1. Kapitel

Erstes Kapitel

 

Die Diagnose des Medikus

 

 

"Was soll das jetzt heißen - Quarantäne?"

Alrik ruckte in seinem Bett hoch, so heftig, dass eine kleine Gänsefeder von der Decke nach oben wirbelte.

Ein wunderbares darpatisches Daunenbett, natürlich nur von lebend gerupften Gänsen. Dennoch war dem hochgeborenen Baron von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck gerade ziemlich unbehaglich zumute. Er schnaufte, zog sich die Schlafmütze vom Kopf und griff nach dem Becher mit dem Trollzacker Rotwein. Er trank ein paar Schlucke, wischte sich den Rebensaft aus dem Viertagebart, stellte den Glaskelch zurück auf den Nachttisch, und versuchte dabei, möglichst nicht auf seine Hände zu schauen.

Buntes Licht drang in die Stube, aus den blau-rot-goldenen Butzenglasscheiben der Fensterchen, die das in gleicher Farbe leuchtende Steinbockwappen seiner Baronie zierte. Von draußen drang der Lärm des geschäftigen Rommilys herein, das Klappern der Wagen, das Rufen der Straßenhändler, das Quieken der Schweine und Blöken der Rindviecher, die zum Markt getrieben wurden.

Staub schwebte in der Luft, und erinnerte den Diener des Heimlichen entfernt an einen Sternenhimmel. Aber es war heller Nachmittag, Praios Schild stand hoch über der markgräflichen Residenzstadt Rommilys. Im Praiosschein stand Doctor Korwid Alfengrund, der Medicus, in seiner ganzen Pracht und kramte umständlich in einer schweren Ledertasche, die vor ihm auf dem Tisch stand. Neben einem kleinen Messer und der irdenen Schale mit Blut. Seinem, Alriks Blut.

Ein Außenstehender hätte die Szene leicht für irgendein finsteres Ritual halten können. Der Medicus trug einen wallenden, dunklen Knöpfmantel und eine Kopfhaube, vor die er sich eine Storchenmaske gebunden hatte. Der zarte Duft nach Kräutern lag in der Luft: Kräuter, die sich Korwid in den Schnabel gestopft hatte, um die schlechten Ausdünstungen zu vertreiben.

Alriks Ausdünstungen, um genau zu sein. Medicus? Pestarzt traf es wohl eher. Schon der Name passte mehr zu einem Borongeweihten als zu einem Perainejünger. Corvus hieß so viel wie der Rabe - wenn Alriks Bosparano ihn gerade nicht in Stich ließ.

Womöglich verdankte der "Doctor" seinen Namen auch Kor, dem blutfordernden Sohn der Rondra. Nach allem, was Alrik von ihm gehört hatte, hatte der Rommilyser sich die letzten Götterläufe als Feldscher herumgetrieben, auf den unzähligen Schlachtfeldern der Wildermark. Blut hatte es ihm jedenfalls angetan. Ein Vampir hätte dem Baron kaum weniger Lebenssaft gekostet, wie der "Heiler" gerade eben beim Aderlass. Der vierte in zwei Tagen.

Der Baron von Friedwang fühlte sich alt, ganz besonders an Tagen wie diesen. War er das wirklich? Sicher, er näherte sich rapide dem fünfzigsten Tsafest, die Haare wurden langsam grau, die Bewegungen langsamer, träger. Aber war er deswegen schon ein Greis? Alrik musterte den grünen Baldachin des Himmelbetts, den Wandteppich mit dem Einhorn und dem Auerochsen. Dann wieder Medicus Alfengrund.

"Ist das nicht alles ein klein wenig übertrieben? Ich fühle mich bestens." Ein nervöser Husten strafte Alriks Worte Lügen. "Überhaupt, dieser Mummenschanz, ist das Euer Ernst? Wo kriegt man so was eigentlich her?"

Doctor Korwid murmelte etwas Unverständliches. Dann zog er einen kleinen Spiegel hervor und näherte sich dem Bett, wo er in etwa anderthalb Schritt Abstand stehen blieb. Dort, wo er den roten Kreidestrich auf die knarrenden Holzbohlen gezeichnet hatte, wie bei einem Bannkreis.

"Ich zeige es Euch noch ein letztes Mal, Euer Hochgeboren" klang es dumpf unter der Schnabelmaske. Selbst die Augen waren hinter Glasscheiben verborgen: eine Art Brille, die Doctor Korwid fast schon etwas Dämonisches gab. Es roch nach Minze, Rosenwasser, Harz und einigen anderen würzigen Kräutlein, die Alrik nicht kannte. Korwid hantierte mit dem Spiegel herum, was den Baron blendete - zumindest das linke Auge, das nicht von einer Samtklappe verborgen war. Eine kleine Marotte des Friedwangs: Auf diese Art glaubte der Streunerbaron, die Sehkraft seiner Augen zu stärken. Außerdem erleichterte ihm die Klappe das Werfen gewisser kleiner Klingen und Sterne.

Derzeit hatte er andere Sorgen. Erneut sah er die blassen, erbsengroßen, teilweise zartrosafarbenen Pusteln, die sein ganzes Gesicht verunstalteten.

Alrik zwang sich zu einem schiefen Grinsen. Nun blickte er doch auf seine Hände, die ebenfalls mit grässlichen Pocken übersät waren. Wie der gesamte übrige Körper.

"Wir laaagen vor Maraskaaan", summte er. "Und hatten die Pocken an Booord...."

Maraskan. Für einen Moment kehrten Erinnerungen zurück. Wie lange war das nun her? Die gefahrvolle Queste zur Käferinsel, geradewegs in die Schwarzen Lande. Auf der Suche nach dem Grab seines Großvaters. Er sah den grünen, dampfenden Dschungel vor sich, hellen Sandstrand und türkisblaues, funkelndes Meer. Ein paar Herzschlag lang glaubte er die Wellen rauschen zu hören und das Geschnatter bunter Vögel in den Bäumen. D a s waren noch Zeiten gewesen. Gunelde, seine heilkundige Schwester, die hätte er jetzt gerne bei sich gehabt. Nicht diesen Quacksalber.

"Beim Heiligen Therbun, das ist wahrlich kein Anlass für Scherze" sagte der "Storch", und wich wieder einen Schritt zurück. "Peraine steh uns bei! Noch ist es zu früh für eine genaue Diagnosis, aber ich möchte, ich kann leider nicht ausschließen..." Korwid hüstelte unter seiner Maske. "Es scheinen wirklich die Zorganpocken zu sein", hauchte der Arzt. "Was das für Rommilys und die Mark bedeutet, bedeuten könnte, das brauche ich Euch ja wohl nicht zu sagen. Bei der Hüterin des Lebens, das Gerücht allein würde genügen, um eine Panik auszulösen."

Alrik winkte ab, scheinbar gleichmütig. "Vielleicht ist es ja die Duglumspest?!"

"Herr Baron! Versündigt Euch nicht!"

"Ach was!" Der Friedwang ließ sich wieder auf das Federbett sinken. Er fühlte sich matt und abgeschlafft, was sicher nur an dem verdammten Aderlass lag. Sein Hals war ein wenig belegt, dass stimmte schon. Mit dem Finger weitete er den Rüschenkragen. Und versuchte, nicht an Juckreiz zu denken. Der laut Medicus aber erst später einsetzen würde.

Der Baron von Friedwang griff wieder nach dem Wein, schlürfte daran. Verschluckte sich. Hustete. Krankheiten, damit hatte er nie Probleme gehabt. Der Brabaker Schweiß war damals allgegenwärtig gewesen, in den schwülheißen Mysobsümpfen. Nie war er ernsthaft erkrankt. Jedenfalls nie mehr, nachdem er die Weihen zum Mondschatten erhalten hatte. Er, der Nachtfuchs von Brabak.

"Die Zorganpocken? Macht Euch nicht lächerlich. Ich sage euch, es lag allein an diesem Gebräu im Phexens Finger. Ein Ausschlag, vermutlich, mehr nicht."

Maraskan... Maraskan… Der Name der fernen Perlenmeerinsel schwirrte noch immer in seinem Kopf herum. Hatte er bereits das Fieber? Aber er fühlte sich angenehm leicht bei diesem Gedanken. Maraskan, das klang nach Freiheit, Ungezwungenheit, Abenteuer. Und nach Gold, sehr viel Gold. Sollte nicht Rinde ein Heilmittel sein, gegen die Seuche? Rinde von einem Baum, der nur auf der Käferinsel wuchs?

Ihr ward - drüben im Katzloch?" Der Medicus klang noch nervöser, als er es eh schon war. „Verdammter Unglücksvogel.“

"Vorgestern, ja. Da war ich ja auch noch ein freier Mann" ächzte Alrik. "Ist ja nur einen Katzensprung entfernt. Licht und Schatten liegen eng beieinander, auch in Rommilys."

Er deutete mit dem verbundenen Arm auf sein Gegenüber. "Ihr solltet in diesem Aufzug nicht durch die Stadt laufen. Damit würdet I h r eine Massenpanik auslösen."

Der Storch verstaute den Spiegel wieder in seiner Tasche. "Ihr wisst, was die übliche Vorgehensweise bei einem derart schwerwiegenden Verdacht ist. Die sofortige Verbannung aus der Stadt. Mit anschließender strikter Isolation… an einem..." - ein Räuspern - "An einem geeigneten Ort."

"Ich bin Baron des Reiches. Und ich werde Euch nicht schlecht bezahlen."

"Deswegen bin ich geneigt, die Sache diskret zu behandeln", sagte Korwid. "Natürlich auch, um eine Beunruhigung der Bevölkerung zu vermeiden. 13 Tage. Solange dauert es, bis diese wahrhaft namenlose Seuche überstanden ist. Mit Hilfe der Gütigen Herrin. Die Sterne stehen günstig, immerhin. Wir werden Gulmondtee benötigen und Xordaiabsud, um Eure Pocken damit zu bestreichen. Und natürlich eine regelmäßige Derivatio, um möglichst viel der bösen Säfte aus Eurem Leib zu bekommen. Vielleicht vermögen wir so das Schlimmste zu verhindern."

Täuschte Alrik sich, oder hörte er eine merkwürdige Faszination aus der Stimme des Maskenmanns heraus? Allzu oft hatte der Medicus sicher nicht mit den Zorganpocken zu tun gehabt. Alrik selbst allerdings auch nicht.

Einen Moment lang griff eine eisige Hand nach seinem Herz. Kalte Angst machte sich in ihm breit. Die Namenlose Pest. Wer sie überlebte, war für gewöhnlich ein Leben lang gezeichnet. In der Zeit der Erbfolgekriege hatte sie auch in Friedwang gewütet.

Verdammt, er war doch ein Phexenskind. Vom Glück verwöhnt. Ein Mondschatten. Und jetzt sowas! Hatte sich der Heimliche von ihm abgewandt? Er wollte nicht wochenlang aussehen wie ein Streuselkuchen, Blumenkohl - oder das zerfurchte Madamal. Schon gar nicht ein Leben lang mit einer Orkfresse herumlaufen, wie diese Blanca von Rabenmund, mit der einer seiner Vorfahren verheiratet gewesen war. Die Pockennarbige. Manche behaupteten, dass sie durch ihr entstelltes Gesicht wahnsinnig geworden war. Alriks Blick ging zu dem schmiedeisernen Kandelaber neben dem Bett, auf dem zart duftende Wachskerzen steckten. Am Ende war ein Kronleuchter auf das verschandelte Haupt der intriganten, mordlüsternen Rabenmund gefallen. Sicher nicht zufällig.

Wunderbar. Er würde sämtliche Spiegel aus Schloss Friedstein verbannen müssen.

"13 Tage" wiederholte Korwid feierlich. "Und ich habe danach etwas gut bei Euch, H e r r B a r o n."

"An wieviel Duckern denkt Ihr da genau?" Alrik lächelte verächtlich. "Zusätzlich zu Eurer üblichen Rechnung, meine ich?"

"Eine Hand wäscht die andere", sagte der Doctor ausweichend, fast schon etwas verlegen.

"Bei einem Medicus sicher anzuraten. Aber ich verstehe… Beziehungen muss man pflegen."

"Es hilft alles nichts. So leid es mir tut, ich werde Euch jetzt zwei, besser drei Wochen unter strengste Quarantäne stellen müssen. Ihr habt Glück, Eure Tür hat sogar ein echtes Katzloch". Korwid deutete auf die Klappe. "Damit kann euch die Dienerschaft in der nächsten Zeit mit den Nötigsten versorgen".

"Da passt doch nicht mal ein Nachttopf durch", höhnte Alrik. "Ich lasse mich hier nicht lebend einmauern, nicht auf einen bloßen Verdacht hin."

Der Medicus zückte Feuerstein, Stahl und Zunder und entzündete eine Kerze.

"Mit meinem Schweigen gehe ich weit über das übliche Verfahren hinaus, sehr weit sogar. Ich warne Euch, niemand außer mir darf diesen Raum betreten, bis ich es wieder gestatte. Ich werde ihn versiegeln. Eure Diener solltet Ihr ebenfalls gut bezahlen, damit sie nicht zu viel plaudern. Nicht jeder in dieser Stadt hat so viel Perainevertrauen wie ich." Korwid setzte sich sein schwarzes Barett auf, das eine grüne Feder zierte. Seine behandschuhte Linke griff nach der Schale mit dem barönlichen Blut, die Rechte nach der Arzttasche. "Phexens Finger, was habt Ihr Euch dabei gedacht? Die Elendsquartiere wo die Götterverfluchten hausen?"

"Wie Ihr schon sagtet: Beziehungen muss man pflegen. In die eine wie die andere Richtung". Alrik grinste noch schiefer. "Den Kalifen des Tulamidenlandes sagt man ja auch nach, sich ab und zu inkognito unters gemeine Volk zu mischen."

Der Baron zwirbelte sich versonnen den Spitzbart, der inmitten der übrigen Bartstoppeln wuchs. Der Doctor brauchte wahrlich nicht zu wissen, dass er sich im Katzloch mit einer Hehlerin getroffen hatte. Nach der "Fehde" mit Varena, der Drachenmeisterin, die Friedwang gründlich verwüstet hatte, war die Baronie immer noch reichlich klamm. "Die Maraske", so nannte sich das verschlagen um sich spähende Streunerweibchen.

Schon wieder ein Hinweis auf Maraskan. Ein merkwürdig exotischer Spitzname, für eine eher gewöhnliche Phexgesellin, wie man sie überall in der Rommilyser Gosse antreffen konnte. Zumindest drüben, im Schatten der westlichen Stadtmauer. Ihr sommersprossiges Kindergesichtchen, mit der hübschen Stupsnase, hatte harmlos gewirkt. Aber das konnte täuschen.

Alrik hatte den Spitznamen erst für eine Anspielung auf das Netzwerk gehalten, über dass seine Geschäftspartnerin verfügen sollte. Aber Marasken sponnen kein Netz. Wahrscheinlich waren es doch mehr die Sommersprossen und die struppigen blonden Haare, die dieser Spinne ihren Namen gegeben hatte. Das stachelähnliche Florett an ihrer Seite. Oder die getrockneten "Zauberpilze", an denen sie ständig kaute. Vermutlich ein leichtes Rauschmittel. Die Augen waren jedenfalls ziemlich glasig gewesen. Irgendwie beruhigend, dass er nicht der einzige in dieser Stadt war, dessen Gesicht durch Flecken verunziert wurde. Marike, so lautete angeblich der echte Name der Katzlocherin.

Jedenfalls hatte "Marike-Maraske" wenig Fragen nach dem speckigen Lederbeutel voller abgegriffener Dornrosenmünzen, Zholvaris und Dämonenkronen gestellt, die er über den klebrigen Tisch geschoben hatte. Während er gleichzeitig noch eine piepsende Ratte beiseiteschieben musste, neben seinem Humpen.

Die Maraske hatte sich sogar aufs Hütchenspiel eingelassen, als Alrik ihr Wechselkurs doch etwas zu phexisch vorgekommen war. Alrik hatte (natürlich) gewonnen, am Schluss wurde das Geschäft lachend mit Dunkelbier begossen. Das allerdings ein wenig bitter geschmeckt hatte. Waren die Pocken am Ende Phexens Fingerzeig dafür, dass er mit dem Edelmetall des Erzfeindes geschachert hatte? Ach was, der Ungehörte Schleicher war vieles, aber nicht kleinlich. Er hatte Beute aus dem letzten Krieg eingetauscht, mehr nicht, viel Klimpergeld und wenig harte Währung eine ganz normale Geldwäsche, wie sie dem Herren der Nacht eigentlich gefällig sein musste.

Ein paar Stunden später waren dann die ersten Pusteln auf seinen Händen aufgetaucht. Und dieselben ekligen Warunkel in seinem Gesicht gesprossen. Der spitze Schrei von Nele, der Köchin, hatte ihn darauf hingewiesen. Hatte er sich gehörig die Finger verbrannt, am Geld der Dreckigen?

