4. Kapitel - Eine Sommernacht auf Burg Schlotz
4. Kapitel
Eine Sommernacht auf Burg Schlotz
Burg Schlotz, 2. Praios 1043
Haldana vermochte nicht zu sagen, warum sie aus dem Schlaf aufgeschreckt war. Wieder einmal. Völlig unvermittelt hatte sie die Augen aufgeschlagen und in die Finsternis geblickt. Nichts war zu sehen. Natürlich. Und dennoch. Wieder beschlich Haldana das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie bekam eine Gänsehaut. Ein Hauch Kälte war zu spüren. Ein Gefühl, das Haldana inzwischen kannte, das ihr aber dennoch jedes Mal wieder Angst einflößte. Haldana griff nach ihrem Bienenamulett, das sie auch nachts nicht abnahm.
“Püppchen, du weißt selbst, dass das Amulett nichts hilft” vernahm Haldana die ihr bekannte körperlose Stimme.
“Verschwinde!” dachte Haldana zurück.
“Hast du gedacht, ich würde dich nur an den Tagen des Güldenen Herrn besuchen, mein Liebes? Weit gefehlt. Du bist meine Frau, meine Gemahlin. Daher ist Burg Schlotz meine Burg. Vergiss das nicht. Komm her, Kind, gib deinem Gemahl einen Kuss.” Ein eisiger Lufthauch umspielte Haldanas Lippen. Haldana würgte und hustete.
“Verschwinde, Golo, du willst doch nichts von Frauen. Kümmere Dich um die Lustknaben in Rommilys, aber lass mich in Frieden.”
Ein kaltes, tonloses Lachen war die Antwort. “Stimmt, dein Körper interessiert mich nicht.. Nein, nicht ganz. Nützlich ist er mir dennoch, kluges Kind. Du hast übrigens Recht. Mit deinem Vater. Er konnte nicht in den Wutzenwald, weil die Wutzen ihn nicht herein gelassen haben. Sie mögen niemanden, der zum Sonnengott betet. Nengarion hingegen hat die Zwölf abgelehnt. Der Wald spürt das. Du dürftest übrigens auch gefahrlos den Wutzenwald betreten, denn du gehörst schon lange zu mir. Deine Seele gehört schon lange IHM.”
Haldana wollte schreien, doch der Schreib blieb ihr tonlos in der Kehle stecken.
“Du lügst” dachte Haldana schließlich zu Golo, als sie sich gefasst hatte. Wenigstens halbwegs gefasst. Die Schlotzerin spürte das Blut in ihrem Hals pulsieren, kalter Schweiß war auf ihre Stirn getreten.
“Ich habe es nicht nötig zu lügen. Und du weißt das. Wenn du also einmal in den Wald musst… ruf mich einfach, ich werde den Wutzen sagen, dass du auf der richtigen Seite stehst.”
Haldana warf einen Kerzenleuchter in die Richtung, aus der Golos tonlose Stimme kam. Wieder lachte Golo auf. Ein metallisches Klirren schallte durch die Burg, als der Kerzenleuchter auf dem Boden aufschlug.
“Ach, hör auf, Kind. Du weißt inzwischen, dass ich nicht mehr körperlich bin. Ich dachte wirklich, du hättest das zwischenzeitlich verstanden. Vielleicht bist du doch nicht so klug, wie ich dachte. Aber das ist egal. Du wirst den Dir zugedachten Platz in meinem Plan erfüllen.”
Haldana sprang aus dem Bett und eilte zur Tür.
“Wohin willst du, Eheweib?” herrschte Golo sie an. Der hölzerne Riegel rutschte in die dafür vorgesehene Halterung, ehe Haldana die Tür öffnen konnte. Wieder wollte Haldana schreien, aber nur ein raues Krächzen entrang ihrer Kehle. Erschrocken wich Haldana einen Schritt zurück. “Du bist mein, Eheweib, hast du das vergessen? Du tust, was ich Dir sage. Ob du es willst oder nicht. Du hast ohnehin keine andere Wahl. Also bleib stehen und hör zu, was ich Dir auftrage, Püppchen.”
“Hochgeboren heißt das, nicht Püppchen.” Die Baronin begehrte auf, wollte keine Angst zeigen. Angst, die sie dennoch empfand und kaum unter Kontrolle halten konnte.
“Hochgeborenes Püppchen, sicherlich.” höhnte Golo. “Natürlich ein Hochgeborenes Püppchen, mit einer Gemeinen könnte ich meine Pläne ja nicht umsetzen. Diese Burg braucht einen Herrscher, der dem Güldenen dient. Was nützte mir da eine Bauernschlampe. Also… Hochgeborenes Püppchen, du wirst die dir zugedachte Aufgabe erfüllen.” spottete Golo.
“Niemals”
“Du tust es doch schon. Seit sechs Wochen schon.” Golo lachte kalt.
Haldana stürzte an Golo vorbei - nein, vielmehr durch ihn hindurch - zur Tür, zog den Riegel heraus und riss die Tür auf. Wieder rannte sie die Wendeltreppe mit den viel zu großen Stufen hinunter, den Weg zum Burghof.
“Was denn” stellte sich ihr Golo in den Weg. “Wieder zu der Statue von der Löwinnenschlampe?” höhnte er.
Haldana hielt inne, sprang zur Seite, hastete zurück. Plötzlich prallte sie gegen jemanden, stolperte und stürzte zu Boden. Das unheimliche Lachen Golos verklang.
“Haldana…” hörte die Baronin die vertraute Stimme Alborans. “Was ist los? Ich habe ein Klirren gehört...” Der Junker, der ebenfalls zu Boden gestürzt war, rappelte sich auf.
Haldana starrte Alboran an und richtete sich am Treppengeländer auf. Nervös blickte sie sich um, und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Von Golo war weit und breit nichts mehr zu sehen. Irgendwo in der Vorburg, vielleicht auch unten im Dorf, bellte ein Hund. Dann herrschte wieder Stille. In den Weiten der Burg schien niemand sonst etwas von dem Lärm mitbekommen zu haben.
Die junge Adelige atmete erstmal tief durch. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie sich wirklich über Albos Gegenwart freute. Warum schlich er nachts in der Burg herum und niemand sonst? War es die Macht Rahjas, die ihn die Gefahr hatte spüren lassen, in der seine Geliebte schwebte, das Scheppern des Kerzenleuchters...oder etwas anderes? So ganz war die Möglichkeit nicht aus der Welt, dass er doch der Nachkomme dieses...dieses Alptraumwesens war, das sie gerade heimgesucht hatte. Mehr als einen Moment lang war die Schlotzerin völlig durcheinander. Alles kam ihr plötzlich wie ein wirrer Traum vor, selbst ihre Hochzeitsvorbereitungen.
Alboran suchte mit dem Fuß nach der linken Pantoffel, die er gerade verloren hatte, und erspürte etwas anderes: “Was ist denn das?”
Im Schummerlicht hob er eine Handvoll Moos auf.
“Das gehört mir”, sagte Haldana einsilbig, nahm das Grünzeug an sich, hob ihr Nachthemd und brachte das Moos wieder an den Platz, an den es gehörte. Vorsorglich hatte sie seit einigen Tagen wieder Moos verwendet, eigentlich wäre es bald wieder an der Zeit dafür. Alboran bekam trotz der Dunkelheit sichtbar große Augen.
“Ich habe dich laut sprechen hören, Halda...und Lärm gehört...was ist passiert?” Der Junker wirkte völlig verwirrt. Über sein Nachtgewand hatte er seinen Mantel gelegt, in der Linken hielt er eine breitklingige Ochsenzunge. Irritiert rieb er die Finger der rechten Hand gegeneinander, mit denen er gerade das Moos angefasst hatte. “Schlafwandelst du?”
“Du hast gute Ohren”, sagte Haldana, und klang durchaus etwas misstrauisch.
“Ich war auf dem Weg zum Latrinenerker”, sagte Alboran halblaut.
“Für sowas brauchst du doch keine Hauswehr mitnehmen. Jedenfalls nicht in unserer Burg”. Haldana runzelte die Augenbrauen und deutete auf den Dolch. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles. War ihr vermeintlicher “Traviabund” nur eine abgründige Intrige, um namenlose Mächte an die Macht zu bringen, zuhause in Schlotz? Finstere Machenschaften, in die womöglich auch Alboran verwickelt war?
