7. Kapitel - Das Banket auf Gernatsborn

7. Kapitel

Das Bankett auf Gernatsborn




Ein Stück nördlich des Gernat, am frühen Abend des 5. Praios 1043
„Nicht so schnell, mein junger Freund. Ich werde alt, so behände und flink wie du bin ich nun nicht mehr.“ Der alte Waldläufer war ein wenig außer Atem geraten und mühte sich, mit seinem jugendlichen Begleiter Schritt zu halten. Und dieser schwarzhaarige, schlaksige Junge, dem die Hälfte des rechten Ohres fehlte, hatte wirklich schon den ganzen Tag ein flottes Tempo vorgelegt und war auch auf den Anstiegen über die Kuppen und Anhöhen nicht langsamer geworden. Der alte Jäger schnaufte kurz durch und wischte sich eine graue Strähne aus der Stirn. Seine langen, ehemals dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatte der Alte mit einer Lederschnur zu einem Zopf zusammen gebunden, damit diese ihm nicht vor die Augen fielen und die Sicht raubten. Nichts war in der Wildnis hinderlicher, als sich ständig die verschwitzten Haare aus dem Gesicht streichen zu müssen.
Timoin, der junge Jäger, grinste. „Was ist, Oheim? Bist du nicht der König der Waldläufer? Eben jener, der von den weiten Ebenen der Nivesen bis zu den dampfenden Dschungeln Meridianas in jeder Wildnis zuhause ist?“
Der Alte lachte. „Naja, in den dampfenden Dschungeln zumindest habe ich mich nie zuhause gefühlt. Ich bin halt doch ein Nordländer. Aber, mein junger Schüler, ich habe fast siebzig Winter gesehen und du gerade erst vierzehn. Auch der ausdauerndste Jäger spürt irgendwann das Alter.“
„Du übertreibst“ widersprach Timoin. „Oheim, wir haben die Reise zum Hängenden Gletscher überstanden. Vier Monate in der Wildnis, mit nichts ausgerüstet als einem Messer und einer Axt, wie der Herr Firun das vorschreibt. Da kenne ich viele junge Männer, die das nicht wagen, was du mit achtundsechzig unternimmst. Mit mir unternimmst.“
Der Alte lächelte freundlich. „Ja. Und ich bin stolz auf dich. Du hast alles von mir gelernt, was ich dir über das Leben in der Wildnis beibringen kann. Wenn es für Jäger so etwas wie einen Ritterschlag gäbe, du hättest ihn dir verdient. Eigentlich hast du deine Lehrzeit bei mir bestanden.“
Der Alte hielt inne und ließ seinen Blick zurück auf die Gipfel der Schwarzen Sichel gleiten. Timoin und er waren mit der Schneeschmelze aufgebrochen, um einen ganzen Sommer in der Wildnis, abseits jedes Dorfes und jeder Behausung zu leben. So ursprünglich und ohne jede Ausrüstung, wie es dem Herrn Firun wohlgefällig ist. Unter den Jägern galt es als wichtigste Fähigkeit, alles, was man zum Leben braucht, selbst aus dem fertigen zu können, was die Natur bietet. Mehr als ein Messer und eine Axt durfte man nicht mitnehmen, um als echter Waidmann gelten zu können. Und, das war das wichtigste in der Wildnis, seinen Verstand, seine Erfahrung und seine Kreativität. Zu wissen, wie man Fallen stellt, wie man eine Nadel aus Tannenholz oder auch aus Knochen schnitzt, wie man aus dem Fell erlegter Tiere Kleidung oder eine Decke fertigt, vielleicht gar ein Zelt. Zuallererst natürlich, wie man ohne Hilfsmittel Feuer macht, und welche Pflanzen man essen kann oder welche Kräuter für welche Verletzung oder Krankheit hilfreich sein können, all sein Wissen hierüber hatte Timoin in den vergangenen vier Götternamen unter Beweis stellen können. Gewissermaßen war das die Gesellenprüfung unter den Jägern, einzig übertroffen von der Meisterprüfung, wenn es einem Jäger gelang, das gleiche im Winter zu schaffen. Die Regel der firungefälligen Gesellenprüfung war einfach. Überlebe. Aber schaffe es ohne Hilfe.
„Wann hast du deine Firunsprüfung abgelegt, Odilon?
Odilon lachte. „Du denkst zu sehr in Prüfungen, junger Freund. Aber daran bin wohl ich schuld, schließlich habe ich dich dazu gedrängt, zu dieser Fahrt. Ich… ich würde sagen, ich habe meine Gesellenprüfung zusammen mit Dir abgelegt.“
„Du machst Witze“ antwortete der Junge.
„Nein. Ich habe nie die Prüfung abgelegt. Ich habe in der Wildnis gelebt, klar. Aber damals, als ich bei den Nivesen in der Tundra gelebt habe, war ich nicht allein. Ich war bei einer Sippe zu Gast, habe ihre Jurten geteilt und bin mit ihnen die Rentierherden gefolgt. Aber eine Prüfung, nein, ich hatte ja auch mehr als nur Messer und Axt bei mir. Und danach, ein Jahr am Kvillufer im Silberbuchenwald bei den Waldelfen, bei Oladins Sippe, nun, da hatte ich die Hilfe der Elfen, mit ihrer Magie und ihrem Wissen. Auch das mag als Prüfung nicht gelten. Und später… klar, ich habe oft in der Wildnis übernachtet, einfach, weil ich kein Geld für ein Gasthaus hatte. Aber auch da war ich nicht immer fern der Zivilisation. Nein, überall dort, wo kräftige Recken gebraucht wurden, heuerten wir an für gutes Silber. Vulkanus, Jirka und ich. Auch wenn uns so mancher Weg durch die Wildnis führte, so waren wir ebenso oft auch in Städten und Dörfern. Und dann, ja dann rief der Kaiser und die Pflicht. Da lebte ich lange Zeit gar nicht als Jäger. Nein, Timoin, geprüft, so wie du, wurde ich nie.“
Timoin riss überrascht die blauen Augen auf. „Nein oder? Da sagt man ihm nach, er wäre der vielleicht erfahrenste Waldläufer der Sichel, und dann hat er die Jägerprüfung gar nicht abgelegt?“
„Erfahrenster Waldläufer, ach was, zu viel der Ehre. Ich bin nicht besser als viele andere Waidmänner. Ich bin nur bekannter. Ein Privileg des Adels eben. Oder sein Fluch. Wer wird schon von einem Jagdhofmeister Tuvok auf Burg Schlotz Jägerbosparano erzählen, wenn man über einen Baron, und sei es ein ehemaliger, Geschichten zum Besten geben kann. Und dennoch ist Tuvok sicher nicht unerfahrener als ich. Oder vormals der barönliche Forstwart Damian Firunsdank in Nordenheim, ebenso wie sein Nachfolger Sokramorian Hirsbach, beide sehr erfahrene Jäger. So ist es eben. Aber zugleich hast du noch etwas gelernt. Eine Prüfung ist das eine. Aber die eigentliche Prüfung ist das Leben selbst. Und ob du bestanden hast, erfährst du erst ganz am Schluss, wenn du auf Rethon gewogen wirst und Einlass in die Jagdgründe Firuns erlangst oder eben nicht.“
Timoin nickte. Dann drehte er sich um, weg von den Bergen, aus denen er und der Alte gekommen waren, wieder in Richtung Praios. „Sieh, Odilon. Der Gernat. Wir sind daheim. Es ist nicht mehr weit. Bald sehen wir Mutter wieder.“
Odilon folgte dem Blick seines jungen Gefährten und nickte. Der Gernat lag nicht mehr weit entfernt, das Flusstal, das aus dem Wutzenwald heraus führte, lag vor ihnen. Bis zur Burg Gernatsborn würden sie es bis zum Abend sicherlich schaffen, Gernatsquell hingegen würden sie, selbst wenn sie durchmarschierten, erst zu später Nachtstunde erreichen.
Odilon bückte sich. „Siehst du das, Timoin?“ Der alte Jäger deutete auf einen Abdruck, ein wenig verwischten Staub auf dem steinigen Boden der Anhöhe.
Timoin folgte mit den Augen Odilons Finger.
„Ein Fußabdruck. Leichte Kratzer auf dem Steinboden, vielleicht ein Nagelschuh?“
„Ja, gut kombiniert. Ein Schuh, wie ihn kein Jäger trägt, denn mit Nagelschuhen schleicht es sich schlechter, man vertreibt nur unnütz das Wild. Ein Bauer auch nicht, der kann sich Eisen an den Schuhen nicht leisten. Ein Soldat oder Söldner vielleicht, ein fahrender Recke oder ähnliches, könnte man vermuten. Weiter, Timoin, was erkennst du noch?“
„Hm. Die Größe. Kein ausgewachsener Mann, dafür ist der Fuß zu klein. Ein Heranwachsender. Oder eine Frau.“
„Auch richtig“ bestätigte Odilon. „Von der Größe her. Aber nun… Frau oder Heranwachsender?“
„Da muss ich raten. Aber eher eine erwachsene Frau denn ein Heranwachsender. Aber das kann ich nur vermuten, ein Jugendlicher hat eher selten Geld für einen Nagelschuh, oder vielleicht auch weniger Grund, allein durch die Wildnis zu stromern.“