"Nun denn. Peraine steh Euch bei!"

Alrik schreckte aus seinen Gedanken hoch. Ach so, der Pestdoctor. Die Tür fiel bereits ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich hastig, wie in einer Kerkerzelle. Ein Geräusch - und ein Gefühl - das er nur allzu zu gut kannte. "Peraine steh uns allen bei!"

Der Stimme nach hatte der Medicus die Storchenmaske abgenommen, auf der anderen Seite der Tür, und atmete jetzt wahrscheinlich erst einmal tief durch. "Ich werde im Perainetempel Zwiesprache mit der Gütigen Herrin halten und dann so schnell wie möglich zurückkehren." Ein merkwürdiges Schattenspiel in der Türritze und der Geruch nach heißem Wachs wiesen darauf hin, dass der Arzt die Tür tatsächlich versiegelte. "Ich beschwöre Euch, lasst niemanden herein! Das Wachs des heiligen Sigulums ist geweiht, wer es bricht, versündigt sich!"

"Schon Recht, so langsam habe ich es verstanden. Lauft nicht gleich zur Markgräfin mit dieser sicherlich sensationellen Neuigkeit. Wenn es falscher Alarm sein sollte, könnte das schnell peinlich werden. Für uns alle."

Korwid antwortet irgendetwas, was Alrik nicht verstand und entfernte sich. Im Perainetempel Zwiesprache halten? Mit der Göttin - oder der Geweihtenschaft? Gerade eben hatte der "Storch" noch etwas von Diskretion geschwafelt. "Ach, halt einfach deinen Schnabel." sagte der Baron, mehr zu sich selbst.

Alrik schlüpfte in seine Pantoffeln und rief sich in Erinnerung, wie er in diese Fuchsfalle geraten war. Das "Friedwanger Haus" - lange Zeit hatte er gar nicht gewusst, dass seine Familie über eine Residenz in der Markgrafenstadt verfügte. Nicht direkt im noblen Aldeburg, am Palast, aber doch recht nahe dran. Ein schmucker, efeu- und rosenumrankter Fachwerkbau, kein Marmorpalais. Immerhin keine trostlose Ruine, wie man sie jetzt überall im ausgeplünderten Sichelland finden konnte.

Gerrich von Friedwang, so hatte der entfernte Verwandte geheißen, der die letzte Belagerung durch die Dämonenknechte nicht überlebt hatte. Oder war es der vorletzte Angriff? Man konnte ganz durcheinander kommen in diesen Tagen. Das Loch in der Tür war jedenfalls nicht wegen einer Katze hineingeschnitten worden, sondern wegen Wolpert, Gerrichs Dachshund. Eine Hundeklappe, kein Katzloch. Nach allem, was Alrik über Gerrich wusste, hatte er extreme Abneigung gegen Zugluft und offenstehende Türen gehegt. Noch so ein Gesundheitsfanatiker. Im reinlichen Rommilys schien es einige davon zu geben. Korwid war Gerrichs "Leibarzt" gewesen, laut der Dienerschaft.

Die schönen, herrlich chaotischen Zeiten in der Wildermark, wo waren sie hin? Als Svantje Rahjandrael auf dem Thron der Markgrafschaft Platz genommen hatte, war die Aufteilung der Baronie Friedwang, zwischen seinem Bruder und ihm, aufgehoben worden. Immerhin, die Rabenmunds waren geneigt, die Sache mit dem "Thronraub" unter den Teppich zu kehren. Bitte, keine weiteren Skandale und Verwirrungen mehr, in Zeiten des tsagefälligen Aufbruchs. Sollte erst einmal Gras über die Sache wachsen.

Im Vergleich zu den Eskapaden eines Answin von Rabenmund war sein kleiner Rollentausch nun wirklich nur eine Lappalie gewesen. Oder etwa nicht? Bishdarielon, seinen Bruder, hatte die Markgräfin zum "Erbvogt" erklärt. Er selbst blieb weiterhin Baron, zumindest auf dem Pergament. Wurde aber als gichtgeplagter Kriegsinvalide dargestellt, der dringend Erholung, Heilbäder in den Darpatthermen und Zeit zu Gebet und Buße brauchte, in der Traviastadt Rommilys. Weit weg vom darbenden Friedwang. Ein Rohalsches Urteil. Man würde ein Auge auf ihn haben, im Palast wie im Friedenskaiser Yulag-Tempel.

Womöglich war das Ganze auch eine Intrige der Mersingens gewesen, die Bischs Gemahlin Syrenia unterstützen. Seine eigene Gattin Serwa, die auf Burg Friedstein zurückgeblieben war, hatte ihm berichtet, dass der Golgarit die Zügel nicht allzu fest in der Hand hielt. Wenn er überhaupt mal in Suunkdal weilte, und sich nicht in den Schwarzen Landen herumprügelte. Irgendwo im Tobrischen, mit den Wandernden Toten der Schwarzen Lande. Der "Sterbvogt", so wurde er hinter vorgehaltener Hand verspottet, in seiner schwarz-weißen Golgaritenrüstung, den Rabenschnabel an der Seite. Syri war schlauer und durchtriebener als ihr entrückter, borongläubiger Gemahl. Aber gerade als Mitglied des Hauses Mersingen nicht sonderlich beliebt. Die feine Edeldame galt als schnippisch und streitsüchtig, außerdem als "reingeschmeckt". Das einfache Volk fürchtete Boron, liebte ihn aber nicht - und wollte nicht stillschweigend Teil der düsteren Rabenmark werden.

War Varena, die Drachenmeisterin und Verwüsterin der Sichellande, nicht sogar eine gebürtige Mersingen gewesen? "Den Tod vor Augen - frei von Furcht!" Jaja. Nach dieser marbiden Devise konnten auch nur abgehobene Hochadelige leben. Die nicht alle paar Jahre wieder von vorne anfangen mussten, zwischen den Trümmern ihrer Heimat und den Gräbern ihrer Liebsten. Dreimal war das Feuer des Krieges über Friedwang hinweg gerollt, seit der Rückkehr des Bethaniers. Konservativ gerechnet.

Die friedwanger Travia- und Praiosgläubigen taten jedenfalls ihr Möglichstes, um die hereingeflatterten "Rabsburger" zu sabotieren, wie die Senkenthaler Clique genannt wurde. Und waren sich da ausnahmsweise mal mit den Sokramoriern einig, den Anhängern der Alten Kulte, die ganz gewiss nicht in einem Ordensland Friedwang leben wollten: Unter den Schwingen der Boronsraben, die angeblich tagaus, tagein um die "verwunschene" Wasserburg Suunkdal kreisten.

Alle Hoffnung ruhte darauf, dass bald schon der Jüngling Solalin die berüchtigte "Friedwanger Watsche" erhalten würde, mit der die Barone ihren Nachfolger auf dem Steinbockthron ernannten. Eine Art Ritterschlag, der den Erben eindringlich an seine Pflichten erinnerte: "Wer Schmerz erleidet, erinnert sich" - das war nicht umsonst der Wahlspruch des Hauses Friedwang. Oder auch: "Gebranntes Kind scheut das Feuer." Na gut. Er selbst bevorzugte ein phexischeres Panier, im Andenken an die heroische Schlacht am Arvepass, in kalter Winternacht: "Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen."

Allerdings, Solalin galt seit seiner Kindheit als geisteschwach, als stammelndes, stotterndes "Feenkind", ohne große Aussicht auf eine standesgemäße Ehe. Serwas Ältester würde ebenfalls einen Erbvogt als Verwalter brauchen: Ginge es nach Alrik, würde dies Alboran sein, sein Lieblingssohn. Als Bastardsohn Ismenas von Gießenborn hatte Albo wiederum wenig Chancen, Baron zu werden. Aber mit der Erbvogtei würde ihm wenigstens die faktische Macht im Land zufallen. Nur dumm, dass Erbvogt Bisch schon jetzt darauf pochte, den kleinen Ravenhart als Nachfolger einzusetzen, seinen eigenen Sohn. Mit dem Hintergedanken, ihn oder dessen Nachkommen eines Tages wieder auf den Baronsthron zu setzen. Das friedwanger "Thronspiel" war noch immer kompliziert. Tsalinde Dian Artema gab es auch noch, Solalins jüngere Schwester. Schon mehrten sich die Stimmen, wonach es nur unter einer "Baronin Tsalinde II." einen echten Neuanfang geben würde, ohne Adelsränke und Wirrungen.

Alrik tastete an seine Wange, und spürte sofort die hässlichen Pusteln, sowohl im Gesicht als auch auf den Händen. Waren die "Zorganpocken" am Ende nur ein Trick, um ihn schon jetzt als Herren von Friedwang unmöglich zu machen? Das Bier hatte wirklich merkwürdig geschmeckt. War er, ausgerechnet er, der große Nachtfuchs, zu vertrauensselig gewesen? Konnte man einen Menschen auf solche Weise mit den Zorganpocken infizieren? Welcher Zwölfgöttergläubige würde überhaupt auf eine derart dämonische Idee kommen? Selbst den Mersingens mit ihren berüchtigten Meisterplänen war so ein Anschlag schwerlich zuzutrauen. Oder etwa doch? Aber die Sieche galt als hochgradig ansteckend - da konnte man gleich mit einem Zyklopen auf Spatzen schießen, bis zur Stadtresidenz der Mersingens war es nicht weit.

Sein Kopf schwirrte. Zwei Wochen Stubenarrest? Das würde er niemals aushalten. Nein, er war nicht krank, das spürte er, ebenso wie den Schutz des Heimlichen, der nach wie vor über ihm lag. Er rief nach seinen Dienern, Nele, Ildora und Kunbert. Keine Antwort, auch nach wiederholtem Rufen nicht. Waren sie am Ende schon getürmt? Das wurde ja immer schöner. Getraut hatte er diesen Rabenmund-Spitzeln nie, aber das sie derart treulos waren?

Luft, er brauchte frische Luft. Alrik öffnete ein Fenster und blickte hinaus auf die Straße, hinüber zum Friedenskaiser Yulag-Tempel.

In der Nähe gurrten Tauben. Sich auf die Straße abzuseilen wäre ein Wagnis gewesen, in jeder Hinsicht. Bis zur Regenrinne hingegen waren es keine zwei Schritt. Abgesehen davon, dass er sein Schlafgewand trug und aussah wie ein aussätziger Echsenmensch, wäre eine Flucht übers Dach denkbar. Erneut flackerten Bilder durch seinen Kopf. Das grausige Ende der Fürstenstadt Rommilys, in Mord und Brand. Er selbst, wie er über die Giebel hinweg balancierte, auf der Flucht vor den Schergen des Asmodeus, und deren Pfeilen. Feuer, Rauch, Gebrüll und Geschrei. Verdammt, konnte es sein, dass er nur noch in der Vergangenheit lebte? Ein siecher Veteran, den man in die Krankenstube abgeschoben hatte, wie den Altbauern ins Austragshaus?

Hm. Der Weg übers Dach sah doch nach ein wenig Akrobatik aus. Und dann? Vielleicht konnte er im "Finger" herausfinden, wer ihm das alles eingebrockt hatte, oder ins Bier geträufelt. Wahrscheinlich diese giftspritzende Maraske. Eine Sänfte wurde unten vorbeigetragen. Der Vorhang bewegte sich, eine junge Edeldame blickte neugierig nach oben, unterm Hennin. Hastig wich Alrik ins Innere seines Schlafgemachs zurück.

Nein, durchs Fenster gab es gerade keinen Fluchtweg, zumindest nicht vor Einbruch der Dämmerung. Nicht in seinem Zustand.

Alrik ging an die Tür. Das Schloss war nicht allzu kompliziert. Der Blick des Phexgeweihten huschte umher. Na sowas, auf dem Tischchen lag noch das Messerchen, mit dem ihm Korwid zur Ader gelassen hatte. Der Friedwanger stocherte damit im Schloss herum. Phex sei Dank, der Schlüssel steckte noch, im richtigen Winkel. Alrik stieß ihn hinaus, hörte ihn auf die Bodenbretter poltern, öffnete die Hundsklappe und zog ihn zu sich herein. Das war einfach - fast schon eine Beleidigung für einen Mondschatten! Vom Einbrecher-König zum Ausbrecher-Baron, welch Abstieg.

Alrik öffnete die Tür, ohne auf das "heilige Siegel" zu achten. Liebe Güte, der Medikus hatte es sogar fertig gebracht, ein großes rotes Kreuz auf die Tür zu schmieren und einen hässlichen Perainestorch.

Niemand zu sehen, auch unten, im Rittersaal nicht, wie das geräumige Kaminzimmer genannt wurde. Das Herdfeuer brannte lichterloh. Darin verbrannten gerade seine Gewänder, inklusive Stiefel. Seuchenbekämpfung?! Noch einmal rief Alrik nach seinen Dienern. Niemand zu sehen oder zu hören. Die Gesindestuben waren alle hastig leergeräumt worden - und die Vögel tatsächlich ausgeflogen. Unglaublich.

"Ihr seid gefeuert" zischte Alrik. Soweit zum Thema "Versorgung in der Quarantäne". Sein Blick fiel auf die Ritterrüstung unter dem Steinbockwappen im Ritterrsaal. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich die schweren Stahlplatten anzulegen, inklusive Schaller, und damit nach draußen, zu den Stallungen neben dem Haupthaus zu stapfen. In Rommilys würde er damit nicht unbedingt auffallen. Zumindest, solange er das Visier geschlossen hielt.

"Scheint, da hat jemand sein Gesicht verloren, nä?" Eine leise, gehässige Frauenstimme hinter ihm. Das "nä" kannte er nur zu gut.

Die Einbrecherin saß am großen Eichentisch, den Stiefel auf dem Tisch, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Ein Gluckern folgte. Es war tatsächlich eine Bekannte, die dort lümmelte und sich mit frechem Lächeln an seinen Weinvorräten bediente: Marike- Maraske.

"Auch einen Schluck, Barönchen?" Die Katzlocherin nahm den Stiefel vom Tisch und schob ihm einen Zinnbecher zu. "Is gut für die Haut. Ach ja. Falls du deinen Wanststecher suchst..." Die Hehlerin hob Alriks Rapier etwas an, der neben ihr an der Tischkante lehnte. Am Gürtel hing ein krummes Florett: der Stachel der Maraske. Wie es hieß, war der vergiftet, aber das konnte auch nur ein Gerücht sein.

"Ich muss sagen, bin etwas enttäuscht. Kein Wunder, dass du Dämonenzeugs verscherbeln musst. Egal. Ich war mal so frei, reinzukommen. Die Tür stand offen, nä. Deine Diener haben ja alle Reißaus genommen. Verständlicherweise, wenn ich dich so anschaue." Die junge Frau verzog das Gesicht. "Bäh, was für eine widerliche Visage. Also wirklich, nä. Und die Pratzen erst. Eklig, einfach nur eklig." Die Streunerin kippte den Wein auf den Boden und schob sich ein getrocknetes Stück Pilz zwischen die Lippen. Begann mit frechem Grinsen loszukauen, als würde sie gerade den Baron selbst verspeisen.

Alrik blickte zur Tür.

"Was willst du jetzt tun?" höhnte es vom Tisch. "Die Stadtwache rufen? Schau vorher lieber nochmal in den Spiegel. Nä, besser nich´."

Der Friedwanger ging betont gelassen zur Außentür, verriegelte sie und streifte sich seinen Morgenmantel über, der sich zum Glück ebenso an seinem angestammten Platz befand wie seine Rauchutensilien. Alrik nahm auf einem der gepolsterten Sessel Platz, stopfte sich die Pfeife (die mit einem Fuchskopf verziert war) und lächelte kalt.

"Hast du Feuer?" Er deutete auf den Kamin.

"Zünd dir deine Pfeife selber an, Orkfresse."

Alrik ging zum Kamin, wo ein "Maulgoblin" auf dem Sims stand: eine kleine Tonfigur, die als Kienspanhalter fungierte. Der Baron nahm den Span heraus, hielt ihn erst in die Flammen und dann das brennende Stückchen Holz an die Pfeife. Erstmal rauchen. Die Nerven beruhigen. Nachdenken.

"Du scheinst keine Angst vor der Seuche zu haben."

Ein verächtliches Lachen.

"Könnte es sein, dass ich gar nicht an der Namenlosen Pest leide?"

"Richtig, Barönchen. Schlaues Kerlchen. Aber erklär das mal den Spießbürgern da draußen, nä. In ein, zwei Wochen werden die Pusteln wieder verschwinden, aber vorher noch richtig schon anwachsen, sich rotfärben, und eitern. Eklig, sowas, nä. Siehst jetzt schon aus wie ein Eitriger Krötenschemel. Haha..."

