh?" Der junge Bursche wickelte sich bereits ein Taschentuch um die Hand und wischte sich verlegen eine Schmerzensträne aus dem Auge. "Bekomme ich jetzt die Duglumspest?" fragte er mit leiser, belegter Stimme.
"Vielleicht wächst dir jetzt eine Eichhörnchenpfote, wer weiß?" Odilon versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Als er Timoins entsetzten Blick bemerkte, schüttelte er den Kopf. "Ach komm, du kriegst höchstens den Flinken Difar. So schnell geht das auch wieder nicht."
“Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, den Blutzauberer unschädlich zu machen.”
“Lass gut sein. Die Jagd auf Druiden ist ein wenig schwieriger als die Hatz auf Rotpüschel, Rehe oder Wildsauen. Du hast dich wacker geschlagen.”
Der niedergeschlagene Druide begann zu zucken. Stöhnend und ächzend wühlte er mit den Händen im Schnee. Timoin zückte sein Messer. "Elender Paktierer!"
Odilon fiel ihm in den Arm. "Was hast du vor?"
"Wir müssen ihn unschädlich machen, ein für alle mal. Dieser verdammte Dämonenknecht!"
"Ich glaube nicht, dass Burchert wirklich bewusst war, mit welchen Mächten er sich eingelassen hat." Der Schwarze Bär nahm den Eichenholzast und zog ihn Burchert über den Schädel. Knackend zerbrach das Holzstück in zwei Teile. "Ach ja, das nächste Mal nimmst du einen kräftigeren Prügel..."
Hufgetrappel und dumpfes Pferdegestampfe lenkte beide ab. Der Waldboden dröhnte. Die Wolkendecke war aufgerissen, helles Tageslicht flutete in den Winterwald.  "Kannst du einen Bogen spannen?" fragte Odilon. Timoin nickte, und sein Lehrmeister wies auf den Langbogen, eigentlich nur, damit der nicht im nassen Schneematsch liegen blieb. Er selbst stellte sich neben die Blutbuche, Wandelur halb erhoben.
Im Licht erschienen zwei Ritter hoch zu Ross, mit silbrig leuchtenden, fein ziselierten Rüstungen und prunkvollen Visierhelmen, die wie Eberköpfe aussahen. Beide trugen bannerverzierte Lanzen und Schilde, die mit verschlungenen Ornamenten geschmückt waren, die ein wenig an albernische oder thorwalsche Kunst erinnerten. Der Linke hatte eine mächtige Streitaxt am Kriegssattel hängen, sein rechter Nebenmann ein breites Schwert. Sie zügelten ihre Pferde, und trabten gemächlich auf die Lichtung, die Köpfe unter den Zweigen gesenkt. Erst jetzt bemerkte Odilon, wie hünenhaft die Neuankömmlinge waren. Ihre Streitrösser, die ebenfalls Rüstzeug trugen, waren gewaltige Tralloper Riesen, mit prachtvollem Fesselbehang über den schweren Hufen. "Keinen Schritt weiter", erklang Timoins helle Stimme, der tatsächlich bereits Bavhano Bvaith spannte, mit einiger Mühe, blutiger Hand und wackelndem Pfeil auf der Sehne. Odilon gab ihm ein Zeichen, den Bogen zu senken. Das fehlte noch, dass sein wackerer Gehilfe versehentlich einen Pfeil abschoss und vorzeitig einen Waffengang heraufbeschwor.
"Dieser Kampf war ehrlos", dröhnte es tief und grollend unter dem Eberhelm einer der Lichtgestalten. Mit der Lanze wies der Ritter auf das kleine Schlachtfeld am Opferstein. Unter der gepanzerten Hand trug er einen graubraunen Fellhandschuh, so schien es dem Gallyser zumindest.
"Ehrlos war der Kampf gewiss, aber dieser Druide hat ihn begonnen!" sagte Odilon, der breitbeinig neben dem Baum stand – und merkte, wie Blut aus seinem Ärmel tropfte, auf Wandelurs Griff und von dort die Schneide herab. "Außerdem hat unser Gegner mit Blutmagie ein Unwetter beschworen, das vermutlich schon halb Gernatsborn zerstört hat. Wir mussten ihn irgendwie aufhalten, seinen Zauberkünsten zum Trotz."
"Das wissen wir" grollte der zweite Ritter. "Der Sturm ist bis weit über die Grenze unseres Reiches gedrungen."
"Ihr seid aus Hallingen?" fragte Odilon, ein wenig erstaunt. Kein Kratzer, kein Fleck verunzierte die strahlenden Brünnen, auch die Pferde wirkten, als wären sie gerade frisch gestriegelt aus der Rossschwemme herbeigeeilt.
Sein Gegenüber steckte die Lanze in den Boden und nahm den Helm ab. Zu Odilons Erstaunen kam ein echter Eberkopf zum Vorschein, mit glatten, graubraunen Haaren, Rüssel, reinweißen Hauern, kleinen, aber klugen und hellwachen Äuglein, spitzen Ohren sowie einem stattlichen Bürstenkamm auf dem Kopf.

"Mein Name ist Fiorg, mein Waffengefährte heißt Torkwyn."
Der Nebenreiter verbeugte sich knapp, und lüpfte ebenfalls den Helm. Auch seine gepanzerten Schultern zierte das massige Haupt eines Keilers, das allerdings dunkler gefärbt war als Fiorgs Antlitz. Fast schon wirkte das Fell schwarz. Odilon hob erstaunt die Augenbrauen, dann verneigte er sich. Der Wutzenreiter bewegte seine Lippen nicht, dennoch war seine grollende, aber dennoch irgendwie wohlklingende Stimme gut zu verstehen.
"Die guten Götter Alverans zum Gruße! Mein Name ist Odilon Wildgrimm von Baernfarn, das ist Timoin... Timoin, nimm den Pfeil von der Sehne." Sein Schüler sah tatsächlich aus, als würde er sich vor Verblüffung gleich in den eigenen Stiefel schießen.
Waren die beiden Ritter überhaupt Wutzen? Sie sahen edel und vornehm aus, fast schon überderisch, und rochen auch feiner als die Wildsauen, die vor kurzem den Hang herunter gestürmt waren: Ein zarter, leicht moosiger Wildgeruch.
"Artema schickt uns. Wir müssen mit Glyrana sprechen. Über die Grube, das, was vorgefallen ist und die Zukunft des Grenzwaldes", sagte Fiorg. "Bringt uns bitte zu ihrer Burg, werter Odilon Wildgrimm von Baernfarn." Der Manneber bekräftige das Gesagte mit einem Grunzen. Nun blickte Odilon erstaunt: Artema die Wegweiserin, Heilige des Firun und nebenbei seine eigene Vorfahrin? Diese Geschöpfe kamen aus der Feenwelt, daran hegte er keinen Zweifel. Befand sich die “Elfenheilige” ebenfalls im Lande Jenseits? Eigentlich hätte er die Alveraniarin in Firuns Paradies vermutet, nicht in der Anderwelt. Allerdings lag das Reich der Feen den Gefilden der Zwölfgötter zweifelsohne näher als die Welt von Dere und Feste.
Torkwyn hatte das tote Wildschwein erspäht und schnüffelte aufgeregt.
"Wir wurden von der Rotte angegriffen!" Odilon schob demonstrativ das Schwert in die Scheide. "Auch darüber sollten wir sprechen. Ich nehme doch an, dass ihr...ihr Wutzen...eure Hände...Klauen...im Spiel hattet? Ist Burchert etwa euer Freund und Verbündeter? Geht es um das Kupferbergwerk und die Zerstörung des Wutzenwaldes? Dann hat er eurer Sache schlecht gedient."
"Der Duridya ist nicht unser Feind", sagte Fiorg ausweichend und voller würdevollem Ernst. "Wir sind keine Wutzen, die auf vier Beinen durch den Wald laufen und quieken. Unsere Ahnen wurden einst aus Wildschweinen erschaffen, aber wir selbst sind keine Morka mehr. Der wahre Name unseres Volkes ist nicht für eure Zunge geschaffen. Die Suulak nennen uns Tha´ang. Ein Wort, das sie voller Respekt aussprechen. Für die Kleinzähne sind wir Gesandte ihrer Götter." Dem Gesichtsausdruck des Ebermanns war anzumerken, dass ihm dieser Gedanken gefiel.
"Burchert hat die Suulak dort heimtückisch erstochen, um mit ihrem Blut einen Sturmzauber zu nähren." Odilon wies mit dem Kopf auf die Opferstätte. "Es gibt Hinweise, dass Dhaza im Spiel war. Diese Grube hat leider sehr viel Unfrieden und Leid gestiftet, auch in unserer Welt. Dhao acan a´dao acan."
