9. Kapitel - Ein Duell auf den Dächern

9. Kapitel

Kampf auf den Dächern



Unweit Sokramshain, Sonnenaufgang am 6. Praios 1043
Arthorn hob die Arme, als der erste wärmende Strahl der Sonne über den Hügeln der Schlotzkuppen empor brach und die steinerne Oberfläche eines Felsbrockens, der einem übergroßen Tisch ähnlich, auf der Anhöhe eine halbe Meine firunwärts von Sokramshain lag, wiederum umrahmt von mehr als einem Dutzend etwa anderthalb Schritt Höhe zählender Menhire aus dunkelbläulich wirkendem Gestein. Steine, die so groß und schwer waren, dass wohl nur Riesen sie hätten errichten können, weswegen der Steinkreis auch Aarmarischer Steinkreis genannt wurde.
Der erste Lichtstrahl der Sonne fiel exakt über die Spitze einer im Rahjafirun stehenden Felssäule und warf den Schatten der Felsspitze auf die Oberfläche des Steines. Arthorn verfiel in einen tiefen, langsamen Gesang, der keiner bekannten Sprache zu entstammen schien. Waren es auswendig gelernte Worte einer heute vergessenen Zunge? Oder waren es rituelle, jedoch keine Bedeutung innehabende Laute, die der Druide sang? Konnte überhaupt irgendjemand diese Frage beantworten? Oder war diese Frage völlig bedeutungslos, die sich vielleicht mancher der der Predigt lauschenden Zuhörer stellte?
Arthorns Stimme überschallte mit einem melodischen Bariton die auf dem Hügel versammelten Menschen. Noch einige Minuten lang rezitierte der Druide seinen rhytmischen Sprechgesang. Dann verfiel er in die Sprache, die allen geläufig war.
„Freunde des ewigen Landes, der ewigen Wiederkehr von Gedeihen und Dahinscheiden, Freunde des Wutzenwaldes, Freunde des Sichelhags, Freunde des Landes von Veratia. Ich danke Euch für die Ehre, hier zu Euch sprechen zu dürfen.“
Ein erwartungsvolles Schweigen schwang ihm entgegen. Der alte Druide war erst im Frühjahr von den Seinigen, den Angehörigen seines Druidenzirkels, zum obersten Druiden der Region bestimmt worden - und damit zugleich zu so etwas wie einer Art Hohepriester der Alten Kulte – wenn eine solche hierarchische Deutung, die eher den Kirchen der Zwölfgötter als einem Naturglauben entsprechen mochte - überhaupt zulässig war. Und vor allem deswegen war die traditionelle Levthans- und Sonnwendfeier der Alten auf dem Hügel bei Sokramshain auf den sechsten Tag nach der Sonnenwende verschoben worden – Arthorn hatte die Sonnwendfeier am längsten Tag des Jahres noch in Kamlanodis zelebrieren müssen – dort stand mehr das Sonnwendfest und nicht die Levthanszeremonie im Vordergrund, weswegen das Fest dort nicht verschoben werden konnte – und hatte sechs Tage für die Reise zum Schlotzer Sokramurshügel gebraucht.
„Meine Freunde im Glauben“ begann Arthorn erneut. „Die Sonne, die zur Wintersonnenwende neu geboren wurde, hat nun ihren höchsten und hellsten Stand erreicht. Das Halbjahr des Niedergangs im ewigen Kreislauf des Lebens beginnt. Lasst uns Sumu, der Allschöpfenden und Allgebärenden, danken für die neue Wiedergeburt des Lebens vor sechseinhalb Mondläufen, und lasst unsere Gebete und Gedanken darauf richten, dass auch auf diese Phase des Niedergangs in erneut sechseinhalb Mondläufen ein Ende findet und aus dem Vergehen wieder neues entstehen wird.“
Wieder hob Arthorn vom Kallerishain die Arme, und die versammelten, geschätzt zweihundert Menschen fielen in einen gemeinsamen Gesang ein. In ein Lied, das die Sonne, das Licht und das Geheimnis des Leben besang. Während noch die Versammelten ein letztes Mal den Refrain sangen, geleiteten mit Blumengirlanden geschmückte Mädchen eine rothaarige, geschätzt noch nicht zwanzigjährige Frau, den Hügel hinauf und in das Innere des Steinkreises.
Neben dem Felsen, zu dem die Blumenmädchen die Rothaarige führten, hatten sich Trommler eingefunden und im Schneidersitz niedergelassen. Wie auf ein unmerkliches Kommando hin begann ein erst leises, dann lauter und kräftiger werdendes Tremolo, das in einen abgehakten und asynchronen Rhythmus überging, zu dem Arthorns Bariton in einen Sprechgesang verfiel.
Ein nur mit einem weiten Fellschurz und einer Widdermaske bekleideter Mann sprang aus dem Schatten eines Menhirs hervor und tänzelte mit wilden Sprüngen um den Stein, zu dem die Rothaarige geführt wurde. Die Trommler schlugen ihre Instrumente schneller. Dann, auf einen Wink des Widders, hörten die Trommler schlagartig auf, ihre Instrumente verstummten. Im gleichen Augenblick warf die Rothaarige ihren weißen Leinenumhang ab und präsentierte sich, wie Sumu sie geschaffen hatte. Von den Blumenjungfern geleitet wurde die Rothaarige – von den Besuchern der Sonnwendfeier wurde sie als Reginlind, die junge Hüterin des Satuarienschreins von Schwaz wieder erkannt – auf den felsenen Altar geleitet.
Rimhilde reckte sich aus der Reihe der Zuschauer, um einen Blick auf das Treiben um den Felsenaltar besser beobachten zu können. Rimhilde hatte selbst keine herausragende Rolle inne innerhalb der Anhänger der Alten Kulte. Ihre besondere, sonst eher unerkannte Funktion als Auge und Ohr der Alten am Baronshof verbot das. Insbesondere hätte es der eigeborenen Hexe gefallen, selbst das Fruchtbarkeitsritual zu vollziehen, zumal es Gerbold als Sprecher der Alten zukam, als Inkarnation Levthans am Ritual teilzuhaben. Nun, so würde denn die junge Hüterin des Schreins zu Schwaz, die ehemalige Schülerin der alten Heilerin Brinadette in den Genuss der rituellen Vereinigung kommen. Rimhilde hatte sich daran gewöhnt, den ihr heimlich vor den alten Göttern angetrauten nicht für sich allein haben zu können. Ihn nun mit Reginlind teilen zu müssen machte ihr nichts aus. Weniger jedenfalls, als ihn mit einer rechtsgültigen Eheschließung formal an die Gernatsquell verloren zu haben.
Wieder setzte rhytmisches Trommeln ein. Die Inkarnation Levthans näherte sich der auf dem Altar liegenden Reginlind. Da unterbrach ein lauter Schrei das beginnende levthansgefällige Treiben.
Mit wilden Sprüngen erschien eine zweite Inkarnation Levthans auf der Kuppe, er war offenbar zuvor unbemerkt in den Reihen der Festteilnehmer gestanden, ehe er sich die Levthansmaske übergestülpt und in die Mitte gesprungen war.
„Du nicht, Handlanger der Zwölfgötter!“
Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge. Den Angesehensten unter den Anhängern der Alten Kulte als Handlanger der Zwölf zu bezeichnen, war, wie unschwer für jeden zu verstehen war, wohl fast die größtmögliche Beleidigung, die man einem Altkultisten entgegen bringen konnte. Und es war, ebenso deutlich, eine Herausforderung, ein Machtkampf.
„Wer bist du, der einen Zweikampf mit einer Verleumdung beginnt?“ Gerbold hatte sich – mit einem Anflug von Bedauern – von der hübschen Satuarientochter abgewandt, um sich dem Herausforderer zuzuwenden. Gerbold war überrascht. Er hatte nicht mit einem Herausforderer gerechnet, auch wenn Rimhilde ihre Sorge zu seiner Stellung in der Gemeinschaft der Anhänger Sokramurs geäußert hatte. Nun, immerhin entnahm er dem Zeitpunkt der Herausforderung, dass der Unbekannte sich einer Mehrheit unter den versammelten nicht sicher war. Mit einer Mehrheit der Sokramursjünger hinter sich hätte er einen anderen, weitaus sichereren und gefahrloseren Weg wählen können, ihn von der Spitze zu vertreiben. Sein Rivale hätte dann nicht eine Herausforderung hier und jetzt gewählt, bei dem die Kraft, die Kampfesfertigkeiten und die Schnelligkeit eine Rolle spielten, und bei dem Gerbold nicht ablehnen konnte, wollte er weiterhin der Einflussreichste unter den Altkultisten bleiben. Das Element des Kampfes zweier Rivalen um ein paarungsbereites Weibchen war zu verbreitet unter Sumus tierischen Bewohnern. Wer einem solchen levthansgefälligen Kampf aus dem Weg ging, der stand in der Rangfolge noch hinter jemandem, der einen eben solchen Zweikampf verlor. Gerbald konnte also dem Zweikampf nicht aus dem Weg gehen, und sein Herausforderer schätzte sich wohl als stärker ein.
Dennoch hatte er kein gutes Gefühl. Sein Gegner schätzte sich ihm vermutlich nicht ohne Grund überlegen ein. Klar, Gerbold war kampferfahren und routiniert. Aber er spürte die ersten Anzeichen des Alters, und er selbst hatte sich nicht auf einen Zweikampf vorbereitet. Einen Zweikampf, der, anders als ein ritterliches Duell unter Anhängern der Rondra, nicht festen Regeln unterworfen war, und in dem das sich verschaffen eines Vorteils nicht als Trug galt.
Statt einer Antwort kam ein Stein geflogen. Ein Stein, den der Herausforderer vom Boden aufgehoben und nach Gerbold geschleudert hatte. Jedoch nicht so schnell und überraschend, als dass der Sokramshainer mit einer raschen Drehung seines Körpers dem nicht ausweichen konnte. Das Wurfgeschoss prallte an einem Menhir ab und fiel zu Boden.
Gerbold blieb ruhig. Wenn der Herausforderer sich nicht erklärte konnte es sein, dass er an Redegewandtheit sich ihm unterlegen einschätzte. Das wollte er nutzen, die Stimmung auf seine Seite zu ziehen. „Also kein Name. Aber nur jemand aus unserer Mitte darf sich das Recht heraus nehmen, selbst um seine Teilnahme am Ritual der Fruchtbarkeit teilzunehmen. Kein Name, keine Teilnahme. Also entferne dich, Fremder.“
„Er ist einer von uns!“ rief eine Frauenstimme aus der Menge. „Aber bist du das auch, oder frisst du dieser Gernatsquell schon aus der Hand?“
Gerbold konnte nicht erkennen, wer sich da auf die Seite seines Herausforderers schlug, aber das zustimmende Raunen der Menge machte ihm Sorgen. Wer immer das war, sie wusste zumindest, wo sein wunder Punkt war. Rimhilde hatte ihn gewarnt.
„Nein, tut er nicht!“ brüllte Leubold, sein Sohn. „Er stopft sie nur, und die Gernatsquell stöhnt wollüstig dabei.“
Einige Lacher erklangen. Gut, dachte Gerbold. Sein Sohn hatte zwar unflätige Worte gewählt, die dennoch dazu geeignet waren, die Stimmung unter den vielen einfachen Landleuten zu seinen Gunsten einzunehmen.
„Ich würde eher sagen, diese Gernatsquell hörnt dich, Gerbold! Aber nicht mit Levthanshörnern!“
Das war nicht gut, dachte Gerbold. Da schien sich jemand mit den tatsächlichen Hintergründen seiner Ehe mit Valyria auszukennen. Kein Thema, das in einer hitzigen Stimmung wie jetzt gut auszudiskutieren wäre.
„Oder hat dieser Leuenkriecher dich gehörnt, Gerbold!“ rief eine andere Stimme
Verdammt. Sein Herausforderer stand nicht allein. Er hatte Anhänger unter den Festgästen. Nun, damit war zu rechnen gewesen. Diese Pöbeleien waren zwar dazu geeignet, ihn in seiner Stellung zu schwächen. Die Gemeinschaft der Altkultisten anzuführen und auch gegen manche Adelige zu behaupten, dazu bedurfte es aber mehr als diesen billigen Populismus.
Nur, mit diesen staatsmännischen Überlegungen käme er jetzt nicht weiter, das wusste Gerbold auch.
„Was jetzt, willst du schwätzen, oder machen wir das aus wie Männer?“ blaffte der Unbekannte ihn an.
„Zeig dein Gesicht. Zeig, dass du einer von uns bist, oder verschwinde.“ antwortete Gerbold
Vielleicht kein schlechter Schachzug. Wenn der Herausforderer nicht tatsächlich aus den Reihen der Schlotzer Altkultisten stammte, dann würde er der Aufforderung nicht nachkommen können, und jeder der Anwesenden würde sich seinen Teil dazu denken.
Doch der Herausforderer tat ihm nicht den Gefallen, das Abnehmen der Maske zu verweigern. Gerbolds Blick fiel auf das Antlitz seines Herausforderers. Ein junges Gesicht… keines, das er persönlich kannte. Aber eines, dessen Gesichtszüge ihn an jemanden erinnerten.
„Du deutest das richtig, Sokramshain. Mein Dorf mag verbrannt sein, meine Leute mögen vom Rotpelz und von plündernder Soldateska erschlagen worden sein, mein Vater mag gestorben sein. Aber ich lebe. Ich bin Sokramorian von Schratenholzen, und ich werde deine Kuscheleien und Schmusereien mit den Paktierern der Zwölf nicht mittragen. Allzu lange liegst du schon im Bett der Gernatsquell, Ich fordere dich heraus, wenn du noch etwas Mumm hast. Falls nicht, krieche zurück unter die Decke zu deiner Bumsböckel in die Methstube.“
Aha. So nahm die Sache wenigstens langsam Gestalt an. Rimhilde hatte ihn gewarnt, das seine Ehe mit Valyria zwar politisch sinnvoll gewesen sein mochte, aber nicht unumstritten in den Reihen der Altkultisten war.
Gerbold überblickte die Anwesenden der Levthansfeier, die einen so unvorhergesehenen Verlauf genommen hatte. Klar schien es, dass diejenigen unter den Altkultisten, die auf der Seite des Schratenholzers standen, lautstärker und auffallender waren. Aber diese waren, davon war auszugehen, auch auf die Herausforderung vorbereitet gewesen. Die weit größte Anzahl der Versammelten war genauso überrascht wie er selbst, und verhielt sich abwartend. Aber eine schweigende Mehrheit, die er hinter sich versammeln konnte, wenn er geschickt vorging.
Gerbold lächelte. „Nun gut, Sokramorian. Dann erst einmal willkommen zurück in unseren Reihen, wenn du es denn wirklich bist. Aber lass dir gesagt sein, Schratenholzer. Mit Pöbeleien allein magst du vielleicht einige Lacher gewinnen, aber ob das dann unserer Sache dient, daran zweifle ich. Es mag an deinem jungen Alter liegen, und ich will nachsichtig sein. Aber eines sollte uns die Erfahrung seit der Tyrannei der Priesterkaiser gelehrt haben. Auf lange Sicht triumphiert nicht der, der schneller seine Feinde töten kann. Es wird derjenige bestehen, der weniger Verluste verbuchen muss, und der seine Verluste schneller ausgleichen kann. Das Wachstum ist stärker als Vergehen, und nur weil wir das immer beherzigt haben, konnten wir bestehen. Das hat uns in den Jahrhunderten seit unserer fast vollständigen Auslöschung unter der Tyrannei der Priesterkaiser bis in die Gegenwart stark gemacht. Das hat uns viele Stürme überstehen und sogar wachsen lassen. Also lass deine sinnlosen Schmähungen. Was hast du für uns getan, Sokramorian? Mehr als provozierende Reden geschwungen? Kannst du mehr, als diejenigen, die sich in den letzten Jahren Verantwortung getragen haben, zu beleidigen? Da magst du leicht reden, dir von deinen Claqueuren zujubeln lassen. Aber kannst du auch mehr?“
Statt einer Antwort stürmte Sokramorian auf Gerbold zu. Immerhin, er schien keine passende Antwort parat zu haben, dachte der Sokramshainer, während er dem Ansturm des sicher zwei Dekaden jüngeren Angreifers auswich, auszuweichen versuchte. Der Faustschlag Sokramorians rammte sich in die Magengrube des ergrauten Zwölfengrunders. Gerbold japste nach Luft. Er hatte die Reaktionsschnelligkeit und die Geschwindigkeit des Angreifers unterschätzt.
Ein herauf zuckendes Knie. Ein stechender Schmerz in der Leibesmitte. Der Tritt Sokramorians saß. Gerbold jaulte auf vor Schmerz, ging zu Boden, krümmte sich und rollte sich zur Seite. Der Schratenholzer setzte nach. Gerbolds Hand ertastete einen Ast, der am Boden lag. Griff nach ihm und warf ihn nach Sokramorian.
Rimhilde fühlte den Schmerz nach, den Gerbold bei diesem Tritt in seine empfindlichste Stelle erleiden musste. Aber nicht nur deswegen konnte sie es nicht zulassen, dass ihr insgeheim vor den Alten Angetrauter hier so sang- und klanglos unterging. Rasch flüsterte sie die Formel, die ihr wie von selbst über die Lippen kam.
Der Ast, den Gerbold geworfen hatte, entwickelte ein Eigenleben, schwirrte einem fliegenden Knüppel gleich um Sokramorian herum und deckte diesen mit Hieben ein. Hiebe, die Sokramorian mehrfach mit Wucht an beiden Armen trafen, ehe es diesem gelang, endlich den fliegenden Knüppel zu erhaschen, festzuhalten und über dem Knie in zwei Hälften zu brechen.
Gerbold hatte sich indes wieder aufgerappelt. Die Schmerzen unterdrückend stürmte er auf Sokramorian zu, hieb ihm seine Faust unter das Kinn, während der jüngere Kontrahent, verlangsamt aufgrund der zahlreichen Knüppelhiebe auf seine Arme, nicht schnell genug reagieren konnte. Erst die rechte Führungshand, dann die linke Schlaghand. Sokramorian stürzte wie ein Mehlsack zu Boden. Sokramorian rührte sich nicht. Die eisenharte Linke, seit jeher Gerbolds starke Hand, hatte das Ihrige getan. Blut floss aus Nase und Mund seines Herausforderers, der regungslos auf dem gräsernen Boden im Aarmarischen Kreis liegen blieb.
Gerbold warf einen kurzen, dankbaren Blick zu Rimhilde. Er wusste genau, wem er seinen Sieg verdankte. Dann wandte er sich wieder Reginlind zu. Die rothaarige Hexe aus Schwaz hatte den Zweikampf mitverfolgt. War die Hexe froh, dass er gewonnen hatte? Oder hatte sie insgeheim seinem jungen Herausforderer die Daumen gedrückt? Woher sollte Gerbold das wissen? Er meinte, dem Gesichtsausdruck der Hexe zu entnehmen, dass sie nach der unerwarteten Störung und dem Zweikampf keine rechte Lust mehr auf das Ritual zu haben schien. Hatte sie insgeheim auf Sokramorian gehofft? War sie Teil des Aufbegehrens gegen seine Autorität unter den Alten? Begeistert über seinen Sieg schien sie jedenfalls nicht zu sein. Die Schwazer Hexe hatte kein Lächeln für ihn übrig. Dabei hatte sie doch gewusst, mit wem sie das Ritual begehen sollte.
Nun, dem mochte so sein. Schmerzhaft rief sich ihm das Knie Sokramorians in Erinnerung. Nach diesem wörtlichen Tiefschlag, den er erlitten hatte, würde aus der Levthansehe, so wie es alle erwartet hatten, jetzt ohnehin nichts werden. Gerbold warf einen Blick auf Reginlind, ging langsam auf den Felsenaltar zu. Jetzt, in seinem Zustand, auch nur zu versuchen, das Ritual zu vollziehen, würde eine mehr als peinliche Vorstellung werden. Es nicht zu tun, wäre aber kaum besser. Wie sollte er der Sprecher der in Schlotz auch vom Levthanskult geprägten Altkultisten sein, wenn er jetzt nicht seiner Rolle gerecht wurde? Wenn in einem Fruchtbarkeits- und Levthanskult ihm gerade jetzt die Fruchtbarkeit versagte? Da konnte er gleich aufgeben und Sokramorian den Sieg und die Führung über die Altkultisten schenken.
Einer Eingebung folgend setzte er ein levthangefälliges, lüsternes Grinsen auf und lächelte Reginlind an, ging gemessenen Schrittes und mit einem nicht lauten, aber hörbaren Lachen auf die im Rahjagewand wartende Schwazer Hexe zu, fasste sich prüfend an den Schurz – der zum Glück weit geschnitten war und sein peinliches Unvermögen vor den Blicken anderer verbarg. Wieder wurde sein Grinsen breiter. Einen Augenblick zweifelte er, dass sein Plan aufgehen könnte, setzte er doch darauf, dass die Hexe auf Sokramorians Seite stand und fest mit seinem Sieg gerechnet hatte. Und darauf, dass sie ihm nicht freiwillig hingeben und zu einem weiteren Jahreskreis an der Spitze der Altkultisten verhelfen wollte. Dass sie ihn nicht wollte.
Mit einem lüsternen Gesichtsausdruck fasste er der Hexe an den schlanken Fuß, fuhr spielerisch an der Innenseite des Schenkels in Richtung von deren Körpermitte.
Gerbold hatte darauf gesetzt, dass sich Reginlind ihm entziehen würde. Dann würde nicht er das Scheitern des Rituals zu verantworten haben, sondern seine Gegner. Für ihn im Augenblick die beste Möglichkeit, gesichtswahrend das sich anbahnende Fiasko abzuwenden. Ein Blick in Reginlinds Gesicht verriet ihm, dass diese tatsächlich auf einen anderen Ausgang des Zweikampfes gehofft hatte, dass sie sich auf Sokramorian gefreut hatte und ihn, Gerbald – nicht wollte. Dennoch machte sie keine Anstalten, sich der rituellen Hochzeit zu entziehen, dennoch war sie verhaftet in die Zwänge, die sich aus ihrer Teilnahme an der Levthansfeier ergaben.
Gerbold setzte alles auf eine Karte. Ein kurzer, dankbarer Blick zu Rimhilde, wohl kalkuliert, denn er konnte davon ausgehen, dass die Schwazer Hexe wusste, welche Satuarientochter ihm im Zweikampf beigestanden hatte mit ihrer Magie. Gelang es ihm, das Mädchen mit einem Trick, einer glaubhaften Drohung, dazu zu veranlassen, das Levthansritual abzubrechen, damit er das nicht musste?
„Ich weiß, auf welcher Seite du stehst, Reginlind. Nun, ich verzeihe Dir, mein Mädchen. Du wirst mir dafür ein Kind austragen.“ Mit einem breiten Grinsen und leichter Grobheit legte er seine linke Hand, die immer noch verschmiert mit Sokramorians Blut war, auf Reginlinds Rahjasfrucht. Eine rote Spur von Sokramorians Blut führte, wo Gerbold seine Hand bewegt hatte, an der Innenseite von Reginlinds Schenkel entlang.
„Niemals!“ schrie die junge Hexe, schob sich mit den Händen auf dem Felsenaltar nach hinten, sprang auf und eilte den Hang des Sokramshügels herunter.