"Schön, dass die Flecken in m e i n e m Gesicht wieder verschwinden werden, Maraske". Der Baron von Friedwang versteckte sein verunstaltetes Gesicht hinter einigen süßlich riechenden Rauchwolken. "Was willst du?"

Marike die Maraske schob ihr Kauzeug aufgeregt im Mundwinkel herum. Ihr Blick wurde schon wieder trüb. Vermutlich wirklich irgendein Rauschpilz. "Möchte nicht wissen, was sie jetzt mit dir anstellen werden, Barönchen. Hast auch noch Pech im Unglück. Den Medicus, den du angeheuert hast, Korwin Albengrund..."

"Korwid Alfengrund."

"Egal. Ich sags dir. Der hat einen Riesen Vogel, sagt man, seit dem Untergang von Wehrheim, und nicht nur einen Storch auf der Kutte, nä... Gehört zu den übelsten Perainefanatikern hier in der Stadt. Ist ein ganzer Schwarm, die Storchenschwingen, oder einfach nur: `Die Schwinge´. Treiben sich ständig im Katzloch rum, um hustende Straßenkinder oder kranke Rahjastuten einzufangen und ins Spital zu schleppen. Der hat echt ne Meise. Hält jeden Schnupfen für ne Strafe Alverans wegen unserer Sünden. Manche behaupten sogar, die bringen alle Pestkröten um, damit sich ja keine Pestilenz ausbreitet, im schönen Rommilys, bei den Reichen und Vornehmen. Und ausgerechnet den heuerst du an? Na dann beschwer dich nicht, wenn die Rosskur schlimmer ist als die Krankheit, nä."

"Ist doch perainegefällig, wenn er arme Kranke ins Spital bringt, und Pestkröten sind ja auch hässlich."

"Nicht in d a s Spital...In das N e s t. Das Schwarze Spital."

"Klingt nicht nach dem Perainetempel."

"Soll außerhalb der Stadtmauern sein. Man fragt besser nicht nach. Und Pestkröten, damit meinen sie Schwerkranke, Perainefrevler wie dich, nä... Sünder, die eher Strafe als Heilung verdient haben." Marike tippte sich ins Gesicht. "Kröten, verstehst du?"

"Verstehe. Um wieviele Duckern gehts dir? Spucks schon aus. Was kostet das Gegenmittel? Das Ganze hier ist nichts weiter als eine kleine, schmutzige Erpressung, oder?"

Ein verächtliches Schnauben. "Wer sagt, dass es ein Gegengift gibt, nä... Aber vielleicht möchtest du ja gerne wissen, wer mir den Auftrag gegeben hat, dir das Zeug ins Bier zu schütten."

"Oho, du verrätst deinen Auftraggeber? Ich dachte, selbst dahergelaufene kleine Handlanger wie du haben sowas wie Diebesehre."

"Natürlich habe ich das, nä" zischte die Maraske. "Als wir den Preis ausgemacht haben. Da war nie davon die Rede, dass ich einem Baron die Fresse verschandeln soll, nä. Nur von einem miesen Kerl aus den Sichellanden, der sich seine kleine Abreibung verdient hat. Einer, der sich von den Dreckigen bestechen lässt, mit Zholvaris und Dämonenkronen, nä... Ein Verräter an den freien Landen."

"Das Ganze hatte mehr mit Erstechen als mit Bestechen zu tun, glaubs mir. Genug der schönen Worte. Wer hat dich angeheuert?"

"Dafür möchte ich die acht Dukaten zurück, die ich dir im Finger gegeben habe. Die fünf Taler kannst du behalten, nä. Weil Du mir trotzdem irgendwie leid tust. Schau bloß in keinen Spiegel, nä."

"Die zwanzig Heller und 15 Kreuzer auch?"

"Die auch."

"Wer sagt dir, dass ich dir das Geld dann gebe? Und hör ähnlich mit dem dämlichen `nä´ auf."

"Einen Scheiß werd ich, nä... Du gibst mir erst das Gold, dann bekommst du die Information. So läuft das hier. Ein gerechter Tausch. Glotz nicht so dämlich. Ich hätte deine Bruchbude längst leerräumen können. Wenn es hier noch besonders viel zu holen gäbe. Und wenn es mir nur um die Duckern gehen würde, nä. Ich mag einfach nicht, wenn man mich hintergeht...du hast mich beim Hütchenspielen beschissen, und der andere bei der Bezahlung. Da ist es nur gerecht, wenn ich für einen Ausgleich sorge, nä."

"Ich hab dich beim Hütchenspielen..."

"Du hast mein Diebesehrenwort: Die Dukaten, und ich sag dir, was ich weiß, nä."

Der Friedwanger ging hinüber zum Kamin, klopfte seine Pfeife aus und wandte sich einem Ölgemälde in der Wand zu. Es zeigte den alten Aristokraten Gerrich, seinen geliebten Dackel Wolpert auf den Arm. Der Baron hängte das Bild ab. Ein Geheimfach kam zum Vorschein, in dem der Dukatenbeutel lag, dessen Inhalt vorgestern den Besitzer gewechselt hatte. Der Baron schüttete ihn seufzend auf den Tisch und zählte das Kleingeld heraus. "Versauf nicht alles auf einmal. Ach nein, du bist ja die mit den Rauschpilzen. Kosten sicherlich auch eine Kleinigkeit. Lass mich raten: Marbotäubling? Irgendwie traurig."

"Herzlichen Dank, nä." Marike spuckte aus und raffte die Goldstücke zusammen, ohne auf letztere Bemerkung einzugehen.

"Also, ich warte. Wem verdanke ich das mit den angeblichen Zorganpocken?"

Die Maraske grinste schief. "Hab nicht viel gesehen. Der Kerl hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, als wir zusammen im Finger saßen. Beide Male. Erst, als er mich angeheuert hat, nä. Und dann, als er den Lohn ausgezahlt hat. Ist finster im Finger, wie du weißt, und man schaut nicht so genau hin. Aber eins war nicht zu übersehen, nä..." Die Hehlerin legte eine kleine Kunstpause ein, während der sie gierig über die Dukaten tastete und sie umständlich zählte. Offenbar waren die Rechenkünste der Hehlerin nicht so ausgeprägt, wie man bei ihrem Berufsstand eigentlich hätte erwarten können.

Alrik schraubte den Fuchs-Kopf von der Pfeife, nahm eine Bürste aus einem Kästchen und begann das Pfeifenrohr ausgiebig zu reinigen.

"Ich warte."

"Das Wappen auf seinem Dukatenbeutel. Als er die Duckern auf den Tisch gezählt hat, wie Du gerade eben, nä..."

"Du machst es ja wirklich sehr spannend. Und?"

"Es zeigte nen Bären. Einen schwarzen Bären."

"Einen Bären?" Der Baron hielt kurz inne. "Den willst mir doch nicht etwa aufbinden?"

"Das Wappen des Hauses Bärnfang. Eindeutig. Hab mich schlau gemacht, nä. Bin nicht von gestern, nä." Marike tippte an ihre Stirn.

"Natürlich". Alrik hob die Augenbraue. "Nur leider gibt es kein Haus Bärnfang. Weder in Darpatien noch sonstwo im Raulschen Kaiserreich."

"Heißen aber so. Kenn einen, der öfters bei Turnieren klaut. Hat gesagt, das Wappen is von denen, nä."

"Dann hat er das Haus Baernfarn gemeint. Baernfarn, nicht Bärnfang. Mal angenommen, du sagst die Wahrheit. Der Trick ist uralt. Warum sollte der geheimnisvolle Unbekannte das Wappen seiner Hintermänner auf den Tisch legen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, er will eine falsche Fährte zurücklassen. Wie sah das Wappen aus? Beschreib es mir. Genau."

"Na, wie sah`s schon aus? Ein schwarzer Bär halt. Vor goldener Sonne auf rotem Dings... Schild... Grund, nä."

"Gut auswendig gelernt. In welche Richtung hat das Firunstier geblickt?"

"Nach links, nä."

"Zeig es mir. Von dir aus gesehen."

Die Streunerin tippte sich auf die Schulter - auf ihre rechte. Gut, mit heraldischer Sprache kannte sie sich schon mal nicht aus, aber ansonsten lag sie richtig.

"Wieviele Strahlen hatte die Sonne?"

"Genauso viele, wie Dukaten hier liegen. Acht, nä."

Der Phexgeweihte musterte die junge Frau. Sie schien ein wenig nervös zu sein, aber das konnte auch daran liegen, dass sie Adelsintrigen fürchtete.

Womöglich sagte sie die Wahrheit - ihre Wahrheit. Eine kleine Handlangerin, mehr nicht. Schade eigentlich.

"Soso. Eine Visitenkarte hat der Strolch aber nicht zufällig dagelassen? Ich muss schon sagen. Alles ein bisschen dürftig, für eine derart stolze Summe."

"Mehr weiß ich nicht. Großes Phexensehrenwort, nä." Marike verstaute ihre Beute in der Gürteltasche und packte Alriks Rapier.

"Der bleibt schön da."

"Hältst du mich für blöd? Den nehme ich mit, als kleines Andenken, nä..." Die Katzlocherin lachte kehlig. "Sicher ist sicher. Viel Spaß noch beim Herumeitern."

"Mein Schwert bleibt hier. Ich sag es nicht noch einmal."

"Leck mich, Krötenfresse. Obwohl, besser nicht,nä... Mann, bist du eklig."

" Oh, was ist denn das? Völlig verstopft..." Alrik setzte das Pfeifenröhrchen an die Lippen. Er musterte Marike und blies kurz und kräftig hinein.

Ein kleiner puscheliger Pfeil schwirrte durch die Luft und traf die verdutzte Streunerin in den Hals, knapp über der Schulter. Der Rapier fiel polternd zu Boden. Die Maraske schrie halb zornig, halb erschrocken auf. "Du... du elender Mistkerl! Nä..." Sie riss das kleine Geschoss heraus, taumelte wie von der Tarantel gestochen umher - und zog ihr Florett. Einige Herzschläge später verdrehte sie die Augen und sank breitbeinig in den Stuhl. Ein matter Seufzer und sie lag still. Auch die eigenen Klinge glitt ihr nun aus ihrer schlaffen Hand.

"Eine vergiftete Maraske. Sowas sieht man auch nicht alle Tage, nä..." Alrik zog den Mohapfeil heraus, strich über die Gefiederung aus Distelwolle, und legte ihn wieder ins Kästchen, zu den anderen Blasrohr-Pfeilchen, neben die Phiole mit Schlafgift.

Die Gewänder der Streunerin waren zum Glück eher für einen Mann als eine Frau geschnitten: Ein Lederwams, ein gelbes Rüschenhemd und eine zerschlissene rote Stoffhose. Wahrscheinlich waren die Klamotten sogar gestohlen. Die vornehmen Stiefel auf jeden Fall. Auch die Größe passte, so ungefähr. Nur das Schuhwerk zwickte etwas. Das Umkleiden ging rasch über die Bühne, ebenso der Transport der zart schnarchenden Streunerin hinauf ins Himmelbett. Der Streunerin hatteer galanterweise sein Schlafgewand überlassen - er wurde auch älter und vernünftiger. Alrik deckte Marike behutsam, fast schon sanft zu, gürtete sich seine Klinge um und schloss die Tür von außen. Den Schlüssel ließ er schräg stecken, so dass seine Gefangene ihn nicht würde herausstoßen können. Entweder, die Maraske würde über das Dach türmen, oder sie musste Doctor Korwid irgendeine schlüssige Geschichte auftischen. Das Florett der Diebin hängte er in den Eisenhandschuh der Ritterrüstung, die im Thronsaal stand.

Was sollte er jetzt tun? Natürlich konnte er die Stadtwache herbeirufen und versuchen alles aufzuklären. Nur musste er dazu seine lichtscheuen Geschäfte im "Finger" erklären - und die Familie seiner Gemahlin belasten. Ganz abgesehen davon, dass er mit seiner Fratze selbst den tapfersten Gardisten in die Flucht schlagen würde. Er hasste Situationen, die sich unmöglich in zwei Sätzen erklären ließen. Das Leben, sein Leben, war leider voll davon.

Seine Reithandschuhe waren noch da, damit konnte er schon mal die Hände verbergen. Der Federhut lag auch noch am angestammten Platz. Wenn er ihn tief genug ins Gesicht zog... Wohin sollte er sich jetzt wenden? Seine einzige Spur war das Wappen des Hauses Baernfarn. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal genau, welche der Verwandten seiner Gemahlin in Rommilys weilten. Ob sie in diesem Fall Verbündete sein würden oder Gegenspieler?

Erstmal raus aus der Fuchsfalle. In Bewegung bleiben. Nachdenken.

Er öffnete die Tür - und prallte zurück. Drei Gestalten standen vor ihm: Doctor Alfengrund - ohne Storchenmaske, aber begleitet von zwei kräftigen Helfern in schweren Ledermänteln, ein Mann und eine Frau. Der Bursche hielt eine Art Gabel in der Hand. Hastig zog das Duo Stofftücher vors Gesicht, als sie den Baron erblickten.

Alrik wollte sich vorbei drängeln, war aber ein Herzschlag zu langsam. "Im Namen Peraines, hiergeblieben!" rief Korwid halblaut und schüttete ihm den Inhalt einer kleinen Flasche ins Gesicht. Überrumpelt und geblendet torkelte Alrik in die gute Stube zurück. Dem Geruch nach war es Wasser, vermischt mit Essig oder Al´Kohol, das da gerade in seinem Auge brannte. Das Trio folgte ihm in Haus, wenn auch mit respektvollem Abstand. Der Baron wollte zu seinem Rapier greifen, da spürte er auch schon, wie kühles Metall seinen Hals umschloss. Der Häscher des Doktors hatte ihn mit einem Fangeisen festgenagelt, an einer langen Stange: Die Federn im Inneren des Metallkragens stachen nun schmerzhaft gegen seine Kehle. Diese Dinger wurden eigentlich eingesetzt, um Ritter einzufangen und Lösegeld zu erpressen. Oder Hexen in den Kerker der Inquisition zu schleifen.

"Ich wusste, dass Ihr uneinsichtig sein würdet" Korwids Stimme klang anklagend - und dumpf, denn er hatte sich wieder die Storchenmaske vors Gesicht gesetzt. "Thesia, sieh oben nach, ob der Herr Baron das Heilige Siegel der Göttin zerstört hat."

"Nein, ich bin unten durch die Hundeklappe gekrochen, was denkt Ihr?" Alrik griff wütend nach dem Schaft des "Ritterfängers" - und wurde sofort gegen die Wand gedrückt. "Was zum Namenlosen! Ich bin von Stand, wagt es nicht, mich anzufassen." Sein Gegenüber war kräftig. Entsetzte Augen starrten in die Fratze des vermeintlichen Pockenopfers. Unter dem Mundschutz baumelte ein Amulett, das zwei schlanke, hochaufragende Schwingen zeigte. Storchenschwingen.

Nein, sie wagten tatsächlich nicht, ihn anzufassen. Leider aus anderen als Standesgründen.

"Ich-habe-keine-Zorganpocken" knurrte der Streunerbaron. Er überlegte, ob er blankziehen sollte. Aber das Halseisen war wirklich unangenehm, vor allem die spitzen, nach innen weisenden Federn, die nur beim Einfangen des Opfers nachgaben. Würde nicht einfach werden, das Ding loszuwerden. Ohne dass heute noch mehr von seinem Blut floss.

"Der Medicus bin immer noch ich" schimpfte Meister Alfengrund. "Ihr habt mein Vertrauen schändlich missbraucht."

"Ach ja? Wolltet Ihr mein kleines Ungemach nicht diskret lösen?"

"Ihr werdet verstehen, dass ich in einem derart schwerwiegenden Fall, äh... Rücksprache halten musste. Tut mir leid."

Im ersten Stock wurde es unruhig. Poltern und Fluchen war zu hören. Ein Tisch stürzte um, im Schlafgemach, oder wars der Kerzenhalter?

Wenig später eilte Thesia die Treppe herunter, lief schimpfend auf die Straße - und kehrte nach wenigen Augenblicken kurzatmig zurück: "Ich glaube es nicht. Da war eine Frau im Zimmer. Halbnackt. Ist einfach durchs Fenster gesprungen. Wenn Ihr mich fragt, war die voll auf Rauschkraut. Hatte Glück, da unten ist gerade ein Fuhrwerk vorbeigefahren. Is weich gefallen, auf Rinderhäute."

Die Gehilfin des Medicus wischte sich etwas Schweiß aus der Stirn: "Jetzt ist sie weg..."

"Gerade noch eine Maraske, jetzt eine Springspinne", murmelte Alrik.