Der Waldläufer war bewusst ins Isdira verfallen. Odilon war nicht entgangen, dass Fiorg jeweils das elfische Wort für Druide, Duridya, und für Wildschwein benutzt hatte, Morka. Offenbar waren es die beiden Eberlinge gewohnt, sich mit Spitzohren, nicht mit Menschen zu unterhalten. Fiorgs Miene hellte sich auf, insofern Odilon das Mienenspiel eines Wildschweins richtig zu deuten verstand. Aber der Baernfarn spürte, dass sie als Menschen für die "Tha´ang" ebenso merkwürdig wirkten, wie es umgekehrt der Fall war. In ihren Augen waren Timoin und er wohl nur aufrecht gehende, sprechende Moosaffen mit Waffen und Gewändern. Jedenfalls Kreaturen, die nichts mit der Welt der Feen und Elfen gemein hatten. Nun, letzteres stimmte nicht ganz, auch wenn seine geliebte Jirka ihm da sicher widersprochen hätte.
Dhaza, das Wort stand für die Macht des Namenlosen. Odilons letzter Satz - "Dein Schmerz ist auch mein Schmerz" - war ernst gemeint. Vielleicht ein wenig ironisch, wie im Elfischen üblich. Odilon deutete auf das Blut, das sich mittlerweile rund um seine Stiefel ausbreitete.
Fiorg nickte, lenkte sein Pferd neben Odilon und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ungestüme Kraft durchströmte den Leib des Waldläufers, und ein wohliges, warmes Gefühl, dass er von den Heilzaubern der Elfen her kannte. Allerdings hatte noch nie ein schwergepanzerter Ritter einen Zauber auf ihn gewirkt (da laut Veneficus Metall jede magische Macht hemmte). Nun gut, von einem aufrecht gehenden oder besser gesagt reitenden Wildschwein war er bislang auch noch nicht geheilt worden.
Odilon spürte, wie sich die Wunde schloss, und blickte den "Tha´ang" dankbar an. "Nurd´dhao!"
"Bedanke dich nicht. Als der Weise des Waldes ein Tor in unsere Welt gerissen hat, ist sehr viel Mandra hinaus geflossen. Es ist gut, auch diesen Fluss wieder in geordnete Bahnen zu lenken." Fiorg sprach ebenfalls Elfisch. Odilon war sich keinesfalls sicher, ob er den Sinn der Worte verstand, die wie gewohnt mehrdeutig waren. Stöhnend rappelte sich Burchert auf, und hielt sich taumelnd den Kopf. "Was...was in Sumus Namen...!" Torkwyn berührte den Graubärtigen beiläufig mit seiner Lanze. Der Druide erstarrte mitten in der Bewegung, mit weit aufgerissenen Augen, und regte sich nicht mehr.
"Zur Zeit des alten Bundes haben wir allein jeden Frevel im Schatten des Waldes bestraft ", sagte Fiorg. "Falls Glyrana das Bündnis erneuert, werden wir über den Duridya Gericht halten. Führe uns nun zur Herrin dieses Landes."
Odilon blickte auf die Statue des Druiden, der ihn entsetzt anstarrte. Irgendetwas sagte den Waldläufer, dass der Blutzauberer seine Umgebung noch wahrnahm. Timoin wusste nicht, wohin er noch schauen sollte.
"Ich kann euch gerne zur Burg führen. Aber ich muss euch warnen. Es ist noch ein ganzes Stück bis nach Gernatsborn. Anders als ihr waren wir zu Fuß unterwegs."
Fiorg griff nach einem elfenbeinernen Horn, das ebenfalls an seinem Sattel hing, und blies hinein. Der mächtige Ruf des Horns drang durch den Wald. Krähen flatterten erschrocken auf. Im nächsten Moment war ein Wiehern zu hören. Eine Stute eilte wie aus dem Nichts herbei, deren Fell und Mähne weißer leuchteten als der Schnee, der unter ihren goldenen Hufen zerstob. Verwirrt blieb das herrliche Tier stehen. Hätte seine Stirn ein güldenes Horn geziert, wäre es von einem Einhorn kaum mehr zu unterscheiden gewesen. Das Zaumzeug und der Sattel waren ähnlich verziert wie die Rüstungen der Manneber.
Fiorg zog seine Lanze aus dem Boden und deutete erst auf Odilon, dann die Stute. Der Waldläufer nickte, griff nach dem Zügel und beruhigte das Tier mit einigen Worten auf Isdira. Die aufgestellten Ohren zeigten, dass auch diesem Geschöpf der Klang der Elfensprache vertraut war. Odilon schwang sich in den Sattel und lenkte das Tier einige Schritt im Kreis. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine Lippen. Seit Kutaki hatte er sich auf dem Rücken eines Pferdes nicht mehr so sicher, ja vertraut gefühlt, als wären diese Stute und er schon gemeinsam in hundert Schlachten und Abenteuer  geritten.
"Eines noch. Ihr solltet Eure Helme tragen, wenn wir nach Gernatsborn reiten. Nicht jeder auf dieser Seite ist einen derart extravaganten Anblick gewohnt. Zur Burg geht es in diese Richtung..."
Die Feenritter verbargen ihre Wildschweinhäupter. Dann entrollten sie die Fähnchen ihrer Lanzen, die einen goldenen Baum auf grünem Grund zeigten.
Der Schwarze Bär lenkte das Pferd an die Spitze ihrer merkwürdigen Gemeinschaft.
"Und ich, Odilon?" Das kam von Timoin.
"Schwing dich hinten in den Sattel."
Sein Schüler tat, wie ihm geheißen worden war. Odilon suchte einen Weg die Anhöhe hinab. Es klarte immer mehr auf, der Schnee begann bereits zu schmelzen. Zu dem verrückten Wetter des heutigen Tages gesellten sich nun auch noch einzelne Nebelschwaden. Es wurde wieder warm, das Wetterchaos verwandelte sich in einen lauen Sommerabend, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Die ersten Vögel begannen wieder zaghaft zu zwitschern. Nach einer kurzen Strecke war es für die Reiter möglich, bis hinüber nach Gernatsborn blicken. Rund um das Dorf lagen immer noch einzelne Schneereste. Ein gewaltiger Erdrutsch war durch den Wald gewalzt und hatte sich in die Grube geschoben, die jetzt Teil einer großen, trüben Gernatbucht war. Auch die andere Seite des Flusses war überflutet worden und hatte sich in einen sumpfigen Auenwald verwandelt. Der Weg zur Burg schien völlig überflutet zu sein.
Über allem leuchtete ein prachtvoller Regenbogen, in den bunten Farben der Tsa.

Odilon, mit Timoin hinter ihm im Sattel, führte die seltsame Schar an. Die beiden Feenritter, die ihm folgten - mit dem erstarrten Gefangenen im Schlepptau, den sie auf ein weiteres Elfenpony gebunden hatten, sie wirkten auf ihn, seltsam, gleichermaßen vertraut und doch fremd. Er vermochte es nicht in Worte zu fassen. Sie wirkten, als würden sie einfach zum Wutzenwald gehören, als wären sie schon immer da gewesen, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte. Es war… ohnehin ein ganz besonderes, eigenartiges Gefühl, durch den Wutzenwald zu reiten. Der Wald war, nun, eben nicht nur ein Wald. Ebenso wie der Silberbuchenwald oder auch der Silvanden Fae - beides Wälder im fernen Norden, die Odilon von früheren Fahrten kannte - lebte der Wald. Nicht nur die Bäume, die Tiere, nein, auch der Wald selbst schien eine Seele zu haben.
Oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Die Ereignisse des Tages waren wirklich schwer in Worte zu fassen. Eigentlich müsste er doch Angst verspüren, oder zumindest Sorge. Ein übermächtiger, das Wetter beherrschender Druide, Feenritter, die wie aus einer anderen Welt zu stammen schienen, und er empfand das als… völlig normal! Das war, was Odilon fast am meisten überraschte. Obwohl alles so anders war, so ungewohnt und mindestens bis vor vielleicht einer Stunde auch so bedrohlich, so fühlte er sich… seltsam… so, als wäre er heimgekehrt, als würde Jirka am gemeinsamen Lagerfeuer auf ihn mit einem Tee aus Waldkräutern und einem gebratenen Rotpüschel mit Preiselbeermarinade warten. So, als wäre er nach einer langen Reise durch die Wildnis nach Hause zurückgekehrt.
