10. Kapitel - Der Meister des Wetters
10. Kapitel
Der Meister des Wetters
Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken. Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben. Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."
Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.
Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.
Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria
Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
"Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."
11. Kapitel
11. Kapitel
Das Unwetter vom Kurgasberg
Sanft knisterten die Flammen der Pechfackel, die Korwid entfacht hatte.
Der Medicus duckte sich und betrat den Stollen. Alte Spinnweben strichen ihm durchs Gesicht, ebenso Wurzelwerk. Grüner Farn hatte den Eingang zur Mine fast zu gewuchert. Ein paar verrottete Bretter mit rostigen Nägeln lagen im hüfthohen Gras: eine Erinnerung daran, dass der Zugang einmal verrammelt gewesen war. Auf einer der durchgemorschten, graubraunen Bohlen war sogar noch die Farbe zu erahnen. Irgendein verirrter Geweihter hatte einmal Bannzeichen hinterlassen, an diesem vermeintlichen Zugang zu den Niederhöllen.
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. Doctor Alfengrund kam das Zitat eines horasischen Poeten in den Sinn. Der Rommilyser lächelte spöttisch. Volkstümlicher Aberglauben, nichts weiter. Ein Pestmännchen sollte tief im Inneren des Berges hausen, und die Bergleute vertrieben haben, aus Zorn, dass sie in ihrer Gier nach Silber immer weiter in sein Reich vorgedrungen waren. Angeblich hatte der Kobold eine große, grüne Wolke aufsteigen lassen, die Sieche und Tod brachte. Vielleicht saß dort unten auch das Pechmanderl, das den Kindern die Augen verklebte, mit Zirbenpech, um sie zum Schlafen zu bringen. Wer wusste das schon?
Einen Moment lang starrte er tatsächlich in vollkommene Schwärze, bis sich seine Augen an das Wechselspiel von flackerndem Fackelschein, Schatten und Dunkelheit gewohnt hatten. Der Gang roch muffig, das Regenwasser war, auf leicht abschüssiger Strecke, tief in den Stollen hineingelaufen. Dahinter war es im Berg angenehm trocken, sogar warm, jedenfalls im Vergleich zur feuchten Höhenluft draußen. Eine Ratte ergriff die Flucht. Rötlich spiegelte sich der Fackelschein an den Wänden.
Im Boden waren verrottete Holzschienen zu erahnen, die nur noch Stolperfallen waren. Vorsichtig und gebeugt folgte Korwid dem Verlauf des nicht ganz mannshohen Tunnels. Die Stützbalken wirkten morsch, waren krumm und hie und da umgestürzt, so dass man sie übersteigen musste. Einsturzgefährdet schien der Stollen aber nicht zu sein. Der Medicus musste nur darauf achten, nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Wann immer er das graubraune Gestein streife, bröckelte sacht Steinstaub herab, manchmal auch das eine oder andere Steinchen.
Er blickte zurück, zum Eingang, wo der wolkenverhangene Bergwald der Trollzacken noch zu erahnen war. Irgendwo in der Ferne heulten Wölfe, gefolgt vom Grollen eines Gewitters. Vielleicht war es auch ein schwerer Steinschlag, der gerade ins Tal donnerte.
Die Silbermine vom Kurgasberg. Alfengrund hätte sich schon unter Tage unwohl gefühlt. Aber das einstige Bergwerk befand sich auch noch inmitten götterverlassener Wildnis. Das Geisterdorf zu Füßen des Kurgas- oder Kurgansbergs, es war kaum mehr als eine armselige Ansammlung von Ruinen und Steinhaufen, überwuchert von Gestrüpp. Die Pecher, die in der Gegend verstreut das Baumharz ernteten - sie waren der Meinung, dass der Berg wie ein geduckter, buntbemalter Trollzacker aussah, auf seinem Reittier: ein Kurga eben, zumindest wenn das Sonnenlicht merkwürdige gezackte Muster auf die Flanken zeichnete. Beilfels wurde der Ausläufer genannt, an dessen Fuß sich der Eingang zur Unterwelt befand.
Niemand wusste mehr zu sagen, ob das Geisterdorf da unten, neben dem Geröllfeld des türkisfarbenen Loderbachs, wirklich einmal Kurgasberg (oder Kurgansberg) geheißen hatte. Die Pechhacker, in ihren abgelegenen Berghütten, waren froh, mit dem einstigen Dorfplatz überhaupt so etwas wie einen Lebensmittelpunkt zu besitzen. Wo sie ihr Pech verkaufen konnten, das sie manchmal in Butten zu Tal trugen, auf dem eigenen Rücken, gelegentlich auch mit einem Schlitten oder auf einen Esel gepackt. Drei bis vier Ernten gab es im Jahr. Ein, zwei Mal kamen die Händler aus Rommilys und füllten die klebrige Ware um. Dann herrschte Festtagsstimmung in der Bergeinsamkeit.
Korwid kannte diese Welt zur Genüge. Eines Tages, er war noch keine zehn Götterläufe alt gewesen, hatten sie ihn nach Rommilys mitgenommen, die Pechhändler. Seinen Eltern abgekauft, um genau zu sein, diesen armen Hungerleidern. Mutter war krank gewesen, der Winter hart und ein Heiler teuer. Sein Opfer war nicht umsonst gewesen, hatte er später erfahren.
Billige Arbeitskräfte waren in der Fürstenstadt begehrt. Niemand war billiger als die schmutzigen, zotteligen, in Lumpen gehüllten "Trollkinder" aus den Bergen. Rommilys war groß und prachtvoll, eine Stadt mit vielen Kaminen.
Als Schornsteinfeger hatte er seine steile Karriere begonnen, gerade klein und schmächtig genug, um für die hohen Herren in den Kamin zu klettern und ihnen aufs Dach zu steigen.
Es gab jede Menge Schläge und Fußtritte vom Meister. Staub und Asche legten sich auf die Lungen, wenn man sich kein Tuch vor Mund und Nase band. Der Blick über die Dächer von Rommilys, bis zum Schloss und zu den Darpatfällen, entschädigte für einiges. Es war ein Anblick, der Ehrgeiz in einem Trollkind wecken konnte, das mit seinem rußverschmierten Gesicht einem kleinen Schwarzpelz fast noch ähnlicher sah als einem jungen Bergschrat.
Korwid konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er seinem Wohltäter begegnet war. Im Adelspalais in der Bockengasse war das gewesen, wo er öfters die Aschekruste von der Innenwand des Kamins kratzte. Der hohe Herr und seine Gemahlin hatten ihn sofort gemocht, aus jenen unerfindlichen Gründen heraus, die vom ersten Augenblick an ein Band der Sympathie zwischen Menschen zu knüpfen vermochte. Eines Tages hatte sich Wolpert, der junge, unerfahrene Teckel des Herrn, in einen Dachsbau verirrt, vor den Toren der Fürstenstadt. War steckengeblieben, jaulte und winselte zum Göttererbarmen. Alles Graben war vergeblich. Seine Wohlgeboren hatte Korwid herbeiholen lassen, wohl wissend, dass der sich vor Schmutz, Dunkelheit und Enge nicht fürchtete. Als er in den Schlund der Erde gekrochen war, Wolpert gerettet und dessen Blessuren verarztet hatte, Dachsbisse gingen tief - da war das Eis zwischen ihm und seinem Wohltäter endgültig gebrochen.
"Wir beide haben vieles gemeinsam", hatte der Edelmann zu ihm gesagt. Einen Moment lang hatte sich Gerrich an seinem Erstaunen geweidet, als er, der hohe Herr, ihm, den armen, erdverschmierten Trollbergbub, begütigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte: eine blasse, vornehme, zarte Hand mit einem silbernen Siegelring, den ein Steinbockwappen geziert hatte. "Du musst wissen, ich beschäftige mich ebenfalls mit der Schwarzen Kunst - zumindest sagen mir übelmeinende Leute das nach. In Wahrheit möchte ich einfach nur hoch hinaus. So wie du. Das sehe ich dir an. Denn ich sehe vieles, was andere Menschen nicht sehen. Auch diese Gabe haben wir gemeinsam."
Gerrich Praionald von Friedwang, Edler zu Rommilys. Ein Magier, der aufgrund von Madas Gabe, die immer auch ein Fluch war in den praiosfürchtigen Landen, auf sämtliche Güter und Lehen hatte verzichten müssen, wie es ein altes Gesetz aus der Rohalszeit verlangte. Niemand wusste so recht, woher Gerrichs glänzenden Golddukaten kamen, nur dass er reichlich davon hatte, im Friedwanger Haus in der Bockengasse.
Eine Ausbildung, ein anständiges Leben, hatte ihm der Herr zur Belohnung versprochen, welchen Beruf - welchen wahren Beruf er auch immer ergreifen wolle. "Medicus" hatte Korwid wie aus der Armbrust geschossen gesagt und sich über sich selbst gewundert.
Korwid ging tiefer ins Dunkle hinein, das im Lichtschein immer mehr zurückwich.
Ganz von ungefähr kam sein Interesse an Körpersäften, am verborgenen Innenleben von Mensch oder Tier nicht.
Er war ja der Sohn eines Pechers, und hatte von Kindesbeinen an erlebt, wie Vater tiefe Wunden in die Stämme von Fichten, Kiefern und Föhren geschlagen hatte, mit seiner Dechsel und anderen Werkzeugen, die mehr an Foltergeräte erinnerten. Von den Scharten aus war das gelbbräunliche Blut der Bäume in die Pechbecher getropft. Gerade so viel, dass der alte Baum am Leben blieb. Als Kind war ihm das ungemein grausam und eigennützig vorgekommen. Fast schon ein wenig perainelästerlich. Aber es hatte ihn auch - fasziniert. Es gab viele Methoden, Pech zu gewinnen: manchmal musste man dazu mit einer Leiter den Stamm hinaufsteigen. Manchmal wurde unten einfach nur ein "Schrott" ins Holz geschlagen, um dort das Harz zu sammeln.
Der spitze Stab, mit dem der aufgehackte Stamm geputzt wurde, er wurde zugleich als Kerbholz genutzt, das anzeigte, aus wie vielen Bäumen das künftige Pech bereits tropfte. Rowisch, nannten die Pechhacker das Werkzeug, eines von vielen. Wie ein mächtiger Zauberstab war ihm dieser Holzstab vorgekommen, damals, in seinen Kindertagen. Gerrichs fein gedrechselter Stab hatte ihn auf Anhieb daran erinnert. Etwas auf dem Kerbholz haben: Das Sprichwort hatte er nie richtig verstanden. Was anderen als Makel erschien, war für ihn ein Maßstab für Erfolg.
Kerbholz, das Wort klang für ihn wie Kerbhold: Der Ketzer, der im Goldenen Wald die Menschen zum Unglauben an den Namenlosen verführt hatte und zur Strafe auf einen Fliegenden Felsen verbannt worden war. Schon als Jüngling hatte er über die Sage eher gelächelt. Kerbhold, der Name wirkte eher trollig als bedrohlich. Kein Wald war golden, außer das klebrige, übelriechende Harz. Aus dem auch der Bernstein entstand, der angeblich PRAios, dem Herrn, heilig sein sollte. Wie konnte Harz dem Götterfürsten heilig sein, wenn es kleine, unschuldige Ameisen, Fliegen und andere Insekten umfloss, erstickte und für immer in einem goldenen Kerker einschloss, wie er es selbst schon gesehen hatte? Ein durch die Lüfte fliegender Fels, die Vorstellung war ohnehin lächerlich gewesen (nun, diesbezüglich war er eines Besseren belehrt worden, damals in Wehrheim).
Wie auch immer. Die Sache mit dem Kerbholz hatte ihn nie ganz losgelassen. Er trug noch immer so einen Rowisch bei sich, auch jetzt, im Gürtel, neben dem Dolch. Eine feste Tradition, vielleicht auch eine Marotte. Nach jeder Sünde, nein, nach jeder vermeintlichen Missetat, hinterließ er dort eine weitere Kerbe, nach jedem echten Frevel ein Sternchen. Es war, als würde damit die Sünde auf das Holz übergehen. Die erste Kerbe hatte er sich erworben, als er seiner dummen, kleinen Schwester beinahe das Auge ausgestochen hatte, beim Ritterspielen. Ein Versehen.
Nun ja, vielleicht nicht ganz ein Versehen.
Die Accademia Magica Curativa, die Anatomische Akademie zu Vinsalt. Dort hatte Korwid seinen "Dottore" erworben, an der "weltlichen" Fakultät, mit Mühsal und Fleiß. Und dabei reichlich Gelegenheit gehabt, Menschen die "Rinde" abzuziehen. Die anders als die Bäume von Kurgasberg nicht mehr der Sphäre der Lebenden angehörten. Getreu dem Wahlspruch des Instituts: Hic gaudet mors succurrere vitae. Hier ist der Ort, wo der Tod dem Leben freudig zur Hilfe eilt.
Es war eine wunderbare Zeit gewesen, vor den Toren des horaskaiserlichen Palasts, in der Tausendtürmigen Stadt. Der Unterschied zur erstickenden Enge und Finsternis, die zuhause, im Raulschen Reich herrschte - nicht nur in den Kaminschächten, sondern auch in den Köpfen ihrer Besitzer - hätte kaum größer sein können. Ganz abgesehen von den vielen anderen Reizen des Lieblichen Feldes: Amore, Vino, Lautenklang und Opernsang. Der laue Sommerwind, das Zirpen der Zikaden, die prachtvollen Gewänder, die vornehme Lebensart. Die Erinnerung an die verschneiten Trollzacken war damals so unwirklich gewesen wie eine Moritat über die Zwölfgöttliche Verdammnis.
Mit Dottore Corvidio Albigundi, pardon, Doctor Alfengrund war ein anderer Mensch nach Darpatien zurückgekehrt, in mehr als nur einer Hinsicht. Eine Zeitlang hatte das einstige Kaminfeger-Kind schon auf Dere wie in Peraines Paradies gelebt.
Auch wenn bei weitem nicht jeder im Spital oder Tempel Verständnis für horasische Heil- und Forschungsmethoden aufbrachte. Heiler, die unter einem Dach mit Magiern Peraines Kunst erlernten? Heiliger Therbûn, steh uns bei! Bücher mit Geheimwissen, aus dem Reich der Rastullah-Anbeter, einschließlich einem tiefen Blick in die Leiber der Sterblichen? Praios bewahre!
Hätten diese Frömmler geahnt, wie oft er selbst zum Seziermesser gegriffen und das aufgeschnittene tote Fleisch mit Haken offen gehalten hatte, damals in Vinsalt - wahrscheinlich hätten sie ihn sofort hinauf zum Greifenplatz gezerrt. Oder gleich lebend beerdigt, drüben auf dem Boronanger.
Doctor Alfengrund hatte sich beizeiten zu verstellen gelernt. Sich mit einem Schutzmantel und einer Storchenmaske umgeben, auch im übertragenen Wortsinn. Hatte sich gewappnet, gegen das Miasma der Krankheit ebenso wie gegen die Ausdünstungen falsch verstandener Götterfürchtigkeit. Dennoch, schon seine niedere Herkunft hatte an ihm geklebt wie unsichtbares Pech. Selbst wenn diese Neidhammel und Ignoranten nicht die ganze Geschichte kannten. Sie ahnten wohl, dass er nur durch einen mächtigen Förderer in die feinsten Kreise der Fürstenstadt aufgestiegen war. Die Großzügigkeit, mit denen er dabei den Armen und Ausgestoßenen half, eingedenk seines eigenen Schicksals, reizte seine Feinde fast noch mehr, als wenn er fürstlicher Leibarzt geworden wäre.
Natürlich hatte Korwids schwindelerregender Aufstieg vom Niemand zum geachteten Bürger seinen Preis gehabt, wie alles im Leben. Gerrich hatte sich die Originalformel des TRANSMUTARE ausbedungen, die damals noch in der Accademia verwahrt worden war - ein profaner Verschönerungszauber, mit dem man die menschliche Gestalt über längere Zeit verändern konnte. Der entsprechende Geschäftszweig der Akademie war damals aufgelöst worden, wegen "mangelnder Ernsthaftigkeit der Forschungen", wie es hieß. Die Beschaffung des Folianten war verblüffend einfach gewesen, in einer Zeit des Chaos, als sich mit der lukrativen Einnahmequelle der "Fakultät" auch deren Ordnung aufgelöst hatte: das erste, wohlverdiente Sternchen auf seinem Rowisch.