Albo nickte und drehte die die Dolchspitze nach innen. “Melian...also einer meiner Gießenborner Bauern hat mir mal eingeschärft, immer eine Klinge bei mir zu führen... und der hat viel erlebt im Krieg...nirgendwo wäre es im Feld so gefährlich wie nachts auf dem Donnerbalken...”
“In der Wildnis vielleicht...aber doch nicht auf Burg Schlotz.”
“Die Latrine ist ein Schwachpunkt in jeder Festung. Haben sie uns in Rommilys gesagt.” Alboran war nicht anzumerken, ob seine Worte ernst oder scherzhaft gemeint waren. Er fasste Haldana an den Oberarm.
“Was ist los?”
Die Binsböckel schüttelte unwirsch den Kopf und wich etwas zurück. “Zum Abtritt gehts da rauf. Nein, halt. Die Tür ist verschlossen, weil das Holz morsch ist. Auch nicht ganz ungefährlich, so ein Sturz in den Burggraben.”
“Ich sags ja, der Latrinenerker ist der Schwachpunkt jeder Festung. Das habe ich gerade gemerkt, deswegen bin ich jetzt auf dem Weg zum Misthaufen. Ich muss zum Glück nur klein. “ Albo grinste.
“Der Nachttopf ist unter dem Bett”, sagte Haldana, noch immer kurz angebunden.
“Ich hass die Dinger. Außerdem, dann bist du aber auch in der falschen Richtung unterwegs. Falls du nur mal kurz raus wolltest...
“Ach...”
Haldana merkte, dass sie barfuß herumlief. Kälte kroch von unten herauf. Auch wenn es Hochsommer war, der Boden war kühl, und der stete Luftzug in dem alten Gemäuer tat sein Übriges, um sie frösteln zu lassen. Sie eilte nach draußen, auf den Burghof. Tatsächlich, neben dem eisernen Schuhabkratzer standen zwei Paar klobige Holzschuhe, die dem Gesinde gehörten. Ihre Mutter verabscheute Schmutz im Haupthaus, mochte die innere Burg auch noch so trollig-urtümlich aussehen. Ebenso war ihr das Geklapper der “Zoggeli” auf dem Steinboden verhasst. Haldana schlüpfte in die Holzschuhe, die weich mit Stroh gepolstert waren. Alboran schien den Gedanken spaßig zu finden, wie ein Bauer herumzulaufen, und tat es ihr nach.
“Meine Schuhe drücken”, stellte er mit verkniffenem Gesicht fest.
“Meine sind etwas zu groß.”
“Dann sollten wir tauschen.” So geschah es auch. Alboran legte ihr galant seinen Umhang um die Schultern. Auch wenn es draußen angenehm mild war, wusste Haldana die ritterliche Geste zu schätzen. Mit einer Geste beruhigte sie eine Wache oben auf der Burgmauer, die in ihre Richtung spähte. Offenbar hatte die besorgte Gardistin den Krach ebenfalls gehört.
“Gehen wir jetzt gemeinsam zum Misthaufen?”
“Der ist in der Vorburg. Außerdem wäre so ein Verhalten unschicklich, für das künftige Baronsehepaar von Schlotz. Vor den Augen der Nachtwache. Lass uns in die Rondrakapelle gehen, für ein kurzes Gebet. Solange hältst du es wohl noch aus… Ansonsten gibts für euch Jungs den Burggarten.”
“In die Kapelle? Für ein Gebet? Um diese Zeit?”
“Ich hab schlecht geträumt, das ist alles.“
Alboran nickte. Sie betraten den kleinen Schrein, in dem eine einsame Kerze auf einem Kandelaber brannte.
Haldana kniete vor dem Altar nieder, die Hände aufeinander gelegt, und betete.
“Herrin Rondra, dein ist die Herrlichkeit des Kampfes… nach deinen Geboten überwand ich den Gegner… doch dir allein gebührt die Ehre des Sieges.”
Alboran blickte erstaunt, während er den Dolch vor sich ablegte und ebenfalls die Gebetshaltung einnahm.
“War eine Maus bei dir in der Kammer?”
Haldanas Miene war tadelnd. “Wir sind auf heiligem Grund und Boden.”
“Ich meine es ernst. In den verfluchten Tagen ist mir eine übers Bett gelaufen. Wenn es nicht sogar eine Ratte war. ” Alboran murmelte etwas, was inbrünstig klang, und schlug das Zeichen des Schwertes.
“Ich habe keine Angst vor Mäusen. Vor Ratten allerdings schon...manchmal.” Haldana beschwertete sich mehrfach und blickte hinauf, in das edle Antlitz der Löwin. Wenn Alboran nicht mit offenen Karten spielte. Dann würde die Herrin ihr doch ein Zeichen senden, oder etwa nicht?
Zumindest spürte sie, wie unter Rondras Blick die eisige Furcht verschwand, die gerade noch ihre Glieder gelähmt hatte.
“Umgürte mich mit deinem rechten Glauben, bewehre mich mit deinem Mut...”
“Du scheinst wirklich schlecht geträumt zu haben?” Alboran wirkte ehrlich besorgt.
“Dein Vater ist mir erschienen”, antwortete die Schlotzerin doppeldeutig.
“Alrik? Schleicht er nachts wieder in fremde Schlafzimmer? Ich dachte das hätte er sich abgewöhnt.” Der Junker lächelte, wenn auch etwas bemüht.
“Nein...” Haldana räusperte sich den Hals frei. “Dein anderer Vater. Golo von Gießenborn.”
“Mein anderer Vater? Davon hatten wir es heute erst. Du solltest den Schiefhals am besten vergessen. Sowas gibt wirklich nur böse Träume. Wenn man vom Namenlosen spricht, und so weiter... du weißt schon.”
“Immerhin. Es könnte gut sein, dass ich ihn erschlagen habe. Auf dem Darpat, mit meiner Laute.”
“Hmm... was soll ich dazu sagen? Hoffentlich ist deiner Laute nichts passiert?!” Alborans Stimme klang ein wenig zu rau. Dumpf polterte einer der Holzschuhe von seinem Fuß. “Ein derart unrondrianisches Ende, das würde wahrlich zu diesem Schurken passen... diesem verrückten Selemiten.”
“Hättest du denn überhaupt keine Probleme damit... also... wenn ich deinen Vater... also dass ich deinen offiziellen Vater getötet habe... haben könnte?”
Das Würgen in Haldanas Kehle wurde stärker. Einen Moment lang sah sie ein anderes Gesicht vor ihrem geistigen Auge, ein Gesicht, das nicht dem Schiefhals gehörte. Ein bartloses, kantiges Antlitz, braune Haare, dunkle, milde, fast schon gütige Augen...im nächsten Moment flog das Haupt ihres eigenen Vaters in die Dunkelheit davon, mit bleichen, blutbespritzten Lippen. Als wäre es durch einen unsichtbaren Hieb vom Körper getrennt worden.
Baron Tsafried von Schnayttach zu Schlotz. Haldana schauderte und kam sich gleich im doppelten Sinn wie eine Vatermörderin vor. War es Zufall, dass sich namenlose Gespenster bis in ihr Schlafgemach schleichen konnten? Oder war ihre Seele selbst schon auf dem Weg in die Verderbnis? Hatte sich das Böse längst auf Burg Schlotz ausgebreitet? Mit einem Mal blickte die Göttin drohend und unnahbar. Oder abweisend?
Alboran antwortete nicht, sondern starrte düster geradeaus. Sein Nachthemd sah ein wenig aus wie ein Büßergewand.
“Ich meine...kannst du dich wirklich daran erinnern, dass dein Ohr magisch geheilt worden ist, Albo? Deine Mutter Ismena hätte schon auch Grund, es zu verheimlichen, falls Golo dein wahrer Vater wäre.”
Haldana wunderte sich, wie offen sie darüber sprach. Aber Rondra war nun einmal die Feindin jedweder Hinterlist, nicht nur auf dem Schlachtfeld oder im Zweikampf.