Aber er hatte zwei Feenritter zur Begleitung, nicht seine Gemahlin. Der alte Waldläufer war verwirrt… Mit einem Mal wusste er, an wen dieser Fiorg ihn erinnerte. Die Stimme glich der Rallions, dem Ältesten der Sippe, bei der er Jirka getroffen hatte. Damals, vor über vier Jahrzehnten, im Silberbuchenwald. Eine Stimme, die er nie vergessen hatte.
Der alte Waldläufer gab dem Pferd die Zügel frei, vertraute einfach dem Instinkt des Tieres. Er vermochte nicht zu sagen, wieso. Aber es schien ihm einfach das richtige zu sein. Es war die gleiche Zuversicht, die ihn durchströmte, wie damals, als er durch die schneebedeckte nivesische Tundra auf den Kvill zugewanderte, mit nichts als der Neugier, den sagenhaften Silberbuchenwald selbst zu erleben.
Der Wutzenwald.
Warum war ihm das früher nicht aufgefallen, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen beiden Wäldern waren. Wälder, in denen man sich gleichzeitig verloren und geborgen fühlte. Wälder, die ihren eigenen Willen zu haben schienen. Wälder, die man nicht einfach durchwanderte und deren Gefahren sich nicht auf das Verirren oder die Begegnung mit Wilden Tieren beschränkten.
Ein Gefühl, das er im Schratenwald oder im Rammholz nie gehabt hatte, in seiner Gallyser Zeit.
Odilon musste sich zwingen, sich zu konzentrieren, sich nicht einfach treiben zu lassen. Er hatte versprochen, die beiden Elfenritter zur Herrin des Landes zu bringen. Und zu Glyrana. Das hatten die beiden verlangt, auch wenn Odilon nicht wusste, ob sie damit nur Glyrana oder auch Haldana gemeint hatten. Vielleicht war es den Eberbiestingern auch egal, welches Rosenohr die alten Absprachen verlängerte, solange sie nur eingehalten wurden.
Warum dachte er jetzt über die Menschen als Rosenohren? Einen Augenblick lang hatte er sich fast selbst mehr als Elf denn als Mensch gefühlt. Ob das an all den Jahren mit Jirka lag? Oder erlag er gerade selbst  der Mystik des Wutzenwaldes. Irgendwie driftete Odilon mit seinen Gedanken immer wieder ab.
Ein lauer Praioswind schmolz die letzten Reste des Schnees ab. An einer Hangkante über dem Gernat hielt Odilon an, blickte über das Gernatstal, das sich vor ihm erstreckte.
Noch immer stand der Fluss deutlich über seinem regulären Ufer, aber ein Blick auf die Wiesen firunwärts des Gernat und den Hang auf der diesseitigen Flussseite verriet, dass der Pegelstand schon wieder sank. Schlimmer als das Wasser schien aber der Matsch sein, der sich überall hin erstreckte, wo sie Flut vorgedrungen war. Die Pfade und Wege waren unter Schlamm, Geröll, mitgerissenem Gehölz versunken. Es mochte ein glücklicher Umstand sein, dass das Gasthaus Gernats Rast nicht mit dem Element Efferds mitgerissen war. Es würde dennoch Tage, eher Wochen, dauern, Schutt und Schlamm abgetragen und die Schäden am Gemäuer zu reparieren. Odilon mochte sich gar nicht vorstellen, was das für die Ernte ausmachen. Aber mindestens auf den ufernahen Feldern dürfte die Arbeit des ganzen Jahres vernichtet sein.
Odilon hatte die Schar nicht direkt zur Burg geführt, auch wenn das Gemäuer schon in Sichtweite war. Nur noch ein kurzer Ritt hangabwärts wäre es bis zum Burgtor - der Weg dahin schien gangbar zu sein, trotz des Matsches, der herumliegenden Äste und der umgestürzten Bäume, derer vier den Weg herab behinderten.
“A´dahr Rhiana”
Fiorg hielt sein Ross mit einem kurzen Kommando an, zeitgleich als auch Odilon meinte, dass hier der richtige Ort war. Hinter ihnen ragten Felsen auf, und wiederum dahinter das undurchdringliche dunkle Grün des Waldes. Von hier oben war der Blick auf den Fluss und die Burg wirklich beeindruckend.
Nur dass der Fluss im Augenblick eher die Ausmaße eines Sees hatte.
“Ich denke, hier sind wir richtig” sagte Torkwyn.
Helle Stimmen waren unweit von ihnen im Wald zu hören.
“Ein würdiger Ort, fürwahr,” stimmte Fiorg zu.
Odilon nickte, auch wenn er nicht so recht wusste, wieso. Aber der Ort schien tatsächlich passend zu sein. Wofür nur? Nun, immerhin die Aussicht war majestätisch.
“Es ist nur noch den Abhang herunter, gleich sind wir auf der Burg” hörte Odilon Glyranas Stimme. Gleich darauf trat die Edle, gefolgt von Haldana und Alboran - ganz unschicklich Hand in Hand gehend - aus dem Dickicht des Waldes hervor.
“Es ist wirklich ein würdiger Ort” hörte die Baronin die Vertraute Stimme der alten norbardischen Seherin wieder. “Er war es damals, und er ist es jetzt. Sieh, Haldana. Dort drüben, die Furt, dort hat die Jägerin Artema ihre Schar aus dem Norden über den Fluss geführt vor dreizehn Jahrhunderten. Hier hielt sie Rat, hier wurde das Bündnis geschlossen. Es ist der einzig würdige Ort.”
“Du sagst es, Nasdja” antwortete Fiorg. Hier hat es angefangen. Schon lange bevor Artema ihre Schar hier über den Gernat führte zwar, aber es ist richtig, was du sagst.
Alboran, Glyrana und Haldana waren überrascht. Alboran und Glyrana, weil sie nicht verstanden, mit welcher Nasdja der seltsame Ritter sprach, und Haldana, weil sie sich nicht erklären konnte, warum auch der Fremde Nasdja hören konnte. Bislang hatte nur sie allein Nasdja hören können. Und sie fragte sich, wofür das hier ein würdiger Ort sein sollte.
Der Ring, ihr Verlobungsring. Er leuchtete in einem kräftigen Grün. Hatte das etwas mit der Anwesenheit Odilons und seiner seltsamen Begleiter zu tun? Haldana wusste es nicht. So ganz klar war ihr nicht, was es mit der Bewandtnis ihres Verlobungsringes auf sich hatte.
“Nurd`dhao, Nasdja. Ad gudam aria tha andarja i mada.”
“Ich grüße dich, Nasdja, schön, dass du die Herrinnen des Landes zu uns führst.” Odilon verstand, was Fiorg aus Isdira sagte und übersetzte es, nur auf die Bedeutung des Wortes oder Namens Nasdja konnte er sich keinen Reim machen.
Haldana straffte sich, ließ Alborans Hand los. Das schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Turteln zu sein.
“Ich grüße auch Euch, fremde Ritter. Ihr scheint zu wissen, wer wir sind? Glyrana, die Edle zu Gernatsborn, mein Verlobter, der Junker Alboran von Friedwang sowie ich, Haldana von Binsböckel?” Haldana bemühte sich, trotz ihres zerzausten und schmutzigen Aussehens, etwas Würde auszustrahlen. Sie war überrascht, dass offenbar Nasdja sie hierher geführt haben sollte, hatte ihre Urahnin doch nichts zu ihr gesagt, dass hier jemand auf sie warten würde. Aber zugleich wusste sie, dass der Wutzenwald auf andere Weise, nun, funktionierte. Es würde seine Richtigkeit haben. Haldana wusste nicht so viel über den Wutzenwald, wie sie als Baronin wohl wissen musste, schwante ihr. Aber sie vertraute Nasdja, und wenn diese Fremden sie kannten und wahrnehmen, dann schienen sie vertrauenswürdig zu sein. “Da meine Ahnin dieses Treffen offenbar anberaumt hat, willkommen in Schlotz. Darf ich fragen, mit wem wir die Ehre zu sprechen haben?”
Glyrana war ein wenig verwirrt. Sie verstand nicht alles, aber auch sie wusste genug über den Wutzenwald um zu wissen, dass man niemals alles über den Wald wissen konnte, und dass man mit den Geheimnissen und Verwirrungen einfach leben musste.
Fiorg nickte. “Wir kennen Dich, Herrin des Schlotzes. Und auch Dich, Herrin der Gernatsbeuge. Dich kennen wir nicht, Herr von Firuthawagan, aber ich bin sicher, wir werden uns noch kennen lernen. Wir sind Fiorg und Torkwyn, Ritter der Hüterin des Waldes.”