Der "Storch" sah ihn tadelnd an (soweit der Baron das hinter der grotesken Maske erkennen konnte). "Ich glaube es nicht. Nicht nur, dass Ihr die Quarantäne missachtet. Ihr vergnügt Euch auch noch mit Weibspersonen, trotz Eures Zustands?"

"Von Vergnügen konnte keine Rede sein. Das ist alles nur eine heimtückische Intrige."

"Das Siegel ist auch futsch, natürlich", berichtete Thesia.

"Euer Hochgeboren, ich warne Euch. Ihr mögt von Stand sein, aber Ihr steht gewiss nicht über den Göttern. Leider zwingt Ihr mich dazu, schärfere Maßnahmen zu ergreifen."

"Noch schärfer? Wollt Ihr das ganze Stadtviertel niederbrennen?"

"Reto, den Sack."

Sein Bewacher nestelte einen großen Leinensack hervor, der ihm von Thesia über den Kopf gezogen wurde, mehr oder weniger respektvoll.

Mit einem Mal war es zappenduster. Auch sein Rapier wurde ihm abgenommen.

"Was zum Namenlosen..."

"Verzeiht, Euer Hochgeboren, aber es geht nicht anders. Glaubt mir, es ist auch in Eurem Interesse, Euer Gesicht zu verbergen. Thesia, fahr schon mal die Kutsche vor. Am besten direkt vor den Eingang. Und ich warne Euch, Alrik von Friedwang: Ich mag nur ein Bürgerlicher sein, aber ich genieße in dieser Stadt einen hervorragenden Ruf. Ich tue hier nur meine Pflicht. Als Intrigant lasse ich mich gewiss nicht beschimpfen, Euer Hochgeboren."

"Ich meine ja auch nicht Euch. Verflucht, seht Ihr nicht, dass das alles nur eine arglistige Täuschung ist?"

"Das sehe ich. I h r habt versucht, m i c h hinters Licht zu führen. Ich hätte Euch ja noch eine Wahl gelassen, Abtransport an einen sicheren Ort oder Quarantäne im eigenen Haus, aber Reto hatte Recht. Das erste, was die Opfer der Namenlosen Seuche verlieren, ist jedwede Vernunft und Selbstbeherrschung. Ihr hättet das Siegel nicht zerstören dürfen, beim Heiligen Therbun."

"Die Frau da oben, sie hat mir diese Krankheit verpasst."

"Glaubt mir, werter Herr Baron" Die Stimme des Medicus triefte bei der Anrede vor Ironie. "Ich kenne den Unterschied zwischen Zorganpocken und einer horasischen Lustseuche. Aus dem Katzloch, ich fasse es nicht. Eure Gespielin ist womöglich gerade dabei, die Pocken in die Stadt zu tragen. Wo habt Ihr sie aufgegabelt? Eine der Dirnen, die sich rund um Phexens Finger herumtreiben, nicht wahr? Die-Krankheit-darf-sich-nicht-ausbreiten."

"Ihr missversteht mich. Und nehmt endlich den verdammten Sack runter, mir wird schon ganz heiß."

"Wahrscheinlich ist es bereits das Fieber, das aus Euch spricht. Sicher ist es das. Ah, die Kutsche ist vorgefahren."

Alrik wurde nach draußen geführt. Licht drang von unten in seine Kapuze. Undeutliche Schemen waren zu erahnen, außerdem große Räder. Pferde schnaubten. Aufgeregtes Gemurmel war zu hören, offenbar standen mehrere Schaulustige herum. Zwei oder drei Kinder spielten schäkernd Fangen.

"Geht weiter, es gibt nichts zu sehen", blaffte Reto. "Der Herr Baron von Friedberg weilt außerhalb der Stadt. Dreiste Diebe haben versucht, in sein Haus einzubrechen, das ist alles."

"Friedwang", murmelte Alrik. "Der Baron von Friedwang."

"Ist das nicht ein Fall für die Stadtwache?" fragte eine Frauenstimme besorgt.

"Ja, die Stadtwache, wo sind die Gardisten?" Mehrere Stimmen schwirrten durcheinander.

Diskretion? Alrik schüttelte den Kopf, nicht nur ungläubig, sondern auch um sein Blickfeld zu vergrößern. Das Heer der 1000 Oger oder Galotta mit seiner Fliegenden Festung war unauffälliger gewesen. Reto, der die jähe Bewegung missverstand, packte das Halseisen nur noch fester. "Ganz ruhig. Nicht aufregen. Es ist alles nur zu Eurem… und unser aller Besten. "

Im nächsten Moment wurde er in das Innere der Kutsche geschoben, und die Tür geschlossen. Wenige Herzschläge später fuhr der Wagen an. Alrik wurde umgeworfen, fiel auf eine Trage am Boden. Fluchend zerrte er den Stoffbeutel von seinem Kopf und befreite sich vom Fangeisen (seine Häscher hatten sich nicht mal mehr getraut, es ihm abzunehmen).

Es dauerte eine Weile voller Ruckeln und Wackeln, bis er sich orientieren konnte. Er saß auf einer Tragbahre, die Fensterläden waren bis auf kleine Lichtlöcher geschlossen. Die Tür nach draußen war wieder mal verriegelt. Vom Regen in die Traufe...

Er eilte zu einem der Fensterlöcher - und sah nur noch, wie der Medicus mit einer kleinen Menschenmenge vor seinem Haus debattierte. Immerhin, die Storchenmaske hatte er drinnen zurückgelassen. Dann fuhr der Wagen auch schon um die nächste Straßenecke. Die Orientierung fiel Alrik schwer, aber eins war sicher: Ins Perainespital ging die irrwitzige Fahrt nicht.

 