Der Junker schüttelte unwillig den Kopf. “Mein Ohr wurde nicht...geheilt. Es war ja vorher nicht verstümmelt. Und nein, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es passiert ist. Wahrscheinlich Onkel Redenhardts Zauberer. Ich muss noch ganz klein gewesen sein, als er nach Gießenborn gekommen ist. Meine Mutter hat mal gemeint, es wäre wegen der Gerüchte gewesen, wonach mir ein Schwein ein Stück vom Ohr abgebissen hat. Während sie wieder mal betrunken war, oder mit ihren Säbeltanzern zusammen gewesen sein soll. Säbeltänzer, Kavaliere, und so weiter...Dieser ganze Klatsch und Tratsch halt. Mehr weiß ich eigentlich nicht.”
Nach und nach wurde es in der Kapelle heller. Der Geruch von Bienenwachs erfüllt das kleine Gemäuer. Haldana spürte, wie Zuversicht in ihre Seele zurückkehrte. Die Gebetshaltung wurde dennoch unangenehm, also stand sie auf. Dann runzelte sie die Stirn. Es wurde heller?
Tatsächlich, statt einer Kerze brannten auf dem Halter jetzt vier. Verwirrt sah sie sich um. Alboran kniete auf seinem Schemel, er konnte es nicht gewesen sein. Hatte ihr “Gemahl” seine Drohung wahr gemacht und sie bis in den Schrein verfolgt?
Die Tempelkerzen bestanden aus gelbbraunem, feinem Wachs von langer Brenndauer, waren aber schon ziemlich zusammengeschmolzen (nachdem sie die Namenlosen Tage mit ihrem rötlichen Licht erfüllt hatten). Haldana konnte sich nicht daran erinnern, dass man sie auf der Burg auch noch den gesamten Praiosmond brennen ließ, geschweige denn bei Nacht. Die Kosten, aber auch die Feuergefahr waren einfach zu hoch. Der Kandelaber brauchte nur aus irgendeinem Grund umzustürzen und noch ein Stückchen weit zu rollen, und der Wandteppich dort würde lichterloh brennen.
Der Geruch nach Wachs ließ dennoch eine gehobene Stimmung in ihr aufkommen. Fast schon glaubte sie, kleine, lustige Gesichter in den Stumpen wahrnehmen zu können.
Haldana schnupperte. Außer dem Kerzenduft lag noch eine andere, zarte Geruchsnote in der Luft, die etwas unangenehmer war. Es roch irgendwie, ja, sie täuschte sich nicht. Es roch leicht nach Schwefel.
“Du kannst jetzt von meinem Schwanz wieder runter, mit deinen blöden Holzlatschen!”
Erschrocken wich Haldana zurück. Hörte sie schon wieder Gespenster? Immerhin, Alboran schien es auch mitbekommen zu haben, denn er warf ihr einen verdutzten Blick zu.
Allerdings merkte der Junker rasch, dass es nicht Haldanas Stimme gewesen war, die gesprochen hatte. Die Stimme war irgendwie kratzig, knisternd und rauchig gewesen, eine Art Mischung aus Papagei, fauchender Katze und Lagerfeuer. Haldana merkte einen Widerstand unter dem Fuß und zog ihn zurück. Sie starrte auf den dunklen Boden, der merkwürdig verschwommen wirkte. Im nächsten Moment färbte er sich grünbraungrau, bekam echsenähnliche Konturen, vier klauenbewehrte Beine und große, durchscheinende Fledermausschwingen.
Alboran zückte seine Klinge und stellte sich etwas theatralisch vor Haldana. Wich allerdings erschrocken zurück, als “Es” aufflatterte und im nächsten Moment im Dachgebälk saß: Ein kleiner Drache von vielleicht zwei bis drei Spann Größe, mit goldenen Katzenaugen, schnabelähnlichem Maul, lindgrünem Kamm und einem sich schlangenähnlich ringelnden Pfeilschwanz. Die Echse schnaubte aufgeregt kleine Rauchwölkchen aus und schaute derart böse, dass es fast schon wieder drollig aussah.
“Was seid ihr denn für welche?” fauchte es von oben. “Kann man hier nicht mal in Ruhe schlafen, ohne dass ihr Blindschleichen einem auf den Schwanz tappt? Und dann dieses ständige Gequassel! Hast du was dagegen, dass ich deinen Vater getötet habe? Eine Maus, huch, eine Maus ist durch mein Schlafzimmer gehuscht! Oder war es doch eine Ratte? Beim großen Famerlor, könnt ihr das nicht alles morgen bequatschen, wie normale Zweibeiner? Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist? Außerdem, ich mag einen Schuppenpanzer haben, aber deswegen bin ich noch lange nicht schmerzfrei. Ich glaube, da ist eine klitzekleine Entschuldigung fällig, junge Dame. Du bist nämlich ganz schön schwer für dein Alter, Fräulein.”
Haldana schüttelte den Kopf. Auch wenn sich das Maul des Drachen bewegte und er aufgeregt züngelte, schienen sich die Worte mehr in ihrem eigenen Kopf zu formen. Oder?
“Entschuldige” sagte die junge Baronin, völlig überrumpelt. “Aber ich habe dich wirklich nicht gesehen...und auch nicht erwartet. Hast du die Kerzen angezündet?”
“Nein, die Kerzen haben sich selber angezündet, wie immer. Ja, natürlich habe ich sie angespuckt, wer denn sonst? Ich wollte wissen, wer mich da in der schönsten Nachtruhe stört.”
“Nun mach mal langsam. Noch bin ich hier die Hausherrin!” Haldana stemmte die Arme in ihre Seite.
Der kleine Drache rümpfte die Echsennase. Oder breitete er einen größeren Feuerstrahl vor? Die beiden jungen Adeligen wichen vorsichtshalber ein wenig zurück.
“Ich warne dich, das hier ist ein Haus der Rondra.” Alboran versuchte tapfer zu klingen, merkte aber, wie seine Knie schlotterten. Vor ein paar Wochen hatte er seinen ersten Gegner (endgültig) in das Reich des Boron befördert. Nun stand er bereits einem leibhaftigen Drachen gegenüber. Mit nichts weiter als einem Dolch.
“Was jetzt, deine Freundin heißt Rondra?” Mit goldenen Augen musterte die Echse die Schlotzerin.
“Mein Name ist Eure Hochgeboren Haldana von Schnayttach zu Schlotz. Mir gehört diese Burg!” Das Burgfräulein versuchte streng zu klingen.
Der Drache schnaubte erneut, was sich wie ein Blasebalg anhörte. Tatsächlich verströmte er Hitze, wie ein kleiner Ofen. Und roch nach Schwefel.
Er schien jetzt allerdings eher verblüfft als mürrisch zu sein.
“Haldana? Haldana von Schnayttach zu Schlotz? Dann ist der andere - Alboran? Bei Pyrdacors Hort, ich habe mich euch beide irgendwie...beeindruckender vorgestellt! Aber jetzt wo dus sagst. Die verunglückte Frisur passt schon mal auf die Beschreibung.”
“Vielleicht solltest du dich auch mal vorstellen?”
Der Besucher deutete eine Verbeugung an, unter gespreizten Schwingen: “Knister. Knister vom Drachenwald. Ich möchte ja nicht unbescheiden sein. Aber der Wald wurde nach mir und meiner Sippe benannt. Nicht nach irgendwelchen Baumdrachen, Kaiserdrachen oder Riesenlindwürmern. Auch nicht nach dem großen, furchterregenden Arlopir. Nicht mal fliegen konnte der. Hat sich von so einer dahergelaufenen Zweibeinerin knechten lassen, dieser Kriecher! Von wegen Drache. Unfassbar!”
“Der Drachenwald bei Rübenscholl...” nickte Alboran wissend. “Dort soll es Taschendrachen geben, manche sagen auch...Meckerdrachen.”
Knister schnaubte erneut, und brodelte jetzt wie ein Westentaschenvulkan. “Hausdrache! Ich bin ein Hausdrache! Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied! Verstanden?”
“Ein Hausdrache? Ich dachte, den lernt man erst kennen, sobald man verheiratet ist”, witzelte der Junker und erntete einen Rippenstoß seiner Geliebten.