„Du hast Recht, das können wir nicht sicher sagen. Aber es ist plausibel, was du vermutest. Lass uns sehen, was die Spur sonst noch an Hinweisen bietet.“
„Gut, aber dazu müssen wir ihr folgen“ antwortete Timoin und blickte in Laufrichtung der Schuhspur. „Dort entlang. Aha. Hier, in der Erde am Rand der Felsen. Zwei Schuhabdrücke, die Zehen eingedrückter, die Fersen entlastet. Schätze, die Frau - wenn es denn eine war - hat sich hier hin gekauert und die Gegend abgesucht, wollte vielleicht selbst nicht entdeckt werden, hier oben auf der Anhöhe.“
Odilon nickte. Dann deutete er mit dem Finger auf einen eckigen Eindruck in der Nähe der Fußabdrücke. „Was meinst du dazu?“
„Leicht rechts hinter den Fußabdrücken. Wenn die Frau hier gekauert hatte, und sie hat etwas über die Schulter getragen, dann hat das hier die Erde berührt.“
„Sehr gut. Was könnte die Frau über der Schulter umgehängt getragen haben, das so eine Spur hinterlässt?“
„Na, ein Bogen war es nicht. Da wäre der Abdruck spitzer und kleiner. Eine Klinge ebenfalls nicht. Und für einen Köcher ist es zu eckig. Leicht rechtwinklig, aber an der Ecke abgerundet. Ein Griffstück? Eine Armbrust vielleicht?“
„Nun, könnte sein. Wir wissen es nicht, aber deine Analyse ist richtig, was es sicher nicht ist und was es sein könnte. Lass uns der Spur weiter folgen. Du gehst voran.“
Timoin gehorchte. Er war ganz im Prüfungsfieber, seinem Knappenherrn und Lehrmeister, der der alte Jäger ja war, zu gefallen und seine Anerkennung zu erlangen. Er ließ seinen Blick nach vorn schweifen, über die Wiese, über die der Spurenleger gegangen sein musste. In der Wiese war die Spur schwer zu erkennen. Es war wohl schon zu viel Zeit vergangen, und die Grashalme hatten sich wieder aufgerichtet. Erst einmal sah Timoin keine weiteren Spuren.
„Gestern Abend hat es noch geregnet. Es muss also danach gewesen sein, sonst wäre die Spur auf dem Felsen und in der Erde verwischt. Aber es muss auch mindestens drei Stunden her sein, sonst wären hier im Gras noch Spuren erkennbar.“
Odilon nickte. Timoin folgte einem Instinkt über die Wiese. Ab und zu, in erdigen Stellen, konnte er Teile von Abdruckspuren erkennen. So konnte er die Richtung halten und auf der richtigen Fährte bleiben. Timoin führte Odilon hangabwärts an einigen Büschen vorbei, auf einen ausgetretenen Wildwechsel, der sich entlang des Höhenrückens erstreckte.
„Hier, schau!“ flüsterte Timoin, als wäre der Verfolgte noch in der Nähe. Da sind noch mehr Spuren.“ Der junge Jäger wies auf mehrere Abdrücke, die sich in einer erdigen Mulde gehalten hatten. “Aber das sind keine Nagelschuhe.“
Odilon nickte. „Zweifelsfrei. Welche Schuhe sind es dann?“
„Ich würde sagen, einfache Lederschuhe. Keine von einem Schuster, sie haben keinen Absatz. Eher solche, wie man sie in der Wildnis trägt. Vielleicht eine Art Mokassins. Es sind… vier… nein, fünf. Fünf waren es, die sich hier getroffen haben. Jäger vielleicht?“
„Nein, Timoin. Keine Jäger. Sieh dir die Spuren an und vergleiche sie mit der bereits bekannten Spur, was fällt dir auf?“
Timoin sah noch einmal auf den Boden.
„Die Fußspur der Frau ist tiefer als die der anderen fünf.“
„Genau. Und was heißt das?“ hakte Odilon nach.
„Die Frau ist schwerer als die anderen?“ Timoin schlussfolgerte etwas unsicher.
„Ja, so sieht es aus. Und was sagt uns das?“
„Rotpelze!“ rief Timoin. „Das sind Goblins! Goblins sind leichter als Menschen.“
„Genau“ bestätigte Odilon. „Eine Gruppe aus fünf Rotpelzen. Die Frage ist, was machen die hier?“
„Hat die Frau die Rotpelze hier getroffen, oder ist sie ihrer Spur gefolgt?“ wollte Timoin wissen.
Odilon zog die Augenbraue hoch, die durch eine markante Narbe in eine obere und eine untere Hälfte unterteilt war. „Das ist auch eine interessante Frage. Anhand der Spuren können wir nicht erkennen, ob alle gleichzeitig hier waren, oder ob die Frau kurz danach hier war und den Spuren gefolgt ist. Jedenfalls führen alle Spuren weiter praioswärts, den gleichen Weg. Zusammen oder nacheinander, das lässt sich nicht sagen. Was hältst du für wahrscheinlicher?“
Timoin dachte nach. „Ich weiß es nicht. Wer mit dem Rotpelz gemeinsame Sache macht, hat nichts Gutes im Sinn.“
„Ein Vorurteil, das muss nicht immer zutreffen. Aber wir wissen es nicht“ widersprach Odilon.
„Aber wenn es eine Kriegerin oder Söldnerin war, vielleicht hat sie die Rotpelze verfolgt?“ warf Timoin ein.
„Ja, das ist gut möglich. Wir wissen es nicht. Aber es ist plausibel“ bestätigte Odilon.
Timoin führte die Spur weiter, die jetzt gut zu erkennen war, in dem breiten Wildwechsel.
„Sieh, Odilon. Die Frau verlässt den Pfad. Die fünf Rotpelze gehen weiter“ rief Timoin leise aus. „Aber warum, was hat das zu bedeuten?“
„Schwer zu sagen, aber vielleicht finden wir etwas heraus, wenn wir den Spuren weiter folgen.“
„Der Frau oder den Rotpelzen?“
„Such es dir aus“ antwortete Odilon. Timoin entschied sich für die Fährte der Goblins. Sie kamen auf eine flache Wiese, die lieblich aussah und eigentlich zu einer Rast eingeladen hätte.
„Eine Blutspur!“ rief Timoin und deutete auf rote, noch nicht lange eingetrocknete Blutflecken im Gras.
„Hier ist noch eine“ ergänzte Odilon.
Beide blieben stehen und blickten auf den Boden, die Spuren absuchend.
„Das war ein Kampfplatz. Eindeutig“ schlussfolgerte Timoin. „Wen haben die Goblins überfallen? Die Frau?... Nein, die kann es nicht gewesen sein. Ich sehe ihre Spuren hier nicht. Das sind… andere Spuren. Ein Stiefel, etwas größer als die Stiefel der Frau, und ohne Nägel, aber mit einem Absatz. Ein Mann, offenbar kein armer Mann, der sich immerhin gute Stiefel leisten kann. Ob die Goblins ihn überfallen haben?“ riet Timoin.
„Nun, so sieht es jedenfalls aus“ bestätigte Odilon. „Ein wildes Gefecht, fünf gegen einen. Offenbar wurde der Mann verletzt. Aber er hat überlebt, wir sehen keinen Leichnam hier. Vielleicht hat er die Goblins in die Flucht geschlagen? Was meinst du, Timoin?“
„Naja, einer gegen fünf, da müsste er ein guter Kämpfer sein. Auch sehe ich nur eine Blutspur. Dort… offenbar kam hier der Mann verletzt zum Liegen, und die Goblins sind getürmt. Warum… ach ja. Dort ist auch wieder die Spur der Frau. Hat sie in den Kampf eingegriffen? Dem Mann geholfen?“
„Das kann gut sein. Die Spuren lassen nicht exakt zu, einzuschätzen, wer gegen wen gekämpft hat, aber es sieht so aus. Dort… sieh die Spuren der Frau und des Mannes dort, sie führen vom Platz weg, wo der Verletzte gelegen hat. Was kannst du erkennen?“ fragte Odilon
„Beide Spuren verlaufen nebeneinander. Und die Spuren der Frau sind jetzt tiefer, klarer, als zuvor. Vielleicht stützt sie den Mann beim Laufen? Immerhin ist er verwundet?“ mutmaßte Timoin.
„Ja, genau danach sieht es aus. Folgen wir jetzt den Spuren der Menschen gen Praios, oder denen der Rotpelze rahjawärts?“ Odilon überließ Timoin die Entscheidung.
Timoin blickte prüfend in die Umgebung.
„Nun, der Richtung nach dürften die zwei auf dem Weg nach Gernatsborn sein. Der Mann ist verletzt, und der Kampfplatz liegt schon fast in Sichtweite von Gernatsborn. Offenbar hat man sich entschieden, dort Hilfe zu suchen. Nach Gernatsborn kommen wir ohnehin, aber ich möchte noch eben wissen, wohin die Rotpelze geflüchtet sind.“ Timoin blickte in Richtung Sichelberge. „Da hinten, da liegt doch etwas!“
Der junge Jäger lenkte seine Schritte rahjawärts, und Odilon folgte ihm. Nach vierzig Schritt sahen sie, was Timoin vorhin erahnt hatte.
Halb verdeckt hinter Gestrüpp und Farnkraut und Hohen Gräsern lag ein Goblin. Tot. Ein Bolzen stakte dem Toten aus dem Genick.“
„Na sieht so aus, als hättest du mit deiner Vermutung von der Armbrust Recht gehabt“ lobte Odilon den jungen Jäger. „Wer immer einen Rotpelz auf der Flucht auf diese Entfernung sicher trifft, der ist ein geübter Schütze, das steht einmal fest. Von hinten zwar, nicht gerade rondragefällig. Aber treffsicher.“