Burg Gernatsborn, am Morgen des 6. Praios
Praiodîn stöhnte leise und versuchte, einen Moment lang nicht an die pochenden Schmerzen in seinem Unterschenkel zu denken. Es war, als würde der Goblin mit im Bett der Gästekammer sitzen, um wieder und wieder den Säbel in sein sündiges Fleisch zu hacken. Kaum weniger als "Kors Rache" peinigte den Geweihten die Seelenqual.
"Ich...ich werde dem Geweihtenamt entsagen..." flüsterte er leise, mit Tränen in den Augen, die auch, aber nicht nur, seinen körperlichen Qualen geschuldet waren.
Mit verschwommenen Blick sah er hinüber zu Baron Alrik, der im Licht des frühen Morgens die Heilige Praiociosa begutachtete. "Sieh an. Garafanion hat unsere gute Kara von Baliho restaurieren lassen? Hübsch...hübsch...sieht aus wie neu, unsere Weidener Elfenfreundin." Der Friedwanger rückte seine Schaube zurecht und drehte sich zum Krankenbett um. "Was sagtet Ihr gerade, Euer Gnaden?"
"Ich habe versagt", ächzte der Lichtbringer. "Schon wieder und auf ganzer Linie versagt...Ich bin es nicht wert, auch nur einen Tag länger der Gemeinschaft des Lichts anzuhören."
"Nana, wer wird denn an so einem wunderbaren Praiosmorgen derart trübe Gedanken hegen".
Der Baron von Friedwang trat ans Fenster und gähnte gemütlich. Der Blick über die Landschaft an der Gernatsbeuge war herrlich, gerade jetzt, wo die Flussaue mit zartem Morgennebel überhaucht war. "Ah, da drüben steht sie ja, die berühmte Weide...also um die zu treffen braucht es schon die Balliste oben auf dem Bergfried. Wie um alles in der Welt konnten wir nur auf ein derartiges Narrenspiel hereinfallen?"
Der Geweihte zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. "Ich habe den Namenlosen auf diese Burg gebracht. Um ein Haar wäre Glyrana von Mersingen ermordet worden. Die Gemahlin des Wehrvogts...die Edle von Zaberg. Wegen mir. Es ist alles nur meine Schuld."
"Ihr sagt es – um ein Haar." Der Friedwanger lachte in sich hinein.  Das hätte er sich in Brabaker Zeiten nicht träumen lassen: Dass er mal einem Praiosdiener mit tröstenden Worten beistehen würde, in einer Glaubenskrise. Vermutlich litt der Praiot aber auch an den Nachwirkungen des unheiligen Rauschtränkleins. Da waren vermutlich Zutaten drin wie Rattenpilz oder Purpurmohn...mit diesem namenlosen Zeug hätte man den Boten des Lichts in Zweifel stürzen können.
"Euer Gnaden, ich bitte Euch. Eure Schilderung des Casus war mehr als eindeutig, ebenso die scharfsinnige Beobachtung Odilons, was die Fußspuren betrifft. Diese Renia Hagewisch" – ein verächtliches Schnauben – "hat die Rotpelze angeheuert. Um Euer Vertrauen zu erschleichen. Sie hat mit den Räubern von Anfang an unter einer Decke gesteckt. In dem Schnaps, den sie Euch aufgenötigt hat, befand sich Dunkler Trost. Ein machtvolles Rauschmittel, mit dem wir es in Friedwang bisweilen schon zu tun hatten. Leider...der süßliche Geruch spricht für sich, ebenso die Wirkung. Die Attentäterin dürfte in Wahrheit Yasinthe Dengstein sein, eine üble Handlangerin des Namenlosen. Jadvige hat mir von den neun Fingern erzählt, und Glyrana konnte sich auch wieder an sie erinnern. Vor allem an ihre Stimme...dieses ysilische Geblöke hört sich schon furchtbar an, wenn das Schaf kein purpurnes Fell trägt." Alrik grinste schelmisch, wischte sich ein Stäubchen vom Pelzbesatz seiner Schaube und setzte sich auf den Schemel, neben die Heilige Praiociosa.
"Ich muss schon sagen. Dieses hässliche Luder traut sich was...spaziert einfach so in diese Burg hinein. Nach allem, was damals in Efferding passiert ist". Der Mondschatten hatte eine kleine, aufklappbare Taschensonnenuhr entdeckt, gleich neben dem Sonnenszepter, der Statue und ein paar Praiosblumenkernen. Alrik öffnete die Augenklappe, musterte die Göttersymbole am Stundenring und linste am Stab vorbei, dessen Schattenwurf die Stunden anzeigte. Schattenweiser wurde er genannt, ein Name, der ihm gefiel. So weit er wusste, mussten diese neumodischen Dinger gen Firun ausgerichtet werden, um zu funktionieren. Womöglich hatte sich Yasinthe davon zu ihrer Scharade mit dem Nordstern inspirieren lassen.
Auch wenn die kleine Reise-Praiosuhr noch kein Vinsalter Ei war, dürfte sie ihrem Besitzer ein paar schöne Dukaten gekostet haben. Hochwürden Garafanion hantierte gerne damit herum, vor der Basilika und auf dem Marktplatz. Wenn der Custos sie Bruder Feenbein mit auf den Weg gab, schien er einiges Vertrauen in ihn zu haben.  
"Und ich spiele für diese Gesandtin des leibhaftigen Erzbösen, diese Kreatur der Finsternis auch noch den Türöffner." Praiodîn schloss die Augen und wartete mit bebenden Lidern, bis sich die erneute Schmerzattacke ein wenig gelegt hatte.
"Was wolltet Ihr eigentlich hier, auf Gut Gernatsborn? Jetzt Burg Gernatsborn...Ich meine, Ihr seid nicht gerade auf dem kürzesten oder einfachsten Weg  zurück nach Markt Friedwang."  
Praidoîn Xerber antwortete nicht sofort.
Alrik stellte die Sonnenuhr zurück und knabberte an einen Praiosblumenkern.
"Verstehe...es ist wegen Eurer Tochter. In Zaberg?”
"Ihr kennt die Wahrheit ja schon, Euer Hochgeboren. Soweit haben mich die Ränke des Bösen gebracht, dass alle Bescheid wissen. Die Wahrheit liegt offen zu Tage.  Nur ich, der vermeintliche Diener des Praios, traue mich nicht mehr, sie offen auszuprechen."
"Ihr wolltet mit Wohlgeboren Glyrana über diese leidige Geschichte sprechen?"
"Jetzt ist der Zeitpunkt wohl nicht so günstig". Praiodîn starrte seufzend zur Decke und wunderte sich über seinen Sarkasmus.
"Nach einem Mordanschlag ist der Zeitpunkt nie besonders günstig."
Alrik hob die Praiociosa hoch und ertappte sich dabei, die Holzfigur auf einen Hohlraum hin abzuklopfen. Nein, sie war nicht hohl, auch wenn die Statue kein schlechtes Versteck für irgendwelche Kassiber oder andere wertvollen Dinge gewesen wäre. Warum schickte Hochwürden den unglücklichen Bruder Feenbein so weit nach Norden? Holzschnitzer gab es in Friedwang genug. Nein, Garafanion hatte keine größeren Geheimnisse. Zumindest keine, die Alrik nicht kannte. Dieser Biedermann war selbst dem Albuinatentum abhold. Dem Mondschatten sollte es Recht sein. Albuin, der durchgedrehte ehemalige Illuminatus von Wehrheim hielt sich nicht nur für den Sohn des Praios, sondern auch noch für den Spross von Sancta Hildemara, einer eingefleischten Gegnerin der Phexkirche. Wer sich heutzutage auf diese "Falkin" berief, musste sich auf Vorwürfe gefasst machen, insgeheim mit den Wehrheimer Ketzern zu sympathisieren. Die besten Waffen sind immer noch die, die uns unsere Gegner bereitstellen, dachte der einstige Nachtfuchs vergnügt.
"Ich kann mal mit Glyrana reden", sagte der Baron gönnerhaft. "In einem ruhigen Augenblick, versteht sich."
"So wisst also auch Ihr über meine Schande bestens Bescheid" sagte der Geweihte dumpf. "Seid bedankt, aber es ist ohnehin sinnlos geworden...Ich bin nicht würdig, auch nur einziges Mal noch vor den reinweißen Altar des Himmelskönigs zu treten. Schon gar nicht im Ornat eines Lichtbringers, das ich für alle Zeiten besudelt habe. Geschweige denn Hand in Hand mit einem... in Unehren gezeugten Kind… Wie könnte ich einen einzigen Herzschlag lang im Lichte Seiner hellen Wahrheit und vollkommenen Gerechtigkeit bestehen?  Jetzt geht es nur noch um mein Seelenheil."
"Wie heißt es so schön. Wenn Du die Wahrheit mit den Augen des Praios sehen willst...dann musst du so hoch fliegen wie ein Greif?" Alrik knubberte einen weiteren Sonnenblumenkern und klappte die Augenklappe wieder herunter. "Wer von uns Sterblichen weiß schon, wie der Oberste Richter Alverans solch menschliche, allzu menschliche Dinge beurteilt. Was ist damals eigentlich passiert, zwischen Euch und dieser Tsageweihten Ysilda?"
"Ich kann mich an wenig erinnern. An fast nichts. Nur an diese verfluchte Grolmensalbe... da war eine riesige Eule...Ein Schweifstern und ein Unhold im Henkersgewand. Und natürlich an das dritte Bein, das mir damals gewachsen ist. Auf widernatürliche, groteske, praioslästerliche Weise..."
"Na, ich zähle aber nur zwei",  nuschelte der Mondschatten aufmunternd und spuckte die Schalenreste auf den Boden.
"Dieser Schlamm muss eine überaus berauschende und sinnesverwirrende Wirkung gehabt haben...anders kann ich mir meine... unheiligen Visionen nicht erklären. Wie dieser Dunkle Trost, von dem Ihr gerade berichtet habt, Euer Hochgeboren. Ach ja, und der Rahja gehuldigt haben wir dann wohl auch...Ysilda und ich..."
"Schön, dass Ihr Euch wenigstens daran noch erinnern könnt, Euer Gnaden."
"Dieser Akt der Wollust war gegen meinen Willen, der Heilige Alboran sei mein Zeuge. Als ich nicht mehr Herr meiner Sinne war. Außerdem war ich ans Bett gefesselt. Glaube ich."
"So etwas kommt öfters vor, als man denkt, Euer Gnaden. Ihr braucht Euch dessen nicht zu schämen. Was haben sie eigentlich im Tempel zu all dem gesagt? Zu Eurer berauschenden Liebesnacht?"
Alrik ging wieder ans Fenster. So langsam wurde es richtig hell, die Vögel zwitscherten. Leider war nicht zu sehen, ob die Pfahlgarde bereits aufsattelte. Gestern Nacht hatten die Burgwachen versucht, die Spur der Rättin aufzunehmen. Aber in dieser, nun ja, Selemischen Finsternis war das Unterfangen natürlich schnell zum Scheitern verurteilt gewesen. Hoffentlich würde sich Odilon rasch an die Fersen der Attentäterin heften.
"Sie hätten diese verrückte Tsapriesterin natürlich gerne befragt. Ysilda von Schlotz und ihre Feilscher-Freunde. Aber kurz darauf brach ja schon das nächste Unheil über uns herein, im Roten Rondra 1035. Dieses Dämonenbein bringt mir nichts weiter als Unglück...und wenn es nur zum Peraineerbarmen schmerzt, wie jetzt gerade wieder..."
"Triskele", sagte der Friedwanger, der wieder Platz genommen und in Richtung Sonnenuhr geblickt hatte.
"Wie meinen, Euer Hochgeboren?"
"Ein Dreibein. Ist ein uraltes Symbol. So alt, dass man schon nicht mehr genau weiß, für was eigentlich. Drei Beine, die im Kreis herum marschieren. Die Thorwalschen nennen es Triskal.  Bei den Barbaren aus den Nordlanden sieht es eher aus wie eine rotierende Welle. Soll angeblich vor dem Bösen und dem Unglück schützen. Und für alle möglichen Dreiheiten stehen. Oder besser gesagt laufen. Jugend, Alter, Tod. Vater, Mutter, Kind. Sumu, Satuaria, Sokramor. Körper, Geist, Seele. Etcetera, etcetera. Aber auch für den Weg des Lebens und den Sonnenlauf. So ganz  auszuschließen scheinen sich der Macht der Tsa und des Praios gegenseitig nicht. Eher zu...ergänzen..." Alrik griff nach einem weiteren Sonnenblumenkern, schob ihn dann aber von sich. “Ein drittes Bein muss jedenfalls nichts Schlechtes bedeuten.”
Hatte Ismena nicht etwas von einem Triskal erzählt, einem thorwalschen Zauberzeichen, das sie damals in Balträa gesehen haben wollte? Eine magische Schutzrune, ausgerechnet neben "der" Orakelstätte des Praios?
"Ihr wollt mir Trost spenden, dafür danke ich Euch" sagte Praiodîn nach längerer Pause. "Das Wappen des Hauses Berlinghân ist auch ein...eine Triskele. Dieser dreischwänzige Fisch..."
"Stimmt.  Jetzt wo Ihr es sagt. Ab und zu sind mal Abgesandte des Methumiser Herzogenhauses durch Friedwang geritten, auf den Weg nach Oppstein. Unser geliebtes Haus Rabenmund ist ja jetzt auch mit den Berlinghâns verbunden, seit dem Vertrag von Mantrash´Mor."
Der Baron ordnete die Kerne auf dem Tisch zu einem Kreis an. War das geheimnisvolle Zeichen am Ende eine Triskele gewesen...Lebensweg...Sonnenlauf...Was wollte Praios Ismena damit sagen?
Er musste die Gießenbornerin nachher unbedingt danach fragen.
Praiodîn badete schon wieder in Selbstmitleid. "Ich bin verflucht...von Anfang an verdammt. Seitdem ich damals in die Hände dieses Ketzers Lacertinus gefallen bin. Und ich ihn verraten habe."
"Nana..." Alrik griff wieder nach seinem Barrett und stand auf. Er wollte sich diese Litanei nicht den ganzen Vormittag anhören. "Was denn nun? In die Hände eines Frevlers geraten? Oder ihn verraten? Auch Bruder Lacio war ein Opfer namenloser Ränke. Nebenbei bemerkt, mein Vater...mein leiblicher Vater..."
"Ich weiß" seufzte Praiodîn. "Ich weiß, Euer Hochgeboren."
"Ihr wisst Bescheid, so so. Nun, wir alle haben unsere kleinen oder größeren Geheimnisse. Die manchmal schmerzlicher sein können als jede Wunde. Die Familiengeheimnisse sind die schlimmsten, lasst es Euch gesagt sein."
"Ich habe ihn auf den Scheiterhaufen gebracht... meinen Lehrmeister... und Euren Vater."
"Nun übertreibt es mal nicht gleich, mit Euren ständigen Selbstbezichtigungen. Die Praioten haben Lacertinus aus dem Kerker gelassen, als die Fliegende Festung kam. Als plötzlich Galottas Weltenbrand in der Luft lag, hatten sie es mit ihrem kleinen Feuerchen im Hof des Sonnenpalasts nicht mehr gar so eilig. Lacio war schließlich ein fähiger Heiler...nachdem Gareth in Trümmern lag, und es nichts mehr zu heilen gab, hat er es irgendwie aus der Stadt raus geschafft. In einem kleinen Gutshof in Garetien sind wir uns nochmal begegnet, er, ich und mein Bruder." Alrik schluckte. Warum erzählte er diesem Praiosgeweihten das alles? Ausgerechnet einem Wahrheitsfanatiker, der nicht mal lügen oder schmutzige Geheimnisse für sich bewahren durfte.
Praiodîn schaute ihn mit großen Augen an. "So habe ich meinen Meister gar nicht umgebracht? Lacertinus...hat den Kerker der Inquisition überlebt?"
Der Geweihte verkniff das Gesicht.  "Aber...warum hat mir Selbfried nie davon erzählt...der Inquisitionsrat?"
"Wie war das? Ich verschweige nicht, dass ich etwas verschweige. Aber fragt mich nicht danach, auf das mich nicht die Lüge versuche...Zitat Großinquisitor Amando Laconda da Vanya."
"Was ist aus ihm geworden? Aus Lacertinus?"
"Er fiel einer vergifteten Klinge zum Opfer", sagte Alrik mit rauher Kehle und hustete. "Eine längere Geschichte...übrigens war sein wahrer Name Oswin Herofalk von Eppelein zu beider Prähnskaten. Ein direkter Nachfahre des Heiligen Alboran von Baliho...Vermutlich hat ihn der Unhold Merwan deswegen heimgesucht. Ihn und seine Nachfahren."
Der Donator Lumini bekam einen glasigen Blick.
"Die Sache mit dem Ohr, deswegen seid Ihr doch drauf gekommen, oder?" Der Baron tippte an seine Locken.
"Lacertinus... war ein Nachfahre des Heiligen Alboran" murmelte Praiodîn. "Das Ohr, natürlich. Das fehlende Stück ist ein Stigma...ein Zeichen göttlicher Auserwähltheit. Jetzt sehe ich alles klar."
"Na, nun übertreibt es mal nicht gleich wieder. Aber denkt ruhig mal drüber nach, wo in Eurem Leben Ihr dem Heiligen näher ward. In der leuchtenden, reinweißen St. Alborans-Siegesbasilika oder im ach so sündigen Tempel von Zaberg? Vielleicht wärt Ihr beim Bund des Wahren Glaubens besser aufgehoben, von wegen Vertrag von Mantrash´Mor. Nach der Entsagung vom schweren Amt als Lichtbringer, meine ich?  Womöglich ist es einfach der Wille von Tsa und Praios, dass Ihr mit Eurem geheilten Bein beiden Pfaden folgt: Dem Weg des Lebens...und dem Sonnenlauf. Was sich ja nicht ausschließen muss. Einstweilen wünsche ich Euch gute Genesung."
Der Baron von Friedwang nickte knapp, als die beiden Pfahlgardisten stramm standen, gähnte kurz und ging durch das Burgtor.
Es war gar nicht so leicht, zum Burgsöller zu gelangen, der Hügel war dort ziemlich felsig und das Vortasten entlang der Mauer fast schon eine Kletterpartie. Alrik fragte sich, wie jemand eine gar nicht so kleine Leiter auf diesem Ziegenpfad dorthin gebracht haben konnte.
An Yasinthes Fluchtort standen Odilon und Jadvige, letztere mit einem großen Pflaster auf der Wange.
"Morgen...was macht Eure Wunde?"
Die Dienstritterin schaute den Friedwanger kurz und ein wenig zerknirscht an. "Es ist nur ein Kratzer, Euer Hochgeboren. Das Loch in der Stuhllehne ist größer."
Alrik kramte die unvermeidliche Pfeife hervor. Um ein Haar wäre er unter der Leiter hindurchgegangen, aber das brachte bekanntlich (noch mehr) Unglück.
"Was sagt unser Fährtensucher? Wo finden wir die Attentäterin?"
Odilon, der einige Steinchen am Gernatufer umdrehte, hatte mitgehört. "Ist noch zu früh um das zu sagen...das Wichtigste ist, dass die Wachen nicht überall herumtrampeln und Spuren zerstören. Wie sie es gestern leider schon zur Genüge getan haben." Der Schwarze Bär fluchte leise, als er mit dem Stiefel kurz ins trübe Wasser abrutschte. "Das gilt übrigens auch für dich, Alrik...bleib da oben."
Der Friedwanger, der gerade zum Fluss hinunter wollte, hielt inne. Dann musterte er die Leiter, die ziemlich massiv wirkte und oben in der Mauer eingehakt war. "Sieh an. Das ist ja eine echte Sturmleiter."
"Anders kommt man da gar nicht rauf", sagte die Rittfrau. "Ich dachte erst, irgendwelche Maurer hätten sie vergessen. Aber die muss erst gestern Abend angelehnt worden sein. Sonst hätte ich das gemerkt, glaubt es mir."
"Hm-hm, aha..." Der Mondschatten entzündete seine Pfeife. "Was haben wir noch, von wegen Spurensicherung?"
"40-Halbfinger-Armbrustbolzen mit Lanzettspitze. Keine Marke, nichts Besonderes. Ein Harnischbrecher, wie man ihn überall zwischen hier und Brabak findet." Odilon nahm ein einzelnes Steinchen näher in Augenschein, roch erst daran und wischte dann drüber.
"Brabak?"
"Von mir aus auch Riva, wenn dir das lieber ist. Hier ist Blut...eine ganze Spur bis zur Leiter. Auf den Sprossen auch. Unser Kunstschützin ist wirklich verletzt. Genau hier hat sie sich ins Wasser gestürzt."
"Was hätte sie sonst tun sollen...?”
"Den gleichen Weg nehmen wie wir, zum Beispiel. Nur in die andere Richtung." Der alte Waldläufer spähte hinüber zum anderen Flussufer. "So ein wattierter Waffenrock saugt sich ziemlich schnell voll, mit Wasser. Vor allem wenn er zerschlissen ist, wie ihrer. Ebenso die schweren Stiefel. Ah, was haben wir denn da?" Odilon griff ins Wasser und zog ein triefendes, leicht angebeultes Stück Metall heraus. "Den Helm hat sie als erstes zurückgelassen."
Der Gallyser warf seinen Fund auf die Ufersteine. "Eine allzu gute Schwimmerin scheint sie nicht zu sein. Ich kenne Albernier, die würden sich hier im Kettenhemd über Wasser halten. Zumindest ist sie verwundet.”
Alrik klopfte auf die Leiter. "Sie scheint Verbündete gehabt zu haben. Nicht nur die Goblins, meine ich. Die Sturmleiter steht doch nicht zufällig da." Der Friedwanger rieb seine Finger gegeneinander. "Das Holz ist nass und aufgequollen. Das Ding hat womöglich längere Zeit im Wasser gelegen."
"Ah, die Schleifspuren haben mich schon ein wenig irritiert. Wenn, dann war das gleich da drüben." Odilon wies in die Richtung. "Der Boden ist leider nicht sehr gut zum Spurenlesen. Und die Wachen haben einiges zerstört. Ich dachte schon, sie hätten diese Mammutfährte dort hinterlassen."
"Da oben hängt ein Strick. Da an der Sprosse. Wahrscheinlich war die Leiter festgebunden, so dass sie sie nur noch rausziehen mussten. Dieses Attentat war von langer Hand vorbereitet, soviel steht fest. Kann ich mir den Helm mal ansehen?"
"Ach, komm her. Die Garde hat eh schon ganze Arbeit geleistet."
Alrik hangelte sich vorsichtig ans Flussufer hinunter. Die Beckenhaube war allerdings vollkommen unspektakulär. "Andererseits...so richtig durchdacht und geplant wirkt Yasinthes Flucht nicht. Wenigstens ein Boot hätte doch bei dem Ganzen drin sein müssen. Und warum sie als Schützin? Wer sich die Mühe mit der Leiter macht, der hätte unsere kleine Runde jederzeit von außen angreifen können."
"Es sei denn, er möchte dauerhaft unerkannt bleiben. Diese Yasinthe ist doch schon längst verbrannt...also ich meine nicht auf dem Scheiterhaufen. Als Spionin aufgeflogen. Die kann man zur Not opfern. Ich glaube langsam auch, dass sie Helfer  in der Burg hatte." Odilon begutachtete einen angetriebenen Ast, zuckte dann aber mit den Schultern.
"Oder vielleicht auch im Dorf oder in der Kupfermine". Das kam von Jadvige. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leiter noch nicht dagestanden hat, als das Burgtor geschlossen worden ist. Solche Hakenleitern gibt es auch in einem Bergwerk." Jadviges Gesichtsnerv zuckte kurz. “Die Wachen auf der Mauer hätten eigentlich was mitbekommen müssen.”
“Es hat zwischendurch mal geregnet”, sagte Alrik. “Meine Steinbockgardisten rennen bei jedem Nieselregen unters nächste Dach. Dann das Gesinge von dem Barden...da hört man auch nicht mehr allzuviel”.
So langsam kam die Sonne heraus und brachte den Gernat zum Funkeln. Ein paar Enten paddelten vorbei. Der Friedwanger blickte wieder auf den Helm. "Vielleicht hat sichs unsere Yassi ja auch anders überlegt...und ist wieder auf dieser Seite des Gernat an Land gegangen. Ich meine, beim letzten Mal ist sie in der Orckensauffe davon geschwommen. Sie weiß, dass wir das wissen. Diese Ratte ist schlau. Gut möglich, dass sie eine falsche Fährte gelegt hat...und jetzt will, dass wir sie auf der anderen Seite suchen. "
"Vielleicht, vielleicht auch nicht." Odilon stieg aus dem brackigen Wasser. "Schade eigentlich, dass aus unserem kleinen Duell heute nichts geworden ist."
"Is nicht dein Ernst. Selbst die Armbrust hat sich geweigert, von dieser Rattenpriesterin abgeschossen zu werden. Den guten Göttern sei Dank! Hauptsache, du triffst genau ins Schwarze, sobald du das Miststück das nächste Mal siehst."
Angewidert warf Alrik den Helm wieder zu Boden. Das Metall war ziemlich schlammverschmiert, wie er nun merkte. Der Spitzbart kniete sich nieder, um seine Hände im Gernatwasser zu säubern. Schon der Gedanke, dass eine Dienerin des Dreizehnten diesen Kopfschutz getragen hatte, war ihm mehr als zuwider. Ein silbriges Blinken ließ Alrik für einen Moment zwinkern.
Was war denn das? Unter dem Wellengekräusel schien ein Silbertaler oder etwas Ähnliches zu glitzern. Hatte Yasinthe sich am Ende auch noch von ihrer Geldkatze getrennt?
Der Phexjünger tastete danach, und fischte das Stückchen Metall heraus. Im nächsten Moment hielt er einen silbernen Ring in Händen, geschmückt mit einem schwarzen Edelstein und einer Blütenfee. Ein leichtes Kribbeln schien von dem Silber auszugehen, fast schon eine Art sanftes Flüstern oder Wispern.
Leise pfiff der Streunerbaron durch die Zähne. Verstohlen blickte er über die Schulter. Odilon hatte nichts gemerkt, sondern ließ sich von Jadvige hinauf zur Mauer helfen.
Sieh an, sieh an, dachte Alrik. Der Mordanschlag auf Glyrana scheint nicht Yasinthes einziger Auftrag gewesen zu sein. Viel erreicht hatte sie gestern Nacht offenbar nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass diese Ratte bald schon wieder aus ihrem Loch huschen würde. Der Mondschatten schloss die Hand zur Faust und ließ den Ring in der Tasche seiner Schaube verschwinden.
Der Diener des unfassbaren Schleichers stapfte wieder den steilen Hang hinauf und merkte, dass er seine Schaube eingenässt hatte, am oder besser gesagt im Gernat. Egal, sie war eh schon ziemlich abgewetzt und sogar dezent geflickt. Das letzte Phexwunder in der Baroniekasse war eben schon etwas länger her.
Alrik wunderte sich über sich selbst: Warum hielt er die Sache mit Bastans Feenring vor den Anderen geheim? Erst jetzt sah er das Lederbeutelchen in Jadviges Händen.
Der Baron schaute fragend durch ein paar Rauchwölkchen hindurch.
"Das lag hier auch noch rum", sagte die Dienstritterin, ein wenig einsilbig. Odilon musterte Alrik, mit gerunzelter Stirn. Hatte er etwas vom Ring mitbekommen?
"Deine Morgentoilette ist ein wenig schiefgegangen" brummte er und wies auf die tropfend nasse Gewandung des Friedwangers.
"Der Helm war ziemlich dreckig" sagte Alrik ausweichend. "Was war in dem Lederbeutelchen? Die Reisekasse unserer Renia, alias Yasinthe, alias Dienerin des Namenlosen?"
"Tote Flöhe", sagte Jadvige, leicht angeekelt.
"Tote Flöhe...aha..."
Alrik, dem seine Intuition oft vorauseilte, verstand so langsam ein eigenes Misstrauen. Ziemlich sicher gab es eine weitere Ratte in Gernatsborn, die Yasinthe geholfen hatte. Wahrscheinlich sogar mehrere Ratten. Woher hatte er eigentlich die Garantie, dass nicht die Dienstritterin die "Wühlmaus" war? Immerhin hatte Jadvige die Armbrustschützin überhaupt erst auf die Terrasse geschleppt. Soweit er wusste, hatte sie eine Zeitlang in den Schwarzen Landen zugebracht, als Schindsklavin in einem Bergwerk irgendwo in Transysilien. In Galottas Reich wurde der erzdämonische Herr der Rache verehrt, und der war nun einmal erbitterter Feind des Nicht-zu-Nennenden… wer weiß, zu welchem Unglauben man in den Minen von Yol-Ghurmak bekehrt wurde, wenn man mit den guten Göttern Alverans abgeschlossen hatte? Oder wohin genau es die unglückliche Kressenbrück verschlagen hatte. Ebenso offen war die Frage, wie sie der Gefangenschaft entkommen war.  
"Warum trägt man eigentlich tote Flöhe in einem Lederbeutelchen spazieren?" Der Mondschatten versuchte möglichst scharfsinnig zu klingen.
Jadvige musterte ihn eindringlich. "Wir hätten dieses unsinnige Nachtschießen niemals zulassen dürfen" sagte sie, mit merkwürdiger Betonung auf dem "Wir".
Oha. Auch das klang nach Misstrauen. Immerhin hatte er, Alrik, sich das kleine Kunststückchen ausdrücklich gewünscht, nachdem Odilon und Storko eigentlich schon anders entschieden hatten.
"Wer weiß, wie der Schießwettbewerb heute ausgegangen wäre" sagte er ausweichend. "Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende..." Dann deutete er mit dem Pfeifenstiel auf den schmalen Pfad, der entlang der Burgmauer zu erahnen war. "Kann es eigentlich sein, dass es hier irgendwo eine geheime Ausfallpforte gibt, oder etwas in der Art?"