Haldana wusste nicht, wen die beiden als Hüterin des Waldes bezeichneten, aber sie war sicher dass sie das noch erfahren würde.
“Aber...warum…” begann Haldana, beendete ihre Frage aber nicht. Zu sehr war sie noch verwirrt von den schwer fassbaren Ereignissen.
“Warum..” antwortete Odilon. “Warum der Druide das gemacht hat?” Odilon wies auf den erstarrten Gefangenen, der noch immer mit Seilen aus lebendig-grün wirkenden Seilen gebunden war. Seile? Konnte man die beblätterten und mit weißen Blüten gezierten Stränge so nennen? Er kannte ähnliches von Jirkas Elfenmagie, dass Pflanzen in ihrem Wachstum beeinflusst wurden. Aber dass Pflanzen, die nicht mehr in der Erde wurzelten, noch lebten und sich dem Zauber der Feeischen fügten, das hatte er auch noch nicht erlebt. Doch Odilon konzentrierte sich auf das, was er berichten konnte. Wie sollten die junge Baronin und die Edle von Gernatsborn sonst sich einen Reim auf all das machen können. “Nun, er war fehlgeleitet vom Wirken des Dhaza, des Nicht zu Nennenden. Aber zugleich scheint er auf eher radikale und kompromisslose Art den Alten anzuhängen. Das Kupferbergwerk, das war sein Ziel. Er sah es als Sumufrevel an, und strebte danach, es zu zerstören. Mit fragwürdigen Methoden, nein, mit Methoden, die nicht duldbar und nicht entschuldbar sind. Blutmagie ist ein nicht minderer Frevel gegen Sumu.”
Haldanas Blick fiel auf die Ritter, die die Gesandten der Hüterin des Waldes zu sein behaupteten. Die beiden seltsamen Ritter sahen sich an. Dann nahmen beide ihre Helme ab. Glyrana, Alboran und Haldana blieb der Mund offen stehen. Tatsächlich, sie waren schon überrascht über die Ankunft zweier Ritter gewesen. Dass diese sich nun als Eberbiestinger - konnte man sie so bezeichnen? - entpuppten, nun… aber vermutlich musste man an einem solchen Tag mit allem rechnen.
Glyranas Blick fiel von den seltsamen Rittern auf den erstarrten und gefangenen Mann, der der Urheber des Unwetters gewesen sein sollte. Ein fragender Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. Ohnehin war das alles eigentlich zu viel für einen einzigen Tag. Glyrana machte sich Sorgen um ihre Familie und um die Menschen auf dem Gernatsborn. Der Blick hinunter zum Fluss zuvor hatte nicht gutes verhießen, und wo gestern noch die Kupfermine war, erstreckte sich heute eine einzige braungraue Matschmasse. Das war schon schlimme genug, aber sie wusste nicht, wie es im Rest ihres Lehens aussah, ob auf der Burg alles in Ordnung war.. Und jetzt war sie hier. Mit Haldana, ihrer werdenden Lehensherrin, die für sie in der kurzen Zeit, die sie sich gesehen hatten, sehr vertraut geworden war. Mit dem künftigen Baron des Landes, und jetzt mit zwei… nun, sie war ja schon einmal bei den Wutzen gewesen, vielleicht blieb sie deshalb vergleichsweise ruhig. Anders als Alboran, dessen Augen unruhig flackerten und der sich schutzsuchend Haldanas Nähe suchte.
“Gut, ihr habt uns offenbar gesucht und gefunden. Die Herrin Tsa zum Gruß - dieser Tag scheint mir besonders geeignet, den Segen der jungen Göttin zu erbeten. Ich freue mich sehr, Euch auf meinem Land, hier in Gernatsborn, begrüßen zu dürfen. Vielleicht habt ihr die Freundlichkeit, ein wenig zu erklären, was das hier alles zu bedeuten hat.” Ihr Blick wies auf den gefangenen Druiden.
“Nurd´dhao Tsa´ha, ero Odilon hva ruja jama” antwortete Fiorg.
“Er meint, ich solle das erklären” fasste Odilon den Ausspruch des Feenritters zusammen. “Zwar sprechen beide unsere Sprache, scheinen sich sonst jedoch des Isdira, des Elfischen, zu befleißigen. Nun.. ja… dieser Gefangene. Das ist Burchert vom Born. So nennt er sich jedenfalls. Ein Druide. Derjenige, der durch ein unheiliges Ritual und durch Blutmagie dieses Unwetter herauf beschworen hat. Timoin und ich haben ihn gefangen genommen. Doch Fiorg und Torkwyn beanspruchen das Recht, dass sie über ihn zu richten haben.”
“Dha Judra hva A´thra Wa´neja” unterbrach Torkwyn.
“Ich muss mich verbessern. Die Hüterin des Waldes wird über ihn richten.” korrigierte sich Odilon.
“Soso… dieser Gefangene ist also der Urheber dieser Katastrophe. Immerhin gut zu wissen, dass der Übeltäter geschnappt ist. Dass ich jemanden als Richter eingestellt habe, ist mir jedoch neu.”
Haldana wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Aber sie wusste, dass ihre Mutter die Gerichtsbarkeit in Schlotz immer selbst ausgeübt hatte, und dass sie das nicht gutheißen würde, sich ihre Privilegien und Pflichten abnehmen zu lassen. Immerhin stand hier die Halsgerichtsbarkeit zur Frage. Sie wusste ja noch gar nicht, ob dieses Unwetter Todesopfer gefordert hatte - mindestens jedoch waren die Schäden enorm. Haldana war kein Kind mehr, war nicht mehr eine reisende Bardin wie noch im vergangenen Jahr. Die junge Baronin fühlte sich mit der Situation überfordert, aber sie wusste, dass sie die Verantwortung nicht schleifen lassen durfte.
“Hochgeboren, ja.” bestätigte Odilon, der gut einschätzen konnte, was in Haldana vorging. Die junge Baronin war, nun, eben, ein junges Mädchen. Der alte Waldläufer konnte gut nachfühlen, wie sie sich überfordert vorkommen musste. Ihr fehlte sowohl die Erfahrung als auch schlicht die Macht, sich durchzusetzen und musste das doch. “Gestattet mir, als Übersetzer hilfreich zu sein. Und gestattet mir zu erläutern, soweit ich kann. Ich weiß selbst nicht genau, was die Feenritter wollen. Aber eines weiß ich, was immer wieder, im Norden, zu Missverständnissen zwischen Elfen und Menschen geführt hat, und ich schätze, das kann hier ähnlich sein. Ihr wisst wohl, dass die Lebensspanne der Elfen die der Menschen um ein Vielfaches übersteigt. Und so kam es oft zu Streitigkeiten, weil die Elfen auf die Gültigkeit von Absprachen bestanden, die die Kinder und Enkel derjenigen Menschen, die die Absprachen einst vereinbart hatten, schon gar nicht mehr kannten. In Gerasim, Donnerbach, Uhdenberg und anderen Städten in der Grenzregion zu den Elfenlanden kennt man das Problem. Nun, auch für die Feeischen - und dazu würde ich die beiden zählen - läuft Satinav anders als für uns. Ich würde meinen, dass es wohl alte Absprachen zwischen denen, die der Wutzenwald beherbergt und einem oder mehreren Eurer Vorgänger auf dem Schlotz gab, von denen ihr vielleicht nicht wisst oder noch nicht einmal wissen könnt.”
Haldana nickte. Sie konnte sich vorstellen, nach allem was sie gehört hatte, dass ihr Vater Tsafried schon nicht alles gewusst hatte, als er sein Amt auf geheiß des Kaisers übernommen hatte. Und da er gestorben war, als sie noch ein Kind war, wie hätte er da alles weiter geben können?
“Ebenfalls” erläuterte Odilon weiter, “scheint es auch Dinge zu geben, die die Kupfermine und den Gernatsborn betreffen. Daher baten die Elfenritter vor allem auch um ein Gespräch mit Euch, Wohlgeboren Glyrana.”
Die Angesprochene fasste sich schnell und nickte. “Mit der ehemaligen Kupfermine, wolltet Ihr vermutlich sagen. Viel davon scheint gegenwärtig nicht mehr übrig zu sein.”
