3. Kapitel - Ein festlicher Abend
Drittes Kapitel
Ein festlicher Abend
Burg Schlotz, Abend des 2. Praios
Schwer hallten Alriks Schritte durch den Thronsaal von Burg Schlotz, gefolgt von Ismena, die ihren Rock etwas lüpfte. Auf dem Fuße folgten die Gardisten Franka und Parik, von denen Franka einen Korb mit Weinflaschen, Parik einen sorgfältig umhüllten, rundlichen Stein transportierte. Beide Leibwachen trugen Schaller, Gambesons und Waffenröcke mit dem Steinbock-Kopf des Hauses Friedwang. Am Schwertgehänge baumelten Schwerter, im Gürtel selbst steckten Hirtenschleudern. Alrik bereute es, seiner Rondrageweihten erlaubt zu haben, den einstigen “Gebirgsschützen” ihre Armbrüste wegzunehmen und in den hintersten Winkel der Waffenkammer zu sperren, mit ausgebauter Mechanik. Nun behalfen sich seine Büttel eben mit Schleudern. Zum Glück wurden in Marktfriedwang äußerst hochwertige Bleigeschosse hergestellt, die in den Gürteltaschen klackerten.
Beide hatten über ihren schlammbespritzten Mänteln Schilde auf den Rücken geschnallt, die ebenfalls das friedwanger Wappen zeigten. Der Bauernbursche musterte scheu seine Umgebung. Parik war zum ersten Mal außerhalb seiner Heimatbaronie unterwegs, und spähte misstrauisch um sich, als könnte jederzeit ein leibhaftiger Troll aus einer der riesigen Seitentüren oder den Gängen stürmen: die tatsächlich kaum kleiner waren als das Haupttor von Burg Friedstein. Die Wände, die mehr an eine riesige Kaverne als einen Burgsaal erinnerten, waren mit archaischen Gobelins bedeckt, ebenso mit Sonnenzeichen, Bronzerüstungen und urtümlichen Waffen. Der hintere Teil der “Trollhöhle” war ein wenig erhöht, Treppen führten hinauf zu einem eisernen Thron, unter einem großen Praiosauge, das allerdings von einem Riss verunstaltet war. Ganz so, als hätte einmal Ingerimms Hammerschlag die gewaltige Burg erzittern lassen und ihre zyklopischen Mauern verschoben. Kandelaber und Fackeln hüllten die Halle in ein unstet flackerndes, rotgoldenes Licht.
Der Thron war leer. Die Burgwache, die Alrik und Ismena begleitet hatte, verschwand in einem der übergroßen Nebenräume. Wenig später eilte Adginna herbei und begrüßte ihre Gäste.
“Die Zwölfe zum Gruße, Euer Hochgeboren!” Alrik lüpfte sein Federbarett. “Wenn ich vorstellen darf: Ihre Wohlgeboren Ismena von Oppstein-Glimmerdieck. Meine Wenigkeit kennt Ihr bereits. Alrik Tsalind von Friedwang, zu Euren Diensten.”
Der Mondschatten huschte an die Vögtin heran und deutete formvollendet einen Handkuss an.
Ismena verbeugte sich mit Boltansgesicht: “Rahja zum Gruße, Euer Hochgeboren. Sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen.”
“Die Freude ist ganz meinerseits” Die Vögtin zeigte ein höfliches Lächeln, das sich ebenfalls noch alle Möglichkeiten offen hielt. “Willkommen auf Burg Schlotz. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise? Allerdings habe ich gehört, Ihr seid in ein Gewitter geraten?”
“Nicht der Rede Wert, nur eine kleine Abkühlung, nach einem heißen Praiostag.”
Eine Dienstmagd eilte herbei, mit einem Tablett und drei gefüllten Zinnbechern. “Ich nehme an, Ihr habt nichts gegen eine angenehmere Erfrischung. Ogermeth aus Gernatsquell, wo, wie Ihr wisst, die Familie Eurer Gemahlin Serwa von Baernfarn Zuflucht gefunden hat.” Trotz Adginnas honigsüßer Stimme entging Alrik die kleine Spitze nicht.
Der Baron von Friedwang reichte Ismena den Becher und prostete der Burgherrin zu.
“Es freut mich, Euch endlich in persona auf Burg Schlotz begrüßen zu dürfen”, fuhr die Vögtin fort.
“Uns geht es ebenso... und dann noch unter derart erfreulichen Umständen.”
Adginna war nicht anzumerken, ob sie die Umstände wirklich als derart erfreulich empfand.
Das Trio nippte formvollendet.
“Ah...verzeiht.” Alrik spielte den Vergesslichen. “Ich habe mir erlaubt, ein kleines Präsent mitzubringen. Friedwanger Wein...” Wie besprochen, hob Franka eine der Bockensack-Flaschen hoch, die mehrfach mit Stroh gepolstert im Korb lagen. Es grenzte an ein Wunder der Rahja, das auf der Fahrt durch den Wutzenwald nur eine der Flaschen zerbrochen war, wovon feinherber Weingeruch kündete. Ein Wink in Richtung Parik, der sein Mitbringsel enthüllte: Eine großes, steinernes, geripptes “Riesenschneckenhaus”, das an ein Levthanshorn erinnerte.
“Ein Kuriosum aus dem Marktfriedwanger Steinbruch, wo wir eigentlich Schiefer für Dachschindeln oder Schreibtafeln brechen. Gelegentlich finden wir aber auch merkwürdige Versteinerungen, in Form von Muscheln, Farnen, Sonnen oder auch Hörnern, so wie hier. Sogar einen kleinen Drachen haben wir vor einigen Götterläufen mal entdeckt. Zumindest etwas sehr Ähnliches.”
Alrik deutete auf das Fundstück. Von diesen Dingern wurden in seiner Baronie immer wieder mal welche gefunden, vor allem, aber nicht nur im Steinbruch. Das merkwürdige Echsenwesen, sicherlich eine Rarität, war damals sofort von Walerian Karrer zertrümmert worden, dem herbeigeeilten Hofkaplan und Bannstrahler. Gerne hätte der Friedwang damit geprahlt, dass er diese Ware eine Zeitlang bis nach Grangorien geliefert hatte. Aber seinen Handelspartner dort, Signore Horasio della Pena, hatten die Liebfelder mittlerweile gevierteilt, als Verlierer in irgendeinem hässlichen Grenz- und Erbfolgestreit. Mit dem kultivierten Horasreich war es offenbar auch nicht mehr so weit her.
Adginna blickte etwas unschlüssig auf das “Levthansgehörn”. So richtig anzumerken war ihr nicht, ob ihr die Versteinerung gefiel. “Seid bedankt für Euer außergewöhnliches Geschenk”, sagte sie artig. “Ich nehme an, es ist schwer? Stellt es am besten dort in Ecke.”
“Ich habe doch gesagt, wir fahren nach Dornstyn und besorgen Rosen,” raunte Ismena in Alriks Ohr.
“Ach was, ich bin ja nicht hierhergekommen, um die Vögtin zu freien.” Alrik schnupperte verzückt am Rosenduft der Oppstein.
Dann wandte er sich wieder Adginna zu. “Viele dieser...Tiere sehen aus wie kleine Praiosräder, so dass man diese Funde auch Sonnensteine nennt. Wir haben sie früher bis ins Horasreich geliefert, vor den unseligen Kriegen, als der Handel noch floriert hat. Aber wie ich sehe, herrscht in Eurer Halle an Praios Sonne kein Mangel.” Der Baron deutete auf die Zeichen an der Wand.
“Versteinerte Tiere, ah ja” Adginna ließ offen, ob sie nun amüsiert, indigniert oder interessiert war. “Wie kommt es, dass sie in diesem Schieferberg gefangen worden sind? Mächtige Magie, oder gar ein Wunder Ingerimms?”
“Wer das wüsste. Meine friedwanger Bauern erzählen sich vom Wirken der Steinfee, die über die Höhlen, Grotten und Bergwerke im Lande Sokramors wacht. Manchmal auch die Salzfee genannt. Was immer ihr kalt glitzernder Mantel umhüllt, verwandelt sich in Stein. Sagen die Leute. Diese Steingeschöpfe sollen aber Glück bringen, Glück und Beständigkeit” beeilte sich der Baron hinzu zu fügen. “Vor allem zukünftigen Brautleuten.”
Ismena schob sich etwas nach vorne. “Alboran… Ich habe gehört, mein Sohn ist ebenfalls auf der Burg anwesend?” Die Stimme der Oppsteinerin zitterte vor Ungeduld.
Adginna musterte die Rahjajungfer von oben nach unten. “Natürlich. Rimhilde, hole doch den Junker herbei. Und Haldana, meine Tochter.”
Die Dienstmagd vollführte einen Knicks. Aus irgendeinem Grund wirkte sie beim Namen “Alboran” enttäuscht. Ein hübsches, dralles Ding, dachte Alrik und patschte ihr in Gedanken auf das wohlgeformte Gesäß. Versonnen lächelnd hob er wieder den Becher, und sah der Kleinen zu, wie sie nach draußen eilte.
“Euer Sohn scheint ernsthafte Absicht zu hegen, was meine Tochter und Erbin betrifft. Vortrefflich, dass ich nun seine Eltern vor mir sehe.” Adginna klang eher fragend. “Seine leiblichen Eltern, meine ich.”
“So ist es”, sagte Ismena. “Der Bethanierkrieg war eine Zeit der Wirren, in jeder Hinsicht. Wirren und Betrübnisse, von denen wohl keine Familie des ehemaligen Darpatien verschont geblieben ist. Um so glücklicher bin ich, dass sich Alrik als damaliger Traviaritter zu seiner Vaterschaft bekannt und seinen filius illegitimus adoptiert hat.”
“Ich habe davon gehört, dass Euer Gemahl, dieser Golo von Gießenborn, ein besonders unerfreuliches Ende gefunden hat. Sehr bedauerlich. Manch götterfürchtiges Mitglied des Hauses Binsböckel ist in diesen schrecklichen Zeiten ebenfalls umgekommen, Praios seis geklagt.”
“Der Spuk ist ja nun zum Glück vorbei.” Alrik beeilte sich, Zuversicht und Herzlichkeit zu verströmen. “Vorzüglich, Euer Ogermeth, vorzüglich. Wenn man bedenkt, die Schlacht der Tausend Oger war ebenfalls grausam. Aber was soll ich sagen, dieser Honigwein beweist, dass es manchmal einfach nur Zeit braucht, damit ein übel beleumundeter Name seinen Schrecken verliert - und am Ende sogar für etwas Gutes und Gedeihliches steht, wie dieser Ogermeth. Nun, mir war wichtig, meinen Sohn beizeiten auf den Pfad der Rechtschaffenheit und Praiosfürchtigkeit zu führen. Mir und seinem Onkel, Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein, der leider in der Schlacht von Wehrheim geblieben ist. Das Praiosamulett, das mein Sohn trägt, wurde noch von Parinor selbst geweiht. Es hat Albo wohl auch in Kurgasberg von allen Anfeindungen des Bösen beschützt. Ich habe gehört, in dieser Halle war einmal ein Tempel des Heiligen Alboran von Friedwang untergebracht. Zweifelsohne ein gutes Omen für das künftige Bündnis unserer Baronien und Familien. Damit meine ich nicht nur Schlotz und Friedwang. Sondern den gesamten Sichelbund, der mit Praios und Travias Hilfe bald schon neu erstehen wird. Eine Hochzeit zwischen unseren Häusern könnte diese fruchtbare Zusammenarbeit weiter festigen und vertiefen.”