Hell, golden und freundlich fiel das Sonnenlicht in die Gästekammer des Praiosgeweihten. Es war, als wollte der Herr des Himmels seinem zweifelnden, völlig verzweifelten Diener ein Lichtstrahl der Hoffnung senden. Praiodîn blickte hinüber zur Heiligen Kara von Baliho, besser bekannt als Praiociosa, der ersten Hochgeweihten des Tempels von Nordenheim (oder Nerdanheim, wie man damals in den Dunklen Zeiten gesagt hätte). Das Sonnenszepter begann wunderbar zu glänzen und zu schimmern.
Ein wenig Ruhe kehrte in Praiodîns aufgewühlte Seele zurück. Lacertinus hatte eigentlich Oswin Herofalk geheißen? Ein Nachkomme von Sankt Alboran daselbst sollte er gewesen, heiliges Blut durch seine Adern geflossen sein? Sein Lehrmeister war gar nicht auf dem Scheiterhaufen der Heiligen Inquisition, sondern irgendwo in Garetien umgekommen, im Jahr des Feuers? Mehr noch als das alveranische Licht trug diese Erkenntnis zum Seelenfrieden des Geweihten bei. Es war, als schmölze die Wirkung des Dunklen Trosts in der Wärme des neuen Praiostages dahin wie schmutziger Schnee.
Praiodîn merkte, dass er tatsächlich ein drittes Bein hatte: in Form einer Krücke, die ihm eine der Dienstmägde ans Bett gestellt hatte. Die Schmerzen ließen etwas nach, stattdessen meldete sich der Hunger. Seine Blase drückte, auf ungemein weltliche Art und Weise. Ächzend kämpfte er sich aus dem Bett und verzog sofort wieder das Gesicht, als er leichtsinnigerweise seinen rechten Unterschenkel belastete. Aber diesmal blieb die Pein erträglich. Ihm war schwindlig, und auch ein wenig übel. Leise zischend schlug er das rote Skapulier beiseite, ebenso die aufgeschlitzte, eigentlich reinweiße, jetzt mit großen rostfarbenen Flecken verunzierte Robe.
Immerhin, die Wunde unter dem neuen Verband hatte in der Nacht nur wenig geblutet.
Praiodîns Blick ging zur Gehhilfe, die schon länger im Gebrauch zu sein schien. Vielleicht hatte das "Storchenbein" vorher irgendeinem Kriegsinvaliden aus dem Dorf gehört. Die Burgbewohner meinten es sicher gut mit ihm. Aber er würde damit nicht durch die Gänge klappern wie ein Rommilyser Bettler oder ein verstümmelter Pirat der Charyptik.
Praiodîn Xerber atmete tief durch. Er mochte die Worte des Kleinen Heilsegens nicht besonders, obwohl der als Perainegeschenk Teil der Zwölfgöttlichen Segnungen war. In seinen Ohren klang er fast wie ein Gebet der verblendeten Sokramorer, auch wenn der Gedanke selbst schon ein wenig lästerlich war. Schenkt diesem Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist...Klang das nicht nach heimlicher Verehrung der Erdriesin, wie bei den Drudnern und Hexenweibern? Dieser Leib ist geschlagen mit Bitterkeit und Schmerzen und bedarf der Heilung in Eurem Namen. Das passte nur allzu gut auf seine trübe Situation.
Wie konnte er es wagen, einen Segensspruch der Peraine anzuzweifeln, von Praios göttlicher Schwester? Hatte Alrik Recht, der "Herr Lügenbaron", wie ihn der Luminifer verächtlich nannte? Hatte er in seinem Drang, Praios allein gehorsam zu sein, die Gebote der anderen Götter Alverans sträflich vernachlässigt? War er, der ehemalige Tsanovize, am Ende nicht etwa glaubensschwach, sondern ganz im Gegenteil ein blinder Eiferer geworden, erfüllt vom Groll des Abtrünnigen und von falschem Ehrgeiz?
Praiodîn besann sich für einen Moment, legte die Hände auf die Wunde und sprach dann, erst stockend, dann um so entschlossener, die Heiligen Worte: "O mein Herr Praios und Ihr, Herrin Peraine, und Ihr anderen Herrscher Alverans, schenkt diesem Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist..."
Es war, als könne er mit den Fingern spüren, wie sich die vom Verband zusammengepresste Wunde noch ein wenig mehr zusammen fügte. Wärme durchflutete Praiodîns Körper, die teilweise vom Fenster hereinzuströmen schien, aber ihm nicht allein von Praios glänzendem Schild gesandt wurde. Demütig senkte der Rübenscholler Bauernsohn sein Haupt. Längst vergessene Bilder und Gerüche stiegen in ihm auf: Der erdige Duft eines frisch umgepflügten Ackers. Das Schnauben der Zugochsen, das Scharren der Pflugschleife über dem Feldweg. Die ersten zaghaft sprießenden grünen Halme, das im goldene Licht wogende Kornfeld...der klappernde Storch in seinem Nest, oben auf dem Schulzenhaus.
Die  Schmerzen wurden zu einem bloßen Unwohlsein. Praiodîn erhob sich. Gemessenen Schrittes humpelte er zum Tisch, legte die Schärpe an und steckte das Sonnenszepter hinein. Warum hatte er den Segen nicht gestern schon gesprochen, als er Peraine näher gewesen war als heute? Seine Verwirrung musste wirklich an diesem namenlosen Gift in Yasinthes Feldflasche gelegen haben. Der Geruch nach Ziegenfell und einem allzu süß duftenden Gebräu mischte sich jetzt in die Erinnerungsfetzen an seine schöne Kindheit im Gießental.
Nur kurz blickte er auf die Praiosuhr, die ihm Garafanion zur Orientierung bezüglich des pünktlichen Mittagsgebets mitgegeben hatte. Nun, das sollte heute seine geringste Sorge sein.
Fast schon wollte sich eine feierliche Stimmung in ihm ausbreiten, als sich wieder ein höchst derisches Gefühl in Erinnerung rief. Seine Blase drückte mittlerweile zum Göttererbarmen.
Praiodîn schritt so würdevoll nach draußen, wie es ihm dieses Ungemach und seine Blessur gestattete.
Zum Glück kannte er den verwinkelten Weg zum Heimlich Gemach und konnte bald schon dessen kleine Tür hinter sich verriegeln.
Ach, er hatte ja das Sonnenszepter im Gürtel stecken. Wohin mit dem heiligen Artefakt an einem derart unwürdigen Ort? Auf den Boden stellen? Nein. Neben das Latrinenloch legen? Undenkbar. Unter das Dachgebälk des Erkers klemmen? Schon eher.
Praiodîn tastete über die Holzbalken – und stutzte, als er dort etwas Merkwürdiges spürte. Der Geweihte zog daran und hielt plötzlich ein Seil in Händen. Sehr viel Seil. Tatsächlich, jemand hatte es unter dem Dach festgeknotet, und das Bündel danach eher notdürftig versteckt.
Durch ein kleines Butzenfensterchen drang nur schummriges Licht in die Abortstube. Dennoch fielen dem Lichtbringer sofort die rötlichen Spuren am Seil auf: die sehr den Blutflecken auf seiner Robe ähnelten. Da war eine blutige Hand im Spiel gewesen. Ein Kletterseil, eindeutig.
Das Fenster war zu klein, um hindurch zu kriechen, es sei denn, man war ein Gaukler und "Schlangenmensch" (welch abscheuliche Vorstellung). Auch das Abtrittsloch lud nicht gerade zum Durchschlüpfen ein, selbst wenn der Sitz erfreulich neu und sauber wirkte. Praiodîn verstaute seine Ritualwaffe und tastete den "Difarsthron" ab. Rasch merkte er, dass das hölzerne Sitzbrett nur festgenagelt zu sein schien. Angewidert hob der Praiot den losen, aber schweren Deckel an und blickte hinunter in den Abgrund. Der Geruch, der von dort heraufwehte, ließ ihm den Atem stocken. Zum Glück war der Bereich unter dem Latrinerker ziemlich verschattet. Eine grobe, eklig glänzende Rinne schien Richtung Fluss zu führen.
An der Seitenwand des Latrinensitzes war ebenfalls ein wenig Blut zu erahnen, auch wenn dieser Abdruck weitgehend verwischt worden war. Dort im Eimer gab es jede Menge Stroh und Moosballen, als "Arschwische", wie das derbe Rübenscholler Bauernvolk gesagt hätte. Auch davon waren einige blutig. Sieh an: Arschwische für die verletzte Hand der Hagewisch? Die Kupferkanne auf dem Regal diente wohl zum Nachspülen, war aber kaum noch mit Wasser gefüllt. Daneben kämpfte eine kleine Blumenvase mit ihrem Duft tapfer gegen die üblen Gerüche an.
Praiodîn schauderte. Nun konnte es keinen Zweifel mehr geben. Yasinthe war zurückgekehrt, durch dieses Rattenloch. Es half alles nichts, auch er musste jetzt mal für kleine Goblins. Der Geweihte erleichterte sich plätschernd, schloss den Deckel, goss das restliche Wasser über seine Hände und trocknete sie sich mit Stroh ab. Dann verstaut er das Seil wieder im Versteck, nahm das Sonnenszepter an sich und entriegelte die Tür.
Der Geweihte zuckte zusammen, als er draußen beinahe mit einem der Diener zusammenprallte: ein unscheinbarer Mann mittleren Alters, der die auf der Burg so beliebte Pagenfrisur trug, ebenso wie ein Livree in den Gernatsborner Farben.
"Verzeiht, Euer Gnaden!" sagte der Mann erschrocken.
"Schon gut. Das Wasser in der Kanne, es gehört wieder einmal aufgefüllt. Und der Eimer mit den Ar....Ahornblättern." Der Priester bekam im letzten Moment die Kurve, auch wenn im Eimer gar keine nostrianische Ahornblätter lagen (ganz so reich schien Storko dann doch nicht zu sein).
Praiodîn kam sein Gegenüber sogar vage bekannt vor. Das war doch einer der Diener, die gestern Abend den Baldachin auf dem Söller befestigt hatten, wie hieß er noch gleich? Hilberian? Aarwulf? Ach, wer sollte und wollte sich das merken.
"Sehr wohl, Euer Gnaden. Deswegen bin ich hier." Hilberian (Aarwulf?) hielt tatsächlich einen großen Sack in Händen, in dem Stroh raschelte. Zarter Moosgeruch trat an Praiodîns Nase.
"Ah, sehr gut." Praiodîn runzelte die Stirn. In dem Sack konnte man leicht ein Seil verstecken, dachte er. Sollte er Aarwulf (Hilberian?) deswegen zur Rede stellen? Der Mann wirkte freundlich und eher unbedarft - ein Mensch, der von Geburt an zur Unterordnung bestimmt war.
"Wir verwenden dafür keine Blätter, Euer Gnaden!" sagte der Diener, respektvoll, aber merkwürdig bestimmt. Seine Augen funkelten, als wäre er sogar ein klein wenig empört. "Nicht aus dem Wutzenwald."
Praiodîn nickte. Vermutlich war es übertrieben, wenn er anfing, vor einer Latrine den Inquisitionsrat zu spielen. Das Beste wäre, er würde so schnell wie möglich den Burgherren über seine Entdeckung informieren. Eine Entdeckung, die mehr als beunruhigend war.