Glyrana blickte in Richtung der Bucht, die an Stelle der Mine entstanden war. Überall im Hangwald waren die Bäume zerzaust, umgestürzt oder zersplittert. Hier und dort ragten noch Häuserreste und einzelne Trümmer aus dem Wasser. Die Szenerie sah aus, wie sich die Mersingen die geheimnisumwitterte Havener Unterstadt vorstellte. Der Schaden an ihrem Lehensgut war sicher enorm. Zum Glück besaß das Gernatsborner Haus der Mersingen noch weitere Einkünfte, zwischen Meidenstein und Friedwang. Immerhin, das eigentliche Dorf Gernatsborn schien weniger stark beschädigt und der frisch geweihte Schrein der jungen Göttin völlig intakt zu sein, ebenso wie der Hain. Auch die Burg selbst ragte unversehrt auf, abgesehen von größeren Schneeresten auf dem Kupferdach. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, seit dem gestrigen Festbankett. Wenn nur Storko und den Kindern nichts geschehen war...Die Adelige murmelte ein Gebet.
"Sag ihr, sie kann unbesorgt sein", wisperte Nasdjas Stimme in Haldanas Kopf. "Am heutigen Tag war Heshinjas Schwester Tsa mit Euch. Dieser Sturm hat keine Menschenleben gefordert, denn ihre Seelen würde ich sehen, auf ihrem Weg über das Nirgendmeer. Ihr habt den heiligen Ort gerade noch zur rechten Zeit geweiht. Die Große wünscht sich ebenfalls einen Bund mit der anderen Welt, damit sich der heutige Tage nie mehr wiederholen wird. Das kann ich deutlich spüren."
Die Zibilja verstummte. "Ich sehe sie gerade, diese andere Welt..."
Die junge Binsböckel erschauerte. Ihre Ahnin hörte sich glücklich an, aber in ihrer Flüsterstimme schwang noch etwas anderes mit, ein zwiespältiges Gefühl. Etwas von Melancholie, Ergriffenheit und Sehnsucht. Nasdja sah etwas, was größer und schöner war als die Welt eines sterblichen Menschen und ihr doch näher lag als die entrückten Paradiese der Zwölfgötter.
"Was siehst du?" flüsterte die Baronin, ohne auf die irritierten Blicke ihrer Begleiter aus Fleisch und Blut zu achten.
"Blütenblätter, die im Frühlingswind wehen, über eine Blumenwiese voll goldenem Licht. Da ist ein einzelner, großer Baum. Davor steht sie, die Herrin des Waldes. Sie spricht zu mir, aber ich verstehe sie nicht...Ich glaube, sie möchte, dass ich in ihr Reich komme, auf dass dort meine eigene Seele für immer Frieden finden möge."
Einen Moment lang schwieg die Zibilja. Der Gedanke an das Hinübergleiten schien etwas Verlockendes zu haben. "Nein, meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich werde noch gebraucht. Vielleicht nicht mehr in eurer Welt. Aber doch als Botin zwischen den Welten, die einander nicht verstehen." Die Stimme der Norbardin klang wieder fest.
Auch auf Dere und Feste breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus. Abendlicht flutete die Landschaft, ließ den stark angewachsenen Gernat glitzern, der nun eher an den Darpat erinnerte. Die Wutzenritter standen am Felsen, überderische Wesen, die einem Märchen oder Bardengesang entsprungen zu sein schien. Praios stand bereits tief am westlichen Horizont.
Alboran blickte abwechselnd auf den grün schimmernden Ring, den er vor kurzem an die Hand an seiner Verlobten gesteckt hatte, und auf die beiden glattfelligen Manneber in ihren fein ziselierten, glänzenden Rüstungen. "Wer ist eigentlich dieser Herr von Firuthewagan?" fragte er unbestimmt in die Runde. "Hat das etwas mit unseren Herrn Firun zu tun?"
"Das bist du", sagte Odilon, der gerade über seinen Rücken tastete, nach dem Schnitt in seinem Lederkoller – und merkte, dass er ein neues Jagdgewand benötigen würde. "In ihrer Sprache nennen sie so Friedwang."
"Hat Fried und Wang nicht irgendwas mit dem altehrwürdigen Weidefrieden zu tun, rund um Burg Friedstein?"
Der Waldläufer unterhielt sich leise mit Fjorg.
"Nun, unser Besucher sagt, dass ihre elfischen Freunde den Schratenwald Firgahert´Wartan nennen. Davon leite sich das Wort her. Ich glaube, dass bedeutet so viel wie Zauberwald des Winterweißen Hirschen. Loskarän, der Heilige Hirsch des Firun, soll ja aus der Anderwelt stammen."
Alboran schaute Odilon groß an. Bislang waren dem Junker die Geschichten von Feen und Kobolden immer wie kindische Ammengeschichten vorgekommen. Mit denen man vielleicht noch den kleinen Ravenhart beeindrucken konnte. So langsam ahnte er, dass weit mehr dahinter stecken musste. Der lebende Beweis stand ja gerade vor ihm, vorausgesetzt, dass er nicht träumte. Kopfschüttelnd musterte er die beiden Feenritter, die wiederum von der sie umgebenden Landschaft fasziniert zu sein schienen. Mit zarten Grunzen sogen sie die Luft in sich ein. Langsam kam Nebel auf. Der Wald begann zu dampfen und zu rauchen. Eine der beiden Wutzen wühlte in der Erde, beschnupperte sie ausgiebig. Sie schienen glücklich zu sein, auf Dere und Feste weilen zu dürfen. Eine Welt, die sich näher an Sumu befand als das "Land Jenseits" . Zumindest nach Alborans bescheidenem sphärologischem Verständnis, das er der Unterweisung in Götterkunde verdankte. Schon die Sterne, die nach und nach über dem Nebelmeer zu blinken begannen, waren für ihn ein Rätsel. Sumus Griff, die Kraft der Schwere, entsteht in des Kosmos zweiter Sphäre. Der Merksatz schwirrte ihm durch den Kopf. Dere und Feste befand sich in der Dritten Sphäre, auch das wusste er gerade noch. Die Götter residierten in der vierten Sphäre, oder waren das die Gefilde der Geister? Da sollte sich jemand auskennen. Die Feenwelten schwebten irgendwo da draußen herum, als eine Art buntschillernde Seifenblasen im grauen Wabern des Limbus. Zumindest stellte er sie sich so vor: Flüchtig, unbeständig, flatterhaft. Praiosungefällig.
Für erdverbundene Wildschweinwesen mochte Aventurien eine überaus sinnliche Erfahrung sein. Ähnlich wie die bäurischen Sokramorier von der entrückten, zauberhaften, flüchtigen, unstofflichen Lichtwelt träumten. Nun, er ganz sicher nicht, bei seinem Heiligen Namenspatron! Alboran tastete nach dem Sonnenamulett um seinen Hals. Es fühlte sich in diesem Augenblick kühl an, wie schnödes Metall, nicht wie ein geweihtes Schutzzeichen. Zu welchen Göttern diese Kreaturen wohl beteten? Oder sahen sie sich selbst schon als Gottheiten? Dann wären sie kaum besser als Dämonen, die versuchten, Menschen mit irgendwelchen Einflüsterungen in ihren Bann zu ziehen. Würde es Sinn machen, sie zum Glauben an die Wahren Zwölfe zu bekehren? Alboran wollte das Gespräch bereits in diese Richtung lenken und hob das Amulett. Aber seine Verlobte kam ihm mit einem Räuspern zuvor.
"Nun gut, reden wir über die Probleme zwischen unseren...verschiedenen...Lagern....Standpunkten..." Haldana versuchte die strenge, gefasste Landesherrin herauszukehren. Etwas in Odilons Blick war ihr nicht entgangen, eine Art von Zweifel, ob sie dieser unvorhergesehenen "Feuertaufe" wirklich schon gewachsen war. Nun, Haldana hätte es nie für möglich gehalte, dass sie ihre ersten Verhandlungen als Schlotzer Baronin mit zwei aufrecht gehenden Wildschweinen in Ritterrüstungen würde führen müssen. Ausgerechnet. Aber immer der Reihe nach. Nasdja hatte ihr gesagt, dass kein Gernatsborner dem Wüten der Elemente zum Opfer gefallen war, den guten Göttern Alverans sei Dank. Auch wenn das wahrlich an ein Wunder der Tsa grenzte. Immerhin, dieses "Wunder" konnte man schon mal als mildernde Umstände für den (oder die?) Verursacher werten.
Nichtsdestotrotz war durch den widernatürlichen Sturm Schlotzer Gebiet geschädigt worden. Die Vorwürfe gegen den Druiden wogen so oder so schwer, von extremer Schadenszauberei bis hin zu frevlerischer Blutmagie.