“Vertieft wurden die beiderseitigen Beziehungen bereits, nach allem, was ich gehört habe”. Adginnas Gesicht zeigte immer noch kaum mehr Regung als das steinerne Levthansgehörn an der Wand. “Wie fruchtbar, wird sich zeigen.”
“Gewiss.” Alrik hatte die Andeutung verstanden, beschloss aber, sie zu überspielen. “Die Freundschaft zwischen Friedwang und Schlotz hat fürwahr eine lange Vorgeschichte. Damals, im Bethanierkrieg, haben Euer Schwiegervater Nengarion und ich Seite an Seite gekämpft, zusammen mit dem Blutbanner, als es um die Rückeroberung des Arvepasses ging. Drüben, auf der anderen Seite der Trollzacken...” Bei diesen Worten zuckte ein Nerv in Alriks Gesicht. Seine Stimme klang belegt. “Mehr als zwanzig Jahre ist es nun her, aber ich habe unseren gemeinsamen Kampf nie vergessen. Nengarion war ein guter, tapferer Gefährte, in der Freischar der Rächer Rondras, ein wahrer Held. Möge seine Seele in einem der Zwölfgöttlichen Paradiese Einzug gehalten haben.”
Nun eilte Alboran herbei. “Mutt...Mutter?” Um ein Haar wäre er der Oppsteinerin um den Hals gefallen, aber ein dezentes Räuspern Ismenas hielt ihn davon ab.
Freudestrahlend drückte Alboran ihr die Hand. “Ich freu mich so, dich zu sehen, gesund und munter. Wo warst du all die Jahre? Warum hast du nie geschrieben?”
“Das ist eine längere Geschichte.” Ismena hüstelte verlegen. “Ich habe dich nicht vergessen, glaub mir. Gut schaust du aus. Bist ein richtiger Mann geworden. Ein echter Krieger. Kann mich noch erinnern, wie du so ein kleiner Zwerg warst, in unserem schönen Gießenborn. Mit dem Holzschwert auf dem Schaukelpferdchen, und jetzt...” Ismenas Stimme zitterte schon wieder. Sie nestelte ein Seidentüchlein hervor und tupfte sich damit eine Träne aus dem Auge. “Da ist mir doch glatt etwas Ogermeth...verzeiht...”
“Jaja, sehr spritzig, der Met.” Alrik war die Szene etwas peinlich. “Früher oder später müssen die Kinder aus dem Haus, das ist völlig normal. Irgendwann kehren sie dann wieder. Alboran ist der Junker von Rübenscholl und Gießenborn, ich denke, er wird baldmöglichst auf seinen Gütern nach dem Rechten sehen wollen. Nach seiner Schwertleite, die wohl im Rondra stattfinden wird. Große Güter, viel Verantwortung, so ist es nun mal im Leben eines Edelmanns. Ich habe gehört, du wandelst bereits auf Freiersfüßen, Albo? Sehr schön, ich bin sicher, wir werden uns bald einig werden. Sowohl was deine Anteile an der Silbermine als auch deine künftigen Titel angeht, die du mit in die Ehe nehmen wirst.”
“Nun, ich bin erst einmal gespannt, Haldana kennenzulernen”, unterbrach ihn Ismena. “Die junge Dame, die dich, äh, interessiert…”
“Das wirst du, Mutter”, antwortete Alboran. “Du wirst sie mögen.” Haldana war Alboran gefolgt. Die junge Baronin wirkte einen kurzen Moment verunsichert, angesichts der Erwartungen an die Etikette, die ihre Mutter immer sehr ernst genommen hatte. Wie sollte sie Ismena begrüßen? Von Stand her war sie als Baronin über der werdenden Schwiegermutter, zugleich gebührte ihr aber der Respekt einer Tochter gegenüber den Eltern, denen die Schwiegereltern ja gleich gestellt waren. Dann aber entschied sich Haldana, die Form ein wenig lockerer zu gestalten. Mit drei Schritten ging sie auf Alrik zu. “Alrik!” rief sie aus. Mit dem Baron war sie auf der Queste zum Kurgasberg ja schon per du gewesen, da konnte ihre Mutter jetzt schwerlich anderes verlangen. Freundschaftlich umarmte sie den Friedwanger, was dieser, zwar überrascht, aber dennoch freundlich, erwiderte. “Es ist ja nur eine Woche vergangen, seit unserem Abschied. Aber es wirkt wie eine Ewigkeit her. Schön, dass du so rasch gekommen bist!”
Dann wandte sie sich Ismena zu und reichte ihr mit einem freundlichen und fröhlichem Lächeln die Hand. “Ihr müsst Ismena sein. Ein wenig habe ich schon über Euch gehört, von Alrik und Alboran. Ich freue mich sehr.” Sie drückte die Hand von Alborans Mutter mit einem festen, zupackenden Händedruck. Ganz bewusst wollte Haldana die etwas steife Atmosphäre, die ihre Mutter nur zu leicht verbreitete, aufheitern und fröhlich gestalten. Auch die Verhandlungen, die sicher noch geführt werden mussten, ließen sich fröhlich sicher leichter gestalten. Mit einem interessierten Blick musterte sie die Versteinerung aus dem Friedwangschen Steinbruch. “Ein überaus interessantes Geschenk, meinst du nicht auch, Mutter? Du erinnerst dich an die Sage der Fee Solaline von Mandelhöhen? Weißt du, dass die Versteinerung beweist, dass diese Sage vielleicht wahr ist und nicht nur ein Märchen, eine alte Erzählung?” Haldana sah ihre Mutter und die werdenden Schwiegereltern kurz an und entnahm den Gesichtsausdrücken, dass sie den Zusammenhang noch nicht sahen. “Nun, die Sage berichtet von einem See, der sich in grauer Vorzeit in Aarmarien befand. Ein See. Und diese Schnecke hier, die wir hier in Stein sehen, ist ein Wassertier. Schnecken dieser Art leben in Seen und im Meer. Nicht aber an Land. Wenn also die Steinschnecke in einem Friedwanger Steinbruch gefunden wurde, dann beweist das, dass vor langer Zeit Friedwang von einem See bedeckt war. Auf der Knappenschule hat Magister Veneficus mehrmals Gastvorträge zur Geschichte und Vorgeschichte unseres Landes gehalten, das war alles sehr interessant.”
“Interessant” bestätigte Alrik, ohne jedoch genauer nachzufragen, wie ein lebendes Tier zu einem Stein geworden sein sollte. Ohnehin kannte er viele dieser Theorien von Magister Veneficus, die auf einer detaillierten Beobachtung der Natur fußten, die teils zu Schlüssen führten, die zwar zumindest nicht beweisbar waren, aber allemal ein interessanter Erklärungsansatz für viele Phänomene waren. “Es freut mich, dass dir der Stein gefällt.”
“Wir werden einen Ehrenplatz dafür finden” mischte sich die Vögtin wieder ein.
Ismena sah sich die künftige Schwiegertochter an. Klein, kräftig, durchaus hübsch. Sie konnte verstehen, dass ihr Sohn Gefallen an der Schlotzerin gefunden hatte. Anders als Adginna fand Ismena die ungewöhnliche Frisur der Baronin eher interessant als unpassend. Sie hatte, als sie zum ersten Mal von der Schlotzerin als künftiger Schwiegertochter gehört hatte, befürchtet, dem Klischee der Schlotzer folgend, eine Halbtrollin in die Verwandtschaft zu bekommen. Jedenfalls hatte man in Oppstein eine eher hinterwäldlersiche Meinung vom unwegsamen Schlotzer Land gehabt mit seinem verwunschenen Wutzenwald und der bekannten Trollburg.
“Mutter, Haldana ist übrigens in der Musik überaus bewandert.” hob Alboran die Vorzüge seiner Verlobten hervor. “Anders vielleicht, als wir das früher in Rübenscholl hatten, aber auf alle Fälle ein Kunstgenuss.”
Ismena nickte. Ein wenig schwankte sie, welchem Gefühl sie nachgeben sollte. Die Burg Schlotz war geneigt, einen schier zu erschlagen mit ihrer Größe und Schlichtheit. Dem Gemäuer fehlte jede Leichtigkeit, jeder Charme, jeder Ausdruck von Lebensfreude. Das künstlerische Element, das sie auf ihrem Gut zuvor genossen hatte, vermisste sie vollkommen. Aber, immerhin, ihre Schwiegertochter schien eine künstlerische Ader zu haben. Und sie war, anders als ihre Mutter, vielleicht nicht so sehr auf Traviafrömmigkeit bedacht. Vielleicht hatte sie sich hierbei geirrt, hatte zu sehr auf alte Märchen und Vorurteile gehört. Nüchtern betrachtet, sie mochte angesichts der Karriere ihres Bruders bis zum Stadtvogt von Rommilys anderes erwartet und erhofft haben für ihren Sohn. Aber dass der Name Binsböckel für eine großes, überregionales und durchaus einflussreiches Haus stand, war nicht zu bestreiten. Da mochte Burg Schlotz nun düster wirken oder nicht.
Haldanas Fröhlichkeit und Natürlichkeit trugen ein gutes Stück dazu bei, die anfangs etwas steife Atmosphäre aufzulockern. Mit der Zeit wurde auch ihre doch sehr förmliche Mutter offener und herzlicher. Sie zeigte den Besuchern die Burg - und auch die Gästezimmer, die für sie bereit standen (allerdings bekamen die nicht verheirateten Eltern des Bräutigams zwei Zimmer und nicht eines, die aber immerhin durch eine Tür miteinander verbunden waren).
Mit am beeindruckendsten war aber für die Gäste der Blick vom Bergfried, dem höchsten Turm der Burg, über das Umland. Bei gutem Wetter konnte man durchaus über die Schlotzkuppen und den Wutzenwald in das dahinter liegende, offene Land blicken. Gen Rahja, in Richtung Rosenbusch, war der Blick jedoch durch einen höheren Hügelzug versperrt. Der Wutzenwald selbst, der sich um die Burg vor allem in Richtung Efferd hin ausbreiten, erschien wie ein großes, dunkelgrünes Meer von unergründlicher Tiefe. Die wellige Oberfläche des Waldgebietes ließ darauf schließen, dass auch der Boden hügelig sein musste. Ein Weg jedoch, der von Schnayttach nach Efferd zu den wichtigen Gütern Gernatsborn und Gernatsquell und den weiteren Dörfern der Baronie führte, den konnte man nicht erblicken. Es war wohl, wie Alrik und Ismena verwundert feststellen, erforderlich, entweder durch Rosenbusch oder durch Hallingen zu ziehen, wollte man die Dörfer des Schlotzerlandes auf einem befestigten Weg und nicht durch die Wildnis erreichen.
An einem klaren, sonnigen Tag wie an diesem hochsommerlichen Tag im Praios war die Fernsicht wirklich beeindruckend. Fern im Rahja, hinter den Rosenbuscher Kuppen, ragte die Schwarze Sichel stolz empor. Sogar das ewige Eis von Firuns heiligem Gletscher war noch zu erkennen. Auch die näher gelegenen, über dem Land empor ragenden Burgen wie die Burg Oppstein und auch der Friedstein waren noch als kleine Punkte in der Entfernung auszumachen. Praioswärts war die Stammburg des Hauses Rabenmund zu erkennen. Im Efferd verlief das blau schillernde Band des Gernat, an dessen Ufer sich verschiedene Ansiedlungen ausmachten. Auch Burg Hallingen, Pfalz Brücksgau und weiter die Burgen am Galben- und Meidenstein waren noch zu erkennen, und ebenso der neue Bau der Gernatsborner Burg. Und am Horizont, weit im Praios, war noch das leichte Glitzern des Ochsenwassers zu erahnen, zumindest der kleinere, westliche Arm des großen Sees, der nicht, ebenso wie der Burgberg von Gallys, hinter den Ausläufern der Schwarzen Sichel verborgen war. Von den Türmen der jeweiligen Burgen aus war es möglich, und nach diesen Gesichtspunkten waren sich einige Standorte ausgewählt worden, nicht nur das Umland zu überblicken, sondern sich auch über Lichtsignale mit benachbarten Baronen oder Burgherren zu verständigen.