“Die eine Kerze hat schon gebrannt, als wir hereingekommen sind”, stellte Haldana fest. “Was eigentlich nicht sein darf, wegen der Feuergefahr. Ohne Aufsicht. Hast du nicht gesagt, du hättest schon geschlafen?”
Erneut senkte Knister sein Drachenhaupt. “Ich kann schlecht einschlafen, wenns zappenduster ist. Im Feurigen Lindwurm glüht das Kaminfeuer auch immer so schön nach.”
“Im ältesten Wirtshaus von Rübenscholl” sagte Alboran. “So stimmt es also doch, dass dort ein Drache haust, der mit Torben dem Wirt im Bunde sein sein soll. Was machst du in Schlotz, so weit westlich?”
“Deine Urgroßmutter lässt dich grüßen. Ludwina, die Hexe vom Drachenwald. Eigentlich wollte sie Answin schicken, ihren Raben, aber der kann nur ein paar Wörter krächzen, der Dummkopf.” Knister grinste verächtlich. “Stinkfaul ist er auch, der feine Herr Hexenrabe. Und lässt sich von jedem Stück Aas ablenken...”
“Ludwina ist nicht meine Urgroßmutter”, sagte Alboran.
“Das kannst du ihr gerne selber erzählen.” Knister klang schon wieder schnippisch. “Ich habe einen Brief von ihr, ach, wo ist er denn hin gerollt.” Der Meckerdrache flatterte aufgeregt herum, spähte mal hierhin, mal dorthin.
“Was machst du hier im Rondraschrein?” wollte Haldana wissen, um die Zeit zu überbrücken. Irgendwie kam ihr der Drache nicht allzu gefährlich vor. Eher possierlich, wie ein Eichhörnchen, dass eine vergrabene Nuss suchte.
“Das Gleiche könnte ich euch fragen. Eigentlich wollte ich mir nur eine leckere Schwalbe fangen, zum Abendessen. Der blöde Vogel ist rein in den Schrein und dort durch das kleine Fensterchen wieder raus. Dann macht auch noch irgendein Trottel die Tür hinter mir zu. Sicher, ich hätte mich jederzeit befreien können.” Der Meckerdrache, der jetzt auf dem Altar saß, reckte stolz sein gehörntes Haupt. “Aber da der Flug lang war und ich sowieso nicht wusste, wo ich euch finde, habe ich erst einmal beschlossen, zu rasten. Morgen ist auch noch ein Tag.”
“Fürwahr.” Alboran gähnte. “Also ich hätte jetzt die richtige Bettschwere. Aahhh...Alrik wird sich über diesen fliegenden Pfeifenanzünder freuen.”
“Wie meinen?” fragte der kleine Drache, mit bedrohlichem Schlinger-Blick.
“Schon recht, werter Herr Riesenlindwurm. Nach allem, was mir neulich in den Trollzacken passiert ist, wundert mich gar nichts mehr.”
Haldana hatte derweil die Schriftrolle entdeckt, die unter einem der Betschemel lag. Vermutlich hatte sie der kleine Drache auf der Vogeljagd fallen gelassen.
“Ist das der Brief?”
Knister nickte, also hob Haldana ihn auf. Sie zerbrach das weinrote, leicht angeschmolzene Siegel, das aus irgendeinem Grund das Steinbockwappen der Familie Friedwang-Glimmerdieck zeigte. Dann fiel es ihr wieder ein: Ludwina, die Hexe, war ja die Gemahlin des älteren Junkers Golo gewesen, somit ein Mitglied des Hauses.
“Möchtest du ihn lesen? Er scheint an dich adressiert zu sein.”
Alboran winkte ab. “Mit dem Lesen und Schreiben hab ichs nicht so.” Der Friedwang klang, als wäre er sogar stolz darauf. “Außerdem, mit diesem praiosverfluchten, buckligen und warzigen Hexenweib möchte ich eigentlich nichts zu tun haben.”
Knister blies erneut Rauch durch die Nasenlöcher. Dann zuckte er mit den Schwingen. Scheinbar gleichmütig begann er seine Schuppen aufzustellen und sich wie eine Katze zu putzen.
Haldana trat in den Kerzenschein und entrollte das Papier.
Im Eulenkuhl, am ersten Tag der Sonnwendfeier
Mein lieber Alboran!
Wundere Dich nicht, dass ich mich auf derart ungewöhnliche Weise bei Dir melde. Oder dass ich mich überhaupt an Dich wende. Aber ich bin nun einmal Deine Urgroßmutter, vielleicht nicht der Stimme des Blutes, aber doch der Stimme meines Herzens nach. Lass es Dir von einer Tochter Satuarias gesagt sein: Das Herz allein zählt bei unseren Entscheidungen. Unser gemeinsamer Name “von Friedwang” ist jedenfalls mehr als nur Schall und Rauch. Ich schicke Dir und Deiner Geliebten den Taschendrachen Knister: einen treuen Diener unserer eingeschworenen Gemeinschaft, die man die Hexen vom Eulenkuhl oder einfach nur die Diener Sokramors in der Baronie Friedwang nennen könnte.
Knister vermag seine Schuppenfarbe jedwedem Hintergrund anzupassen, so dass er bisweilen als unsere Augen und Ohren dient. Du brauchst es Deinem Vater – ich rede von Baron Alrik – nicht gleich auf die Nase zu binden. Aber manchmal besucht der kleine Drache Deine Stiefmutter, Baronin Serwa, auf Burg Friedstein, wo es immer ein paar Leckereien und Neuigkeiten zu ergattern gibt. Er mag ein wenig mürrisch und streitsüchtig sein – nennt ihn auf keinen Fall Meckerdrache! Aber glaub mir, er hat seinen Karfunkel am rechten Fleck und könnte euch noch manch wertvollen Dienst erweisen! Ich habe ihn gebeten, bis zu dem Tag über euch beide zu wachen, an dem ihr die Herrschaft über sein Heimatdorf Rübenscholl antreten werdet (wo er schon seit dreißig Götterläufen oder mehr im Kamin des Dorfwirtshauses residiert).
Knister hat mir versichert, dass er rein zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen Serwa, Alrik und Deiner Mutter geworden ist, als er einen Räucherschinken im Kamin der Burg angeknabbert hat. In der Unterhaltung ging es um eure Abenteuer in den Trollzacken, in der verfluchten Mine von Kurgasberg. Wie es scheint, hat Sisa Brundel, meine alte Feindin, ihre gerechte Strafe erhalten. Dafür möchte ich Dir und Haldana inständig danlen! Zwar betrübt mich die Nachricht von Gerrichs Ableben, in Gedanken an frühere Zeiten. Aber Gernots Vater hat sein Schicksal selbst gewählt und leider mehr als verdient. Allerdings war es leichtsinnig von euch, das Riesenfass von Rommilys gänzlich unbewacht in Kurgasberg zurückzulassen. Als ich mit meinem Hexenbesen dorthin aufgebrochen bin, war das Fass schon im heiligen Feuer des Praios verbrannt: Entfacht von einer Lanze Bannstrahler, die sich zuvor vergeblich abgemüht haben, es zu öffnen.
Ich könnte damit leben, wenn mir die Bergbauern nicht von einer finsteren Kapuzengestalt berichtet hätten, die wenige Stunden vor mir im Tal eingetroffen ist. Die Beschreibung der Fremden war überaus vage, aber auffallend war doch, dass ihr ein Finger der rechten Hand gefehlt hat. Sie soll aus den verkohlten Überresten des Hexenhauses einen Spiegel mitgenommen haben: Der das Feuer des Scheiterhaufens vollkommen unbeschadet überstanden hat, und hernach von einem törichten Köhler an sich genommen worden ist. Die Neunfingrige hat ihm dafür gutes Gold bezahlt, so dachte der Einfaltspinsel zumindest – bis er merkte, dass er von Ihr nur ein paar Tannenzapfen erhalten hat, anstelle von Dukaten. Ich roch an dem Wein, den er zusammen mit der Betrügerin getrunken hatte, und bemerkte sofort den süßen, allzu süßen Duft des Dunklen Trosts. So nennt Yasinthe Dengstein ihr namenloses Gebräu: Ein purpurfarbenes Gift, das die Sinne verwirrt und jeden aufrechten Diener der Zwölfgötter in ein willenloses Werkzeug des Namenlosen zu verwandeln vermag. Ja, ich fürchte, eure wahre Gegnerin in dieser Geschichte war Yasinthe die Falknerin, wie sie genannt wurde, als sie noch einen schwarzen Falken als Gefährten hatte. Die Ysilierin ist eine machtvolle Dienerin des Dreizehnten, die schon seit vielen Jahren ihr Unwesen diesseits der Berge treibt.