Gerrich, sein Förderer. Erst nach und nach hatte er begriffen, dass ihm nicht nur seine Adelsgüter verweigert worden waren. Vor vielen Jahren hatte er auch sein Zaubersiegel verloren und die sogenannte Expurgico erlitten, den Ausschluss aus der Gilde. Seitdem hatte der "Hexer von Rommilys" neue Wege gefunden, den Inhalt seines Dukatensäckels aufzubessern. Von Glücksspiel war die Rede und all zu guten Kontakten zur Unterwelt von Rommilys. Korwid war es gleich. Wohin moralische Gefallsucht den Menschen bringen konnte, das führten ihm die bornierten, engstirnigen Rommilyser Perainediener jeden Tag aufs Neue vor Augen.
Dann war der fürchterliche Bethanierkrieg über Darpatien und das Reich hereingebrochen. Gerrich hatte sich verändert, Korwid nicht, auch wenn einige das behaupteten. Ein Krieg war im Grunde nichts anderes als ein Skalpell, das alles Morsche, Verrottete und Schwache wegschnitt - und das Innerste des Menschen zeigte, wie er in Wirklichkeit war. Hässlich, stinkend, ekelerregend. In diesem Fall half nur nüchterner, kalter Verstand über die Abgründe hinweg.
Den musste sein Mentor aber irgendwann verloren haben, in den letzten, unseligen Götterläufen. Spätestens als Lorena, seine Gemahlin, umgekommen war, in einem der vielen Hunger- und Pestwinter. Sisa, dieses verruchte Hexenweib, hatte sicherlich ihren Anteil daran gehabt. Sogar von einem finsteren Pakt mit den Mächten der Anti-Peraine war die Rede. Korwid beurteilte selbst solche Dinge nicht moralisch. Wer so verzweifelt war, seine Seele den Niederhöllen zu verpfänden, der hatte seine Gründe. Aber Wahnsinn war noch einmal etwas völlig anderes, auch und gerade da, wo er schleichend in die Herzen der Menschen kroch.
Gerrich und Sisa waren verrückt, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Das Schlimmste war, dass er, Korwid, Ihnen womöglich sogar die Ideen zu ihren wahnwitzigen Plänen eingeflößt hatte. Dieses groteske Fliegende Fass der Hexe: Was war es mehr als eine Nachäffung von Galottas Fliegender Festung, deren Zerstörungswerk er in Wehrheim selbst erlebt hatte? Erlebt und überlebt. Gerrich und seine Mätresse hatten seine Erzählung vom grauenhaften Untergang des "Stählernen Herz des Reiches" einfach nur - interessant gefunden.
Der Schmuggel dieses grünen kriechenden Schleims im Pech aus Kurgasberg: Letzten Endes war es Korwids Leben, sein altes Leben, in das sie sich nun immer mehr einmischten. Das Unheiligtum der Faulenden Monarchin des Ewigen Siechtums, das hatten sie ihm geradewegs vor den Gutshof gestellt. Schlussendlich der TRANSMUTARE: Die Thesis hatte er Gerrich beschafft, der damit vor allem sein Aussehen hatte verjüngen wollen.
Korwid hegte allerdings den Verdacht, dass Gerrichs vermeintlicher Enkel Golo nicht einmal der echte Junker von Gießenborn war. Der sollte schon vor vielen Jahren umgekommen sein, als Jünger des Namenlosen. Womöglich verbarg sich hinter dem Wiedergänger nur ein armer, ehrgeiziger Narr, der als Spielzeug in Gerrichs (oder Sisas) Klauen geraten war. So wie es ihm geschehen war, dem einstigen Pechvogel aus Kurgansberg. Ein neuer Jünger, den sie nun nach Belieben formen konnte, im Wortsinn. Einem Gerücht zufolge sollte es sich dabei um einen von Golos verflossenen Liebhabern handeln. Der wahrscheinlich auch noch stolz darauf war, nun mit schiefen Hals und selemitischer Visage über Dere zu schlurchen.
Das war alles nur noch Wahnwitz und Bosheit, ebenso wie die Räuberbande, die sich unten im Geisterdorf eingenistet hatte, und die armen Pecherdrangsalierte. Aber vielleicht hatte Gerrichs Wahnsinn auch Methode. Heiratsfähige Nachkommen waren das Kapital eines Edelmanns, ebenso wie dessen Güter. Anders als sein Großvater sollte Golo über Ländereien verfügen, irgendwo in der Sichel. Man munkelte, dass der Edle zu Rommilys seinen Enkel partout unter die Haube bringen wollte, natürlich lukrativ.
Korwid erreichte nun die Stelle, wo ein "Hunt" auf den Schienenreste ruhte, ein hölzerner Wagen, dessen eiserne Beschläge völlig verrostet waren. Im Inneren der primitiven Lore befand sich sogar noch etwas Abraumschutt.
Der Medicus zwängte sich vorsichtig durch die Engstelle hindurch. Nach einigen Schritten kam er zu einer Abzweigung, die nach links führte. Erschrocken duckte er sich, als scharrend ein schwarzer Schatten an der Decke entlang flatterte. Eine Fledermaus, nichts weiter. Unten in der Zweiten Sohle hatten sie ihre Kolonie, wo sie kopfüber hingen, als Geschöpfe der ewigen Nacht.
Korwid schluckte und hielt die Fackel höher, seine Waffe im Kampf gegen die Finsternis. Der Nebengang, dem er nun folgte, erinnerte ihn irgendwie an die Kamine von Rommilys, in die er damals hineingekrochen war. Ein kurzes Stück lang musste er sich auf allen Vieren fortbewegen.
Dort vorne war er auch schon: der Aufzug hinab in den Kerker, in den er Selina und die Kinder hinabgelassen hatte. In der unteren Sohle gab es keinen Ausgang. Natürlich hatte er den Gefangenen Talglichter, Wasser, Brot, Schinken und Käse mitgegeben. Sogar Decken. Aber Korwid musste zugeben, dass sein Vorgehen grausam gewesen war.
Die Seilwinde war in einem erstaunlich guten Zustand, ebenso wie das Seil selbst - vermutlich lag es an der trockenen Luft. In der Ecke lag sogar noch ein fast intaktes "Arschleder", mit dem die Bergleute einst in den schrägen Schächten nach unten gerutscht waren. Er griff nach dem kleinen Kerbholz in seinem Gürtel. Die Verschleppung der Familie des Braumeisters war die letzte Kerbe gewesen.
Die Handhaspel sah aus wie eine Brunnenwinde, der kreisrunde Schacht darunter führte senkrecht in die Tiefe. Am Seil war ein schlichter Holzkasten befestigt, der als Aufzug diente.
"Selina". Korwid rief lauter: "Selina!"
I-na. I-na-I-na.
"Selina Krummbacher?!"
Acher, acher, acher, seufzte das Echo. Nichts, keine Antwort. Nicht einmal Kinderweinen, wie beim letzten Mal.
Der Medicus nahm einen kleinen Stein und ließ in die Tiefe fallen. Klackernd prallte er von den Seitenwänden ab. Ein dumpfes Pocken zeigte den Aufschlag an. Besonders tief war der Schacht nicht. Immer noch keine Reaktion, kein Licht, keine Stimmen.
Der Medicus leckte sich über die trockenen Lippen. Was wollte er hier überhaupt?
Nach seinen Gefangenen sehen, sicher... und dann?
"Selina Krummbacher" sagte er halblaut und wartete, bis das matte Echo verklungen war.
"Versteht mich richtig...ich, also mir...es geht mir vor allem um Eure Sicherheit..."
Eit...eit...eit...
Befreien. Vielleicht wollte, sollte er seine Opfer ja befreien. Und dann selbst fliehen?! Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie war er überhaupt so weit gekommen? Er war doch kein schlechter Mensch. Verlor er selber schon den Verstand? "Dottore Corvidio Albigundi" musste zugeben, dass er, der große Heilkundige aus dem Horasreich, sich wenig mit Krankheiten des Geistes auskannte. Die waren nun mal ein Fall für die Noioniten. Oder man schickte sie den Darpat hinunter, zur Halle der Austreibung nach Perricum. Dort wäre ein irrer Magier wie Gerrich sicher gut aufgehoben gewesen.
Sein "Gönner" hatte ihn beauftragt, Mutter und Kinder nach Kurgasberg zu bringen und sicher einzusperren, zu deren eigenen Sicherheit. Vielleicht machte das sogar Sinn. Wenn demnächst das Chaos in Rommilys losbrach, konnten die Krummbachers ihm sogar dankbar sein.
Vielleicht wusste der Magier ja doch noch, was er tat. Ihm verdankte sein Schüler doch alles. Natürlich würde Korwid sich niemals auf einen Pakt einlassen. Im Krieg hatte er oft genug erlebt, was Dämonenbündelei bedeutete. Aber dennoch, er hatte auch miterlebt, über welche Macht die Siebte Sphäre verfügte.
Wer heilt, hat Recht.
Wenn Peraines Macht begrenzt war, und das war sie nun mal, nach allem, was er die letzten Jahre erlebt hatte. Nun, da musste sich der wahre Heiler eben mit Mächten zusammentun, die selbst in ausweglos scheinenden Fällen noch helfen konnten. Ohne ihnen dabei zu verfallen. Wenn diesen Spießbürgern im Spital Borons Gebote wichtiger war als das Wohlergehen ihrer Patienten, wenn sie eine kalte, ausgebuddelte Leiche höher schätzten als das Leben ihrer Schutzbefohlenen, dann verdienten sie ein wenig Chaos und Geschrei.
Noch immer tat sich da unten nichts. Korwid begutachtete die Winde. Den beiden Kurbeln nach zu urteilen war sie wohl mal für zwei Bergleute gedacht gewesen. Der Medicus war sich keinesfalls sicher, ob er es schaffen würde, die stämmige Brauersgemahlin durch den Schacht wieder nach oben zu bekommen. Die Kinder, ja, die schon...
"Heee!" rief er nun nach unten, fast schon etwas zornig. "Wo seid Ihr?"
E-e-e. Ir...irr...irr....
"Ihr braucht keine Angst zu haben."
Aben. Aben. Aben.
Er warf sein Kerbholz hinab. Stille.
Klackernd schlug es auf.
Dann wieder Stille.
So wurde das nichts. Waren seine Schützlinge am Ende geflohen? So gut kannte er das alte Bergwerk auch wieder nicht. Es gab ein paar schräge Schächte, die runter auf die zweite Sohle führten - eben jene, für die die Bergleute ihren Lederschutz gebraucht hatten. Aber sie waren so steil, dass ein Mensch unmöglich wieder hinaufklettern konnte, ohne Hilfe von oben. Oder etwa doch?
Einen Moment lang wurde ihm heiß und kalt. Wenn die Drei fliehen konnten, und es bis nach Rommilys schaffen würden: sein Ruf wäre für immer ruiniert. Niemand würde seine wahren Beweggründe verstehen.
Es gab nur eine Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen: Er musste da runter. Und danach musste er auch wieder hinauf. Nun, er kannte sich aus, mit dem Klettern in engen Schächten und Schlöten, aus der Zeit als Rommilyser Schornsteinfeger. Mit einem Seil und schrundigen Seitenwänden, so wie hier, war eine solche Kletterpartie zu schaffen.
Er stellte die Fackel in den "Aufzug" und kurbelte ihn hinab. Langsam sank das Licht in die Tiefe.
Dann prüfte er noch einmal die Festigkeit des Seils, das einen zuverlässigen Eindruck machte, und schwang sich hinüber, über den Schacht. Einen Moment lang hing er zitternd im Nichts, suchte mit den Füßen Halt. Ein bisschen war er doch aus der Übung. Das morsche Hanf ächzte. Wenn es jetzt riss. Korwid wollte gar nicht daran denken. Ebenso wenig wie an den Wiederaufstieg.
Langsam schwand seine Unsicherheit. Nach und nach hangelte er sich nach unten, auf den Fackelschein zu, und musste dabei nicht einmal seine Füße zu Hilfe nehmen.
Erstaunlich schnell kam er auf der unteren Sohle an und nahm die Fackel an sich. Wieder ein alter Stollen. Auf dem Boden lagen der Brotbeutel, der Wasserschlauch und die Decken. Von den Talglichtern war nichts zu sehen. Also hatten sie sich wirklich auf die Suche nach einem Ausgang begeben.
Im Fackelschein offenbarten sich immer mehr Abzweigungen nach links und rechts. Korwid wurde ein wenig nervös. Das war ein regelrechtes Labyrinth, in dem er sich auf keinen Fall verlaufen durfte. Als Kinder hatten sie öfters in der Mine gespielt, trotz des strengen Verbots, aber das war oben, auf der ersten Sohle gewesen, immer in der Nähe des Eingangs. Naja, gespielt - eigentlich waren es eher Mutproben gewesen. Viel zu sehen gab es oben nicht, der Hauptgang war ein paar Dutzend Schritt hinter dem "Hunt" eingestürzt. Die wenigen Seitengänge endeten an blankem Fels. Nur ein paar Schächte führten hie und da nach unten.
Er war zum ersten Mal so tief unten - und erstaunt wie weiträumig der untere Teil des Bergwerks war, ganz anders, als er es sich damals vorgestellt hatte. Das Licht der Fackel wurde ein wenig schwächer, und Korwid nervös. Ewig konnte er hier unten nicht herumsuchen. Und ja, die Fackel würde er auch nicht mehr den Schacht hinauf bringen. Das bedeutete, dass er sich in vollkommener Dunkelheit würde zurücktasten müssen. Keine besonders erfreuliche Vorstellung.
Noch ein paar Schritt, und der Medicus stellte fest, dass auch dieser Gang eingestürzt war. Felsbrocken und Stützbalken hatten ihn vollkommen verrammelt. Korwid schluckte. Lagen seine Gefangenen am Ende darunter begraben? Irgendwie war schwer abzuschätzen, wie lange der Einsturz her war, zumindest im Flackerlicht seiner Fackel. Besonders staubig wirkte die Luft nicht.
Er wollte erneut nach den Krummbachers rufen, war sich aber keinesfalls sicher, ob dann nicht der Rest der Decke herunterkommen würde. Lawinen konnte man mit Geschrei auslösen. Er leuchtete mal in diesen, mal in jenen Gang. Fast überall lagen schon Felsentrümmer herum, hie und da war ein Stützbalken umgesunken wie eine vorgereckte Hellebarde.
Peraineverflucht, er hatte sich auf die Vernunft der eingekerkerten Krummbachers verlassen. Er blickte nach Markierungen, Pfeilen, Kreuzen oder anderen Orientierungshilfen. Nichts.
Langsam wurde es hier unten gruselig. Fast schon konnte er die Quader an Felsgestein, die über ihm lagen, körperlich spüren. Die Fackel brannte immer mehr herunter. Eine Ahnung von Panik breitete sich in ihm aus.
Er blickte um sich. Die meisten Quergänge sahen wirklich nicht sehr einladend aus. Um nicht zu sagen lebensgefährlich. Das musste doch auch Selina sofort begriffen haben.
Dort, der große Durchgang. Das Tragwerk schien einigermaßen intakt zu sein. Er beschloss, den Gang auf gut Glück zu folgen. Er endete in einer Aufweitung und an einem schrägen Schacht, der in die Tiefe führte.
Es gab noch eine dritte Sohle? Waren diese Narren am Ende da hinunter gerutscht? Noch ehe Korwid einen weiteren Gedanken fassen konnte, flackerte die Fackel kurz auf und verglühte.
Schwer legte sich Schwärze vor seine Augen, so überraschend, dass er nicht einmal Furcht empfand. Die vollkommene Stille und Finsternis hatte fast schon etwas Angenehmes. Nur würde es nicht auf Dauer so sein. Es war, als hätte ihm das Pechmanderl tatsächlich die Augen zugeklebt. Blind. So fühlte es sich also an, blind zu sein.