Timoin nickte. „Gut. Die Goblins weiter zu verfolgen macht vermutlich wenig Sinn. Der Vorsprung der Rotpelze beträgt mehrere Stunden. Und wenn wir erfahren wollen, was wirklich passiert ist, werden wir auf Gernatsborn sicher Antworten finden.
“Also fassen wir zusammen, Timoin. Was ist hier passiert?”
“Nun, jemand mit Nagelschuhen, vermutlich eine Söldnerin, stromert durch die Lande. Sie erblickt eine Bande Rotpelze, verfolgt sie, und kommt gerade rechtzeitig, um einen Reisenden bei einem Überfall der Goblins beizustehen. Mit der Armbrust erledigt sie einen und schlägt die Rotpelze in die Flucht. Dann hilft sie dem verletzten Mann nach Gernatsborn.”
“Ja, so sieht es aus.” Odilon blickte zurück. Er blickte auf die Anhöhe, auf der die Frau gekauert und beobachtet hatte.
“Aber ich weiß nicht, mein Junge. Aber irgendwie glaube ich die Geschichte so nicht. Ich kann es nicht sagen. Ein Gefühl.”
“Der Instinkt des Jägers, wenn irgendetwas nicht so stimmig ist wie es scheint, oder einfach nur Erschöpfung nach dem langen Marsch? Ach, egal, Odilon. Gehen wir nach Gernatsborn. Dort werden wir beide sicher treffen und hören, ob wir die Spuren richtig gelesen haben. Ich bin schon neugierig. Komm mit, Odilon. Es ist nicht mehr weit. Vielleicht ist die Fähre schon fertig. Lass uns gehen, dann kommen wir noch bei Tageslicht zur Burg.”
“Ach, ich weiß es nicht. Aber du hast Recht, auf Gernatsborn erfahren wir mehr. Außerdem hast du dir ein gutes Mahl verdient. Das erste seit vier Monaten, das wir nicht selber bereiten müssen. Fürwahr, es gibt bessere Köche als uns beide.“ Odilon konnte seinen Blick nicht von der Anhöhe lösen, auf der er noch vor einem halben Stundenmaß mit Timoin war.
Plötzlich wusste er, was ihn störte.
Er blickte auf seinen jungen Begleiter. Timoin sah nach vorne, versuchte den besten Weg durch das Gestrüpp zum Gernat auszumachen. Mit einer raschen Bewegung nahm Odilon sein Messer, und schob es unter sein Hemd in den Gürtel.
“So ein Mist, Timoin. Ich habe mein Messer verloren. Das kann nicht lange her sein, vorhin auf der Anhöhe hatte ich es noch.”
Timoin seufzte. “Nagut, suchen wir es. Dann muss das warme Abendessen eben noch etwas warten.”
“Ach, ist gut, Timoin.” antwortete Odilon. “Geh ruhig schon einmal vor. Du hast es dir verdient. Ich suche eben den Weg ab, und komme nach. Mehr als ein halbes Stundenmaß werde ich nicht brauchen.”
“Meinst du wirklich? Ich kann dich begleiten.”
“Doch doch. Geh nur.”
Timoin zögerte. Aber dann siegte das Verlangen nach einer warmen Mahlzeit und die Neugier, die neue Fähre und die Burg zu sehen. Bei ihrem Aufbruch war hier noch eine Baustelle gewesen.
“Na gut, Odilon. Dann bis nachher.”
Odilon nickte ihm zu und folgte dann der eigenen Spur zurück. Er hatte noch eine Stunde, bis es zu dunkel sein würde, um die Spuren genauer zu untersuchen. Und morgen wäre es zu spät, in der Nacht würde es wieder leicht regnen. Mit raschen Schritten eilte er zurück in Richtung Anhöhe.
Er hatte es Timoin nicht sagen wollen. Er wollte ihn nicht beunruhigen, vielleicht aber wollte er sich auch nur nicht blamieren, nur aufgrund einer vagen Ahnung, die völlig grundlos sein konnte.
Aber was ihn störte war die Lage der Beobachtungsspur auf der Anhöhe. Wenn er sich richtig erinnerte, wiesen die Fußspitzen der Söldnerin in Richtung Kampfplatz, und nicht dahin, wo sie auf die Spur der Goblins gelangt war.
Aber wenn die Söldnerin in das Gefecht eingegriffen hatte, dann war der Rotpelz zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Kampfplatz gewesen. Der Rotpelz hat nicht dort gelauert oder in einem Versteck gewartet, das hätten sonst die Fußspuren verraten. Dennoch, so schien es, hat die Söldnerin den späteren Kampfplatz ausgespäht, und nicht die fünf Rotpelze. Warum?
Natürlich musste die Blickrichtung der Söldnerin nicht der Richtung der Fußspur entsprechen. Dennoch, meistens standen Menschen auch in die Richtung, in die sie schauten.
Das alles musste nichts zu bedeuten haben, aber Odilon hatte kein gutes Gefühl. Er wollte sich die Spuren einfach noch einmal anschauen. Irgendetwas hatte er übersehen. In der einsetzenden Dämmerung würde das schwer genug werden, zumal inzwischen auch seine und Timoins Fußabdrücke das Spurenbild verändert hatten.
Der alte Jäger eilte zurück. Erst zum Kampfplatz. Dann weiter, den Wildwechsel, auf dem er zuvor den Spuren der Goblins gefolgt war. Zurück zu der Stelle, da die Söldnerin die Spur der Goblins verlassen und in den Wald abgebogen war.
Jetzt sah er noch einmal die Spuren genau an. Natürlich… wie hatte er das vorhin nur außer acht lassen können. Natürlich konnte man feststellen, ob zuerst die Goblins oder die Söldnerin oder alle gleichzeitig hier gewesen waren.
Sorgfältig, Abdruck für Abdruck, besah er sich die Nagelschuhspur an. Er suchte nach Abdrücken, die die Spur der Goblins berührte.
Da… da war eine. Die Nagelschuhspur hatte eine Mokassinspur überlappt. Im Überlappungsbereich waren klar die Nagelspuren zu erkennen. Hier hatte zuerst der Goblin und dann die Söldnerin ihren Fuß hingesetzt. Also war hier zuerst der Goblin gewesen.
Hatte die Söldnerin also doch die Goblins verfolgt. So, wie Timoin und er es rekonstruiert hatten? War er nur einer vagen Ahnung aufgesessen? Odilon folgte der Spur weiter zurück, spähte weiter nach sich überschneidenden Spuren. Wenn es so wäre, dann würde immer die Spur des Nagelschuhs vollständig zu sehen sein und die Spur des Mokassin eines Goblins wäre beschädigt durch den späteren Tritt der Söldnerin. Tatsächlich fand Odilon weitere solche Spuren.
Doch er fand auch eine andere Spur. Eine Spur, bei der die Mokassinspur die Nagelschuhspur überlagerte.
Odilon kniete nieder und sah sich die Spur im Dämmerlicht genauer an. Tatsächlich. Hier war zuerst der Nagelschuh aufgetreten und danach der Mokassin.
Also hatte die Söldnerin die Rotpelze begleitet, war ihnen nicht gefolgt.
Oder war der Goblin nur ein Nachzügler, der seinen Gefährten verspätet nachgefolgt war? Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Odilon folgte den Spuren weiter zurück. Tatsächlich fand er, ganz vereinzelt, Spuren, bei denen eindeutig die Goblinspur den Nagelschuh überlappte und nicht umgekehrt. Schließlich gelangte er zu der Stelle, an der die Nagelschuhspur von der Anhöhe herunter zu der Spur der Goblins gestoßen war.
Noch einmal blickte Odilon nach oben. Ja, richtig. Die Beobachtungsspur, wie Odilon sie in Erinnerung hatte, wies zum späteren Kampfplatz. Nicht hier herunter, wo offenbar der Rotpelz zu diesem Zeitpunkt war.
Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Nicht mit der Geschichte, die Timoin und er sich zusammen gereimt hatten. Nun, er konnte es nicht wissen. Natürlich konnte auch schlicht einer der Rotpelze später nachgekommen sein und dabei für das Spurenbild gesorgt haben. Aber sein Jägerinstinkt ließ ihn das nicht glauben.
Das hieße, die Frau hat zuerst den Rotpelz begleitet, sich dann aber im Kampf gegen sie gestellt? Gut, mochte sein. Eine Söldnerin kann durchaus gemeinsam mit Rotpelzen unterwegs sein, dann aber, bei einem Überfall auf einen Menschen, doch ihr Gewissen entdecken. Zumindest würde das die zeitgleiche Anwesenheit einer Söldnerin und einer Goblinbande erklären.
Aber jetzt begab sich Odilon in das Feld der Spekulation und nicht der Spurensuche. Als Fährtensucher interessierten ihn Fakten. Nicht Rätselraten.
Inzwischen war die Dämmerung zu weit fortgeschritten, um noch weiter nach Spuren zu suchen. Wenn denn überhaupt noch etwas zu finden war. Vielleicht maß er der Sache auch zu viel Bedeutung bei. Vielleicht wurde er wirklich langsam alt und sah Gespenster, wo keine waren.
Odilon brach die Spurensuche ab. Timoin sollte nicht zu lange auf ihn warten müssen.