Sie war es wohl, die damals, kurz nach deiner Geburt, die armseligen Horden der Gleißer zum wahnwitzigen Hungeraufstand angestachelt hat, unter dem Namen Nerdane von Nordenheim. Vor einigen Jahren hat sie versucht, die Familie Gernatsborn ins Verderben zu stürzen: ein Plan, der auf der Insel Fischermanns Freund am Eingreifen der Schatzgarde und des Junkers Storko gescheitert ist. Lange dachten wir, sie wäre auf der Flucht in der Orkensauffe ertrunken, aber das Böse lässt sich niemals auf Dauer besiegen. Immerhin meidet sie nun Friedwang, wo der Praiostempel ihr Antlitz bereits kennt. Sie scheint Ysildas Ring zu suchen, ein machtvolles Artefakt, das in den unseligen Tagen gestohlen wurde, als die Drachenmeisterin Varena unsere Baronie verwüstet hat – die Herrin Arlopirs des Mordbrenners. Zuletzt befand der Ring sich im Besitz der Tsageweihten von Zaberg, Ysilda mit Namen, die aus Schlotz stammt. Man kann damit Wege in die Anderwelt finden, und Tore in das Reich der Feen öffnen. Manche sagen, dass der Ring auch dämonisches Wirken anzeigt.
Auch ich habe ihn einmal in Händen gehalten. Dieses beseelte Artefakt ist gefährlicher, als es den Anschein haben mag. Wie so oft, ist seine Macht in den vergangenen Jahrhunderten gewachsen. Der Ring hat mittlerweile ein Eigenleben entwickelt. Ich fürchte, er spürt Feenwesen und niederhöllische Kreaturen nicht nur auf, sondern lockt sie regelrecht an. In der Hand eines Wissenden mag es mit ihm sogar gelingen, jenseitige Wesen herbei zu rufen, zu binden und zu beherrschen. Es ist nur das Gefühl einer alten Hexe aus dem Drachenwald, die in solchen Dingen aber nicht ganz unerfahren ist. Yasinthe könnte früher oder später auch in Schlotz auftauchen, wo Du demnächst an den Altar der Travia treten möchtest - nach allem, was man so hört? Dafür wünsche ich Dir und Haldana von ganzem Herzen Satuarias Segen. Den Segen der zwölf Götter werden Dir gewiss andere spenden.
Aber sei gewarnt. Die Feenwesen und Biestinger des Wutzenwaldes sind mächtiger und zahlreicher als in Friedwang, Gallys oder Oppstein – wer sie beherrscht, mag sich leicht die gesamte Baronie Schlotz und deren Nachbarn unterwerfen. Ich hege den Verdacht, dass die Neunfingrige auf Rache sinnt, nicht nur gegenüber Storko und Glyrana von Gernatsborn-Mersingen, die damals ihre Pläne in Efferding vereitelt haben. Auch ihr könntet ihren Zorn geweckt haben.
Als Bettlerin verkleidet, ist es mir gelungen, in Rommilys noch ein paar Erkundigungen einzuholen. Die Straßenräuber, die dich verschleppt haben, haben dazu Dunklen Trost verwendet – ein Rauschkraut, das in der Metropole am Darpat bislang noch nicht allzu oft aufgetaucht ist. Der finstere Plan, die Hauptstadt in Angst und Schrecken zu versetzen, trägt irgendwie Yasinthes neunfingrige Handschrift, auch wenn ich meine Vermutung nicht zu beweisen vermag. Selbst wenn sie mehrfach gescheitert zu sein scheint, darf man sie keinesfalls unterschätzen: Das Chaos allein ist ihr Ziel. Es scheint in Rommilys einen mächtigen Geheimbund des Dreizehnten zu geben, in dessen Dunstkreis sich Yasinthe jetzt bewegt. Der Anführer soll längst im Palast der Markgräfin ein- und ausgehen und auch sonst manch vermeintlicher Ehrenmann dem Zirkel angehören.
Gewiss, die Kultisten in Kurgasberg waren Anhänger der erzdämonischen Feindin der Göttin Peraine und unserer Herrin Satuaria. Aber spricht man von den Zorganpocken nicht als der Seuche des Namenlosen? Es kann kein Zufall sein, dass Yasinthe derart schnell im Kurgastal aufgetaucht ist. Vor allem aber kennt sie Golo aus den dunklen Tagen, als der Vampirmagier Merwan Friedwang heimgesucht hat - ein Kind der Finsternis, das zum Glück für uns alle nicht mehr auf Dere weilt. Vernichtet wurde er durch eben jene Tsageweihte Ysilda, deren Tempel im Krieg überfallen und ausgeraubt worden ist. Seitdem hat man nichts mehr vom Feenring gehört, den ein Onyxstein und eine kleine Blütenfee ziert.
Ich rate Dir, diesbezüglich auf der Hut zu sein, und auf alles Ungewöhnliche in Deiner Umgebung zu achten. Für euren gemeinsamen Lebensweg wünsche ich Dir und Deiner Haldana von Herzen Alles Gute.. Du wirst verstehen, dass ich nicht persönlich bei deiner Hochzeit anwesend sein kann. Aber in Gießenborn oder Rübenscholl werden wir uns sicherlich einmal begegnen.
Es grüßt und küßt Dich
Deine “Urgroßmutter der Herzen”
Ludwina die Oberhexe
Postscriptum: Du solltest diesen Brief nach Erhalt vernichten, auch die Goldröcke haben ihre Augen und Ohren überall !
Postspostscriptum: Auch wenn es mich schmerzt, so bist Du doch der Sohn Alriks, nicht der Sproß meines missratenen Enkels Golo. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat Deine Mutter Grolmensalbe verwendet, um Deine “Alboranskerbe” zu kaschieren. Ich bin mir deshalb so sicher, weil ich diese Täuschung selbst in die Wege geleitet habe. Bedenke, dass du dieses Zeichen Deinem wahren Großvater, Lacertinus von Zaberg, verdankst, der Ysildas Amtsvorgänger im dortigen Tsatempel war. Ebenso war er ein Abkämmling des Hauses derer von Eppelein zu beider Prähnskaten, die wahrhaftig von Sanct Alboran abstammen. Es ist in der heutigen Zeit gefährlich, Nachkomme eines Heiligen oder gar selbst heilig zu sein! Wisse, dass es nicht nur Adelsränke waren, die deine Mutter dazu bewogen haben, den markanten Erbfehler zu beseitigen. Sondern auch und vor allem die Sorge um Dein künftiges Wohlergehen!
Postpostpostscriptum: Du solltest Deine Hochzeit besser nicht auf Burg Schlotz feiern. Die Verliese dort sind kaum weniger tief als die Abgründe unter der Mine von Kurgasberg
Ludwina
“Seltsam… etwas wirr, was meine, ähm, Urgroßmutter da schreibt. Noch seltsamer als der Bote, den sie geschickt hat.” sagte Alboran, als Haldana das Schreiben zu Ende vorgelesen hat. “Die Verwandtschaft kann man sich halt nicht aussuchen, vor allem die Verwandtschaft, die es eigentlich gar nicht ist.” Der Friedwang maß der erhaltenen Nachricht wenig Bedeutung zu. “Lass uns gehen, mit diesen wirren Phantasien kann ich nichts anfangen.”
“He, Stutzer.” krächzte Knister. “Ich bin nicht so weit geflogen, um mir anzuhören, dass du kein Interesse am Brief deiner Urgroßmutter hast. Du solltest das ernst nehmen. Ludwina macht sich nicht umsonst Sorgen.”
“Ach was. Eine vermummte Gestalt, die einen Spiegel aus den verbrannten Resten eines Fasses holt. Das ist doch Humbug. Dann soll sich diese Dengstein halt im Spiegel begaffen. Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die dümmste im ganzen Land. Ach, hör mir auf damit.”