Was jetzt? Er konnte immer noch zurück, in den unteren Hauptgang, sich zum Seil tasten und wieder hinaufhangeln... wobei Klettern in vollkommener Nacht nun wirklich ein Wagnis war. Ein Absturz, ein Knochenbruch, und sein Ende würde überaus qualvoll sein. Qualvoll und langwierig. Als Futter für die Ratten, noch vor seinem Ableben.
Er konnte auch in den Schacht hineinrutschen, aber was würde es ihm bringen? Außer dass er irgendwann endgültig in den Tiefen des Kurgasbergs verschwand.
Einen Moment lang bestand die Welt nur noch aus dem Geruch von verbranntem Pech und dem Geräusch seines Atems. Ebenso aus der Angst, die langsam in ihm hochkroch. Luft, er brauchte Luft. Frische Luft, nicht diesen ewigen Gruftodem hier unten.
Boron. Natürlich. Der Herr der rabenschwarzen Finsternis war gekommen, um ihn zu holen. Ihn zu bestrafen, für seine Sünden.
Ein mattes Wimmern entrang sich seiner Kehle.
Lebendig begraben. Die gerechte Strafe für Grabräuber und Leichendiebe. Oder für deren Anstifter.
Nur langsam beruhigte er sich. Feuerstein, Stahl und Zunder. Damit hatte er die Fackel entfacht, am Eingang. Er hatte das Kästchen bei sich, in der Hosentasche. Erst nachdenken, dann handeln, darauf kam es an. Sich gründlich besinnen. Nur keine Panik.
Ratschend schlug Stahl gegen Stein. Funken sprühten in der Schwärze. Nach einigen bangen Augenblicken brannte der Zunderschwamm. Vorsichtig spähte er im Lichtschein nach dem Rückweg. Nichts wie raus hier.
Eine bleiche, hasserfüllte Fratze starrte ihn, sofort gefolgt von einem wütenden Angriff.
Es war Selina, die ihn mit dem spitzen Kerbholz attackierte, mit flackernden Augen. Und sie war kräftig.
Der Zunder fiel zu Boden und erlosch. Auch das Kästchen verschwand in der Finsternis. Schmerzhaft schrammte das Holz über Korwids Gesicht. Er stieß die verrückte Brauersgattin zurück - und taumelte selbst nach hinten. Dann fiel er ins Bodenlose.
Die Rutschfahrt im Schacht wäre schon unter besten Bedingungen unangenehm gewesen. Nun schlitterte er rücklings in vollkommener Dunkelheit in die Tiefe, den Kopf voran. Schrammte mal gegen die Wand, ruckelte mal über einen Höcker im Boden. Irgendwie schaffte er es sich auf den Bauch zu drehen: Bei der Landung wollte er sich wenigstens abfangen können, mit den Händen.
Sein Höllensturz dauerte quälend lange. Dann verschwand die Felsröhre um ihn herum, und er flog hinaus ins Nichts, wie eine Balestrinakugel. Ehe er das durchaus faszinierende Gefühl auskosten konnte, packte in Sumu und warf ihn hart und mitleidlos auf blanken Stein.
Ein paar Steinchen klackerten noch hinterher, dann herrschte wieder Stille.
Stille und Schwärze, durchzuckt von grellen Lichtblitzen. Das war der Schmerz. Sein Kopf dröhnte, die Glieder schmerzten.
Korwid tastete sich ab. Seine Gewänder waren zerfetzt, die Hände zerschrammt, ebenso das Gesicht und die Beine. Gebrochen war nichts. Wo das Kerbholz ihn getroffen hatte, blutete seine Wange. Er hatte sehr viel Glück gehabt, trotz allem.
Langsam beruhigte sich das Lichterspiel vor seinen Augen. Bis auf ein grünliches Zwielicht, das partout nicht weichen wollte.
Einen Moment lang befürchtete Korwid, dass sein Hirn einen dauerhaften Schaden davon getragen hatte, aber da vorne war wirklich Licht. Ein sanftes Gluckern und Plätschern war zu hören.
Der Medicus schöpfte neue Hoffnung und kroch los, wie ein Verdurstender in der Wüste, der eine Oase (oder eine Fata Morgana) entdeckt hatte. Ein muffig riechender, rissiger Balken versperrte ihm den Weg. Vorsichtig ertastete er sich einen Durchgang und stieg über das Hindernis. Steinbrocken kollerten unter seinen Schritten umher und ließen ihn immer wieder straucheln.
Das grüne Licht wurde heller. Korwids Zuversicht kehrte zurück.
Tatsächlich, da vorne war ein Ausgang. Ein Durchbruch.
Der Bergwanderer schwankte hindurch, und stand im nächsten Moment in einer natürlichen Höhle. Eine unregelmäßig geformte Tropfsteinhöhle, durch die ein kleiner Bach floss. Wasser war gut, er hatte wirklich Durst. Korwid trank einige Schluck, wusch seine Schrammen und Kratzer. Das koboldsgrüne Licht war seltsam. War er am Ende in die Höhle des Pestmännchens geraten?
Er folgte dem Wasserlauf. Die Kaverne weitete sich zur Säulenhalle. Der Bach wurde zum Grottensee. Wie Drachenzähne hingen Stalagtiten herab oder ragten Stalagmiten um ihn herum auf. Fledermäuse flatterten die Decke entlang.
Wie merkwürdig die Felsen geformt waren. Der dort drüben sah aus wie ein riesiger Totenschädel, dessen Maul geradewegs ins Nichts zu führen schien. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, nicht Angst. Eher Traurigkeit. Mattigkeit. Unwohlsein. Als wäre der Dumpfschädel oder eine andere Krankheit im Anmarsch. Korwid hustete.
Seltsame Zeichen waren an die Höhlenwände geschmiert. Bilder von bärtigen Riesen, die zu einer Geflügelten Gottheit beteten. Ein Götze mit unzähligen Beinen und Insektenflügeln. Vielbeiner in allen Variationen. Eine Art Kessel, aus dem grüner Rauch dampfte.
Wo kam das Licht her? Der Bach schien hinter dem See weiter zu verlaufen. Vermutlich führte er zu dem Wasserfall, den man vom Geisterdorf aus sehen konnte. Der Loderbachfall. Von dort her drang wirklich etwas Zwielicht in die Höhle.
"Habt Ihr Euch verlaufen, Doctor?" Eine spöttische Stimme, die von überall her gleichzeitig zu hallen schien. Der gewaltige Schatten eines Gehörnten ragte an der Felswand auf. Korwid zuckte zusammen. Ein Schwarm Ratten nahm fiepend Reißaus.
Der Medicus merkte, wie sich ihm endgültig die Nackenhaare aufstellten. Reflexartig griff er zum Dolch.
Ein verschrumpelter Apfel rollte Korwid vor die Füße.
"Alrik und Gritta, verirrten sich im Wald. Es war so finster, und auch so bitter kalt"
Nein, es war kein Dämon, der hier grollte. Sisa Brundel stand neben dem See. Die Hörnerhaube und die dunklen Hexengewänder ließen sie tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen, grausameren Welt aussehen. Sie hatte das Obst mit ihrem Besen geschlagen, als wäre es ein Imman-Korkball.
"Ich habe euch etwas mitgebracht, von einer Hochzeitsfeier. Das Geschenk eines einfältigen Bauern."
Der Anatom hob den Apfel auf. Auf der einen Seite sah er recht lecker aus, rot und saftig. Aber Korwid musste ihn nur ein klein wenig drehen, um die faule, wurmstichige Seite zu entdecken.
"Nun, welche Seite gefällt Euch lieber, Leichenschnippler?" Sisa lachte auf. Ihren grünen Augen leuchteten, fast im selben Farbton wie die Höhle. "Vor allem, was macht Ihr hier? Wolltet Ihr nicht auf eure Gefangenen aufpassen?"
"Ich habe sie oben in der zweiten Sohle eingesperrt."
Sisa hatte ihren Kessel dabei und packte allerhand Zauberutensilien aus: Kreide, Kerzen, übelriechende Kräuter, Pilze, Edelsteine, ein Fläschchen. Ebenso eine große Schriftrolle.
"Eingesperrt? Ihr selbst steht inmitten des Allerunheiligsten. Also erzählt mir nichts von - eingesperrt, Dottore Corvidio Albigundi. Denn ich bin sicher, Ihr seid nicht auf die selbe Weise hierhergelangt wie ich. Könnte ich den Apfel bitte wieder haben? Wenn Ihr ihn nicht verspeisen wollt, benötige ich ihn als Paraphernalium. Bei der Fäulnis von Mishkara, wie seht Ihr denn aus?"
"Selina hat mich einen Schacht heruntergestoßen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, mehr nicht." Korwid rollte den Apfel zurück. Sisa hob ihn auf und ritzte mit dem Fingernagel irgendein finsteres Zeichen hinein.
"Wer? Ach so, das Weib des Braumeisters. Und nun ist sie geflohen, mitsamt ihren Bälgern? Korwid, ich bitte Euch - das war keine Kriegerin oder Geweihte. Nur eine dumme kleine Spießbürgerin aus Rommilys. "
"Ich glaube nicht, dass sie das Seil hinaufkommt, das ich verwendet habe. Man muss schon ein überaus geschickter Kletterer sein."
"Der sich nicht bei erstbester Gelegenheit übertölpeln lässt, gewiss. Es gibt noch einen weiteren Schacht, in dem man nach oben gelangt, mit einer Leiter. Nach ganz oben, hinauf zum zweiten Eingang. Ebenso führt von dort ein Aufzug herab, nach ganz unten."
"Zweiter Eingang? Davon weiß ich nichts. Und ich kenne mich in der Gegend wirklich aus."
"Glaubt mir, ich auch. Immerhin steht mein Haus gleich über dem Loch. Wie sagt man dazu noch gleich? Ich glaube Pinge. Ihr wisst schon, der Trichter, der entsteht, wenn eine Grube teilweise einstürzt. Das Bergwerk ist gewissermaßen mein Keller. Aber ich kann euch beruhigen. Am Riesenfass von Rommilys kommt so schnell niemand vorbei. Es sei denn, ich will es so."
"Diese Krummbacherin ist schlau. Ich muss zugeben, ich habe sie sträflich unterschätzt. "
"Wenn es Euch beruhigt: Ich werde einen Trollberger zum Beilfelsen schicken, der nachsieht und die Drei wieder einfängt. Am Ende verheddern sie sich noch im Netz meines kleinen Haustierchens. Sicherlich ein saftiger Happen für die vielbeinige Tempelwächterin. Wenn sie nicht schon vorher von den Gruftasseln gefressen werden. Es wäre schade um das schöne Blut."
Korwid schluckte. "So wollt Ihr das Ritual also wirklich vollführen? Ich wusste gar nicht, dass man dafür... dass es dafür Menschenopfer braucht."
"Nun, die Zeremonie fordert vor allem astrale Kraft - und dafür benötigen wir Blutmagie. Leider ist Gerrich ein wenig ausgebrannt, nach der letzten Begegnung mit Eurem Patienten. Er hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt seinen Enkel zu verheiraten...ach, das ist eine längere Geschichte. Es gab einen Kampf, am Darpat, mit Müh und Not konnten wir das Schiff retten. Wenn auch kaum mehr. Um ein Haar hätte dieser Jodokus auch noch meine arme Glibberta ertränkt." Sisas Augen loderten vor Hass, als sie die Kröte aus ihrem Körbchen holte, gefolgt von einem liebevollen Blick. Die Hexe drückte ihrem Vertrautentier einen dicken Kuss aufs Maul - ohne sich dabei die eigenen, bläulichen Lippen zu verbrennen.
"Dieser herzlose Schurke. Wenn sich Glibba nicht auf einen vorbeitreibenden Ast gerettet hätte... wer weiß, wie das ausgegangen wäre... das wird mir Jodokus büßen, dafür werde ich sorgen...ich werde ihn persönlich den Loderbachfall hinunterstoßen. Ihm vorher die Haare herausreißen, jedes einzeln, die Fingernägel ziehen, die Zehen zerquetschen, die Augen herauskratzen. Von den Flüchen ganz zu schweigen. Leiden soll er, leiden. Ich werde..."
"Wolltet Ihr nicht sein Bier mit diesen Hektabeloiden vergiften?"
"Sicher, das wäre die sanftere Variante gewesen, um die Rommilyser zur Unterwerfung zu zwingen. Aber der Wind steht heute Nacht günstig, um die Grüne Wolke geradewegs in die Grafenstadt zu treiben. Der Sieche Regen wird der Herrin gefälliger sein als diese umständliche Vergifterei. Ihr wisst, was ich von allzu langen Incubationszeiten halte. Auf diese Art lässt sich am besten Angst und Panik erzeugen: Wenn es aussieht, als ob sie alle gleichzeitig die Zorganpocken bekommen. Zu Tode trampeln wird sich das Pack, es wird ein wundervolles Heulen und Wehklagen geben."
Korwid wich ein wenig zurück. "Die Rede war nur von einer Lektion, nicht dem Untergang von ganz Rommilys, im Schleimregen."
"Oh, das habe ich ganz vergessen, werter Herr Medicus. Euer Haus ist zwischenzeitlich in Flammen aufgegangen, ebenso wie der Schrein der Bienenkönigin. Die Häscher haben sich längst auf Eure Fersen geheftet. Ihr könnt nicht mehr allzu wählerisch sein - und nicht mehr allzu zimperlich."
Alrik hatte den Gefährten nur eine kurze Ruhephase gegönnt. Gerrich hatte einen Vorsprung, und seine Gefangenen waren in Gefahr. Nachdem er von Haldana erfahren hatte, wie diese den Hexer mit ihrer Taktik des Zeitverzugs geschwächt hatte, und nach dem, was er in all den Jahren von Hesindian über das Wirken schwarzer Magie - zumindest theoretisch - erfahren hatte, befürchtete der Friedwange, dass die Gefangenen Wanderprediger in Lebensgefahr sein könnten. Er wusste nicht, ob sein schurkischer Verwandter Blutmagie beherrschte oder gar darauf zurückgriff. Ausschließen konnte er es jedoch nicht, dass ein geschwächter Schwarzhexer in der Not sich auch der Blutmagie bediente, und so sah er, anders als am Vorabend, Grund zur besonderen Eile. Nun, am Vorabend, bei Dunkelheit und erschöpft vom langen Ritt, wäre eine Verfolgung letztlich nicht möglich gewesen, beim besten Willen nicht. Nun aber wollte Alrik keinen längeren Aufschub dulden.
Eine halbe Tagesreise stromabwärts sollte dieses Kurgasberg liegen. Bis dahin würden jedenfalls ihre Kleider nach dem abermaligen Durchreiten der Furt durch den Darpat wieder trocken sein. Immerhin, ausgerüstet war die Schar für eine mehrtägige Unternehmung in den Trollzacken. Proviant, Seile, Decken und einiges mehr hatte Rovik, der emsige Zwerg, am Vorabend trotz der späten Stunde noch aufgetrieben. Und so ritten die Gefährten in den ersten wärmenden Praiosstrahlen am rahjawärtigen Darpatufer entlang.