Die ersten Sterne gingen über den sich schwarz vor dem Horizont abzeichnenden Gipfeln der Schwarzen Sichel auf. Es war schon dunkel. Aves war der erste Stern, der am Himmel, ganz tief im Efferd, sein Licht erstrahlen ließ. Odilon hatte Timoin am Gernat wartend erreicht - der Junge hatte es doch vorgezogen, auf den alten Jäger zu warten. Dann hatten beide noch ein Bad im Gernat genommen. Völlig verdreckt und nach Schweiß und ungewaschen riechend wollten beide letztlich nicht auf Burg Gernatsborn um Einlass bitten. So sahen die beiden leidlich manierlich aus, als sie endlich über die neue Fähre gelangt und auf der Burg um Einlass gebeten hatten. Aufgrund der markanten Narbe über dem rechten Auge, in der Augenbraue, hatten die Wachen am Zugang zur Burg den früheren Gallyser Baron erkannt, und daher trotz der späten Stunde ihm und seinem Begleiter Einlass gewährt.
Leise Klänge waren aus der Burg zu vernehmen. Es schien, als wäre das Abendmahl bei den Herrschaften der Burg noch in vollem Gang. Der wachhabende Offizier am Burgtor hatte einen jungen Rekruten beauftragt, die abermaligen Gäste - heute waren ja schon viele hochgestellte Gäste auf der Burg eingetroffen, zunächst die Vögtin mit ihrer hochgeborenen Tochter und dem Friedwanger Baron mit seinem Sohn, dann ein Priester des Götterfürsten mit einer Söldnerin zum Geleit und jetzt, als wäre es noch nicht genug, auch noch der alte Baernfarn mit einem jugendlichen Begleiter - beim Burgherren anzukündigen. Vielleicht traf es sich da gut, dass das Abendmahl spät begonnen war und nun auch ein Musikus zum Mahl aufspielte, wenn ungeplant eine größere Schar hochgestellter Gäste auf der Burg eintraf. Nun, bei den Bauarbeiten, die zuletzt den Sommer über von statten gingen, waren immer wieder Gäste zu bewirten gewesen. Aber heute war es doch ein besonderer Zufall, der so viele edle Reisende auf die neue Burg Gernatsborn geführt hatte.
Der Rekrut bat die Gäste, ihm zu folgen, um der Herrschaft den Besuch anzukündigen. Odilon nickte dem jungen Rekruten sein Einverständnis zu, und der Soldat ging voran. Mit nur leicht nervösen Schritten, die durch den Burghof hallte, stiefelte er zur Terrasse hinauf, auf der der Burgherr den Gästen aufgetischt hatte. Mit leichter Überraschung blickte Junker Storko auf und sah den Soldaten fragend an. Dieser schritt auf seinen Soldgeber zu, salutierte und machte seine Meldung.
„Wohlgeboren, ich habe erneut die Ehre, Gäste anzukündigen. Wiederum Gäste von Stand, die offenbar in der Nähe waren und um Einlass ersuchten.“
„Wiederum. Nun, das scheint ja heute hier ein größeres, ungeplantes Fest zu werden. Dass die Vögtin, kommen wollte, war mir ja bekannt. Dann gab uns noch ein Geweihter des Praios die Ehre. Nun, wen kündigt er jetzt an?“
Der Soldat hüstelte und räusperte sich kurz. „Seine Hochgeboren Odilon Wildgrimm von Baernfarn, den vormaligen Baron zu Gallys sowie Timoin von Binsböckel, den Ziehsohn der Edlen Valyria zu Gernatsquell. Sie scheinen von einer Pilgerreise zum Hängenden Gletscher zurück zu kehren, wie sie sagten.“
Storko erhob sich, um die neuen, unangekündigten Gäste zu begrüßen. Beiläufig gab er einer Dienerin einen Wink, zwei weitere Stühle zu bringen und Gedecke aufzutragen. Langsam würde es eng werden auf der Terrasse. Mit so vielen Gästen hatte der Burgherr nicht rechnen können.
„Der kundige Waldläufer des Hauses Baernfarn, der zu der Zeit der Wildermarkära den Befreiungskampf für Gallys anführte. Ich habe schon manches über Euch gehört, aber noch nie das Vergnügen gehabt, Euch selbst zu sehen. Dann also willkommen auf Burg Gernatsborn, Baernfarn. Und ebenso willkommen, Timoin. Dich kenne ich ja schon länger. Ich erinnere mich, du warst in Gernatsquell, als damals meine liebe Gattin in den Wutzenwald entführt worden war. Du warst noch ein Knabe damals.“
Artig nickte Timoin. „Ich grüße Euch, Junker Storko!“ sagte er etwas verlegen. Nach einigen Monaten in der Wildnis fiel es dem auch sonst eher wortkargen Timoin schwer, die richtigen Worte zu finden. „Oheim Odilon und ich haben die Jägerprüfung abgelegt, auf unserer Reise zum Hängenden Gletscher.“ Timoin wusste nicht recht, was er sagen sollte, aber der Gletscher hatte ihn solcherart beeindruckt, dass er sofort darauf zum Reden kam. Noch nie zuvor hatte er solche Unmengen an Eis gesehen als eben dort am Heiligtum des Firun.
Storko nickte. Dass der Ziehsohn Valyrias beim alten Odilon in die Lehre ging, hatte er ja schon vernommen. „Dann bist du zum Jäger heran gereift?“ erkundigte sich Storko. „Augenscheinlich hattest du einen guten Lehrmeister, wenn du mit vierzehn schon die Jägerprüfung bestehst.“
„Zu viel der Ehre“ wehrte Odilon bescheiden ab. „Der Junge hat Talent, ein Gespür für die Wildnis. Vielleicht muss eher ich mich geehrt fühlen, dass ein junger Mann mich in meinem Alter noch auf eine solche Reise mitnimmt.“
Storko lachte. „Je nun. In jedem Fall willkommen auf Gernatsborn. Erweist uns die Ehre und leistet uns Gesellschaft beim Mahl.“
“Sehr gerne. So viel der Mühe hätte es jedoch nicht bedurft. Ihr habt auf der Terrasse zum Mahl geladen? Es wird regnen am späteren Abend.”
“Wirklich?” erkundigte sich Storko. “Der Himmel ist doch klar. Aber für den Fall der Fälle lässt sich ein Baldachin aus Leinen aufspannen, oder wir können in den Burgsaal umsiedeln.”
Der Musikus begann wieder zu spielen und sang dazu leise. Nicht zu laut, um die Gespräche bei Tisch nicht zu übertönen, aber dennoch laut genug, um ihn zu verstehen.
Haldana lauschte den Klängen des Barden interessiert. Sicher, kein Meistermusikus, aber dennoch ein talentierter Bursche, der da seine Stücke zum Besten gab. Die junge Baronin unterhielt sich prächtig mit Glyrana, der Burgherrin, die schon ein paar Jahre älter war als sie selbst und auch schon Kinder hatte. Es war nicht mehr als ein einfacher Austausch unter Frauen, von denen die eine vor der Ehe stand und die andere Ehe und Familie schon kannte. Aber, trotz des banalen Themas, schien von Anfang an eine Herzlichkeit die beiden Frauen zu verbinden.
Storko indes war interessiert, mehr von Odilon zu erfahren, dem sein Ruf als Bogenschütze und ehedem guter Schwertkämpfer ja schon vorausgeeilt war. Auch hatte er als Wehrvogt durchaus ein fachliches und berufliches Interesse daran, mit einem Augenzeugen und Mitkämpfer der Ogerschlacht, der Answinskrise, der Orkeinfälle und anderer größerer und kleinerer Gefechte und Schlachten bis hin zur dritten Dämonenschlacht, zu reden und Erfahrungen und Erlebnisse aus erster Hand zu hören. Odilon kam dem gerne nach und erzählte dem Junker von seinen früheren Erlebnissen vergangener Schlachten.
Timoin seinerseits war neugierig auf die Geschichte des Praioten, als er erfahren hatte, dass dieser auf der Anreise von Goblins überfallen worden war und nur dem beherzten Eingreifen einer Söldnerin sein Überleben zu verdanken hatte - eine Söldnerin, die ebenfalls auf der Burg weilte und als Armbrustschützin um Anstellung bei den Bewaffneten auf Gernatsborn ersucht hatte, weswegen nun die Ritterin Jadwige von Kressenbrück diese genauer ansah und auf ihre Eignung prüfte.
Etwa gegen die zehnte Stunde - inzwischen waren alle Gäste gesättigt und Storko ließ einen Wein nach dem Mahl reichen - begann es, wie Odilon es voraus gesehen hatte, leicht zu regnen. Ein warmer Sommerregen, aber dennoch eine merkliche Abkühlung nach dem geradezu heiß zu nennenden Praiostag. Die Dienerschaft spannte die Leinen auf. Immer noch sang und musizierte der Barde.