Praiodin fand den Wehrvogt im Burghof, als dieser gerade mit Odilon und Timoin sprach. Gut, dachte er. Da käme er wenigstens genau im richtigen Moment.
“Wir haben den Gernat drei Meilen lang flussabwärts abgesucht. Aber… es war nichts zu finden” berichtete Odilon. “Eigentlich wäre es anzunehmen gewesen, dass die Meuchlerin nicht lange schwimmend im Gernat verweilt. Sie war gerüstet, meiner Einschätzung nach zumindest keine begnadete Schwimmerin, und der Gernat ist an vielen Stellen zu tief, um im Fluss zu waten.”
“Jedenfalls gab es keine Spur, keinen Hinweis darauf, dass jemand die Uferböschung hinauf gekraxelt wäre” ergänzte Timoin.
“In dem matschigen und meist steilen Flussufer hätte man Spuren finden müssen. Dass sie länger als drei Meilen in ihrem vollgesogenen Waffenrock durch den Gernat geschwommen wäre, das glaube ich nicht.” berichtete Odilon weiter. “Das kann darauf hindeuten, dass die Flucht vorbereitet war, dass irgendwo ein Floß versteckt bereit lag und sie sich weiter treiben lassen konnte. Aber das ist nur eine Vermutung. Eine Möglichkeit eben.”
“Oder sie ist gar nicht geflohen, sondern ist immer noch hier” warf Praiodin ein, der zu den dreien herangetreten war.
Storko ebenso wie Odilon blickten ihn überrascht an.
“Wie meint Ihr das?” erkundigte sich Storko.
“Interessante Idee, und kein schlechter Trick. Mögliche Verfolger auf eine falsche Fährte einer vermeintlichen Flucht locken, sich dann aber selbst versteckt halten und alle Verfolger vorbei ziehen lassen. Ja, mit der gleichen Taktik hatte ich auch schon einige Male mich Feinden entzogen… aber… dennoch muss sie aus dem Gernat heraus gestiegen sein. Und wo soll sie sich verborgen gehalten haben?” Odilon war gleichzeitig skeptisch wie auch erstaunt. Dass ein Praiot unter die Fährtensucher gegangen ist, war zumindest mal etwas Neues.
“Können wir es als wahrscheinlich annehmen, dass die ganze Sache vorbereitet war? Dass diese Renia Hagewisch oder wie immer sie heißen mag vielleicht Unterstützer auf der Burg hat? Ich denke, wir müssen das ins Auge fassen.” Praiodin gefiel sich in der Rolle des Erklärers. “Habt ihr auch das Flussufer nahe der Burg untersucht? Gibt es da Spuren?”
“Das lässt sich nicht sagen.” antwortete Timoin. “Hier ist das Ufer zertrampelt, als wäre eine Herde Darpatbullen vorbei gekommen.”
“Ich habe im Latrinenerker ein Seil gefunden.” erläuterte Praiodin. Mit diesem Seil kann ein jeder die Burg heimlich verlassen - oder auch wieder hinein gelangen, wenn ein Mittäter einem das Seil herab lässt.”
Storko legte nachdenklich den Finger an die Wange. Vor seinem inneren Auge ging er sein Gesinde und seine Soldaten durch, fragte sich, wem er ein Doppelspiel zutrauen würde - oder wer auch schlicht bestochen worden sein konnte. Aber wirklich konkret herausgreifen konnte er niemanden.

