9. Kapitel
9. Kapitel
Eine unerwartete Hochzeit
In lockerem Trab folgten die Reiter dem Karrenweg am östlichen Darpatufer stromabwärts. Dort vermutete Hesindian die Flusshexe. Nicht zuletzt zeigten auch Glücksrad, Würfel und Karten in die angenommene Richtung. Jodokus führte die Reiterschar an und kontrollierte immer wieder die Richtung. Er schien das Gefühl zu haben, etwas gut machen zu müssen. Das Pferd, das er Haldana geliehen hatte, führte er an das seine gebunden mit.
Tuvok und Rovik ritten am Ende der Gruppe. In der Mitte, nebeneinander, trabten die Pferde der beiden Friedwanger nebeneinander. Fast den ganzen Tag waren die fünf geritten, nur mit einer kurzen Pause für eine Mittagsrast. Aber auch diese war nicht länger als nötig, um den Pferden ein wenig Erholung zu gönnen. Aber die Sorge um Haldana ließ vor allem Tuvok und Jodokus zur Eile mahnen.
„Wenn ich nur wieder mal richtig ausgeruht wäre… wenn ich Zeit gehabt hätte, mich zu erholen. Wir treten zwei hoch potenten Zauberkundigen gegenüber, und ich fühle mich, was das betrifft, noch erschöpft.“ sinnierte Hesindian vor sich hin.
„Na Phex wird uns schon wohlgesonnen sein“ antwortete Alrik. „Immerhin suchen wir eine schwimmende Spielhalle.“
„Du hast gut reden… Aber ich wünschte, ein kundiger Collegae würde mich begleiten. Wie Veneficus damals.“
„Der alte Gallyser, von dem man sagt, er wäre in den unheiligen Tagen geboren worden? Was ist los, Hesindian, wo bleibt dein Selbstvertrauen?“
„Sei unbesorgt, Alrik. Davon ist genug vorhanden. Aber als Magier bin ich zuallererst auch Wissenschaftler, also einer kritischen Analyse nicht abgeneigt. Und die sagt, dass man einen Schwarzmagier und eine Hexe nicht unterschätzen soll.“
„Ist ja gut, alter Freund… vergiss nicht, dass ich unter Phexens Schutz stehe. Und auch wenn Rovik und Tuvok keine Magier sind, mache nicht den Fehler, einen Bogenschützen und einen Axtkämpfer zu unterschätzen. Aber, wenn du schon von Veneficus redest...“ Alrik wollte bewusst den Magier davon ablenken, dass die Kampfesaussichten gegen Gerrich und Sisa ohne eine gute List nicht unbedingt vielversprechend waren. „Was ist eigentlich aus dem alten Graumagus geworden? Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, und seitdem Alrike Baronin in Gallys ist, fungiert er ja nicht mehr als Statthalter, oder?“
„Nein. Er hat sich zurückgezogen. Naja, Hofmagier und Historiker ist er noch, aber alles andere hat er abgegeben. Von heute auf morgen, nahezu. Lebt jetzt in Edorlys mit Rauline. Valyria hat getobt.“
„Du machst Witze. Veneficus reißt nicht mehr alles in Gallys an sich, was zu tun ist? Du wirst mir gleich noch erzählen, dass Rondra den Schwertgurt abgeschnallt hat.“
„Nein, ernsthaft. Veneficus hat einfach gekündigt. Hat gesagt, er habe jetzt eine Frau und Kinder, und das wäre wichtiger.“
„Das kann ich nicht glauben. Die allzeit pflichtbewusste graue Eminenz vom Artemaberg hat hingeschmissen? Gut, das erklärt, dass ich nicht mehr viel von ihm gehört habe. Und Veneficus hat geheiratet? Wen denn? Seine Freundin von den Artemareitern? Das hätte Valyria doch niemals zugelassen.“
„Das ist es ja, Alrik. Sie hat es nicht zugelassen. Hat gesagt, er könne als Angehöriger des Hauses Baernfarn, dem sie vorstehe, keine Gemeine heiraten. Er habe eine Verpflichtung gegenüber der Familie. Er solle sich mindestens eine Edle suchen und irgendein Gut für die Familie an Land ziehen, anstatt eine Besitzlose vor den Traviaaltar zu holen. Oder eine reiche Bürgerliche, die Geld mitbringt. Eine Geliebte könne er sich nebenher gerne halten, aber die Pflicht gehe vor.
Da hat Veneficus geantwortet, dass Valyria ja selbst wieder heiraten könne, wenn das wichtig wäre, und dass er noch am nächsten Tag mit Rauline in den Firuntempel gehen würde. Außerdem sei Valyria lange genug Witwe. Hat sich umgedreht, die Baroninmutter stehen gelassen und ist gegangen. Valyria habe ihm noch hinterher gerufen, dass sie die Hochzeit im Firuntempel verhindern werde. Dass sie der Geweihtenschaft untersagen werde, eine Heirat dort zuzulassen. Aber Veneficus hat nur gelacht und am nächsten Tag hat er seine Rauline geheiratet.“
„Aha. Kaum zu glauben. Nun, immerhin hat er dann ja das uneheliche Zusammensein vor den Göttern legitimiert. Dann hat immerhin die Traviakirche nichts mehr zu meckern. Die Firunkirche hat sich also nichts verbieten lassen.“
„Das weiß ich nicht, Veneficus und Rauline waren gar nicht im Firuntempel. Sie haben sich nach altem Ritus beim Druiden trauen lassen.“
Alrik war einen Augenblick sprachlos.
„Das hätte ich bei Venficus nicht erwartet. Erkennt die Traviakirche denn eine Hochzeit nach altem Ritus an?“ brachte er hervor. Hesindian zuckte mit den Schultern.
„Nun, Alrik, du kanntest ihn nicht so gut wie ich. Damals, in den Kämpfen in der Wildermark, haben wir ja manches Gefecht gemeinsam ausgestanden. Ich war mit Veneficus ja im besetzten Gallys und habe es miterlebt, wie er vom Hesindeglauben zu den alten Kulten konvertiert ist. Ich denke, Veneficus hat schon lange darunter gelitten, dass er immer in der Pflicht gefangen war und nie ein eigenes Leben hatte. Immer allein, immer nur an die Baronie und die Familie denken und nie an sich selbst… irgendwann musste das einfach zu viel sein. Und dann Rauline… die Söldnerin, die wir damals aus Maraskan mitgebracht hatten… ich meine, Veneficus war damals schon um die Vierzig. Rauline war… seine erste Freundin.
Ich glaube, unter dem langen allein sein hat er zuvor schon arg gelitten. Und er wird Rauline nicht aufgeben. Wenn Valyria ihn vor die Wahl stellt… nun, er hat sich entschieden. Für Rauline und für die Alten Kulte. Und gegen Valyria.“
Alrik nickte. „Aha. Dann hat er vermutlich auch sein Kind zu beim Druiden in die Lehre geschickt. So hatte es ja der Druide damals erbeten, wie du einmal erzählt hattest.“
Hesindian nickte.
„Stimmt. Ich war übrigens dabei, damals bei der Geburt. Auch zwei Jahre später beim zweiten Kind. Veneficus hat mich gebeten zu prüfen, ob seine Kinder die Kraft in sich tragen. Tun sie. Alle beide. Der kleine Answin Raffel Raulius von Baernfarn ebenso wie Mundula, die Erstgeborene.“
„Mit Verlaub, Baron Alrik, das ist Wahnsinn.“ sagte Rovik, der zu den beiden Friedwangen aufgeschlossen hatte. „Wir sind zu fünft. Ich will Haldana auch befreien, aber so sehe ich wenig Sinn darin, ein aussichtsloses Enterkommando zu führen. Auf ein Schiff. Ich kann noch nicht einmal schwimmen.“
„Wir werden Haldana nicht im Stich lassen, Rovik“ entgegnete Tuvok bestimmt.
„Natürlich nicht, Tuvok. Das sage ich auch nicht. Aber wir müssen uns deswegen ja nicht dumm anstellen. Wer eine von uns durch die Luft entführen kann, der kann uns auch aus der Luft ungesehen beobachten. Und wir reiten, offen sichtbar, einfach den Treidelpfad entlang. Das ist doch unsinnig.“
„Da hat er auch wieder recht“ stimmte Jodokus zu.
„Dass dir das egal ist, war mir klar“ ätzte Tuvok. „Du hattest deinen Spaß gehabt und würdest dich ja nur freuen, wenn niemand deswegen klagen kann.“
Ein strenger Blick Alriks brachte den Nivesen zum Verstummen. „Ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt hier gewesen bin. Praioswärts von Rommilys kenne ich mich nicht so gut aus. Wo könnte die die Flusshexe eigentlich vor Anker liegen?“ Der Baron erhoffte sich keine wirklich informative Antwort. Wichtiger war es ihm, einen erneut aufflammenden Streit des Nivesen mit Jodokus zu verhindern.
„Ich kenne den Weg, bin ja schließlich in den Beilunker Bergen aufgewachsen und oft genug hier entlang gezogen mit meinem Lehrmeister. Mit dem Schiff nach Perricum und dann Darpataufwärts zu den großen Märkten des Reiches. Da kann man gutes Gold bekommen für unsere Handwerkskunst. Vor uns liegt ein Moorgebiet. Hässliche, morastige Gegend. Etwa fünf Meilen lang erstreckt sich das hier am Darpatufer. Wenn dieser Gerrich von unserer Verfolgung weiß und uns in eine Falle stellt, dann ist es dort jedenfalls günstig. Mit den Pferden können wir den Knüppeldamm nicht verlassen, während das Moor für Heckenschützen eine gute Deckung bietet.“
Jodokus zog die Zügel und brachte seinen Braunen zum Stehen.
„Halten wir erst mal an.“ brummte er. „Uneinig und ohne Plan einfach aufs Geratewohl los zu reiten bringt uns ja auch nicht weiter. So sehr ich auch alles mir Mögliche dazu beitragen werde, Haldana zu befreien. Und diesem Bierpanscher Mores zu lehren.“
Die Gefährten brachten ebenfalls ihre Pferde zum Stehen. Tuvok stieg ab. „Folgt mir, wir führen die Pferde dort in das Wäldchen. Da kann uns jedenfalls aus der Ferne niemand beobachten, weder mit dem Fernglas noch aus der Luft. Und wenn sich jemand anschleicht, dann kriege ich das schon mit.“
Alrik stimmte dem Vorschlag zu. Er war als Soldgeber der Anführer der Truppe, aber er musste einsehen, seine Gefährten hatten Recht.
„Also was nun?“ fragte er in die Runde, als sie einen geeigneten Lagerplatz gefunden hatten.
„Kann man eigentlich diesen felsigen Hügel erklimmen?“ begann Hesindian und wies auf eine Anhöhe mit steil abfallender, aus weißem Kalk bestehender Felswand. „Er liegt hier in der Flussbiegung. Von dort oben könnte man das Darpattal einige Meilen weit einsehen.“
„Kann man“ brummte der Zwerg. „`s gibt einen Pfad auf den Rabenberg. Allerdings zu Fuß, nicht beritten. Mit dem Gaul kommst du da nicht rauf.“ Rovik beschirmte sich das Auge gegen die Sonne. „Dort, den Taleinschnitt hinein. Zwei Meilen später rechts hoch führt ein ausgetretener Steig. Du bist nicht der erste, der den Darpat von dort oben einsehen will. Empfehle ohnehin, das Moor zu umgehen.“
Alrik stopfte sich etwas Tabak in die Pfeife. Wenn schon gerastet wurde, dann wollte er ein paar Züge zur Entspannung nehmen. „Kommt man dort weiter? Kann man das Moor umgehen?“ Auch Hesindian blickte misstrauisch. „Wir können dort nicht durch die Berge reiten. Das Gelände geht mit Pferden überhaupt nicht.“ warf Jodokus ein. Die Aussicht, den schrofenartigen Abhang zu queren, lockte ihn wahrlich nicht. „Durch das Geröll können wir nicht, die Pferde finden keinen Halt auf den losen Steinen.“
„Reiten können wir nicht. Laufen schon. Wir müssen die Pferde führen.“ murmelte Rovik in seinen Bart. „Man kommt sechs Meilen später wieder an den Darpat, bei der Treidelstation an der Nattermündung. Nur am gegenüberliegenden Flussufer.“
„Soso, unser Zwerg ist unter die Flussschiffer gegangen.“ sagte Alrik, aber auch er verspürte keine große Neigung, sich in das Moor hinein zu wagen. Zumal bei Hochwasser, wenn die Mücken in myriadengroßen Schwärmen Reisende heimsuchten. „Aber gut, Überblick müssen wir uns ohnehin verschaffen, einer muss auf den Rabenberg. Nehmen wir halt den Gebirgspfad. „Ist immerhin gut, einen Ortskundigen bei uns zu haben. Tuvok, da du von uns allen die größte Ausdauer zu haben scheinst, ich schlage vor, du gehst voran und besteigst diesen Rabenberg. Verschaffe Dir einen Überblick. Vielleicht kannst du sogar die Flusshexe erspähen. Wir führen Dein Pferd mit, und treffen uns dann, wenn wir das Moor und den Rabenberg umgangen haben. Rovik, gibt es da einen geeigneten Lagerplatz? Bis wir dorthin gelangt sind, wird sich die Sonne ohnehin schon tief herab gesenkt haben“
„Lagerplatz, ja. Gibt es. An der Nattermündung sind mehrere Inseln im Darpat, der dort recht breit ist. Kaum Strömung. Eine halbe Meile, bevor der Steig wieder in den Treidelpfad mündet, befinden sich einige Findlinge. Dazwischen ist man vor Blicken ebenso wie vor Wind und Regen geschützt. Einige hängen über und darunter kann man auch gut lagern.“
„Dann treffen wir uns dort wieder“ bestimmte Alrik. Der Nivese nickte.
„Hier, Tuvok“ sagte Jodokus. „Mein Fernglas. Du wirst es gebrauchen können.“
Tuvok stapfte den schmalen Stieg hinauf, an einer schroffen Kalksteinwand entlang. Der Abhang unter seinen Füßen war von moosfarbenen Gras bedeckt.
Die Pfeile klackerten im Köcher, sein Atem ging schwer. Immer wieder wurde die "Bergwanderung" zur Klettertour, bei der er die Hände zu Hilfe nehmen musste.
Besonders schwierig war das Kraxeln nicht, aber schon anstrengend, ebenso wie die weniger steilen Passagen. Immer wieder hielt der Jäger an und schnaufte für einen Moment durch. Seine Gefährten hatte er zuletzt vor etwa einem Viertelmaß gesehen, auf einer Bergwiese. Seine Gefährten und den Schnösel…
Irgendwie war er sogar dankbar für die Mühsal, die ihn ein wenig von seinen Gefühlen ablenkte. Jodokus hatte ihn sein Fernrohr geliehen?! Tuvok wusste nicht recht, ob er die Leihgabe in den Abgrund schleudern oder als Zeichen der Versöhnung ansehen sollte. Besonders viel hielt er von diesen Dingern nicht. Er hatte gehört, dass sie manchmal in der Sonne blinkten und einen Späher verrieten. Die Vorstellung, das man damit über weite Entfernungen ein Reh oder ein Wildschwein sehen konnte, ganz so, als ob man nur ein paar Schritt entfernt stehen würde, war dem Nivesenblut unheimlich. Irgendein Hesindejünger hatte ihm einmal erklärt, dass es sich dabei nicht um Magie handele, sondern dass ein Glasauge darin wie ein echtes Auge funktioniere. Wie eine Art Berylle oder Augenglas. Nun, Tuvok war stolz auf seine Sehkraft. Irgendwie kam ihm Jodokus Wunderrohr schon wieder wie eine Beleidigung vor.
Egal, er tat sich das hier für Haldana an, für niemanden sonst. Auftraggeber hin oder her. Plötzlich rutschte er auf dem bröckeligen Gestein aus, das feucht war vom Regen der letzten Nacht. Tuvok hielt sich gerade noch an einem Strauch fest. Der Ausflug den Rabenberg hinauf war nicht nur mühselig, er war auch nicht ganz ungefährlich. Einige der Namensgeber kreisten über ihn, als warteten sie nur auf den Fehltritt eines leichtsinnigen Wanderers.
Irgendwann erreichte er den Gipfel - der hellgrau, nicht rabenschwarz und ziemlich flach war. Eine einsame Ziege nahm meckernd Reißaus. Tuvok gönnte sich einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche, genoss den warmen Wind und den Triumph über den Berg. Gen Rahja ragte hügeliges Waldland, dahinter erhoben sich die zerklüfteten Flanken der Trollzacken. Die Kerbe im Wald, das musste die Landstraße nach Neuborn sein. Vorsichtig trippelte er auf dem Felsen in Richtung Flussseite.
Der Ausblick war grandios und entlohnte ihn für seine Mühen. Unter seinen Füßen zeigte sich der Darpat in seiner ganzen Pracht. Von Rommilys her war sein Lauf noch eher gleichförmig. Stromabwärts erinnerte er mehr an eine sumpfige Seenlandschaft, mit zahlreichen Inseln und Sandbänken. Am Ufer grasten Kühe.