Das war die Ferne… aber auch die Nahe Umgebung bot ihren Reiz. Vom Treiben in Markt Schnayttach bekam man von hier oben auch fast alles mit - nur die nah am Berg Schlotz gebauten Häuser und Straßenzüge befanden sich nicht im Sichtfeld. Da zumindest die nähere Umgebung des Burgberges Waldfrei war, war diese auch einsichtig - bis zum Beginn des dunkel aufragenden Wutzenwaldes eben. Aber mit am beeindruckendsten waren die zahlreichen Vögel, die die Aufwinde um den Berg Schlotz und die Burg nutzten, oder die in den Felswänden ihre Nistgelegenheiten hatten.
Während Adginna Ismena und Alboran die Burg und das Umland von oben erklärte, nahm Haldana Alrik unmerklich zur Seite. Leise sprach sie mit ihm, den Blick dabei auf die Schlotzkuppen gerichtet, als würde sie dem Baron Landeskundliches über Schlotz erzählen. “Alrik, ich bitte Dich. erzähle mir mehr über… Ismenas Ehemann.”
Alrik hörte aus Haldanas Stimme eine leichte Besorgnis heraus. “Warum willst du das wissen? Er ist tot. Du hast ihn doch selbst… erschlagen. Und er mag der Ehemann von Ismena gewesen sein, aber das hat nicht zu bedeuten. Eine rein politische Ehe, damals hat niemand gewusst, dass er dem Dreizehnten anhängt.”
“Jaja… ich weiß. Nein, kein Vorwurf, nichts wegen der Ahnenreihe Alborans. Ich muss es einfach wissen. Eines habe ich mit deiner lieben Ismena ja gemeinsam. Ich war mit Golo verheiratet. Nein, nicht wirklich. Aber Golo… egal. Eigentlich hätte er doch schon längst tot sein müssen, oder?”
“Nun, ja.” antwortete Alrik nachdenklich. “Schon. Nachdem man ihn entlarvt hatte als Anhänger… du weißt schon… hat er sich reumütig gezeigt. Als Buße hat er eine Pilgerreise zum Praios-Orakel auf Balträa, auf den Zyklopeninseln unternommen. Von dieser Reise kam er nie zurück. Es heißt, er wäre auf der Reise verstorben. Jedenfalls gilt er als geläutert. Offiziell, auch wenn wir jetzt nach allem wissen, dass er wohl überlebt hat und allenfalls formal dem Dreizehnten abgeschworen hat. Aber… viel mehr kann ich nicht erzählen.”
“Doch, Alrik. Du kannst. Und du musst mir mehr erzählen. Glaub mir einfach, dass es wichtig ist. Von Tante Valyria habe ich gehört, dass seine ruhelose Seele umher wandern soll. Sie hat mal erzählt, dass er Baronin Serwa heimgesucht haben soll, damals, als der Friedstein besetzt war und diese Darbonia Gallys okkupiert hatte. Das hat Valyria von Serwas Bruder erfahren, wie sie sagte. Bitte, Alrik. Alles ist wichtig. Erzähl es mir.”
“Golo”, sagte Alrik, und begann seine Fuchskopf-Pfeife zu stopfen, mit einem durchaus wohlriechenden Kraut. Eine Schwalbe schwirrte vorbei, mit einer Schnake im Schnabel. Das Wetter würde schön werden, die nächsten Tage, zumindest wenn man der alten Bauernregel glaubte.
Der Baron von Friedwang bedeute Haldana mit einer Geste, nach unten zu gehen, einen Stockwerk tiefer. Vor einer der Schießscharten im Bergfried blieb er stehen und blickte die abgetretenen Treppenstufen nach oben.
“Du solltest mit Ismena besser nicht über dieses Thema sprechen. Sie möchte die Wahrheit einfach nicht sehen. Die ganze Wahrheit. Nicht nur, was Golo anbelangt. Sondern auch die unrühmliche Rolle von Redenhardt, ihrem Bruder. Dem einstigen Stadtherren von Rommilys. Nun, es war vielleicht doch mehr als nur eine arrangierte Ehe damals. Sie haben sich wirklich geliebt, glaube ich, Golo und Ismena. Eine Zeitlang haben sie das. Allerdings war der Honigmond ziemlich rasch vorüber.”
Alrik lauschte nach oben, wo halblautes Stimmengewirr zu hören waren. Ismena und Alboran unterhielten sich angeregt mit der Vögtin, die etwas aufzutauen schien. Der Friedwanger nickte zufrieden, und musterte ein Steinmetzzeichen. Der wuchtige Turm schien jünger zu sein als die übrige Burg. Trolle verfügten wohl schon dank ihrer Körpergröße über ausreichend Überblick. Auch wenn “jünger” eine Frage des Standpunkts war, in diesem grauen Klotz aus einem vergangenen Zeitalter.
“Aber du hast diese Oppsteinerin doch auch mal geliebt, oder? Ich meine, sonst gäbe es Alboran nicht...” Haldanas Augen leuchteten allein beim Namen.
“Die große Liebe, Haldana...” Alrik setzte sich auf die Fensternische. “In deinem Alter hat man noch das Privileg, an so etwas Schönes und Gutes zu glauben. Bewahre es dir in deinem Herzen” Der Baron von Friedwang öffnete ein Kästchen, und zog einen glitzernden Feuerstein sowie einen kleinen Stahlring hervor. Der ein wenig wie ein gut getarnter Totschläger aussah.
“Du möchtest also mehr über Golo wissen? Nun gut. Wo fange ich an, beim verkommenen Sohn meines missratenen Vetters Gernot. Manche haben es bereits für ein böses Vorzeichen gehalten, dass sein Ältester kurz nach Ogerschlacht zur Welt gekommen ist, auf Gut Gießenborn. Dem Namen hat er von seinem Großvater, meinem Onkel, der in der Schlacht gegen die Menschenfresser gefallen ist. Wie so viele. Geboren wurde er mit einem schiefen Hals. Der Hals eines geborenen Galgenvogels, beim heiligen Assaf… Seine Mutter, Cecilia Rahjastasia von Schnattermoor-Bregelsaum, stammte aus Warunk und war bei der Geburt gerade mal 17 Götterläufe alt. Später wurde sie vom Wahnsinn ergriffen, wie es heißt, als sie in den Stallungen dem Geist ihrer Vorgängerin Andra begegnet ist. Andra von Bohlenburg. Manche sagen, die Kaufmannstochter wäre in Wahrheit ein Rabenmundbankert gewesen, eine Hexe, oder beides. Gernot hat seine erste Gemahlin unter irgendeinem Vorwand in Wehrheim hinrichten lassen, als sie ihm keine Kinder gebären konnte.”
Beim Wort Geist erschauerte Haldana, als würde Golo erneut nach ihr greifen. Der Abendwind, der um den Turm wehte, war bereits frisch.
“Cecilia muss eine überaus schöne Frau gewesen sein, womöglich lebt sie sogar noch. Angeblich hat man sie ins Noionitenspital nach Perricum gebracht, in der Selemer Jacke. Danach hat sich das Verhältnis Gernots zu seinem Erstgeborenen rapide verschlechtert. Bei der Erziehung hat der alte Finsterbart schon mal mit der Hundepeitsche nachgeholfen. Golo wurde dann in jungen Jahren nach Neetha in Knappschaft gegeben. Die Cavalliera Lorietta ya Stragazza soll eine Jugendliebe Gernots gewesen sein, die er auf seiner Kavalierstour kennengelernt hat. Di Stragazza oder ya Stragazza, kenn sich einer mit den horasischen Titeln auf. Golo hat sich sogar für kurze Zeit am Hof Erzherzog Timor Firdayons herumgetrieben. Den er später nachgeäfft hat. Man könnte auch sagen, irgendwann wollte Jung-Golo horasischer als die Horasier sein. Vielleicht auch freigeistiger als Timor. Angeblich hatte er sogar eine Affäre mit dem Erzherzog. Womöglich war die Liason aber auch nur eine frühe, kranke und düstere Phantasie des Schiefhals. Der unter seiner Verkrüppelung schon gelitten haben muss, gerade weil er sonst ein hübscher Knabe war. Ein wenig zu hübsch, für das dekadente Haus Firdayon, womöglich...”
Ratschend zog Alrik den Stahlring über den Feuerstein und ließ Funken auf den Zunderschwamm sprühen. “Mit der Horaskaiserlichen Expedition ist Golo dann vorzeitig nach Darpatien zurückgekehrt, im Krieg gegen den Dämonenmeister. Seine Dienstherrin Lorietta wurde schon im ersten Gefecht von einem vergifteten Pfeil getroffen, ich glaube, das war sogar in der Nähe der Ogermauer. Also wurde unser tapferer Golo Knappe Baron Redenhardts von Oppstein, ein paar Wegstunden von Gießenborn entfernt. Die nächste Demütigung für einen weltoffenen, hochkultivierten Jüngling wie Golo di Glimmerdicco. Gernot hat ihn dann bald mit Ismena von Oppstein verschmust, Redenhardts Schwester. Da war er gerade mal 17 Götterläufe alt. Eigentlich sollten beide Barone von Friedwang werden. Stattdessen hat Papa Gernot die Ehe mit Golos Mutter, der schnatternden Schnattermoor, annulliert und lieber meine heutige Gemahlin Serwa geehelicht. Danach war das Band zwischen Vater und Sohn endgültig zerschnitten, der mit dem Junkertitel, Gießenborn und noch ein paar anderen Gütern abgespeist worden ist. Zumindest aus Golos Sicht. Ah, geht doch...”
Der Zunder flammte auf. Der Mondschatten hielt ihn in den Pfeifenkopf. Die Tabakskrümel begannen zu glimmen. Alrik paffte schweifend einige Züge, und wedelte den bläulichen Rauch durch die Schießscharte.
“Was danach geschehen ist, weiß niemand so genau. Es gab wohl mal eine praiosgefällige Akte über die Geschehnisse im Bethanierkrieg, aber die ist seit dem Jahr des Feuers verschollen. Du weißt ja, was mit Gernot passiert ist, dem borbaradianischen Verräter. Nach dem Sturz des Abtrünnigen wurde auch Golo stillschweigend entmachtet. Die Oppsteins haben ihn auf ihrer Burg kaltgestellt. Dort ist er von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sein Bett war blutgetränkt, also wurde er für tot erklärt. Totgesagte leben aber bekanntlich länger. Später ist Golo nochmal aufgetaucht. Hat ein Attentat auf Parinor verübt, den Inquisitor, als der ihn im Praiostempel über seinen Verbleib verhören wollte. Redenhardts Bruder. Das Verbrechen wurde aber recht milde geahndet. Erstaunlich milde. Angeblich war Golos Geist von Rattenpilzen vernebelt gewesen, der unheiligen Pflanze des Namenlosen. Wo immer er davon genascht hat. Golo wurde lediglich zu einer Bußwallfahrt nach Balträa verurteilt, auf den fernen Zyklopeninseln. Begleitet wurde er von einem Aufpasser, Gurvanio Harnischer, einem gebürtigen Kusliker und eifrigen Ritter des Bannstrahlordens. Das muss so `24 rum gewesen sein. Seitdem gilt er offiziell als verschollen. Endgültig verschollen. Glaubt man Ismena, ist es sogar überaus praiosgefällig, auf dem Weg zum Orakel von Balträa umzukommen. Wie bei den Novadis halt, wenn die Heiden bei einer Pilgerreise nach Keft verschwinden, in der Wüste. Wie gesagt, es gab wohl genauere Unterlagen dazu. Aber entweder wurden die in der Stadt des Lichts gebracht, sind im Krieg verschollen…oder beides. ”
Alrik lächelte vielsagend und blickte hinaus in die Abendröte. “Schön habt ihr's hier. Wer hätte gedacht, dass das Wetter nochmal aufklart. Ich wünsche dir jedenfalls eine glücklichere Ehe mit Alboran, als seine Mutter sie mit Golo dem Elfchen hatte.”