Für Alrik war es immer noch ein seltsames Gefühl, in der jungen Haldana nicht mehr eine abenteuerlustige Bardin, sondern eine angehende Baronin zu sehen. Anfangs hatte er sich gefragt, warum Haldana und ihre Gefährten sich dann für einige Silberlinge Sold der Queste angeschlossen hatten. Aber dass die junge Adelige nach ihrer Abschlussprüfung an der Markgräflichen Knappenschule ein Rohalsjahr eingelegt hatte, nun ja, sicher nicht das Alltäglichste für eine angehende Baronin, aber auch nicht gänzlich ungewöhnlich. Vermutlich wollte Haldana auch einfach ein Jahr lang frei von allen sonstigen Verpflichtungen sein. Wenn er sich da an seine Brabaker Zeit erinnerte - sicher, er hatte sich sein „Rohalsjahr“ nicht freiwillig ausgesucht. Aber er mochte die Erinnerungen daran und vor allem auch die Erfahrungen daraus nicht missen. Sich damals in den Gassen behauptet und durchgesetzt zu haben, dagegen waren manchmal die Verhandlungen mit den Dorfschulzen und Edlen in Friedwang das reinste Ogermethschlecken. Die Erfahrungen damals hatten ihn durchaus fit gemacht für seine Aufgabe als Baron. Warum also sollte eine ähnliche Erfahrung Haldana nicht gleichermaßen nützlich sein? Wobei er, wie er den Erzählungen der Bardin - in Gedanken war sie für ihn immer noch mehr Bardin als Baronin - ihr Rohalsjahr vor allem auch dazu nutzen wollte, ein Jahr lang sie selbst sein zu können. Als Baronin erwartete sie - das wusste er nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - ein Leben, das an den Anforderungen des Amtes und den Erwartungen der Bevölkerung wie auch anderer Adeliger orientiert war. Alles im Leben eines Adeligen war fremdbestimmt und an den Erwartungen anderer ausgerichtet. Eigene Wünsche zu haben war ein Luxus, den sich eine Baronin oft nicht leisten konnte. Zuerst würde Haldana damit konfrontiert werden, einen Mann heiraten zu müssen, den ihre Familie für sie aussuchte und der ihre Hausmachtposition stärkte. Egal, ob dieser Mann ihr nun irgendwie sympathisch war oder auch nicht. Alrik konnte verstehen, dass das für eine Baronieerbin mitunter mehr eine Belastung war. Nicht zuletzt da sie in einer konservativen Umgebung wie dem ländlichen Wehrheimer Land oder dem Sichelhag - die traviagefällige Frömmigkeit einhalten musste. Da hatte er selbst noch Glück gehabt mit der ihm angetrauten Serwa, mit der er sich immerhin gut vertrug und die - auch wenn seine Serwa ebenso wie er mitunter ihre eigenen Wege ging, ihm Respekt und Freundschaft entgegen brachte. Serwa hatte sich nicht daran gestört, dass Alrik Liebschaften nebenher und sogar Bastardkinder hatte. Natürlich hatte er seiner Gemahlin das gleiche Recht eingeräumt und auch nie die Frage gestellt, ob er tatsächlich der Vater von Serwas Kindern war. So gesehen, Serwa und er hatten miteinander durchaus Glück gehabt. Ein Glück, das aber nicht jeder Baron oder jede Baronin hatte. Und wie er wusste war Golo nicht der erste, der Haldana allein des Erbes wegen heiraten wollte, ohne nach ihrem Willen zu fragen. In den Kriegswirren der Wildermark hatte sich schon einmal ein Edler darum bemüht, die damals noch kindliche Haldana als Verlobte zugesprochen zu bekommen. Nichts ungewöhnliches, manche Adelsfamilien verlobten ihre Kinder miteinander, noch ehe sie von der Mutterbrust entwöhnt waren.
Nun, vielleicht war es da irgendwie sogar vom Schicksal nicht schlecht gemeint, dass Haldana nunmehr… Alrik dachte nach. War Golo tot? Oder lebte er noch. Als Witwe würde Haldana jedenfalls bei einer späteren Eheschließung keiner mehr fragen, warum sie nicht unkeusch geblieben war. Der Schicksalsschlag, den die junge Adelige erlitten hatte, konnte sich vielleicht gar als befreiend für sie erweisen. Langfristig jedenfalls.
Und… wenn Golo tatsächlich tot war, und in Gießenborn der Erbfall anstand… Alrik dachte schon wieder strategisch. Würde eine Edle von Schnayttach-Binsböckel zu Gießenborn, in Personalunion Baronin zu Schlotz, ihm etwas nützen? War sie eine wertvolle Verbündete in seiner Hausmachtpolitik gegenüber Bishdarielon, seinem Bruder, der den Norden Friedwangs beherrschte? Nutzte ihm das, um seine Position zwischen den alten Baernfarns in der reichen Stadt Gallys und dem aufstrebenden Haus Oppstein besser behaupten zu können? Oder würde er sich damit nur eine dritte Partei in die Baronie holen, die das fragile Gleichgewicht der Mächtegruppen gefährdete? Ließe sich hier ein Stein im Spiel der Throne setzen, der ihm zum Vorteil gereichen würde? Immerhin war davon auszugehen, dass eine künftige Baronin Haldana zu Schlotz, nach den gemeinsamen Ereignissen, eher seine Verbündete als die Bishdarielons werden würde. Gegenwärtig stand er in Friedwang seinem Bruder Bishdarielon gegenüber, seinerseits gestärkt durch das Bündnis mit den Baernfarns aus dem südlichen Gallys. Bishdarielon hatte seine Position durch die Ehe mit dem einflussreichen Haus Mersingen gestärkt. Wenn nun Alrik auch die Baronie Schlotz auf seine Seite zog und damit das Haus Binsböckel… Dann konnte er sich vielleicht gegenüber seinem Bruder durchsetzen bei der Regelung der Erbfolge in Friedwang. Alrik dachte schon wieder weit in die Zukunft, den möglichen dritten Schritt vor dem tatsächlichen ersten tuend. Aber nur wer klug voraus zu planen und zu denken in der Lage war, konnte sich so lange wie er auf dem Thron halten. Zunächst einmal hatte er hier eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die, erfolgreich beendet, ihm das Wohlwollen der Markgräfin sichern konnte. Und wenn dabei zugleich mit Golo ein Adeliger Friedwangs, der sich nie mit ihm verbünden würde - und den er auch nie als Verbündeten akzeptieren würde - über das Nirgendmeer ziehen würde, dann wäre das sicher von Vorteil. Und das noch nicht einmal allein aus machttaktischen Erwägungen, sondern weil Golos Tod die immer noch bestehende Gefahr von den Anhängern des Namenlosen, sie auch nach dem Ende der Wildermarkära noch nicht gänzlich besiegt waren, nachhaltig schwächen würde.
Nur eines wusste Alrik. Wenn Golo tot war, dann stand es in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die, wenn auch zwangsweise, erfolgte Eheschließung Haldanas und Golos rechtlich Bestand haben würde. Er konnte Haldana damit den Skandal der Unkeuschheit ersparen. Und er konnte sich damit in einem wichtigen Edlengut seiner Baronie eine treue Gefolgsfrau sichern. Wie es unter Phexdienern hieß: eine Hand wäscht die andere. Nun, man würde sehen. Alrik würde das jedenfalls im Blick behalten. Wenn Golo tatsächlich tot war, dann würde er in einem geeigneten Moment unter vier Augen (der einäugige Baron sollte vielleicht besser unter drei Augen sagen) über die Ränke der Politik reden. Aber jetzt galt es erst einmal, Gerrich zu finden und zu besiegen.
Was Alrik unter seinen Gefährten am meisten überraschte war, dass Haldana und Jodokus nunmehr, da Jodokus um Haldanas wahre Identität wusste, miteinander völlig offen und unbefangen umgehen konnten. Wie eben Verwandte, die sich einfach länger nicht mehr gesehen haben, aber die sich ungezwungen über alle Tanten und Onkels, Großkusinen und Oheime und Großmütter und alle anderen Angehörigen der weitläufigen Familien Baernfarn und Binsböckel austauschten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Irgendwie fast - wie Geschwister. Jodokus war nicht mehr der zurückgewiesene Liebhaber, auch nicht mögliche reiche Verehrer einer entlaufenen leibeigenen Musikantin, und Haldana war nicht mehr in der selbst gewählten Verpflichtung, dem Cousin ihre Herkunft zu verschweigen, ständig darauf achtend, nicht zu viel über sich Preis zu geben. Und damit hatte sich jede Spannung zwischen den beiden in Luft aufgelöst. Beide schienen sich in der neuen Rolle zueinander wohler zu fühlen. Der missglückte gemeinsame Abend, der gerade zwei Tage zurück lag, schien völlig vergessen zu sein.
Das ganze schien den „Anstandsnivesen“ Tuvok ein wenig zu verwirren, der ´seine´ Haldana fröhlich und unbefangen mit dem Stadtgeck, wie er das sagen würde, plaudern sah. Vermutlich war der sonst eher schweigsame Waldläufer keiner, der Gefühle bei seinen Mitmenschen verstehen oder deuten konnte. Das wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Tuvok war Jäger, nicht Seelsorger. Aber er schien sich damit zu arrangieren.
Und Rovik, der gesellige Gemütsmensch (nein, Gemütszwerg) war ohnehin eine immer fröhliche Seele, der ungezwungen und optimistisch in die Zukunft blickte. Irgendwie mochte Alrik den kleinen bärtigen Gesellen, der wenig Fragen stellte und immer mit der Hand oder der Axt den Gefährten hilfreich zur Seite stand.
Nun, auch das war für Alrik eine gute Entwicklung. Nichts konnte er weniger gebrauchen als Zwist unter den Leuten, mit denen er vielleicht bald einem gefährlichen Schwarzmagier gegenüber treten würde.
Nach drei Stunden - Alrik hatte während des Rittes so viel über die Angehörigen der Familien Baernfarn und Binsböckel gehört, wie sonst in einem halben Jahr nicht - machte Tuvok, der von allen die schärfsten Augen hatte, ihn aufmerksam auf ein knappes Dutzend Menschen, die ihnen, einige Meilen entfernt, auf der Straße entgegen kamen.
„Ja… Wanderer, Reisende. Das ist eine Handelsstraße. Natürlich werden wir auch anderen Reisenden begegnen. Aber Danke. Siehst du Grund zur Besorgnis?“ Alrik dachte sich nichts dabei, andere Reisende zu sehen. Dass sie bislang noch niemandem begegnet waren, mochte an der frühen Aufbruchszeit liegen, jedoch sicher nicht an der Route. Erst nach dem Abzweig nach Kurgasberg waren weniger Reisende zu erwarten.
„Es… Nun… sie sind noch zu weit weg, als dass ich sie erkennen könnte. Aber… der vorderste hat eine auffällige rote Hose an. So wie einer der Matrosen auf der Flusshexe. Es könnten Matrosen von der Flusshexe sein.“
Alrik zog die Augenbraue hoch. „Könnte sein“ brummte er. „Neun oder zehn, kannst du sie genauer zählen?“
„Neun. Wenn sich keiner versteckt hat“
„Sieht nicht so aus. Sie gehen auf der Straße, in unsere Richtung. Wer einen Hinterhalt vorbereitet, zeigt sich nicht so offen. Aber, du hast Recht. Wir müssen vorsichtig sein.“
„Sollen wir uns vorsichtshalber verstecken?“ hakte Rovik ein.
„Nein“ beschied Alrik. „Wenn sie es sind… dann sind wir immer noch im Auftrag des Grafenhofs unterwegs. Sie haben uns gestern nicht angegriffen. Warum sollten sie es heute tun. Gestern waren es eher Zwanzig gegen uns fünf, mit Hexer und Hexe und Gefangenen, auf ihrem vertrauten Schiff. Heute sind es neun gegen sechs und ohne Hexer im Hintergrund. Überraschen können sie uns ohnehin nicht. Wenn sie sich von der Straße entfernen, kriegen wir das hier im offenen Gelände mit. Und selbst wenn sie jetzt feindlich eingestellt sind… Wenn ein Bogenschütze, ein Axtkämpfer, drei in der Fechtkunst ausgebildete Adelige und ein Magier mit ein paar Matrosen nicht fertig werden, dann weiß ich auch nicht mehr! Wenn es tatsächlich Matrosen von der Flusshexe sind, dann sollten wir ihnen besser auf den Zahn fühlen. Die werden vor der Obrigkeit schon kuschen. Haben sie gestern ja auch getan.“
„Ja, du magst Recht haben“ stimmte Jodokus zu. „Besser, wir bleiben in der Rolle von gestern. Wir sind zudem beritten, selbst im Schlimmsten Fall könnte das Fußvolk uns gar nicht aufhalten.“
Inzwischen waren die wärmenden Strahlen Praios kräftiger geworden, und die Kleidung der Gefährten war getrocknet. Anders als am Vortag war Haldana nicht mehr im Hochzeitsgewand gekleidet - das hatte sie der Besitzerin zurück gegeben, zusammen mit einigen Münzen als Entschädigung für den erheblichen Reinigungsaufwand - sondern hatte wieder die lederne Reisegewandung angelegt, die sich in ihrem Bündel befand, das Tuvok seit der Entführung mitgenommen hatte. Auch das Rapier steckte jetzt wieder in der Schulterscheide.
Tuvok hatte vorsorglich die Sehne auf den Bogen aufgezogen und war die Pfeile in seinem Köcher durchgegangen - einen Teil der Pfeile, die er beim vergangenen Gefecht verschossen hatte, hatte er wieder gefunden. Nur nicht die, die auf dem Schiff oder im Fluss verblieben sind. Allerdings hatte Tuvok zwei Dutzend Pfeile in Hausen erstanden. So war er für kommende Gefechte gut ausgerüstet.
Für Jodokus hatte Rovik in Hausen noch eine lederne Rüstung erstanden. Der Patrizier hatte Rommilys mit standesgemäßer Kleidung verlassen, sich aber nicht auf ein wirkliches Gefecht vorbereitet. Das gerüschte und bestickte Hemd ließ ihn sicher gut aussehen, aber für ein Gefecht war es wohl nicht das Richtige. Da bot der lederne, mit Schnallen und Nieten besetzte Kittel doch deutlich mehr Schutz. Und Jodokus mochte ein Händler sein. Ein wenig Umgang mit der Klinge zu erlernen war dennoch üblich in seiner Familie, selbst wenn er nicht wie seine Schwester als Baronin der Markgräfin Heeresfolge leisten musste.
Im Näherkommen erkannten die Gefährten, dass die zu Fuß auf dem Karrenweg dahin ziehenden Männer und Frauen tatsächlich Matrosen der Flusshexe waren - die ihrerseits aber keine feindselige Haltung zeigten, sondern sich respektvoll ganz auf die rechte Seite der Straße zusammen drückten und im Gänsemarsch hinter einander liefen, um den Reitern keinesfalls in die Quere zu kommen. Aha, dachte Alrik. Hat der Auftritt gestern Abend also Eindruck gemacht. Immerhin. Alrik setzte sich im Sattel aufrecht und mit Respekt heischender Körperhaltung hin und setzte sich mit einem kurzen Galopp an die Spitze der Gefährten. Dann hob er die linke Hand, um seine Gefährten ebenso wie die Matrosen zum Halten zu bewegen, während er lässig die Zügel in der rechten Hand hielt und sein Ross elegant zum Stehen brachte. Selbstsicher und souverän im Auftritt, wie man sich einen gräflichen Abgesandten eben vorstellte.
„Seid gegrüßt in Praios Namen!“ Alrik verwendete die Grußformel mit Praios üblicherweise nicht, aber hier schien der Bezug auf den Götterfürsten ihm angebracht, und blickte dem Vordersten der Flussschiffer in die Augen. „Ihr seid von Bord gegangen? Was ist vorgefallen? Was kann er rapportieren?“ Alriks Stimme klang ruhig und befehlsgewohnt.
Der angesehene Flussschiffer senkte den Blick. Gut, dachte Alrik. Klappt also weiterhin. „Herr“ begann der Angesprochene „Verzeiht, Herr, aber… nach dem wir gestern gesehen haben, wer der Schiffseigner…“ stammelte er.
„Wir sind einfache Flussschiffer“ erklärte ein anderer, etwas weniger eingeschüchtert. „Wir steuern, stakten oder treideln das Schiff, wir beladen und entladen die Ware, aber was gestern geschehen ist… wir halten unseren Kopf nicht hin, wenn der Eigner sich mit… mit schwarzer Magie einlässt. Oder mit Dämo… mit was auch immer.“
„Da habt ihr Recht gehandelt“ stellte Alrik lobend fest. „Ihr habt also die Heuer gekündigt?“
„Ja.“ Raunten einige der Schiffersleute.
„Gut so. Aber gestern waren mehr Matrosen auf der Flusshexe. Also haben nicht alle den Kahn verlassen?“ Alrik nutzte die Gelegenheit, Informationen über die Flusshexe und die verbleibende Besatzung zu erlangen. Fragend und zum Reden auffordernd blickte er in die Runde der Matrosen.