Das weiße Flirren da hinten, gen Firun, das mussten die Ochsenwasserfälle sein. Daneben ragten schon die höchsten Dächer von Rommilys auf, der Palast der Markgräfin vermutlich und der Friedenskaiser Yulag-Tempel. Das da drüben war die Natter, umsäumt von dichten Wald. Weit hinter der Nattermündung, tief im Westen, war eine große Burg oder Festung zu erahnen, wie hieß sie noch gleich? Ah, der Hohenstein. Hier und dort waren Dörfer und Gehöfte zu sehen.
Er arbeitete sich noch ein Stück weit über die Felsen Richtung Süden vor. Alles war uneben und schrundig, hie und da wuchs ein windschiefes Nadelbäumchen, oder ein Strauch. Irgendwo in der Nähe bimmelte eine Glocke, gefolgt von einem kräftigen "Määääh".
Ah, der Felsvorsprung dort vorne war als Aussichtsplattform noch besser geeignet. Nun sah er die Nattermündung in voller Pracht, daneben ein kleines Dorf, mit Stegen und Booten. Eine Barke kam den Darpat herunter, angetrieben von Rudern. War das die "Flusshexe"? Nein, die sollte ja ein Einmaster sein.
Ein großer Bergadler drehte seine Runden, oben im Reich der Wolken. Nun reizte es Tuvok doch, Jodokus Zauberglas auszuprobieren. Er nahm das zusammengeschobene Rohr aus der Schutzhülle, zog es auseinander und blickte blinzelnd hinein.
Einen Moment lang war er verwirrt, ob des dritten Auges.
Weiße Wölkchen wechselten sich ab mit Himmelblau. Kein Adler. Grell blendete ihn die Sonne. Er kniff die ohnehin schmalen Augen zusammen. Nein, dieses Ding war nicht firunsgefällig. Wahrscheinlich sogar unwaidmännisch. Oder stellte er sich einfach nur ungeschickt an? Er versuchte eine Landmarke zu finden, an der er sich orientieren konnte.
Er probierte es mit der Mündung der Natter. Ah, schon besser. Ein großer Baumstamm lag im Wasser, zwei Fischreiher stolzierten im seichten Uferwasser umher. Der König der Lüfte, wo war er? Dort oben. Tuvok blickte über das Rohr, versuchte den Abstand zu schätzen und das Fernglas entsprechend auszurichten. Statt dem Raubvogel sah er jetzt die Barke in voller Pracht. Sie steuerte geradewegs das kleine Dörfchen am anderen Flussufer an.
Er hielt das Fernrohr zu tief. Der Adler? Ah, da war er wieder. Ein herrliches dunkelbraunes Tier, mit hellen Flügelspitzen. Ein älteres Männchen. Sicher mehr als zwei Schritt Flügelspannweite. Tuvok erschauerte. Doch der stolze Aar duldete es nicht, beobachtet zu werden. Er flog tiefer, drehte ab und verschwand hinter einem Felsen.
Tuvok seufzte. Er wagte sich bis an den äußersten Rand der Klippe, setzte das Fernrohr aber lieber ab. Besser, er hielt sich mit einer Hand an einem der großen Felsbrocken fest, die hier locker herumlagen. Da unten war der Treidelpfad, der eng am Steilhang entlang führte. Einige bange Herzschläge lang befiel dem wackeren Jäger Schwindel und ein Hauch von Höhenangst. Kleine Steinchen klackerten und rieselten unter seinen Stiefeln nach unten. Tatsächlich waren fast genau unter seinen Füßen mehrere große Felsplatten herabgestürzt und hatten einen größeren Steinschlag ausgelöst. Der Treidelweg war völlig verschüttet. Gut, dass seine Gefährten den Umweg genommen hatten, spätestens hier wäre ihr Ritt zu Ende gewesen.
Der Hangrutsch sah ein wenig merkwürdig aus. Dort, wo er begonnen hatte, war vor kurzem noch ein Stein am Felsrand gelegen. Die Stelle dort war trocken, die Umgebung nass. Das Moos auf den Nachbarsteinen war teilweise weggekratzt. Irgendetwas hatte die grabsteingroße Platte den Abhang hinunter befördert. Irgendjemand? Sumus Kraft allein hatte ihn jedenfalls nicht bewegt.
Stromaufwärts näherte sich nun ein weiterer Kahn, diesmal mit stolzgeschwelltem Segel, mit blauem Banner. Das kleine Schiff schien gerade die Flussseite zu wechseln, von West nach Ost. Einen Augenblick lang glaubte er, es wäre sein Adler, der dem Einmaster voran flog, aber was da durch die Lüfte schwebte, war merkwürdiger.
Nun war Tuvok doch froh, das Fernrohr dabei zu haben. Der Jäger kam sich vor wie ein Besucher dieser merkwürdigen horasischen Erfindung, von der ihm Haldana einmal erzählt hatte. "Vinsalter Oper" nannte sich das Theater, wo ebenso gesungen wie geschauspielert wurden - und hochrangige Gäste sogar über kleine Ferngläser verfügten, mit dem sie das Geschehen hautnah verfolgen konnten.
Der Firunsgeselle versuchte den falschen Adler vors Glasauge zu bekommen. Im nächsten Moment sah er die bleiche Frau, die auf einem Besen reitend das Schiff durch die Strömung zog: Eine dunkelhaarige Frau mit Hörnerhaube, wehenden Haaren und schwarzen Gewändern. Sie war schön, aber auch schrecklich anzuschauen - wie eine Todesfee. Erschrocken prallte Tuvok zurück und ging hinter einer Krüppelkiefer in Deckung. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Weißer Jäger, steh mir bei!
Es dauerte eine Weile, bis Tuvok sich klar gemacht hatte, dass nur er die Hexe derart nah sehen konnte, und nicht etwa umgekehrt sie ihn. Zumindest hoffte er das. Die Zauberin zog das Schiff an einer Leine durch den Fluss, eindeutig. In diesem Moment ließ sie das Seil los und schwirrte auf das Trollzacker Ufer zu. Was für ein widernatürlicher Anblick.
Tuvok verbarg sich im Schatten einer Krüppelkiefer. Das musste Sisa Brundel sein, ihre Gegenspielerin. Sie steuerte geradewegs den Bergwald an, drehte einige Kreise und war irgendwann verschwunden.
Mit zitternden Händen nahm der Jäger wieder das Schiff unter Beobachtung. Zwei Männer standen an Deck, ein älterer Herr und ein junger Geck, mit merkwürdig schiefem Hals, beide in vornehmer Gewandung. Adelige? Gut möglich. Der Jüngere, ein schwarzgelockter, irgendwie elfisch aussehender Bursche trug ein Rapier.
Eine dritte Person wurde gerade gepackt, offenbar von den Flussschiffern und unter Deck gezerrt. Eine junge Frau? Tuvok sah die Szene nur verwackelt, aber die Frisur war irgendwie merkwürdig gewesen. Auf der einen Seite war das blonde Haar lang und lockig, auf der anderen Seite kurz geschoren. Haldana?! Tuvoks Schrecken wich freudiger Überraschung. Sie lebte also noch, dem Heiligen Alwin sei Dank.
Auf dem Schiff tat sich allerdings nicht mehr allzu viel. Die Matrosen griffen zu Stakstangen, um ihren Kahn auf dem Weg zum Ostufer zu helfen, durch seichteres Wasser hindurch. Einer drückte einen herantreibenden Baumstamm beiseite.
Die beiden Adeligen nahmen auf Stühlen am Bug Platz und ließen sich auftischen, unter einem Sonnensegel. Das musste die Flusshexe sei.
Tuvoks "Auge" irrte umher. Das Fernglas streifte einen Fischer, der in Ufernähe aus seinem Boot gefallen war, sich an der Bordwand festklammerte und langsam abgetrieben wurde. Offenbar hatte dem Augenzeugen der Anblick der "Zughexe" kaum weniger erschrocken als Tuvok, verständlicherweise. Der Jäger hätte ihm gerne geholfen, war aber eindeutig zu weit weg. Wo wollte die Flusshexe hin? Da vorne, an der Nattermündung, ragte ein Fachwerkhaus auf, und mehrere Nebengebäude. Die Treidelstation. Es würde sicher noch eine Weile dauern, bis zum Festmachen, schätzungsweise ein halbes Wassermaß. Trotz günstigem Wind kam das Schiff kaum voran. Am Ufer erstreckte sich der sumpfige Auenwald, vor dem Rovik gewarnt hatte.
Tuvok huschte auf die andere Seite des Gipfels und nahm die Stelle noch einmal genauer ins Visier, wo Sisa Brundel verschwunden war. Das war nahe der Landstraße. Womöglich hatten seine Gefährten die Spukgestalt ebenfalls gesehen. Wenn sie den Rabenberg umgehen wollten, mussten sie ungefähr dort vorbeikommen. Was war das? Über den Bäumen stieg eine zarte Rauchfahne auf.
Ein Lager im Wald?
***
"Gleich der Gänseschar - ziehen wir zu Dir
Groß ist die Gemeinschaft - Güte bist Du.
Wir sind friedfertig - bescheiden und fromm.
Große Barmherzigkeit - Treue bist Du.
Fürsorge nehmen - Mitleid geben wir.
Warm ist dein Herdfeuer - Heimat bist du.
Schau auf die Unsren - sie bleiben daheim.
Schenk ihnen Zuversicht - Freundschaft bist du."
Bevor Gerrich Haldana wieder nach unten in die Kabine brachte, blickte Haldana auf die singenden Traviapilger, die im Gänsemarsch nahten, von einem großen Lagerfeuer her, dass sie vor dem Treidelhof entfacht hatten. Ein jeder hielt eine kleine Kerze in Händen, die er (oder sie) sorgfältig mit der Hand abschirmte. Auch die "Flusshexe" war festlich beleuchtet, und hatte fast jede Laterne gesetzt, die sich an Bord befand. So kam es der jungen Adeligen wenigstens vor. Sie musste zugeben, dass an Deck eine feierliche Atmosphäre herrschte. Im kleinen Hafenort an der Natternmündung blinkten ebenfalls Lampen. Der Lichterschein spiegelte sich geheimnisvoll im Darpatwasser. Haldana seufzte. Die Stimmung hätte sogar gepasst, nur ihr Bräutigam behagte ihr nicht im Mindesten.
Die Pilger - vier Männer und drei Frauen verschiedenen Alters - kamen an Bord. Der Tracht nach waren es einfache Bauern, die ihre Festtagsgewandung angelegt hatten. Die tiefe Frömmigkeit dieser Menschen rührte Haldana. Ebenso wie es sie erboste, dass ihre Gutgläubigkeit an diesem Abend schamlos hinters Licht geführt werden sollte.
Ihr Anführer war ein Mann mittleren Alters, mit Topffrisur und einem Viertage-Bart, der eine gelborange Kutte und darüber einen einfachen, erdfarbenen Mantel trug. Seine Kappe mit Gänsefeder wirkte bäuerlich, fast schon ein klein wenig lächerlich. In der Rechten hielt er einen einfachen Wanderstab.
Haldana bemerkte, dass der etwas streng riechende Bursche kein echter Geweihter war: Seinen Mantel zierte eine einfache Spange in Gänseform, aus Bronze. Bei einem echten Priester hätte die Spange aus Silber sein müssen. "Travienlieb" nannte man die vielen darpatischen Laienbrüder und - Schwestern, die nur die minderen Weihen empfangen hatten. Die Braut fragte sich, ob dieser Umstand nun gut oder schlecht für sie war. Einen Geweihten hätte Gerrich sicherlich nicht so leicht getäuscht. Andererseits, nach ihrem Rechtsverständnis musste ein Kleriker schon die höheren Weihen empfangen haben, um einen Traviabund stiften zu dürfen.
Der Mann sah gütig und freundlich aus - aber nicht unbedingt wie jemand, der mit Adelsränken und Magierintrigen vertraut war. Sein Lächeln war derart echt, herzensgut und wahrhaftig, dass es Haldana schon wieder beunruhigte.
Der Travienlieb verneigte sich in Richtung der Adeligen und des Kapitäns. "Mein Name ist Travienlieb Dormarian vom Glaukenfall", sagte er und senkte bescheiden den Blick. "Möge Mutter Travia Euch auf all Euren Wegen behüten. Seit dem letzten Götterlauf darf ich der Familie der Gläubigen dienen, als Akoluth. Es freut mich, dass Ihr Euch einig geworden seid, was den Ehevertrag betrifft." Dormarian wirkte ein wenig verlegen, und lüpfte seinen Hut. Nun merkte er, dass er beide Hände voll hatte. Er stellte seinen Stab an die Bordwand, wo mehrere Stakstangen lagen.
Gerrich bot Haldana den Arm an, als wäre er der glückliche Schwiegervater, und geleitete sie unter Deck. "Bitte keine weiteren Dummheiten mehr, meine Liebe, irgendwelche Fluchtversuche und dergleichen. Übrigens, Sisa hat diese Trollzacker längst entdeckt. Sie lagern im Wald, am Rand der Straße nach Neuborn. Der zerstörte Knüppeldamm, das ist Sisas Werk. Eure Gefährten werden den Barbaren geradewegs in die Arme laufen, sollten sie den Umweg zur Treidelstation nehmen. Ach ja, übrigens, die Wilden stehen in meinen Diensten. Sisa kann sehr überzeugend sein, als große Schamanin, die durch die Lüfte fliegt. Die Bande war leicht zu kaufen. Es sind gewöhnliche Räuber, Totschläger und Mordbrenner, selbst für die Verhältnisse dieser blutrünstigen Trollmenschen. Nun liegt es an Euch. Eure Gefährten könnten erschlagen oder grausam zu Tode gemartert werden. Ich meine, wirklich grausam zu Tode gemartert. Vielleicht werden sie aber auch nur gefangen genommen. Und erhalten von mir ein Angebot, dass sie nicht ablehnen können. Irgendjemand muss schließlich ein paar Fässer in die Brauerei schaffen, während der Rest nach Perricum gebracht wird. Wo Tlalucs Brodem seinen Siegeszug um halb Aventurien antreten wird. Wie gefällt Euch mein Plan? Ein wenig improvisiert, aber ich finde, dafür ist er gar nicht so schlecht."
Die Bardin wollte sich wehklagend losreißen, aber Gerrichs Griff wurde fester. Er zückte ein Stilett und packte sie grob am Haarschopf.
"Nicht so zappelig, liebste Schwiegerenkelin. Ich denke, eine Haarsträhne wird genügen, damit Jodokus weiß, was ich mit dir mache, wenn er mir nicht endlich gehorcht. Du wiederum wirst nachher bei der Hochzeitszeremonie mitspielen, ohne viel Gestammel und Herumgezicke – oder du bekommst von mir die abgehackten Köpfe deiner Freunde als Aussteuer! Zwing mich nicht dazu, dir Gehorsam beizubringen. Morgen werden wir dann gemeinsam in Kurgansberg feiern. Es liegt an dir, in welcher Stimmung das sein wird."
Gerrich schob Haldana in die kleine Kammer, schloss die Tür und legte den Riegel vor. Haldana seufzte. Sofern man den Laut, der ihrer Kehle entrang, als Seufzen erkennen konnte. Bei Firun, dem Herrn der Sichelberge, sie musste ihre Stimme wieder bekommen. Hatte Gerrich geblufft, dass der Fluch, der sie erstummen ließ, eigens aufgehoben werden musste? Oder wurde der Fluch nur heimlich immer wieder erneuert? Würde die Sprachlosigkeit, sofern eine Flucht gelänge, von selbst nachlassen? Haldana wusste es nicht. Aber eines wusste sie. Eine Eheschließung zu widerrufen wäre später ein Leichtes. Jedenfalls rein rechtlich betrachtet. Nicht allein, dass jeder Vertrag, der unter Zwang zustande kam, nichtig war. So gut kannte sich Haldana in der Rechtskunde aus, auch wenn sie die Juristerei nicht studiert hatte. Schwierig mochte hierbei natürlich die Beweisführung sein. Auch Gerrichs Einschätzung, dass ein Kapitän eines Flussschiffes eine rechtsgültige Trauung durchführen konnte, war mehr als anzuzweifeln. Dieses Kapitänsprivileg galt auf See, wenn kein Geweihter der Traviakirche oder ein anderer Geweihter zugegen war. Aber auf dem Darpat, eine halbe Tagesreise von Rommilys entfernt sich auf die Nichterreichbarkeit eines Priesters zu berufen… mit gewagt konnte man das schon gar nicht mehr bezeichnen. Rein rechtlich betrachtet jedenfalls wäre die Ehe nicht mehr wert als der Fetzen Pergament, auf dem dieser Gerrich den Ehevertrag aufsetzen wollte. Und nicht zuletzt, wie bei manchen Adelshäusern üblich, galt es hierbei auch noch familienrechtliche Vorschriften zu beachten. Dinge, von denen Gerrich offenbar nichts wusste. Und das war auch besser so. Sie würde Gerrich jedenfalls nicht sagen, warum jeder Ehevertrag, so wie der unheimliche Magus ihn aufsetzte, mit einer echten Binsböckel nichtig war. Nein, vor der Rechtsgültigkeit einer Ehe brauchte Sie nichts zu fürchten. Mehr Sorgen sollte sie sich darum machen, ob sie Gelegenheit bekäme, die Eheschließung anzufechten. Das größere Problem war, frei zu kommen. Auch eine Anfechtung der Ehe gelänge ja nur, wenn sie frei das Wort führen könnte. Und so wie Haldana das einschätzte war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass sie nach der Ehe keine Gefangene mehr wäre.