“Aber Alrik...Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das bereits die ganze Geschichte war? Ich mag jung an Jahren sein, aber glaub mir, wir haben hier in Schlotz auch allerhand erlebt, in der Wildermark. Niemand verschwindet einfach so. Ohne Grund.”
“Natürlich war das noch nicht die ganze Geschichte. Ich vermute Oppsteiner Intrigen dahinter, und irgendwelche Umtriebe von Gernots Kanzler, Herdmund Weißenkohl. Der wohl seinen Sohn und Nachfolger Berschin, einem Gelieben Golos, mit Ismena verheiraten wollte. Was man weiß ist, dass Golo nach Balträa noch einmal gesehen worden sein soll, im Gasthaus Zum Scharrenden Stier, an der garetisch-darpatischen Grenze. Angeblich haben ihn Soldaten weggeführt, mit Fuchswappen. Ritter Gurvanio hat sofort die Suche aufgenommen, allerdings vergeblich. Hieß es zumindest. Die Garether haben damals abgestritten, hinter der Entführung zu stecken. Aber das muss ja nichts heißen. Ich vermute, dass irgendjemand herausfinden wollte, warum die Oppsteiner ihre schützenden Hände über das schwarz-purpurne Schaf unserer Familie gehalten haben.”
“Hatten sie denn Grund, etwas zu verheimlichen?”
“Es gibt Gerüchte, wonach die Verbindungen zwischen Gernot und Redenhardt enger waren, als es dessen späteren Karriere zuträglich gewesen wäre. Schon vor der Blutnacht auf dem Friedstein. Ein geheimnisvolles Notizbüchlein Kanzler Herdmunds soll da ebenfalls eine Rolle gespielt haben, mit kompromittierendem Material. Aber damals war es leichter, den Todeswall zu durchbrechen, als die Mauer des Schweigens, die die Geschichte bis heute umgibt. Herdmund ist an einer Sieche gestorben, Berschin in der Wildermark verschwunden. Mittlerweile weiß man immerhin, dass Gurvanio Harnischer selbst ein Diener des Rattenkinds war. Ein Handlanger von Merwan, dem Vampirmagier, der Friedwang im Peraine 1027 unterjocht hat, als der Endlose Heerwurm marschiert ist. Leider ist Harnischer bei der Befreiung der Baronie umgekommen. Bevor wir ihn eingehender befragen konnten”.
“Haben ihn vielleicht die Oppsteins beseitigt?” Irgendwie hatte Haldana das bange Gefühl, dass sie den Spross eines ziemlich umtriebigen Adelshauses heiraten würde.
“Eher nicht. Laut Serwa und meinem Bruder wurde Gurvanio von einem Riesengrottenolm gefressen, bei einem finsteren Ritual in unserem Burgkeller. Sowas gabs damals öfters, in der Wildermark.”
“Von was wurde er gefressen? Einem Olm?”
“Du bist doch Bardin. Kennst Du nicht das Elfische Sagenbrevier? Oder das Lied von der Schwarzen Sichel und den Grotten des Schweigens?”
“Ach so. Stimmt. Fran der Pfeifer hat diese Uraltballade noch im Repertoir. Irgendwas mit einem zahmen Maulwurf, Waldelfen mit komischen Namen, einem Rätsel, dem entlaufenen Schwein Rosa und...jetzt wo du es sagst...einem Riesengrottenolm...naja...ich weiß nicht...Heutzutage verlangen die Kunden feinsinnigeres Liedgut. Fran Pfeifers Rätsel kann ohnehin niemand lösen.”
“Immerhin hat dein Zunftgenosse das Märchen von der Fee Solaline für die Nachwelt bewahrt.”
“Mag sein. Der Grottenolm ist also mal bei euch in der Burg aufgetaucht?” Haldana lächelte ungläubig.
“Ja....im tiefsten Brunnenschacht des Friedstein, um genau zu sein. Waren andere Zeiten damals. Obs wirklich ein...Riesengrottenolm war, wage ich zu bezweifeln. Hesindian meinte, die Beschreibung deutet eher auf einen Großen Alchimisten hin.”
“Doch nicht dieser Rimperdingsbums, der im Bauch des Grottenolms gefangen gewesen sein soll? Ich bitte dich, dass sind doch Kindergeschichten. Das Elfische Sagenbrevier ist eine Erfindung der Rohalszeit. Damals war eben alles, was spitze Ohren hat, groß in Mode. Fran war in seiner Glanzzeit ein verdammt guter Dudelsackspieler, aber seine Moritaten und Geschichten....naja.”
“Ich weiß. Ein paar Mal war er bei uns im Springenden Steinbock zu Gast, mit Sackpfeife und Drehleier. So schlecht fand ich ihn gar nicht. Für Frohsinn und gute Laune hat er jedenfalls gesorgt. Großer Alchimist ist laut meinem Hofmagier der Name eines Dämonen, der zur magischen Verhüttung von Erz eingesetzt wird. Auch Weißer Wurm genannt.” Alrik schlug in den Nebel seiner Pfeife das Zeichen des Fuchskopfs. “Mögen die guten Götter uns gegen die Mächte der Finsternis beistehen.”
Haldana, die gerade noch erheitert gewesen war, wurde nun wieder einsilbig. “Ja. Alveran steh uns bei, gegen die Niederhöllen und ihre Abgesandten...”
“Merwan der Schreckliche soll den Wurm schon zur Zeit der Priesterkaiser beschworen haben, um nach Schätzen tief unter den Bergen zu schürfen. Gut möglich, dass das Ungetüm sich damals selbstständig gemacht hat. Ich bin jedenfalls froh, dass es noch die Zisterne auf dem Burghof gibt. Und wir nicht auf das trübe Wasser des alten Brunnens angewiesen sind, das noch immer nach Säure und Schwefel stinkt. Immerhin hat der Wurm damals die Schwarze Sonne verschlungen, ein Artefakt des Nicht zu Nennenden, das geweihten Orten die Kraft der Götter stiehlt. Langsam, aber unaufhörlich alles Göttliche aus ihnen heraus saugt. Gurvanio ist mitsamt dem unheiligen Artefakt in den Rachen des Dämons gefallen. Mein Bruder hat ein bisschen nachgeholfen, gut. Woraufhin der Große Alchimist mit Getöse und einer Schwefelwolke verschwunden ist. Regelrecht geplatzt. Gurvanio und Merwan wollten mit der Dreizehnstrahligen Sonne die Sankt-Alborans-Siegesbasilika entweihen...unter ihr befand sich wiederum ein uralter Kultraum des Namenlosen. Aus der Zeit des ersten Praiostempels, den Merwan in der Priesterkaiserzeit errichtet hat. Mit einem Sarkophag aus purpurnen Stein, in dem das Kind der Finsternis geschlummert haben soll. Die Praioten haben den Zugang mittlerweile versiegelt und die Wiege des Bösen zerstört, wie sie den Steinsarg nennen. Selbst war ich allerdings nie dort unten. Wenn ich nicht zufällig Baron von Friedwang wäre, hätte ich von all dem kein Sterbenswörtchen erfahren.”
Haldana hatte große Augen bekommen. “Erinnert ein bisschen an die Geschichten über die Katakomben, unter unserer Burg. In den Tiefen des Berges soll sich ebenfalls etwas... Altes verbergen. Ich weiß noch, wie sie uns als Kinder immer gewarnt haben, in die Keller hinabzusteigen...Deswegen bin ich immer ganz gern hier oben auf dem Bergfried.”
“Mag sogar sein, dass da ein Zusammenhang besteht. Der Alboranstempel soll während der Priesterkaiserzeit von friedwanger Geweihten gegründet worden sein, auf Burg Schlotz.”
Haldana nickte. “Es soll sogar mal einen Schlotzer Priesterbaron namens Gurvanio gegeben haben.”
“Ja, gut möglich, dass der schwarze Bannstrahler seinen Amtsnamen von dem Kerl übernommen hat. Ursprünglich hieß Gurvanio Elfis. Elfis Harnischer. Vermutlich war ihm der Name aber zu elfisch.” Alrik grinste. “Dann hätte er sich aber andere Freunde aussuchen sollen, in Markt Friedwang. Seit dem Zwischenfall mit dem Viergehörnten haben wir zumindest eine Theorie, was mit Golo geschehen sein könnte. Merwan, der zurückgekehrte Blutsauger, besaß plötzlich die elfengleiche Gestalt Golos. Aber immer noch ziemlich spitze Zähne und einen geraden Hals. Serwa wiederum war während der Herrschaft der Thronräuberin Oleana nicht sie selbst. Gernots Tochter, die als Kriegsherrin die Macht in Friedwang ergriffen hat. Serwa war damals von etwas Überderischem besessen. Vermutlich vom Geist Golos, der als Nachtmahr von ihr Besitz ergriffen hat...sie kann sich aber an wenig von dem erinnern, was in diesem Jahr passiert ist. Vermutlich sind es nicht einmal ihre eigenen Erinnerungen. Die Zeit der Wirrnis muss für meine arme Gemahlin wie ein einziger Rauschtraum gewesen sein. Voller Zerrbilder aus dem Leben des Junkers von Gießenborn. Golo scheint eine Zeitlang in einem Kerker verbracht zu haben, mit einer Eisernen Maske vor dem Gesicht. Bis irgendwann ein Rattenpilz im Verlies gewachsen ist, und er davon gekostet hat. Dann stand plötzlich Merwan in seiner Zelle – der Jahrhunderte alte Peiniger des Hauses Friedwang. Erst als Ratte, dann als schwarzbärtiger Mann. In Gestalt von Gernots Hofmagier Ilkor Brasgar, der Serwa schon während der Bluthochzeit auf dem Friedstein opfern wollte. An dieses Bild kann sich meine Gemahlin noch erinnern, ebenso, dass Golo sich seinen Zeh abgeschnitten hat, um ihm den Namenlosen zu opfern, als Preis für seine Freiheit. “
Der Friedwanger schaute besorgt in Haldanas Richtung. Zuhause, in Friedwang konnte er nicht frei über so etwas berichten, bestenfalls im engsten Kreis der Vertrauten. Manchmal hatte Hesindian auch Seelenheilkunde eingesetzt, um Golos Erinnerungen zu wecken, die Serwa in “Fleisch und Blut” übergegangen zu sein schienen. Hypnose nannte er das Verfahren, das angeblich nicht einmal magisch sein sollte. Die Praioten durften dennoch nichts von alldem wissen. Es war nur gut, dass sich Prätor Garafanion nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, in seinem Bemühen, sich die Herrschaft Oleanas als praiosgefällig einzureden. Wie hatte Ismena so schön gesagt, in der Kutsche: Wer im Gewächshaus sitzt...
Zu seiner Erleichterung sah ihn Haldana verständnisvoll an. Fast schon schien sie Mitleid mit Alriks Gemahlin zu empfinden. Tatsächlich wusste die junge Binsböckel nur zu gut, was es bedeutete, Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnehmen konnten.