"Über Geheimgänge kann ich nichts sagen", meinte Jadvige, ebenso mehrdeutig wie ausweichend, während sie die Treppe zur Terrasse hinaufklirrte. "Ebensowenig über Schlupfpforten in der Burg."
Alrik überlegte, ob er den Geheimen Kammerherrn der Markgräfin herauskehren sollte – aber er hätte nicht einmal sagen können, wie offiziell seine Ernennung bereits war. Das "Geheim" in dem Höflingstitel klang schon mal nicht sehr offiziell.
"Der Baumeister?"
"Der würde Euch in dieser Frage auch nicht weiterhelfen können."
Sie kamen auf dem "Schlachtfeld" an, dass Alrik irgendwie an ein wildes Seegefecht erinnerte. Wie ein herunter geschossenes Segel lag der Baldachin auf der Festtafel, die immer noch nicht abgeräumt war. Becher waren umgestürzt, Teller heruntergefallen. Zumindest hier hatten die Diener keine oder kaum Spuren beseitigt. Selbst der Armbrustbolzen steckte noch tief in der Stuhllehne und hatte sie einige Fingerbreit durchschlagen. Ein weiterer Stuhl war umgefallen. Der Baron schlug den schweren Leinenstoff beiseite. Unter dem bislang verborgenen Teil des Tisches herrschte ebenfalls das Chaos.
Der Friedwanger musste aufpassen, nicht in eine Metlache zu treten. Ein Kerzenstummel rollte davon. Das alles sah aus wie das Ergebnis einer Orgie Al´Anfaner Grandenkinder. Da drüben lag noch der Stein, den Timoin auf die Attentäterin geworfen hatte. Blutspritzer verunzierten den Boden, neben einen morschen Schneidezahn. Der große braune Klumpen war der halboffene Umhängebeutel, den Yasinthe Haldana um die Ohren geschlagen hatte. Die Überreste der Armbrust waren auch noch nicht bewegt worden. Nur den kleinen Wurfstern, denn hatte er bereits gestern wieder an sich genommen. Was roch denn da so widerwärtig?
Auch Jadvige verzog die Nase und ging zur Sturmleiter, die tatsächlich an der Brüstung eingehakt war. Eine Stützstange, die den Regenschutz gehalten hatte, war gleich daneben mitsamt Leine umgestürzt. Gurrend flatterte eine Taube auf.
Die Dienstritterin blickte über die Mauer: "Ah, die Spannleine ist unten an einem Rüstbalken befestigt, ebenso da drüben." Die Kressenbrück folgte der Brüstung. "Dafür haben sie die Leiter gebraucht."
Alrik sah nach unten. Tatsächlich, dort ragte noch ein Stückchen Holz aus der Mauer, um das die nun schlaff herab baumelnde Baldachinleine geschlungen war. Beiläufig sah er zu den Flößern hinüber, die mit ihrer Fracht gemächlich den Fluss hinunter glitten.
Jadvige ruckelte an der Leiter. "Das scheint wirklich eine Grubenleiter zu sein. Hier oben ist sie ziemlich trocken." Die Ritterin wandte sich Alrik zu, der gerade den Schusswinkel des Armbrustbolzens begutachtete. "Da fällt mir ein...Ein paar Fronbauern haben gestern nachgefragt, ob sie beim Fest behilflich sein könnten. Glyrana gibt ihnen immer mal ein paar Taler, selbst wenn wir ihre Hilfe gar nicht brauchen."
"Die Leiter ist oben trocken und unten nass?"
"Wir haben ziemliche Problem mit Grundwasser in der Grube", fuhr die Dienstritterin fort, und zeigte auf die Kupferhütte, wo gerade dunkler Rauch aufstieg. War das der Grund für den unangenehmen Geruch? Die Schwaden, die am Hügel aufstiegen, wurden vom Wind gnädigerweise in Richtung Wutzenwald getrieben.
Irgendwo hatte Alrik mal gehört, dass Schiefer über Feuer geröstet werden musste, um an das Kupfer zu gelangen. Ein leises Pochen und Klopfen war zu hören. Der Phexgeweihte war ein geborener Stadtmensch, aber der eingeräucherte, eigentlich sattgrüne Wald tat ihm in der Seele weh. War es die Sommertrockenheit oder der vermutlich giftige Dampf, der die Blätter auf der anderen Seite des Gernat gelblich verfärbt hatte? Sein Bild von der idyllischen Hochzeitsburg Gernatsborn bekam erste Risse.
"Der Gernat ist ja wirklich nicht weit weg. Die armen Kerle im Bergwerk haben einiges wegzupumpen" Jadviges Mitgefühl schien nicht einmal gespielt zu sein. "Was will man machen? Der Wohlstand der Familie stammt nun einmal aus dem Bergbau. Der Junkerfamilie, aber auch der Menschen hier."
"Ist ja bei uns in Gießenborn nicht anders", brummte Alrik. "Einschließlich des Grundwassers...Ohne Pumpenkunst geht da gar nichts."
Der Friedwanger versuchte abzuschätzen, in welchem Winkel Yasinthe gestern geschossen hatte. Besonders hoch gezielt hatte sie nicht, Glyrana war ja gesessen. Den Schuss hatte es dann auch noch ziemlich verrissen, durch den fast schon wundersamen Bruch des Stahlbogens. Der Bolzen war Jadvige von Kressenbrück über die Wange geschrammt. Das hieß, die Rittfrau war zu kurz gesprungen, und bereits am Fallen gewesen, als sie das Geschoss gestreift hatte. Zu kurz gesprungen, oder doch ein Stückchen zu weit?
Hatte Jadvige die aufopferungsvolle Leibwächterin nur gemimt, um jeden Verdacht von sich abzulenken? Andererseits, um bei diesem Gaukelspiel nicht ernsthaft verwundet zu werden, hätte sie schon einiges an Körperbeherrschung aufbringen müssen. Nein, irgendwie fügte sich das nicht recht zusammen.
Ob sich die Ratte Yasinthe vielleicht im Bergwerk verkrochen hatte? Aber dort wuselten gerade die Bergarbeiter herum – nicht gerade das lauschigste Versteck.
Der Gestank wurde langsam unerträglich: Es roch nach Fäulnis, Verwesung, Pest, Tod, Schwefel...und irgendwie vertraut. Sein Blick fiel auf die Umhängetasche, die – er zwinkerte – ebenfalls leicht rauchte und qualmte. Der Baron von Friedwang zückte seinen Dolch, öffnete damit die Tasche, und drehte angeekelt den Kopf weg. Grünlicher Dampf stieg hoch, über einem viereckigen Etwas und der verrotteten Masse von irgendetwas anderem, das sich einmal in der Tasche befunden hatte.
Ein kleiner grüner Schleimbatzen kroch daraus hervor und versuchte sich unter dem faulenden, modernden Stoff zu verstecken.
Angewidert flüchtete Alrik zum Tisch und presste sich eine Serviette vor Mund und Nase.
"Was ist das?" wollte Jadvige noch fragen, als sie auch schon totenbleich, hustend, keuchend und würgend an der Brüstung hing.
Der Mondschatten setzte seine Untersuchung fort, mit Mundschutz.
Das viereckige Ding schien ein geborstener Spiegel zu sein, mit hübsch verschnörkelten Rahmen, der aber bereits blind und schwarzgrau war: der Alptraum einer jeden Reinigungsmagd. Einzelne Scherben waren bereits herausgebrochen. Kleinere und größere Splitter von Glas schienen das einzige zu sein, was im Sack noch nicht verrottet war. Eine Phiole, oder ein Fläschchen?
In dem Moment, als er den Sack noch ein wenig mehr öffnete, knalle und zischte es. Eine kleine grüne Wolke stieg auf und verteilte sich in der Luft neben dem Bergfried.
Immerhin, der Gestank ließ jetzt doch etwas nach. Jadvige spuckte geräuschvoll aus und nahm erstmal einen tiefen Schluck Wasser aus einer Kanne auf dem Tisch.
"Gütige Herrin Peraine! Was war das denn für ein Basiliskenodem?"
Alrik trat an die Brüstung, rotzte in die Serviette und atmete tief durch. "Kein Basiliskenodem...aber etwas ähnliches. Tlalucs Brodem."
"Wie haltet es Ihr nur aus, so nahe an dem Zeug?"
"Ich habe sogar mal davon getrunken."
"Nicht Euer Ernst?!"
"Mit Bier gehts. Heiliger Assaf, nicht nur, das Yassi die gute Glyrana an den Stuhl nageln wollte. Sie schleppt uns auch noch einen Hauch von Kurgasberg nach Gernatsborn."
"Kurgawas?"
"Kurgasberg...eine längere Geschichte. Wenn ich mal Zeit habe, schreibe ich sie vielleicht auf."
Alrik hob die letzten Reste vom Umhängesack an. Die kleine, grüne Schleimlache, die sich darunter verborgen hatte, kroch amöbenartig und fast schon panisch auf den Schatten des Bergfrieds zu. Einen Moment später löste sich die "Amöbe" zischend im Praioslicht auf.
"Machs gut, kleiner Morfunello. Grüß mir die Niederhöllen."
"Ihr sprecht in Rätseln?!"
"Das Zeug ist dämonisch. Nein, kein Dämon, das nicht. Höchstens ein Minderdämon. Aber dennoch gefährlich. Ich würde den unheiligen Schleim nicht anfassen. Er ruft überaus hässliche Hautkrankheiten hervor. Ich frage mich gerade, wie Yasinthe an das kriechende Gift gekommen ist. Obwohl, die Zorgan-Pocken fallen in ihre Zuständigkeit."
"Die Zorganpocken?" Jadvige erbleichte noch ein wenig mehr, schlug das Schwertzeichen und wich zur Treppe zurück. "Herrin Rondra steh uns bei gegen das Böse!"
"Das Gift täuscht die Zorganpocken nur vor. Um Seelenqualen, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Man nennt Yasinthe auch die Alchimistin. Natürlich, Verfall und Fäulnis ziehen sie magisch an, wie verdorbener Sembelquaster die Ratte...Dunkler Trost und Tlalucs Brodem...das passt wahrlich zusammen, wie Pech und Schwefel."
"Wenn Ihr es sagt, Euer Hochgeboren." Jadvige nahm einen weiteren Schluck. Auch sie kannte diesen (oder einen ganz ähnlichen) Gestank zur Genüge. Es waren nicht nur kahle, ausgemergelte Sklaven gewesen, die sich damals durch die Stollen gewühlt hatten. Dort, wo kein Licht mehr in die Finsternis gedrungen war, hatte sich etwas Anderes durch den Stein gefressen und genagt. Ein hungriges Etwas, das manchmal zu ihnen gekrochen war...um sich ein schlafendes Opfer zu packen.
Auch wenn der schrille, grauenhafte Schrei nur ein ferner Nachhall ihrer Erinnerung war, riss er sie dennoch zurück ins Hier und Jetzt.
"Wenn Ihr es sagt", wiederholte sie leise und rang um Fassung. "Was wissen wir nun?"
"Man müsste nochmal sämtliche Wachen befragen. Aber die Diener mit der Leiter würde ich fast schon ausschließen. Das ist doch irgendwie zu auffällig und zu plump. Wären wir gestern nicht abgelenkt gewesen, hätten wir es auf jeden Fall mitbekommen. Hm...Was wissen wir eigentlich über diesen Barden?"