Die Blutsgerichtsbarkeit oblag seit der Ochsenbluter Urkunde den Baronen des Reiches, somit ihr selbst. Die junge Adelige verzog den Mund. Blut, Blut, Blut, irgendwie schien sich gerade alles um Blut zu drehen. Tsa war eine milde Göttin, die das Töten von Lebewesen verabscheute. Womöglich war es ganz gut, wenn dieser....Burchert auf der anderen Seite des Nebels verschwinden würde. Am besten für immer. Halb fasziniert, halb mit Abscheu musterte sie den graubärtigen, kahlschädeligen Mann, der mitten in der Bewegung erstarrt war. Im Havener Wachsfigurenkabinett hätte er sicher eine gute Figur abgegeben, als sinistrer Hexenmeister aus dem Schlotzer Wutzenwald. Täuschte sie sich, oder funkelten Burcherts dunkle Augen böse? Die Glatze verunzierte eine Beule, außerdem eine üble Platzwunde, deren Blutung gerade zur rechten Zeit gestillt worden war. Haldana tastete über den erstarrten Bart und die in die Luft greifende Hand – Körperteile, die zu einer Holzstatue hätten gehören können. Wenn da nicht noch Wärme in diesem Körper gesteckt hätte. Die Restwärme von Blut, das wohl auch in den Adern des Zauberers erstarrt war.
Haldana fürchtete sich, wobei sie nicht recht hätten sagen können, wovor genau. Schauderte ihr beim Gedanken, dass dieser Sokramorier zweibeinige Opfer dargebracht hatte? Oder dass sie womöglich bald selbst ein Todesurteil würde fällen müssen? War es feige, sich vor der Halsgerichtsbarkeit zu drücken? Vor ihren Aufgaben und Pflichten als Baronin, nach mehr oder weniger sorglosen Jahren? Gewiss, sie hatte schon getötet, im Zweikampf. Aber da war es um ihr eigenes Leben gegangen. Einen wehrlosen Gefangenen zum Scheiterhaufen oder Galgen schleppen zu lassen, war etwas völlig anderes. Sollte so ihre Herrschaft über Schlotz beginnen, oder der Traviabund mit Alboran?
"Zu was ratet Ihr mir, Odilon?" fragte die Herrin von Schlotz, und wunderte sich über sich selbst. Ihre Stimme hatte überraschend fest geklungen, fast schon barönlich. "Streng genommen ist dieser Mann ja Euer Gefangener".
"Zuviel der Ehre. Timoin war mir dabei schon eine große Hilfe."
Odilon nickte seinem Scholaren zu, der gerade entzückt lächelnd das Zauberpferd hielt. Sicher war dem Jungen dessen überderische Herkunft nicht bewusst, sonst hätte er das reinweiße Fell nicht derart sorglos gestreichelt. Was für ein wunderbares Tier. Soweit Odilon wusste, würde es bald schon wieder auf seine immergrüne Weide zurückkehren. Der Schwarze Bär vermisste Kutaki, der vor vielen Jahren beiläufig von einem Bannstrahler abgestochen worden war, am Beginn ihrer Queste nach Maraskan. Das Elfenross war nur eine liebliche Illusion. Eine schöne, allzu schöne Erinnerung an längst verwehte Tage. Es half alles nichts, er musste sich dem Hier und Jetzt stellen.
Der alte Baernfarn wandte sich der Binsböckel zu.
"Es hätte leicht anders ausgehen können, mit dem Druiden und seinem verhexten Dolch. Wenn Ihr ihn zum Schlotz schaffen wollt, solltet Ihr an Eisen nicht geizen. Dennoch...Burcherts Überwältigung war ein wenig zu leicht, für meinen Geschmack. Blutmagie ist abscheulich, aber... Ich sehe die Gefahr, einen Märtyrer zu erschaffen, wenn Ihr ihn aburteilt. Dieser Burchert war felsenfest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Jedenfalls nichts Böses. Ja, er wollte uns sogar auf seine Seite ziehen. Weil er uns ebenfalls für Verbündete der Alten Kulte hält. Sicher würde er diese Meinung auch in einem Gerichtsverfahren vertreten. Ich fürchte, dass Burchert damit bei vielen Schlotzern auf Verständnis stoßen würde, und auch sonst auf offene Ohren. Drei tote Goblins werden hierzulande nicht allzu viel Mitleid erwecken. Auch wenn der Codex Albyricus da eine klare Sprache spricht. Wer vernunftbegabte Zweibeiner für magische Zwecke opfert, ist so gut wie vogelfrei, sofern er keiner Magiergilde angehört. In diesem Fall würde ein Magus von den eigenen Gildenkollegen mit dem Feuertod bestraft werden."
"Die Sokramorier würden wahrscheinlich schon protestieren, wenn wir Holz für einen Galgen oder Scheiterhaufen schlagen würden." Haldana versuchte ein sarkastisches Lächeln. "Aber wir müssen herausfinden, welche Hintermänner und Helfer er gehabt hat. Vor allem, was er mit diesem Attentat auf Glyrana zu tun hatte. Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar, handelt es sich bei dem Zauberer ebenfalls um einen gefährlichen Anhänger des Namenlosen..."
"Verhören würde ich ihn auch gerne. Aber dass er mit dem verfluchten Dreizehnten unter einer Decke steckt, das glaube ich nicht. Verblendet, ja, so könnte man Burchert bezeichnen. Ich vermute, dass ihn ein Seelensammler in die Irre geführt hat, in Gestalt eines schwarzen Eichhörnchens. Wir hatten ein paar Mal mit diesen Tierdämonen zu tun. Mal sind sie in Gestalt eines Rattenkönigs aufgetaucht, mal als Piratenpapagei… Shruufschnabel, ich kann ich mich noch gut an ihn erinnern...die Pest holt den Rest..." Odilon lächelte gequält.
"Seelensammler?"
"Daimonide Kreaturen. Vermutlich wurden sie von Merwan dem Schrecklichen erschaffen oder herbeigerufen, dem Vampirmagier. Ein Kind der Finsternis, das in der Wildermarkzeit die Baronie Friedwang geknechtet und ausgesaugt hat. Eine eigene Geschichte. Es gibt die Vermutung, dass sie Menschen die Seele stehlen, im Augenblick des Todes..."
"So könnten Burcherts Übeltaten auch auf...dämonische Einflüsterungen zurückgegangen sein?"
Odilon nickte anerkennend. Haldana lernte schnell.
"Nun, ich möchte es zumindest nicht ausschließen. Auch wenn manche Menschen sicher empfänglicher für finstere Versuchungen sind als andere. Wer mit dem Dämonensultan speist, braucht einen langen Löffel, beim Heiligen Alwin!"
Haldana dachte mit Grausen an ihre Begegnungen mit Golo, dem Schiefhals. Es war nicht nur die Last des Richteramts, das sie drückte. Eine Richterin, die regelmäßig von einem Diener des Namenlosen, in Gestalt eines "Nachtmahrs" heimgesucht wurde, andere Geister sah und Zwiegespräche mit einer Urahnin führte - wie praiosgefällig konnte deren Urteil sein? Mehr noch, die Befragung des Schwarzdruiden fiel womöglich in die Zuständigkeit der Heiligen Inquisition. Die Rotpelze hatten vor ihrem Ableben einen Praioten attackiert, der dort unten auf der Burg weilte. Der Stein, den sie mit Burcherts Anklage ins Wasser warf, würde schnell Kreise ziehen. Vielleicht sogar Wellen bis nach Rommilys schlagen. Anselm Horninger, der Inquisitionsrat der Mark, galt als harter Hund, selbst für die Verhältnisse seiner Zunft. Ein Spürhund, der sicherlich nicht nur eine Fährte verfolgen würde. Golo, ihr geisterhafter "Gemahl", hatte schon zu Lebzeiten eine deutliche Spur hinterlassen.  
"Mit welcher Strafe müsste der Zauberer denn in diesem...Feenreich rechnen?"
Odilon unterhielt sich mit den beiden Eberrittern, die gerade Tannenmisteln entdeckt hatten, und sich daran labten, als wären sie im sagenhaften Schlemmerland gelandet. In diesem Moment wirkten sie wieder tierhaft, wie zweibeinige Wildschweine. Fiorg schob sich auch noch ein paar Pilze zwischen die Eberzähne und schmatzte.
Der Dolmetscher drehte sich um: "Feenstrafen sind nicht sehr streng, wenn es um Ihresgleichen geht. Oft werden Missetäter in Felsen oder Bäume gebannt."