Ein Windstoß ließ die Kerzen auf dem Leuchter verlöschen. Schon eilte ein Diener, um in der Küche Feuer zu holen und diese wieder zu entzünden.
Haldana erschrak, als ein kaltes Gefühl nach ihrem Herzen Griff. Ein Gefühl, das sie inzwischen nur zu gut kannte. Beklommen sah sie sich um. Klar, ein wenig erschrocken schienen alle zu sein nach dem plötzlichen Erlöschen der Kerzen. Aber dennoch hatte Haldana nicht den Eindruck, dass die anderen die Kälte gleichermaßen gespürt hatten wie sie. Nicht, dass sie das überrascht hatte. Allerdings war auch Glyrana etwas blass geworden.
Warum hatte der Barde sein Lied geändert? Warum sang er nicht mehr, wie eben noch, eine Ballade über eine Vinsalter Liebschaft? Warum klang das Lied jetzt anders, die Musik seltsam verzerrt? Nicht unmelodisch, aber dennoch irgendwie fordernd? Schwang eine leichte Dissonanz in den Klängen mit?
Ein kalter Hauch wehte durch den Raum, der jetzt alle, nicht nur Haldana, erschaudern ließ. Zarte Rauchstengel stieben noch an den Dochten der erloschenen Kerzen empor, ehe dort noch der restliche Glutpunkt am Ende des Dochtes verglimmte.
„Schön, dieses abendliche Kammerkonzert. Dazu will ich doch zu gerne meiner lieben Gemahlin etwas Musikalisches darbieten“ vernahm Haldana die ihr inzwischen bekannte, gleichermaßen unheimliche wie körperlose Stimme. Haldana versuchte, sich nicht beirren zu lassen, konzentrierte sich auf den Gesang des Barden. Sie wollte sich dieses Mal nicht Angst machen lassen von der geisterhaften Erscheinung, die sie plagte. Doch die Musik und der Gesang hatten sich verändert. Klang die Stimme des Barden nicht wie die körperlose Stimme Golos? Eine eingängige Melodie, jedoch gepaart mit einem schändlichen Text dazu. Vernahmen die anderen auch dieses schändliche Lied, oder hörte nur sie es?