Yasinthe schlug verwirrt die Augen auf und schreckte hoch.
"Aufwachen, he, he...aufgewacht, Herr Praios lacht!" Das war Alriks Stimme. Sie klang spöttisch und vergnügt, als hätte der Herr Baron wieder mal einen Schelm verschluckt.
Die Geweihte prallte gegen das Bett, dessen Boden zum Glück nicht aus einem Holzkasten, sondern einem Netz gespannter Seilen bestand, auf denen eine weiche, strohgepolsterte Matratze lag. Instinktiv kauerte sie sich wieder zusammen. Nun sah sie mehrere Stiefel neben ihrem Gesicht. Ein Paar war ziemlich durchnässt und roch nach Gernatschlamm und Uferdreck...wie sie selbst. Auch der Mantelstoff, der daneben herab baumelte, war völlig durchnässt und tropfte.
"Der ist ja sternhagelvoll", sagte der Nebenmann des Friedwangers, der wie Storko klang. "Eine ganze Flasche Waldbeerenschnaps, ich fasse es nicht.... Die wollte ich gestern Abend noch als Schlummertrank reichen lassen. Auf den Schreck hin."
Es dauerte eine Weile, bis die Dienerin des Namenlosen wieder vollends zur Besinnung kam. Vorsichtig zog sie ihre Beine zu sich heran. Sie lag unter dem Bett des Minnesängers, der wie ein schlafender Troll schnarchte. Der vor allem wie ein Schnapsfässchen stank. Tatsächlich, dort stand die tönerne Flasche.
Alrik ging hinüber zum Tisch. Eine silbrige, schiefe Melodie erklang. Offenbar zupfte der Friedwanger das Hackbrett.  “Was ist denn das? Eine Strähne von Glyranas Haar?! Zur Inspiration?"
"Unser Minnesänger scheint einen ziemlichen Schreck gehabt zu haben." Die Bodendielen knarrten, als Storko durch die Kammer ging und das Fenster öffnete. "Seinem Durst nach zu urteilen. Bah, das stinkt ja wie in einer Thorwaler Kaschemme." Im Zimmer wurde es hell.
"Das sind ja wirklich Glyras Haare...Der Bolzen muss sie abgetrennt haben. Dieser selemische Lüstling kann was erleben, wenn er aufwacht. Schnuppert an den Haaren von meiner Gemahlin..."
"Was machen wir jetzt?" fragte der Friedwanger.
"Groß befragen können wir diesen haarigen Barden nicht. Am besten, wir stellen ihm den Pott neben das Bett, bevor er mir den schönen neuen Holzboden einsaut..."
Der Nachttopf. Erschrocken sah Yasinthe, dass der fast vor ihrer Nase stand. Im nächsten Moment griff Alrik schon danach, zum Glück, ohne dabei unters Bett zu schauen.
"Die Pfahlgarde ist schon dabei, die Burg vom Keller bis zum Bergfried zu durchkämmen. So viele Verstecke gibt es auf meiner Burg auch wieder nicht. Jedenfalls keine von Dauer."
"Wir brauchen auch Leibwachen für Glyrana", sagte Alrik. "Die Diener sollen sich in ihren Kammern verschanzen. Nicht, dass Yasinthe noch Geißeln nimmt oder dergleichen. Außerdem erleichtert es die Durchsuchung, wenn nicht alle aufgescheucht herumrennen."
"Glyrana befindet sich schon in unseren Privatgemächern, unter starker Bewachung. Mit der gesamten Familie. Ravenhart übrigens auch. Ich überlege gerade, ob sie sich nicht besser rüber in den Bergfried begeben sollten?"
Yasinthe biss die Zähne zusammen, was nicht nur an dem jähen Schmerz an ihrer Hand lag. Wie waren die Gernatsborner ihr nur derart schnell auf die Schliche gekommen? War es ein Fehler gewesen, zurückzukehren? Aber wohin hätte sie jetzt noch fliehen sollen, ohne Ring, ohne tote Jungfer? Nicht einmal im Güldenland würde sie vor Seinem Zorn sicher sein.
"Wer weiß, ob Yasinthe nicht schon im Bergfried lauert. Da würde ich mich an ihrer Stelle verkriechen. Guter Überblick, keine Bewohner. Besser, deine Gemahlin bewegt sich nicht vom Fleck. So ein Turm kann schnell zur Falle werden..."
"Du solltest Glyrana nicht unterschätzen, Alrik. Sie ist nicht mehr die zarte Mersinger Prinzessin von einst. Wenn sie das jemals war. Nein, auch wenn sie jetzt zur Milden Göttin betet, ist sie doch flink mit dem Schwert."
"Keine Sorge, ich kenne ihre Schwester bereits zur Genüge. Sind ja beide Streitzigs, mütterlicherseits. Das hat mir gerade erst einen Wandteppich auf Burg Friedstein gekostet. Allerdings habe ich auch die Heimtücke von Ratten kennengelernt. Im wahrsten Sinne des Wortes, damals im Schratenwald. Da ist ein ganzer Schwarm von den Biestern über uns hergefallen, in einer Jagdhütte, nach einer Beschwörung durch einen Diener des Namenlosen. Hunderte Wolfsratten, wenn nicht Tausende. Hätten wir kein Feuer im Kamin entfacht, wären sie sogar übers Dach reingekrochen..." Alriks Stimme bebte. "Damit hat das Jahr des Feuers bei mir angefangen."
"Hm, vielleicht gar nicht mal eine schlechte Idee. Das mit dem Feuer entfachen, meine ich. Diese Yasinthe scheint eine verdammt gute Kletterin zu sein. So ein Feuer im Kamin hält sie vielleicht ab, von oben einzusteigen. Ich würde mich an ihrer Stelle auf dem Dachboden verstecken. Da oben gibt es eine Wäscheleine, um sich neu einzukleiden, ein Schlafplätzchen...und auch einen guten Überblick."
"Wie heißt der Minnesänger eigentlich?"
"Wendelin, glaube ich...stand gestern auch noch vor dem Burgtor. Er streift öfters mal durch die Schlotzer Gegend, auch wenn ich ihn nicht wirklich kenne. Glyrana findet ihn ganz gut."
"Sein Gesang war schon ein bisschen gespenstisch, meinst du nicht?"
"Die Sache mit der Armbrust fand ich gespenstischer". Storkos Stimme zitterte. "Das mit dem Windstoß, das war doch eher so eine Art Vorahnung. Wenn meiner Glyrana etwas zugestoßen wäre, nicht auszudenken...das hätte ich auch nicht überlebt."
"Ach, Storko, den Tapferen hilft das Glück. Selbst mit Dummen und Gedankenlosen wie mir hat Phex manchmal Mitleid. Ich hab immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich diese blödsinnige Armbrustschießerei unterstützt habe..."
"Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf...Dann hätte sich Yasnsichewasnndr..."
Die Stimmen wurden zu einem undeutlichen Murmeln. Die beiden Adeligen waren nach draußen gegangen. Knarrend schloss sich die Tür.
Yasinthe atmete erstmal durch und zuckte zusammen, als der schlaffe Arm des Barden herunterfiel. Der schnarchte aber unverdrossen weiter.