Alrik seufzte. “Der Ewige Widersacher lebt von der Verzweiflung und dem Unglück der Sterblichen. Deswegen ist Er auch so eifrig darauf bedacht, das Leid in dieser Welt zu vermehren, statt es zu mildern. Wie es die guten Zwölfe versuchen. Merwan hat sich Golos an Vaters statt angenommen, und mehr als das. Irgendwann muss der Bleiche ihm seinen schönen Körper gestohlen haben, als Ersatz für seinen eigenen, untoten, bleichen, nach Verwesung riechenden, seit 700 Jahren langsam verrottenden Leib. Seither war Golo wohl ein körperloses Geschöpf, eine Art Incubus, der sich von der Lebenskraft anderer Menschen ernährt.”
“Aber...auf dem Darpat. Da schien Golo wieder ganz er selbst zu sein, mit eigenem Körper?”
“Ja, das verstehe ich ehrlich gesagt auch nicht so ganz. Hesindian ist es gelungen, ein Trümmerstückchen von dem Sarkophag zu untersuchen, magisch meine ich. Aber psst.” Alrik legte den Finger auf die Lippen. “Wenn das meine Diener des Lichts herausfinden... Dank Serwas Visionen ist es uns gelungen, zu rekonstruieren, was damals passiert ist. So einigermaßen. Die Wiege des Bösen war von niederhöllischer Leichtigkeit, dafür, dass sie aus massivem, quaderschweren Porphyr bestand. Sie muss also transportabel gewesen sein. Offenbar gab es irgendwo in Transysilien oder der Warunkei ein unterirdisches Ritual, bei dem Merwan in seinem Sarkophag lag und in einem zweiten Steinsarg Golo. Vermutlich nicht ganz freiwillig. Aber die Bilder waren da sehr undeutlich. Der untote, modernde Leib des Vampirs sollte wohl Golos jugendfrische Gestalt erhalten, mit Hilfe von Blutmagie und verbotenem Wissen. Auf den schiefen Hals hat Merwan bei seiner Neuerschaffung wohlweislich verzichtet. Irgendetwas muss aber dennoch schief gegangen sein. Golos Geist wurde von seinem eigenen Körper getrennt. Aber nun gut, in so einem Sarkophag wird einem Sterblichen schon mal die Luft knapp. Auch Merwans gestohlener Körper wurde mittlerweile vernichtet, durch einen Geweihten der St. Alborans-Siegesbasilika, im Schratenwald.”
Alboran paffte geistesabwesend. Draußen flatterte ein Taube vorbei, landete in der Fensternische und flog erschrocken wieder auf, als sie die Menschen erblickte, mit schwerem Flügelschlag.
Munteres Geplauder von oben lenkte die beiden ab.
Adginna kam mit Alboran die Treppe herab, gefolgt von Ismena.
“Glaubt mir, werter Junker, ein Wald kann eine wahre Schatzkammer sein, wenn man ihn zu nutzen versteht. Phexens Fuchs wohnt am liebsten in Firuns Wald. Noch so ein Sprichwort...wenn ich allein an unsere Waldweide für die Schweine denke, im Herbst. In guten Jahren, wenn es viele Bucheckern und Eicheln gibt, stehen wir den Wutzenwaldern beim Ertrag in nichts nach.”
Alboran nickte eifrig. Sein ganzes Augenmerk galt aber schon wieder Haldana.
“Holzschädlinge sind natürlich ein ständiges Ärgernis. Dieses Jahr treibt es der Orkenkäfer wieder besonders wild. Ah, sieh an, meine Tochter möchte unseren Bergfried in Brand stecken, zusammen mit dem Baron von Friedwang?”
Die Vögtin lächelte bei diesen scherzhaft gemeinten Worten. Sie schien deutlich entspannter zu sein als noch vor einer Stunde.
Alrik nahm die Pfeife aus dem Mund. “Es war oben doch etwas windig, so dass wir uns ein wenig zurückgezogen haben. Bitte verzeiht. Unter einem Dach fängt der Zunder besser Feuer.” Ein Blick zu Haldana, die merkwürdig blass und verstört wirkte.
Ein wenig wunderte sich der Friedwanger schon. Golo-Geschichten waren sicher schauderhaft, aber die junge Binsböckel hatte in den Trollzacken gerade Schlimmeres erlebt.
“Der Zunder fängt unterm Dach besser Feuer”, wiederholte Adginna beschwingt. “Ein gutes Stichwort. Das Kaminfeuer brennt sicher schon. Zeit für das Abendessen.”
Alrik deutete auf seine Pfeife. “Seid bedankt. Wenn Ihr gestattet, werde ich noch schnell zu Ende rauchen. Eine üble Angewohnheit, das mit dem Rauchen. Hab im Bethanierkrieg damit angefangen. Gut gegen das Zittern nach der Schlacht...und vor der Schlacht...”
“Natürlich. Ihr findet den Weg zum Thronsaal? Dort wird euch ein Diener in den Speisesaal führen. Man kann sich bei uns schnell verlaufen, auf Burg Schlotz.”
“Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.”
Alboran, dessen Flamme und Schwiegermutter gingen plaudernd nach unten, während Ismena und ihr Verflossener zurück blieben.
“Immer noch das gleiche Kraut wie damals.” Ismena hatte wieder ihren Fächer gezückt und vertrieb damit die Tabakschwaden.
“Nicht ganz. Hab die Mischung in Rommilys ein bisschen verfeinert. Und, wie gefällt es dir so, in der künftigen Heimat unseres Sohnes?”
“Zumindest ist Schlotz keine Trollburg, wie man sie sich bei uns vorstellt. Mehr als nur ein paar Steinbrocken in der Wildnis...Ich muss schon sagen, manch kaiserliche Pfalzburg ist nicht so gewaltig wie dieser Baronssitz. Man könnte hier leicht den Palast Rahjas auf Deren unterbringen...” Ismena blickte durch die Schießscharte. Draußen begann es zu dämmern. “Wir dürfen unsere Gastgeber nicht zu lange warten lassen. Du solltest ein bisschen schneller qualmen. Sei höflich, auch wenn Du deine Knappschaft in den Gassen von Brabak absolviert hast.”
“War nur ein Vorwand. Das mit dem Weiterrauchen. Du hast deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Über das, was nach dem Einfall Varenas in Gießenborn geschehen ist.”
“Meine Geschichte ist nicht ganz so spannend wie deine gerade eben.”
Alrik runzelte die Stirn. “Du hast gelauscht?!”
“Dazu musste ich mich nur an die Brüstung über der Schießscharte stellen. Du warst auch schon mal diskreter. Aber Du kannst unbesorgt sein, ich habe eigentlich nur mitbekommen, dass es um Golo ging.”
“Natürlich, wenn es um den geht, hörst du immer schlecht.”
“Was habt ihr beide besprochen?”
“Erst deine Geschichte...das Leben ist ein Geben und Nehmen, sagt Phex.”
“Was erwartest du für Abenteuer von einer schwachen Dienerin der Liebholden? Irgendwann bin ich aus Alweranskuppen geflohen, verfolgt von Varenas Söldnern. In der Wildnis habe ich mich ziemlich schnell verirrt, beim Versuch, sie abzuschütteln. In meiner Verzweiflung bin ich einfach dem grünen Leuchten des Rings gefolgt. Wollte mich irgendwie zur Burg meiner Familie durchschlagen. Irgendwann, auf dem Weg gen Firun, kam ich an die Quelle des Gießen. Was soll ich sagen. Ein halb verfallenes Quellenhäuschen, mit einer kleinen Statue von Yalsicor, dem Alveraniar und Schutzherr von Freundschaft und Hoffnung. Mitten in den Bergen. Wusstest du, dass der Ziegenkopf in Eurem Wappen wahrscheinlich auf den Hohen Drachen zurückgeht, der seit alters her in Travias Diensten steht?”
“Wenn du es sagst.” Alrik paffte einige Rauchkringel. Das Halbdunkel hier oben gefiel ihm. Er wollte noch nicht runter, in den Thronsaal.
“Meine Wunden waren alles andere als verheilt, als mir Elmert dieses Maultier beschafft hat, und ich einfach losgeritten bin, durchs schwach bewachte Tor. War schon ein bisschen älter, aber mit einem Reiterangriff aus dem Kloster haben die verdammten Mietlinge nicht gerechnet. Meinen Trick, dem alten Wisshard ein paar Steine in die Satteltaschen zu stecken, ihn in den Wald zu schicken und eine falsche Fährte zu legen...den fand ich gar nicht so schlecht.”
“Sieh an, an dir ist ja eine Baernfarn verloren gegangen”, spöttelte Alrik. “Eine echte Waldläuferin.”
“Die Wunden hätten dennoch ein wenig mehr Zeit zum Heilen gebraucht, unter den Verbänden. In meiner Verzweiflung wollte ich eine heilende Feenquelle finden. Tatsächlich, hinter dem Schrein ging es noch weiter, tiefer hinein in den Berg. In eine Grotte, mit einem kleinen, runden, tintenblauen See. Das musste der Blautopf sein.”
“Ist von Ziegenart, macht doch nicht Meck, ist krumm und zart, wächst wie ne Heck...wie gehts weiter?”
“Wir sollten uns die Märchen und Sagen besser fürs Abendessen aufheben. Nein, den Kobold Ziegenbart hab ich nicht getroffen. Wie war das? Ach ja, der hat die Quelle des Gießen in einen Krug gesperrt... Den er vor lauter Zorn zerbrochen hat, als die Gießenborner das Rätsel gelöst haben und auf seinen Namen gekommen sind. Weswegen der Gießenborn jetzt einige Meilen außerhalb des Dorfes entspringt. Nun, der Blautopf hat geleuchtet, und mein Ring auch...aber von einem Moment zum nächsten nicht mehr grün, sondern rot. Dann hat sich irgendetwas genähert, unter Wasser. Ich habe es nicht gesehen... aber gespürt. Dann bin ich gerannt wie nie zuvor, sicherlich eine halbe Meile, ohne mich umzudrehen. Was sage ich, mehr gestolpert und gestürzt. Bei Gießenborn kam ich wieder aus dem Bergwald. Dort habe ich die Flasche des Ersten Bosparanjers geholt, die Reliquie des Tempels.”
“Ich dachte, die Dreckigen hätten sie zertrümmert.”
“Ich mag vielleicht nur eine zarte Rahjadienerin sein. Aber es war nicht mein erster Krieg in der Sichel. Kaum ist die Nachricht eingetroffen, dass sich der Feind Gießenborn nähert, hatte ich eine einfache Tonflasche ins Reliquar gelegt und den echten Schatz an einem sicheren Ort versteckt. Mit der Reliquie bin ich dann nach Belhanka gepilgert und habe um KHABLAS MAKELLOSEN LEIB gebeten. Ich habe mich für einen Moment im Blautopf gespiegelt, glaub mir, diese Entscheidung war keine Eitelkeit.”
“Moment, Verständnisfrage. Eine Schaumweinflasche war dir wichtiger als... deine Familie? Dein eigen Fleisch und Blut?”
“Die mehr als 200 Jahre alte Flasche, in der die Geliebte der Göttin Rahjalina Stellona zum ersten Mal das Kultgetränk unserer Kirche angesetzt hat, gewiss. Vorhin hieß es noch, wir Oppsteiner würden es mit der Götterfurcht nicht ganz so genau nehmen wie unsere Nachbarn. Nun habe ich Sancta Rahjalina einen Dienst erwiesen, der wahrlich aus tiefstem Herzen kam - und dir ist es auch wieder nicht Recht...”
“Du hättest diese Pulle in Rommilys abliefern können oder in Gareth...”