„Ähm, nein. Wie stellt ihr Euch das vor, Herr. Mit einem Hexer verhandeln? Der hätte uns vielleicht verwandelt, vielleicht verhext. Nein. Wir neun sind… einfach über Bord gesprungen und an Land geschwommen. Getürmt. Den Abgang gemacht. Wir sind einfache Leute Herr. Wir stellen auch keine Fragen an den Kapitän oder Eigner, aber mit den unheiligen… nein, damit haben wir nichts zu tun.“
„Aha. Ja. Ihr habt wohl klug gehandelt. Ihr hättet kaum etwas ausrichten können gegen Gerrich. Aber sprecht, wie viele Matrosen sind noch an Bord? Diese haben wohl keine Probleme mit einem Schurken als Befehliger?“ insistierte Alrik.
„Das weiß ich nicht… nicht jeder kann schwimmen. Vielleicht haben manche der Mannschaft auch einfach Angst?“ stammelte ein rothaariger dicker Mann.
„Noch acht Matrosen waren an Bord. Jedenfalls als wir getürmt sind.“ Ergänzte ein anderer.
„Und die Traviapilger?“ forschte Alrik nach.
„Die hat Gerrich gleich zu Anfang unter Deck gebracht. Gleich nach dem, ähm, Ablegen. Hat sie eingesperrt in einem Lagerraum.“
„Acht Matrosen, sieben Pilger. Und die fünf Barbaren. Sonst noch jemand an Bord der Flusshexe?“
Einhelliges Schulterzucken war die Antwort.
„Hmm. Und jetzt? Seid ihr auf dem Weg nach Rommilys?“
„Ja, Herr. Wir suchen eine neue Heuer, irgend ein Flusskahn braucht uns hoffentlich. Oder vielleicht gibt es im Hafen Arbeit.“
„Recht so. Gut. Wenn ihr nach Rommilys kommt, dann berichtet im Kontor des Hafenmeisters über die Vorfälle an Bord, und alles was ihr sonst über die Flusshexe wisst. Dort soll man erfahren, was für einen finsteren Schurken man hat anlegen lassen.“
Einhelliges Nicken.
„Wo befindet sich die Flusshexe jetzt? Kurgasberg?“
„Ja, vermutlich. Jedenfalls hat Gerrich das Schiff dorthin lenken lassen. Aber natürlich wissen wir das nicht genau.“
Alrik nickte. Viel mehr würde er aus den Matrosen wohl nicht heraus holen können an Informationen.
„Gut. Dann soll es das jetzt sein. Wie schon gesagt, man weiß Bescheid und kann sehr gut unterscheiden zwischen einem Schurken und einem einfachen Flussschiffer. Ihr habt also nichts zu befürchten. Dass der eine oder andere seine Seele in einem Tempel der Zwölf erleichtert, kann aber dennoch nicht schaden.“ Die richtige Mischung von herrschaftlicher Strenge und verständnisvoller Milde in der Stimme des Friedwangers war beabsichtigt. „Ich werde mich aber erkundigen, ob ihr in Rommilys beim Hafenmeister vorgesprochen habt.“ Alrik wollte sicher gehen, dass die Matrosen tatsächlich in die Markgrafenstadt weiter zogen.
"Wie, Knoppsberg? Was hat sie da gerade gesagt?"
Alriks Kopf tauchte hinter dem mächtigen Rad des Fuhrwerks auf. Gerade eben hatte er mit Hilfe seiner Gefährten den Wagen zurück auf die Landstraße gewuchtet. Zusammen mit der Fuhrfrau und ihrem Begleiter, die vom Weg abgekommen und in einem tückischen Schlammloch gelandet waren. Die beiden mächtigen Darpatrinder, die den Karren zogen, wären sicherlich kräftig genug gewesen, ihn aus der Falle zu befreien - aber das Rad hatte sich immer tiefer eingewühlt.
Sattgrün ragten Bäume und Hecken auf beiden Seiten des Weges auf.
Die Fuhrfrau, eine kräftige, bäuerlich wirkende Frau mit struppigen braunen Haaren, Sommersprossen und wettergegerbten Gesicht, tippte sich mit der Peitsche an den Hut.
"Ich sagte: Seid bedankt für Eure Hilfe. Mögen Euch die Götter dafür entlohnen."
"Keine Umstände" Der Friedwanger zückte wieder mal seine Pfeife und begann sie zu stopfen.
"Aber ich meinte etwas anderes. Sie sagte gerade, sie käme von Knoppsberg rauf?!"
"Jau, is nicht mehr weit bis dorthin. In zwei, drei Stunden seid Ihr dort. "
Alrik zündete einen Span an, versenkte die Flamme im Fuchskopf und begann zu paffen. Knoppsberg, lag bereits in der Markgrafschaft Perricum.
"Wir wollten eigentlich nach Kurgasberg." Jodokus wischte sich die schlammigen Hände mit einem Büschel Gras sauber.
Die Fuhrfrau zuckte mit den breiten Schultern. "Nie gehört...Komm aber auch ausm Süden. Gluckenhang. Muss wieder weiter, tutmirleid. Kurgasberg, nee, nie gehört. Fahr aber auch meistens die Südroute, Richtung Dergelmund und Perricum."
"Was habt Ihr denn geladen?" fragte der Baron, um das Gespräch am Laufen zu halten.
"Wolle. Nachschub für die Spinnräder in Rommilys."
"Aber der Efferdgeweihte hat doch gesagt..." Der Einwand kam von Haldana. "Es hieß doch, bis nach Kurgasberg sei es eine halbe Tagesreise die Handelstraße runter. Und dann gibt es eine Abzweigung in die Berge. Ein alter, verlassener Bergwerksort… Ein Geisterdorf..."
Die Fuhrfrau schüttelte ratlos den Kopf: "Markt Knoppsberg, da gibts eine Burg, wo der Herr Leomir residiert, der Vogt. Aber von nem Bergwerk hab ich noch nie gehört...Und verlassen ist Knoppsberg auch nicht. Netter Marktflecken...Die ham dort die allerbeste Räucherwurst."
"Falswegen, ein sprechender Name..." Alrik tätschelte eines der braune Rinder und ließ einige Rauchkringel aufsteigen.
Hatte der Efferdgeweihte am Ende Kurgasberg mit Knoppsberg verwechselt? Sah fast so aus.
Ritten sie hier die ganze Zeit in die Irre? Der Darpat zur Rechten war in weite Ferne gerückt, stattdessen schimmerten dort Sümpfe, Tümpel und die Altarme des Hauptstroms, zwischen lockerem Auenwald. Zur Linken ragten steile Felsenhänge auf: die erstaunlich hohen Ausläufer der Trollzacken. Vor etwa einer halben Stunde hatten sie einen dichten Wald hinter sich gelassen. Dann waren sie den Flussschiffern begegnet, und kurz darauf dem "gestrandeten" Fuhrwerk. Die Gegend sah eigentlich ganz manierlich aus: eine Landstraße, begrenzt mit Hecken, Bäumen, Steinmäuerchen. Dahinter erstreckten sich Äcker und Hangweiden. Ab und zu läutete eine Kuhglocke. Wäre das Felsgestein, das hie und da emprragte, schwarzgrau gewesen und nicht grauweiß, man sich leicht in der Sichel wähnen können.
Waren sie auf dem richtigen Weg? Auch Flarion war keine Hilfe gewesen: Angeblich war der Käpt´n noch nie selbst in Kurgasberg gewesen. Er wusste nur, dass das Geisterdorf in den Bergen auf der Ostseite des Darpat lag, und es zumindest zwei Wege dorthin gab. Ein Karrenweg, irgendwo von Neuborn aus, und eine Abzweigung weiter südlich, wo der Weg schlechter wäre. Die einzige Abzweigung, an der sie vorbeigeritten waren, hatte in Richtung Darpat geführt - wo es sicherlich niemals ein Bergwerk gegeben hatte.
"Nun, edle Herren und Dame" Der Begleiter der Fuhrfrau, ein bärtiger, drahtiger Zackenländer deutete eine Verbeugung an. "Wenn Ihr uns vielleicht sagen könntet, was Ihr in diesem Krugsberg..."
"Kurgasberg..."
"....an diesem Ort anzutreffen erhofft."
Alrik wechselte einen Blick mit Jodokus und nickte.
"Wir sind einer Räuberbande auf den Fersen", sagte der junge Baernfarn. "Die im Geisterdorf ihr Versteck haben sollen. Ein Haufen buntbemalter Trollberger..."
Der Bärtige blickte versonnen: "Trollzacker? Klingt eher nach Gorbingen...ebenso wie dieses...Kurgasberg."
Seine Begleiterin kicherte, ein wenig verschroben. "Gorbingen? Jau, das passt. Das gibt es nämlich auch nicht."
Alrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Von dem augenzwinkernden Sprichwort hatte er mal gehört. Die Baronie Gorbingen galt als derart abgelegen, dass sie angeblich gar nicht existierte. "Es sind Trollberger, keine Wilden, auch wenn sie offenbar diesen Eindruck erwecken wollen. Sie sind wohl beritten, und..."
Dumpfes Pferdegetrappel lenkte ihn ab. Die Hand des Einäugigen ging zum Rapier: Wenn man vom Namenlosen sprach !? Auch die Darpatbullen schnaubten und blicken mit großen, dunklen Augen über ihre höckrige Schulter.
Alriks Gefährten gingen links und recht des Weges in Kampfstellung. Tuvok stellte sich hinter eine halb eingesunkene Steinmauer und legte einen Pfeil auf die Sehne. Der Mondschatten warf einen Blick auf die Ladefläche, mit den wollgefüllten Säcken. Das Fuhrwerk auf der Straße würde den Ansturm von Reitern sofort bremsen, als Wellenbrecher. Notfalls konnten sie sich hinter die hohe Ladefläche zurückziehen - auch wenn die Wollladung und die hohe Plane sicherlich lichterloh brennen würden, bei einem Angriff mit Feuer. Aber momentan waren sie im Vorteil.
Ihre eigenen Pferde, die an einem Gatter festgebunden waren, stampften nervös auf und hoben bockend die Köpfe.
Der Bärtige zog eine Armbrust aus dem Fuhrwerk, die Fuhrfrau griff zum Kurzschwert und entrollte ihre Peitsche (was sie ein wenig wie ein weiblicher Heshthoth aussehen ließ).
Dann trabten die Reiter auch schon heran. Es war fast eine ganze Lanze, acht Männer und Frauen, in blauen und roten Waffenröcken, wippende Federbüsche auf den Helmen. Erdbrocken flogen von den Hufen ihrer Rösser: edle Reittiere, die Alrik schmerzhaft an Ruß erinnerten, sein schwarzes Shadif, das in der Schlacht am Arvepass geblieben war.
Der spitzbärtige Anführer hob die behandschuhte Rechte, und die Kavalkade stoppte. Wie Strauchdiebe oder Marodeure sahen die Neuankömmlinge nicht aus: Die Haltung war tadellos und kerzengerade, die rondrianischen Blicke hätten jedem Schlachtengemälde Ehre bereitet. Alrik stellte fest, dass er den Anblick disziplinierter, regulärer Soldaten irgendwie nicht mehr gewohnt war.
Streng genommen sah eher seine, nun ja, Halblanze aus wie eine Rudel heruntergekommener Strolche. Alrik klopfte die Pfeife aus und verstaute sie an seinem Gürtel.
Der Befehliger lenkte sein Pferd zur Seite, seine Hand ging zum Säbel. "Was ist hier los, in Rondras Namen?"
Es schien einige Herzschläge zu dauern, bis der junge Spitzbart merkte, dass er nicht Zeuge eines Überfalls auf der Zackenberger Landstraße wurde
Der Phexgeweihte lüpfte formvollendet seinen Federhut. "Alrik Tsalind von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, Baron zu Friedwang", sagte er freundlich, buchstäblich entgegenkommend. "Das Fuhrwerk hier ist vom Weg abgekommen, wir haben geholfen."
Einen Moment lang kämpfte Misstrauen mit Verstehen, im Gesicht des Unteroffiziers. Als die beiden Fuhrleute die Geschichte bestätigten, nickte er knapp.
"Serdan Noris Burgschall, Weibel II. Lanze, 6.Schwadron Markgräflich Perricumer Grenzreiter" schnarrte er formvollendet, schlug mit der Faust gegen seine Brust und verneigte sich. "Euer Hochgeboren…"
Nun vermochte Alrik das Wappen auf dem Waffenrock zu erkennen: Auf der Herzseite zeigte es ein steigendes silbernes Pferd auf rotem Grund. Die heraldisch linke Seite zierte der gekrönte, silberne Delphinkopf über gekreuzten Säbeln, auf meerblauem Grund. Das Wappen der Markgrafschaft Perricum.
Einen Moment lang verzog Alrik das Gesicht. Immerhin war er der Enkel Sangive von Gluckenhangs. Somit Abkömmling einer Baronie, die mal tiefstes Süddarpatien gewesen war, und nun den Besitz Markgraf Rondrigan Paligans mehrte: Kaiserlicher Gemahl, Nachfahre Al´Anfanischer Granden, Reichsgroßgeheimrat. Alle drei Punkte schmerzten den altdarpatischen Edelmann: Primo, dass ein Herzstück des stolzen, Jahrhunderte alten Fürstentums wie eine Morgengabe den Besitzer gewechselt hatte. Secundo, dass es nun zu den Ländereien eines "Paligan" zählte - ein Name, den er, der in die Sklaverei verkaufte "Nachtfuchs" aus Brabak, kennen und fürchten gelernt hatte. Tertio, dass Rondrigan als Reichsgroßgeheimrat in die Fußstapfen eines Dexter Nemrod getreten war, seines einstigen Grafen und stillschweigenden, überaus stillschweigenden Gönners.
"Perricumer Grenzreiter? Seid Ihr nicht ein wenig arg weit nach Norden geraten?" entschlüpfte es dem Schwarzsichler Baron.
Wenn Burgschall die Stichelei erahnte, ließ er es sich nicht anmerken. "Serdan Noris Burgschall" sah wirklich aus, wie Alrik sich einen Perricumer "Fischkopp" vorstellte: Glatt und stromlinienförmig wie ein Delphin, schneidig wie die Klingen im Markgräflichen Wappen. Zugleich aber gutherzig, aufrecht, edel und idealistisch. Ein Fischkopp war der Weibel eigentlich auch nicht, sondern ziemlich gutaussehend, zumindest für einen Unteroffizier. Außerdem schien er zwei Vornamen zu haben, womit er sicher ebenfalls Eindruck schinden konnte, bei den Damen.
"Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass die Grenzreiter tief im Süden stationiert sind, um unsere Grenze nach Aranien zu behüten", fügte Alrik mit charmanten Lächeln hinzu, nicht ohne seinen Siegelring in der Sonne blinken zu lassen. Nein, er hegte keinen echten Groll gegen die Perricumer. Rondrigan Paligan hatte kaum mehr als den Namen mit der verruchten Al´Anfaner Grandensippe gemein, nach allem, was man vom Gemahl der Kaiserin Rohaja so hörte.
Weibel Burgschall schien nun überzeugt zu sein, dass er es hier mit einem echten Adeligen zu tun hatte.
"Friedwang? Liegt das nicht weit oben in der Rommilyser Mark?"
"So ist es. Ich hoffe, wir haben keine Grenzstation und keinen Schlagbaum verpasst", meinte Alrik, und klang schon wieder spitz. "Besondere Umstände haben uns dazu gezwungen, durch den Darpat zu reiten. Wir haben jedenfalls nichts zu verzollen, werter Herr Grenzreiter."
"Ihr missversteht uns, Euer Hochgeboren. Wie Ihr schon sagtet, eigentlich obliegt uns die Grenzwacht am Barun-Ulah, rund um Burg Ferkina. Wir sind auf der Suche nach einem Deserteur, der einen guten Kamerade gemeuchelt hat. Feige von hinten erschlagen, am hellichten Tag in Darrenfurt. Ein Halbblut, das uns eigentlich im Kampf gegen die Barbaren des Raschtullswalls beistehen sollte, als Späher. Vor kurzem haben wir erfahren, dass er sich einer Räuberbande in den Trollzacken angeschlossen haben soll, seiner alten Heimat. Obristin Doranthe von Zwickenfell war so großzügig, uns die Jagd auf den Verräter zu gestatten, fern der aranischen Grenze. Eine Frage der Regimentsehre - die Geschichte hat sich schon etwas herumgesprochen. Diese Wilden respektieren einen nur, wenn man bereit ist, die Bestrafung für ein Verbrechen selbst zu vollziehen. Die Barbaren würden es Blutrache nennen. Wir nennen es Genugtuung."