Nun, jetzt, am helllichten Tag zu fliehen, da Gerrich vorgewarnt war und die Flusshexe sicher bewacht wurde, wäre aussichtslos. Die Fluchtpläne musste sie wohl oder übel aufschieben. Wichtiger war es, ihre Stimme wieder zu erlangen. Und ihren Rapier. Und in den Ehevertrag würde sie, trotz ihrer Gefangenschaft, die für sie bestmöglichen Bedingungen hinein verhandeln. So würde sie darauf bestehen, dass sie das Baronsamt von Schlotz (ebenso wie von Friedwang, dessen Erbe Golo ja beanspruchte) ausüben sollte. Eines war ihr klar: Sie konnte nur vor Setzung ihrer Unterschrift Bedingungen stellen. Und damit auch Zeit zu gewinnen, um eine Flucht vorzubereiten oder auch auf Befreiung durch ihre Gefährten zu hoffen. Nein, letzteres wagte sie nicht zu hoffen, Woher sollten sie denn wissen, wohin Haldana verschleppt wurde.
***
Die Tür öffnete sich wieder, und eine dicke, blonde, kurzgeschorene Matrosin brachte ein Kleiderbündel herein. Achtlos warf sie dieses auf die Pritsche. „Ausziehen!“ kommandierte sie und stemmte die Arme in die Hüften, um die ein Gürtel geschlungen war, in dem sich ein halbes Dutzend Messer befanden.
Mit einem herablassenden Blick würdigte Haldana die Matrosin und machte eine wegwerfende Geste. Es war schlimm genug, Gerrichs Gefangene zu sein. Aber gegenüber den Matrosen hatte sie nicht vor, zur unterwürfigen Befehlsempfängerin zu enden. Als Verlobte des Enkel des Schiffseigners, die sie ja wohl war, musste sie sich das vom Personal der Schwiegerleute nicht gefallen lassen.
„Aufs Maul, oder?“ entgegnete die üppige Matrone. „Na wirds bald, runter mit den schmutzigen Fetzen. Golo will eine hübsche Braut und keine Gassenhure.“ Sie sah Haldana abschätzend an. Fast doppelt so schwer wie die Adelsdame, der sie gegenüberstand, schätzte sie sich dieser als überlegen ein. Mit einem Mal verspürte sie Lust, eine Prügelei zu beginnen. Haldana deutete den Gesichtsausdruck der Dicken richtig. Daraus mochte sich wohl ein Vorteil schlagen lassen. Ihrerseits hielt sich Haldana für schneller und gewandter, als die doppelt so alte und schwere Flussschifferin. Und wenn diese wütend war, war sie sicher unvorsichtig. Jedenfalls machte Haldana keine Anstalten, dem Befehl der Dicken nachzukommen. Mit einem herablassenden Winken komplimentierte sie die Matrosin nach draußen. Natürlich blieb diese. „Nu mach schon. Oder könnt ihr Adelsdamen Euch noch nicht einmal alleine Ausziehen? Na da wird dir Golo schon noch helfen und dein fettes Hinterteil freilegen.“
`Möchte mal wissen, wer hier einen fetten Hintern hat` schien Haldanas Blick zu sagen. Was gäbe sie darum, die Matrosin mit wohlgesetzten Worten weiter provozieren zu können. Leider war ihr das nicht möglich. Da blieb wohl nur, der Dicken ins Gesicht zu spucken.
Die erwünschte Reaktion blieb nicht aus. Mit einem wütenden Schrei stürzte sich die Dicke nach vorne. Die Schlotzerin sprang zur Seite, auf das Bett, und ließ den Angriff ins Leere laufen. Haldana sprang wieder runter vom Bett und trat ihrer Gegnerin in den Hintern. Das tat dieser zwar nicht weh, reizte sie aber umso mehr. Wütend drehte sie sich um und teilte einen mächtigen rechten Schwinger aus.
Haldana, die genau darauf gewartet hatte, tauchte unter dem Fausthieb weg und stieß die Matrosin, ihren Schwung ausnutzend, vorwärts. Nicht ohne dieser zugleich ein Bein zu stellen und zu Fall zu bringen. Verdutzt fand sich die Matrosin mit dem Gesicht nach unten auf den Dielenbrettern liegend wieder. Ein schmerzerfüllter Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie merkte, wie ihr der Arm verdreht und nach oben gebogen wurde. Verdammt, aus dieser Position hatte sie keine Kraft und konnte dem Druck dieses Adelspüppchens nichts entgegen setzen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Schulter. Erneut schrie sie auf. Haldana nutzte die Gunst des Augenblicks, um ein Messer aus dem Gürtel der Dicken zu ziehen, und unter das Bett zu schleudern.
Von draußen her hörte Haldana Schritte. Der Kampfeslärm hatte weitere Matrosen angelockt. Haldana stand rasch auf, als der vorderste die Kammer betrat. Rasch wechselte Haldana von der eben noch aggressiven Kämpferin zur beherrschten Adeligen. Sie setzte ein unschuldiges Lächeln auf und deutete den Matrosen, dass sie sich allein umziehen wolle.
Mühsam rappelte die Dicke sich auf, sich nur auf den linken Arm stützend. Der rechte Arm hing schlaff und mit ausgekugelter Schulter herab.
Etwas verwirrt blickte der vorderste Matrose auf sie Szenerie, wohl unschlüssig, ob er der verletzten Kameradin helfen sollte oder es besser nicht wagen durfte, die Adelige anzufassen. Immerhin war sie die Braut Golos, mithin niemand, an der er sich vergreifen sollte. Also halfen die Matrosen ihrer gestürzten Kameradin und verriegelten die Tür von außen.
Haldana schnürte das Kleiderbündel auf um nachzusehen, was man ihr da gebracht hatte. Schuhe. Schöne, schwarze, halbhohe Lederstiefeletten. Keine zu hohen Absätze. Schuhe, mit denen man laufen konnte. Auch wegrennen. Aber auf ihre Weise sehr hübsch. Also zog sie sich um. Als erstes zog sie die Schuhe an. Die Schuhe passten wirklich gut, ein freudiger Zufall. Langsam band sie die Schnürsenkel fest und zog sie stramm. Das Messer in der Lederscheide, das sie im Kampf der Dicken vom Gürtel genommen und mit rascher Bewegung unter das Bett geschleudert hatte, bevor die anderen Matrosen gekommen waren, band sie auf die Innenseite des rechten Stiefels in die Schnürung ein. Haldana lächelte. Nur wegen des Messers hatte sie sich auf die Schlägerei mit der schmutzigen Dicken eingelassen. Nun hatte sie einen Trumpf in der Hand. Keinen, den sie wieder leichtfertig ausspielen würde, sondern den sie für den geeigneten Moment verborgen halten würde.
Das Mieder war auch in etwa ihre Größe. Etwas zu tief ausgeschnitten für ihren Geschmack. In der Sichel würde man mit einem solchen Ausschnitt nicht vor den Traviaaltar treten. Nun, dort würde man auch eher in Sichler Tracht heiraten und nicht in städtischer Klöppelkunst. Sonst aber nicht schlecht. Allerdings schnürte Haldana das Mieder nicht so eng, wie es möglich gewesen wäre. Sie musste nicht so schlank aussehen, dass Golo ihre Taille mit den Händen umfassen konnte. Sie musste atmen können. Außerdem, wie sie gehört hatte, stand Golo ohnehin eigentlich auf Männer. Kein Wunder, dass er in Friedwang nicht zum Thronerben geworden war. Derart elfische Sitten hätte das Volk auf dem Thron einer Schwarzsichler Baronie kaum geduldet. Ihr immerhin war das nur Recht. Dann würde dieser hagere Schiefhals, vor dem sie sich ein gutes Stück ekelte, ihr wenigstens nicht zu oft zu nahe kommen wollen.
Dann das Kleid. Knöchellang, wie Haldana zufrieden feststellte. Nicht nur, dass das Mieder schon freizügig genug war und die Blicke der ungehobelten Matrosen auf sich zog, was sie ohnehin störte. So war jedenfalls auch sicher, dass das Messer in ihrer Stiefelette nicht auffiel, sondern schön unter dem Kleid verborgen war. Diese Überraschung wollte sie unbedingt für sich behalten. Nun… ein eleganter, leichter Stoff. Bei einer Flucht durch schweres Gelände würde sicher nicht viel vom Kleid übrig bleiben, das war klar. Aber immerhin war es leicht und Haldana blieb beweglich.
Fertig gekleidet klopfte Haldana an die Zellentür.
Ein Matrose öffnete der Bardin die Tür. Dem einfachen Mann blieb der Mund offen stehen, als er die eben noch schmutzig und zerrissen gekleidete Sichlerin in herrlichem blütenweißen Kleid vor sich stehen sah. Haldana lächelte den Mann freundlich an und hakte sich bei ihm unter. Wenn sie schon die Rolle der Braut spielen sollte, dann richtig. Nebenher konnte es nicht schaden, wenn der eine oder andere Matrose sie als Braut des Erben des Schiffseigners, ihres adeligen Standes oder aufgrund ihres Charmes einer Vorgesetzten gleich achtete. Ein wenig zu sehr den Arm des Matrosen als Stütze gebrauchend ließ sie sich an Deck geleiten. Dankbar lächelte Haldana den jungen Flussschiffer an.
„Ah, die Braut“ lächelte Gerrich, ebenso würdevoll und erhob sich von dem an Deck bereit gestellten Tisch, der mit Schnitzereien und Intarsien verziert war. Wohl der Schreibtisch aus der Kapitänskajüte, dachte Haldana. Zwei Ausfertigungen eines aufgesetzten Vertragsdokumentes lagen auf dem Tisch bereit, zwei Polsterstühle standen davor. Der alte Friedwange erhob sich und wies mit der Hand, Haldana möge sich auf den bereit gestellten Stuhl setzen. Stuhl. Nicht Holzschemel, wie zuvor.
Kurz sah Haldana sich um. Kapitan Flarion Silbertaler stand in seiner adretten Seemannsuniform an Deck, Mehrere Matrosen ebenso. Und eine Gruppe Traviapilger mit einem Geweihten. Also keine Kapitänsehe, die ohne weiteres anfechtbar gewesen wäre auf diesem Flusskahn. So leicht würde es also nicht sein, diesen Ehevertrag später anzufechten. Nicht unmöglich, aufgrund der Zwangslage und des Familienrechts, aber ein offensichtlicher Formfehler, der auch ohne großen Gerichtsprozess eindeutig gewesen wäre, läge dann nicht vor.
Schade.
Andererseits, dachte Haldana. Vor dem Traviageweihten und den Pilgern würde Gerrich die Form wahren müssen. Er konnte nicht einfach so über sie hinweg gehen oder ihre Wünsche missachten, solange die Geweihtenschaft an Bord war. Und, so hatte sie erfahren, kostete es Gerrich viel seiner magischen Kraft, sein durch Pakt verunstaltetes Aussehen menschlich aussehen zu lassen. Je länger das Ganze also dauerte, umso besser.
Wenn sie nur reden könnte. Haldana holte tief Luft. Einen leise brummenden Ton stieß die Bardin aus. Sie konnte reden. Haldana war überrascht. Aber nur kurz. Eine stumme Braut in Gegenwart von Traviapredigern, das hätte vermutlich Schwierigkeiten gegeben. Gerrich baute darauf, dass die Drohung, ihre Kampfgefährten zu erschlagen, sowie die waffenstarrenden Matrosen an Bord, die auf den Befehl des Friedwangen hörten, ihren Eindruck machten.
Haldana machte sich da keine Illusionen. Klar, sie könnte jetzt die Wanderpriester um Hilfe anflehen. Aber dann würde Gerrich den Priester und seine Gefolgsleute einfach erschlagen lassen und es später so aussehen lassen, als wären sie unter die Räuber gefallen. An Bord gab es keine Zeugen außer den Matrosen, und so schnell würde auch niemand einen Wanderprediger vermissen. Nein, sie musste es schlauer anstellen.
„Huh, Gerrich, mein lieber Schwiegergroßvater. Das tut gut, wieder richtig reden zu können. Bei der Herrin Travia, warum die Eile. Du hattest eine Hochzeit in Rommilys versprochen. Mit einem Ball und Musikanten und Tanz, und mit einem Hochzeitskuchen feinster Vinsalter Art. Und nun einfach auf dem Schiffsdeck? Was ist los, Gerrich?“ Bewusst ließ Haldana ihre Stimme schwärmerisch und verträumt klingen. Wie die eines kleinen Mädchens, das sich auf die Hochzeit mit einem Prinzen freute. Hätte Gerrich es nicht anders gewusst, er hätte glauben können, die Sichlerin freue sich auf die Hochzeit und wäre nur über die Umstände enttäuscht. Aber als Bardin verstand es Haldana natürlich, ihrer Stimme den gewünschten Tonfall zu verleihen. Bewusst redete sich auch Garethi und nicht im Dialekt. Es war wichtig, dass sowohl Kapitän wie Geweihter sie verstanden. Wenn Gerrich die Form wahren wollte, musste er auf sie eingehen, soweit sie keine völlig absurden Anliegen äußern würde. Haldana baute darauf, dass ein Traviageweihter keine Hochzeit durchführen würde, wenn es zu einem offenen Streit käme. Und sie wusste, dass Gerrich es nicht darauf ankommen lassen würde. Jedenfalls nicht, wenn es nicht notwendig war.
„Nun, liebes Kind… natürlich. Das Fest holen wir nach. In Rommilys. Leider, du weißt, dieser eifersüchtige Verfolger von Dir. Ich fürchte, er wird erst dann ablassen von seinem Streben, wenn die Hochzeit vollendet ist. Es tut mir selber leid, dass wir das nicht zusammen mit dem Fest machen können. Aber es ist zu Deinem Schutz, mein liebes Kind. Nun unterschreib den Ehevertrag, Haldana. Damit nichts Schlimmes mehr passiert. Denk an diesen Jodokus und seine Leute.“
Nun, so leicht war Gerrich nicht zu provozieren. Gut pariert, dachte Haldana. Unauffällige Erinnerung an das, was ihren Gefährten drohen könnte. Dennoch, Gerrich, dachte die Sichlerin. Du magst mir in der Magie und der Anzahl Deiner bewaffneten überlegen sein. In Wortgewandtheit aber bin ich Dir über.
Laut seufzte Haldana wie ein trauriges, unreifes Mädchen. Dann griff sie nach dem Ehevertrag, mit gespieltem Interesse. Rasch überflog sie die Zeilen. Ein Knebelvertrag, der alle Rechte Golo zugestand und die Pflichten nur ihr aufband. Das war ja auch nicht anders zu erwarten gewesen. Schon griff Haldana in Richtung der Feder, zog dann aber die Hand zurück. „Lieber Schwiegervater. Ich darf doch Schwiegervater sagen, Schwiegergroßvater hört sich so seltsam an.“ Eine Pause.
„Natürlich, mein Kind. Schwiegervater hört sich gut an. Nun unterschreib.“ Ein Anflug von Ungeduld offenbarte sich dem aufmerksamen Zuhörer.
„Natürlich. Aber...“ begann Haldana mit kindlich-naiver Stimme. „fehlt da nicht eine Abschrift? Eine für mich und meine Familie und eine für Golo. Aber die Durchschrift für den Tempel fehlt doch, oder?“
Da hatte Haldana unzweifelhaft Recht. Bei Eheverträgen wurde eine Abschrift dem Tempel übergeben. Das hatte Gerrich in seinem rasch improvisierten Plan nach Haldanas Gefangennahme übersehen. Es war auch nicht Gerrichs Angewohnheit, an die Belange der Traviakirche zu denken.
„Natürlich. Wie nachlässig von mir. Flarion, sei so gut, schreib das Ganze noch einmal ab. Pergament findest du in der Schublade. Und lass es, wie die anderen, gleich von Golo unterschreiben.“
Flarion war sicher des Lesens und Schreibens mächtig. Aber er war nicht der Gewandteste. So dauerte es gut einen Viertel Stundenschlag, bis das dritte Pergament bereit lag. Zeit, die Haldana nutzte, um emsig darauf los zu schwätzen und ein paar freundliche und traviagläubige Worte mit dem Geweihten zu wechseln. Auch das konnte Gerrich nicht unterbinden, wenn er in seiner Rolle als gütiger Schwiegervater bleiben wollte. Der finstere Friedwange blieb äußerlich ruhig und gelassen sitzen. Nur seine Augen bewegten sich unruhig und verrieten Haldana sein Unbehagen.
Wieder griff Haldana nach der Feder. Dann hielt sie jedoch inne. „Ach, Gerrich, lieber Schwiegervater“ begann sie und legte die Feder wieder weg. „Das solltest du noch wissen. Deine Matrosen scheinen Dich nicht ernst zu nehmen. Sie missachten Deine Befehle. Diese Dicke, die mir das Kleid bringen sollte… Was auch immer in sie gefahren sein mag, sie nutzte meine Stimmlosigkeit, mir übelste Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Sie nannte mich… ich mag das vulgäre Wort gar nicht wiederholen...“
„Jaja. Die Matrosen sind einfaches Volk. Aber ich habe ja erfahren, dass Du Mimm gezüchtigt hast. Hast ihr die Schulter ausgerenkt. Gestraft ist sie dann ja wohl. Sie wird es verdient haben“ wollte Gerrich die Angelegenheit abbügeln.