Glyrana schüttelte verständnislos den Kopf: "Ein böser Geist, der hier, am Ufer des Gernat, oder im Wutzenwald sein Unwesen treibt? Kommt gar nicht in Frage!"
"Manchmal werden böse Feen auch in Braunchen verwandelt, und müssen Wiedergutmachung leisten, als Hausgeister bei den Menschen."
"Braunchen?" fragte die Baronin. "Klingt wie ein Gebäck oder eine Süßigkeit !?"
"Braunchen sehen aus wie alte Männer oder Weiblein, geschrumpft, mit brauner Haut und Lumpen als Kleidung. Wenn ich mich richtig an die Feenfabeln aus Albernia erinnere...gar nicht so unähnlich wie der da!" Odilon klopfte mit der Faust auf Burcherts Kopf. "Nur kleiner. So groß wie Kobolde, oder Hämmerlinge. Als Lohn genügt ihnen ein Schälchen Milch. Man darf ihnen nur keine neuen Gewänder schenken, dann verschwinden sie."
"Milch trinken statt Blut vergießen, das wäre für diesen Hexenmeister ein Fortschritt. Ebenso, wenn der Druide hilft, die Schäden zu beseitigen, die er angerichtet hat. Aber dieser Burchert ist ein Mensch, keine Fee." Haldana umschritt den "Versteinerten".
Fiorg grunzte und ging zu seinem Kaltblüter, der sich zwischen den Bäumen des Hochplateaus an Süßmoos gütlich tat. Dann zog er aus einem glitzernden Samtbeutel eine kleine, rote Zipfelmütze hervor, die wie eine Elfenkappe aussah - zumindest so, wie sich manche Städter die Kopfbedeckung eines Spitzohrs vorstellten.
Der Wutzenritter unterhielt sich mit Odilon wieder in seiner eigentümlichen Sprache, die wie eine Mischung aus Isdira und Thorwalsch klang. Der Baernfarn nickte.
"Ah, verstehe. Diese Kappe beraubt Feenwesen, aber auch Grauweltler ihrer magischen Kräfte. So lange, bis ihnen die Koboldsmütze wieder abgenommen wird, müssen sie der Herrin des Waldes gehorchen. Grauweltler, so nennen sie uns Geschöpfe außerhalb ihrer bunten Anderwelt. Wenn die Hüterin Burchert für schuldig befindet, wird sie ihn zurück in unsere Welt schicken. Desweiteren bietet sie einen Feenpakt an. Die Wutzenritter kommen in Frieden, aber sie wissen kaum mehr von diesem Land als wir von dem ihren. Ich habe ihnen erklärt, dass es neben der Herrin von Gernatsborn auch noch eine Baronin in Schnayttach gibt. Wenn ich es richtig verstehe, wurde schon einmal ein Bund zwischen den Herren von Schnayttach und dem Lichten Volk geschlossen...Ein Bund von Wald, Berg und Fluss, wie sie ihn nennen."
Haldana runzelte die Stirn. "Vor einiger Zeit" bedeutete in feeischen Maßstäben sicher vor mehr als einer Ewigkeit. Soviel glaubte sie bereits verstanden zu haben. Ihr Vater war erst zur Zeit Kaiser Hals mit der Baronie Schlotz belehnt worden. Mit den Alten Kulten hatte er wenig am Hut gehabt, auch oder gerade weil er selbst elfisches Blut in den Adern gehabt hatte.
Allerdings hatte es früher noch einen Greifenfurter Zweig der Familie gegeben, die ebenfalls in einem Dorf Schnayttach residiert hatten, Schnayttach am Rinnsee, wo lange Eidon Wischbart von Schnayttach-Pilzhain Baron gewesen war: ein entfernter Verwandter, an den sie sich vor allem wegen des drolligen Namens erinnern konnte.
"Onkel Wischbart", den sie sich als Kind immer mit riesigem, über den Boden schleifenden Trollbart vorgestellt hatte, war in der Zeit der Wirren zu Rondra gegangen, im Götterlauf vor ihrer Geburt. Angeblich sollte der Baron auf einer Queste mal echten Feen begegnet sein. Außerdem von der Amazone Liliane abstammen, die schon zur Zeit Rohals durch einen Pilzkreis in das Land hinter dem Regenbogen geraten war (deshalb auch der "angeheiratete" Familienname Pilzhain). Einen ganz Monat sollte die Rondradienerin dort verbracht haben, bei ihrer Rückkehr aber gerade mal die Zeit bis zum Sonnenuntergang vergangen sein. Auch an diese Erzählung aus Kindertagen vermochte sich Haldana wieder zu erinnern. Seltsam, in diesem Fall schien Satinavs Fluss in der jenseitigen Welt schneller geströmt zu sein, als im Diesseits.
"Lili", so hatte ihre Lieblingspuppe geheißen, die in ihren Augen immer eine wunderschöne Fee gewesen war. Wie auch immer, die Greifenfurter Linie war seit dem Krieg erloschen – womöglich war in den Augen der Feen sie, Haldana, zu deren Nachfolgerin geworden? Aber den Wutzenwald, um den es ging, gab es doch nur hier, im Sichelhag? Die junge Adelige musste zugeben, dass sie sich selbst in der Geschichte der Schlotzer Schnayttachs nicht gut auskannte. Ihre Mutter hatte sie als Binsböckel erzogen. Die Geschichte von Großvater Nengarions Eltern war besonders sorgfältig bemäntelt worden. Lag es an ihrer elfischen Urgroßmutter, dass sie überall Gespenster sah und jetzt sogar Feenwesen anlockte? Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie über das "wahre Schlotz" kaum mehr wusste als über die underischen Gefilde, aus der die Manneber herbei geritten waren. Die Binsböckel verschränkte die Arme, ein wenig trotzig: "Soll dieses Bündnis nun mit dem Junkerhaus Gernatsborn-Mersingen oder uns Binsböckel-Schnayttachs geschlossen werden? Mit dem Kupferbergbau hatten wir nie etwas zu schaffen...andererseits sind wir die Herren der ganzen Baronie."
"Nun, was die Baronie angeht, so wünscht sich die Herrin des Waldes, dass in ihrem Reich keine neuen Dörfer mehr gegründet werden. Die Köhler werden ihre Meiler nur noch am Waldrand errichten. Brandrodungen sind von nun an verboten, ebenso das Schlagen alter Bäume, die ein Feenzeichen haben. Fragt die Diener der Sokramur, sie wissen, was damit gemeint ist. Es werden nicht mehr Bäume gefällt, als innerhalb eines Götterlaufs neu gepflanzt oder gesät werden können. Der einzige Weg, der Menschen durch den Wutzenwald gestattet sein soll, ist der Pfad Eures Großvaters Nengarion, dem ihr bereits gefolgt seid. Als Zeichen der Ehrerbietung sind den Wutzen Eicheln oder Bucheckern darzubringen, wann immer ein Zweibeiner der Wald betritt. Untaten und Frevel, die im Wutzenwald begangen werden, unterliegen allein dem Richtspruch der Herrin des Waldes. Im Gegenzug werden die Wutzen dort keine Räuber zulassen und dem Schlotz gegen finstere Mächte beistehen. Für Gernatsborn gilt das Gleiche, insbesondere was das Fällen von Holz oder das Pflanzen und Säen von Bäumen betrifft. Vor allem aber verzichten die Junker von Gernatsborn darauf, auf ihrem Land nach Erz zu schürfen. Für alle Zeiten." Odilon klang wie ein Herold. "Das sind nicht meine Worte, dass sind die ihrigen", fügte er mit entschuldigender Miene hinzu.
Glyrana schluckte. Auf das Kupferbergwerk verzichten? Als Vögtin war sie es gewohnt, in Dukaten, Abgaben, Erträgen zu denken. Andererseits, viel Gewinn hatte die Mine nie gebracht, allein wegen des ständig eindringenden Gernatwassers. In den letzten Jahren war das Kupfer auch vollständig in den Burgausbau geflossen, der nun abgeschlossen war. Der Verlust der Kupfergewinnung würde der Familienkasse zumindest gefühlt nicht viel schaden. Und schon ihre Wiederherstellung würde ein kleines Vermögen kosten. Für Storko hat die Mine vielleicht auch einen sentimentalen Wert, war sie doch die Grundlage für den Aufstieg der Familie Geratsborn. Aber die Gernatsborner waren Geschichte und Glyranas Mersinger Meisterpläne schielten schon auf das Oppsteiner Silber, auf das sie über den Erbanspruch von Ismena von Oppstein-Baernfarn und einer Heirat in ihr Haus zugreifen wollte. Dennoch, wer war diese "Herrin des Waldes", dass sie glaubte, dem göttergegebenen Adel sämtliche Bedingungen vorschreiben zu können? 