Die Zwölf Götter geh´n zu Grunde,
ihr Ruin in aller Munde.
Kommt und sehet was geschah,
in dem Reich, das ihres war!

Haldana schauderte erneut. Sie wollte es zwar, aber es gelang ihr nicht, sich gegen Golos Gesang zu konzentrieren, ihn zu ignorieren. Zu sehr lenkte der schaurig-falsche Klang und die Furcht, die Golo verbreitete sie ab. Mühsam konzentrierte sie sich.

Rondras Rüstung ist verrostet,
ihre Ehre es sie kostet.
Schlägt die Orks von hinten nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

sang die unheilige Stimme Golos weiter. Wieder fragte sie sich, konnten die anderen Golo dieses Mal auch hören? Oder reagierten sie nur verunsichert, weil Haldana eine plötzliche Furcht ausstrahlte und man ihr die Verunsicherung anmerkte?
Storko blickte finster über die Runde. Was war hier los? Gut, ein Windstoß, erlöschende Kerzen. Sicher, eine schreckhafte Natur mochte sich das zu Herzen nehmen. Aber warum war seine Gemahlin so blass? Warum die junge Schlotzer Baronin? Irgendetwas stimmte nicht, auch wenn Storko sich nicht erklären konnte, was das war.

Ingerimms Feuer sind erloschen.
Aus Zorn wird Efferd gleich verdroschen.
Diesem bricht es alle Glieder,
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

„Entschuldigt, ich… muss mal raus“ sagte Haldana und wollte aufstehen. Aber ihre Füße gehorchten ihr nicht.
„Ist gut, kein Problem“ antwortete Alrik. Der alte Friedwang erinnerte sich an das, was Hesindian ihm im Traum offenbart hatte. Er wusste genug über Golos Erscheinung als Nachtmahr, vielmehr, er hatte sich genug zusammen gereimt, um dessen Handeln einschätzen zu können, auch wenn er ihn nicht wahrnahm. Aber der kalte Lufthauch, das Erlöschen der Kerzen war typisch für diesen Mahr des Ungenannten. Es schien ihm, als laste der Mahr schwer auf der Schwiegertochter. Der alte Friedwang spürte die Verstimmung, die in der Luft lag und die Furcht, die Haldana plötzlich hatte, auch wenn er selbst nichts hörte außer den Gesängen eines mittelmäßigen Barden, der in der Festhalle sein Können zum Besten gab. Aber er konnte zumindest erahnen, was in Haldana vorging oder was sie vielleicht gerade erlebte. Als Phexgläubiger hatte er nicht zuletzt auch ein Gespür für die Gefahren, die im Verborgenen lauerten.
Haldana indes hörte das schändliche Lied Golos weiter, kam dem lästerlichen Gesang und der disharmonischen Musik nicht aus.

Travia als leichtes Mädchen
wandert aufreizend durch’s Städtchen,
Kauft in Gareth fesche Mieder,
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Haldana zitterte. Sie war zu traviasittsam aufgewachsen, um eine solche Lästerung der Göttin der Ehe sich nicht zu Herzen zu nehmen, auch wenn sie nicht speziell der Herdmutter ihre Gebete widmete. „Was ist los, Halda?“ fragte Alboran. Auch er spürte, wenn er schon selbst nichts hörte von Golos Gesang, die Beklemmung, die alle am Tisch, auch ihn, ergriffen hatte. Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, seine Freundin zu beschützen, auch wenn er nicht wusste, wovor und der Angst, die auch ihn ergriffen hatte. Sanft lehnte Haldana ihren Kopf an seine Schulter, was ihr ein wenig die Angst nahm.

Auf des Borons Tempeltreppen
sieht man die Geweihten steppen.
Singen laut obszöne Lieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Glyrana war empfindsamer als die meisten anderen und spürte die unheilige Präsenz mehr. Es war, als greife eine kalte Hand nach ihr. Sie erkannte, dass die junge Baronin offenbar noch mehr als sie selbst von der unheimlichen Präsenz, die zu spüren war, betroffen war. Mit unruhigen Augen sah sie sich um, konnte jedoch nichts Weiteres erkennen als die erloschenen Kerzen. Golo sah sie nicht, hörte nicht das unheilige Lied. Oder doch? Unruhig und mit leichter Beklemmung sah sie nach ihrem Gemahl. Halt… doch. Das Tischtuch bewegte sich leicht, als hätte ein Windstoß es zum Flattern gebracht. Doch ein Wind war gar nicht zu spüren. Glyrana zitterte leicht. Sie war sich nicht sicher… war eine unheimliche Stimme zu hören? Oder ging die Fantasie mit ihr durch? Sie konnte es nicht sagen.

Hesinde tanzt mit den Dämonen,
lässt Skelette bei sich wohnen.
Vor Borbarad, da kniet sie nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Ismena von Oppstein war von einer inneren Unruhe ergriffen, ohne zu wissen, weswegen. Sie bemerkte die Blässe und das Erschrecken, die Haldana und Glyrana ausstrahlten, ohne sich einen Reim darauf machen zu können. Aber sie konnte letztlich ihre Unruhe, ihre Aufregung, nicht erklären. Schutzsuchend blickte sie zu Alrik.

Der Gott des Nordens hat die Grippe,
hustend klappert sein Gerippe.
Schließlich kriegt er auch noch Fieber.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Der Instinkt des Jägers ließ Odilon die Gefahr wittern. Eine Gefahr, die er nicht sehen konnte. Doch er spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, so wie ein Reh es vielleicht spürt, wenn es der Blick eines Luchses oder einer Parders trifft, auch wenn es diesen weder sieht, riecht noch hört. Es war die unerklärliche Gewissheit des Waldläufers, dass eine Bedrohung in der Luft lag, und die Odilon zur Vorsicht mahnte. Odilons Sehnen spannten sich an, bereit, wo auch immer einzugreifen, wenn eine Bedrohung greifbar wurde.

Die Regenbogen sind verschwunden,
die Göttin hat das nicht verwunden.
Tsas Geweihte werden Krieger.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Ein leiser Gesang mit einer unheiligen Melodie drang an Glyranas Ohr. Jetzt hörte sie, was wohl die junge Schlotzer Baronin so mitnahm. Eine unheimliche Stimme mit einer schaurigen Melodie, die einen unheiligen Text sang. Was sie hörte machte ihr Angst.

Meister Phex kauft sich ein Messer,
doch der Händler feilschte besser.
Hundert Sterne fielen nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Alrik befiel eine unerklärliche Unruhe. Es war, als wäre zum ersten Mal in seinem Leben der Fuchsgott nicht in seiner Nähe, als wäre er von seinem Gott verlassen. Was war hier los? Warum befiel so eine seltsame Unruhe alle hier in diesem Raum? Nur mit einem Windstoß und erloschenen Kerzen war das nicht zu erklären. Vielleicht war sein erster Gedanke, dass Golo als Nachtmahr hier sein Unwesen trieb, doch zutreffend gewesen? Er wusste es nicht mit Sicherheit. Es war nur eine Ahnung. Aber er würde mit Haldana reden müssen.

Die Pflanzen werden ausgerottet.
Frau Peraine bös’ verspottet.
Zuerst vernichtet man den Flieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Immer noch war Glyrana unruhig und von einer unerklärbaren Angst erfüllt, auch wenn sie, außer dem verderbten Lied über die Eidechsengöttin, nichts von dem unheiligen Lied vernommen hatte. Sorgenvoll blickte sie zu ihrem Gemahl, der den Blick nicht minder sorgenvoll erwiderte.