„Du sollst aber wissen, was sie, nun, sie hieß mich einer dieser käuflichen Damen gleich, die am Straßenrand stehen. Nun genieße ich deine Gastfreundschaft und diese Mimm, so heißt sie wohl, entehrt Dich, in dem sie deine Gäste beleidigt. Das kannst du nicht auf dir sitzen lassen. Du musst ihr kündigen.“
Gerrich ließ sich seine Verärgerung über die erneute Verzögerung nicht anmerken. Kurz dachte er nach. Mimm war nicht wichtig. Eine ersetzbare Matrosin. Flarion würde eine andere anwerben, und wenn Mimm jetzt von Bord ging, dann hätte er zudem fast einen halben Monat keine Matrosenheuer zu bezahlen. Es kostete ihn nichts, hier dem Begehren Haldanas nachzugeben. Natürlich hatte er den Eindruck, dass es Haldana wohl am meisten darum ging, Zeit zu schinden. Die Sichlerin gab sich wohl der frommen Hoffnung auf Rettung durch ihre Gefährten hin. Nun, dieser Einwand ließ sich jedenfalls am einfachsten abwenden, indem Mimm einfach tatsächlich entlassen wurde. Eine halbe Monatsheuer sparen konnte man ja auch nicht jeden Tag.
Gerrich gab Flarion einen Wink. „Sag Mimm, dass sie entlassen ist. Sie soll ihren Seesack packen und gehen.“ brummte Gerrich mit einem erkennbaren Anflug von Missmut. Flarion nickte und salutierte.
„Jetzt ist aber genug geredet. Wir wollen nachher noch feiern. Der Schiffskoch hat ein erlesenes Mahl vorbereitet. Lass uns den Schriftkram jetzt nicht unnötig ausdehnen.“ ließ sich Gerrich mit sanfter Bestimmtheit vernehmen. Haldana frohlockte innerlich. Jetzt lief sie nicht mehr Gefahr, dass Mimm den Verlust ihres Messers bemerkte. Außerdem würde keiner der Matrosen ihr noch aus einer Laune heraus blöd kommen, da jeder wusste, dass sein Broterwerb auf dem Spiel stehen könnte.
„Ja, natürlich“ sagte Haldana und griff wieder nach der Feder. Mit ausgiebig gezeigter Verspieltheit fuhr sie sich mit der Feder über die Wange, was herrlich kitzelte. „Wo sind eigentlich die Ringe?“ fragte sie, einer Eingebung folgend. Wieder eine kleine Verzögerung. „Golo hat mir einen 20karätigen Goldring versprochen. Mit einem Rubin, der Farbe der Herrin Travia.“ Ganz bewusst mimte Haldana in Gegenwart des Geweihten das traviafromme Mädchen.
Gerrich seufzte. „Ist beim Juwelier in Rommilys. Du bekommst ihn, wenn wir das Fest nachholen. Es ist schließlich nicht unsere Schuld, dass dieser di Barnfani hinter dir her ist. Hättest Du früher ein deutlicheres Nein gesagt, hätten wir jetzt nicht den Ärger.“
Gut, dachte Haldana. Gerrich wird langsam ungeduldig. „Ach so. Und ich dachte schon, das wäre ein leeres Versprechen von Deinem Enkel gewesen. Er hat einfach nicht die gleichen Manieren wie Du, Schwiegervater. Na dann. Dann bekomme ich ihn halt in Rommilys. Aber du hast sicher nichts dagegen, wenn ich das mit dem Ring noch in den Ehevertrag aufnehme.“ Haldana wartete keine Antwort ab, sondern schrieb mit der Feder als zusätzliche Bedingung in den Ehevertrag, dass der Bräutigam der Braut einen 20karätigen Goldring mit Rubin zu übereignen habe. In alle drei Eheverträge. Dabei ließ Haldana sich länger Zeit als nötig, als müsse sie über die Buchstaben und die Schreibweise nachdenken und wäre der Schriftkunst nicht vollends fließend kundig.
„Eine Kette habe ich auch nicht. Was ist denn das für eine Hochzeit.“ maulte Haldana mit kindlicher Stimme.
„Eine Kette hat Golo auch nicht versprochen“ beschied Gerrich, damit Haldana sich nicht noch länger mit Zusatzbedingungen auf dem Vertrag aufhalten konnte.
„Aber wenigstens einen Blumenkranz möchte ich haben. Es wachsen genug Blumen am Ufer. Du, Matrosin, wie heißt Du?“ sprach sie eine schlanke Schifferin mittleren Alters an. „Geh Blumen pflücken.“ beauftragte Haldana sie. Fragend sah diese Kapitän Flarion an.
„Na geh schon“ bestätigte dieser, ehe Gerrich eine Erwiderung einfiel
„Man heiratet schließlich nur einmal, lieber Schwiegervater. Ich möchte, dass das ein unvergesslicher Tag wird.“ Dem konnte Gerrich wenig entgegen setzen. Die Anwesenheit der Travia-Akoluthen verhinderte das. Und, anders als Gerrich, konnte dieser ein Lächeln nicht verbergen und schien gut gelaunt zu sein. So fühlte Haldana sich bestätigt, das Ganze noch ein Weilchen weiter zu betreiben.
„Du solltest Deine Stimme nicht überstrapazieren, nach der Erkältung. Nicht dass sie wieder versagt.“ warf Sisa Brundel mit gespielter Fürsorglichkeit eine Drohung ein.
Einen Moment war Haldana aus dem Konzept gekommen. Das war natürlich nicht gut. So wie sie angefangen hatte, würde der Geweihte von der Ernsthaftigkeit der Ehe ausgehen müssen. Zumindest für den Augenblick. Sie musste unbedingt verhindern, dass der Hexenfluch sie erneut traf. Ohne ihre Stimme war sie noch waffenloser als ohne ihr Rapier. Die Bardin schluckte und nickte.
„Hmm.“ antwortete sie kurz. Dann fasste sie sich wieder. „Aber wir wollen hoffen, dass meine Stimme hält. Sonst kann ich vor dem Altar ja nicht antworten“ gab Haldana zurück. Eine wenig wirksame Drohung, das wusste sie selbst. Ein Nicken und eine Unterschrift wären ihr schließlich auch ohne Stimme möglich gewesen.
„Aber eines fehlt noch. Auch das war besprochen gewesen. Der Ehename heißt Binsböckel. Nicht Friedwang. Es sticht der Name des stärkeren Hauses.“ Wieder nahm Haldana die Feder in die Hand und ergänzte die entsprechende Passage. Dann fuhr die Feder in ihrer Hand nach unten, auf das Unterschriftsfeld.
Gerrichs Gesicht zitterte. Es stimmte wohl was er zu Golo gesagt hatte. Es kostete ihn viel Kraft, seine Gestalt längere Zeit zu halten.
Die hagere Matrosin eilte zurück auf das Schiff mit einem von selbst gepflückten Blumen gewundenen Kranz. Dankbar lächelte Haldana die Matrosin an und legte die Feder wieder weg. Mit beiden Händen nahm sie den Blumenkranz entgegen und schmückte sich ihre Haare, die die rechte Kopfhälfte zierten. Wieder ließ sie ein paar Minuten verstreichen, in denen sie sich im Spiegel betrachtete. Dann griff sie wieder zur Feder.
„Diese Ortographie“ murmelte Haldana vor sich hin. „Schade, dass es hier keinen richtigen Schreiber gibt. Aber ich bessere das eben aus.“ Mit eiligen Schwüngen korrigierte sie einige Buchstaben, wieder auf allen drei Ausgaben. „Die Monatsnamen schreiben sich mit einer Majuskel beginnend. Nicht mit einem Minuskel.“ kommentierte Haldana erklärend, was sie beanstandete. „Und hier… es heißt Trauung, nicht Drauung.“ Zwischen den Ausbesserungen der einzelnen Buchstaben – Gerrich kontrollierte es nicht, zu sehr war er mit sich und seiner Gestalt beschäftigt – strich sie bei Ehefrau das -frau durch und schrieb -mann, und umgekehrt schrieb sie statt Ehemann Ehefrau. So hatte sie die Rechte und Pflichten der Eheleute glatt vertauscht. Flarion, dem Kapitän, der sich beim Schreiben zuvor arg gemüht hatte würde das nicht auffallen. Gerrich auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt, da er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Sisa Brundel… nun, vermutlich konnte die Hexe gar nicht lesen. Jedenfalls schaute sie auch nicht zu, was Haldana schrieb. Und dem Geweihten wäre das egal, da er den Inhalt des Ehevertrages nicht prüfen sondern nur zu den Akten legen würde. Zuletzt unterschrieb sie die drei Exemplare des inzwischen mit Bemerkungen und Korrekturen versehenen Vertrages, so dass unter den Ausbesserungen der Austausch der Bezeichnungen Ehefrau und Ehemann nicht ins Auge sprang. Auch hier war beim ersten Anblick nicht zu sehen, dass Haldana die im Geschriebenen ähnlich aussehenden Buchstaben -a und -o vertauschte, und den Namen Haldano von Schlatz als Unterschrift unter das Pergament setzte.
„Na dann, bringen wir es hinter uns“ seufzte Haldana, rollte die Pergamente zusammen, und träufelte Siegelwachs auf die drei Rollen – wäre Gerrich ob des langen Prozedere nicht erschöpft gewesen, er hätte es wohl selbst gemacht. Eine Abschrift gab Haldana dann dem Geweihten. Die zweite steckte sie sich in ihr Mieder. Die dritte Rolle – die für Golo – schob sie in die Schublade. Den Inhalt des – abgeänderten – Ehevertrags würde Golo also erst dann erfahren, wenn er sein Exemplar entsiegelt und geöffnet hatte. Vermutlich also nicht so bald.
Efferdwärts neigte sich die Praiosscheibe schon tief über den Horizont.
Dormarian steckte die Kappe an den Gürtel, hob beide Hände und blickte in die Runde. Offenbar sollte das würdevoller aussehen.
"Ich habe lange gebetet und die Gütige Mutter um eine Antwort gebeten, ob sie diesen Traviabund gutheißt." Ein verlegenes Räuspern.
Gerrich, der am Tisch stand, blickt ungeduldig. Es war ihm anzumerken, dass er am liebsten irgendeine gehässige Antwort gegeben hätte, aber er verkniff sie sich. Stattdessen nickte er knapp. Sein freundliches Lächeln war nun wirklich scheinheilig. Golo grinste ebenso schief wie gereizt. Auch bei ihm gab es keinen Zweifel, was er von diesem Bauerntölpel hielt, der von seiner bescheidenen Würde eher überfordert als angespornt wirkte.
"Eigentlich gebührt es einem Geweihten, diesen Heiligen Bund zu schließen" fuhr Dormarian fort, "nach eingehender Prüfung, ob die Braut und der Bräutigam wirklich willens sind, vor den Altar der Travia zu treten."
"Das sind wir, das sind wir durchaus" knurrte Golo, der nun doch die Beherrschung verlor. "Und das schon seit einigen Stunden." Der wütende, fast schon hasserfüllte Blick des Schiefhals galt Haldana.
Der herzensgute Dormarian runzelte nun doch die Stirn.
"Vergesst nicht, dass wir uns hier de jure in einer schweren sittlichen Notlage befinden" sagte Gerrich. "Immerhin werden wir von einer Bande götterloser Schurken verfolgt, die die Braut entführen möchte. Angeführt von einem Lüstling, der, da bin ich mir sicher, vor keiner Schandtat zurückschrecken würde, um die Ehe zu verhindern. Nicht einmal vor einer Entehrung der Braut. Ihr versteht, was ich meine?"
Dormarian nickte, etwas pikiert ob dieser Vorstellung.
"Es handelt sich also gewissermaßen um eine Nottrauung", fügte der Magier mit Advokatenmiene hinzu. "Unser Perricumer Kapitän kann die Zeremonie leiten, gemäß Efferdsrecht, das im Niemandsland zwischen dem Königreich Garetien und der Rommilyser Mark ohnehin zwingend anzuwenden ist. Eure Aufgabe wird es sein, ein paar nette...ich meine, einige traviagefällige Worte zu sprechen.“
Flarion Silbertaler nickte eifrig, den Dreispitz unterm Arm. Sein Gesichtsausdruck bewies, dass er selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was es mit diesem "Efferdsrecht" auf sich hatte. "So ist es", sagte er mit wichtiger Miene. "Da gibt es gar keinen Zweifel daran. Zumal die Flusshexe unter Perricumer Flagge fährt." Er deutete zum blauen Banner am Mast, auf dem der silberne Delphin und der goldene Säbel nur zu erahnen war. "Unser Stadtgott ist der Tobende und Sanfte."
"Travia allein ist die Schützerin der Schwüre" sagte Dormarian, der nun ein wenig bockig wirkte. "Umso wichtiger ist es, dass der Eheschwur reinen Herzens geleistet wird, aus freien Stücken, im Einklang mit den guten Sitten und Gebräuchen der Heiligen Mutter. Darum sind wir, als ihre Diener, verpflichtet, vor einem solchen Gelöbnis die traviagefällige Abstammung der Eheleute zu prüfen und festzuhalten. Hättet Ihr vielleicht auch für mich Papier, Tinte und einen Federkiel?" Der Travienlieb trat an den Tisch.
Golo wollte ausrasten, aber eine herrische Geste Gerrichs hieß ihn schweigen.
"Was heißt da traviagefällig?" sagte Golo, mühsam beherrscht. "Wir sind von Stand, wie ja wohl allgemein bekannt sein dürfte."
"Gerade deswegen bedarf es eines Eintrags in die Chroniken der traviagefälligen Abstammung."
Haldana feixte. Ihre Verzögerungstaktik funktionierte besser, als sie gedacht hatte.
Gerrich nickte.
Ein knapper Befehl des Kapitäns, und die Schreibutensilien wurden herbeigeschafft. Dormarian setzte sich und griff zur Feder.
"Es ist letztlich nur eine Formalität. Ich werde den Stammbaum nur bis zu den Urgroßeltern festhalten und dann dem Archiv des Tempels zu Rommily übergeben, zwecks Abgleich..."
"Zwecks Abgleich?" fragte Golo dumpf. "Ihr zweifelt doch nicht ernsthaft an unserer vornehmen Blutslinie?"
"Gewiss nicht, Euer, äh, Wohlgeboren. Nur könnte es sehr gut sein, dass die Archivare nicht sämtliche Namen verzeichnet haben. Das kommt leider häufiger vor, als man denkt...Und ja, es gibt natürlich Kriterien, durch die ein Traviabund im Nachhinein annulliert werden könnte…"
Haldana lächelte spitz. Die "Chroniken", daran hatte sie gar nicht gedacht. Ein Erzverräter namens Gernot von Friedwang als Erzeuger...so etwas stand im Friedenskaiser-Yulag-Tempel sicherlich nicht unter der Rubrik "traviagefällig". Ganz zu schweigen von einer bereits vorhandene Gemahlin, wie hieß sie noch gleich, Irmegunde, nein, Ismena, Ismena von Oppstein?"
Dieser Dormarian gefiel ihr. Bis gerade eben hätte sie es nicht einmal für möglich gehalten, dass der Akoluth überhaupt lesen und schreiben konnte.
"Die Tempelmatrikel, natürlich" Gerrich lächelte sanft. "Ihr habt völlig Recht. Allerdings - in diesem Fall sind sie leider verschwunden. Vermutlich verbrannt. Die Kriegswirren, Ihr versteht? Die Friedensstadt war eine Zeitlang schwer umkämpft."
Dormarian blickte hoch, eher verständnislos.
Haldanas Lächeln erstarb. Die Kriegswirren? Oder reichte der Einfluss des Hexers von Rommilys bis in die Archive der Traviakirche?
"Ich habe mir daher erlaubt, einen Stammbaum vorzubereiten." Gerrich zauberte eine Pergamentrolle hervor, vielleicht sogar im Wortsinn. "Ihr könnt ihn gerne dem Tempel übergeben."
Dormarian warf einen Blick auf die sorgfältig gemalte darpatische Eiche, an der bunte Wappenschilder und Namenstafeln prangten.
Nach kurzem Studium hob er erstaunt die Augenbrauen: "Ich dachte, Junker Golo wäre Euer Enkel?"
"Nein, ich bin nur ein entfernter Vetter seines Vaters. Aber irgendwie nennt mich jeder Golos Großvater. Sein wahrer Großvater, Golo Praiowulf Eckbert von Gießenborn der Ältere, ist leider in der Tausend Oger-Schlacht geblieben. Ich war dann wirklich lange Zeit so etwas wie ein Ersatzvater für dessen unglücklichen Sohn, Gernot…"
"Baron Gernot Blasius von Friedwang..." Dormarian war nicht anzumerken, ob er mit diesem Namen etwas anzufangen wusste. "Dessen Gemahlin hieß Cecilia Rahjastasia von Bregelsaum-Schnattermoor." Haldana schaffte es, einen Blick auf den Namen "Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck zu Gießenborn" zu erhaschen, geboren 1003 nach Bosparans Fall. Diesem Stammbaum zu Folge war er tatsächlich nicht verheiratet. Das war dreist. Aber nach all den Wirren der letzten Jahre mochte Gerrich mit einer solchen Fälschung sogar Erfolg haben. Wenn selbst der Name "Darpatien" schon begann, in Vergessenheit zu geraten...