1. Kapitel - Die Rückkehr von der Knappenschule

Erstes Kapitel

Haldanas Heimkehr




Burg Schlotz, 30. Rahja 1042 BF

Das Klappern der Hufe hallte auf dem gepflasterten Weg, der sich in engen Windungen von Schnayttach aus am Südhang des Burgberges nach oben schlängelte. Ein heißer Südwind strich von Praios her über den Wutzenwald, durch die Gassen von Schnayttach und den Schlotzberg hinauf zur Burg. In der nachmittäglichen Stunde war es warm, fast schon heiß. Haldana schwitzte und war froh, dass der lange Ritt von Rommilys her endlich ein Ende nahm. Eine gute Woche waren sie unterwegs gewesen nach ihrem Aufbruch. Sie und Alboran, Alrik und Hesindian. Rovik, der Sohn des Vulkanus und Tuvok, der treue Jäger. Über Zwerch und Gallys waren sie zuerst nach dem Friedstein geritten, wo Alrik und Hesindian sich verabschiedet hatten – der Friedwanger Baron hatte seiner Gemahlin Serwa tatsächlich viel zu erzählen. Haldana war neugierig gewesen, den Friedstein zu sehen und auch die Dörfer Gießenborn und Rübenscholl, in denen Alboran aufgewachsen war. Aber die Sehnsucht, ihre Heimat Schlotz wieder zu sehen, nach über einem Jahr, überwog. Und wenn sie rechtzeitig vor Beginn der Namenlosen Tage heimkehren wollte, wenn sie mit den Gefährten die unheilige Zeit nicht in der Wildnis verbringen wollte, sondern lieber den Schutz starker Burgmauern genießen wollte, dann blieb nicht viel Zeit.
Haldana wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte. Vor der Vorstellung, die Zeit zwischen den Jahren in der Wildnis des Vorsichellandes zu verbringen, oder vor der Schelte ihrer Mutter, die sicher einiges anzumerken hatte, wenn sie erfuhr, was sich in den letzten zwei Monden ereignet hatte. Nun, eigentlich fürchtete sie den zu erwartenden Zornausbruch ihrer Mutter mehr als die Namenlosen Tage. Aber da sie diesen nicht vermeiden, allenfalls aufschieben konnte, wollte sie es einfach nur hinter sich bringen. Immerhin war Alboran mit ihr gekommen, anstatt auf der väterlichen Burg zu bleiben. Das würde manches sicher einfacher machen. Und ebenso freute sie sich, dass Rovik, der stets fröhliche Angroschim, bei ihr geblieben war.
„Bist du nervös, Haldana?“ fragte Rovik, der mit seinem Pferd zu dem jungen Friedwang aufschloss. Nach all den Ereignissen am Kurgasberg waren Tuvok und Rovik mit den jungen Adeligen einfach per Du geblieben. So wie während des ganzen letzten Jahres, da er nicht gewusst hatte, dass die mit ihm reisende Bardin ihm verschwiegen hatte, die Tochter der Baronin von Schlotz zu sein. Auch mit Alboran waren beide verblieben, es mit den förmlichen Etiketten nicht so genau zu nehmen. Sie waren alle gemeinsam im Kurgasberg dem Herrn Boron nur knapp von der Schaufel gesprungen. Es war eine Art Vertrauen zwischen ihnen allen entstanden, dass Form und Etikette dahinter einfach nicht mehr so wichtig erschienen. Nur wenn Fremde anwesend waren und die Form eingehalten musste, mühten der Zwerg und der Jäger sich um die Einhaltung der Etikette. Aber auf dem Ritt zum Friedstein war es wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt durch die Raulschen Lande.
Die junge Baronin nickte. „Bei Travia, ja. Aber da haben sie schon recht auf der Knappenschule. Stelle dich der Gefahr, anstatt vor ihr davon zu laufen. Wer flieht, hat schon verloren. Das stimmt sicherlich, auch wenn die Gefahr eine liebende Mutter ist. Also… bringe ich es einfach hinter mich. Aber es ist gut, dass ihr alle dabei seid.“ Haldana lächelte ihre Gefährten an, wobei ihr Lächeln vor allem dem Junker aus Gießenborn galt.
„Was ist das für eine Flagge dort?“ wollte Alboran sein `Tanzgerät`, wie Haldana auf der Knappenschule mitunter genannt worden war, ablenken. Noch waren sie nicht auf der Burg. „Dort, neben der Schlotzer Fahne?“ Der Junker wies auf eine Fahne, die über dem Burgtor aufgezogen war.
„Wie würde ein Heraldiker das beschreiben?“ warf Rovik interessiert ein.
„Die Fahne dort… nun… horizontaler Wellenbalken in Blau über drei schwarzen vertikalen Balken auf Gold. Habe ich das jetzt richtig formuliert, oder würde mich der Heraldiklehrer der Knappenschule korrigieren? Ein Wappen der Mersingen. Das zeigt an, dass Besuch auf dem Schlotz weilt. Es muss der Gernatsborner sein, der ins Haus Mersingen eingeheiratet hat. Nun, vielleicht ein gutes Zeichen. Mutter wird nicht schimpfen können, wenn Gäste da sind. Jedenfalls nicht so sehr.“
„Nun, Haldana, wenn du auf mich gehört...“ begann Tuvok.
„Hat sie aber nicht“ bügelte Rovik gleich jeden Vorhalt des Jägers ab.
Der Jäger verstummte.
Haldana setzte sich mit einem kurzen Schenkeldruck an ihren Braunen an die Spitze der kleinen Schar. Hinter der nächsten Wegkurve würde schon das Burgtor erscheinen. Es war Zeit, wieder ein wenig auf die Form zu achten. An der Spitze der Truppe ließ sie ihr Pferd rhythmisch tänzeln, so wie sie es schon früh gelernt hatte. Lässig nahm sie die Zügel in die Linke und hob, als sie sich der Wache am Burgtor näherte, die rechte zum militärischen Gruß an die Stirn. Mit einem freundlichen und zugleich bestimmenden Blick musterte sie den Rekruten, der heute zum Tordienst eingeteilt war. Der Rekrut erwiderte den Gruß mechanisch, bevor er die junge Baronin, die seit einem Jahr nicht mehr auf der Burg gewesen war, wieder erkannte. Der Soldat strammte sich und verneigte sie in Richtung der Baronin, dann öffnete er das Burgtor.
Haldana gab ihrem Pferd die Schenkel und galoppierte auf den Burghof. Dabei gab sie die Zügel frei und streckte die Arme zu den Seiten. Sie war daheim. Daheim auf dem Schlotz, der trollischen Burg auf dem Berg neben dem Ort Schnayttach, wo sie aufgewachsen war. Die Burg, die sie aber seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Burg, die mit ihren riesenhaften Felsen, aus denen sie errichtet war, so anders aussah als die Galbenburg, auf der sie Pagin gewesen war. Und so gänzlich anders als alles, was sie in Rommilys gesehen hatte.
„Ja, Euer Hochgeboren, ich denke, die Burg am Gernat ist wohl geraten. Die richtige Mischung aus Verteidigungs- und Repräsentativbau. Jeder, der von Hallingen her in die Schlotzer Lande und weiter in die Mark reitet, wird unser Land wehrhaft vorfinden, so er übles im Schilde führt. Oder er wird sich beschützt und behütet fühlen, wenn er als Gast und Freund kommt.“ Der Landjunker lächelte, und sein gepflegter, bereits grau melierter Vollbart rahmte seine Mundwinkel dabei in einer freundlich und verbindlich wirkenden Art ein.
„Gut, Gernatsborn. Ich hatte neulich schon einmal das Vergnügen, den Bau aus der Ferne zu bewundern. Ich bin neugierig, Eure Burg bald auch einmal von Innen ansehen zu dürfen. Lasst uns aber erst einmal auf den fertigen Bau trinken. Ich habe einen Gluckenhanger von 1040 bereitstellen lassen. Der lange warme Herbst Vierzig hat den Trauben eine schwere Süße verliehen. Ihr werdet den Wein schätzen, Storko.“
Der Angesprochene nickte, während seine Gastgeberin, die ergraute, schlanke und stets ernst wirkende Burgherrin die tönernen Becher füllte. Storko war ein wenig geblendet – die Vögtin Adginna, die aufgestanden war um den angekündigten Wein zu holen, hatte die Sonne im Rücken, während er selbst im wohl kühlenden Schatten saß. Storko griff nach dem Becher und wollte der Vögtin zuprosten, als Hufgetrappel auf den sonnenüberströmten Burghof erklang.
„Noch mehr Besuch?“ erkundigte sich Storko.
„Nun, niemand, der angemeldet wäre.“ Die Vögtin drehte sich um. „Dennoch ein sehr willkommener Besuch. Nein, kein Besuch. Aber ich sehe, meine liebe Tochter ist zurückgekehrt. Sie hat die Knappenschule in Rommilys absolviert, müsst Ihr wissen, geschätzter Storko. Wie es scheint, ist sie heimgekehrt. Ahh. Ich sehe auch Tuvok, meinen Jagdmeister. Ich hatte ihn ausgeschickt, meine Tochter abzuholen.“ Der Blick der Vögtin und des Landjunkers fiel auf zwei weitere Reiter, die der heimgekehrten Tochter folgten.
„Offenbar haben sie weitere Begleiter mitgebracht.“ stellte Storko nüchtern fest.
Die Vögtin nickte. „Verzeiht, Junker. Aber ich muss meine Tochter begrüßen.“
„Natürlich.“ Oft konnten Mutter und Tochter sich in den letzten Jahren nicht gesehen haben, wenn sie die Knappenschule in Rommilys besucht hatte. Der Gernatsborner hatte Verständnis für den Wunsch der Vögtin, nach der Tochter zu sehen. Auch er erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
Haldana sprang von ihrem Pferd, kaum dass es zum Stehen gekommen war. „Mutter!“ rief sie und rannte auf die sich langsam und würdevoll bewegende Altbaronin zu. Hastig schlang sie die Arme um ihre Mutter und hob sie hoch.
Storko lächelte ob des ungewöhnlichen, aber impulsiven Wiedersehens der beiden Frauen.
„Haldana...“ Die Vögtin wollte sich ihre Überraschung angesichts der stürmischen Begrüßung ihrer Tochter nicht anmerken lassen. „Als du aufgebrochen bist nach Rommilys habe ich dich noch hochgehoben. Jetzt ist das also umgekehrt. Lass dich ansehen, Tochter! … Deine Frisur hat sich auch geändert. Als ich dich verabschiedet habe, hattest du einen Zopf auf jeder Seite.“
Storko meinte aus der Stimme der Vögtin heraus zu hören, dass sie keinen Gefallen an der Frisur ihrer Tochter fand. Zugegeben, diese war auch merkwürdig. Der Zopf aus den Haaren auf der rechten Hälfte des Kopfes war noch vorhanden. Nur die linke Kopfhälfte war gänzlich kahl rasiert. Der Junker hüstelte leicht. Wie würde er reagieren, wenn eines seiner Kinder sich eine so eigenwillige und sicher nicht höfische Haarpracht zulegen würde, die eher an einen Söldner denn an eine Adelige erinnerte – nun, ein Stück weit war er froh, sich darüber jetzt keine Gedanken machen zu müssen. Die Tochter der Vögtin, Storko dachte nach, müsste jetzt neunzehn oder zwanzig sein.
Als Haldana die Mutter wieder absetzte, umarmte diese ihre Tochter auf eher sittsam wirkende Weise. Die Vögtin war gut einen Kopf größer als Haldana, und auch ein wenig schlanker als ihre kräftig und ausdauernd wirkende Tochter.
„Aber sag, mein liebes Kind, du hast Gäste mitgebracht. Magst du sie uns nicht vorstellen? Ich  Loop habe ebenfalls gerade einen sehr geschätzten Gast hier. Den Landjunker Storko zu Gernatsborn. Du hast ihn auch schon mehrere Jahre nicht gesehen.“
Haldana ließ es sich nicht anmerken, dass sie von ihrer Mutter nicht gerne wie ein kleines Kind angeredet wurde, erst recht nicht vor Alboran.
„Ja, Mutter. Ich habe zwei Begleiter mitgebracht. Nun… wo fange ich an. Vielleicht erst einmal mit dem Angroschim an. Rovik, der Sohn des Vulkanus. Du hattest doch in deinen Briefen erwähnt, dass die Schmiede in der Burg verwaist ist. Nun, Rovik scheint sich auf sein Handwerk zu verstehen. Außerdem hat er sich in all den Ereignissen zuletzt als absolut zuverlässig erwiesen. Ich muss Dir das ohnehin noch erzählen. Ich bin noch gar nicht zum Briefschreiben gekommen. Da gibt es noch viel zu berichten, was ich alles erlebt habe. Mehr, als sich jetzt kurz schildern lässt. Nun… wie soll ich das berichten...“ Haldana stockte und war froh, dass eine aufmerksame Magd rasch noch weitere Gedecke für die vier Neuankömmlinge auftrug und Auch Wein und Brot, Speck, Schinken und Käse wurden aufgetischt.
„Sag ihr, dass es Du Dich um die Nachbarn im Sichelbund bemüht hast“ hörte Haldana Nasdjas Stimme. Die Stimme ihrer Ahnin, die sie seit zwei Götternamen immer wieder vernahm. Haldana hatte sich inzwischen daran gewöhnt, ein Medium zu sein und immer wieder Geister zu sehen und zu hören. Geister, die nur sie selbst sah, jedoch keiner ihrer Begleiter. Und Nasdja war ihr eine fast ständige Gesellschaft geworden, seit sie ihr damals auf Helbers Hof, in der Nähe von Rommilys, erstmals erschienen war. Fast wie eine gute Freundin, mit der sie über alles reden konnte. Nur dass sie niemandem von dieser Freundin erzählen durfte, wollte sie nicht als Fall für die Noioniten wahrgenommen werden. Wie viel hatte sich seit damals verändert. Aber die alte Seherin hatte vermutlich recht. Ihre Mutter hatte davon geschrieben, wie wichtig die Bande mit den Sichelbaronen für ihre Baronie geworden sind. Da war es sicher eine gute Idee, darauf abzuzielen bei der Vorstellung ihres Begleiters.
„Das ist Alboran. Der Sohn Baron Alriks von Friedwang. Er war mit mir auf der Knappenschule. Du weißt, Mutter. Friedwang ist eine der einflussreichsten Baronien im Trutzbund“ erläuterte Haldana.
Die Vögtin nickte. Dass ihre Tochter den Trutzbund so betonte, machte sie eher misstrauisch. Aber es stimmte, seit die Edlen ihrer Baronie zuerst den Schlotzer Schutzbund gegründet und sich dann dem Bund der Sichel angeschlossen hatten, war der Sichelbund zu einer einflussreichen Größe ihrer Baronie geworden. Und das, obwohl die Baronie selbst gar nicht Teil des Bundes war. Die Vögtin hatte ihrer Tochter in einem ihrer Briefe geschrieben, dass es sinnvoll für Schlotz wäre, die Nähe des Bundes zu suchen. Aber in einem war Adginna sich sicher. Sie wusste, dass ihre Tochter den Sohn des Friedwangs nicht aus politischem Kalkül mitgebracht hatte. Dafür kannte sie ihr impulsives Kind zu gut. Sie wusste auch, dass Alboran das uneheliche Lieblingskind des Friedwanger Barons war, ein möglicher Erbe des Friedwanger Steinbockthrons.
„Wohlgeboren Alboran, ich bin erfreut Euch kennen zu lernen.“ Die Altbaronin reichte dem jungen Adeligen die Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“ antwortete Alboran galant und versuchte, mit einem charmanten Lächeln einen guten Eindruck zu machen. Wie er es auf der Knappenschule gelernt hatte verbeugte er sich mit Bückling und Kratzfuß und bedachte die Altbaronin mit einem Handkuss. Ein wenig ungewohnt und linkisch, sicherlich. Aber Haldanas Mutter schien nicht unerfreut zu sein.
Die Altbaronin bedachte ihn mit einigen freundlichen Worten, und erkundigte sich nach seinem Befinden und seinen Erfahrungen in der Knappenschule, worüber er höflich und sachlich, aber mit einer Verunsicherung angesichts der Schwiegermutter, die noch nichts von Haldanas und seinen Plänen wusste, Auskunft gab.
Adginna wandte sich nach einigen höflichen Sätzen mit Alboran Tuvok zu, dem Hofjäger. „Tuvok, schön, Dich wieder hier auf der Burg zu sehen. Ich sehe, du hast mir meine Tochter wohlbehalten wieder gebracht.“
„Ich habe mein Bestes gegeben.“ antwortete der Jäger mit der ihm typischen kurz angebundenen Art. Dennoch, Adginna beschlich endgültig das Gefühl, dass die Schar der Ankömmlinge ihr etwas zu erzählen hatte. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt. Daher würde sie jetzt auch nicht nachfragen, solange sie einen Gast auf der Burg hatte. Adginna sah erst ihre Tochter an, dann den Junker von Gießenborn und blickte ihm tief in die Augen. Alboran wich dem Blick Adginnas aus.
„Ach so ist das. Na, dann setzt Euch doch zu Landjunker Storko und mir. Ich bin sicher, auch der Herr zu Gernatsborn hört gerne Neuigkeiten aus der Capitale Rommilys.“ Die Vögtin fasste mit einem kurzen Blick auf die beiden jungen Edelleute die Situation auf. Allein, dass der Friedwanger Junker ihrem Blick nicht standhalten konnte, hatte ihr alles verraten, was sie wissen wollte.
Storko nickte. Ihn befiel das Gefühl, dass er hier mehr über die hochgeborene Familie auf dem Schlotz erfahren würde, als er es sich hätte träumen lassen. Nun, er würde seine Rolle als Gast weiter spielen und sich einfach überraschen lassen. Die junge Haldana, die irgendwann die ihrer Mutter als Landesherrin und Baronin von Schlotz nachfolgen würde, näher kennen zu lernen, war ohnehin wichtig und wenn sich hier Gelegenheit bot, warum nicht?
„Nun… Also setzt Euch. Gäste, die gute Geschichten erzählen können, sind im Land der Travia immer willkommen!“ Die Vögtin lächelte. Was immer Haldana ihr noch beichten würde, dazu war später immer noch Zeit. Die Knappenschule hat Euch also frei gesprochen, Herr Alboran? Also seid ihr jetzt ein Ritter?“
„Nun, ja, fast. Ich habe die Freisprechung noch nicht erhalten, aber das dürfte dieses Jahr noch geschehen. Ich war… nun, ich war von Schurken entführt worden, die meinen Vater damit unter Druck setzen wollten. Schlimme Geschichte, die da passiert ist. Hätte übel ausgehen können. Aber dank Eurer Tochter… Nun, sie hat mich da raus gehauen. Sie und Euer Jäger und der tapfere Angroschim.“
„Vergiss Deinen Vater nicht. Ohne ihn wäre das ganz anders geendet.“ Haldana war es nicht gewohnt, gegenüber ihrer Mutter die unerschrockene Kämpferin heraus zu kehren. Die sie so auch gar nicht war.
„Ja, und Vaters Hofmagier Hesindian, und dieser Stadtadelige aus Rommilys, dieser di Barnfani… ich weiß.“
„Das hört sich nach einer guten Geschichte an“ warf Storko ein. „Nun, wenn ihr nichts dagegen habt, Vögtin, ich bin nicht in Eile. Von Gernatsborn habe ich berichtet, was wichtig ist. Ich höre gerne zu. Aber dann, Baronin, solltet Ihr von vorne anfangen.
Adginna nickte zu dem Vorschlag des Junkers. Es war vielleicht das Beste. Ihre Tochter anhören und den Gast alleine lassen verbot sich ohnehin. Wissbegierig, mehr zu erfahren, war sie dennoch. Was sprach also dagegen? Außerdem wusste sie, dass ihre Tochter Geschichten und Gesang über alles liebte. Vielleicht war es da tatsächlich das Beste, einfach Zeit zu haben und zuzuhören.
„Gut… warum nicht“ stimmte Haldana zu. „Einen Moment“. Die Baroness holte ihre Laute, die sie noch in der Hülle geschultert hatte. Kurz stimmte sie die Saiten und begann zu erzählen, während sie leise Akkorde griff. Diese Art, die eigene Erzählung mit Akkorden zu begleiten, hatte sie in Rommilys kennengelernt, von einem reisenden Skalden von der Westküste aufgeschnappt. Und so begann sie zu erzählen, wie sie mit Tuvok und Rovik im Gasthaus zum Flussschiffer in Rommilys saß, sie gemeinsam speisten, sangen und musizierten und dabei den Friedwanger Baron trafen, der sie um Hilfe bei einer verworrenen Sache bat.
Während Haldana die Ereignisse um den Hexer von Rommilys erzählte und dabei sachte die Saiten schlug, lauschten die am Tisch versammelten Zuhörer aufmerksam der Geschichte, die sie alle in ihren Bann schlug.  Nur einige Episoden ließ Haldana aus. Stellen, die nur sie selbst etwas angingen und nicht ihre Mutter oder sonst jemanden und die sie selbst Alboran nicht erzählt hatte.
Rovik griff beherzt zu und ließ sich den würzigen Sichler Ziegenkäse schmecken, der zu Früchten und Brot gereicht wurde. Auch Alboran rollte sich einen Schinkenstreifen auf und spießte ihn auf die Gabel. Ab und zu stellten Adginna oder Storko die eine oder andere Zwischenfrage, des besseren Verständnisses wegen oder um etwas genauer zu erfahren. Rovik und Tuvok lauschten, obgleich sie die Ereignisse ja miterlebt hatten, dennoch gebannt der Erzählung der Bardin. Mit dem Abstand von einigen Wochen zum Vorgefallenen ließ sich doch deutlich entspannter darüber reden und nachdenken. Die unheimlichen Ereignisse vom Kurgasberg lagen wie in einer entfernten Vergangenheit.
Storko lauschte ebenfalls interessiert. Es war schwer zu glauben, was sich da, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt, zugetragen hatte. Als neutraler Zuhörer hätte er nicht zu sagen vermocht, was Dichtung und was tatsächlich Geschehenes war. Aber dass zum Beispiel unlängst der Bruder von Ismena von Baernfarn, Jodokus von Baernfarn in Rommilys in den Magistrat berufen worden war, hatte er als Wehrvogt der Mark auch vernommen. Dennoch, er hatte keinen Grund, an der Geschichte zu zweifeln, auch wenn vielleicht manche Ausschmückung der Erzählkunst der jungen Baronin zuzurechnen war.


„Eine schöne Geschichte. Die hast du gut erzählt. Ich denke, deine Mutter hat nichts mehr vorzubringen.“
„Ja, das wird schon klappen.“ antwortete Haldana, ehe sie sich klar wurde, dass der Geist Nasdja zu ihr gesprochen hatte. Wieder einmal hatte sie Nasdja laut geantwortet und alle anderen Zuhörer mussten annehmen, dass sie mit sich selbst redete.
„Was wird klappen?“ Storko fragte überrascht nach. „Aber eine tolle Geschichte, die Ihr erzählt. Man könnte fast meinen, es handle sich um die Dichtung eines Barden und nicht um einen Erlebnisbericht.“
„Die G-Saite nachzuziehen.“ redete sich Haldanda heraus. „Die lässt immer wieder nach. Ihr habt Recht, ich habe das vorgetragen wie eine Geschichte, die ich selbst gehört habe. Nun, manchmal ist es leichter, die ganze Sache mit etwas mehr Abstand zu erzählen. Es war… nicht leicht, das alles.“
Storko nickte. „Das glaube ich gerne. Allein, dass nicht nur Alboran entführt wurde, dass auch Ihr zwischendurch in der Gewalt dieses Hexers wart. Auch dieser Golo… eine erschütternde Vorstellung.  Ich mag garnicht daran denken, was geschehen wäre, wenn Alrik von Friedwang Euch nicht befreit hätte.“
„Nun ja… am meisten Angst hatte ich im Dunklen in der Tiefe des Kurgasberges“ erzählte Haldana. „Als ich alleine und ohne eine Lichtquelle durch die Finsternis des Bergwerks irrte. Ich hatte Angst, dass ich da nie wieder raus komme. Und ohne Alboran wäre ich vielleicht immer dort unten geblieben.“
Haldana setzte sich etwas näher auf der Bank an Alboran heran, als es ihr von ihrer Mutter als schicklich beigebracht wurde. Aber sie hatte nicht noch einmal vor, sich zu verstecken. Ohne, dass sie etwas dazu sagen wollte, hatte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter gleich zu verdeutlichen, dass sie sich da nicht hineinreden lassen wollte.
„Sich das Leben gegenseitig gerettet zu haben, das schweißt Menschen zusammen. Das habe ich bei der Armee oft genug erfahren.“ Storko hatte die Situation ebenfalls erfasst, auch ohne dass Haldana oder Alboran das näher ausführen mussten. Nun gut. Seine Kinder waren noch jünger. Aber auch ihm würde es irgendwann vielleicht ähnlich geschehen. Wie würde er reagieren, wenn sein Spross ihm irgendwann eröffnen würde, die Liebe des Lebens gefunden zu haben? Und würde sich das dann in die dynastischen Verpflichtungen einfügen lassen? Dabei hatte er, und seine Gattin Glyrana von Mersingen erst, ganz besondere dynastische Überlegungen der eigenen Kinder in Sachen der Heiratspolitik. Er konnte nur zu gut nachvollziehen, was nun in seiner Gastgeberin vorging. Der junge Friedwang war, wie er wusste, ein uneheliches Kind. Anerkannt von seinem Vater zwar, und somit auf alle Fälle nicht unstandesgemäß. Aber vielleicht nicht das, was die Vögtin sich für das Haus Binsböckel erhofft hatte. Nun, er würde es erfahren. So würde er aufmerksam beobachten, wie die Vögtin sich unverhofft mit ihrer Tochter und ihren Wünschen auseinander setzen würde. Der Landjunker lehnte sich zurück hob seinen Becher. Hier, im Schatten hinter der Burgmauer, war es angenehm kühl. Nun, in einem Punkt immerhin musste er der Vögtin recht geben. Der Vierziger Gluckenhang war tatsächlich ein guter Tropfen. Er hob die Flasche, lächelte und schaute die jungen Edelleute an, um ihnen ebenfalls Wein einzuschenken. Alboran hielt dankbar seinen Becher hin. Haldana lehnte ebenfalls mit einem Lächeln ab. Was sie aber nicht daran hinderte, mit den anderen anzustoßen, auch wenn sie sich in ihren Becher frisches Brunnenwasser füllte. Auch Tuvok und Rovik bekamen einen Schluck Wein angeboten, den sie dankbar annahmen.
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Storko hatte das Gefühl, die Vögtin warte darauf, dass Haldana oder Alboran etwas sagten, wohingegen die beiden sich offenbar nicht getrauten. Aber vermutlich würden Mutter und Tochter nach dem Essen Zeit brauchen, sich auszutauschen. Eigentlich hätte er auch nichts anderes erwartet, als dass die Vögtin Familieninternes später mit ihrer Tochter besprach. Er hatte ohnehin genug mitbekommen. Also ergriff der Landjunker wieder das Wort. Er fragte interessiert nach zu den Ereignissen, die Haldana und Alboran widerfahren waren. Und nebenher erfuhr er auch viele Neuigkeiten aus Rommilys im Allgemeinen und vom Leben in der Knappenschule im Besonderen.