In den übelsten Spelunken
liegt Frau Rahja sturzbetrunken.
„Nastarovje, meine Brüder!“
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Vögtin Adginna war keine Regung anzumerken. Sicherlich spürte sie die Unruhe, die auch von ihr Besitz ergriff. Aber sie hatte es gelernt, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen. Mit stoischer Ruhe überblickte sie die anderen und erkannte, dass Haldana und auch Glyrana wohl am blassesten von allen waren. Sie zwang sich, logisch zu denken. Eine konkrete Gefahr war nicht zu sehen, nichts, von dem wirklich eine Bedrohung ausging. Dennoch lag eine eigentümlich bedrohliche Stimmung in der Luft. Vielleicht eher eine Ahnung, ein Gefühl.
Aber die Vögtin zwang sich zur Ruhe.

Im Himmel hört man Praios lachen.
Lächelnd packt er seine Sachen.
Auch dem Letzten wird nun klar,
dass er die Nummer Dreizehn war!

Praiodin Xerber blickte verwirrt auf die Festgesellschaft um ihn. Was war da los? Warum waren alle von einer solchen Unruhe befallen. Alle, außer vielleicht die Vögtin, wirkten angespannt, als läge eine Bedrohung in der Luft. Allein, er konnte sich nicht erklären, was die anderen unruhig wirken ließ. Vielleicht fehlte ihnen allen einfach das rechte Vertrauen in den Herrn Praios, dass ihnen ein Windstoß und erlöschende Kerzen eine solche Angst machten. Der Geweihte war eher verwirrt angesichts der Reaktionen der anderen Gäste.

Das sieht man auch Opp dem Steine
Im Sonnentempel dort, herrscht nur der Eine
Purpurgülden ist sein Glanz
Das Land Oppstein gehört ihm ganz!

Praiodin blickte kopfschüttelnd über die kleine Schar im Festsaal. Vielleicht sollte er am kommenden Morgen doch eine Praiospredigt halten.
Ismena von Baernfarn war von einer nicht erklärbaren Unruhe, vielleicht eher Furcht, übermannt worden. Es war ihr, als würde sie in der Ferne eine Stimme vernehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstand, was sie meinte zu hören. Woher kam diese Stimme? Wurde da tatsächlich die Herkunft ihrer Mutter geschmäht? Von wem und warum?

Loskarnossa steht in Flammen.
Söldner hau’n alles zusammen.
Von des Tiro stolzer Sippe
zeugen nur noch die Gerippe.

Alrik griff nach Haldanas Hand, wie um sie zu beruhigen. Am meisten von allen wirkte die junge Baronin angstergriffen und verstört. Immerhin hatte Alrik eine Ahnung, was in ihr vorging. Die Ereignisse vom Kurgasberg warfen lange Schatten. Es schien, als wäre noch längst nicht alles überstanden, was in der unheiligen Silbermine in den Trollzacken begonnen hatte.

Artema hat Gallys verloren,
schneidet ab man ihr die Ohren,
Und Alboran, ihr eitler Stecher
Wird aus Rache zum Verbrecher

Odilon musste an seine Gefährtin Jirka denken. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum. War sie in Gefahr? Nein, wie kam er darauf? Sie war nicht hier, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass ihr irgendeine Gefahr drohte.
Aber der alte Jäger war erfahren genug, um sich am Riemen zu reißen. Zwar blickten seine Augen, wie um alles ringsum aufzunehmen und zu erblicken, von dem eine Gefahr ausgehen könnte. Doch darüber hinaus gemahnte er sich zur Ruhe.
Und, nicht zuletzt, Jirka konnte sich wehren, wenn ihr Gefahr drohte. Vielleicht besser als er selbst.

Die Neue Kraft, das Haus Mersingen,
Wird dem Lande Unheil bringen,
Fordert heraus den Mund des Raben,
Erneut bald Krieg wir werden haben!