Dieser Mann war ein Frevler, der nicht einmal die Macht der Kirche der Heiligen Mutter Travia fürchtete! Sünde, Sünde, Sünde, hämmerte es in Haldanas Kopf.
Am liebsten hätte sie lautstark protestiert, aber dort drüben stand noch immer Sisa Brundel, legte sich scheinbar zufällig den Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
"Nun zu Euch, Frau Haldana. Wie sieht es mit Euren werten Vorfahren aus?"
„Ja… Sicher. Meine Mutter trägt den gleichen Namen wie ich. Haldana von Binsböckel. Ihrerseits Schwester der Valyria von Binsböckel. Ihr seid mit dem Stammbaum des Hauses Binsböckel vertraut?“
„Nein, nicht in Gänze. Das Haus Binsböckel ist weit verzweigt. Jedenfalls hat es einen tadellosen Ruf.“
„Das will ich meinen, Ehrwürden Dormarian. Nun, mein Großvater wiederum ist der ehrenwerte Tannfried von Binsböckel“
„Das Oberhaupt des Hauses Binsböckel, der Stadtmeister von Trallop. Ja, ich kenne den Namen. Ich hatte noch nie persönlich die Ehre. Ich war ja auch noch nie in Trallop. Aber mütterlicherseits sollte mir das als Auskunft genügen. Wir müssen nicht weiter zurück in der Ahnenlinie. Wer war Euer Vater?“
„Baron Tsafried von Schnayttach zu Schlotz.“
„Hmm… Tsafried von Schnayttach? War da nicht etwas? War er nicht angeklagt worden? Wegen Defätismus?“
Haldana überlegte kurz, bevor sie antwortete.
„Wir haben das in der Familie geregelt. Mein Halbbruder, Traviahold von Schnayttach, hat sich der Sache angenommen. Im Haus Binsböckel lässt man es nicht zu, wenn jemand Schande über die Familie bringt. Ihr kennt meinen Halbbruder? Er ist jetzt Vogt von Rammholz. Er und seine Ritterschaft, die schwarze Lanze, sind weithin gerühmt für ihre Schlagkraft. Wer irgendjemanden in meiner Familie etwas antut, der darf sich auf einen Besuch von Traviahold einstellen. Ich versichere, das wird dann kein Vergnügen werden.“ Haldana warf einen Seitenblick auf Gerrich.
„Ja ja, ist gut.“ Beschwichtigte Dormarian, bevor sich Haldana noch mehr Familiengeschichten zum Besten geben konnte.
„Ein gewaltiger Ritter, dieser Traviahold“ fuhr Haldana jedoch fort. Sie hatte sich nach der unerwarteten Frage zwar weitgehend wieder gefasst, war jedoch zugleich auf den Gedanken verfallen, völlig unauffällig noch mehr Zeit schinden zu können. Je länger es dauerte, umso mehr von seiner Sternenkraft oder wie dieses Astralzeugs hieß, würde Gerrich für seine Maskerade aufwenden müssen. Umso leichter könnte sie entfliehen.
„Ich kann mir gar nicht ausmalen, was Traviahold mit jemandem macht, der Hand an mich legen will. Der täte mir jetzt schon Leid. Traviahold zum Feind haben, das wünschte ich meinem ärgsten Gegner nicht.“ Haldana steigerte sich sichtlich in eine Rede hinein, so dass Dormarian der Mund offen stehen blieb und er kaum wagte, die aufbrausende Adelige zu unterbrechen.“
„Ähm, nun, euer Vater. Wer war Euer Großvater? Wer die Großmutter?“ wagte der Prediger zu fragen, als Haldana nach längerem Schimpfen Atem holte.
„Mein Vater… ja, ach so. Das Haus Schnayttach zu Schlotz. Eines der ältesten Adelshäuser in der Sichel. Wir führen uns auf den Ersten Jäger zurück, der der Sage nach den Pfeil auf die Vielleibige Bestie abgeschossen hat.“ Wieder begann Haldana zu erzählen. Als Bardin verstand sie es, mit Erzählungen Leute zu unterhalten und in ihren Bann zu ziehen. Also unterbrach Dormarian nicht und auch die Matrosen hörten gespannt zu, als Haldana die Legende vom Sieg über die Vielleibige Bestie wiedergab. Mit zahlreichen Ausschmückungen und Formulierungen gestaltete sie die Legende kurzweilig und unterhaltsam. Gerrich musste hier einfach Geduld aufbringen. Haldana wusste, dass Gerrich sich den Unmut der Traviapilger wie auch der Matrosen zuziehen würde, wenn man ihnen die Freude des Zuhörens jetzt nahm. Es gelang Gerrich, ruhig zu wirken. Aber wer genau hinsah merkte, dass er mit seiner Ungeduld kämpfen musste. `Wie lange wohl ein Magier eine solche Maskerade aufrecht erhalten konnte` fragte sich Haldana. Sie hatte keine Ahnung davon. Die Magie war ihr immer etwas Unheimliches gewesen. Auch gab es auf Schlotz keinen Hofmagier, so dass ihr Wissen über die Arkane Kunst sich auf das Hörensagen beschränkte. Aber als Geschichtenerzählerin war sie in ihrem Element und erzählte von der Reise des Ersten Jägers an das Ufer des Neunaugensees, um sich dort von den Elfen besonders durchschlagkräftige Pfeile zu erbitten, die die schuppige Haut der Vielleibigen durchdringen vermochten. Von der Aufgabe, die die gleichermaßen alte und ewig jung gebliebene Elfe dem Jäger stellte als Gegenleistung für die Pfeile. Und dann von dem Gefecht, in dem der Erste Jäger an der Seite der Unsterblichen focht und mit ihnen den Sieg errang, und zum Lohn eine von Trollen erbaute Burg erhielt.
Gerrich hakte ein, als Haldana an das Ende der Geschichte kam. „Ich denke das genügt. An der ehrbaren Abstammung der Braut dürfte kein Zweifel bestehen.“ Beschied er knapp in Richtung des Laienpredigers, bevor dieser erneut nach Haldanas Großeltern fragen konnte. Dormarian nickte. Er wagte es nicht, dem Adeligen zu widersprechen. Stattdessen schrieb er schlicht auf, dass die Ahnenreihe der Braut bis in die Tage des Alten Reiches belegt sei und ließ es damit bewenden.
"Ein Einwand hätte ich allerdings", sagte Dormarian. "Als Akoluth der Heiligen Familie der Travia habe ich die Pflicht, einem Geweihten bei einer Liturgie zu assistieren. Die Pflicht, aber in diesem Fall auch das Recht. Ein Kapitän ist kein Priester der Unsterblichen Zwölfe."
Flarion deutete hinauf zum Mast, wo sich das blaue Banner in der Abendbrise entfaltete. "Die Flusshexe fährt unter Flagge der Stadt Perricum und steht damit unter besonderem Schutz der Efferdskirche. Entsprechend ist ein Kapitän berechtigt, den Bund der Ehe zu schließen. Falls kein Geweihter in der Nähe ist. Ein alter Seemannnsbrauch....Und da ihr ja nur die minderen Weihen habt, Travienlieb Dormarian..."
"Werter Herr Silbertaler" Der Akoluth streute etwas Löschsand über die Tinte, ließ sie eintrocknen und blies die Körner dann fort. "Mit Verlaub, aber bunte Lichter an Bord schaffen noch kein Perricumer Efferdsrecht. Ich habe davon gehört, dass auf hoher See Kapitäne manchmal Ehen stiften...irgendwo an fernen Küsten, wo ein Kapitän der Erste nach Efferd sein mag. Der Heiligen Mutter gefällig ist das nicht. Wir sind hier in unserer Heimat und der Darpat ist nicht das Perlenmeer. Außerdem habt Ihr ja gerade selbst gehört, welch edler Abkunft unsere Eheleute sind.... Bedenkt, dass auch die Kinder, die mit Travias Güte aus diesem Bund hervorgehen werden, legitim sein müssen." Dormarian rollte das Papier zusammen. "Nun denn, ein dreifach geprüfter Kapitän mit Patent mag ein traviagefälliger Trauzeuge sein, neben den frommen Pilgern dort. Ihr verfügt doch sicher über den Kapitänsbrief, so dass ich auch das für den Rommilyser Tempel vermerken kann?"
Der "Erste" an Bord erbleichte und rieb sich nervös die Hände über die prachtvolle Uniformjacke. Offenbar hatte Bruder Dormarian gerade seinen wunden Punkt getroffen. "Ich, also...nun ja…" Hilfesuchend wandte er sich an Gerrich. "Also im Falle der efferdgefälligen Darpattreidelflussschifffahrt..."
"Genug. Wir müssen doch nicht alles dreifach prüfen", sagte der Friedwanger hastig. "Ich verbürge mich für Kapitän Silbertaler. Er besitzt mein vollstes Vertrauen. Aber das Wichtigste ist, dass diese Ehe vor den Göttern und derischen Richtern Bestand hat. Das Problem ist ja gerade, dass wir uns nicht weit draußen auf hoher See befinden. Wir müssen stündlich mit einem tückischen Überfall unserer Feinde rechnen. Werter Dormarian von Glaukenfall" Der Magus klang nun schmeichelnd, fast flehentlich. "Ich habe Euch wirklich lange zugehört und festgestellt, dass Ihr mit den Gebräuchen der Großen Mutter überaus bewandert seid. Sogar des Lesens und Schreibens seid Ihr mächtig. Ihr hättet das Zeug zum Hofkaplan, doch doch. Vielleicht sogar selbst zum Geweihten. Umso mehr bin ich überzeugt, dass zumindest Ihr eine Nottrauung durchführen dürft. Ich meine, was wäre denn sonst der Sinn von minderen Weihen? Wenn der Kapitän nicht an Bord ist, hat ja auch sein Navigator das Sagen..."
Dormarian war anzumerken, dass er sich für einen Moment durchaus geschmeichelt fühlte. Bieder blickte er in die Runde.
"Gewiss, gewiss. Allerdings werde ich darauf verzichten, die Hände von Braut und Bräutigam mit dem Traviaband zu verbinden. Diese Handlung gebührt nun wirklich allein einem Priester."
„Gut, dann können wir ja jetzt zu den Jaworten kommen“ drängte Gerrich.
„Mein lieber Großvater“ warf Haldana ein. „Wann kommen eigentlich die Musikanten?“
„Liebes Kind“ erwiderte Gerrich mit angestrengter Freundlichkeit. „Leider war es so kurzfristig nicht möglich, auch noch Musikanten an Bord zu bekommen. Das holen wir alles später in Rommilys nach. Aber du kannst ja selbst nachher etwas aufspielen, das tust du ohnehin gerne.“ Gerrich würde ja bei einem späteren Konzert der Bardin nicht mehr anwesend sein müssen, sondern könnte sich in Ruhe in seine Kajüte zurückziehen und sich von der anstrengenden Maskerade erholen. „Also dann. Golo, Haldana, stellt Euch auf. Ich werde als Großvater, naja, Ziehgroßvater Golo an den Altar führen und Haldana übergeben. Euer großer Moment ist gekommen, Kinder! Haldana, du musst hier stehen. Ich hole jetzt Golo“
Jetzt wird es ernst, dachte Haldana. Ob ich das noch lange aufschieben kann? „Ja, gut…“ nickte sie. Herr Flarion, habt ihr die Güte, die Laute aus der Kajüte zu holen? Für nachher. Auch wenn die oberste Saite schon gerissen ist“ was nicht stimmte, die Saite war immer noch in Haldanas Zopf geflochten „kann ich mit Lagenwechseln schon noch etwas Musik herbei zaubern.“
„Natürlich, Hochgeboren!“ Flarion Silbertaler verneigte sich. „Bitte erfüllt mir den Wunsch, Ihr müsst nachher unbedingt den `Alrik` spielen.“
Den Alrik spielen. Klar, konnte sie. Meinte Flarion die Ballade von Alrik dem Schmied, oder den im Dialekt gesungenen Alrik von Gallys? Egal. Sie konnte beide spielen und singen. Aber vermutlich meinte Flarion eher den Alrik von Gallys, der ja in den Schänken und Tavernen recht gerne gesungen wurde, wenn genügend Bier oder Wein getrunken worden ist. Allerdings… da sie ja hier einen Friedwanger heiraten sollte, würde sie das Lied ein wenig umdichten. Auf einer Friedwanger Hochzeit den Gallyser Alrik singen wäre ja unpassend. Haldana lächelte. So machte ihr die Hochzeit fast schon Spaß - jedenfalls wenn sie dabei für einen Augenblick den Bräutigam vergessen konnte.
Fast gleichzeitig kamen Flarion und Gerrich zurück. Der Kapitän mit der Laute, die Haldana sich umhängte, und der alte Friedwange mit Golo am Arm, den er mit festlichem Schritt der Braut zuführte. Dormarion straffte sich.
„Gut“ murmelte er. Es war die erste Trauung, die er als Laienprediger vollziehen sollte. Und dann gleich bei so hochgestellten Personen aus dem Adel der Schwarzen Sichel. Aber wo die Herrin Travia ihn rief, da würde er gehorchen.
„Nun, wir haben uns hier versammelt“ begann Dormarion die üblichen Worte, mit denen der Traviabund geschlossen wurde, „um Zeuge zu sein, wie zwei junge Menschen den Bund für das Leben besiegeln. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, dass gerade mir das Schicksal es zugedacht hat, hier so kurzfristig und ungeplant dem Willen der Herrin Travia zu entsprechen.“ Dormarion, ob nun angespornt von der Beredsamkeit Haldanas oder der gefühlten Verpflichtung, eine Adelshochzeit würdevoll zu gestalten, geriet seinerseits ins Fabulieren. Sicher mehr als ein halbes Stundenmaß rezitierte der Prediger die Verpflichtungen, die dem Traviabund entsprangen, um dann über die Hoffnung zu reden, die der Bund den Menschen der Mark nach den langen schweren Kriegsjahren bringen mochte. Dann glitt er ab, um über den Kindersegen, den er dem Paar wünschte, zu reden, um dann gleich noch Hinweise für die Traviagefällige Erziehung des Nachwuchses an das Paar zu richten.
Golo gähnte mehrfach während der langen Rede Dormarians. Ob er tatsächlich müde war oder absichtlich aus Desinteresse an den langen Worten gähnte, vermochte Haldana nicht einzuschätzen. Jedenfalls hatte Golos Gähnen keinen Einfluss auf den Redefluss des Travia-Akoluthen, wie Haldana freudig feststellte. Mit interessiertem Lächeln sah sie Dormarian an, in der Hoffnung, ihn damit weiter zum Reden zu animieren. Und so zog sich die langatmige Rede hin, bis endlich die Herrin Travia zur Zeugin angerufen wurde für den Heiligen Bund.
„Und so frage ich Euch, Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck, seid ihr gewillt, die Euch hier zur Seite stehende Baronin Haldana von Binsböckel zu Schlotz als Eure rechtmäßige und vor den Göttern angetraute Ehefrau anzunehmen. sie zu lieben und zu ehren, ihr treu zu sein, bis dass der Herr Boron Euch scheidet?“
„Ja, natürlich. Deswegen sind wir ja hier“ knurrte Golo ungeduldig.
Dormarian wandte sich Haldana zu.
„Nun frage ich Euch, Baronin Adginna Haldana von Binsböckel zu Schlotz, seid ihr gewillt, den Euch hier zur Seite stehenden Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck als Euren rechtmäßigen und vor den Göttern angetrauten Ehemann anzunehmen, ihn zu lieben und zu ehren, ihm treu zu sein, bis dass der Herr Boron Euch scheidet?“
Haldana schluckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wo waren ihre Gefährten? Warum war niemand gekommen, sie zu befreien?
Dormarian sah Haldana an.
„Natürlich will sie“ rief Golo. „Ihr bleibt nur der Atem weg, kein Wunder nach dem ganzen Gelabere. Lasst uns jetzt endlich zum Kuss kommen, damit die Feier beginnen kann.“
Dormarian warf Golo einen strafenden Blick zu. „Mag sein, aber das muss Eure Braut schon selber sagen. Nun, Hochgeboren?“
Ein leises Flüstern.
„Was sagt Ihr?“ fragte Dormarian nach
„Das war ein ja“ warf Golo ein. Schreib es einfach auf, Prediger.
Dormarian war nicht bereit, sich seine festliche Stimmung auf seiner ersten Hochzeit von einem ungeduldigen Junker, war dieser nun von Stand oder nicht, trüben zu lassen. Er überhörte Golos Einwurf einfach.
„Verzeiht, Hochgeboren, ich konnte Euch nicht verstehen. Natürlich mögt Ihr überwältigt sein. Man heiratet ja nur einmal im Leben. Aber Ihr müsst laut und für jeden klar vernehmlich antworten.“
Gerrich trat auf die Seite und warf der Schlotzerin einen warnenden Blick zu. Wie zufällig legte er die Hand auf seinen Degen.
„Na wenn es denn sein muss… ich habe ja keine Wahl“ brummte Haldana.
Dormarian war verwirrt. Die eben noch so fröhlich und ausgelassen wirkende Braut war auf einmal augenscheinlich nicht mehr so begeistert. Er zögerte.