„Ihr müsst unbedingt noch einmal nach Gernatsborn kommen“ sagte Storko nach dem Mahl. „Die Burg, wie gesagt, ich würde sie Euch gerne zeigen, sobald sie fertig errichtet ist, Vögtin. Mit Ende dieses Sommers sollte sie vollendet sein, nachdem bereits zehn Götterläufe daran gearbeitet wird. Euch ebenso, Hochgeboren.“ Der Landjunker nickte der jungen Baronin zu. „Jedoch nun, wenn Ihr es erlaubt, dann würde ich mich heute noch zum Tempel der ewig jungen Göttin in Schnayttach aufmachen. Meine geliebte Gattin ist der jungen Göttin sehr zugetan und hat nicht nur einen Tempel in Zaberg im Friedwangschen gestiftet, sondern es ist ihr ausdrücklicher Wunsch auch einen Schrein bei uns in Gernatsborn weihen zu lassen. Eure Zustimmung vorausgesetz würde ich dies mit dem hiesigen Tempel gerne näher besprechen.“
Storko fühlte, dass es Zeit war sich als Gast zurück zu ziehen Nicht zuletzt, hatte er ja mitbekommen, dass die junge Baronin mit ihrer Mutter das eine oder andere besprechen musste. Das war nicht zu übersehen gewesen. Storko lächelte.
„Ich würde auch die Gelegenheit gerne nutzen, die Burg einzuweihen und da ist ein Segen Tsas wohl auch nicht verkehrt. Die neue Fähre über den Gernat wird auch nächsten Monat in Betrieb gehen, alle Materialien für den Seilzug sind eingetroffen, im Praios werden wir sie errichten, als erstes gleich im neuen Jahr. Nun, ein Fest zur Burgeinweihung, das würden wir wohl geben. Im Efferd oder Travia, nach der Ernte, dann muss die Burg errichtet sein, wenn es Euch Recht ist - auch wenn ich Genaueres mit meiner Gemahlin noch besprechen muss..“
„Das hört sich gut an“ bestätigte Vögtin Adginna. „Was haltet Ihr davon, Junker Storko, wenn ich Euch nach den unheiligen Tagen auf Eurer neuen Burg besuche, wie Ihr vorgeschlagen hat. Dabei können wir gerne einen Termin festsetzen und alles weitere bereden. Ihr werdet, nehme ich an, die Edlen des Schlotzer Bundes einladen wollen und auch die Sichler, mit denen der Bund inzwischen vereint ist.“ Adginna sah den Landjunker an, dieser nickte und bemerkte höflich “Ihr seid jederzeit auf Burg Gernatsborn willkommen”.
„Nun, ohnehin hatte ich daran gedacht, die Bande zwischen Schnayttach und ihren Edlen zu stärken und auch eine Annäherung an den Bund der Sichel zu suchen. Ich will nicht vorgreifen, aber ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn nicht nur die Edlen, sondern die Baronie als Ganzes sich dem Bund der Sichel anschließt. Was wäre da ein besserer Rahmen als ein Fest auf Eurer Burg? Lasst uns darüber über die kommenden Tage sinnieren und Anfang Praios darüber reden.“

Die Vögtin hatte das Gesinde angewiesen, das Gästezimmer für Alboran von Friedwang her zu richten. “Ich nehme nicht an, dass Ihr an den unheiligen Tagen zurück nach Friedwang reisen wollt” hatte Haldanas Mutter kurz und freundlich zu dem Gießenborner Edlen gesagt, aber eine Antwort gar nicht erst abgewartet. Haldana hatte genickt, noch bevor Alboran antworten konnte. Ohnehin war es ein Gebot der Travia, niemanden in der unheiligen Zeit die Gastung nicht zu gewähren. “Nun, lasst Euch von Rimhilde Euer Zimmer zeigen und seht es mir nach, wenn ich mich mit meiner Tochter ein wenig zurück ziehe” hatte sie gesagt. “Ihr habt sicher Verständnis dafür. Aber es soll Euch an nichts fehlen. Und du, mein guter Tuvok, zeige dem Herrn Rovik doch einmal die Schmiede, da er sich für eine Anstellung eben dort interessiert.”
Mit einem energischen Kopfnicken deutete sie ihrer Tochter, ihr zu folgen. Haldana lächelte Alboran, Tuvok und Rovik noch einmal kurz zu. Dann folgte sie der Mutter in das Haupthaus, führte sie durch den Thronsaal, in dem Schlotzer Axtwappen deutlich sichtbar über dem Kamin angebracht war, durch eine eisenbeschlagene Holztür in die Schreibstube.
„Sind ja gute Nachrichten, dass die Burg am Gernat fertig ist. Dieser Storko scheint mir ein tüchtiger Mann zu sein.“ begann Haldana, nach einem Thema suchend, um nicht gleich von der Mutter auf das genaueste befragt zu werden.
„Das ist er, zweifellos. Ein aufstrebender junger Mann, der nicht umsonst zum Wehrvogt der Mark ernannt wurde. Er hat sich zum einflussreichsten Edlen in Schlotz gemausert und wurde nach der Verteidigung von Rommilys von der Markgräfin zum Landjunker ernannt. Mit ihm als loyalem Vasall haben wir übrigens auch einen guten Kontakt zum Haus Mersingen. Er hat sein ehemals kleines Gut zum einflussreichsten Gut mit Burg in unserer Baronie gemacht. Mindestens dann, wenn der Schattenholzer mit seiner Schwarzen Lanze in Rammholz weilt. Aber das weißt du ohnehin, Tochter. Ich habe dir alles geschrieben, was sich hier ereignet hat während du in Rommilys weiltest. Ach ja… es wäre übrigens denkbar, mit seiner Hilfe für Dich eine Heirat mit dem Haus Mersingen zu arrangieren. Eine gute Partie wäre das.“ Adginna hatte nicht vor, lange um den heißen Brei herum zu reden.
„Ähm, ja, sicherlich, ein einflussreiches Haus. Aber wäre es nicht sinnvoller, den Blick in die Schwarze Sichel zu wenden? Wenn wir in den Sichelbund wollen, dann könnten wir unsere Position im Bund mit der richtigen Vermählung ebenfalls stärken. Der Bund der Sichel hat als Gesamtes sicher einen ähnlich großen Einfluss in der Region wie eine der großen Familien. Und das Haus Binsböckel könnte im Bund zu einem entscheidenden Faktor werden. Solange Tante Valyria dem Hause Baernfarn vorsteht und mit Gallys freundschaftlich verbunden ist und mein Halbbruder in Rammholz herrscht. Meinst du nicht, ich sollte versuchen, eine weitere Baronie der Schwarzen Sichel oder des Bundes der Sichel an unser Haus zu binden?“ Haldana zog es vor, erst einmal strategisch zu argumentieren, in der Hoffnung, dass die Mutter dem eher zugänglich war.
„So gefällst du mir schon besser, Tochter. Immer die Möglichkeiten im Blick haben und nüchtern abwägen. Ja, deine Gedanken haben etwas für sich. Hast du deswegen diesen jungen Friedwangen mit gebracht?“
Nüchtern abwägen, dachte Haldana. Naja, das konnte man nun nicht wirklich sagen. Eher war sie von den Ereignissen überrollt worden. Aber vollständig überrollt. Die Begegnung mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges hatte ihr Leben auf eine ihr völlig unbekannte Art und Weise auf den Kopf gestellt. Aber so direkt wollte sie ihrer Mutter das auch nicht sagen.
„Nun, ja. Was meinst du? Er steht kurz vor dem Ritterschlag, und ist immerhin der Älteste Sohn des Barons. Mit Gallys und Friedwang als Teil der Familie...“
„Ich gehe eher davon aus, dass sich in Friedwang diese Tsalinde durchsetzt. Sie ist ehelich geboren, und weiß das Haus Baernfarn in ihrem Rücken.“ Die Vögtin blieb nüchtern.
„Mag sein… Aber er hat… Talent.“ Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. „Er ist aus der Sichel, er kennt das Land. Ein Adeliger aus Garetien oder von anderswo wäre zeitlebens ein Hereingeschmeckter.“
„Du magst ihn, nicht wahr?“ Adginna fragte ganz direkt.
„Nein. Ich liebe ihn.“ Haldana hatte es gelernt, ebenso direkt zu antworten, und ihre Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass sie es ernst meinte.
„In Ordnung. Ich werde darüber nachdenken. Deine Gedanken mit der Anbindung an den Bund der Sichel haben etwas für sich, und dieser Alboran scheint mir kein schlechter Mensch zu sein. Also gut, ich werde ihn mir die nächsten Tage anschauen. Er wird ohnehin mindestens bis zum Neujahr bei uns bleiben. Aber, Haldana, dass mir nichts Unbotmäßiges zu Ohren kommt, meine Tochter. Die Gebote Travias werden in dieser Burg ernst genommen.“ In den freundlichen Worten von Haldanas Mutter lag eine bestimmende Strenge.
„Ja, sicher, aber für Deine Ermahnung ist es ohnehin zu spät.“
Adginna blickte ihre Tochter erneut streng an. Haldana, die ebenso unbeeindruckt zurück blickte, merkte, wiewohl ihre Mutter sich nichts anmerken ließ, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Die Altbaronin zögerte mit ihrer Antwort.
„Mutter, es ist mein Leben. Hattest du ein erfülltes Leben mit Tsafried?“
Adginna überhörte die Frage nach Haldanas Vater.
„Es ist nicht Dein Leben. Du bist die Baronin von Schlotz. Dein Leben gehört diesem Land und den Menschen, die hier leben. Diesen Platz haben die Götter Dir zugedacht. Also stehle Dich nicht aus der Verantwortung. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Rang und Titel zu erben. Das Märchen können die Barden dem einfachen Volk erzählen, die nur das tun müssen, was man Ihnen anschafft. Du bist Baronin, und damit bist du vom Aufstehen bis zum Schlafengehen sowohl Deiner Lehensherrin, der Markgräfin, verantwortlich wie ebenso deinen Lehnsleuten, für deren Wohlergehen du zu sorgen hast. Dafür haben die Götter die Welt so geschaffen, wie sie ist. Füge dich, wenn du eine gute Baronin sein willst.“
„Ja, Mutter. Mit Alboran an meiner Seite füge ich mich.“
Adginna sah ihrer Tochter lange in die Augen.
„Gut. Soll er um Deine Hand anhalten. Hören wir uns an, was das Haus Friedwang uns zu bieten hat. Dann sollte aber nicht nur Alboran hier vorstellig werden. Wer ist das Oberhaupt seiner Familie? Baron Alrik? Ich werde mit ihm reden müssen.“
„Das wirst Du, Mutter. Wir hatten vereinbart, dass er nach Schlotz reist, im neuen Jahr. Er wird sicher bald zu uns kommen.“

 …

In den frühen Morgenstunden betrat der Wehrvogt der Mark den Schlotzer Burghof. Frühes Aufstehen war er seit seinen Kadettenjahren immer gewöhnt und im Sommer war eine Reise in der Kühle des Morgens ohnehin vorzuziehen. Auf ihn warteten bereits vier berittene Soldknechte und ein schwerer abgedeckter Wagen samt Trossleute. Auch sein eigenes Ross war gesattelt und bereit zur Reise. Er nickte den kampferfahrenen Reitern zu, allesamt Veteranen aus Wildermarkzeiten, kaum wurde ein Wort gewechselt und die Gruppe reiste Firunwärts los. Trotz der unheiligen Tage, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Storko hatte nicht nur die Schlotzer Burg passiert um der Vögtin einen Besuch abzustatten sowie den hiesigen Tsatempel zu besuchen. Die schwere Fracht, die er mit sich führte musste nach Gernatsborn gebracht werden und der schwere Wagen würde an den Trampelpfaden südlich und westlich des Wutzenwaldes kaum weiter kommen. So blieb nur der Wutzenwalder und dann Hallinger Weg als Option übrig, um dann die verbliebenen Meilen bis zum Gernat mit schweren Ochsen auszukommen. Unter der märkischen Verpflichtung, die durch den Burgausbau von der Markgräfin ausgesprochen war, das obere Gernatstag und strategisch für die Mark wichtig den passierbaren Oberlauf auf Feinde und Schurken zu überwachen, erhielt er nicht nur das Privileg von der Markgräfin zum Landjunker ernannt zu werden. Als Wehrvogt hatte er sich auch eingesetzt, von den sicheren Burgmauern aus dies auch tatsächlich zu können und eine ausrangierte, schwere Feldballiste erhalten, die er nun an den Gernat brachte um sie auf den Gernatsborner Burgfried zu platzieren.
Der erste Reiter hielt das Banner seiner Familie hoch an einer Lanze. Der Gernatsborner blickte kurz hinauf. Drei schwarze Balken auf Gold, darüber horizontal ein blauer Wellenbalken. Nun, er war in den letzten Jahren weit gekommen und nun Teil eines der edelsten Adelshäuser des Reiches geworden. Gernatsborn? Die Adelsfamilie Gernatsborn ging in die Geschichte ein. Gernatsborn war die Burg, aber auch er selbst war ins Haus Mersingen aufgenommen worden und bildete mit Glyrana, seiner Gemahlin, einen neuen aufstrebenden Seitenast der Familie. Alle Reiter waren ebenso wie das Banner in Schwarz und Gold gewandet, nur um den Helmen war ein blaues Band geschnürt. Nun, er konnte sich nicht beklagen und war weit gekommen. Als ernannter Wehrvogt kommt er viel in der Mark herum, um sich um die märkischen Verteidigungsanlagen, Straßen und Brücken zu kümmern - und bei der Verteidigung von Rommilys vor wenigen Jahren konnte er sich unter den Augen des Bannerherrn und der Markgräfin beweisen. Zuletzt wurde er nun zum Landjunker ernannt, und damit aus seiner Sicht einer er höchstrangigen Landadeligen der Mark. Allein, dass er aufgrund der vielen Reisen nur hin und wieder Frau und vier Kinder besuchen kann, trübt ihn etwas. So war es auch Glyrana, die sich in den letzten Jahren um den Burgausbau und auch die Familiengeschäfte gekümmert hat. Als Vögtin von Meidenstein ist es nur ein kurzer Weg in die heimatliche Burg. Ihre zunehmenden Ambitionen für sich und ihre Nachkommen gefielen Storko und er lehnte sich auch etwas zurück, auf viel mehr als er bereits erreicht hatte, konnte er ohnehin nicht hoffen.
Nach kurzer Zeit hatte der Wagenzug den Schlotzer Berg hinter sich gebracht und hier öffnete sich das Land vom Wutzenwald heraus. Hier war auch das Stammland der Schlotzer Barone zu finden. Guter Ackerboden mit Gehöften zwischen den Ausläufern des Waldes gen Efferd und einer Hügelkette gen Rahja, die bereits in der Baronie Rosenbusch lag. Auch hatte man bei gutem Wetter Sicht auf See und Ort Firnsjön, der auch Firnsee genannt wird. Hier residierten mit der Familie Firnsjön alte Getreue der Schlotzer Barone. Geografisch war diese fruchtbare Gegend jedoch am äußersten Nordosten der Baronie, abgeschirmt von des restlichen Gütern und Dörfern durch den tiefen Wutzenwald. Storko musste immer schmunzeln, wenn er an die Worte seines Vaters, Boron habe ihn selig, dachte. “Die Macht der Schlotzer Barone reicht nur so weit, wie sie von Schlotzer Berg aus blicken können” hatte er immer gesagt. Die Burg Schlotz soll ja weitaus älter sein als Menschen hier ihren Fuß erstmals hinsetzten, er hatte selbst bereits die Tunnels unter den Berg einst gemeinsam mit Traviahold von Schnayttach genutzt, und so war sie eine der wehrhaftesten wenn auch rätselhaftesten Burgen der Region. Tatsächlich war die Lage des Hauptortes für die Schlotzer Baronieverwaltung jedoch nicht gut gelegen, so hatte sich auch eine starke Eigensinnigkeit des Schlotzer Landadels etabliert.
Die Gedanken des Gernatsborner, der nun eigentlich ein Mersingen war, wandten sich wieder dem Burgbau zu und dem bevorstehenden Einweihungsfest. Er würde gleich nach der Ankunft mit Glyrana die weiteren Pläne besprechen.