„Jetzt reicht es aber mal!“ donnerte Storkos Stimme über die Terrasse. „Bei den Zwölfen, ein Windstoß, ein paar erloschene Kerzen! Was ist denn los, das ist doch kein Grund, hier gleich in Panik zu verfallen. Spannt den Baldachin ordentlich, Hilberian“ wies er nebenbei einen Diener an. „Wo bleibt Aarwulf mit dem Feuer für die Kerzen?“
Die unheimliche Präsenz war so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war.
„Werte Mitgäste, ich versichere euch, es besteht keinerlei Anlass zur Besorgnis!“
Donator Lumini Praiodîn Xerber nahm hochgemut lächelnd eine der wenigen Kerzen an sich, die noch nicht brannten, entzündete sie an ihrer Nachbarin und steckte sie zurück auf den Leuchter. Im hellen Lichterglanz blickte er feierlich in die Runde. „Ich verstehe eure Sorge, eure Beunruhigung. Die Unheiligen Tage liegen noch nicht sehr lange hinter uns.“ Praiodîns Stimme stockte leicht. Vor einer Runde, die nur aus Adeligen bestand, hatte er noch nie "gepredigt". Der Geweihte versuchte ein wenig die  tiefe, inbrünstige, salbungsvolle Stimme Hochwürden Garafanions zu imitieren. „Damit meine ich nicht allein die verfluchten Tage ohne Namen. Nein, sondern auch die schrecklichen Jahre vor der Gründung unserer Rommilyser Mark“.
Der Baldachin war aufgerichtet, nun widmeten ihm die Gäste ihre ganze Aufmerksamkeit, ebenso wie die Gastgeber. Sehr gut.
„In unserem Leben geht es wieder aufwärts, hier und heute. Wir haben allen Grund zur Zuversicht. Der Heilige Monat unseres göttlichen Fürsten Praios ist angebrochen, sanctus, sanctissimus. Schon morgen wird sein Licht wieder über den zwölfgöttergefälligen Landen scheinen. Uns den wahren Weg weisen und zeigen, dass das, was uns für einen kleinen Moment beunruhigt, vielleicht sogar geängstigt haben mag, nichts weiter als ein Trugbild im Schatten war.“
Nach und nach entspannten sich die Gesichtszüge der Festgäste etwas. Nur Ihre Wohlgeboren Glyrana schien ernsthaft verstört zu sein. Natürlich, sie war eine tsagläubige Frau. Wenn Praiodîn allein an diesen Schrein unten am Hügel dachte. Der fast schon obszön pralle Leib der schwangeren Göttin hatte ihn an den eigentlichen Grund seines Hierseins erinnert. Ein Anblick, der ihn beinahe mehr geschmerzt hatte als seine Verwundung. Ysilda...
Es würde schwer werden, die Edle zu Zaberg heute Abend noch zu einem Gespräch unter vier Augen zu bewegen, in einer derart delikaten Angelegenheit. Aber er konnte schon jetzt seine Autorität als Praiosdiener unter Beweis stellen.
„Wir erleben wahrlich Tage des Neubeginns. Gewiss, hie und da auch im Sinne der Jungen Göttin. Aber die Zukunft, das Neue und Unbekannte, der stete Wandel und die rasch wechselnden Jahre sind immer auch beängstigend, wenn wir ehrlich zu uns sind.“ Ein großmütiges Lächeln in Richung Glyrana. Ihre Glaubensschwärmerei würde sich noch mäßigen, davon war er überzeugt. Er selbst, der ehemalige Tsa-Novize, hatte aus seiner jugendlichen Verirrung wieder zurück auf den rechten Weg gefunden. Hatte die eine gerade Straße zum Licht beschritten. Statt sich auf den verwirrenden Schleichwegen der Echsengöttin durch ein Leben voller Chaos und Unruhe zu schlängeln.
„Praios allein wacht über den Neubeginn, wie wir ihn erst vor kurzem in seinem Hause feiern durften. So hoffe ich es doch zumindest für alle hier Anwesenden. Der lange Tag der Sommersonnenwende war zur Gänze erfüllt von seinem Licht. Lassen wir es nun auch in unseren Herzen und Seelen aufleuchten. Tragen wir es hinaus in eine Welt, die vielerorts noch verschattet ist von der Finsternis und dem Fluch falscher Götter. Möge Praios alveranisches Licht, das auch in der Stunde der Nacht niemals weichen wird, unsere Seelen erhellen.” Praiodîn schlug feierlich das Sonnenzeichen und nahm Platz. Alles Böse, aller Dunkelsinn schien mit einem Mal von der Burgterrasse verschwunden zu sein.
Dennoch, der Lichtbringer hatte bei seinem Tischgebet zu lange gestanden. Seine frisch verbundene Wunde rief sich nun wieder schmerzlich in Erinnerung. Der Verband hatte sich rot gefärbt, ein wenig warmes Blut lief seine Wade hinab. Praiodîn lächelte krampfhaft und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Seltsam, dass in einem solchen Fall von einem Diener der Wahrheit keine vollkommene Ehrlichkeit verlangt wurde.
Der Barde begann wieder leise zu singen, alles schien wie vor dem "kalten Abendhauch" zu sein. Alboran winkte einen der Diener heran, um seinen Metbecher füllen zu lassen. Erst jetzt sah er, dass der bocksnasige, schwarzgelockte Junge ein bekanntes Gesicht war: Ravenhart, sein Vetter aus Senkenthal. Oder Halbvetter?
"Er hat unbedingt darauf bestanden, dich zu bedienen", sagte Storko. "Der Neffe meiner Gemahlin weilt noch nicht sehr lange bei uns als Page auf der Burg."
"Dein erstes Fest?" fragte Albo, freundlich, aber auch etwas gönnerhaft. Ravenhart nickte aufgeregt und musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um das Getränk von der schweren Kanne in den Becher zu füllen. Dumpf schlug Kupfer gegen Kupfer. Ein wenig Met schwappte heraus und tropfte dem Junker von Gießenborn über die Hand. Lächelnd leckte Albo sich den Handrücken sauber. "Du machst das sehr gut, kleiner Vetter. Wurdest du bereits im Schwertkampf unterwiesen?"
Ravenhart strahlte über das ganze Gesicht. "Ich durfte gestern schon ein echtes Langschwert in Händen halten."
"Sehr schön." Albo wuschelte dem Pagen über den Kopf. Womöglich würde der Knirps einmal Baron von Friedwang werden, jetzt, wo er selbst sich nach Schlotz verheiratete. Ihm war es gleich. Onkel Bisch war damals übel mitgespielt worden, das musste er zugeben. Alles sehr unrondrianisch und praiosungefällig, was geschehen war.  Aber nun würde sich die Geschichte wieder zum Guten wenden. "Du wirst sicherlich einmal ein großer Ritter und Held vieler Turniere!"
Ravenhart blickte Alboran stolz an, als hätte er gerade eben den Ritterschlag erhalten.
"Ich habe gehört, du wirst bald schon heiraten? Auf unserer Burg?!!" sprudelte es begeistert aus dem hochstirnigen, vornehm blassen Knaben hervor. Er schien ziemlich aufgekratzt zu sein, was Wunder ob der vorgerückten Stunde.
"Auf unserer Burg?" Alboran blickte schmunzelnd in die Runde. "Der junge Herr scheint sich bestens eingelebt zu haben, am Gernat. Zunächst einmal muss ich mich verloben, mit der Liebe meines Lebens." Er sah zu Haldana, die bemüht zurücklächelte. Was hatte sie jetzt schon wieder? War er etwa zu weit vorgeprescht? Aber sie waren doch ein festes Paar, oder?
"Ich nehme an, ihr werdet den Traviabund auf Burg Schlotz feiern?" fragte Storko, um die stockende Konversation wieder in Gang zu bringen. Die Frage galt Haldana, die immer noch verwirrt war. Hatte sie den unheiligen Gesang als Einzige gehört? Sah so aus. Oder war das wie im Märchen von Bardos und Cellas neuen Kleidern, wo niemand zugeben durfte, dass Ihre Kaiserlichen Majestäten in Wahrheit splitterfasernackt waren? Wer gestand schon gerne ein, unheilige Gesänge zu hören, die niemand sonst wahrnehmen konnte...im besten Fall landete so ein Mensch früher oder später im Noionitenspital. Wenn nicht gleich im Kerker der Heiligen Inquisition. Gut, dass Seine Gnaden Praiodîn keine Nachfragen gestellt hatte.
"Wie, äh, der Traviabund, ach ja..." Sie schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter.
"Burg Schlotz wäre gewiss der rechte Ort für so eine Feier." Adginna blickte zu Alrik, der wiederum stirnrunzelnd zum Barden blickte (der sich keinerlei Schuld bewusst zu sein schien). "Der Traviamond wäre dazu bestens geeignet."
"Ist das nicht ein wenig spät?" fragte Haldana. "Die Wege werden alle aufgeweicht sein..." Eigentlich dachte sie mehr daran, dass sie vielleicht schon im Traviamond eine erkennbare Kugel von sich her schieben würde, daher wollte sie nicht mehr so lange warten.
"Im Spätsommer wollten wir auch noch Burgeinweihung feiern", sagte Storko. "Vielleicht sogar mit einem kleinen Turnier." Er schaute in Richtung Ravenhart, der nun mit zusammengepressten Lippen  bei Onkel Alrik nachschenkte. Das sah alles noch sehr ungeschickt aus, aber seine "Adelslehrzeit" hatte ja gerade erst begonnen. Spontan kam dem Landjunker ein Gedanke.
"Man könnte die Hochzeit auch bei uns feiern, auf Gernatsborn. Oder besser gesagt, gleich mit der Burgweihe verbinden. Dann müssen die Gäste nicht zweimal anreisen. Und auch nicht zweimal Einladungen verschickt werden..."
"Mein lieber Storko", sagte Alrik. "Du bringst mich ganz in Verlegenheit. Deine Großzügigkeit ehrt dich, aber...So ein Fest ist nicht billig...Es ist schon viel, dass wir deine Gastfreundschaft - und die deiner wunderbaren Gemahlin - heute Abend in Anspruch nehmen dürfen."
"Wenn sich Baronin und Baron verehelichen, sollte das Traviafest schon auf ihrer Heimatburg stattfinden." Adginna nickte ernst. "Wie es Tradition und Sitte verlangt."
Auch vor den inneren Augen der Vögtin tauchte einen Moment lang die Gesegnete Tsa auf, unten in ihrem Schrein. Was würde eine Trauung in einer derart...neumodischen Kapelle für ein Geschnatter geben, nach all den Unschicklichkeiten, die bereits passiert waren?
"Nun, im alten Darpatien gab es mal den schönen Brauch der Flatterwoche." Storko befreite Ravenhart mit einer Handbewegung von seinem Pagendienst. "Nach dem offiziellen Traviafest durfte das junge Gänsepaar erst einmal hinfliegen, wohin und feiern, mit wem es wollte. Ein Ausflug auf eine der Nachbarburgen war nicht unüblich, um die Verbundenheit mit dem übrigen Adel zu zeigen..."
"Es ist wirklich sehr schön hier." Albo blickte verträumt zum Gernat, der ihn im Abendrot ans liebliche Gießental erinnert hatte. Auch wenn der Fluss größer und ruhiger war als der rauschende Wildbach in der Vorsichel (wo es aber ebenfalls ein Bergwerk gab). Gernatsborn, Gießenborn - die Namensähnlichkeit kam ihm wie ein gutes Omen vor. Plötzlich erinnerte sich der Knappe wieder an Ludwinas Brief. An die Warnung vor dem, was sich in den Abgründen unter Burg Schlotz verbergen mochte... Oder waren die Einflüsterungen der alten Oberhexe die wahre Bedrohung für sein Seelenheil?