“Bei den stocknüchternen Traviagänsen? Oder doch lieber in der sicheren Hauptstadt des Raulschen Kaiserreichs - wo nur ab und zu mal eine Fliegende Festung runterfällt? Wenn nicht einmal Wehrheim sicher war? Nein Danke. Ich war in Rommilys, gewiss, im Stadthaus unserer Familie. Aber nur, um meine Reisekasse etwas aufzubessern. Danach habe ich mich auf schnellsten Weg gen Belhanka begeben. Zur Lehrerin des Rausches Atroklea, die sich ganz dem Dienst an der Heiligen Rahjalina verschrieben hat. Eine geborene Berlînghan und somit eine Verwandte meines Bruders, dessen Empfehlungsschreiben ich in der Tasche hatte.”
“Du warst also doch nicht in der Feenwelt?! Aber selbst das Horaskaiserreich ist nicht soweit weg, dass man vier Jahre hin und zurück braucht.”
“Ich sagte es ja schon, die Mysterien der Rahja sind für Euch Außenstehende nur schwer zu verstehen. Die Schöne Tochter war gnädig und hat mir wieder ein Gesicht gegeben, nach Wochen der Einkehr. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Leib wurde makellos wie das Antlitz Khablas, aber dafür habe ich ein Gelübde geleistet, das den Belhankanern überaus gefiel. Ich bin in die Fußstapfen der Heiligen Xaviera getreten, der Schutzheiligen der Stadt.”
“Oha, die Patronin der Kurtisanen.” Alrik verdeckte ein hämisches Lachen.
“Ja, durch ihre Fürsprache in Alveran wurde mir mein Gesicht zurückgegeben. Alles andere werde ich dir nun wirklich nicht auf die Nase binden. Sieben Götterläufe sind eine überaus lange Zeit.”
“Sieh an. Anderen verzeihst du nicht mal, wenn sie ihr Lager für eine Nacht aufstellen, in deinem Garten.”
“Manchen verzeihe ich nicht, dass sie ihr Lager nur für eine Nacht bei mir errichtet haben, mein Liebster...denk ja nicht, dass ich in Belhanka unter der roten Laterne gestanden habe, wie eine Hafenkokotte. Oder dass ich all die Jahre nur mit der Erfüllung meines Gelübdes befasst war. In der Ponterra gibt es eine rege darpatische Diaspora, dank der Darpatengarde und meinem guten Onkel Gernbrecht, mit seiner Rommilyser Reiterei...”
“Natürlich, die Rommilyser Reiterei. Man sagt, diese Condottiere hätten den Schatz unserer guten Fürstin Irmegunde gestohlen.”
“Wenn, dann war das dieser Ilsandor von Hauerndes, der in der Wildermark in Diensten Ucurians...ach, ersparen wir uns auch das. Vor diesen Wirren bin ich geflüchtet, ins Land an Sikram und Yaquir...”
“Während ich derweil unseren Sohn standesgemäß untergebracht habe, als Knappe, in seiner geschundenen Heimat...was gar nicht so einfach war. Bei Golos Reputation. Vom Ansehen seines Großvaters ganz zu schweigen.”
“Meinen Gemahl hab ich nicht vergessen, ob dus glaubst oder nicht. Nachdem ich nun schon mal im Horasreich war, habe ich mich zuletzt noch auf den Weg nach Baltrea begeben, zum Orakel des Praios...Einen netten Capitano der horaskaiserlichen Handelsmarine habe ich in der Zeit übrigens auch kennengelernt. Adrett, zuvorkommend und gut aussehend. ”
“Daran zweifele ich nicht. Sein Name war nicht zufällig Flarion Silbertaler?”
“Wer?”
“Ach, vergiss es.”
“Da ist wohl einer eifersüchtig? Du hattest neben Serwa und mir auch noch deine Liebschaften. Wenn ich allein an diese Duridanya denke, Nichte dieses schurkischen Schwertes der Schwerter Dragosch von Sichelhofen. Du brauchst Golo gar nicht so schlecht zu machen, vor Haldana.”
“Das brauche ich wirklich nicht mehr. Was wolltest du denn auf Baltrea? Ziegen hüten? Das einfache Landleben genießen, nach deinem Vergnügen mit der Rommilyser Reiterei und der Darpatengarde?”
“Ich wollte wissen, ob Golo wirklich auf der Vulkaninsel angekommen ist.”
“Und - ist er das? Haben sie ihn dort heilig gesprochen ob seiner frommen Buße?”
“In Tyrakos konnte sich einer sogar wirklich noch an seinen schiefen Hals erinnern.”
“Die Zyklopen haben sicher ein Auge für so etwas.”
“Sehr witzig. Er war mein Ehemann, Alrik. Wir haben uns ein Versprechen gegeben.” Ismena reckte trotzig das Kinn vor.
“Einen Versprecher vielleicht. Golo soll in einem Gasthaus nahe der garetischen Grenze verschwunden sein...Stand sogar im Darpatischen Landboten. Auf der Rückkehr aus Balträa.”
“Ich wollte Antworten, Alrik. Die ganze Wahrheit, die nur die Götter kennen. Balträa ist nun mal ein Orakelort. Seltsamerweise erinnert mich diese Burg wieder an damals. An die Zyklopeninseln. Die Bauten der Einaugen dort sind ebenfalls gigantisch. Ich bin den Vulkan von Baltrea hinauf gewandert, wie eine gewöhnliche Pilgerin. Auch das wirst du vermutlich nicht verstehen. Die Sonne, das blaue Meer, das schwarze Gestein des Feuerbergs. Der säuselnde, nach Kräutern duftende Wind, das Grillenzirpen in der Hitze des Tages. Der Blick auf die umliegenden Inseln. Man ist den Göttern unglaublich nahe, an diesem Ort, vielleicht näher als anderswo in Aventurien. Schon zu Beginn erhielt ich Zeichen. Den Klang der Levthansflöte, das Meckern einer Ziege, die Flugechse, die sich einen Fisch gefangen hat, unten in der silbrig glänzenden Bucht...”
“Das müssen ja nicht unbedingt göttliche Zeichen sein.”
“Die Ziege, der kleine Drache? Das Instrument des Rahjasohns? ER wollte mir zeigen, dass ich damit gemeint war. Dass ER wusste, was mir widerfahren war, und mir Antworten geben würde. Man spürt in diesem Moment SEIN goldenes Auge auf sich ruhen, im klaren, reinen Licht des Mittags. Als ich vorhin das Sonnenauge gesehen habe, im Thronsaal, da ist mir all das wieder eingefallen. Ich habe IHM geopfert, oben im neuen Tempel, und gebetet, zu Praios und seinen Alveraniaren. Auf dem Rückweg habe ich die Antwort dann gesehen. Auf einer Tonscherbe, im Vulkanschutt zwischen den Ruinen...”
“Du machsts aber spannend.” Alrik klopfte die Asche aus dem Pfeifenkopf, hinaus ins Dunkle.
“Ein Triskal. Umgeben von verschlungenen Zauberrunen.”
“Ein Auge der Macht, wie die Thorwaler sagen? Sicher, dass es nicht irgendein Kratzer war?”
“Die Thorwaler waren öfters auf den Zyklopeninseln, in den Dunklen Zeiten.”
“Moment, damit ichs verstehe. Der Götterfürst hat dir nicht nur ein Zeichen geschickt? Es war auch noch ein magisches Zeichen der Barbaren aus dem Norden? In einer alten Tonscherbe?”
“Ein Schutzzeichen vor böser Zauberei. Ich habe die Scherbe mitgenommen, und später einer rothaarigen Olporterin gezeigt, im Hafen von Belhanka. Wir hatten auch sonst viel Spaß miteinander, Alfhildur und ich. Nein, nicht so wie du denkst. Alfhildur Swafnirdrasdottir. Sie meinte, es wäre ein Vitkari-Zeichen. Eine Zauberrune, wie sie schon die Hjaldinger nach Aventurien gebracht haben. Du weißt schon, die Vorfahren der Thorwalpiraten aus dem Güldenland. Nur wenige der Nordleute beherrschen die Runenmagie noch. In diesem Fall wäre es eine Geisterbannrune gewesen...eine...ich habe mir das Wort sogar gemerkt...eine Draughbaniruna. Man zeichnet sie auf menschliche Haut, ritzt sie in Holz, Schiffe oder Wände. Andere Runen und Walknoten besänftigen das Wüten des Meeres, halten Kobolde oder Meeresungeheuer fern, bringen Glück oder verstärken den Rausch. Es bedarf eines magischen Skaldengesangs, des Galdr, um die Macht der Vitkari zu wecken. Ein Gesang, der von der gesamten Schiffsbesatzung angestimmt wird und dem Runenzauberer Kraft verleiht. Hat Alfhildur gemeint. In der Runajasko, der Halle des Windes zu Olport, wird diese Kunst noch gelehrt.”
“Was man in einem Praiosheiligtum nicht alles lernt, heutzutage. Du scheinst wirklich in Golos Fußstapfen getreten zu sein, auf Baltrea. Oder einfach nur auf eine alte Scherbe.” Alrik verstaute die Pfeife wieder. “Wie man einen Knoten in einen Wal bekommt, das würde ich gerne mal sehen...War das die Geschichte? So langsam bekomme ich Hunger...”
“Ist dir denn gar nichts heilig? Die alten Alhanizauberinnen sollen ganz ähnliche Rituale gekannt haben, habe ich gehört. Mit denen sie die Kraft einer Gemeinschaft auf Runen übertragen konnten. Verstehst du nicht, Yalsicor, der Hüter der Freundschaft. Praios, der Schutzherr vor finsterer Magie, und dann diese Vitkari? Es muss etwas mit Golos Verschwinden zu tun haben, das spüre ich.”
“Jetzt müssen wir nur noch die Heilige Xaviera in dem Ganzen unterbringen.” Alrik grinste schief. “Fang bitte nicht bei Adginna mit Zauberzeugs und irgendeinem...Runenfiasko an. Nicht jetzt, wo ich das Eis schon ein wenig gebrochen habe...wir müssen noch den Ehevertrag aushandeln, vergiss das nicht.”
“Ihr habt Euch über Golo unterhalten?” wurden Ismena und Alrik von Haldana unterbrochen. “Nein, ich habe nicht gelauscht, ich kam gerade die Stiege wieder herauf. Meine Mutter bat mich, nach Euch zu sehen.
“Stimmt, Haldana. Mein Gemahl. Ich darf doch Du sagen, schließlich sind wir jetzt fast eine Familie?” Ismena erwartete nicht wirklich eine Antwort auf die letzte Frage. Vielmehr beschäftigte sie eine andere Sache. “Ich habe vorhin auch nicht gelauscht. Aber dennoch habe ich gehört, dass du Alrik nach meinem Ehemann gefragt hast. Warum? Er ist nicht der Vater Alborans. Warum sollte er für Dich von Interesse sein? Er ist tot. Und er ist geläutert, nach der Bußwallfahrt nach Balträa. Die Toten sollte man ruhen lassen, meinst du nicht?”
“Hmm, ja. Das glaube ich gerne. Also dass Alrik Alborans Vater ist. Auch ohne weiteres Nachfragen. Es gibt doch viele Ähnlichkeiten zwischen Alrik und Alboran. Sicherlich. Nein, deswegen interessierte ich mich nicht für Golo. Nun, die Toten, es ist die manchmal die Frage, ob die Toten uns ruhen lassen… Hier in der Wildermark kann man mehr als ein Lied darüber singen. Aber lass uns nach dem Abendessen darüber reden. Nicht, dass meine Mutter ungeduldig wird… Aber so wie ich meine Mutter kenne, wird sie nach dem Abendessen mit Alrik sich um so nüchterne Themen wie einen Ehevertrag bereden wollen. Während dessen erzähle ich gerne mehr, warum ich nach Deinen Ehemann gefragt habe. Wir haben da sicher einiges auszutauschen, und das hat nichts mit Deinem Sohn zu tun.”