“Alboran, das ergibt schon Sinn” warf Haldana ein. “Ich… kann das schlecht erklären. Aber diese Sisa Brundel ist zwar tot, so tot wie Gerrich. Aber ihre Seele ist noch nicht über das Nirgendmeer. Irgendwie hat sie es geschafft, sich in den Spiegel zu flüchten. Den Spiegel in ihrem Schlafraum im Riesenfass. Ihre Seele ist an den Spiegel gebunden. Ich habe das gesehen, damals in der Fasshütte. Wenn diese Dengstein davon Wind bekommen hat und den Spiegel deshalb mitgenommen hat… Nicht ausdenken, was sie damit bezweckt. Aber das beweist, dass Ludwinas Sorge echt ist und dass dem keine Phantasterei zugrunde liegt. Albo, kommt eigentlich Hesindian? Da wäre es jetzt ratsam, einen Magier um Rat zu fragen. Oder Magister Veneficus, der weilt meines Wissens gerade in Gernatsquell bei Valyria… Kein Magier da, wenn man einen braucht. Ich werde mir einen Hofmagier einstellen, gleich nach der Hochzeit.”
“Schlaues Kind, deine Gespielin!” keckerte Knister. “Du solltest auf sie hören, Muttersöhnchen.”
“Liebes, nun mal langsam” lenkte Alboran ein und ignorierte das Lästern des Meckerdrachens. Zwar hielt er nichts von der Mahnung Ludwinas, aber er wollte die Geliebte auch nicht verärgern. Stattdessen versuchte er, die Sache mit der humorvollen Seite anzugehen. “Sisa Brundel im Spiegel im Fass… dann hätte die Schwarzhexe uns ja zugesehen.” Alboran versuchte ein Lachen.
“Nein, hat sie nicht. Deshalb habe ich ja ein Tuch über den Spiegel gehängt.” antwortete Haldana ernst. “Ich… mag keine Zuschauer dabei, wir sind ja hier nicht im Rahjatempel von Belhanka.” In ihrer Stimme lag Sorge. “Nein, wir sollten das ganze Ernst nehmen. Dein… Vater erscheint mir nachts, und deine Urgroßmutter schreibt dir eine Warnung vor einer Anhängerin des Nicht zu nennenden. Das sollten wir nicht leicht nehmen. Wer war eigentlich diese Yasinthe Dengstein?”
“Das fragst du besser meinen Vater. Meinen richtigen Vater.” antwortete Alboran. “Ich weiß da nichts drüber. Aber… he… du siehst blass aus. Du machst dir wirklich sorgen, oder? Was ist los, Halda? So kenne ich dich gar nicht. Wo ist die Zuversicht, mit der du mich durch den Kurgasberg geleitet hast?” Sanft drückte der Junker die Baronin an sich. Diese ließ sich das gerne gefallen. Langsam wurde sie wieder ruhiger, ließ die Furcht, die Golo ihr gemacht hatte, wieder nach.
“Was ist los… Ich… kann es dir nicht sagen. Aber ich habe kein gutes Gefühl. Und mein Gefühl trügt mich da selten.” Haldana konnte ihrem Albo ja schlecht sagen, dass sie Geister sah und dass Golo ihr nicht nur im Traum erschienen war. “Aber wenn es stimmt, was diese Ludwina uns schreibt, dann könnten die Ränke der Anhänger des Dreizehnten uns noch zu schaffen machen. Aber gut… Morgen ist auch noch ein Tag. Dort drüben ist der Misthaufen… und dann lass uns schlafen gehen.”
Alboran verschwand in der Dunkelheit, während Haldana am Rondraschrein wartete und dem Junker verträumt nachsah. Irgendwie war das alles sehr schnell gegangen. Ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte? Immerhin, anders als ihre Mutter und ihre Tante hatte sie selbst die Wahl getroffen und nicht die Familie. Was ihr aber die Unsicherheit nicht nahm, bei all ihren Gefühlen.
Ein jähes Keckern und Meckern riss die Baronin aus ihren Gedanken. “Was denn, Kind, warum lügst du Deinen Liebsten an? Das fängt ja gut an mit Euch zwei.”
“Was weißt denn du schon… und was erdreistest du dich? Ludwina sagte, du bist ein Taschendrache und kein Meckerdrache, aber deinen Worten nach bin ich mir da nicht so sicher. Und ich habe ihn nicht angelogen.” widersprach Haldana trotzig.
“Teckerdrache, Maschendrache, Kindchen. Ich muss mich nicht erdreisten. Ich mag ein kleiner Drache sein, aber ich habe um einiges an Jahren mehr gesehen als du, Prinzesschen. Lügen, Verschweigen, wo ist da der Unterschied? Und dass du deinem Prinzgemahl nicht alles erzählst, das habe ich gemerkt. Pah. Im Traum erschienen ist dir Albos Vater. Dass ich nicht lache.” Knister keckerte schrill. “Dein Albo mag dir das glauben, der frisst dir aus der Hand. Aber das lass dir gesagt sein. Wenn du ihn liebst, dann vertraust du ihm und sagst ihm auch alles. Wie willst du mit jemandem ein Gelege ausbrüten, wenn du nicht einmal darüber redest, was dich im Inneren bewegt.”
“Ausbrüten…” Haldana stammelte eine Erwiderung. “Was weißt du denn schon von Menschen, wenn du noch von ausbrüten redest.” Aber irgendwo hatte der kleine Drache Recht. Irgendwann würde sie Alboran erzählen müssen, was sie mit Golo erlebt hatte. Nur… noch nicht jetzt.
“Mehr als du meinst, Kindchen… zum Beispiel weiß ich, dass es keine Rolle spielt, ob unsere Kinder nur aus dem Ei schlüpfen oder danach noch geboren werden. Das tut alles nichts zur Sache. Ich würde jedenfalls kein Drachenweibchen aussuchen, mir ein Gelege auszubrüten, die mir nicht vertraut. Denk mal darüber nach, Trollkindchen. Ludwinas Urenkel hat ein gutes Herz. Wäre das nicht so, hätte Ludwina mich nicht mit diesem Brief geschickt. Spiel nicht mit ihm, das hat er nicht verdient.”
Haldana fühlte sich ein wenig ertappt. “Ach was, seit wann wandeln Drachen unter den Eheberatern? Ist das nicht eher die Aufgabe für die Geweihten der Travia?” wiegelte Haldana ab.
“Trollkind, ich bin hier der Meckerdrache und nicht du. Also spotte nicht.” parierte der kleine Drache. “Aber Ludwina liegt jedenfalls Alboran am Herzen. Dir offenbar nicht.”
“He!” protestierte Haldana. “Jetzt wirst du aber beleidigend! Ich heirate ihn! Natürlich liegt mir Alboran am Herzen, wie kannst du es wagen?”
“Wirklich, Sichelmatrone? Wenn dem so ist, warum warnst Du ihn dann nicht davor, dass sein Vater hier herum geistert? Dann ist er doch genauso in Gefahr wie du!”
Haldana blieb der Mund offen stehen. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte nur Angst gehabt, Albo würde sie für verrückt halten.
“Woher weißt du eigentlich von Golo…?” Haldana lenkte zugleich von dem ihr unangenehmen Thema ab, wollte aber auch tatsächlich wissen, woher der Drache sein Wissen bezog. Der kleine Drache lachte meckernd und schlug mit den Flügeln. “Ich bin ein Drache, vergiss das nicht, ein Tier Hesindes. Anders als du bin ich mit Hesindes Gaben gesegnet.” Knister lachte und erhob sich in die Luft. “Ich fliege dann mal heim. Werde du mal allein fertig mit deinen Problemen, wenn du niemand vertraust. Aber ich komme wieder, in ein paar Tagen. Sag deinem Galan, dass er bis dahin einen Brief an seine Urgroßmutter schreiben soll. Das gehört sich so!” Knister lachte noch ein paar Mal laut, ein wenig hämisch klingend, dann schraubte er sich in die Höhe und verschwand im Nachthimmel. Die junge Baronin schaute, immer noch ein wenig verwirrt von dem schrillen Auftritt des Drachen, diesem nach. Bis Alboran zurückkehrte. “Ist er schon wieder weg… das ging aber schnell.” Die Baronin nickte.