Burg Schlotz, Fünfter der Namenlosen Tage 1042
Es war noch stockfinster, als Haldana aufwachte. Das nur teilweise sichtbare, am Himmel stehende Madamal leuchtete nur matt durch das Fenster. Irgendetwas hatte sie hochschrecken lassen. Nur was? Die junge Baronin sah sich um. War irgendetwas anders als zuvor in ihrem Schlafzimmer? Ihr fiel nichts auf… und doch. Oder hatte sie nur ein ungutes Gefühl? Was nichts Ungewöhnliches wäre, in der Zeit zwischen den Jahren.
Haldana stand auf. Was hätte sie darum gegeben, nicht allein zu sein. Es war unheimlich, ohne sagen zu können, was sie verunsicherte. Natürlich hatten Alboran und sie ihre Mutter nicht heraus gefordert und hatten sich daran gehalten, Travias Gebote zu beachten. Hatte sie Angst deswegen? Wegen Alboran? Mutter hatte ihm die Magd Rimhilde zugegeteilt, sie sollte ihm das Zimmer einrichten und sich auch sonst um sein Wohl kümmern. Ausgerechnet Rimhilde. Die von keinem Stallburschen die Finger lassen konnte. Mit ein wenig Binsböckler Zorn hatte sie ihre Mutter gefragt, was das sollte. Mutter hatte einfach nur mit den Achseln gezuckt und lapidar gesagt, dass sie dann wenigstens gleich wisse, ob auf den jungen Friedwang Verlass sei oder nicht. Und das solle man doch besser vor einer Hochzeit wissen.
Gut, da hatte Mutter auch irgendwie recht. Aber vor Rimhilde musste sie doch sicher keine Angst haben. Außerdem, das seltsame, leicht beklemmende Gefühl, das sie befallen hatte, hatte mit Eifersucht nichts gemeinsam. Irgendetwas war anders. Etwas fehlte. Mit einem Mal wusste Haldana, was sie vermisste.
Nasdja. Ihre Urahnin, sie sie sonst ständig umschwärmte, hatte sie in den unheiligen Tagen noch gar nicht gesehen. Ob sich gute Geister auch versteckten? So wie sich die Menschen in dieser Zeit in ihren Häusern verkrochen?
`Aber was ist eigentlich gut und was ist böse?`fragte Haldana sich.
Dann wurde ihr gewahr, dass das nicht ihre eigenen Gedanken waren, sie sie durchfahren hatten. Wieder sah Haldana sich um, erblickte aber niemanden. Irgendwie war es einen Hauch kälter geworden. Oder bildete sie sich das nur ein?
`Vielleicht sind das die guten Tage, und nur der Rest des Jahres ist böse` durchzuckten wieder Gedanken, die nicht die ihren waren, die junge Baronin. Und mit einem mal wusste Haldana, wessen Gedanken sie vernehmen konnte. Wer immer noch nicht von ihr gegangen war, auch wenn sie die vergangenen Wochen nichts von ihm wahrgenommen hatte.
Haldana nahm sich ihren Umhang, der über dem Bettpfosten hing, und schlug ihn sich um, um die nächtliche Kälte zu vertreiben. Es half nichts.
`Du wirst mir nicht entkommen. Du bist immer noch mein. Sogar mit Travias Segen, auch wenn das völlig überflüssig ist.
`Verschwinde` dachte Haldana mit ungewohnter Schärfe.
`Du hast mir gar nichts zu sagen. Umgekehrt, du tust, was ich sage.` wieder diese kalten, körperlosen Gedanken. Haldana wusste nur zu gut, welche noch nicht zu Boron gefahrene Seele sie hier heimsuchte. Aber Angst… Angst durfte sie nicht haben. Angst war das Schlimmste, was man haben konnte, wenn einen Geister, die einem nichts Gutes wollten, aufsuchten. Aber wie konnte sie Angst verhindern? Das kalte, beklemmende Gefühl griff bereits nach ihr. Haldana schluckte.
`Du bist nicht mein Gemahl, Golo von Glimmerdieck. Ich werde jemand anderen heiraten.` widersprach Haldana.
`Ach, Püppchen. Du kannst doch gar nicht anders. Selbst wenn du dich mir widersetzt, machst du doch nur das, was ich will. Du wohnst meinem eigen Fleisch und Blut bei. Meinst du, du erfülltest damit nicht meinen Willen, wenn du mit Alboran den Traviabund eingehst? Formal zumindest, für die unwürdige Welt da draußen, die die Weisheit des Güldenen noch nicht erblickt, noch nicht erkennt. In Wahrheit vollendest du nur das, was wir begonnen haben. Damals, auf der Flusshexe. Wir sind uns versprochen, wir werden gemeinsam über Rübenscholl und Gießenborn und auch über Schlotz herrschen. Alboran mag mich derisch vertreten, mir seinen Körper zur Verfügung stellen. Mein Sohn ist mir treu und erfüllt meinen Willen. Ebenso wie du. Und ganz gleichgültig, ob er es freiwillig tut oder sich widersetzt. Du bist mein. Du entkommst mir nicht. Ebenso wenig wie mein Sohn.`
`Nein, du irrst`begehrte Haldana auf. `Nur weil du jetzt, in der unheiligen Zeit, Zweifel sähst, hast du dennoch keine Macht. Nicht über mich, nicht über Alboran. Noch nicht einmal über dich selbst. Vergiss nicht, ich habe dich erschlagen, auf der Flusshexe!` Haldana wusste nicht, ob sie selbst das glauben konnte, was sie zu Golo gedacht hatte. Nur eines wusste sie: Sie durfte keine Angst zeigen, wenn die Toten mit ihr redeten.
Ein stimmloses Lachen drang durch die Stille. `Das hättest du wohl gerne, Kindchen. Erschlagen… wie hättest du mich erschlagen können, bin ich doch schon seit vielen Jahren tot. Nein, wen du erschlagen hast, das war Jobdarn. Ich habe ihm die Ehre gewährt, mir seinen Körper auszuleihen. Einen unschuldigen jungen Mann hast du erschlagen. Mit der Schuld musst du jetzt wohl leben… Nein, musst du nicht. Der Güldene sieht keine Schuld darin. Wenn du dich zu ihm bekennst, musst du keine Schuld tragen. Es liegt an Dir.`
Haldana versuchte, mit einer wischenden Handbewegung den unheimlichen Geist zu vertreiben. Natürlich vergebens. Die junge Baronin zitterte.
`Alboran ist nicht dein Sohn. Er ist Alriks Sohn` widersprach Haldana in Gedanken. Es klang eher trotzig als überzeugt.
`Natürlich, natürlich, Kindchen. Wie lange bist du jetzt meine Frau? Sechs Wochen erst? Naja, nicht wirklich lange, aber du solltest inzwischen wissen, dass es eine scheinbare Realität gibt für die Unwissenden und die Wahrheit, die nur diejenigen erkennen, die den Güldenen erblickt haben. Und nun komm, meine Gemahlin.`
Eine schattenhafte Hand streichelte Haldana über die Wange. Der Binsböckel stellten sich die Haare zu Berge. Sie bekam eine Gänsehaut
Haldana schrie.
Sie rannte aus ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und rannte weiter. Durch die Gänge, durch den großen Saal und hinaus auf den Hof, wo sich die Rondrakapelle befand, die der Geweihte von Gernatsquell, Hochwürden Deggen, vor einigen Jahren eingeweiht hatte. Immerhin geweiht. Vielleicht der einzige Ort in der Burg, an den ihr dieser unheilige Geist Golo nicht folgen konnte.
Weinend kauerte sich Haldana unter die Statue der Herrin Rondra. Sie war froh, dass sie hier allein war und niemand sie sah.
Endlich, einige Stunden später, ging im Rahja über den Gipfeln der Schwarzen Sichel die Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres.

10.Kapitel

"Beim Traviabund und seiner Gültigkeit, nun ja, da gehen die Meinungen der Rechtsgelehrten wirklich auseinander"

Der Efferdgeweihte wunderte sich, wie leicht ihm das "Schmalsteg-Geplauder" von den Lippen ging, wie man in Perricum gesagt hätte. Vermutlich lags am Bier. Er prostete seinem Gesprächspartner zu, dem Traviadiener, der im Schein der Laternen zufrieden auf sein Werk blickte.

"Sicherlich seid Ihr bei diesem Thema der Berufenere, Bruder Domarian. Ich kenne mich mit Knoten aus, Takelage, einem Bootssegen, den Delphinmanuskripten oder dem Brausen des Gebelaus...aber eine Eheschließung ist wohl etwas völlig anderes."

Efferdi Falswegen nippte an Basils Trunk, lächelte dem Akoluthen freundlich zu - und versuchte nicht auf den merkwürdigen Gesang der Braut zu hören, im Hintergrund. Fast schon war es wie in dieser Geschichte vom cyclopäischen Seefahrer, der sich Wachs in die Ohren stopfen musste, um nicht dem Gesang der Meerjungfrauen zu verfallen.

Auch wenn diese Haldana wirklich eine vorzügliche Lautenspielerin und Sängerin war, wie er zugeben musste. Aber Mattis der Reimer, das war nun wirklich seltsames Liedgut auf der eigenen Hochzeitsfeier. Ich will das, ich will das nicht. Und ich frag mich, wie komm ich jetzt hier raus.

Derart exzentrische Adelige hatte er schon lange nicht mehr getroffen. Allein die schrille Frisur.

Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Gareth. Unwillkürlich summte er die Melodie eines anderen Gassenhauers.

Egal, er war froh über die kleine Abwechslung im langweiligen Alltag von Hausnerhaven. Für einen Moment hätte er fast der verrückten Geschichte des jungen Fischers Glauben geschenkt, Menno oder wie der Bursche hieß. Eine Hexe wäre dem Schiff vorangeflogen, auf dem Besen, und hätte es an einem Seil gezogen. Vermutlich nur eine Ausrede, die sein peinliches Kentern erklären sollte.

Zum Glück kannte er Kapitän Flarion Silbertaler. Zumindest waren sie sich schon ein paar Mal über den Weg gelaufen. Flachwasser-Flarion, so nannten sie ihn in Rommilys, oder einen Hochstapler und ein Großmaul. Von Glückspiel war die Rede, Schmuggel und sogar Flußpiraterie.

Efferdi hatte auch schon andere Geschichten gehört. Demnach sollte Flarion aus dem Lieblichen Feld stammen, als Sproß einer vornehmen Patrizierfamilie, irgendwo aus der Gegend von Silas. Bei einem Bankrott habe er viel Geld verloren, wurde gemunkelt. Er hätte sich vor den Gläubigern auf ein Schiff geflüchtet, um dann eine Karriere als Kapitän anzustreben, fernab der Heimat. Ein Leben, das ihm draußen auf der Blutigen See gründlich verleitet worden sein sollte - von Piraten, Hummeriern, Tentakeln und grünem Pestnebel. Andere sagten, Flarion hätte seinerzeit die Perricumer Flutwelle überlebt und sich danach geschworen, nie wieder die Planken eines Hochseeschiffs zu betreten.

Ein wenig flatterhaft kam der Horasier ihm schon vor, auch opportunistisch und eitel - aber das traf vermutlich auf viele Liebfelder zu. Eine Hexe, die der Flusshexe voranflog, die als Galionsfigur eine fliegende Hexe hatte...diese Geschichte klang doch ein wenig merkwürdig. Flarion hatte ihn versichert, dass die Hofzauberin dieses Junkers Golo gestern lediglich dabei geholfen hatte, das losgerissene, wild herumflatternde Vorsegel zu bergen. Eine Hexe? Alveran bewahre, nein, eine Hexe sei sie gewiss nicht. Tatsächlich, die Magierin, die sich gerade mit Gerrich, dem anderen Eigner unterhielt, wirkte ziemlich "dunkelgrau", schon der Gewandung nach. Aber eher krank, schwächlich und blass als wirklich verdächtig. Fast schon ein wenig mitleiderregend. Hübsch anzuschauen war sie ansonsten schon, mit ihrem geheimnisvollen Lächeln.

Aus irgendeinem Grund mochte Efferdi Kapitän Silbertaler. Und sei es nur, weil die Geschichte mit dem Bankrott und der Flucht vor den "Haien" ihn an die monetären Probleme seines eigenen Hauses erinnerte, den Falswegens. Die Geschäfte ihrer Reederei waren auch schon mal besser gelaufen, vor dem Krieg, oder besser gesagt, vor der endlosen Abfolge von Schlachten, Chaos und Unheil. Der Verkauf der Flusshexe an die arroganten Warrlingers war dafür das beste Beispiel.

Da kam Flarion auch schon auf ihn zu, den Dreispitz unterm Arm, stolz wie ein Admiral an Bord einer horasischen Schivone.

"Eine gute Idee, im Hafen zu feiern" sagte Silbertaler. "Da fühlt man sich doch gleich viel sicherer."

"Ihr habt keine Ladung, sehe ich" wunderte sich Efferdi. "Fahrt Ihr tatsächlich nur auf dem Darpat, um Hochzeit zu feiern?"

"Eigentlich warten wir auf eine Ladung Pech aus den Trollzacken. Aus irgendeinem Grund gibt es eine Verzögerung in den Bergen, bei der Herstellung. Ein Fest, nach allem was man so hört."

"Pech? Hoffen wir mal, das es den Brautleuten Glück bringt" Der Priester hoffte, dass seine Worte geistreich klangen.

"Ja, das kann Haldana gebrauchen. Ihr wisst ja: Sie wird von einem verflossenen Liebhaber verfolgt, der diese Ehe unter allen Umständen verhindern will. Dafür dürfte es nun zu spät sein, aber man weiß ja nie."

"Domarian hat schon soetwas angedeutet" Falswegen nickte ernst. "Wie kann ein Mensch nur derart... travialästerlich handeln? Weiß man, um wen es sich bei diesem Verfolger handelt?"

"Ein gewisser Jodokus und seine Spießgesellen…"

"Jodokus von Baernfarn?"

"Ihr kennt ihn?" rutschte es Flarion heraus.

"Nicht persönlich", sagte Efferdi Falswegen schnell. "Aber der Name ist ja schon eher selten. Ist das nicht dieser junge Kaufmann vom Handelshaus Romerzi, der reich eingeheiratet hat, in Rommilys? Diese Irmhilde, wie heißt sie noch gleich? Sie soll bedeutend älter sein als ihr Gemahl, sagt man."

"Ja, es scheinen sehr verworrene Verhältnisse zu sein." Flarion Silbertaler blickte ehrlich empört. Auch Domarian bekam große Augen.

"Im heiligen Rommilys?" Der Akoluth schüttelte den Kopf mit der Topffrisur. "Ein Traviabund allein des Geldes wegen? Das kann ich mir nicht vorstellen, dass sich ein Geweihter unserer Kirche auf so etwas… Unseriöses einlässt."

"Aber dann ist Jodokus doch schon unter der Haube, sozusagen" Efferdi runzelte die hohe Stirn. "Warum versucht er dann mit aller Gewalt die Braut zu entführen?"

"Nun, die werte Dame Haldana ist zumindest bedeutend jünger als diese Rommilyser Kauffrau" sagte Flarion, der auch schon ein wenig beschwingt zu sein schien, vom "Trunk".

Domarian, der nur mäßig trank, wirkte völlig verstört. "Selem und Zammorrah", flüsterte er. "Dieser Mann ist wahrlich ein...ein gewissenloser Lüstling, wenn das alles stimmt. Möge die Heilige Mutter ihn gebührend bestrafen."

Efferdi trank einen Schluck, um nicht sofort antworten zu müssen. Ein junger Baernfarn, so so. Das Handelshaus Romerzi kannte er bislang als seriös und zuverlässig. Sie sollten firunsgläubig sein, aber nicht unbedingt Jagd auf Frauen betreiben. Die Geschichte roch plötzlich wieder leicht faulig, wie Hafenwasser. Als Diener des Efferd wusste er, dass das Leben unberechenbar war - die Menschen waren es erst recht. Wer konnte schon wirklich auf den Grund ihrer Seelen schauen, all ihre Untiefen ausloten?

Er blickte zur Hofmagierin, die im gleichen Moment in seine Richtung sah. War ihr Lächeln wirklich geheimnisvoll? Oder nicht vielmehr spöttisch und grausam?"

 

Verdammt du küsst mich… ich küss dich nicht.

Verdammt das stört mich… das stört dich nicht.

Verdammt ich will nicht… ich will dich nicht

Ich bin nicht Deine Braut.

 

Efferdi wurde irgendwie heiß, was nicht nur an den vielen Lampen lag. Mit einem mal kam ihn die Flusshexe wie ein Seelenverkäufer vor, im Wortsinn. Und er hatte darauf "angeheuert", wie ein junger, dummer Leichtmatrose?!! Eine Hexe, natürlich ist sie eine Hexe. Menno hatte völlig recht. Irgendetwas stimmt hier nicht. Da läuft was aus dem Ruder.

Noch ehe er einen klareren Gedanken fassen konnte, erklang ein lautes, quäkendes, durchdringendes Geräusch, vom nebligen Fluss her. Es klang wie eine Sackpfeife, auf die jemand getreten war.

 

Alrik spähte vorsichtig über die Reling und verschaffte sich einen Überblick. Er sah Haldana, auf einem Fass sitzend, die Laute schlagend und singend. In der Nähe Golo, unverkennbar an seinem schiefen Hals. Hatte er also doch überlebt. Alrik hatte es erst nicht glauben wollen. Aber jetzt sah er ihn mit eigenen Augen.

Weiter ließ Alrik seinen Blick schweifen. Sieben Laienprediger der Travia, an ihren Kutten leicht zu erkennen. Ein Geweihter des Efferd. Ein knappes Dutzend Matrosen, ein wenig mehr Dorfbewohner. Allesamt dem Trunk schon arg zugetan. Gerrich und die Hexe Sisa sah er nicht. Und was war das vorhin für ein Pfeifton gewesen? Einen weiteren Musikanten hatte er nicht gesehen.