Nach dem opulenten Mahl - es hatte Entenbraten mit einer leckeren Füllung gebeten, dazu war Meth gereicht worden und zum Nachtisch Früchte - schien das Eis endgültig gebrochen zu sein. Zwar wirkte die Vögtin weiterhin überaus korrekt und sehr auf die Form bedacht, konnte aber zugleich auch eine Herzlichkeit entwickeln, die Alrik und Ismena noch bei ihrer Ankunft nicht für möglich gehalten hätten. Im Lauf des Gesprächs - erst auf dem Turm und nun beim Abendmahl - hatte Alrik mehr und mehr Ähnlichkeiten zwischen der Vögtin und ihrer Schwester Valyria, die er ja noch aus deren Zeit in Gallys kannte - festgestellt. Nicht nur äußerlich, die gleiche schlanke und ausdauernde Gestalt, ähnlich lockige Haare, auch die Gesichtszüge wiesen Parallelen auf. Wie ihre Schwester war Adginna in klassischer Bildung unterrichtet worden. Was die jüngere Schwester zur Ausrichtung von Veranstaltungen wie seinerzeit dem Gallyser Culturspectaculum einfließen ließ, hatte die ältere Schwester in die Gestaltung des Lebens auf Burg Schlotz gesteckt.
Vögtin Adginna hatte Alrik nach dem Mahl noch zu einem Glas Wein und zu weiteren Gesprächen in die Bibliothek gebeten, so dass Haldana, Alboran und Ismena im Speisesaal zurück blieben, sich aber vom Tisch zur Sitzgruppe vor dem Kamin begaben. Haldana hatte eine Magd angewiesen, den Tisch abzuräumen, aber noch Gläser und eine Karaffe Wein bereit zu stellen. Die Schlotzerin reichte ihrer Schwiegermutter und Alboran die Weingläser - Gläser, aus einer Rommilyser Manufaktur, wie Ismena anhand einer Gravur erkannte - und setzte sich dann ebenfalls.
“Alboran hat es ja schon erfahren und erlebt. Ich liebe die Musik und auch Geschichten, Fabeln, Erzählungen. Ismena, du hast Alrik ja erst vor einigen Tagen wieder gesehen. Ich nehme an, er hat bei all den Neuigkeiten noch keine Gelegenheit gefunden, alles von unseren Erlebnissen erzählt zu haben?” begann Haldana schließlich.
“Nun, er hat mir viel erzählt. Aber ob das schon alles wahr ist, oder ob er das eine oder andere noch nachreicht, ich werde es wohl abwarten müssen. Wir haben uns immerhin schon lange nicht mehr gesehen. Am meisten hat er mir natürlich davon erzählt, wie unser Sohn sich entwickelt hat. Nun, ich wüsste jedenfalls nicht, was er mir noch erzählen sollte.”
“Von unserer Begegnung mit Golo hat er vermutlich noch nicht erzählt?”
Ismena erblasste. “Golo ist tot.” stellte sie nüchtern und mit fast zu schnellen Worten fest. Haldana beschlich der Eindruck, dass Ismena sich dabei nicht sicher war.
“Möglich, ja. Allerdings ist er nicht auf der Reise nach Baltrea gestorben. Er… war auf dem Treidelkahn auf dem Darpat, wohin man mich entführt hatte. Davon hat Alrik, nehme ich an, schon erzählt? Wir hatten in Rommilys die Spur dieses Gerrich von Friedwang, dieses Schwarzmagiers, aufgenommen. Bei der Verfolgung hat man mich in einen Hinterhalt gelockt und entführt… Üble Intrigen und Machtspielchen hatte er geplant. Golo war nicht tot, er war es wirklich. Er… hat auch niemals dem Dreizehnten abgeschworen. Ismena, das solltest du wissen. Gerrich und Golo hatten den Plan, mich mit Golo zu verheiraten und sich damit die Herrschaft über Schlotz zu ergaunern. Und auch über Friedwang, mit der dann stärkeren Hausmacht Golos.”
Die Gießenbornerin fasste sich schnell. Wenn sie überrascht war, ließ sie sich jedenfalls nicht aus der Ruhe bringen. “Liebes Kind, es liegt in meinem wie in deinem Interesse, dass daraus kein Klatsch und Tratsch wird.” stellte sie fest.
“Wir sind hier zu dritt, und das Gesinde ist gerade nicht da. Aber es stimmt, wir sollten all das unter uns belassen. Aber Du musst es wissen. Golo ist nicht auf der Bußwallfahrt gestorben, so viel steht fest. Ich… kann nicht sagen, ob Golo tot ist oder lebt. Auf meiner Flucht damals habe ich ihm eine Laute über den Schädel gezogen. Aber er hängt dem Dreizehnten an, und er hat sicher nichts Gutes im Sinn. Ich bin nicht überzeugt davon, dass er ein für alle Mal unschädlich gemacht wurde. Als seine Ehefrau… oder Witwe, als sein... wenn auch nicht leiblicher... Sohn… muss ich Euch das sagen. Und… noch eines, was Golo gesagt hat, damals. Natürlich weiß ich nicht, ob er das tatsächlich glaubt, oder ob er nur Zwietracht säen wollte. Golo sagte mir, er sei der leibliche Vater Alborans…”
“Niemals. Auf gar keinen Fall!” protestierte Ismena heftig. “Golo hat sich nie für Frauen interessiert. Er hatte…. Was das anbelangt… nur Knaben im Sinn. Ich habe… nur damals nie offiziell anderes gesagt. Du weißt, Haldana, wie groß der Einfluss der Traviakirche formals in Darpatien war und immer noch ist. Erst später, nach dem Jahr des Feuers, hat Alrik Alboran formal anerkannt und adoptiert. In dieser schweren Zeit war es nicht mehr so streng, nicht mehr in der Form schwierig wie früher, unehelich geboren zu sein. Sei unbesorgt, Haldana, in Alboran steckt nichts, aber auch gar nichts von Golo. Er war mein Ehemann, als Alboran geboren wurde. Das ist aber auch alles. Dein Schwiegervater ist Alrik, nicht Golo.”
Haldana nickte. “Das glaube ich gerne. Immerhin, ich weiß, dass Golo sich nicht für Frauen interessiert, allenfalls für den Titel und das Erbe, das sie mitbringen. Aber er ist wahrhaft ein Meister darin, andere einzuschüchtern, Angst einzujagen oder Unfrieden und Misstrauen zu säen. Und… ich bin, wie gesagt, nicht sicher, dass das überstanden ist, mit Golo.”
“Ach, Haldana, Liebes. Heute hast du aber auch ein Talent, einem die Stimmung einzutrüben” warf Alboran ein. “Dabei bist du doch sonst ein so fröhliches Naturell. Und… Alrik ist mein Vater, das beweist nicht zuletzt mein Ohr, das wir nur verborgen hatten in schwierigen Zeiten. Ich weiß, was Golo Dir angetan hat, aber lass jetzt die Vergangenheit ruhen. Zeige Mutter lieber, wie gut du mit der Laute umzugehen vermagst.”
Indes hatten Alrik und Adginna sich in die Bibliothek zurückgezogen.
Der Friedwanger prostete der Vögtin zu, und nickte anerkennend, was nicht nur am Rotwein lag. Vermutlich ein Trollzacker. Der Becher bestand aus schönem, grünlichem Nuppenglas.
“Vortrefflicher Wein. Ganz superb, wie der Entenbraten.”
“Mit einem Bleigeschoss aus Friedwang erlegt, habe ich mir sagen lassen.” Adginna ging die Reihen der Bücher durch, deren Rücken im Kerzenlicht glänzten.
“Wie es aussieht, steht einem Traviabund unserer Familie also nichts mehr im Wege?” Alrik beschloss, ohne weitere Umschweife zur Sache zu kommen.
“Nun, nachdem der Rahjabund zwischen Haldana und Alboran bereits derart weit gediehen ist...bietet es sich an, nun auch an den zweiten Schritt zu denken.” Adginna war anzumerken, dass sie es für schicklicher gehalten hätte, mit dem “zweiten Schritt” zu beginnen.
Alrik nickte, ganz altdarpatischer Edelmann. Das leidige Thema “Gänsestechen”. Gerne hätte er Adginna erzählt, dass ihr Küken durch das Zutun eines Baernfarn-Verwandten zur “Gans” geworden und Alboran buchstäblich unschuldig gewesen war.
Ein wenig hatte er das Gefühl, dass in den Augen der Binsböckel Golos schlimmste Untat die “elfische Unzucht” gewesen war. Gerüchte, wonach dessen Vater Gernot sich ganz gerne einmal mit Goblin-Weibchen vergnügt haben sollte, waren sicherlich ebenfalls bis nach Schlotz gedrungen.
Alrik war da tolerant. Fand er. Immerhin war seine Kusine Darida in einer Amazonenehe mit Franka von Oppstein verbunden. Lebte allerdings auf den weit entfernten Efferdstränen. Rahjas Liebe war wahrlich ein Mysterium...Das mit Ismenas “Diensten an der Heiligen Xaviera” nagte immer noch an ihm. Sieben Jahre. Verrückt. Aber er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Nicht von den Eskapaden seiner einstigen Geliebten.
“Ich werde meinem Oberschreiber den Entwurf eines Ehevertrags aufsetzen lassen, sobald ich zurück in Friedwang bin. Außerdem werde ich mit Mutter Chasine sprechen, der Äbtissin unseres Klosters, damit sie das mit der Chronik der Traviagefälligen Abstammung klärt...als angesehenes Mitglied des Badilakanerordens.” Alrik räusperte sich. “Ein gutes Wort im Friedenskaiser-Yulag-Tempel einlegen”, diese Formulierung wollte er doch nicht gebrauchen.
Beim Stichwort “Badilakaner” blickte Adginna etwas pikiert. Alrik ahnte, warum. Der Heilige Badilak hatte seinerzeit sämtliche Lustknaben und Dirnen von Mendena auf den Pfad der Tugend zurückgebracht.
“Ich meine, um Alborans Stammbaum...etwas genauer zu erläutern. Bevor es heißt, die Birne fällt nicht weit vom Stamm. Die übliche Formalität vor dem Traviabund. Natürlich müssten wir in groben Zügen klären, wie wir uns die gemeinsame Zukunft unserer Kinder vorstellen. Da wäre schon einmal der Baronstitel zu Schlotz...” Alriks Fuchsnase schnupperte, nicht nur am Wein.
“Selbstverständlich steht Alboran der Freiherrentitel zu” Adginna nickte, was auch an dem schweren, in schwartiges Schweinsleder gebundenen Buch lag, das sie gerade entdeckt hatte. “Allerdings sage ich es unverhohlen: Ich bin kein Freund dieses Namenswirrwars, das in letzter Zeit im Raulschen Kaiserreich Einzug gehalten hat. Diese furchtbaren horasischen Endlos-Bindestrichnamen, mit Verlaub. Ich weiß nicht, es sollte nur eine Familie sein, zu der man sich bekennt, da sei Frau Travia vor.” Adginna zog den Folianten heraus. “Natürlich, ich weiß, dass auch Ihr einen Doppelnamen führt, mein lieber Baron von Friedwang-Glimmerdieck. Wie auch wir gelegentlich das Schnayttach im Namen tragen. Bei großen Familien ist es sicherlich ratsam, durch den Verweis auf das Hauptlehen für ein wenig Orientierung zu sorgen. Was ich meine, ist ein völliges Durcheinander aus altehrwürdigen Familiennamen.”