“Komm mit. Lass uns reingehen. Auch wenn es eine laue Sommernacht ist, so romantisch ist mir auch nicht zumute gerade.” Alboran folgte, legte den Arm um die Schulter der Geliebten.
Auf dem Weg zum Haupthaus rang Haldana mit sich selbst, während sie Arm in Arm mit Alboran dahin schlenderte. Sollte sie ihn wirklich in alles einweihen? Wie würde ihr Liebster darauf reagieren, wenn er erfuhr, dass sie nicht nur den Geist des Schiefhals sah – sondern auch noch andere Gespenster? Eine Einladung zum Kuscheln und Küssen war das nicht gerade. Alboran war praiosgläubig, in dieser Kirche war man nicht allzu tolerant Menschen mit “besonderen Gaben” gegenüber. Wenn es Golos Ansinnen gewesen war, sie auf pervalische Weise in Seelennot zu stürzen, so hatte er sein Ziel erreicht.
“Ich glaube, ich lege mich jetzt besser ins Bett”, sagte Alboran und umarmte Haldana. Er fühlte sich warm an, sanft und kraftvoll. Der Karzerkönig roch gut, nach irgendeinem feinen Rommilyser Rasierschaum (gemischt mit einem zarten Hauch Misthaufen). Sein Herz pochte aufgeregt, oder war es ihr eigener Herzschlag? In diesem Moment verflogen Haldanas Zweifel. Sie küssten sich innig, im Schatten des Eingangs. Eng umschlungen vergaß das Pärchen die Zeit, der Ankündigung des Junkers zum Trotz. Eine gefühlte Ewigkeit befanden sich beide in Rahjas Obhut, streichelten sich, liebkosten sich, wuschelten sich durch die Haare, genossen das gemeinsame Glück, die Liebe und die Lebensfreude einer Mittsommernacht - wie zwei halberwachsene Bauernkinder, für die es kein standesgemäßes Benehmen und keine gesellschaftliche Verpflichtung gab.
Irgendwo in der Nähe zwitscherte es.
“Ich glaube, bis zum Sonnenaufgang is ets nicht mehr weit.” Haldana schmiegte sich in Alborans Arme.
“Dann können wir gerne auch drinnen weiter machen.”
“Wie meinst du das.... weiter machen?”
“Hm. Nach was hört sich es an?”
“Nach einer Nachtigall und nicht der Lerche.” Die Baronin wich etwas zurück. “Meine Mutter bringt mich um, wenn.... ach vergiss es...”
“Hm... ach so. Dann gehe ich jetzt wohl besser schlafen.” Alboran klang ein wenig enttäuscht, aber auch müde. “Wo ist eigentlich dieser verrückte Ziegendrache gelandet?”
“Davon geflattert. Er möchte aber in ein paar Tagen zurückkehren. Hat gemeint, du sollst in der Zwischenzeit eine höfliche Antwort an deine Urgroßmutter schreiben.”
“Also erstens...ich hab es, glaube ich, schon gesagt. Aber sie ist nicht meine Urgroßmutter. Da sei Frau Travia vor! Selbst wenn sie´s wäre. Mein Bedarf an Hexen ist für die nächsten zwanzig Jahre gedeckt, bei der Heiligen Lechmin von Weiseprein. Mindestens. Was sag ich, für die nächsten hundert Jahre. Außerdem, zweitens, mit dem Gänsekiel hab ich es nicht so. Schließlich sind wir in Darpatien, da darf man keine Gänse quälen.”
Haldana schaute verständnislos.
“Naja, ne Feder gehört an die Gans, nicht in die Hand eines traviagefälligen Edelmannes.” Alboran lächelte, leicht überheblich.
“Rommilyser Mark heißt das jetzt...Wenn du möchtest, kann ich ein paar Zeilen für dich schreiben. Ach ja, der Brief gehört ja eigentlich auch dir.” Haldana tastete über die Ärmel von Alborans schaubenähnlichen Mantel, wo sie ihn vermutete. “Wo hab ich ihn denn?”
“Hat dieses Luder von Ludwina nicht gesagt, ich soll den Brief verbrennen? Ja, das sollte man mit diesem satuarischen Geschreibsel als erstes tun. Am besten, bevor man es liest, und sich die Sinne verwirren lässt. Oder sich einen Fluch einfängt?! Es gibt genug Leute, die sagen, die Oberhexe hätte ebenfalls den Scheiterhaufen verdient. Jahrelang steckt sie mit Gernot und Golo unter einer Decke, und jetzt, wo beide in die Niederhöllen gestürzt sind, spielt sie die Verteidigerin des Guten...” Alboran schlüpfte wieder aus den Holzschuhen, rein in seine Pantoffeln. “Dieser geschuppte Spion von Hausdrache kann mir auch gestohlen bleiben.”
Die junge Binsböckel verzog ihr Gesicht. “Mist, ich glaube, ich habe den Brief in der Kapelle liegen lassen...Und die Kerzen brennen auch noch. Wo hab ich nur meinen Kopf? Ich werde ihn schnell holen.”
“Wie gesagt, du kannst den Fetzen gerne verbrennen...und mir den Mantel gerne nachher vorbei bringen.” Einen Augenblick lang sah Alboran wirklich aus wie sein Vater Alrik, der Schwerenöter, mit seinem frivolen “Liebfelder Lächeln”.
“Alboran?”
“Haldana?”
“Pass auf dich auf, ja? Ich muss dich warnen.... Golos böser Geist geht noch immer um, auch auf dieser Burg.”
“Falls du dich fürchtest - wir können den Rest der Nacht gerne gemeinsam verbringen...”
“Ich meins ernst. Das Böse besiegt man niemals so ganz. Da hat deine Urgroßmutter...”
“Meine Stiefurgroßmutter vielleicht...”
“Wie auch immer...aber da hat sie Recht. Es gibt finstere Geister, die nicht allein in unseren Träumen existieren. Die versuchen, auch im wirklichen Leben Macht über uns zu erlangen. Dein Stiefvater ist lebendiger, als du vielleicht glaubst...”
Alboran musterte sie von oben nach unten. Täuschte Haldana sich, oder spürte sie auch bei ihm einen leichten Anflug von Zweifel?
“Du bist ein wenig überreizt. Was ich ja verstehen kann. Nach allem, was in Kurgasberg geschehen ist. Aber sei unbesorgt. Ich spüre die Macht des Praios an diesem Ort, der lange Zeit sogar dem Heiligen Alboran geweiht war.”
“Es ist gefährlich, Nachkomme eines Heiligen oder gar selbst heilig zu sein...” murmelte Haldana. “Auch das stand in dem Brief.”
“Der jetzt auch nicht gerade das Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisung ist. Meine Mutter wollte mich also beschützen, in dem sie meine Abstammung von Sankt Alboran verleugnet? Mit Hilfe einer Hexe? Da danke ich aber schön dafür. Ich kann dir sagen, was der Sinn dieser ganzen Intrige ist. Ludwina möchte mich auf die Seite der Alten Kulte ziehen, weg von der Gemeinschaft des Lichts und den wahren Göttern Alverans. Oder sich wenigstens Liebkind machen. Wohl wissend, dass wir bald schon die Herren über Rübenscholl und Gießenborn sein werden, in der Nachbarschaft des Drachenwaldes. Alte Götter, was für ein frevlerischer Unsinn. Dieser Wilde Mann vom Schratenwald, die Goblingötzin Sokramur oder die Steinfee Solala – wie kann man ernsthaft zu solchen Märchengestalten beten? Aber ich möchte jetzt nicht mehr über sowas Verrücktes nachdenken. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich wünsche dir eine gute Nacht..."
Alboran drückte Haldana einen Kuss auf die Stirn.
"Gute Nacht, mein Schatz."