"Natürlich" Alrik nickte verständnisvoll.
Jodokus war der Erste, bei dem der Heller fiel. "Es könnte sein, dass Ihr zu spät gekommen seid, Weibel Burgschall. Wir hatten gestern eine Begegnung mit einem riesigen Räuber, auf dem Eure Beschreibung ganz gut passen würde. Eine Begegnung, die für den verrückten Burschen tödlich geendet ist." Ein stolzer Blick zu Haldana, die eher melancholisch als stolz drein sah.
Weibel Burgschall wirkte regelrecht enttäuscht. "Drüben auf der garetischen Seite?"
"Ja. Die Bande hat einen Flusskahn überfallen und der Trollzacker dabei unsere Gefährtin in seine Gewalt gebracht. Sie hat sich mit dem Messer gewehrt. Erfolgreich, würde ich sagen"
"Nun, sie sind alle so riesig, wie sie verrückt sind, diese Barbaren. Hoffen wir, dass es den Richtigen erwischt hat. Der Tod durch die Klinge einer Gefangenen, noch dazu einer Blutlosen, wie sie sagen. Nun, das wäre ein überaus schimpfliches Ende, wie es dieser götterlose Schurke verdient hätte. Nicht in meinen Augen, versteht mich recht, da sei Frau Rondra vor. Aber in den Augen der Wilden zählt eine Frau weniger als ein Lastpony. Mein Kompliment, Frau, äh…"
Eine angedeutete Verbeugung in Richtung Haldana, die halblaut ihren Namen nannte.
"Wie es scheint, suchen wir alle die gleiche Bande?!" hakte Alrik ein.
"Gut möglich. Der Landvogt bat uns heute morgen um Amtshilfe. Vor ein paar Stunden hat ihn die Nachricht erreicht, dass ein Schiff am Perricumer Ufer des Darpat gestrandet ist. Menschenleer und geplündert."
"Ja, der Rest der Bande konnte mit dem Treidelkahn entkommen", sagte Alrik. "Eine etwas komplizierte Geschichte. Ich fürchte, dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Strauchdiebe handelt. Ein abtrünniger Edler aus Rommilys führt sie an, namens Gerrich, und sein verkommener Sohn. Wir haben außerdem Grund zu der Annahme, dass sie mit einem Hexenweib unter einer Decke stecken. Sie haben sieben Traviapilger verschleppt, ich glaube sogar aus Knoppsberg. Vermutlich zu unheiligen Zwecken."
Weibel Burgschall wurde doch etwas blass um den Schnurrbart. "Eine Hexe? Praios steh uns bei!" Hastig schlug der Grenzreiter das Sonnenzeichen, und seine Fast-Lanze tat es ihm gleich.
"Ich denke, wir sollten in dieser Angelegenheit zusammenarbeiten. Selbst wenn der Verräter schon gerichtet sein sollte, harren die unglücklichen Gefangenen immer noch der Befreiung. Mein Hofmagier Hesindian kennt sich mit schwarzmagischen Ränken aus...des Gegners, meine ich. Sagt Euch der Name Kurgasberg etwas?"
"Wie? Nein...Das heißt, Kurgas, so nennen sich die Wilden der Trollzacken selbst, in ihrer fürchterlichen Sprache, oder?"
"Offenbar handelt es sich um ein lange verlassenes Dorf in den Bergen, wo die Bande ihr Versteck hat."
"Ich denke, es wird Zeit für eine ausführliche Lagebesprechung." Der Weibel drehte sich im Sattel um. "Absitzen. Korporal Flux, zwei Wachposten einteilen. Der Rest darf sich einen Moment die Beine vertreten." Dann glitt er selbst aus den Steigbügeln und zog eine Karte aus der Satteltasche hervor.
"Wir befinden uns einige Meilen vor der Grenze zur Rommilyser Mark, also Neuborn, denke ich. Wie gesagt. Heute früh kam ein Bote aus dem Hartsteenschen nach Knoppsberg und hat von dem gestrandeten Flusschiff berichtet. Es liegt ungefähr auf der Höhe dieses Sees dort, kurz vor der Flussbiegung. Die kaiserliche Feste Darpatwacht hat sofort ein Boot dorthin geschickt, zwecks Erkundung der Lage. Das Schiff, die Flusshexe, war allerdings schon verlassen. Die Patrouille hat sofort die Verfolgung aufgenommen, es gab Feindberührung. Angesichts der Gegenwehr und des sumpfigen Geländes, noch dazu auf Perricumer Gebiet, hat sich Burgvogt Brinidan darauf beschränkt, Vogt Leomir auf Burg Knoppsberg zu benachrichtigen. Wir vermuten, dass die Räuber zur Landstraße nach Neuborn unterwegs sind. Die Schurken wissen genau, dass es die Rabenmünd...die Rommilyser nicht gerne sehen, wenn wir die Grenze überschreiten, ungefragt und mit Waffen. Unsere Hoffnung ist, dass wir ihnen rechtzeitig den Weg abschneiden können. Das Spiel hat das Pack wohl schon ein paar Mal gespielt - aber nun verfügt Leomir über schlagkräftige Reiter. Meine tapferen Jungs und Mädels."
Alrik musterte die Karte. "Nun, was den Grenzübergang angeht, mag ich Euch Hilfe leisten. Immerhin bin ich Baron der Rommilyser Mark, und Herr von Baernfarn hier" - ein Blick zu Jodokus - "verfügt dort auch über einen guten Namen. Allerdings fürchte ich, dass es der Bande diesmal nicht ums Rauben und Plündern nebst anschließender Flucht geht. Jedenfalls nicht nur. Eine etwas komplizierte Geschichte, die mehr mit Schmuggel als mit Flusspiraterie zu tun hat. Sie wollen in dieses Kurgasberg, da bin ich mir sicher, und das liegt irgendwo in den Bergen. Die Betonung liegt auf irgendwo. Wir müssen sie unter allem Umständen aufhalten, denn sie planen ein finsteres Ritual, bei dem die Gefangenen geopfert werden sollen. Was nichts daran ändert, dass ich nicht weiß, wo dieses Geisterdorf liegt - und die Trollzacken groß sind." Der Mondschatten strich mit dem Pfeifenstil über die eingezeichneten Bergketten. "Vielleicht wollen sie wirklich über die Grenze nach Norden. Womöglich steuern sie geradewegs die Berge im Osten an, Richtung Hendweiler. Oder sie haben still und heimlich umgedreht, und sind schon wieder auf dem Weg nach Südosten. Wir könnten die Himmelsrichtung genauso gut auswürfeln."
Hesindian schlug sich an die Stirn, so dass sein spitzer Zauberhut verrutschte. "Natürlich, das ist die Lösung."
Der Magier strahlte in die Runde, und schob mit dem Stab die Kopfbedeckung wieder zurecht.
"Wir haben ja noch die gezinkten Glücksspiele des Hexers. Die Boltankarten, die Würfel, und das Chorhoper Glücksrad. Die deuten doch geradewegs in die Richtung, wo sich Gerrich aufhält?! Wie dumm von mir, dass ich da nicht früher dran gedacht habe. Oder besser gesagt, dass ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe."
"Mein Hofmagus und arkaner Berater Hesindian von Orweiler - hesindial wie immer", brummte Alrik mehrdeutig.
"Ich verstehe nicht ganz?" Weibel Burgschall faltete die Karte wieder zusammen.
"Wir haben die Möglichkeit, den Hexer von Rommilys magisch aufzuspüren, den Anführer der Bande."
Der Edle von Orweiler eilte zu seinem Packpferd, und holte einen in Tuch eingeschlagenen Kasten heraus.
Einige neugierige Blicke der Grenzreiter trafen den Magier, über geöffnete Feldflaschen oder angezündete Pfeifen hinweg.
Selbst die Darpatbullen schienen beeindruckt zu sein - ebenso wie die Fuhrleute.
Hesindian achtete nicht darauf, sondern enthüllte das Glücksrad. Es bestand aus einer Drehscheibe, das kesselartig in ein rundes Ebenholztischchen eingelassen war, das wiederum auf sechs kleinen Füßen stand. Die Scheibe war in zwölf Fächer unterteilt, die jeweils die Symbole der Götter zeigte, wie bei einer Sonnenuhr. Hesindian platzierte das Glücksrad so, dass der Praiosgreif nach Norden zeigte, ungefähr dem Verlauf des Weges entsprechend.
Nun "zauberte" der Arkane Berater eine kleine Elfenbeinkugel hervor: "Noch werden Wetten angenommen, meine Herren und Damen. Nein? Na gut..." Hesindian betätigte das Drehkreuz und warf die Kugel ins rotierende Rad. "Nichts geht mehr."
Ein kullerndes Geräusch wetteiferte mit dem Zwitschern der Vögel. Am Ende lag die Kugel im Fach mit der Löwin, Rondras Zeichen. Der "Hexer von Rommilys" trieb sich demnach nordöstlich von ihnen herum.
Weibel Burgschall zwirbelte sich verlegen den Spitzbart. "Wie zuverlässig, sagtet Ihr, ist diese Methode?"
"Nun, wir können das ganze nochmal überprüfen", sagte Hesindian und warf drei knöcherne Würfel.
"Ne 6, ne 2 und ne 1" stellte die Fuhrfrau fest. "Hat das jetzt was zu bedeuten?"
"Ja, das ergibt 9" Der Magier deutete auf die Würfel, die vor die Glücksrad-Kugel gerollt waren, mit merkwürdig eckigen, unnatürlichen Bewegungen. "Ebenfalls Nordost, würde ich sagen. Die Würfel zeigen fast in die gleiche Richtung wie die Elfenbeinkugel "
"Ist die Kugel magisch, weil die aus Elfenknochen geschnitzt ist?", wollte der bärtige Ochsentreiber wissen.
"Elfenbein besteht nicht aus Elfenknochen" murmelte der Magier. "Sondern aus den Zähnen eines Tieres, das im Tulamidenland lebt...fern im Süden. Egal. Allzuviel Vorsprung kann Gerrich nicht haben, mit seinen Gefangenen. Zu Pferde holen wir ihn schnell ein. "
Fluchend brach Alrik durch das dichte Unterholz, hackte einen Farn beiseite und führte Flocke um einen umgestürzten Baumstamm herum. Irgendwie erinnerte ihn der Knoppsberger (oder war es der Neuborner) Hangwald an unschöne Erlebnisse im dampfenden Dschungel Meridianas.
Irgendwo schnarrte ein Specht. Ein Eichhörnchen protestierte zirpend gegen die Störenfriede. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Walddecke.
"Es ist ja schön, dass wir jetzt wissen, wo sich Gerrich befindet...oder er sich vielleicht befinden könnte." Auch Jodokus prallte zurück, in diesem Fall vor einem Netz, von dem sich gerade ein kleines Spinnchen abseilte. "Wenn diese kleine Kugel Recht hat. Aber ein richtiger Weg nach Kurgasberg wäre auch nicht schlecht."
Schon seit geraumer Zeit führten sie ihre Pferde am Halfter, und stolperten zwischen Bergwald und felsigen Abhängen umher. "Wo ist überhaupt Nordost?" Der Baernfarn pflückte einige Kletten aus seinem Umhang - ebenso wie eine Dornenranke aus seiner Rüstung, die sich tief ins Leder gebohrt hatte. Auch Haldana fluchte, als sie zum hundertsten Mal stolperte und ihr Pferd beruhigen musste.
"Tuvok würde es wissen" brummte der Zwerg und starrte geradewegs auf einen dicht bemoosten Baumstamm. "Wo ist nochmal diese Wetterseite?"
"Da wos Miesch wächst" keuchte Haldana.
"Das Zeug wächst auf allen Seiten prächtig", stellte Rovik fest. Er blinzelte nach der Sonne, aber die schien sich gerade zu bewölken
Alrik hielt nach dem Jäger Ausschau, der ihrem stattlichen Trupp tatsächlich vorausgeeilt war, als Kundschafter.
Die Grenzreiter sahen ebenfalls schon aus wie eine geschlagene Armee auf dem Rückzug.
"Es sollte doch eine Abzweigung nach Kurgasberg geben" schimpfte Jodokus.
"Such dir einen Zweig aus" Alrik verschnaufte für einen Moment und erschlug eine lästige Mücke. "Ich glaub langsam wirklich, dieser Efferdi Falswegen hat irgendwie Knoppsberg und Kurgasberg durcheinander gebracht."
"Kein Wunder, dass sie ihn vom offenen Perlenmeer an den Arsch von Väterchen Darpat versetzt haben" lästerte Jodokus.
Alrik sah den Patrizier erstaunt an. Der "Schnösel" konnte in der Wildnis ja ein richtiger Kumpeltyp sein. Firun war halt doch der Schutzgott des Hauses Baernfarn. Der Friedwanger bot ihm einen Schluck aus seinem "Flachen Valpo" an. Dankbar nahm der Rommilyser einen tiefen Schluck. "Ah, Trollbirne."
"Unser Tuvok kehrt wieder heim" stellte Alrik fest, nachdem er sich ebenfalls etwas aufgemuntert hatte. "Mal sehn, ob er Jagdbeute dabei hat".
Der Jäger eilte leichtfüßig herbei, und schien nicht im mindesten müde oder abgespannt zu sein. Der kleine Ausflug in den Wald bereitete ihm offenkundig Spaß.
"Da vorne sind jede Menge Fußspuren" berichtete Tuvok. "Eine alte Waldlöwenfährte gäbe es auch noch. Und das hier habe ich auch gefunden, neben einem Ameisenhaufen."
Der Waidmann öffnete seine Handfläche, in der eine kleine Bronzebrosche lag, in Gänseform.
"Domarian, der Travialieb", sagte Haldana sofort.
Mit der Hand wies Tuvok die Richtung. "Da vorne ist ein kleiner Bach. Den sind sie entlang gezogen."
Tatsächlich erreichten sie nach einigen Mühen den Bachlauf, der durch eine tief eingekerbte Schlucht plätscherte. Das Wasser war durch die Trockenheit ziemlich geschwunden, so dass sie am breiten Ufer gut vorankamen. Auch die Spuren waren auf feuchtem Grund leicht zu verfolgen. Der Trupp ihrer Gegner hatte hier wohl kurz gerastet. Auch die Verfolger erfrischten sich und tränkten die Pferde.
Etwa eine Stunde lang verlief der Weg äußerst windungsreich, aber ohne größeres Hindernis. Nur der zunehmend bewölkte Himmel erschwerte die Orientierung. So langsam hatten die Wanderer das Gefühl, in eine andere Welt einzudringen.
Immer höher ragten die Felsen zur Linken und zur Rechten auf, deren Abhänge nur noch von Nadelbäumen bewachsen waren.
Der Gedanke, dass diese Einöde hier nur das Vorgebirge der "Zacken" sein sollten, war fast beunruhigender, als wenn sie sich schon ins Hochgebirge begeben hätten. Das Bächlein mündete in einen weiteren, laut plätschernden Wasserlauf, der schon deutlich mehr Wasser führte. Die Felswände erhoben sich zu einer großen, von windschiefen Tannen und Fichten bewachsenen Schlucht.
"Ist der Gipfel da hinten der Wolfenkopf?" wollte Jodokus wissen.
Alrik musste passen. Hatte er vorhin noch das Gefühl gehabt, nicht voranzukommen, stießen sie nun erschreckend schnell ins Reich der "Königin der Berge" vor. Die Sichel wuchs nicht derart steil aus dem Flachland empor wie die Trollzacken. "Ist der Wolfenkopf überhaupt ein Berg? Ich dachte, das wäre ein Kloster. Wo ist Tuvok schon wieder?"
Der Jäger war tatsächlich mit Spurenlesen beschäftigt, ebenso wie einige der Grenzreiter. Aus irgendeinem Grund schienen sie damit nicht voranzukommen.
"Die Räuber sind womöglich durchs Wasser gewatet" vermutete Jodokus. "Unsere Spürhunde scheinen die Fährte jedenfalls verloren zu haben. Was für eine Wildnis..."