„Na dann wäre das ja geklärt“ drängte Gerrich. „Also, kommen wir zum Ende.“
„Nun, gleich“ stammelte Dormarian, fing sich aber rasch wieder. „Wenn hier Irgendjemand ist, der etwas gegen die Verbindung der Brautleute einzuwenden hat, der spreche jetzt… oder schweige für immer.
Eine einzelne Träne kullerte Haldana über die Wange.
Niemand sagte etwas.
„Nun, in Travias Namen, so erkläre ich Euch hiermit vor dem Angesicht der Heiligen und Unteilbaren Zwölf“…
Gerrichs Gesicht schien zu flimmern. Er hustete - oder täuschte ein Husten vor - und eilte rasch zur Leiter, die unter Deck führte. Gerrichs astrale Kraft war fast aufgebraucht. Er konnte das falsche Gesicht nicht länger aufrechterhalten. Die restliche Hochzeit musste jetzt ohne ihn stattfinden. Sisa und Golo hatten die Lage sicher im Griff.
„… zu Mann und Frau. Junker Golo, ihr dürft die Braut nun küssen“
Warum war kein Ritter gekommen, um sie zu retten, wie in all den Märchen, die sie kannte? Wie in all den Liedern, sie sie sang und gerne hörte?
Der schiefhalsige Junker machte einen Schritt auf Haldana zu, drückte seine Lippen auf die ihren. Zum Glück nur kurz. Golo verspürte offenbar genau so wenig Lust auf einen Kuss wie Haldana.
Die Matrosen applaudierten.
Haldana ließ ihren frisch angetrauten Ehemann unbeachtet stehen. Üblicherweise kämen jetzt die Glückwünsche, dann der Brauttanz.
Diese Zeremonie würde sie jetzt aber ändern. Mit einem Lied, das den Matrosen sicher gefallen würde, Gerrich und Golo jedoch garantiert nicht. Und Musik war das Beste, das jetzt geschehen konnte. Wie anders hätte sie ihre Stimmung, ihre Hoffnungslosigkeit auffangen können wenn nicht mit der Laute in ihrer Hand?
„Also, Kapitän Flarion, ich habe es versprochen. Mit meiner besonderen Anerkennung für einen besonderen Kapitän und Seemann.“ Haldana zupfte ein paar Akkorde. Ein eiskaltes Lächeln hatte die Träne auf Haldanas Gesicht abgelöst. Rache wird am besten kalt serviert, Herr Golo, dachte sie sich. Bis jetzt hattest du das sagen, Gerrich. Jetzt bin ich dran, dachte sie. Zeit, dem Friedwanger Schurken klar zu machen, wer der wahre Herr im Friedwanger Land war. Das würde dem Schwarzmagier sicher nicht gefallen. Weiter schlug sie auf der Laute die Akkorde.
„Ihr müsst alle mitsingen“ rief sie in die Reihen der umstehenden Matrosen und zu den Laienpredigern. Und die Matrosen sangen und johlten zu den Klängen der Laute.
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik!“
Dann erklang Haldanas Stimme. Etwas unpassend vielleicht, denn eigentlich benötigte man für das Lied einen männlichen Sänger. Aber darauf nahm sie jetzt keine Rücksicht. Sie hatte keinen anderen Gedanken, als Gerrich für das, was er ihr angetan hatte, auf die hintersinnige Weise eines Musikers zu beleidigen und zu provozieren. Und wie konnte das besser geschehen, als Gerrichs Matrosen den wahren Baron von Friedwang hochleben zu lassen? Haldana sang.
„I bin so sche, i bin so schlanckh.
I bin der Alrik aus Friedwang.
Meine gigaschlanckhen Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda da Natur.“
Anders als Golo hatte Gerrich ja Interesse an Frauen, dachte Haldana. Da durfte man ihm schon sagen, dass Baron Alrik der Attraktivere war. Nicht zuletzt hatte Alrik ja Kinder mit mehreren Frauen und auch, gewissermaßen, Gerrichs Sohn Gernot die schöne Serwa ausgespannt. Ob das Gerrich verletzte? Vielleicht. Aber dass seine Matrosen den Alrik von Friedwang so besangen, das würde ihn sicher wurmen.
„I bin so stoak und a so wüd.
I treib es heiß und firunskühl
Wippe i mit `em Gesäß,
schrein die Stoaböck` SOS und woin an Alrik aus Friedwang“
Haldana mochte sich kaum vorstellen, wie Gerrich mit seinem insektoiden Körper, wenn er ihn gerade nicht verwandelt oder getarnt hatte, sich seiner Sisa Brundel nähern konnte. Schauerlicher Gedanke. Aber die nächste Strophe war rasch umgedichtet.
Rahjaikum und Magie - des braucht so a Alrik net.
Koan Liebestranckh, koan Minnesang, a koan Schmuck und a koa Geld.
Bin koa Städta, bin koa Kriega.
Madln, so an wie mi, den gibt`s nie wieda
Ein Blick auf Golo zeigte ihr, dass dieser an dem Lied auch keine Freude empfand. Er, der potentielle Thronerbe, der nach der Blutnacht von Friedwang von Alrik abserviert wurde und zusehen musste, wie das verhasste, verkaufte Kind Kalmanderias zurück kehrte und den Thron bestieg. Dass Golo zornrot anlief, war für Haldana eine besondere Befriedigung.
„I bin so sche, ich bin so schlanckh.
I bin da Alrik aus Friedwang
Meine gigaschlanken Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda dar Natur.“
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen. Dann begann Haldana wieder mit dem Refrain.
„I bin so stoak und au so wüld.
I treib es heiss und firunskühl.
Wippe i mit ´em Gesäß,
schrein die Stoaböck SOS und woill`n an Alrik aus Friedwang.
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen wieder.
„Abends dann am Lagafeia zoag i mi
Mit 15 Madl, denn g`winna ko nur i.
Ui, so sche woa i no nie.
Lass Golo glatt im Reg`n steh`n.“
Die letzte Spitze auf Golo konnte Haldana sich nicht verkneifen. Die Matrosen waren in guter Stimmung und achteten nicht darauf, Deswegen hörten sie nicht auf, mitzusingen. Bei Golo und Gerrich kam das sicher an. Wo war eigentlich Gerrich? Unter Deck? Egal. Golo war da, ihr ungewollter Bräutigam. Sollte er ruhig mitbekommen, dass Haldana sich nicht im Geringsten etwas aus dem Gatten machte. „Sing mit, Golo!“ rief sie dem Gatten übermütig zu. „Auf, nimm Dir ein Bier!“ Zufrieden bemerkte sie, wie jemand ihrem Ehemann einen Krug reichte. Golo nahm den Krug und trank. Was hätte er auch sonst tun sollen auf seiner Hochzeit. Wenigstens musste er seine Alte jetzt nicht küssen, so lange diese sang, auch wenn er dem Lied nichts abgewinnen konnte.
„Koana is so urig sche.
Ahhh, bin i sche. Ahhhh,
Is der sche, stoaka Bua, von dia kriag i net gnua.
Komm her und mochs mit mia, mei Friedwanger Stier.“
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen wieder.
„I bin so sche, i bin so schlanckh.
I bin der Alrik aus Friedwang.
Meine gigaschlanken Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda dar Natur.“
Haldana winkte aufmunternd mit den Armen. Die Matrosen sangen lauter. „Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik.“
„I bin so stoak und auch so wüld.
I treib es heiss und firunsgekühl.
Wippe i mit dem Gesäß,
schrein die Gemsen SOS und woill`n den Alrik aus Friedwang“
Haldana zupfte noch ein Weilchen mit der Laute die Schlussakkorde. Sie überlegte kurz. So lange sie weiter spielte, würde sie vor Golo und Gerrich ihre Ruhe haben. Und zumindest die Matrosen würden noch eine Menge trinken heute Abend, so dass irgendwann, später, jedenfalls keiner von ihnen im Weg sein würde auf der Flucht.
Haldana rieb sich die schmerzenden Fingerkuppen, stellte die Laute beiseite und trat an die Bordwand, um ein wenig zu verschnaufen. Sie blickte hinüber zum gegenüberliegenden Ufer des Darpat, das dunkel über dem glitzernden Wasser aufragte. Leichter Nebel kam dort zwischen den Bäumen auf. Ihr fröstelte. Flarion Silbertaler trat hinter sie, und legte ihr galant den Mantel über die Schultern.
Dankbar nickend hüllte sie sich in den blauen Stoff. Dieser Silbertaler schien kein schlechter Mensch zu sein. Er wirkte ein wenig verlegen. Ein Hochstapler, und womöglich auch ein Herumtreiber, der es mit Recht und Gesetz nicht so genau nahm. Aber kein götterloser Schurke, wie Golo, Gerrich, oder dieses Biest von Hexe, dass sie vermutlich noch immer nicht aus den Augen ließ.
Flarion seufzte. Offenbar ahnte er, dass die Ehe nicht ganz freiwillig war - andererseits war er offenbar Adelseskapaden gewohnt.
"Ich hätte Euch wirklich liebend gerne getraut."
"Das glaube ich gerne", sagte die Schlotzerin höflich. Sie überlegte, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, setzte an und verstummte dann lieber. "Verheiratet" war sie schon, und selbst wenn der Kapitän kein Erzfrevler sein mochte, kannte sie ihn nicht wirklich gut genug, um ihn in ihre Gedanken mit einzubeziehen. Geschweige denn in ihre Fluchtpläne. Oder misstraute sie ihm zu sehr?
"Es ist nur..." fing sie zaghaft an. Der Kapitän blickte irgendwie angespannt, fast schon lauernd.
Ihr "Probepfeil" würde fehl gehen, dass spürte sie sofort. Dieser Mann war letztlich nur auf seinen Vorteil aus. Göttergläubig, aber auch geschäftstüchtig. Glatt und blenderisch. Silbertaler, der Name passte. Ein Gratenfelser Gießmünzen-Silbertaler, um genau zu sein. Dieser "Käpt´n" und seine Anteilnahme war so echt wie diese närrische Hochzeitsfeier.
"Ja?"
"Ach nichts".
"Eine wunderbare Nacht, nicht wahr, meine Teuerste?" Flarions Stimme triefte jetzt vor falschem Pathos, an das er vermutlich selbst glaubte.
"Ich wünschte, sie würde nie zu Ende gehen" antwortete Haldana. Kühles Licht flammte auf dem Darpat auf.
Von der garetischen Seite her drang pflatschender Ruderschlag an ihr Ohr. Ein Boot glitt heran, gerudert von einem jungen Burschen in Fischertracht. Am Bug stand ein schlanker Mann in meerblauer, geschuppter Kutte, mit langgestrecktem Gesicht. In der Linken hielt er eine Laterne, die Haldana irgendwie merkwürdig vorkam. Statt einer Kerze leuchtete darin ein grünlich schimmernder Pilz, in einem kleinen Topf. Der Neuankömmling wirkte auf den ersten Blick wie ein Fischmensch. Schildpatt und Perlmutt schimmerte an seinem Kragen und seinem Gürtel, der aussah, als hätte er viele Monde unter Wasser gelegen und wäre nun völlig verkrustet.
Der Mann trug eine Art Kopftuch, an dem eine Muschel als Schmuck baumelte. Fast hätte es wie ein Piratenkopftuch gewirkt, wenn da nicht der aufgestickte Delphin gewesen wäre. Statt einem Entermesser hielt der Neuankömmling rechterhand einen kleinen Dreizack: ein Efferddiener.
"Efferd zum Gruße!" hob der Mann an, den Haldana auf Mitte oder Ende 30 schätzte: "Mein Name ist Efferdi Falswegen, Geweihter der Bruderschaft von Wind und Wogen, aus Hausnerhaven. Darf ich längsseits gehen?"
"Hochwürden!" Flarions trübes Gesicht hellte sich auf. "An Euch habe ich gar nicht mehr gedacht! Ja, sehr gerne.... Ihr dürft sogar an Bord kommen. Silbertaler, Flarion Silbertaler, Kapitän der Flusshexe."
Efferdi Falswegen nickte, ohne besondere Regung im Gesicht. Der Kahn ging längsseits und wurde festgemacht.
"Habt Dank", sagte der Geweihte. "Eigentlich wollte ich Euch einladen, zu uns nach Hausnerhaven zu kommen, auf die andere Seite des Darpat. Wie mir scheint, feiert Ihr an Bord ein Fest? Sogar eine Hochzeit?"
"Ja, das edle Fräulein Haldana" - Flarion deutete auf die Braut - "hat den Junker Golo von Gießenborn geehelicht. Zwei Edelleute aus der Rommilyser Mark. Eine etwas komplizierte Geschichte...aber überaus romantisch."
"Meinen Glückwunsch!" Der Geweihte deutete eine Verbeugung an. "Möge Euch der Hafen der Ehe allzeit eine sichere Zuflucht sein, vor den Stürmen und Untiefen des Lebens."
"Danke", sagte die Braut, etwas einsilbig. "Hochwürden..."
"Es freut mich, Euch nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen, Kapitän Silbertaler...Meine Familie und das Haus Warrlinger sind ja gute Geschäftspartner.
"Die Reederei Falswegen, ja, die Flusshexe ist eine Zeitlang für sie gefahren. Wenn der furchtbare Krieg nicht gewesen wäre." In Flarions Gesicht zuckte es kurz.
Der Efferdgeweihte nickte, leicht betrübt. "Wir haben alle Opfer bringen müssen, auch Trautmann Falswegen & Nachfahren. Die Blutige See ist einfach nicht mehr das gute alte Perlenmeer. Efferd seis geklagt. Selbst Vater Darpat fließt nicht mehr durch die gleichen Lande wie noch vor einigen Götterläufen."
"Ihr sagt es". Flachwasser-Flarion seufzte erneut, etwas theatralisch. "Ach, wie dumm von mir...ich habe wirklich nicht mehr daran gedacht. Aber ich lege auch wirklich selten in Markt Hausen an. Ihr hättet das Brautpaar trauen können, Hochwürden...nicht dieser...Travienlieb Dormarian, der ständiges Herumkratzen mit der Gänsefeder für besonders traviagefällig hält. Vielleicht hättet Ihr ja die Güte, noch einen Segen sprechen? Haldana die Sängerin ist eine berühmte Bardin aus der Sichel, müsst Ihr wissen, und hat ein würdiges Hochzeitsfest verdient.
Haldana verdrehte innerlich die Augen. Das fehlte noch - eine "zweite Hochzeit" an diesem Abend… die womöglich sogar Gültigkeit haben würde.
"Meinen Segen gebe ich gerne. Aber für einen Travienbund sind nun wahrlich Berufenere zuständig" Der Geweihte runzelte ein wenig die Stirn. Spürte er, dass mit dieser "Hochzeitsfeier" etwas nicht stimmte? Im nächsten Moment huschte wieder ein Lächeln über seine Lippen.
"Eigentlich wollte ich dem Brautpaar nur gratulieren, und ein Geschenk überreichen. Das habe ich allerdings drüben im Tempel. Es wäre uns wirklich eine Ehre und große Freude, wenn ihr bei uns feiern könntet. Es geschieht so selten, dass die große weite Welt im Hausner Hafen zu Gast ist. Ich bin sicher, Basil der Wirt wird der Hochzeitsgesellschaft gerne etwas von seinem Trunk spendieren. Vielleicht sogar ein Fässchen oder zwei. Hier auf der Trollzacker Seite des Darpat ist es noch einsamer, findet Ihr nicht?"
Flarion blickte zum Banner, das am Mast nur zaghaft flatterte. "Ich weiß Eure Einladung wirklich zu schätzen. Aber so spät noch einmal Segel setzen? Der Wind weht recht schwach und da draußen gibt es Untiefen..."
"Der Darpat führt momentan sehr wenig Wasser, dem Launenhaften seis geklagt. Gestern hats zum ersten Mal wieder etwas geregnet. Der Vorteil ist, dass ihr in Windeseile über den Fluss staken könnt. Und die Flusshexe heißt ja so, weil ihr Rumpf so flach ist. Eine besengerade Linie, auf der man über jede Untiefe hinwegreiten kann. Habt Ihr selbst mal gesagt."
"Gewiss...Das muss ich aber alles erst mit meinen Adeligen besprechen. Sie sind ziemlich eigen, die Herren Eigner. Ich glaube nicht, dass... Äh, Herr Golo...könntet Ihr einmal...entschuldigt. Herr Golo?"
"Nun, ich möchte Eure Feierlaune ja nicht trüben, aber da ist noch etwas...vor einigen Tagen hat Burgvögtin Idra Trollzacker gesehen, die auf eurer Flussseite herumgestreunt sind. Gegenüber der Feste Oberkreuth."
"Trollzacker?"
"Ja, die Bande hat wohl eine Furt gesucht, wo sie mit ihren Ponys durchreiten können. Womöglich, um die Feidewaldstraße unsicher zu machen. Ich denke nicht, dass der Darpat schon so seicht ist...Aber eure Lichter könnten sie anlocken. Wenn Ihr bei uns anlegt, auf der sicheren Seite, dann ließe sich die Vorsicht mit dem Angenehmen verbinden, sozusagen..."
Flarion wollte etwas sagen, aber die Braut kam ihm zuvor. "Das ist eine wunderbare Idee, Hochwürden. Oh bitte, Golo, lass uns beim Dorf feiern."