“Du, ich glaube, wir haben uns schon aufs Du geeinigt”, sagte Alrik und ließ erneut das Glas klirren. “Wenn wir schon bei Titeln und Etikette sind.” Der Friedwanger lächelte charmant. Streng genommen war er bereits ein Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, was Adginna entweder nicht wusste oder elegant überging.
“Ja, lieber Alrik. Ich mische mich selbstverständlich nicht in fremde Familienangelegenheiten ein. Aber ich finde, dass wir es in der Verbindung unserer beiden Häuser einfach halten sollten. Im Kosch haben sie, glaube ich, die schöne Tradition des Namenswiegens. Wer am meisten Erbe in eine Ehe mit einbringt, darf über den künftigen Namen des Brautpaars bestimmen.”
Alrik schmunzelte. Adginna hatte recht geschickt darauf hingewiesen, dass sie sich den Familiennamen Binsböckel für ihren Schwiegersohn wünschte. Oder? Nun, ein solcher Namenswechsel würde Ismena keinesfalls gefallen. Auch ihm versetzte der Gedanke einen leichten Stich. Andererseits war ihm der respektierte Name Binsböckel lieber als dieses furchtbare Alboran Praiosin Raul von Oppstein-Glimmerdieck, genannt von Friedwang, wie sein “Adoptivsohn” bei den Herolden engstirnig hieß. Ganz zu schweigen davon, dass Albos offiziellem Großvater Gernot landauf, landab noch immer der Mord an Bannvogt Travin von Binsböckel anhing. Der Name würde ein Gewinn sein, an Einfluss ebenso wie an Prestige, und sich womöglich auch in Dukaten auszahlen.
“Alboran von Binsböckel zu Schlotz klingt gut.” Alrik fischte etwas Weinstein aus dem Glas. “Baron zu Schlotz, Junker zu Gießenborn. Warum nicht?”
“Befindet sich im Gießenbornschen nicht eine Silbermine?”
“Nun, die Markgräfin hält dort die Mehrheit der Anteilsscheine. Allerdings ist ein Drittel der Kuxe friedwängisch. Gemäß den Friedwanger Hausgesetzen würden Alboran zwar keine barönlichen Ländereien, aber ein voller Erbteil aus meinem Privatvermögen zustehen. Ein Erbe, das auch schon bei der Hochzeit ausgezahlt werden kann. Demnächst werde ich noch mit dem Handelshaus Warrlinger in Perricum verhandeln, was den Anteil an einem gewissen Treidelschiff betrifft...”
“Ich denke, mit den Details können wir uns später befassen”. Adginna schlug ihr Buch dort auf, wo ein Lesebändchen eingelegt war. “Laut dieser Abschrift des Irmegundschen Lehensbuchs war Golo Herr dreier großer Güter in Friedwang...Gießenborn, Rübenscholl und – Perainesgarten?” Die Vögtin zwinkerte im Kerzenlicht.
“Prähnskaten, gewiss. Wobei ihm streng genommen nur Unterprähnskaten gehört hat, und da auch nur der Gutshof und einige Grundholde. Nun, ich habe seinen Ehevertrag mit Ismena von Oppstein noch einmal prüfen lassen. Gernot hätte Golo rechtmäßig nur Gießenborn und den Eppeleinshof als Junkergut übereignen dürfen. Alles andere war eigentlich Baronsbesitz, womit die Übertragung zumindest der Zustimmung des Grafen bedurft hätte. Nun, ich wäre bereit, meinem Sohn den Hof abzukaufen. Ein Gut, das meiner Gemahlin Serwa sehr am Herzen liegt, die dort eine Zeitlang Unterschlupf gefunden hat. Es wäre aber auch eine Erleichterung für die Unfreien. Wo es viel Wirrwarr wegen Abgaben, Gerichtsbarkeit oder Frondiensten gegeben hat. Von Weide- und Holzrechten ganz zu schweigen. Im Gegenzug würde ich Haldana und Alboran zu Edlen von Rübenscholl ernennen. Junker von Gießenborn ist er ja ohnehin.”
Die Vögtin klappte das Buch zu. “Ich denke, darüber wird sich reden lassen. Diese Kuxe...wie rentabel ist denn das Gießenborner Silberbergwerk? Ich habe von Problemen mit Grundwasser gehört.”
“Du bist wirklich gut informiert. Nun, vor vielen Jahren gab es mal das Gerücht, dort gäbe es eine ergiebige Arkanium-Ader...dieses magische Erz, auch Marboblei genannt.”
Adginna hob die Augenbrauen.
“Nun, das waren nur geringe Mengen, die allesamt der Fürstin zu Gute kamen. Wahrscheinlich eher der Magierakademie in Rommilys. Selbst in den Glanzzeiten waren das nur ein paar Unzen im Jahr. Heutzutage sind die Klümpchen reine Zufallsfunde. Aber das Zauberwort Arkanium hat genügt, um an das nötige Geld für Investitionen zu gelangen. Das Bergwerk befindet sich in einem ganz guten Zustand, gerade was die Bulgenkünste angeht. Mittlerweile sind es schon zwei Räder, die das Wasser aus den Stollen befördern. Die steigende Ausbeute der letzten Jahre ist fast schon das Problem. Das Silber muss ja irgendwo gelagert werden, bevor es in die Markgräfliche Münze abtransportiert wird. Derzeit wird es einfach im Keller von Gut Gießenborn verwahrt, sobald es aus dem Hüttenwerk kommt. Hinter Schloss und Riegel, ja, aber wir leben leider nicht mehr in Hildelinds Zeiten. So ein Schatz weckt natürlich Begehrlichkeiten...Zuletzt wurde das Silber von Varenas Horden gestohlen, damals, im Roten Rondra 1035. Ich habe bereits an die Errichtung einer Burg in Gießenborn gedacht. Ein paar feste Mauern, um den Bergbau zu schützen und den Pass nach Oppstein zu sichern. Gegen die Transysilier, versteht sich, nicht gegen die Oppsteiner. Aber sowas kostet natürlich Dukaten, Dukaten, Dukaten...Wahrscheinlich wird sich mein Sohn mit einer Klause begnügen müssen, um die Klamm zu sperren, im Notfall. ”
Adginna stellte das Lehensbuch wieder zurück, dessen Einband das Ochsenwappen des alten Fürstentums schmückte. “Da müsstest du dich mal mit Storko unterhalten, dem Landjunker von Gernatsborn. Der baut seinen Wehrhof gerade zur Burg um. Die fördern drüben am Gernat Kupfererz. Ihr kennt euch ja?”
“Sogar schon sehr lange. Die Gernatsborn-Mersingen haben auch ein paar Landgüter bei uns. Mein Bruder ist mit Glyranas Schwester verheiratet. Fähiger Mann.”
“Ja, und einflussreich. Genießt die besondere Gunst der Markgräfin, als Wehrvogt. Eigentlich wollte ich Storko und Glyrana einen Besuch abstatten, Anfang Praios. Hm, es würde vielleicht nicht schaden, wenn Alboran Schlotz einmal kennenlernt?! Gernatsquell liegt ebenfalls nicht weit weg”.
“Nun, in der Knappenschule ist mein Ältester noch beurlaubt. Ich halte es für eine gute Idee, wenn er sich beizeiten ein Bild von Land und Leuten macht. Außerdem würde ich gerne mal mit Valyria sprechen, was die Wiederbelebung des Schwarzsichler Trutzbundes angeht. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich euch begleiten...?”
Adginna nickte. “Das ist eine gute Idee. Die Fahrt können wir gerne gemeinsam unternehmen. Auch mit dem Trutzbund… nun, ich wollte das ohnehin noch ansprechen, mit Dir und auch mit meiner Schwester Valyria. Nachdem meine gesamte Edlenschar nunmehr dem Bund angehört, sollte Schlotz da nicht außen vor bleiben.”
Haldana, Alboran und Ismena hatten sich noch bis spät in die Nacht unterhalten und auch ein wenig musiziert. Ismena, die als Rahjajungfer sich zu den Künsten durchaus hingezogen fühlte, kam zu dem Schluss, dass sie nicht unzufrieden war mit der Wahl ihres Sohnes. Natürlich war Schlotz nicht unerschlossener und wildnisgeprägter als Friedwang und Oppstein. Ein wenig mochten die Vorurteile über “Trollschlotz” sie beeinflusst haben. Dennoch würde es ihrem Sohn in Schnayttach und auf der Burg Schlotz sicher an nichts fehlen. Jedenfalls war ihre Schwiegertochter tatsächlich eine gute Musikantin und Sängerin, davon konnte sie sich überzeugen. Sie hatten eine ganze Weile geplaudert, gesungen und gelacht, bis Alrik und Adginna aus der Bibliothek kamen.
“Es ist spät geworden, liebes.” sagte Adginna zu ihrer Tochter. “Morgen reisen wir nach Gernatsborn, dorthin müssen wir ohnehin. Ich habe das Gesinde schon angewiesen, alles für den Ritt vorzubereiten.”
“Gernatsborn? Ja, gut.” antwortete Haldana. “Alboran, dann werden wir die neue Burg sehen, da bin ich schon gespannt darauf. Die Burg soll ja richtig prachtvoll geworden sein.” schwärmte die junge Baronin. “Ein neues Bollwerk für Aarmarien.”
“Ich bin schon gespannt, den Wutzenwald aus der Nähe zu sehen.” sagte Alboran. “Man hört soviel über dieses Waldgebiet.”
“Nun, ja… aber ich denke, wir werden den Weg über Hallingen nehmen. Der direkte Weg durch den Wald” Adginna zögerte “ist etwas unwegsam. Und schon lange nicht mehr begangen worden. Eigentlich schon sehr lange nicht mehr. Schon vor dem ganzen Krieg, Tsafried hat den Wald immer gemieden, hat immer gesagt, es wäre besser, außen herum zu reiten um den Wutzenwald statt mittendurch. Die Wutzen lassen es allzu oft nicht zu, dass Menschen ihren Wald betreten.”
“Gibt es denn überhaupt einen Weg durch den Wutzenwald?” fragte Alrik nach. “Bei meinem letzten Besuch in Gernatsquell, vor einigen Jahren, sind Bishdarielon und ich ja auch um den Wald herum gereist. Und was wir damals mit den Wutzen erlebt haben, erinnert mich an so manche Geschichte vom Schratenwald, daheim in Friedwang. Nur dass das mit den Wutzen ja mehr als nur eine Geschichte zu sein scheint.”
“Es gibt einen Weg durch den Wutzenwald… nein, es gab ihn früher.” begann Haldana. “Vater hat ihn nie benutzt, hat den ganzen Wald gemieden. Du weißt ja, Mutter, er hat den dichten und finsteren Wald, in den der Praiosschein kaum hinein langte, immer argwöhnisch betrachtet. Aber zuvor… Alrik, du kanntest doch Nengarion, meinen Großvater. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Aber viele der Älteren unter den Mägden und Knechten erinnern sich noch gut an ihn. Nengarion soll oft im Wutzenwald gewesen sein, sollte sich dort recht gut ausgekannt haben.”
“Nengarion war ein Halbelf.” antwortete Alrik. Vielleicht haben die Wutzen ihn deshalb gewähren lassen, vielleicht hat er deswegen einen Zugang zu ihnen und zum Wald gefunden?” mutmaßte er. “Aber gut, Adginna wird wissen, welches der beste Weg ist. Morgen werden wir zeitig aufbrechen.”
“Du magst recht haben… vielleicht liegt es daran, dass Großvater… dem Wald anders gegenüber stand, als Vater.” murmelte Haldana halblaut.