"Das? Das ist noch keine Wildnis", flachste Alrik. "Das ist gerade mal Firuns Vorgarten. Hesindian, die Karten?"
Der Magier hatte die magischen Boltankarten bereits ausgepackt und warf sie auf eine Felsplatte. Wie von Geisterhand bewegt, schienen sich die bunten Karten selbst auf dem steinernen Tisch auszurichten. Sie wiesen eindeutig"fluss"aufwärts.
Nun war es an Haldana, Tuvok die Richtung anzuzeigen.
"Laut unserem Magier gehts da lang" verkündete auch Rovik. "Keine Spur gefunden?"
"Zu viele Spuren" sagte Tuvok, etwas einsilbig. "In beide Richtungen. Und dazu noch schlechtes Licht."
"Die haben sich geteilt?" wollte Jodokus wissen.
"Ich denke eher, der Pfad hier wird öfters benutzt. Manche Fährten sind schon älter. Da hinten liegt ein völlig verrostetes Hufeisen."
"Ah, unsere Abzweigung", sagte Alrik, ein wenig sarkastisch.
Der Weg entfernte sich etwas vom Bachlauf, wurde steiler und folgte der Anhöhe. Unten, im Tal, weitete sich das Flüsschen zum blauschimmernden See, hinter einem Biberdamm, halb verborgen hinter Fichten, Tannen, Lärchen und Zirbelkiefern. Jodokus nutzte die Gelegenheit für einen Rundblick mit seinem "Zauberglas".
"Und?" wollte Rovik wissen.
"Ich glaube, das da hinten sind schon Gemsen" sagte der Patrizier fasziniert. "Was ist denn das? Das gibt´s doch nicht. Ein Troll? Nein, nur ein Felsen. Schade. Oh, putzig, auf der Alm sitzen Biber und grasen."
"Grasende Biber?" fragte Alrik erstaunt.
"Des sin Mistbellerli" meinte Haldana, leicht genervt.
"Mistwas?"
"Murmeltiere" grinste Tuvok.
Sie ritten den Pfad weiter, der eine hohe, dicht bewaldete Bergflanke entlang führte. Auf einer Hochebene ragte ein Turm aus Felsbrocken auf, jeder größer, als dass sie ein Mensch hätte umfassen können. Aufgetürmt von Trollen?
Selbst im Dämmerlicht war die Aussicht gigantisch, über die schattenverhüllten Täler und Schluchten hinweg. Die Luft war frisch, klar und duftete nach Blumen und Frühlingskräutern. Tuvok erspähte einen Bergadler, der über ihm seine Kreise zog, im Reich der Wolken.
Der gleiche Adler wie er ihn am Darpat gesichtet hatte? Einen Moment lang gab sich der Jäger dem Gefühl hin, einen treuen Begleiter und ein gutes Omen gefunden zu haben. Es war unglaublich, wie abrupt die Berge begannen, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt: Zerklüftete, bizarre, gezackte Felsformationen. Womöglich stimmten die alten Legenden, dass die Trollzacken aus ihren versteinerten Namensgebern entstanden waren. Hier und dort schienen bärtige Gesichter und klobige Nasen aus den Felswänden zu starren.
Der Weg führte nun wieder nach unten, tiefer in den Nadelwald hinein. Wie ein Tor ragte der Überrest eines alten Gefluders vor ihnen auf: eine Wasserrinne für die Holzschwemme, die auf Pfeilern über den Pfad geführt hatte, und nun größtenteils eingestürzt war. Die Gegend schien früher einmal dichter besiedelt gewesen zu sein. Oder überhaupt einmal besiedelt gewesen zu sein.
Nach einer Weile ritten sie wieder durchs Tal, den Bach entlang, der an dieser Stelle bereits ein rauschendes Wildwasser war, zu Füßen der Pferde. Die Felsen rückten näher und näher an den Gebirgspfad heran. In der Ferne grollte ein Gewitter.
Die Reiter erblickten eine Höhle, deren finsterer Eingang sich zur Rechten öffnete, groß wie ein Burgtor, unter einem vorkragenden Felsen.
Der Himmel wurde dunkler und dunkler. Dann, ohne weitere Vorwarnung, zischte ein Blitz herab und setzte mit funkensprühender Flamme eine alte Kiefer in Brand, hoch über ihren Köpfen. Die Pferde wieherten, scheuten, wichen zur Seite aus oder stiegen. Ein Grenzreiter stürzte fluchend aus dem Sattel.
Toktoktok. Nun prasselte Hagel herunter, erst in der Größe von Kies, dann nussgroß, hart und schmerzhaft. Firuns Gruß knallte laut gegen die Helme und Rüstungen.
"Zurück zur Höhle", brüllte Weibel Burgschall gegen das Toben der Elemente an. Es wurde stockfinstere, eiskalte Nacht, durchzuckt vom grellen Lichtschein der Blitze, in dem schneeweißer Hagel und grauer Regen flirrte. Das erste Pferd ging durch, in Richtung Höhle, ein weiteres stürzte, mitsamt Reiterin. Ihre Gefährten halfen ihr auf.
Alrik fluchte, wie ein Brabaker Gassenjunge, der er ja auch mal gewesen war. Sein Federhut flog einfach davon, und damit der letzte Schutz gegen den Hagelschlag. War das Hexenwerk? Die eisigen Geschosse wurden immer größer. Es half alles nichts, der Weibel hatte Recht. Nur in der Höhle waren sie einigermaßen sicher. Insofern dort kein Höhlenbär saß...
Durch die Nachtschwärze kämpften sie sich zurück, trafen nach und nach an der Höhle ein, wo sie Hesindian schon erwartete, im orangefarbenen Schein einer magischen Lichtkugel. Erschöpft stolperten sie hinein, vor Regen und teilweise auch vor Blut triefend. Immerhin, die Grotte war groß genug, um ein Dutzend Reiter mit Pferden aufzunehmen.
Drei Gefährten fehlten beim Durchzählen - zwei Grenzreiter. Und Haldana.
Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle.
Die alte Söldnerweisheit echote in Haldanas Kopf, während sie mit dem Rest ihres Bewusstseins versuchte, dass durchgehende Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Es konnte einfach nicht sein, dass sie nach so kurzer Zeit schon wieder entführt wurde. Diesmal von ihrem eigenen Pferd. Ein Missverständnis. Die Götter mussten doch endlich mal ein Einsehen mit ihr haben.
Es war alles wie in einem verrückten Traum. Ihr Warunker flog über den Pfad hinweg, der längst rutschig war von den unzähligen Eiskörnern. Dass sie nicht schon längst gestürzt war, ins Wildwasser, das im Licht der zuckenden Blitze neben ihr, nein, unter ihr schäumte, war das eigentlich Verrückte.
Die guten Götter waren gnädig. Die Schlucht weitete sich wieder. Als Haldana im prasselnden Hagelschauer die Zügel aus der Hand glitten, fiel sie nur auf eine nasskalte Bergwiese. Eine junge Tanne bremste ihren Sturz ebenfalls.
Sie rollte sich einigermaßen geschickt ab und stand wenig später schon wieder auf beiden Beinen. So dass sie ihrem Reittier hinterher blicken konnte, das mit schleifenden Zügeln und wehenden Steigbügeln im Unwetter verschwand - hinaus in dunkelste Nacht, die gerade eben noch ein freundlicher Frühlingstag gewesen war.
Der majestätische Hangrutsch, der polternd und krachend einsetzte, sah im ersten Moment sogar faszinierend aus, im Flackern der Blitze.
Dann rannte sie auch schon um ihr Leben, als sich Unmengen von Geröll, Erde, Baumstämmchen und Gestein in eine Lawine verwandelten. Die Mure landete im Bach, verstopfte die Engstelle, staute das Wasser in wahnsinniger Geschwindigkeit auf und schleuderte allerhand Trümmer in die Umgebung. Wieder hatte sie Glück, keines der Geschosse traf sie. Zumindest nicht diese Geschosse.
Was aus den Wolken prasselte, verfehlte sein Ziel nicht. Einige Hagelkörner waren nun fast taubeneigroß. Schläge, Schläge, Schläge. Instinktgetrieben taumelte sie auf einen großen, viereckigen Schatten zu. Eine alte Hütte, im Blockhausstil. Die Tür war offen oder besser gesagt, sie fehlte ganz.
Haldana taumelte hinein, kroch unter dem Teil des Holzschindeldachs in Deckung, das (gerade noch so) vorhanden war.
Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Blitz auf Blitz leuchtete ins Innere der Hütte, gefolgt vom Brüllen des Donners. Aus Hagel wurde prasselnder Regen und fauchender Sturmwind.
Sie fröstelte, bibberte, lag in einer immer größer werdenden Eiswasser-Lache, die mit hereingerollten Hagelkörnern angefüllt war. Stimmen umwisperten sie. Geisterhafte Fratzen starrten sie an, eine kalte Hand griff nach ihrem Herz.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ das dämonische Toben nach. Es wurde sogar heller. Der Regen verrebbte zu einem sanften Plätschern. Hörte schließlich ganz auf. Nur in der Ferne rollte noch Donner.
Sie kroch aus ihrer Hütte, rappelte sich auf. Freundliche Abendstimmung lag in der Luft, fast so, als wäre nichts gewesen.
Verstört sah sie sich um. Der Erdrutsch war fast an der engsten Stelle des Tals herunter gegangen, und hatte den Wildbach völlig verstopft. Immerhin, das Gewässer war stark genug, um sich einen Weg hindurchzubahnen, staute sich dabei allerdings mächtig auf. Über das Geröll und die zersplitterten Nadelbäume konnte man vielleicht noch hinüberklettern. Aber der aufgewühlte Stausee sah wenig vertrauenswürdig aus. Ganz so, als würde der Wasserdruck den Damm jeden Moment einreißen - und alles mit sich fegen, was sich ihm sonst noch in den Weg stellte. Immer wieder kollerten neue Steine die Schneiße herunter, die von der Mure in den Bergwald geschlagen worden war. Vielleicht würde es noch einen weiteren Bergrutsch geben? Alles am Ort der Katastrophe schien sie warnen, nein, anschreien zu wollen: Bleib fern von hier.
Abgeschnitten. Sie war von ihren Freunden abgeschnitten.
Als Kind der Sichel wusste Haldana nur zu gut, wie launisch das Wetter in den Bergen sein konnte. Aber dieses Unwetter war irgendwie zu heftig und plötzlich über sie und ihre Gefährten hereingebrochen. War das Sisa Brundels Werk? Wieder mal ein Hexenfluch?
Sie sah nach ihrem Pferd, aber nicht einmal Hufgetrappel war zu hören. Die umliegenden Gipfel schimmerten sanft im Abendrot, fast schon wie beim Sichelglühen. Irgendwo in den Wäldern heulten Wölfe. Witterten sie Frischfleisch?
Der Rapier hing noch über ihrem Rücken, wie sich das gehörte. Zumindest spürte sie die Klinge dort.
Was nun? In den Packtaschen befanden sich ihr Proviant, eine warme Decke und einige andere Dinge, auf die sie hier draußen ungern verzichten wollte.
Nur war ihr Hab und Gut mit dem Braunen gerade Praiosweißwohin galoppiert. Also erst mal hinterher.
Das Tal hier sah eigentlich recht freundlich aus. Einige hundert Schritt vom Felssturz entfernt wirkte der Bach fast normal. Türkisfarben plätscherte er in einem großen Geröllfeld dahin. Keine Spur vom Pferd.
Sie folgte dem gut ausgetretenen, regennassen Pfad. Hagelkörner knirschten unter ihren Füßen. Ein besonders markanter Berg fiel ihr ins Auge, der ein wenig wie ein geduckter Reiter aussah, der von oben in das kleine Tal blickte. Wie ein Ferkina – oder ein Kurga? War das der berühmte Kurgasberg?
Die Schlucht beschrieb eine sanfte Biegung. Rasch wurde es dunkler. Die Nacht brach herein, diesmal die echte. Der eine oder andere Stern blinkte zwischen Wolkenresten. Das Madamal stieg auf und hüllte alles in silbriges Licht. Rauchfarbener Nebel wallte aus dem Schatten der Wälder.
Erstaunt sah Haldana weitere Lichter im Halbdunkel flackern. Schindeldächer, Natursteinmauern und Holzwände tauchten im Mondlicht auf, hinter einem Palisadenwall. Ein hölzerner Wachtturm ragte empor. Am Bach klapperte ein Mühlrad. Lautes Stimmengewirr war zu hören, vielleicht aus einer Taverne. Ein, nein, eher zwei Dutzend Häuser. Die meisten bestanden wohl aus Holz, einige wenige aus Stein. Ein kleiner Tempel stand in der Mitte der Siedlung, am Dorfplatz. Rauch stieg über den Kaminen auf. Einige hundert Schritt hinter dem Dorf rauschte ein Wasserfall einen steilen Felsen hinab, nicht weit vom "Reiterberg" entfernt.
Alles war unwirklich, wie in einem Traum, der noch kein Alptraum war - aber doch bedrückend. Das Dorf schien irgendwie aus Nacht und Nebel zu bestehen, nicht aus echten Holzbalken oder Steinblöcken. Angst stieg in Haldana auf, aber noch etwas anderes: Eine Art gespannte Erwartung lag in der Luft, wie auf einer nächtlichen Jagd, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Dinge sahen, die bislang im Verborgenen geblieben waren. Ihre ungemein geschärften Sinne sahen beides: Ein trostloses Ruinenfeld - und das Dorf. Beide Szenen schienen einen Moment lang ineinander zu verschwimmen, wie bei einer Fata Morgana in der Khomwüste (eine Luftspiegelung, von der ihr einmal ein reisender Händler erzählt hatte).
"Willkommen in Kurgasberg". Obwohl die Stimme vertraut war, zuckte Haldana innerlich zusammen. Ein zarter Geruch nach Bienenwachs drang in ihre Nase.
Sie drehte sich um und sah in das gütige, pummelige Gesicht von Nasdja, ihrer Ahnin. Ein himmelblaues Gewand, die Bienenkorb-Zöpfe, der kahl rasierte Schädel. Kein Zweifel, das war ihre Ururur… Großmutter.
"Nasdja, was machst du denn hier?"
"Geister heften sich gerne an, eine alte Untugend. " Die Zibilja hob ihr Pendel. "Entschuldige, ich musste dich schon wieder von deinem Körper trennen, in der Hütte. Dieses Tal ist bösartig. Verflucht. In deiner jetzigen Gestalt bist du sicher. Naja, etwas sicherer. Ich will nicht übertreiben."
"Du hast was?" Entsetzt sah Haldana auf ihre Hand, die tatsächlich durchsichtig wirkte. Das Mondlicht schien regelrecht hindurch zu scheinen. Da war wieder dieses schaurig-schöne Gefühl des Schwebens, des schwerelos Dahingleitens zwischen den Welten.
"Schau nicht auf die Ruinen, aus denen Kurgasberg heute besteht. Konzentriere dich auf die Häuser, wie sie früher einmal ausgesehen haben."
Verwirrt blickte Haldana zum Dorf. Runzelte die Stirn. Die Häuser gewannen tatsächlich wieder an Konturen, wurden "diesseitiger". Oder war sie es, Haldana von Schlotz, die tiefer ins Jenseits blickte? Tatsächlich schien das Tal mit einem mal ins Dunkle entrückt zu sein, während das Dorf klar und deutlich vor ihr aufragte.
"Was hat das alles zu bedeuten?"
"Kurgasberg ist ein Geisterdorf. Was glaubst du, könnte es mit diesem Namen auf sich haben, Kindchen?" Die Norbardin verstaute ihr Pendel wieder. "Du hast schon ein wenig über die Zwischenwelt gelernt, bei unserer letzten Begegnung. Aber ein ganzes Dorf voller Geister, das ist noch einmal etwas anderes. Heute ist der Jahrestag, musst du wissen."
"Der Jahreswas? Du sprichst in Rätseln."