"Die Straßen in Schlotz sind schlecht, wir brauchen neue, feste Wege. Und der Holzeinschlag muss sich auch rentieren..."
"Ich glaube nicht, dass die Forderungen der Wutzen verhandelbar sind", sagte Odilon.
"Nun, reichsrechtlich steht das Ganze doch auf etwas wackeligem Boden. Wer sagt uns, dass die Wutzen ihren Teil der Vereinbarung einhalten werden, ohne Brief und Siegel?"
 “Es ist ein Feenpakt, der gewiss nicht jedem Sterblichen angeboten wird, sei er nun Junker, Baron oder Graf. Seht es als große Ehre und als ein Bündnis, das auch noch euren Kindern und Kindeskindern Nutzen bringen mag. An der Siebenwindigen Küste gibt es so etwas öfters, ebenso bei den Elfen. Man tauscht Geschenke aus. Nimmt der andere sie an, ist der Bund besiegelt."
"Bund? Feenpakt? Das hört sich in meinen Ohren wirklich etwas windig an." Die stolze Mersingen wollte durchaus nicht einsehen, dass sie sich hier von Wildschweinen Vorschriften machen musste (auch wenn in ihren Weidener Ländereien ebenfalls mit Respekt vor Pandlaril und anderen Feen gesprochen wurde).
"Es ist kein besserer Dämonenpakt, wenn Ihr so etwas vermutet, Euer Wohlgeboren." Odilon unterhielt sich wieder mit Fiorg und Torkwyn. Dieser zog nun eine kleine, gläserne Flöte aus dem Samtbeutel und überreichte ihn mit einer Verbeugung Haldana. "Das Geschenk an Euch, Hochgeboren Haldana. Eine Feenflöte. Man sagt, ihr Klang beruhigt die Wilden Wutzen und dringt weit in Artemas Reich. Wann immer Ihr einen Wunsch auf dem Herzen habt, der die Feenwelt betrifft, kommt an diesen Ort und spielt eure Lieblingsweise. Die Ritter werden herbeieilen, so schnell wie es ihnen möglich ist."
Die junge Baronin nahm überrascht und fast schon erschrocken die Glasflöte in die Hand. Sie wirkte zerbrechlich, wie ein Eiszapfen, und schimmerte doch in den warmen Farben des Regenbogens. Haldana konnte einfach nicht widerstehen. Sie spielte einfach los, die alte seenländische Weise Fährst du ins schöne Nostria fort. Die zartsilbrigen, sphärischen Klänge stiegen fast schon allein aus der Flöte auf, wie Vogelgezwitscher, sie brauchte sie nur ein wenig zu modulieren. Ob Haldana wollte oder nicht, sie musste ihre Füße im Takt dazu bewegen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte zu tanzen begonnen. Auch ihre Gefährten folgten unwillkürlich dem Rhythmus mit, selbst die beiden Wutzenritter begannen sich mit klirrender Rüstung zu drehen und schienen vergnügt zu lachen. Nein, sie würde diesen Pakt nicht ablehnen können.
"Du hast selbst gesehen, welchen Zorn der Elemente dieser Druide auf Gernatsborn losgeschickt hat, Glyrana. Und doch ist er nun ein hilfloser Gefangener der Wutzen. Wehe, wenn sie ihre Macht zeigen! Ich denke, wir haben gar keine andere Wahl, als dem Bund zu zu stimmen, für einen dauerhaften Frieden und das künftige Wohl unserer Ländereien".
Haldana überlegte, was sie den Besuchern aus der Anderwelt schenken konnte. Sie tastete bereits nach dem Feenring an ihrem Finger, aber die Biestinger wehrten ab. "Der Ring nutzt Euch in dieser Welt mehr, als einem Feenwesen in der seinigen" erklärte Odilon Wildgrimm.
"Aber, ich wüsste nicht, was ich Ihnen sonst geben könnte. Ich habe nichts wirklich Wertvolles bei mir, geschweige denn Magisches..."
"Nun, sie nehmen auch einen Teil des Körpers, eine Haarlocke zum Beispiel! Damit können sie euch rufen, wenn es ihnen beliebt. Aber auch sicherstellen, dass Ihr Euren Teil des Paktes einhaltet."
Torkwyn deutete mit seiner Klaue auf Haldanas Unterleib und sagte etwas. Einen Moment lang spürte die Adelige doch wieder Furcht.
"Er sagt, wären Feen wirklich so grausam wie ihr Ruf, würden sie diesen Teil Eures Körpers verlangen. Aber die Märchen würden zum Glück nicht immer die Wahrheit sagen. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie er das meint...Sie sprechen manchmal wirklich in Rätseln."
Haldana verstand das Gesagte noch weit weniger. Mit was für Mächten ließ sie sich hier ein?
"Seid unbesorgt. Die beiden sind Ritter und überaus ehrenhaft zu Damen. Wenn Ihr ihnen Euren Gürtel geben würdet, dann würden Sie im kommenden Turnier für Euch streiten!"
Haldana schluckte. Ah, als Hochzeitsgäste würde sie die Wutzen also auch begrüßen dürfen, na wunderbar. Dann musste sie das nur noch ihrer Mutter erklären, ebenso den übrigen Festgästen. Schicksalsergeben öffnete sie die Gürtelschließe und überreichte das Feenpfand Torkwyn. Ein Moment lang berührte seinen borstigen Haare ihre Haut. Sie erschauerte. Der Eberling verbeugte sich wieder galant. Nun ja, wenn sie ehrlich war, hatte sie schon Männer getroffen, die sich ihr gegenüber "schweinischer" benommen hatten als dieser schweineköpfige Biestinger.
Fiorg überreichte Glyrana einen Kupferling: "Diese Münze vermehrt jeden Reichtum, der im Sinne der Feen erworben worden ist. Es soll eine kleine Entschädigung sein, für die Verluste, die Euer Haus erlitten hat."
Glyrana von Gernatsborn-Mersingen musterte die etwas abgegriffene, sechseckige Kupfermünze. Zwar hatte sie nicht mit einem derart weltlichen Geschenk gerechnet, aber was war bei Feenwesen schon wirklich berechenbar? Die Prägung auf der einen Seite war unkenntlich, die andere Seite schien einen Drachen zu zeigen. Sie kannte sich als Vögtin mit Münzen ein wenig aus. Das Kupfer und die Form der Münze deuteten auf einen Vallusaner Flindrich hin, der aber eigentlich ein Turmwappen zeigen müsste. War das noch der Drachen der Ornaldinen, die einst über die Markgrafschaft Vallusa und die Drachensteine geherrscht hatten – aber schon vor Jahrhunderten ausgestorben waren?
"Fiorg würde ebenfalls gerne am Gestech teilnehmen, für Euch als seine Dame, falls Ihr gestattet."
Glyranas Hand schloss sich um den "Feenheller", wie sie die Kupfermünze nannte. "Seid bedankt für dieses Geschenk. Nun, einen Gürtel brauche ich noch für meinen Dolch. Und ich werde sicher nicht vor wildfremden Männern meine Gewänder ablegen. Eine Haarlocke habe ich gestern schon verloren, im Bösen. Also soll Euch im Guten eine weitere Strähne gehören". Sie schnitt sich ein Stück Haar ab und überreichte es dem Eberbiestinger. "Gerne will ich Herrn...Fiorg seinen Minnedienst gestatten. Wenn beide wirklich bei der Turnei antreten wollen, so sind sie herzlich eingeladen. Ich erbitte mir nur ...Diskretion, was ihre Herkunft betrifft."
"So sei der Bund geschlossen!" sagte Fiorg feierlich auf Garethi, und zog dem erstarrten Burchert die Feenmütze über den Kopf.
Der Druide begann zu zucken und zu zittern. Mit einem Ächzen fiel er zu Boden. Verwirrt schaute er um sich und blinzelte. Die Eberbiestinger fesselten ihn mit den Blütenranken und schwangen sich wieder in den Sattel: "Gehabt Euch wohl, Grauweltler. Ihr werdet von uns hören!"
Dann ritten die beiden Gesandten der Artema in die Nebel des unergründlichern Wutzenwalds, mit einem schimpfenden, fluchenden Gefangenen im Schlepptau.



10. Kapitel - Der Meister des Wetters

10. Kapitel

Der Meister des Wetters



Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken.  Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
 
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben.  Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der  Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."


Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.


Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.

Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria



Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide  deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
 
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
 "Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."