Letztere Worte galten dem Bräutigam, der schiefhalsig herbei schlurchte, einen Becher Wein in der Hand. Artig begrüßte der Junker den Geweihten, der die Höflichkeitsfloskel erwiderte, und seine Einladung wiederholte.
"Welch traviaungefällige Unruhe am schönsten Tag meines Lebens" sagte Golo tonlos und verbarg seinen Gesichtsausdruck hinter dem Kelch. Der Junker trank einen Schluck und blickte dann wenig begeistert zum anderen Ufer. "Dir fallen wirklich ständig neue und immer ausgefallenere Wünsche ein, Liebling."
"Oh bitte, tu den Dörflern den Gefallen. Hier ist es doch sooo einsam...und nicht ganz ungefährlich, wie Hochwürden, äh, Falswegen gerade gesagt hat. Ich habe fast ein wenig Angst..."
"Lass Golo glatt im Regen stehen, oder wie war das? Schlanke Wadln, zwanzig Madeln am Lagerfeuer?"
"Ach Schatz, das war doch nur ein Scherz. Außerdem sind es nur 15 Madeln..."
"Natürlich." Der Schiefhals zog die Braut zu sich heran, um sie auf die Stirn zu küssen. Es war, als würde sie von einem Untoten umarmt werden, oder einem Gespenst. Sein Atem roch nach Wein. Aber da war noch anderes an ihm, in ihm, was Haldana schauern ließ. Eisige Leere. Finsternis. Ein Abgrund...
Scheinbar liebevoll strich Golo ihr durch die Locken. "Sisa hat jetzt eine ganze Haarsträhne von dir" flüsterte er ihr ins Ohr, wobei er es sogar schaffte, zart und sanft zu klingen. "Du hast keine Vorstellung, was eine Tochter Satuarias damit anzustellen vermag, mein Täubchen. Nun gut, fahren wir auf die garetische Seite. Dort ist es vermutlich wirklich sicherer. Falls deine Freunde doch noch hier auftauchen sollten. Solltest du allerdings wieder Dummheiten machen, werde ich die Mengbillaner Scheidung einreichen müssen, noch heute Nacht...."
Laut sagte er: "Ihr habt Recht, Hochwürden. Sicherheit geht vor, in diesen wirren Zeiten. Warum nicht, wenn man sie mit dem Vergnügen verbinden kann? Wir werden in Kürze ablegen."
Efferdi Falswegen nickte ernst und hob seinen Efferdbart. Flarion Silbertaler machte die Leine wieder los. Der Fischer legte sich in die Riemen und wendete. Verschwörerisch zwinkerte er Haldana zu.
Die Sichlerin blickte verdutzt. Täuschte sie sich, oder war das der Fischer, der heute Morgen in den Fluss gefallen war, beim Anblick der Besenreiterin? Zumindest der Gewandung nach kam das hin. Der Efferdgeweihte blickte derweil forschend über das Schiff, ganz so, als suche er etwas. Oder jemanden.
"Efferd und die übrigen guten Götter zum Gruße!" Der Geweihte ließ die "Flusshexe" nicht aus den Augen, bis das Boot wieder im Dunklen verschwunden war. Noch lange flackerte das geisterhaft kalte Licht seiner Laterne auf dem Darpat.
Haldana freute sich auf die Dörfler. Je mehr Personen an Bord waren, umso weniger hatte sie von ihren Peinigern zu befürchten. Sie traute Gerrich jede Bosheit zu. Aber er handelte rational. Er würde es nicht schaffen, ein ganzes Dorf auszulöschen, ohne dass Zeugen am Leben blieben und ihn verraten würden. Solange also Dörfler an Bord waren, konnte sie frei singen. Und mit ihren Liedern konnte sie den Efferdgeweihten über ihre Lage informieren, sobald dieser auch an Bord war. Sie dachte nach… Ein Liebeslied aus Gareth fiel ihr hierzu ein. Nun, sie würde es singen, sobald Falswegen es hören würde. Bis dahin gab sie weiter Gesänge und Lieder zum Besten, von denen sie wusste, dass sie als Stimmungsmacher die Mannschaft bei Laune halten würde. Nicht die melancholischen Lieder, die sie sonst bevorzugte. Fröhliche und zum Feiern animierende Lieder mussten es sein. Sie dachte an Flarion. Klar, Hilfe hatte sie von ihm nicht zu erwarten. Aber dass er an den Gesänge der berümten Bardin aus der Sichel, wie er sagte, Gefallen fand, ließe sich doch nutzen. Solange es nicht gegen den offenen Willen des Schiffseigners ging, würde er sie sicher gewähren lassen. Wer lässt sich schon ein kostenfreies Konzert entgehen?
Also sang sie weiter, nachdem die Gäste aus Hausnerhaven an Bord gegangen waren auch hin und wieder mit einer rhetorischen Spitze gegen Gerich, Golo und Sisa, die vielleicht bei den meisten untergehen würden, aber von Efferdi Falswegen oder Dormarion vermutlich doch wahrgenommen wurden. Erst als das Schiff wirklich gut besucht war, mit Matrosen, Handwerkern und Bauern aus Hausnerhaven, dem Wirt Basil - der tatsächlich ein Fass Bier beigesteuert hatte, und den Geweihten, und als ein großer Teil der Matrosen bereits erheblich alkoholisiert - und damit kaum mehr kampfbereit im Ernstfall war, wurde sie deutlicher mit ihrem Liedtext.
***
"Das ist ja eine Beleuchtung. Und ´ne wirklich ausgelassene Stimmung. Wie in em Puff in Romlysh"
Katz spuckte in das trübe, dreckige Sumpfwasser und ließ den Weidenzweig wieder vors Gesicht fallen. Der grüne Vorhang am Fluss schloss sich. Ein Wink, und Trolling drückte das schwankende Floss zurück ins Dunkel des Auwalds, mit seiner Stakstange. Schratmoos strich ihnen über die Köpfe, hinweg über die Federhüte und matt blinkenden Helme. Es roch modrig. Irgendwo quakten Enten.
"Verdammt viel los auf dem Pott. Oder wie siehst du das, Than?" Katz ruckte seinen buntkarierten Telt und das Schwertgehänge zurecht, an dem ein - gar nicht mal so kurzes- Kurzschwert baumelte.
Than Kaelldor kratzte sich am Bart und zwirbelte seine Zöpfe Ansonsten stützte er sich auf die große, schwere Axt, die er vor einigen Tagen dem Holzfäller abgenommen hatte. Im fahlen Mondlicht war sogar noch dessen Blut zu erahnen, neben dem Ruder, an dem Jobdarn stand, den Zweihänder auf den Rücken geschnallt.
"Wann warst du denn das letzte Mal in nem Freudenhaus in Romlysh?" Der Häuptling der Räuberbande lächelte wölfisch und überblickte sein dreckiges Dutzend. Es war eine gut bewaffnete Schar, die da auf dem geräumigen Holzfällerfloss in der kleinen Bucht kauerte.
"Muss vor den traurigen Tagen der Traviamark gewesen sein", kicherte Katz.
Kaelldor fragte sich, wie sein Ai´Than zu dem Spitznamen gekommen war. Am Aussehen lag es wohl nicht. Seine rechte Hand erinnerte eher an eine verschlagene, spitznasige Ratte auf zwei Beinen. Nur die struppigen roten Haare unter dem federgeschmückten Barett hätten einem Dorfkater alle Ehre bereitet.
Der Than vermutete, dass der Name mit dem Schwert zusammenhing, dem "Katzbalger", wie die Landsknechtswaffe genannt wurde. In einem Nebenfach der lederumwickelten Holzscheide steckten Messer, Gabel und ein kleines Stechwerkzeug, nach Söldnerart. Dem Muster auf seinem Wollumhang, dem Telt, nach, entstammte Katz dem Klan Macheln, der Mundart nach aus der Gorbinger Gegend. War wohl desertiert, nach der Schlacht am Arvepass. Spießer mochte der Schwertkämpfer immer noch nicht. Mit seinem runden, nietenbeschlagenen Lederschild wehrte der ehemalige Söldling einen weiteren Zweig ab. "Genug, Trolling. Wir laufen gleich auf Grund."
Der Riese grunzte, stemmte sich gegen die Stakstange und brachte das Floss so zum Stehen.
"Das da drüben, das gefällt mir nicht", sagte Katz. "Einfach zuviel Trubel an der Reichsstraße."
"Ein Trollberger, ein Wort", sagte Kaelldor. "Wir werden den Auftrag ausführen - und dabei unsere Beutel füllen."
"Wäre vielleicht mal ganz gut zu erfahren, was denn unser Auftrag ist", maulte Selmia, die Pfeiferin, die gerade ihre Armbrust spannte. Ihre Brüste ragten weit aus dem dreckigen Mieder heraus und ließen sie eher wie eine abgehalfterte Hafenhure aussehen.
Dir würde ich gerne mal meine Sackpfeife ins Maul stecken, dachte Kaelldor. Aber Trolling, der buntbemalte Riese, hatte sie als sein Weib auserkoren. Sie zu stoßen, würde, gelinde gesagt, Unfrieden stiften. Der Bergthanner, mochte er auch noch so plump wirken, war verdammt schnell mit Krummdolch und Streitaxt. Von der ganzen Bande sah der schwarzgelockte Kerl einem Trollzacker am ähnlichsten.
Than Kaelldor hatte schon gehört, dass die Flachländer sie für "Kurgas" hielten, wie sich die Barbaren selbst nannten. Geplant war das nicht gewesen. Die kleinen drahtigen Trollzacker-Ponys seiner Handlanger waren halt gebirgstauglich, und die Kriegsbemalung sollte dumme Bauern und Handwerker einschüchtern. Diese arroganten Stadtmenschen. Selbst hier, auf der wilden Seite des Darpat, vermochten sie kaum einen Trollberger von einem Trollzacker zu unterscheiden. Dabei waren die Vorfahren der Hochländer selbst mal Siedler aus dem Flachland gewesen, vor vielen Jahrhunderten. Nun züchteten sie Schafe und Ziegen oder bauten Wein an, in den Schluchten und Tälern, die nicht von Trollen und den Blutsäufern im Hochgebirge beansprucht wurden.
"Räuber", so wurden seine Jungs und Mädels genannt, auch oben in den Bergen. Als ob die Ladburch, Lentirak oder Meadronach ihren kargen Lebensunterhalt nicht selbst durch "Wegzoll" und "Sippenfehden" aufbessern würden. Selbst die feinen, verweichlichten Erlgrimman nahmen es mit fremdem Eigentum nicht sehr genau - und wenn es nur Weideland war, das sie den anderen Klans stahlen.
Ja, er und seine Gefolgsleute mochten Ausgestoßene sein, aber sie hatten ihren Stolz. "Kaelldors Klan", von dem Spitznamen hatte er schon gehört. Das passte: Sie waren so etwas wie Klansluit, eine große Familie, in ihrer neuen Zuflucht, dem Geisterdorf Kurgandschar oder Kurgasberg. Nachdem die verdammten Erlgrimman sie von der Ostseite der Trollzacker vertrieben hatten, diese Arschkriecher und Handlanger der Firunslichts. Auf dieser Seite der "Königin der Berge" also hielt man sie für Trollzacker. Kaelldor sollte es Recht sein, auch wenn sie bei ihren Überfällen schon Wert auf trollbergische Sitten legten, mit durchdringendem, dröhnendem Hörnerklang und dem wehmütigen Schlachtruf der Sackpfeife. Für den Selmia sorgte, Trollings Liebchen.
"Die Waegga hats uns gesagt. Wir sollten die Flachländer gefangennehmen, nach Kurgasberg bringen und die Belohnung kassieren. Das habt ihr leider völlig verbockt." Kaelldor hieb seine Axt in das Holz des Flosses, das zitterte und schwankte. Dann griff er in den Topf mit Schminke, der gerade herumging, und legte die rote Kriegsbemalung an.
"Verbockt?" Der stämmige, spitzbärtige Roburn, der an der Landstraße Wache gehalten hatte, fühlte sich persönlich angesprochen: "Konnte doch keiner ahnen, dass die Romlysher geradewegs durchs dichteste Dickicht reiten. Statt bequem die Straße entlang, wie es die verhätschelten Flachländer sonst immer machen."
"Hättest du früher Bescheid gegeben, dass sie nicht kommen, hätten wir sie einfangen können, vorm Darpat." Katz klang streng, offenbar versuchte er sich bei seinem Häuptling einzuschmeicheln.
"Woher sollte ich wissen, dass die zum Darpat wollten. Überhaupt. Seit wann muss ´ne Wache Bescheid geben, wenn niemand kommt? Das ergibt keinen Sinn, Katz" Roburn baute sich breitbeinig vor seinem Kontrahenten auf.
Kaelldor grinste in sich hinein. Er hatte schon lange den Eindruck, dass Roburn auf die Stellung des Ai´Than schielte, des Unterhäuptlings. Häuptling, Unterhäuptling - im Grunde lächerliche Titel, für eine kleine Schar Marodeure wie die ihre. Kaelldor sollte die Großsprecherei Recht sein, solange die Anderen seinen Rang ernst nahmen.
"Außerdem hab ich ihre Spur als erstes gefunden", fuhr der Spitzbart fort, der wie ein Theaterschauspieler aussah, unter der Schminke.
"Du hast den Gaul wiehern hören" sagte Selmia. "Angeblich. Die Hexe hat gesehen, dass sie mitten durch den Wald reiten, von ihrem Baum aus. Die Fährte gefunden hat dann ja wohl Trolling. Was nichts dran ändert, dass uns die Romlysher längst durch die Lappen gegangen sind. Und damit ja wohl auch unsere Belohnung...auf und davon. Wobei mir das Hexenweib ohnehin nicht geheuer ist. Ihr Silber ist sicherlich verflucht."
"Alles für die Katz", spottete Roburn. "Statt alles für den Katz, wie sonst immer."
"Halt die Orkfresse, Flachlandbart", zischte der Ai´Than. "Oder du fliegst in den Sumpf."
Roburns Hand verirrte sich zur Ochsenzunge, die in seinem Stiefel steckte. Glenda, seine Freundin, ließ bereits einen Stein in die Tasche ihrer Schleuder gleiten.
"Schluss mit dem ständigen Gegampfe." Kaelldor hatte leise gesprochen. Aber schon der Unterton genügte, um die Streithähne zur Räson zu bringen.
"Wir sind für uns wie ein Klan, vergesst das nicht. Egal was die feinen Pinkel sagen. Unsere eigenen Herren. Auch ohne Schafherden, Schweineställe, Gepirgsküh, Steinhäuser oder Weinberge. Aber ein Leben in Freiheit, in echter Freiheit, können wir nur führen, wenn wir zusammenhalten. Wenn wir uns respektieren...Und ein paar Kompromisse eingehen, das auch. Wir brauchen Sisa, um da oben zu überleben. "
"Und sie braucht uns, damit die Pechsieder kuschen", stellte Selmia fest. "Während sie wieder mal durch die Gegend schwirrt. Auch wenn sich die Pecher jetzt schon vor Angst in die Hosen scheißen. Was ich sehr gut verstehen kann. Für was braut das Satursweib dieses Dreckzeug nochma? Ich raff den ganzen Plan nicht. Soll sie das Bier uns geben, damit wirs wegsaufen. Bevor diese Romlysher es versauen."
"Tiefländer Ränke. Das geht uns alles nichts an. Hauptsache es springt was dabei raus. Und das wird es. Kein Klan ohne Waegga, ohne eine mächtige Zauberin. Und es braucht jemanden, der mitdenkt. Für euch alle mitdenkt. Das bin nun mal ich. Also. Die Romlysher wollen diese Haldana befreien. Soviel steht fest. Und das sollten wir tunlichst verhindern, wenn wir noch Kröten sehen wollen. Ihr habt gehört, was die Waegga gesagt hat. Die Bardin muss ohnehin sterben, damit dieser Schiefhals sich ihr Erbe unter den Nagel reißen kann. Die Flachländer sind nun mal so. Also fahren wir jetzt rüber und retten Golo vor den Romlyshern. Wer soll´s auch sonst machen? Diese Darpatpisser, pardon, Darpatschiffer, und die Traviadiener sicherlich nicht. Seine Braut nehmen wir mit, als Faustpfand für Than Gerrich. Selmia, lass deinen verdammten Dudelsack da, und nimmt lieber einen Kanthaken, zum Entern...wir brauchen Platz auf dem Floss."
Selmia blickte empört: "Die Sackpfeife ist mein Talisman. Darauf hat mein Großvater schon die geächteten Melodien gespielt, im Kampf gegen Fürst Helmbrechts Häscher. Kein Pfeil hat ihn getroffen und kein Schwerthieb, in einem Dutzend Scharmützeln."
"Wenn er in einem Dutzend Scharmützeln nur Sackpfeife gespielt hat, kein Wunder." Roburn war schon wieder auf neuen Streit aus. Die Pfeiferin antwortete nicht mal, sondern schnaubte nur verächtlich.
"Also gut. Ein bisschen Glück können wir alle gebrauchen." Kaelldor wollte Roburn nicht das Gefühl geben, er stünde auf seiner Seite. Der Than tastete verstohlen nach seinem eigenen Talisman, einer Kette aus Bärenklauen. Ebenso nach der gestohlenen Fibel in Form eines Herdfeuers, die seinen Telt zusammenhielt.