Sie hatte Glück gehabt, dass ihre Füße nicht unter dem Bett hervor geschaut hatten. Der Bettkasten war ziemlich kurz, wie bei den feinen Herren und Damen üblich. Der Troubadour schlief fast schon im Sitzen, den Kopf auf ein großes Gänsefeder-Kissen gebettet. Natürlich, in den Augen der vornehmen Leute war ausgestrecktes Schlafen der Gesundheit abträglich und damit Frau Peraine ungefällig. Derartige Probleme hätte sie in ihrer Jugend gerne habt. Damals, als sie sich mit ihren Geschwistern ein verflohtes, stechendes Strohbett hatte teilen müssen..
Die Ratte kroch vorsichtig aus ihrem Versteck hervor. Lauschte und spähte in Richtung Tür. Gerne hätte sie sich jetzt in Bett gelegt und ein paar Stunden geschlafen. Aber die Ruhe da draußen, das war nur die Ruhe vor dem Sturm. Was für eine Nacht...Im Gernat hatte sie ordentlich Wasser geschluckt und gemerkt, dass der Fluss ziemlich ungestüm war, nach dem Gewitter vor zwei Tagen. Eher unfreiwillig war sie wieder an Land getaumelt, auf der Gernatsborner Seite. Fast geradewegs vor die Latrine, wo schon das Seil herab gebaumelt war, wie in einem Spukschloss. Mit Gespenstern, die ihr wohlgesonnen zu sein schienen.
Ihre linke Hand schmerzte niederhöllisch. Der heimtückische Wurfstern des Friedwangers hatte sie mit einem Zacken glatt durchbohrt, zum Glück ohne einen der Knochen zu verletzen. Über den ausgebrochenen Zahn wollte sie sich gar nicht beschweren, der wäre ohnehin ein Fall für den Zahnreißer gewesen.
Zum Glück befanden sich in einer Truhe frische Leinentücher. Sie ging zum Tisch, entfernte den notdürftigen Verband aus Stroh und Moos. Mit verkniffenem Mund warf sie das Zeug in den Kamin, schob es mit dem Schürhaken ins Dunkle. Mit dem Restgebiss zog sie den Korken aus der Schnapsflasche und goss den Brand über das blutige Loch. Es war, als hätte sie die Hand ins Feuer gehalten. Sie verkniff sich einen Schrei, kämpfte mit den Schmerzen. Dann verband sie die Wunde sorgfältig, mit zurecht gerissenem Verbandsstoff.
Ein ordentlicher Heiltrank, was hätte sie jetzt dafür gegeben. Aber die Phiole mit dem Storchenschnabel lag draußen im Umhängebeutel. Das grüne, stinkende Zeug war kein echtes Lebenselixier, sondern ein gut getarntes Gift aus Rommilys, und das Glas vermutlich ohnehin zerbrochen. Tlalucs Brodem schien hervorragend geeignet zu sein, um Spuren zu verwischen ... vielleicht sogar als Brechreiz erregende Atemwaffe. Aber es war ganz sicher nichts, was einer Dienerin des Verheißenen Lebenskraft zurückgab.
Langsam kam die Ysilierin wieder zu Kräften. Heute Nacht war es zu finster gewesen, um irgendetwas Vernünftiges in die Wege zu leiten. Allein Purpurzunge war es zu verdanken gewesen, dass sie es bis in die Kammer des Barden geschafft hatte, ohne entdeckt zu werden. Das Bett war allerdings ein armseliger Unterschlupf gewesen.
Nun sei nicht gar so selbstkritisch, Yasinthe. Dein Eifer ehrt dich, trotz des kleinen Missgeschicks gestern abend. Doch wirklich. Du bist zäh. Ich wusste, dass jemand wie du nicht so schnell aufgibt. Sonst hättest du ja nichts in der Hand, außer einer schmerzenden Wunde, nicht wahr?
"Woher sollte ich wissen, dass die Armbrust zerbricht" murmelte Yasinthe. "Mein Missgeschick liegt nur am verfluchten Praiosmond."
Natürlich. Das behaupten die Zwölfgötteranbeter auch immer. Wenn etwas schief geht, dann waren es die Namenlosen Tage. Purpurzunge kicherte.
“Du hast mir dieses Seil heruntergelassen. Dafür danke ich dir. Das war mehr als nur ein Strohhalm in meiner Not.”
Ja, ein gutes, festes Baustellenseil. Aber dank nicht dem Falschen. Der Verdienst gebührt allein dem Dieb. Wie soll ich sagen. Es ist gar nicht so leicht, den Geist eines Sterblichen zu beherrschen. Mit Musik geht das leichter. Manche sagen, seit Dagal dem Sänger wäre Musizieren der einzige Wahnsinn, den die Menschen als etwas Schönes und Gutes akzeptieren. Nun, streng genommen war es der Lügenbringer, der sich damals in Dagals Melodie gemischt hat. In diesem Fall war ich der herrliche, düstere, dreizehnte Wind. Wendelin hat es mir auch sonst leicht gemacht. Ein Freund starker Getränke. Nicht ganz charakterfest, scheint mir. Statt sich mit auf die Suche nach der Meuchelmörderin zu begeben, hat er Storkos Schnaps gestohlen, an Glyranas Haar gerochen und eine Ballade gedichtet. Schule der Torbenia, vermutlich. Schon morgen wird er die Neuigkeit in der Rommilyser Mark hinausposaunen...oder besser gesagt, hinausklimpern. Wie ich schon sagte. Man muss diese schwachen Seelen gar nicht zum wahren Herren der Welt bekehren. Man muss nur das Namenlose in ihnen selbst wecken.
Yasinthe war vergnügt, was an ein paar Schlückchen aus der Flasche lag. Selbst wenn der Schnaps fürchterlich an der Zahnwunde brannte. Es tat gut, Purpurzunges weiche, schmeichelnde Stimme wispern zu hören. Auch wenn das elfische Gesäusel etwas Einlullendes hatte. Elfisch, ja, er klang elfisch, in jederlei Hinsicht. Stand dieser Nachtmahr gerade hinter ihr, oder befand er sich in ihrem Kopf? Sie hätte es nicht sagen können. Ebensowenig, ob die Stimme aus dem Nichts ihr helfen oder sie in Wahrheit immer tiefer ins Verderben locken wollte.
"Momentan schaffen sie es nicht einmal, den Barden zu wecken", flüsterte Yasinthe.
Trotz der Trunkenheit hat Wendelin ganze Arbeit geleistet. Du solltest dir ein Vorbild an seinem Eifer und Geschick nehmen. Sogar das Sitzbrett der Latrine hat er aufgestemmt, mit dem Dolch. Ich hätte dich durch das schändliche Loch kriechen lassen, meine kleine Ratte. Strafe muss sein. Der wahre Attentäter überprüft seine Waffe, bevor er sich vor einem derart erlesenen Publikum blamiert.
Ein Dolch? Yasinthes Blick irrte umher. Ah, dort lag er, auf dem Kamin. Hastig steckte sie die Klinge ein. Ihre Gewandung war nach der warmen Sommernacht fast schon wieder trocken, unglaublich. Nur die nassen Stiefel waren unangenehm. Rasch tauschte sie das Schuhwerk mit dem des Barden und versteckte ihre Latschen im Kamin.
Im Haupthaus wurde es unruhig. Aufgeregtes Rufen, Stimmengewirr und Waffengeklirr drang an ihr Ohr.
"Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze." Das war Jadviges befehlsgewohnte Stimme. "Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Jadvige von Kressenbrück, wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte die Neunfingrige und trank den letzten Schluck aus.
"Ich möchte Meldung bei jedem ungewöhnlichen Fund", bellte es von draußen. "Wer sie entdeckt, bekommt doppelten Sold. Wer sie gefangen nimmt oder sonstwie unschädlich macht, dem winkt eine Beförderung."
Das Rufen und Gerumpel kam jetzt gefährlich nahe.

Yasinthe schlüpfte in den Kamin und spähte in den Rauchfang. Zwielicht drang von oben herein, aber kein Sonnenlicht. Sie hatte einmal gehört, dass manche Baumeister Wert auf den “richtigen” Standort des Schornsteins legten, den Kamin also manchmal abknicken ließen. Dennoch ging es immer noch ziemlich steil nach oben. Das Mauerwerk schien auf den ersten Blick neu und buchstäblich sauber verfugt zu sein.
Nun, die Ysilierin war eine gute Kletterin, nicht nur am Seil. Damals, als Bauernkind, hatte sie öfters nach verlorenen Schäfchen und Zicklein suchen müssen, im Vorgebirge der tobrischen Sichel. Was hatte sie diese blökenden, dummen Lämmer gehasst, und insgeheim gehofft, dass sie schon den hungrigen Wölfen zum Opfer gefallen waren. Ihren wahren Freunden.
Schreien die Lämmer noch, Yasinthe? Oder möchtest du dich jetzt vielleicht doch mal auf deine Aufgabe konzentrieren?
Purpurzunge hatte Recht. Aber in den Schacht zu gelangen war gar nicht mal so einfach, zumal mit ihrer durchlöcherten Hand. Die Kletterpartie danach würde ebenfalls anstrengend werden. Gerne hätte sie Maruk-Methai beschworen, die rechte Hand des Namenlosen. Dann wäre sie in Windeseile hinauf geeilt und hätte die Protzburg vom Dach her abgedeckt. Hätte sich bis zu Glyranas Gemächern vorgewühlt wie ein Bär zu den Honigwaben, und dabei ein paar Balken auf den Burghof geschleudert. Aber für diese machtvolle Zeremonie fehlte ihr eindeutig die Zeit.
Yasinthe griff nach dem Schemel und stellte ihn in den Kamin. Vermutlich würden die Häscher ihn sofort entdecken, aber diesen Preis musste sie zahlen. Ah, so war es wirklich einfacher.
Wieder einmal hatte sie Glück. Offenbar waren zum Burgenbau auch Bruchsteine aus dem alten Gutshof verwendet worden, die schon ziemlich löcherig waren und Halt gaben. Spann für Spann arbeitete sie sich nach oben vor. Presste sich mit dem Rücken gegen die eine Wand, mit den Knien und Füßen gegen die andere. Stemmte, ruckte sich langsam nach oben. Oh Dreizehnter, das war kräftezehrend. Maruk-Methai, steh mir bei! Wenigstens im Geiste!
Die Ratte kämpfte sich Stückchen für Stücken nach oben. Das ging besser als gedacht, aber quälend langsam. Dunkler Abrieb und kleine Steinchen klackerten nach unten, teilweise auf den Stuhl. Die Tür flog auf, Wachen polterten ins Zimmer.
Es kam, wie es kommen musste. Im nächsten Moment hallte es auch schon triumphal herauf: "Da steckt sie! Im Bardenzimmer, im Schornstein. Herbei, herbei!"
Nur weiter nach oben, Fingerbreit für Fingerbreit. Kein Armbrustbolzen traf sie in ihrer misslichen Lage, sehr gut.
Jetzt knickte der Schacht auch schon seitlich ab. Sie kroch in den kleinen "Geheimgang" hinein, versuchte nicht an die Schmerzen in ihrer Hand und in den Muskeln zu denken. Unten waren immer mehr aufgeregte Stimmen zu hören. Es klang unwirklich verzerrt, wie Geschrei aus den tiefsten Niederhöllen.
Das letzte Stück nach oben war einfach zu klettern, aber sehr eng. Natürlich, der Schornstein war mit Kupferblech überdacht, fast wie ein kleines Häuschen, mit schmalen, viel zu schmalen Abzugsfensterchen an der Seite. Eine Taube flatterte hoch, als wollte sie ebenfalls Alarm schlagen. Tatsächlich hatten sie ihr Nest in eines der Fenster gebaut.

Immerhin, das dünne Kupferdach hatte Yasinthe wenig entgegen zu setzen. Mit roher Gewalt drückte und bog sie es beiseite. Draußen flogen weitere Tauben auf.
Sie kletterte aus dem Schornstein - und befand sich in einer anderen Welt, hoch über dem Burghof und der Landschaft am Gernat. Ein zart säuselnder Sommerwind war fast das einzige Geräusch. Nur der Bergfried überragte das kupfergedeckte Dach des Haupthauses, das nun in der Vormittagssonne funkelte und glänzte. Sie hangelte sich hinüber zum First, leicht geduckt, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Yasinthe war wahrlich kein romantisches Elfengemüt. Aber der Anblick war durchaus prachtvoll. Gen Rahja erstreckte sich das endlose Grün des Wutzenwalds, wie ein Moosteppich beiderseits des Gernats, der schon nach wenigen Meilen darin verschwand. An den Schlotzkuppen hielten sich selbst jetzt noch, am Vormittag, einzelne Nebelschwaden. Sogar Burg Schlotz war in der Ferne zu erahnen, vor den schwarzgrauen Bergen.  Efferdwärts schug der silbrig glänzende Gernat seinen Bogen.
Auch auf der anderen Flußseite stand Wald, dahinter ragten weitere Burgen auf, Hallingen vermutlich und Burg Bregelsaum. Wie Spielzeug waren immer wieder kleine Dörfer und Gehöfte zwischen dunklen Wäldern, sanften Hügeln, grünen Weiden und goldfarbenem Ackerland eingestreut. Über allem zogen watteweiße Wolken durchs Himmelblau, im güldenen Schein des Sonnenwagens, wie auf einem einfältigen Tempelgemälde.
Ein wenig konnte Yasinthe den Adel verstehen: Es war ein herrliches Bild,  das sie von ihren Burgen und Schlössern aus genießen durften. Nur die Zwölfgötter selbst schauten noch hochnäsiger auf Dere und Feste herab. Neben der Burg stieg der Rauch der Kupferhütte auf und verpestete die Luft: eine hässliche Narbe auf dem Leib der toten Sumu, der schlafenden Sokramur, oder was immer diese närrischen Widderanbeter für ihre Urmutter hielten.
Der Abgrund zog und zerrte an ihr, unter den Füßen, auch wenn sie ihn nicht sah: Das unwirkliche Gefühl ähnelte der schrecklich-schönen Stimmung in einem Tempel des Dreizehnten.
Ihre Beine zitterten nur ein wenig, als sie sich auf dem Dach um blickte. Die Kupferschindeln blitzten und glänzten in der Sonne, als stünden sie in hellen Flammen. Nicht lange, und sie würden von grünlicher Patina bedeckt sein, auch ohne die wunderbare Liturgie Staub und Schimmel. Die Zeit arbeitete wieder einmal für Ihn, unermüdlich, unaufhaltsam. Ach ja. Wie spät es wohl war? Sie sah zur Sonne hinüber. Um die zehnte Stunde, vermutlich. Eigentlich hatte sie sich jetzt mit Odilon zum Duell verabredet. Aber es gab Wichtigeres zu erledigen. Vorsichtig, wie eine Seiltänzerin, arbeitete sie sich auf dem Dachfirst voran. Das kupferne Dach war verflucht glatt.
Nur aus einem einzigen Kamin stieg Rauch auf. Hatte Glyrana wirklich ein Feuer entfacht, um zu verhindern, dass ihre Mörderin auf diesem Weg zu ihr gelangte? Oder war es einfach nur die Küche, in der das Herdfeuer brannte?
"Yasine Hagewisch, das Spiel ist aus! Ergib dich, oder...."
Sie drehte sich um, leicht verärgert. Wer immer da schrie, kannte nicht einmal ihren Namen.
Einer der Pfahlgardisten trippelte auf dem Dachfirst heran, wobei er seine Hellebarde wie eine Balancierstange benutzte. Ein blondes, bärtiges Gesicht. Den schweren Kürass hatte der Mersinger Waffenknecht abgelegt, er trug nur das schwarzgoldene Wams und die blau bebänderte Sturmhaube. Wo kam der jetzt wieder her? Der Wächter musste aus einer Dachgaube herauf geklettert sein. Eine Gardistin folgte, mit gezogenem Schwert. Verdammt, diese Burgwachen waren ziemlich motiviert. Sogar übermotiviert. Vermutlich lag es an der Belohnung, die Jadvige ihnen versprochen hatte.
"Stehenbleiben!" Auch von der anderen Seite näherte sich ein Gernatsborner, mit Armbrust im Anschlag, als spüre er Sumus Kraft überhaupt nicht. Nicht einmal den Kürass hatte er abgelegt.
Aus der Burg erklang eine wilde Melodie. Das Hackbrett?! War der betrunkene Barde doch noch erwacht – oder sorgte Purpurzunge für die schauerliche Begleitmusik für das, was nun folgte?
Der Armbruster drückte ab, fast im gleichen Moment warf sich Yasinthe auf den Dachfirst. Der Bolzen schwirrte über sie hinweg, verfehlte um Haaresbreite den Hellebardier und prallte von einem Kamin ab. Der Schütze schwankte, schlitterte scheppernd den kupfernen Hang nach unten und blieb mit viel Glück in einem Schneefang hängen. Yasinthe sprang wieder auf, gerade rechtzeitig, um sich dem nächsten Angreifer zu zu wenden. Der Blonde war ein schneller, wendiger Kämpfer, das konnte sie förmlich spüren, aber er hatte einen entscheidenden Nachteil: Sein Blut war nicht so kalt wie ihres. Die Geweihte des Namenlosen zog ihren Dolch. Der Mann stieß mit der Hellebardenspitze zu, aber Yasinthe parierte. Im nächsten Moment kämpfte er mehr mit dem Gleichgewicht als mit seiner Gegnerin. Die Ysilierin wich rückwärts zurück, den Dolch drohend erhoben.
"Hah!" brüllte der Schwarzgoldene, um sie einzuschüchtern. Dann hackte er mit Axtseite ein Loch in die Luft. Yasinthe versuchte einen Gegenstoß, kam aber nicht an der Stangenwaffe vorbei.
Nun versuchte er sie mit dem Haken zu Fall zu bringen. Die Gardistin näherte sich polternd auf der Dachschräge – wie schaffte sie es bloß, sich vorwärts zu bewegen? Natürlich, sie versuchten sie einzukreisen. Der Blonde hatte nun gemerkt, dass er Yasinthe mit Tiefschlägen auf die Beine am meisten verunsichern konnte, und deckte sie mit kurzen, beidseitigen Hieben ein, gefolgt von schnellem Gehakel. Die Hellebarde verhakte sich zwischen zwei Kupferschindeln und blieb für einen Moment darin stecken. Yasinthe warf den Dolch, der den Gardisten mit dem Griff am Helm traf. Dann packte sie mit beiden Händen den Hellebardenschaft, und bohrte dem Träger mit beiden Händen das stumpfe Ende in den Unterleib. Keuchend verschwand der Mann nach unten. Er hatte ebenfalls Glück, ein Kamin bremste seinen Fall. Auch Yasinthe begann zu schlittern. Sie drehte die Hellebarde um und hakte sie in letzter Sekunde in den First. Es war, als stünde sie auf Eis –  allerdings auf einer schiefen Eisfläche. Ihre Schuhe rutschten herum, die Füße fanden keinen Halt, während sie mit beiden Händen die Hellebarde umklammerte.
Die Frau kam nun von unten heran gekrochen und hieb mit dem Schwert nach ihren Beinen. Yasinthe pendelte zur Seite. Die Klinge schlug eine ordentliche Delle in eine Kupferschindel. Ein wütender Tritt, und auch diese Gegnerin glitt nach unten, durchschlug den Schneefang und klammerte sich verzweifelt schreiend an die Dachrinne.
Die Geweihte schwang sich wieder auf den Dachfirst und schleuderte die Hellebarde nach unten. Die Waffe verfehlte die Wächterin knapp und sauste in die Tiefe. Der entwaffnete Armbruster kroch schwerfällig am Dachrand zu seiner Gefährtin, um sie festzuhalten und in Sicherheit zu ziehen. Wie überaus rührend.