"Natürlich tue ich das. Wir Norbarden sind schließlich ein hesindegefälliges Volk. Das Leben ist voller Rätsel. Eines davon ist der Tod. Während du in der Hütte gezittert hast, habe ich schon ein wenig von den Dingen erspürt, die in diesem Tal vor sich gehen. Es ist, als ob die Steine selbst zu einem sprechen würden, das Wasser, der Himmel und die Erde. Jedes Jahr im Frühling durchleben die Geister noch einmal das Ende von Kurgasberg. Das Ende im Giftregen einer Grünen Wolke, die um Mitternacht aus dem Bergwerk aufsteigen wird. Tief im Berg haben die Hauer etwas entdeckt, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ungefähr dort, wo der Wasserfall entspringt. Vor etwas mehr als hundert Wintern muss an diesem Ort etwas Fürchterliches geschehen sein. Ich hatte leider nur eine kurze Vision davon. Leider, und Hesinde sei Dank. Der Regen, der aus der Grünen Wolke fällt, bringt Unheil. Rote Beulen und Pocken, die die Menschen in Windeseile in den Wahnsinn treiben. Sie müssen sich gegenseitig erschlagen haben: die einen, um sich vor dem Roten Tod zu schützen, die anderen, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie haben manche der Kranken sogar in ihre Häuser gesperrt und diese angezündet. Die Gier nach dem Silber der Opfer hat wohl ebenfalls eine Rolle gespielt. Ein Teil hat sich gewehrt und wiederum die Angreifer erschlagen. Ein fürchterlicher Ort."
"Die Zorganpocken, ich verstehe." Haldana nickte. Hundert Götterläufe sollte das etwa her gewesen sein? Nun, dann war das wohl in der unseligen Kaiserlosen Zeit gewesen. Die Ära der Erbfolgekriege, als die grausamste aller derischen Pestilenzen ins Reich eingeschleppt worden war, durch aranische Kornschiffe.
"Gut zu wissen. Aber ich würde nun gerne wieder in meinen Körper zurückkehren. Die Trennung war das letzte Mal… nun ja, ziemlich gespenstisch."
"Nun, ich fand die Welt der Toten schon immer interessant. Schon zu Lebzeiten. Geister können überaus nützlich sein, nicht nur die irrlichternden Seelen der Menschen. Ich habe die Kurgasberger ein wenig belauscht. Wenn ich ihre Gespräche richtig deute, haben die Dorfbewohner damals einen mächtigen Luftgeist in ihre Dienste gezwungen."
"Einen Luftgeist?"
"Ja, ich glaube, es war Sisas Werk. Die Kurgasberger haben geglaubt, dass die Zorganpocken durch schlechte Luft zu ihnen heran geweht werden könnte. Also haben sie einen Luftelementar gebannt, der sie vor den Ausdünstungen der Welt da draußen beschützen sollte. In dem er einen ständigen leichten Ostwind über das Tal wehen ließ, weg vom Dorf."
"Moment. Sisa stammt aus Kurgasberg? Und sie ist… über hundert Jahre alt?"
"Ich glaube schon, auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen sein muss. Allerdings ein Kind, das mit Geistern gesprochen hat, so wie du" Nasdja lächelte, ein wenig stolz. "Die Tochter des Dorfschulzen, Wim Brundel. Er hat durch sie den Wahren Namen des Sylphen oder Luftelfen erfahren, wie sie ihn nennen. Wie auch immer, das ständige Lüften hat den Kurgasbergern wenig genutzt. Die Sieche, oder auch nur der Wahnsinn, kam aus dem Innersten ihren kleinen, abgeschotteten Welt. Nicht von außen. Wie so oft. Aber all das ist längst geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Geister ändern sich nicht mehr, das ist der Unterschied zur Welt der Lebenden. Ihr könnt euch noch ändern, eure Seele weiterentwickeln, vielleicht sogar vervollkommnen. Aber ich schweife ab. Es ist der Sylph, der jetzt Sisas Hexenhütte durch die Lüfte tragen muss. Das Riesenfass von Rommilys, auf dem du an den Darpat verschleppt worden bist. Das Fass verschließt gerade den einzigen Eingang ins Bergwerk, der bis ganz nach unten führt. Die Räuber sind in diesem Moment dabei, die Gefangenen dorthin zu bringen, in der Gegenwart. Wenn deine Gefährten das Ritual verhindern wollen, musst du den Luftgeist aus Sisas Knechtschaft befreien, damit er das Fass für euch beiseite heben kann."
"Moment, ich soll jetzt in dieses Geisterdorf hinein schweben, das offenbar immer noch in der Zeit Pervals lebt...?"
"Lebt ist vielleicht der falsche Ausdruck."
"Egal. Ich soll also mir nichts, dir nichts hinein spazieren und diesen...untoten Dorfschulzen nach dem Namen des Sylphen fragen?"
"Du lernst schnell. Aber keine Angst, ich werde dich begleiten."
"Warum habe ich den Verdacht, dass sie uns selber für Spukgestalten aus einer anderen Welt halten werden? Was wir ja auch sind - Leute, die Gespenster sehen? Also zumindest ich...du bist ja schon tot."
"Nun, die meisten Geister wollen im Grunde ihrer Seele erlöst werden. Um dann ins wahre Jenseits zu gehen. Auch wenn sie anfangs oft nicht wahrhaben wollen, dass sie Geister sind. Du hast es ja selbst schon erlebt, bei der armen Mia. Kurgasberg ist noch immer restlos überzeugt, ein Ort der Lebenden zu sein, kein Geisterdorf. So kann man sich irren."
"Sie werden uns niemals glauben...die denken doch, wir sind Verrückte. Fremde, die ihnen die Pest ins Dorf bringen. Wenn sie sich am Ende sogar gegenseitig abgeschlachtet und verbrannt haben, aus Angst vor den Zorganpocken."
"Mag sein, aber der eine oder andere Umstand könnte uns nützlich sein. Am letzten Tag von Kurgasberg - ein Tag, der seit über hundert Jahren wiederkehrt - ist die kleine Sisa spurlos verschwunden. Da sie ja immer noch unter den Lebenden weilt, kann sie nicht in ihrem Heimatdorf herumspuken. Wim Brundel und seine Frau Kiara vermissen ihre Tochter, und wären dankbar für jeden Hinweis auf ihren Verbleib. Natürlich müssen wir vorsichtig sein und behutsam vorgehen. Auf keinen Fall dürfen wir zugeben, dass wir aus dem Tiefland oder gar Rommilys zu ihnen gekommen sind. Letztlich müssen wir erreichen, dass Brundel uns vertraut und den Namen des Luftgeists nennt".
"Da würde ich aber gerne noch ein paar andere Umstände hören, die uns nützen könnten."
"Nun, die Kurgasberger nehmen Lebende wahr, sobald sie in ihr Dorf kommen, wenn auch nur äußerst schemenhaft. Ähnlich wie Geister. Die Räuber haben sich im einzigen unzerstörten Gebäude niedergelassen, dem Tempel des Ingerimm, in der Dorfmitte. Für die Kurgasberger spukt es in ihrem Tempel, was sie natürlich außerordentlich beunruhigt. Vor allem ihren Schamanen, wie sagt ihr: Geweihten? Sein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Er ist zugleich der Schmied. Für ihn ist es vollkommen unerklärlich, das in seinem Tempel, also auf heiligem Grund, Gespenster umgehen sollen". Nasdja lächelte erneut.
"Schließlich gibt es noch diese Entdeckung im Bergwerk. Die Kurgasberger sind heute auf eine Höhle gestoßen, mit merkwürdigen Zeichnungen, die sie ebenfalls ängstigen. Nun sitzen sie im Wirtshaus und beratschlagen, ob sie den Zugang verschließen oder den Abgrund weiter erkunden sollen, auf der Suche nach Erz. Die Wirtin heißt übrigens Raulinde Alfengrund. Sie ist böse, soviel kann ich spüren. Ich glaube, sie heckt schon seit längerem einen Plan aus, um an das Silber der Bergleute zu kommen - und mit der Beute anderswo noch einmal neu anzufangen, fernab von diesem finsteren Tal. Sie scheint einige der Bauern und Handwerker, die in Kurgasberg wohnen, auf ihre Seite gebracht zu haben. Das war dann wohl der Hauptgrund für das Gemetzel, neben der Furcht vor der Seuche: Nackte Gier. Die Pocken waren auch ein Vorwand, um ungestraft zu stehlen, zu morden und zu plündern."
"Raulinde Alfengrund? Doch nicht etwa eine Vorfahrin unseres Medicus?"
"Gut möglich. In diesem Dorf herrscht sehr viel Neid - und Hass auf den Schulzen, der offenbar selbstherrlich bestimmt, wer nach Silber schürfen darf und wer nicht. Wobei es sich nicht wirklich um einen Schatz handelt, auf den diese Alfengrund aus ist. Das Bergwerk scheint ziemlich erschöpft zu sein. Deswegen haben sie tiefer und tiefer gegraben...irgendwann zu tief."
Tuvok brummte etwas unverständliches vor sich hin, während er in mit seinem Bogen und etwas Holz ein Feuer bohrte. Der Nivese verwendete, anders als die meisten anderen Jäger, keinen Feuerstein, um Feuer zu machen. Seinen Bogen hatte er ohnehin immer dabei. Und da er im Feuerbohren geübt war, war der Jäger dabei nicht langsamer als andere mit dem Feuerstein. Bald prasselte ein kleines Feuer in der Höhle, das den durchnässten und durchfrorenen Männern gut tat. Auch Serdan und seine verbliebenen Männer und Frauen drängten sich um das Feuer.
„Auf ein Wort, Magier“ brummte Tuvok.
Hesindian zog die Augenbraue hoch. „Wie kann ich dir helfen. Das Feuer brennt schon, eine Feuerlanze wäre nun verschwendete Kraft“ Hesindian bemühte sich, mit einer humorvollen Bemerkung die gedrückte Stimmung – ob des Verschwindens von Haldana und zweier Soldaten – zu heben.
„Hmm“ brummte Tuvok in seinem gewohnten Ernst. „Ich glaube nicht, dass der Hagelschauer zufällig kam. Was meinst du, Magier?“
„Er kam schon sehr plötzlich. Und Sisa ist eine Hexe. Ja, ich hatte auch schon den Gedanken, dass da ein fauler Hexenzauber dahinter steckt. Wettermeisterschaft ist zwar allgemein eher druidisches Metier. Aber jedenfalls gibt es eine Formel, die den Hagelschauer verursacht haben könnte. Ich kann das aber nicht sicher feststellen.“ antwortete Hesindian sachlich.
„Ich hatte auch schon an Magie gedacht.“ warf Jodokus ein. „Mein Großvater war Druide, das ist bekannt. Bei den Drudnern in der Sichel ist der Zauber nichts Ungewöhnliches. Und auch Gerrich beherrscht Magie. Er kann etwas von Druiden gelernt haben.“
Alrik nickte. „Denkbar. Es gibt genug schwarzmagische Umtriebe, auch in der Sichel. Wir wissen es nicht.“
„Aber wenn das Unwetter von Sisa oder Gerrich gehext wurde,“ begann Tuvok, „dann wissen sie, wo wir sind. Mindestens ungefähr.“
Der Jäger sah ernst in die Runde, keiner der Mitstreiter wusste eine Antwort.
„Dann bleibt die Frage, woher sie das wissen“ setzte Tuvok seine Analyse fort. Die Stimme des Jägers hörte sich jetzt fast an wie Hesindian, wenn er einen Fachvortrag rezitierte. „Von Kurgasberg aus hätten sie uns nicht beobachten können. Nicht mal mit so einem Zauberglas, wie du eines hast.“ Tuvok nickte in Richtung Jodokus. „Keine Sichtverbindung. Dann müsste ein Späher wo anders gewesen sein. In dem dichten Wald ist das aber kaum möglich, so weit zu schauen. Auch nicht an diesem Flusslauf. Und ein Späher wäre kaum so schnell wieder zurück nach Kurgasberg gelangt, um dort Meldung zu erstatten und die Hexe auf den Plan zu rufen.“
„Was meinst du damit?“ wollte Jodokus wissen. „Und woher willst du wissen, dass Sisa und Gerrich in Kurgasberg sind? Sie könnten überall sein.“ Alrik hörte aus Jodokus Stimme dessen Unbehagen heraus. Sich mit Magie anzulegen war sicher nicht die Sache des Händlers.
„Weiß ich auch nicht, wo sie sind.“ brummte Tuvok. „Aber ich meine, sie haben uns aus der Luft beobachtet.“
„Nun, eine Hexe auf ihrem Besen hätten wir wohl gesehen“ warf Rovik ein. „Erst recht eine Hexe in einem großen Flugfass.“
„Nein, kein Besen. Kein Fass.“ Tuvok flüsterte. „Adler sind scheue Tiere. Sie spähen nicht da nach Beute, wo ein Jäger pirscht. Und erst recht nicht dort, wo eine Horde gepanzerter durch den Wald zieht. Überdies, Adler jagen viel lieber über offenem Gelände. Im dichten Wald tun Adler sich viel schwerer, Beute zu greifen.“
„Was meinst du mit Adler?“ wollte Jodokus wissen. „Welcher Adler?“
„Hat ihn keiner gesehen? Keiner von Euch hat den Adler gesehen, der über uns gekreist ist, als wir durch den Bergwald geritten sind?“ Tuvok sah in die Runde, alle Gefährten schüttelten den Kopf. Niemand war der Adler aufgefallen. „Der gleiche Adler ist übrigens schon über dem Rabenkopf gekreist, als ich den Berg bestiegen habe und mit diesem Zauberglas die Flusshexe gesehen habe.“
„Woher weißt du, dass das der gleiche Adler war?“ hakte Jodokus nach.
„Stadtmensch. Kannst du einen Hund wieder erkennen, der durch die Gassen stromert, oder schauen für dich alle Hunde gleich aus. Ich erkenne einen Adler wieder, wenn ich ihn sehe. Es war der gleiche. Aber für den gleichen Adler wäre die Entfernung doch recht groß vom Rabenberg bis hier her. So große Jagdreviere haben Adler üblicherweise nicht. Außerdem… woher haben die Räuber gewusst, dass sie zur Flusshexe kommen sollen und dass wir sie mit dem Steig um den Rabenberg umgangen haben? Hast du vergessen, was Haldana an Bord belauscht hatte? Die Räuber hätten uns abfangen sollen. Woher hätten sie denn sonst wissen sollen, dass wir sie umgangen haben, wenn uns nicht irgendwer beobachtet hätte? Es war kein Adler, was ich sah. Es war ein Späher. Magier, was sagst du dazu?“
Hesindian legte den Finger an die Wange. „Es gibt da natürlich Zauber, mit denen man Tiergestalt annehmen kann. Ein Zauber der Elfen. Die Thesis kenne ich, ich habe sie damals von Jirka gelernt. Der Zauber ist aber auch unter Magiern, Druiden und Hexen durchaus verbreitet. Es kann also durchaus sein. Aber es bleibt eine Theorie. Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, dann könnte ich das überprüfen...“
„Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, überprüfe ich das selbst“ unterbrach Tuvok und fasste nach seinem Bogen. „Ich schieße ihn einfach von Himmel. Einerlei ob das Sisa oder Gerrich ist.“
„So kann man es natürlich auch überprüfen“ stimmte Hesindian lapidar zu. „Mit dem Tod würde ein verwandelter Magier seine ursprüngliche Gestalt annehmen. Ich erinnere mich da an einen Pfeilschuss von Odilon Wildgrimm, damals, Alrik, auf unserer Maraskanreise, du erinnerst Dich? Da hatte der feindliche Magier auch in Vogelgestalt versucht, uns auszukundschaften. Ist über der alten Kapelle gekreist, in der wir uns verschanzt hatten. Aber wenn die Ausgekundschafteten über einen guten Schützen verfügt, wie wir damals, ist das… ja, riskant für den Zauberer.“
„Ja, ich erinnere mich.“ Alrik nickte. „Das ist eine Weile her, damals in Mylendijians Klause. Hat einen mächtigen Rumms gemacht, als statt eines Federviehs ein ausgewachsener Mann auf das Dach gefallen ist. Der Schuss von Odilon war nicht schlecht. Aus dem Liegen heraus geschossen, hinter einer Sanddüne in Deckung liegend. Damit hatte der Magier nicht gerechnet. Nun, Tuvok, wenn uns wirklich dieser Gerrich aus Adler auskundschaftet, ich kann mich mit deiner Methode zur Überprüfung wirklich anfreunden.“