"Ich warne dich, wenn das Ding Ärger macht, schmeiße ich es persönlich über Bord..."
„Ich kann nicht schwimmen“ monierte Rovik.
„Du hast doch selbst gesagt, dass der Darpat hier flach ist“ gab Tuvok zurück. „Nun los, wir müssen Haldana befreien! Du hast gesehen, dass die Flusshexe die Seite gewechselt hat. Wer weiß, was die noch vorhaben. Aber wenn sie ablegen, dann holen wir sie nie wieder ein.“
„Flach, ja… hier an der Furt kann man auf Pferden durch den Darpat reiten. Aber wenn ich vom Gaul falle… Reiten kann ich nicht viel besser als Schwimmen, das weißt du. Und Haldana scheint es ja gut zu gehen. Seit zwei Stunden singt und klampft sie. Scheint eine Feier zu geben an Bord der Flusshexe.“ Das Schiff ist beleuchtet, und die Matrosen gröhlen. Jodokus hat durch das Fernglas gesehen, dass auch Dörfler aus Hausnerhaven an Bord gegangen sind. Das wirkt mir nicht so wie eine Gefangennahme. Wer lässt schon ein Konzert geben und die Gefangene auftreten, das macht doch niemand.“
„Wir wissen nicht, was da los ist, auch wenn uns manches seltsam vorkommt“ stimmte Jodokus zu. „Aber wenn wir nicht nachsehen, werden wir weiter im Unklaren bleiben. Und, nicht zu vergessen… wenn dort viel los ist, können wir vielleicht unerkannt etwas erreichen.“
Inzwischen war auch das letzte Licht der Praiosscheibe hinter den Bergen verschwunden. Die fünf Gefährten waren aus ihrem Lager zwischen den Steinblöcken am Ufer des Darpat aufgebrochen.
„Was willst du damit sagen?“ raunzte Tuvok Rovik an, Jodokus´ Einwurf ignorierend. „Meinst du, Haldana wurde als Sängerin engagiert und singt hier freiwillig?“
„Nein, keinesfalls“ warf Alrik ein. Allein das Lied, mit dem sie angefangen hat. Mit dem herrlichen Text… den muss ich mir echt merken. Das singt sie doch sicher nicht zu Ehren ihres Gastgebers, das ist doch reinster Schmähgesang auf Gerrich. Und auf Golo, warum immer dieser Schiefhals auch besungen wird. Nein, ich weiß zwar nicht, warum da an Bord gefeiert wird, aber immerhin hat es Haldana geschafft, ihre Wärter dazu zu bringen, sie singen zu lassen. So wissen wir, wo sie ist. Und Haldana ist nicht gefesselt, nicht eingesperrt. Und an Bord sind alle abgelenkt und vermutlich früher oder später doch arg dem Trunk zugetan. Wenn wir eine Chance haben, an Bord zu gelangen und etwas auszurichten, dann heute.“
„Schiefhals?“ hakte Tuvok nach. „Ich habe durch das Fernglas einen schiefhalsigen Edelmann an Bord gesehen. Neben Haldana, die man in einem weißen Kleid ausstaffiert hat. Wer ist dieser Schiefhals?“
„Golo von Friedwang-Glimmerdieck. Ein entfernter Verwandter… Eigentlich dachte ich, der wäre tot. Oder zumindest nicht mehr lebendig“ antwortete Alrik.
„Wieso eigentlich haben die Haldana herausgeputzt mit Kleidchen und so? Will Gerrich sie erst schmücken, bevor er über sie herfällt? Warum dann das Konzert an Bord? Was geht da eigentlich vor?“ wollte Jodokus wissen.
„Das würde ich auch gerne wissen“ murmelte Hesindian. „Wir werden es wohl erst herausfinden, wenn wir dort sind.“
Tuvok hatte eine vage Vermutung, was das weiße Kleid und das übrige, was er an Bord gesehen hatte, bedeuten konnte. Aber er sagte nichts. Den Gefährten seine Vermutung mitzuteilen hieße, Haldanas Identität zu lüften. Das konnte er nicht tun. Er hatte Haldana Stillschweigen versprochen.
„Ich könnte mir vorstellen, dass er Haldana als Druckmittel, als Geisel, gefangen gesetzt hat. Um uns davon abzuhalten, seine Pläne mit der Vergiftung zu durchkreuzen“ orakelte Jodokus. „Aber das erklärt die Feier nicht. Bei Travia, wenn ich jemanden gefangen nehme, dann doch nicht, um dessen Musik zu lauschen. Gerrich ist doch kein Musikliebhaber, der seinen Lieblingsbarden gefangen nimmt? Kein schwärmerisches Kind, das von unerfüllter Liebe zu einem Künstler im Bühnenlicht entbrannt ist? Ich meine, so etwas kam schon vor, dass jemand einen Gaukler oder Sänger aus Liebe entführt hat. Aber das ist doch bei Gerrich nicht anzunehmen. Oder? Naja, das würde jedenfalls das Ausstaffieren mit schöner Kleidung erklären. Aber irgendwie ist das nicht überzeugend.“
„Gerrich… oder Golo…“ murmelte Tuvok gedankenschweifend.
„Tuvok, sagtest du nicht, du hättest auch einige Traviabrüder an Bord gesehen?“ wollte Hesindian wissen.
„Ja. Fünf. Der Kleidung nach Laienprediger.“
„Kann das eine Hochzeit sein? Und das weiße Kleid ein Brautkleid?“ rätselte Hesindian, nichts ahnend, dass er sehr nahe bei der Wahrheit war.
„Nun mal halblang, Hesindian. Ich weiß genug über Gerrich. Wenn er eine Gefangene zu seinem Vergnügen nimmt, dann wird er sie vorher nicht heiraten. Außerdem soll diese Sisa Brundel sehr eifersüchtig sein.“ warf Alrik ein.
„Und Golo?“ Fragte Tuvok nach. „Was ist mit diesem Golo? Kann der ein Interesse an Haldana haben?“
„Golo? Nein. Der steht auf Knaben. Vor den Nachstellungen Golos ist Haldana absolut sicher“ beruhigte Alrik den Jäger. „Da müssen wir eher Dich beschützen, mein Freund. Er steht auf schlanke, athletische, groß gewachsene…“
Ein finsterer Blick des Jägers ließ Alrik verstummen. „Auf schlanke Friedwanger Alriks vermutlich“ giftete Tuvok zurück. „Beim Heiraten geht es übrigens nicht immer um Liebe, aber als Baron solltest du das wissen, Alrik.“ Einen Augenblick lang dachte Tuvok nach, ob er die Gefährten über seine Vermutung informieren sollte. Aber er unterließ es. Er hätte länger erklären müssen, wenn er Haldanas Geheimnis um ihre Herkunft offenbaren wollte. Dafür war jetzt ohnehin keine Zeit. Die Furt war ein wenig flussabwärts unterhalb der Nattermündung gelegen. Wie Rovik schon berichtet hatte, waren dort mehrere Inseln im Darpat, der sonst breit, träge und flach dahin floss. Zwischen den ersten Inseln war das Wasser nicht mehr als hüfthoch. Nur der Hauptarm war etwas tiefer, aber dennoch für Pferde hier vermutlich zu durchqueren. Auf der anderen Seite würde man sich von Rahja erst dem Dorf Hausen und dann der dort ankernden Flusshexe nähern.
„Also ich reite voran. Heute oder nie haben wir die Chance, Haldana da raus zu holen“ sagte Jodokus bestimmt. Er baute darauf, dass der Zwerg nicht allein zurück bleiben würde, und dass er, in seltener Einigkeit mit Tuvok, alles daran setzen würde, Haldana zu befreien. Langsam lenkte er sein Pferd in den Fluss, das Pferd Haldanas zog er immer noch am Zügel hinterher.
Rovik brummte kurz und leise, dann gab er seinem Pferd die Schenkel. Es war gut, dass das Pferd auch Jodokus gehörte und es gewöhnt war, den anderen Pferden einfach hinter her zu laufen. So musste Rovik eigentlich nicht viel machen als sich auf dem Rücken des Tieres festzuhalten und versuchen, das Wasser rings um ihn zu vergessen.
Nach dem Zwerg folgte Tuvok. Zuletzt Hesindian und Alrik. Die Strömung war wirklich schwach. Über die ersten drei Inseln zu gelangen war nicht schwer. Jetzt, in der Dunkelheit, waren sie auch außer Sichtweite der Flusshexe. Kein noch so guter Späher hätte sie erblicken können. Das Madamal war hinter eine Wolke verschwunden. Die Dunkelheit verbarg die kleine Schar vor den Augen möglicher feindlicher Wächter auf der Flusshexe.
Keiner der Gefährten sprach ein Wort. Zu sehen waren sie nicht, aber zu hören wären sie sonst für ein geschultes Ohr gewesen. In der Windstillen Nacht hätte ein Lauscher ihre Stimmen hören können. Das leise Plätschern, das ihre Pferde beim Durchreiten des Flusses verursachten, würde im Rauschen des Flusses unter gehen.
Nun übernahm Alrik die Führung, als sie die dritte Insel überquert hatten. Nur noch der schiffbare Hauptarm lag vor Ihnen. Die Lastkähne, die vom Treidelpfad aus stromaufwärts gezogen werden, hatten nicht so viel Tiefgang. Dennoch würde das Wasser höher reichen als nur bis zu den Steigbügeln. Vorsichtig lenkte Alrik sein Pferd vorwärts. Die Hufe tasteten über den Flusskies, tastend nach Halt und guten Tritten. Doch es ging alles glatt. Keine verborgen liegenden Felsblöcke, keine Löcher im Grund. Dass Alrik bis zum Gürtel nass wurde und sein Pferd nur mit Hals und Kopf aus dem Wasser schaute, war nicht schwierig in dem gemächlich hinfließenden Darpat. Das Wasser war auch gar nicht sehr kalt. Ganz anders als der Dergel oberhalb des Ochsenwassers oder die Bäche der Sichelberge. Alrik wunderte das nicht. Immerhin stammte das Wasser aus dem weitesteils flachen und von Praios aufgewärmten See.
Endlich war der Fluss durchquert. Alrik merkte sich die Stelle, aus der er aus dem Darpat auf den Treidelpfad ritt, anhand einer hier stehenden auffälligen Pappel. Bei einer Flucht müsste man nur exakt hier den Rückweg über den Fluss wählen und käme dann schnell zurück auf das rahjawärtige Ufer.
Tuvok, der als nächster aus dem Fluss ritt, zog seine vorsichtshalber wasserfest verpackte Bogensehne auf den Bogen und nickte dem Baron zu. Leise beratschlagten beide und kamen überein, dass man es nicht riskieren konnte, beritten und mit nassen Hosen in das Dorf zu gehen. Das wäre zu auffällig, und man wusste nicht, wie rasch Gerrich dann von Ihnen erfahren mochte, auch wenn er durch die Feier auf seinem Schiff abgelenkt war. Besser war es, am bewaldeten Ufer, durch die Bäume zwischen dem Treidelpfad und den ersten Häusern, hindurch zum Hafen zu gelangen, wo auch die Treidelstation lag und die Flusshexe vor Anker lag. Es mochte die neunte Stunde am Abend sein. Es würde also nicht grundsätzlich auffallen, wenn Personen zwischen Dorf und Hafen unterwegs wären. Aber ebenso musste man damit rechnen, Fremden zu begegnen. Nun, auch die nassen Hosen mussten nicht unbedingt auffallen, so nah an der Furt. Aber man musste nichts riskieren. Es war genug Verkehr entlang des Darpat unterwegs, dass nicht jeder Wanderer gleich mit Fragen bedrängt wurde. Aber… rechnete Gerrich damit, dass sie kamen? Vielleicht nicht, denn sonst würde vielleicht nicht so ein Fest stattfinden? Wollte man sich aber darauf verlassen? Besser nicht. Alrik schob die Gedanken an alle denkbaren Unwägbarkeiten beiseite. Sie standen kurz davor, diesen gefährlichen Giftmischer endlich zu fassen, der Rommilys vergiften wollte. Und wie es aussah waren die Möglichkeiten denkbar gut, an Bord der Flusshexe zu gelangen. Immerhin war Gerrich und seine Mannschaft abgelenkt. Hatte Haldana ihr Nahen bemerkt? Sorgte sie deswegen für eine Feier an Bord?
Rovik und Jodokus waren die letzten der Schar, die aus dem Fluss geritten kamen. Die Gefährten banden die Pferde in einem nahen Wäldchen fest und schlichen dann zum nahe gelegenen Dorf. In der lauen frühsommerlichen Nacht begegnete ihnen niemand auf dem Weg. Das Rauschen des Darpat übertönte jedes Geräusch, so dass sie unbemerkt bis zum Hafen gelangten. Noch immer klang die Musik und der Gesang Haldanas über das Wasser, nunmehr waren die Gefährten auch nahe genug, den Text zu hören. Gerade hatte Haldana mit einem neuen Lied angefangen. Offenbar hatte sie sich jetzt an den Liederschatz des Barden Matthias der Reimende heran gewagt. Hesindian seufzte leise. Naja, nicht gerade sein Lieblingslied. Aber dann hörte er doch zu. Offenbar hatte Haldana den Text abgewandelt.
„Sie raubten mich gegen Mitternacht
Ich hab das hier nicht gern gemacht
Ich will das, will das nicht.“
klang Haldanas Stimme klar zu vernehmen. Unmissverständlich, die Sichlerin sang nicht zu ihrem reinen Vergnügen auf dem Schiff. Aber immerhin ließ man sie gewähren, frei über ihre Lage zu singen. Vielleicht fühlte Gerrich sich sicher und überlegen und störte sich nicht daran. Vom Ufer aus war nicht zu sehen, was an Bord vor sich ging. Dafür lag das Deck zu hoch. Die Brücke, die vom Schiff ans Ufer ragte, war schmal und führte steil nach oben. Man würde im Gänsemarsch laufen müssen, um nach oben zu gelangen. Die Reling lag gut zwei Schritt über ihnen.
„Ich sitz aufm Hocker, spiele noch ein Lied
Damit die Hochzeitsnacht noch nicht geschieht
Ich will das, will das nicht.“
„Also doch eine Hochzeit“ murmelte Alrik leise. „Warum? Was bezweckt Gerrich damit? Oder singt sie das nur in künstlerischer Freiheit…“
„Nein. Das ist eine Hochzeit. Es waren Traviaprediger an Bord. Sie trug ein Brautkleid. Ich kann mir das auch nicht erklären, was Gerrich für einen verrückten Plan verfolgt. Oder was für einen perversen Plan. Jedenfalls, wenn das Lied kein Hilferuf ist, was dann?“ äußerte sich Jodokus. „Wir müssen sie retten“
„Langsam, Baernfarn, langsam“ bremste Alrik. „Überhastete Aktionen helfen Deiner Liebsten nicht. Willst du einfach den Laufsteg hoch und alle an Bord niedermachen? So leicht wird es nicht werden.“
„Gegenüber sitzt einer mit schiefem Hals
Ganz und gar nichts eines Prinzgemahls
Ich will das, will das nicht.“
Also doch Golo, dachte Alrik. „Warum in Travias Namen will Golo Haldana heiraten? Er steht nicht auf Frauen, was will er von einer Sängerin?“
Tuvok brummte und schwieg.
„Wir können auch über die Taue nach oben klettern“ Jodokus zeigte auf die langen Seile, mit denen das Schiff am Ufer an den Pollern vertäut war. „Einer vorne, einer hinten, einer über den Laufsteg. So können wir an drei Stellen aufs Schiff.“
„Auf einmal packte man mich, Riss mich fort im nu,
Er sagte, meine Frau bist jetzt du
Ich will das, will das nicht.“
Klang Haldanas Stimme eher traurig oder eher verzweifelt? Oder bildete sich Jodokus das ein? Eigentlich war der Stimme der Bardin doch nichts anzumerken. Eigentlich war das doch ein schönes Lied, mit mitreißendem Refrain. Der Rommilyser ertappte sich, wie er am liebsten mitgesungen hätte.
„Und ich frag` mich, wie komm` ich jetzt hier raus“
„Wir müssen da rauf“ drängte Tuvok.
Alrik nickte. „Gut. Hesindian klettert am vorderen Seil hoch. Ich am hinteren. Rovik und Jodokus folgen über den Laufsteg. Du gibst uns mit dem Bogen Deckung und ziehst nach. Aber keiner schlägt los, ehe ich das Zeichen gebe. Wir müssen uns erst orientieren an Deck. Es sind auch Dorfbewohner an Bord. Viele, die nicht unsere Feinde sind, und die wir uns auch nicht zu Gegnern machen sollten. Keine überhasteten Aktionen also. “
Verdammt du küsst mich… ich küss dich nicht.
Verdammt das stört mich… das stört dich nicht.
Verdammt ich will nicht… ich will dich nicht
Ich bin nicht Deine Braut.
Die Gefährten gingen auf ihre Positionen, die Alrik festgelegt hatte. Der Friedwanger sah sich unauffällig von seiner Position aus an Deck um.
Verdammt du küsst mich… ich küss dich nicht.
Verdammt das stört mich… das stört dich nicht.
Verdammt ich will nicht… ich will dich nicht
Ich bin nicht Deine Braut.
Leise verklangen die Akkorde.