Haldana ging zurück in Richtung Rondraschrein. Irgendwie vermisste sie in diesem Moment Nasdja, ihren Schutzgeist. Ihre eigene, mehr oder weniger leibliche Ururur...großmutter. Die verstand wenigstens, wie es war, Dinge zu sehen, die andere (noch) nicht sehen konnten. In welcher Zwischenwelt steckte die Zibilja gerade? Irgendwie hatte Haldana das Gefühl, dass die ganzen Schutzzeichen in der Großen Halle ihre Urahnin abschreckten. Zeichen, die wirklich dafür gedacht waren, Geister abzuwehren. War da eine Bewegung im Halbdunkel? Neben dem Schrein, da war doch was. Irgendein Schatten, der davon huschte. Nasdja? Nein, sie hatte sich wohl getäuscht.
An der Tür zur Kapelle stutzte Haldana erneut. Sie war nur angelehnt, obwohl die Baronin sich sicher war, sie fest geschlossen zu haben – und das Schloss einwandfrei funktionierte.
Sie trat mit misstrauischen Blick ein, und sah den Brief auf dem Altar liegen. Haldana war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn wirklich dorthin gelegt hatte. Andererseits, wo sonst hätte sie ihn hinlegen sollen, wenn sie ihn schon nicht eingesteckt hatte? Die Baronin schalt sich eine zerstreute (oder übermüdete) Närrin, rollte den Brief zusammen und hielt ihn an eine der Kerzenflammen. Das Papier brannte sofort lichterloh, wie eine Fackel. Sie hielt es über die leere Opferschale und wartete, bis es restlos zu Asche verbrannt und auch das Wachs zerschmolzen war.
Leere Opferschale? Auch in diesem Fall war sich Haldana nicht ganz sicher. Aber hatten vorhin nicht ein paar Münzen darin geblinkt (soweit die Freifrau wusste, kamen die kleinen Spenden den Invaliden und Kriegsveteranen unten im Dorf zu Gute)? Hatte sich ein Dieb in das kleine Heiligtum geschlichen, während sie gerade mit Albo geturtelt hatte? Vielleicht sogar...eine neunfingrige Diebin? Aber die paar wenigen Taler und Heller waren nun wirklich keinen nächtlichen Einbruch wert, geschweige denn einen Frevel in einem Haus der Göttin. Es sei denn, man hasste die Himmlische Leuin wirklich von ganzem Herzen, und wollte ihr schaden, wo immer man es konnte.
Nein, ihr Freund hatte Recht. Sie war gerade vollkommen überreizt. Kein Wunder, nach all dem, was geschehen war. Einige glimmende Aschestücke schwirrten zu Boden. Sorgfältig trat Haldana sie aus und sammelte sie ein.
Ein paar Schlammbröckchen lagen neben dem Opferstock, die bereits getrocknet waren, ebenso eine braungefärbte Tannenadel. Haldana hob sie auf und vermisste Tuvok, den Barönlichen Hofjäger. Es war nicht gerade eine firunsgefällige Fährte, aber schon ungewöhnlich. Ihre Mutter hasste dreckige Schuhe, auch wenn diese auf einer Burg wie Schlotz gar nicht zu vermeiden waren. Aber im Rondraschrein war eine Schmutzspur jenseits allen Vorstellbaren. Haldana leuchtete den Boden aus: zwischen Tür und Altar hatte der “Maulwurf” (wie sie den Unbekannten oder die Unbekannte? - nannte) eine feine, gerade noch wahrnehmbare Spur aus winzigen Erdhäufchen hinterlassen, offenbar mit seinen Stiefeln. Sogar eine zweite, schmutzige Tannenadel war zu sehen, sowie ein kleiner Strohhalm. Es half alles nichts: In diesem Schummerlicht, mit ihren überanstrengten Augen, würde sie beim besten Willen nicht mehr herausfinden. Sie blies nach und nach die Kerzen aus. Einen bangen Moment lang glaubte sie Golos Fratze in der Finsternis zu sehen, aber es war nur ein matter Nachhall des erlittenen Schreckens. In der restlichen Nacht würde sie unter Rondras Schutz stehen.
Leise atmete Rimhilde auf. Wer hatte schon ahnen können, dass Haldana zurück zum Rondraschrein kam. Gerade noch rechtzeitig hatte die Magd das Herannahen der jungen Baronin bemerkt. Rimhilde hatte vermutet, dass Haldana mit diesem Praiosgeck auf ihre Kammer ging. Jedenfalls hätte sie das getan, hätte sie einen Edelmann an der Angel. Sie hatte nicht angenommen, dass das Pflichtbewusstsein der Baronin größer war als der Wunsch, sich dem Edelmann hinzugeben. Nun gut, man merkte einfach die Erziehung der Altbaronin… Dabei hatte es ganz gut angefangen. Mit einem kleinen Schabernackzauber hatte sie dafür gesorgt, dass der Brief der Baronin aus dem Ärmel gerutscht war. Nachdem sie zuvor, unbemerkt und getarnt im Schatten hinter dem gemauerten Schrein, leise ausgeharrt und die Baronin und ihren Verlobten belauscht hatte. Was sie hörte, machte der Eigeborenen Sorgen. War es nur die städtische Erziehung, die der künftige Baron zu Schlotz genossen hatte? Dann mochte sich das geben mit den Erfahrungen, die dieser Alboran in Schlotz machen würde. Oder war er tatsächlich ein Stück weit praiosfrommer, als es gut war für einen Herrn auf Burg Schlotz? Würde sich das Verhängnis Tsafrieds wiederholen? Rimhilde hatte gehört, wie sich Alboran über Hexen geäußert hatte, und mit welch verächtlichen Worten er von Sokramur - wie kam er dazu, die Gigantin als Goblingötzin zu verunglimpfen? - bedacht hatte. Und wie wenig er von den alten Geschichten wie der Fee Solaninde oder anderen Sagen der Vergangenheit hielt?
Wie immer, wenn sich eine Übergabe des Throns, der Amtsgeschäfte auf dem Schlotz anbahnte, war Vorsicht und Umsicht angebracht. Das fragile Gleichgewicht geriet nur zu leicht in Gefahr. Bei Tsafried war es nicht gelungen, ihn sanft darauf vorzubereiten, dass die Alten einfach zum Land gehörten, hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. Die letzten Jahre, seit Tsafrieds Tod, hatte sich das Land langsam wieder erholt. Manche Wunden, die geschlagen wurden, waren inzwischen verheilt. Doch es galt aufzupassen, dass sie nicht wieder aufgerissen wurden. Das, was Tsafried von der rechten Bahn abgebracht hatte, war immer noch präsent, war nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit.
Rimhilde hatte nicht alles gehört, was Haldana aus dem Brief vorgelesen hatte. Sie war zu weit weg gewesen, um jedes Wort vernehmen zu können. Nun, sie wollte ja auch nicht von der jungen Baronin ertappt werden. Aber sie musste wissen, was in dem Brief stand - nicht zuletzt, um den neuen Baron besser einschätzen zu können. Und um Gerbold berichten zu können. Haldana, da war Gerbold sich sicher gewesen, würde lernen, die Alten Kulte zu verstehen, würde sie gewähren lassen. Aber nun, da unvermutet ein Praiosfürchtiger Junker sich anschickte, dem Thron zu Schlotz nahe zu kommen? Was würde das für eine Eigeborene wie sie bedeuten? Nun, besser, Alboran würde nie erfahren, dass sie etwas anderes war als nur eine Magd. Und besser, Haldana würde es auch nicht bemerken. Rimhilde würde weiterhin vorsichtig sein müssen. So hatte sie den Brief genommen und gelesen. Und dabei nicht ausreichend auf die Umgebung geachtet.
Rimhilde wäre beinahe von Haldana überrascht worden. Sie war noch in Gedanken versunken, als die Baronin zum Schrein der Rondra zurück kehrte. Rasch legte sie den Brief auf dem Altar ab. Waren da nicht eben vorhin noch Münzen in der Opferschale gewesen? Egal. Rimhilde huschte rasch wieder in ihr Versteck zurück. Dass sie in der Eile Erde und Schlamm von ihren Stiefeln verlor, konnte sie nicht verhindern. Rimhilde eilte zurück zu den Stallungen, wo sich ihre Kammer befand. Sie würde dem alten Zwölfengrund berichten müssen. Gleich am nächsten Tag. Wenn die Herrschaft nach Gernatsborn aufbrach, würde sich dazu Gelegenheit ergeben.