Auf dem Hof liefen nun immer mehr Burgwachen zusammen, einige mit Armbrüsten. Ein, zwei Bolzen schlugen bereits gegen das Kupferdach. Wo war der rauchende Kamin? Yasinthe lief geduckt auf ihr Ziel zu. Ein weiterer Pfeil schwirrte knapp an ihr vorbei, dann ließ der Beschuss nach. Offenbar mussten die Armbruster erst wieder nachladen.
Yasinthe spürte die Wärme, die das Kupferdach abstrahlte, und sonst kaum etwas. Nur die Leere der Sternenbresche, die schon seit vielen Jahren in ihrer Seele herrschte. Nein, sie hatte keine Furcht.
“Firun bi!” Eine tiefe, wohlbekannte Stimme drang an ihr Ohr, von unten, dem Burghof her. "Die zehnte Stunde hat schon längst begonnen, Yasinthe. Wollest du dich nicht im Wettschießen mit mir messen? Wo hast du deine Armbrust gelassen?"
Dort unten stand Odilon, der Schwarze Bär, der bereits einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt hatte, mit der Spitze noch nach unten. Zwei der Armbruster rissen ihre Waffen ebenfalls wieder hoch.
Der Baernfarn blinzelte für einen Moment, als das Kupferdach zu gleißen begann. Die Dienerin des Namenlosen verschwand in einem grellen Lichtblitz. Für einen Moment lang befürchtete der Waldläufer, sein Ziel könne sich wegteleportiert haben wie ein Magier. Aber nein, da stand sie, aufrecht und die Hände erhoben. Wollte sie sich ergeben? Odilon ging ein paar Schritte zur Seite, um den Sichtwinkel zu ändern. Diese verfluchten Lichtblitze. Das Dach schien unter Yasinthes Füßen regelrecht zu brennen.
Das war keine Sinnestäuschung, bei Firun.
Purpurne Flammen züngelten hoch, formten sich brüllend zu einem fast mannshohen Feuerteufel mit entfernt menschenähnlicher Fratze. Sein zuckender Flammenleib schien sich beständig zu verformen, zu verzerren und wieder zusammen zu fließen, wie geschmolzenes Metall oder Lava. Dies alles im hellsten Licht des Praios, den die Wesenheit nicht etwa zu fürchten, sondern geradezu herauszufordern schien. Ein übler Gestank wie nach Schwefel, verbranntem Fleisch oder ausgeglühtem Metall wehte heran. Das Knistern und Prasseln klang wie höhnisches, grausames Flüstern in einer Sprache des Wahnsinns, die nicht von dieser Welt war. Einem Schild aus Feuer gleich schützte der Dämon nun den Körper seiner Beschwörerin. Die Wachen auf dem Burghof wichen allein vor dem Anblick zurück. Selbst die kakophonische Musik aus Wendelins Kammer verstummte.
Yasinthe blickte ebenso stolz wie verblüfft auf den Diener, den ER ihr geschickt hatte. Das Kupfer unter ihren Füßen wurde heißer und heißer, die Luft flirrte vor Hitze. Ivash, so nannte man den Feuerteufel, aber dieses Exemplar war weitaus stattlicher als die kleinen Irrwische, die ihr bei dieser Anrufung sonst immer erschienen waren. Beinahe mannsgroß ragte der Feuerdämon vor ihr auf – und wartete auf ihre Befehle.
Ich habe mir erlaubt, dir etwas unter die Arme zu greifen, wisperte Purpurzunge. Du scheinst mir nämlich gehörig in Schwierigkeiten zu stecken. Dieser Feuerteufel ist ein Vulkan, nicht nur eine Kerze. Man könnte ihn einen Hohen Ivash nennen.
"Wer, wer bist du?" hörte sich Yasinthe rufen. "Warum spielst du solche Spiele mit mir?"
Ich bin ein Teil von jener Kraft, die nicht nur Böses will, sondern Böses auch erschafft. Nun triff deine Wahl, aber triff deine Entscheidung mit Bedacht. Denn diesmal könnte es wirklich deine letzte sein.

Ein kalter Hauch glitt an ihr vorbei, ein schwarzer Schemen mit rotglühenden Augen und merkwürdig schiefen Hals. War das Golo von Friedwang-Glimmerdieck? Täuschte sie sich, oder reckte der Nachtmahr ihr zum Abschied seine Zunge heraus, die wirklich purpurrot zu sein schien?
Dann war Yasinthe allein mit dem Dämon und Odilon, der hinter der Feuerlohe nur noch als heller Schemen zu erahnen war, als stünde sie bereits auf einem brennenden Scheiterhaufen. Langsam begriff sie, was Purpurzunge mit "Entscheidung" meinte.
Sie konnte dem "Hohen Ivash" befehlen, in den rauchenden Kamin dort zu schlüpfen, und alles Leben im Raum darunter auszulöschen. Wenn sie Glück hatte, befand sich gerade die gesamte Familie des Wehrvogts in der Kammer, einschließlich des Pagen Ravenhart. Hatte sie Pech, war dort unten wirklich nur die Küche, und der Dämon würde lediglich das Mittagessen (und vielleicht den einen oder anderen Koch) in Asche verwandeln. Ein wunderbarer Brand in der neu gebauten Burg lag so oder so im Bereich des Möglichen.
Im gleichen Moment würde sie allerdings eine hervorragende Zielscheibe für Odilon Wildgrimm von Gallys sein, dem Meisterschützen der Schwarzen Sichel. Natürlich konnte sie den Feuerdämon auch auf den Baernfarn hetzen und dessen Heldenleben hier und jetzt beenden. Ein überaus reizvoller Gedanke. Aber dann hätte sie bei ihrer eigentlichen Mission versagt.
Wollte sie die Taube auf, oder besser gesagt unter dem Dach – oder den Spatz auf dem Burghof? Die Wahl, die Yasinthe nun zu treffen hatte, war wahrlich dämonisch.

Timoin hatte seinen alten Lehrmeister nachgeschaut, als dieser auf den Hof lief, den Bogen in der Hand. Dennoch hatte er sich entschieden, Odilon nicht zu folgen. Vielmehr griff er rasch nach seinem Bogen - ebenso wie Odilons Bogen während der Jägerprüfung selbst aus Eibenholz geschnitzt - und seinen Köcher mit Pfeilen und hastete dann der Pfahlgardistin nach, die sich durch die Dachgaube im obersten Saal auf das Dach begeben hatten. Mit einer Hellebarde auf einem Dach zu kämpfen, hier oben den Nahkampf zu wagen, schien ihm ein lebensgefährliches Unterfangen zu sein. Viel größer als die Gefahr, von einer feindlichen Klinge getroffen zu werden war das Risiko, bei der wilden Hatz das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Fehltritt, und die Augenblicke bis zum Aufschlagen auf dem Burghof würden die letzten Augenblicke des Lebens sein. Timoin war Jäger, weder Fassadenkletterer noch maraskanischer Meuchler, und auch, obwohl er durchaus ein geschickter Kletterer war, war er nicht bereit, leichtfertig sein Leben zu riskieren und in die Tiefe zu stürzen. Damit war niemandem geholfen. Stattdessen balancierte Timoin am Dachfirst entlang, bis er sich an einem Kamin festhalten konnte. Erst einmal guten Stand haben, darauf kam es an. Dann zog er einen Pfeil aus seinem Köcher. Der junge Jäger blickte sich um.
Das Gefecht auf dem Dach vor ihm tobte. Timoin zielte, aber er hatte kein freies Schussfeld. Die Hellebardin, die der Meuchlerin nach geeilt war, stand zwischen ihm und seinem Ziel. Bei den schnellen und abgehakten Bewegungen der Kämpfer auf dem Dach war es dem jungen Jäger nicht möglich, sicher zu zielen. Die Gefahr, die Soldatin zu treffen, war zu hoch. Timoin stand auf dem Dachfirst, an den Kamin gelehnt, der ihm eine sichere Position bot. Der Pfeil lag auf der Sehne, der Bogen war gespannt. Allein, solange der Weg vor ihm blockiert war, konnte er nicht schießen.
Plötzlich stürzte die Soldatin in die Tiefe, hielt sich an einem Kamin fest, der zum Glück ihre Rutschfahrt unterbrach. Aber auch die Meuchlerin war abgerutscht, so dass Timoins Pfeil ins Leere flog. Renia - oder Yasinthe - schien weder ihn noch das Geschoss bemerkt zu haben. Die Attentäterin war aus seinem Sichtfeld gerutscht. Timoin schulterte den Bogen, um die Hände frei zu haben. Dann balancierte er weiter am Dach entlang. Um wieder die Meuchlerin ins Blick- und Schussfeld zu bekommen, würde er ein gutes Stück um einen Erker herum klettern müssen. Die beiden Pfahlgardisten, die sich auf das Dach gewagt hatten, kämpften ihrerseits damit, nicht abzustürzen. Leise fluchte Timoin. Jetzt der Meuchlerin nachzueilen hieße, zwei Soldaten vermutlich abstürzen zu lassen. Das konnte er nicht tun. Timoin knotete sein Seil, das er in Waldläuferart immer bei sich trug, um den Kamin und warf es den Soldaten unter ihm zu. Dabei schienen sie alle Glück zu haben, dass Yasinthe sich nicht darum scherte, den Gardisten nachzusetzen. Vielmehr schien sie genug mit sich selbst, oder auch mit den Schützen auf dem Hof unten, zu tun zu haben. Die Hellebardistin griff nach dem Seil und half ihrem Kameraden wieder auf das Dach.
Erst als Timoin sah, dass die Gardisten wieder festen Stand erreicht hatten, machte er sich an die Verfolgung der flüchtenden Attentäterin. Behende sprang er auf den Erker, huschte mit sicheren Schritten über die Kupferschindeln - die zum Glück vom Regen der vergangenen Nach wieder gänzlich abgetrocknet waren - und spähte vorsichtig hinter den gemauerten Zinnen hervor. Er erblickte Renia ein Stück weit unter ihm. Glühte das Dach dort? Welche unheilige Magie wirkte dort? Es schien ihm, als wäre die Meuchlerin von Flammen umhüllt.

Die Entscheidung, wohin sie das dämonische Feuer lenken wollte, wurde Yasinthe abgenommen. Odilons Pfeil schwirrte von der Sehne und schnellte auf die Meuchlerin zu. Nur wenige Augenblicke später stoben zwei Bolzen, herauskatapultiert von zwei Armbrüsten, in die Höhe in Richtung Dach, wo die Attentäterin stand. Instinktiv riss Yasinthe ihren Arm hoch, zeigte auf Odilon und schrie „Brenn´, du Bastard!“ Schon stob die Feuergestalt empor, knisterte, flirrte und brodelte einem Flammenblitz gleich vom Dach in die Tiefe.
Das erste, was dem Feuerdämon zum Opfer fiel, war der von Odilon geschossene Pfeil, der sich auf der Flugbahn zwischen Renia und Odilon befand. Der hölzerne Schaft überstand die Hitze nicht den Augenblick, den die Begegnung dauerte. Einen Bolzen ereilte das gleiche Schicksal, ein zweiter, schlechter gezielter Bolzen des anderen Schützen entging dem brennenden Schicksal und schlug einige Schritt unterhalb Renias in die Mauer ein. Dann stob die Feuergestalt weiter in die Tiefe. Wie zur Seite ausweichend sprang Odilon nach rechts, während der Flammendämon im folgte. Was hätte Odilon darum gegeben, hätte er jetzt sein Schwert Wandelur bei sich getragen. Immerhin ein Schwert, das auch Dämonen Wunden schlagen konnte - denn dass sich ihm hier ein Flammendämon näherte, das war dem alten Jäger unzweifelhaft klar. Und er hatte keine Waffe bei sich, mit der er sich gegen einen solchen zur Wehr setzen konnte. Allein der Versuch, den Flammentod mit dem Bogen oder gar mit dem Jagdmesser anzugreifen, wäre lächerlich gewesen. Odilon hastete mit raschen Schritten zur über den Hof, zum überdachten Brunnenschacht, jedoch folgte der Flammendämon dem alten Jäger, holte ihn ein, umhüllte ihn. Odilon sprang, schon von Flammen umhüllt, in die Tiefe  und stürzte sich in das unter ihm liegende Nass.

Oben auf seinem Erker hatte Timoin Gelegenheit gehabt, gut zu zielen. Seine rechte Hand verharrte, die Bogensehne ruhig haltend, an seinem verkümmerten Ohrläppchen, während seine Augen entlang des Pfeiles zu Renia blickten. Sein Blick versank in der Meuchlerin, während sich gleichzeitig die Finger von der Sehne lösten, und diese hervorschnellend den Pfeil auf seine Flugbahn schickte. Die Augen Yasinthes, die dem ihrerseits zum Waldläufer geschickten Feuerdämon folgten, weiteten sich überrascht. Der Pfeil schlug in der Brust der Priesterin des Ungenannten ein, und noch im gleichen Augenblick hörte das durchbohrte Herz zu schlagen auf. Noch nicht einmal zu einem letzten Schrei, einem letzten Fluch, blieb der überraschten Dienerin des Rattenkindes die Zeit. Eine Seele, die zu schwer auf Rethon gewogen wurde, fuhr hinab in die Tiefe.
Eine niederhöllische Stichflamme fuhr von der Oberfläche einer Feuerlohe gleich in die Höhe und setzte züngelte die Burgmauer hoch, bevor sie erstarb.
Eine in die Tiefe gestürzte tote Meuchelmörderin lag, zu einer unförmigen Masse zerschlagen, auf den Pflastersteinen des Burghofs.