Was würde ihn eigentlich daran hindern, an Bord zu kommen? Er sah keine wirklich Bewaffneten. Und von Priestern und Bauern aus dem Dorf war keine Feindschaft zu erwarten. Die Matrosen… sicher auch für eine Prügelei waren die wohl gerne zu haben, aber es waren keine Krieger, keine Söldner. Zudem war die Mehrheit von ihnen trunken und kaum mehr in der Lage, gerade auf den Beinen zu stehen. Der Kapitän schien halbwegs nüchtern zu sein. Aber er trug keine Waffe an der Seite. Tatsächlich schien niemand auf einen Kampf vorbereitet zu sein. Was war hier los? War die Sache für Gerrich etwas aus dem Ruder gelaufen? Wenn er sich auf ein Gefecht, auf einen Versuch zur Befreiung Haldanas einstellte, warum würde er dann Bauern und Prediger auf sein Schiff lassen? Alles irgendwie unlogisch. Es war davon auszugehen, dass mindestens die Besucher des Schiffes zwölfgöttergläubiges und rechtschaffenes Volk war. Keine Feinde. Und die Matrosen… nun, wenn man sie angriff… aber musste man das? Der einzige wirkliche Gegner, den er sah, war Golo. Klar, irgendwo im Hintergrund hielten sich wohl Gerrich und Sisa verborgen. Ungewöhnlich genug, dass der Gastgeber nicht an Deck war.

Eine Luke… eine aufklappbare Luke. Darunter war vermutlich der Zugang zu den Räumen unter Deck verborgen. Wer befand sich unter Deck? Drohte von dort Gefahr? Er wusste es nicht.

Aber eines war ihm klar. Vermutlich würde er mit einem Sturmangriff sich Menschen zu Feinde machen, die es so gar nicht wären. Einfach blindlings losschlagen, das würde vermutlich nach hinten losgehen.

Alrik drehte sich zu seinen Kameraden. Mit einer sachte wirkenden Handbewegung deutete er ihnen, dass keiner losstürmen oder angreifen solle, sondern bei nur Bedarf eingreifen sollten. Dann schwang er sich über die Reling, stellte sich aufrecht hin - Bauch rein, Brust raus, wie man es den jungen Rekruten beim Wehrheimer Strammstehen beibrachte.

Im Namen des Grafenhofs!“ rief er, nur ein wenig hochstapelnd. Er wusste, dass Jodokus in Kontakt zur Spektabilität Rattel stand, und damit vermutlich indirekt im Auftrag der Markgräfin stand. Wer würde es denn so genau nehmen? Jedenfalls würden die Dörfler und Geweihten das nicht hinterfragen, und vielleicht auch nicht die Matrosen an Bord, wer auch immer ihre Heuer zahlte. Anderseits befanden sie sich hier schon im Königreich Garetien, in der Grafschaft Schlund. Da war es besser, kein Kompetenzgerangel zu risikieren. „Der Herrschaft kam zu Ohren, dass Frau Haldana entführt wurde und hier gefangen gehalten wird. Das Schiff ist umstellt von Bogenschützen. Aber es soll niemand etwas passieren!“

Alle an Bord hielten inne beim Trinken, Singen und Reden und blickten erschrocken auf den Überraschungsgast. Golo fasste sich als erster.

Niemand wird meine Braut entführen!“ schrie Golo, einen Schritt auf Alrik zugehend. „Auch du nicht, Thronräu…“

Weiter kam er nicht. Haldana hatte mit dem Lautenspiel aufgehört. Mit einem raschen Schwung zog sie die Laute, am Hals gepackt, durch die Luft und ihrem Ehemann von hinten mit aller Kraft über den Schädel. Die Laute zersplitterte. Golo sackte wie ein leerer Mehlsack zu Boden. Sein Kopf war Blutüberströmt. Ob sie Golo nur bewusstlos geschlagen oder ihren Gatten gleich zu Boron geschickt hatte, wusste Haldana nicht.

Nein, Schurke. Du wirst mich nicht entführen, nicht zwangsverheiraten. Danke, mein Retter! Dank dem Grafenhof!“ rief Haldana und lief zu Alrik.

Instinktiv hatte Haldana die Situation so eingeschätzt, dass sie all den unbeteiligten an Bord auf klare und eindringliche Weise vermitteln musste, wer die Übeltäter und wer die Guten waren. Dass die von Golo wiedergegebene Mär der gewissenlosen Verfolger nicht zutraf, sondern dass sie bereits entführt worden war und nun auf Befreiung hoffte. Mindestens dem Efferdpriester und den Traviaakoluthen sollte das jetzt klar geworden sein.

Flarion zauderte. Sollte er die Matrosen, angetrunken wie sie waren, vor den Augen der Geweihtenschaft jemanden angreifen lassen, der sich auf die Markgräfin berief? Wenn draußen tatsächlich Bogenschützen positioniert waren? Der Schiffseigner zahlte gut und hatte nicht nach einem Kapitänspatent gefragt, aber wollte er für ihn sein Leben fortwerfen?

Die Entscheidung nahm ihm erst einmal ein angetrunkener Matrose ab. Mit einem Entermesser in der Hand stürmte er auf Alrik zu. Ob Radulf, der Matrose, nun erzürnt war über die Unterbrechung der Feier oder volltrunken nur auf Streit aus war, Flarion vermochte es nicht zu sagen. Aber die lauten, schmerzerfüllten Schreie und der verdutzte Blick auf den Pfeil, der plötzlich aus seinem Unterarm stakte, erzielte Wirkung.

Seid gewarnt. Ein gräflicher Abgesandter scherzt nicht“ Alrik sprach mit kühler, gefasster Stimme. Insgeheim war er froh, dass der Nivesische Jäger aufmerksam war. „Der nächste Pfeil trifft nicht nur den Arm, wenn hier jemand meint, sich gesetzlos verhalten zu können. Die Feier ist beendet.“ Warum sollte Alrik länger als nötig auf dem Schiff bleiben? Sein Bluff mit zahlreichen angeblichen Schützen würde sich nicht ewig ausreizen lassen. Es war besser, zu verschwinden, bevor Gerrich und Sisa eingriffen oder dieser Kapitän die Matrosen in den Kampf schickte. „Hochwürden und Ehrwürden der Kirchen, Bürger von Hausnerhaven, Matrosen! Bleibt ruhig und geht nach Hause. Ihr habt von nichts gewusst und euch nichts zuschulden kommen lassen. Am Gräflichen Hof weiß man das!“ verkündete Alrik, ganz in seiner Rolle bleibend. „Rückzug“ raunte er leise Haldana zu. „Den Rest klärt die hohe Gerichtsbarkeit!“ fügte Alrik laut hinzu. Der Rückzug sollte nicht ganz offensichtlich wie eine Flucht wirken. „Haldana, ich bringe Euch erst mal zum Medikus. Nicht, dass Euch etwas fehlt.“ Alrik blieb gelassen und förmlich, wie bei einer amtlichen Untersuchung.

Es ist besser, wir gehen auch“ raunte Efferdi Domarian zu. Laut rief er „Ihr habt gehört, was der Graf wünscht. Gehen wir zurück ins Dorf“ Der Geweihte war verunsichert, wusste nicht recht, was er glauben sollte. Nach Hexenschiff hatte ihm dieser Seelenverkäufer ja schon ausgesehen. Aber zuvorderst fühlte er sich seinen Schäfchen, seinen Hausnerhavenern verantwortlich. Wenn hier an Bord eine Keilerei oder gar ein wüstes Hauen und Stechen losging, dann wüsste er die seinen gerne sicher von Bord.

Alrik fasste Haldana am Arm und zog sie zum Steg, wo Rovik sich mit der Axt bereitgestellt hatte.

Mit einem lauten Knall schlug die aufgeworfene Decksluke auf den Planken auf. Gerrich, mit einem Tuch vor dem Gesicht kaum zu erkennen, stürmte die Leiter nach oben. „Packt die Verräter!“ rief er Flarion und den Matrosen zu. Angesichts der Verletzung ihres Kameraden Radulf zögerten die Seeleute.

Haldana und Alrik gingen den Steg herunter, ans Ufer. Rovik, grimmig blickend und die Axt zum Schlag bereithaltend, deckte den Rückzug.

Erneut ertönte der schrille Ton einer Sackpfeife.

Packt sie Euch, holt die Belohnung!“ rief Than Kaelldor in dem Augenblick da das Floß am Ufer aufgelaufen war. Seine Leute stürmten voran.

 

An Bord der Flusshexe brach das vollkommene Chaos aus. Jeder schien dem anderen vor der Nase oder den Füßen herum zu stolpern, sich anrempeln oder sonst wie behindern zu wollen. Trollberger taumelten gegen Flussmatrosen, Dorfbewohner prallten gegen Pilger. "Haltet ein, haltet ein!" rief Domarian "Dieses Fest steht unter dem Schutz der Großen Mutter" Mit seinem Stab versuchte er seine Pilger zusammenzuhalten, die tatsächlich wie ein Schwarm schnatternder Gänse wirkten. Plumpsend fiel der Erste vom Treidelkahn ins Wasser - offenbar ein betrunkener Matrose.

Ich muss meinen Schwarm endlich ins sichere Riff bringen, dachte Efferdi, und lenkte die Hausnerhavner mit dem kleinen Dreizack über den Steg.

Der verschleierte Gerrich stürmte unterdessen aufs Achterdeck und hob drohend seine Hand, in Richtung Haldana, Alrik und Rovik. "Stehengeblieben, oder...."

Haldana merkte in diesem Augenblick, dass ihr Brautkleid wenig für eine Flucht geeignet war. Vor allem war die Leihgabe etwas zu lang. Sie stolperte und fiel hin, aufs Pflaster der Uferpromenade.

Der Zwerg und der Friedwanger stellten sich schützend vor die Braut.

Ebenso Hesindian, der seinen Stab "in die Luft stellte" und seine Hände zu einem Trichter formte:

"AEOLITUS WINDGEBRAUS - wehe Staub und Rauch hinaus."

Ein helles Brausen erklang. Alriks graue Locken und Roviks Barthaare begannen zu flattern. Verblüfft prallten sie zurück.

Ein jäher Windstoß schwirrte durch die Luft und riss das Tuch von Gerrichs Gesicht. Erst jetzt sah Haldana, dass es ein Imkerhut mit Schleier war - ausgerechnet. Die Kopfbedeckung flog davon und stürzte auf der anderen Seite der Flusshexe ins Wasser. Was nun zum Vorschein kam, war keine Biene. Sondern eine groteske, schwarzbehaarte Fratze mit böse glitzernden Facettenaugen. Gerrich wollte noch etwas brüllen, stattdessen entrang sich seiner Kehle nur ein wütendes Summen.

Selbst Alrik, der im Leben einiges gesehen hatte, drehte sein Gesicht angeekelt weg.

Menno, der junge Fischer, war der nächste, der das Monster erblickte, von der wackelnden Laufplanke aus. "Da, seht nur. Da ist eine Riesenfliege auf dem Achterdeck. "

"Ja, ja, wir sollten nun wirklich machen, dass wir an Land kommen" Efferdi drehte sich um... und erbleichte. "Herr der Gezeiten, steh uns bei."

Menno schlug hastig das Efferdszeichen und ergriff das Goblinpanier.

Nach einigen Herzschlägen war überall Kreischen und Schreien zu hören. Die Rangelei an Deck wurde zur Massenpanik. Nur Flarion, der Kapitän, hatte wieder mal nichts mitbekommen. Mit gezogenem Säbel sprang er von Deck, knickte schmerzhaft auf der Hafenmole um und sank stöhnend vor Rovik auf die Knie (dem er nun geradewegs in die Augen blicken konnte).

"Was hat das alles zu bedeuten?" ächzte er matt. "Haldana, Golo, die Traumhochzeit...?" Verstört drehte er sich um, zu seinem Flusskahn, auf dem gerade die Niederhöllen losbrachen.

Im nächsten Moment traf ihn ein Schleuderstein an der Stirn, knapp unterm Dreispitz. Stöhnend ließ er die Klinge fallen, wälzte sich übers Pflaster und lag still.

Alrik hob den Rapier und sah in die Richtung, aus der das Geschoss herbei geschwirrt war. Eine buntbemalte Trollzackerin (oder war es eine Trollbergerin?) hatte den Fuß auf die Reling gestellt und lud ihre Schleuder gerade nach. Nicht ohne einen feuchten Kuss auf den Stein zu drücken. "Hiergebliem, oder die Braut ist tot" schrie sie. Zumindest deutete der Mondschatten die schwer verständliche Mundart so.

Im nächsten Moment stak ihr auch schon ein Pfeil in der Schulter. Wehklagend fiel sie an Land. Tuvok, natürlich. Sauberer Blattschuss.

Immerhin ergriffen nun sämtliche Nichtkämpfer das Weite. Selbst die Darpatschiffer flohen, in Panik. Das wirre Schlachtfeld klärte sich ein wenig auf. Ein streitaxtschwingender Hüne stürmte den Steg hinunter, geradewegs auf Haldana zu - ohne auf den nächsten Pfeil zu achten, der seine Seite durchbohrte. Tuvoks Gruß hätte genauso gut eine Eiche treffen können. Die große Axt sauste mit Urgewalt auf Rovik herunter, der im letzten Moment beiseite sprang. Funken sprühten, als das Metall ins Pflaster schlug und eine tiefe Kerbe hinterließ.

Mit gurgelndem Gebrüll griff Trolling erneut an. Alrik eilte dem Zwergen zur Seite, der diesem schwarzbärtigen Riesen nun wirklich nicht gewachsen war. Der Friedwanger parierte über Kopf - und schrie auf, als die Axtklinge abglitt und ihm den Mantel aufriss. Der Hüne ragte über ihm auf wie ein wandelnder Berg, brüllte. Der Rapier bog sich unter einem weiteren Axthieb. Alrik erzitterte und bekam im nächsten Moment den Schaft über den Kopf geschlagen. Der Phexgeweihte sah nur noch Sterne, während er über den Boden schlitterte. Mehr als benommen blieb er liegen.

Rovik griff an, versuchte dem Gegner seine eigene Axt ins Bein zu schlagen. Der Trollmensch trat ihn einfach um und grapschte nach Haldana, die sich gerade wieder aufgerappelt hatte. Ihr Brautkleid zerriss. Ohne auf ihr Strampeln zu achten, warf sie Trolling über seine muskelbepackten Schultern.

"PARALÜ PARALEIN - sei starr wie Stein!" Das kam von Hesindian, der sich mit der rechten Hand auf die linke Handfläche geschlagen hatte.

Der Riese wollte seine Barbarenaxt auf den Magus schleudern, als wäre es ein Wurfbeil - und erstarrte mitten im Ausholen. Einen Herzschlag später stand das Ungetüm als Denkmal seiner Selbst im Hafen, mit ziemlich trolligem Gesichtsausdruck.

Allerdings hielt der Kerl die Braut noch immer fest umklammert, die fluchend und schimpfend auf seiner breiten Schulter zappelte.

"Du wirst jetzt sofort an Bord der Flusshexe kommen, oder ich werde wirklich böööse" Das kam von Sisa, der Hexe, die wie eine Rachegöttin an Deck stand und mit ihrer klauenfingrigen Rechten auf die Haarsträhne in ihrer Linken deutete. "Weißt du, was das ist, Miststück? Was soll ich dir anhexen? Blindheit? Taubheit? Schmerz? Oder möchtest du lieber langsam verrotten?"

"I ka nümma un i mag nümma, Schletzä" Haldana war vor Aufregung wieder in Schwarzsychler Dialekt verfallen. "Dr´ Golo isch a gruusig Soiniggel. A Dreggsäckel."

"Holt sie euch" kommandierte Than Kaelldor. Eine Trollbergerin legte mit der Armbrust an. Das galt Rovik, der in Deckung ging. Der Pfeil flog gegen den erstarrten Trolling und prallte einfach ab, als wäre der Bursche aus Stahl.

"Vorsicht! Passt doch auf!" schimpfte die Hexe. "Tot bringt die Schlotzer Schlampe uns gar nichts mehr."

 

Katz stürmte an Land, sein Schwert und den lederbezogenen Holzschild hoch erhoben. Tschok. Geschickt wehrte er einen Pfeil ab, der den Schild allerdings zur Hälfte durchschlug. Auch Jobdarn griff an und zog den Bihänder hinter seinem Rücken hervor. Der Zwerg wich einige Schritt zurück. Der Rest der Bande hielt sich im Hintergrund, fürchtete wohl weitere Pfeile und Hesindians Magie. Aber der Angroscho merkte, dass der Magier ausgebrannt war, und seinen Zauberstab wie einen Kampfstab senkte. Bald würde auch der Rest der Meute mutiger werden. "Jodokus, wo steckst du, in Angroschs Namen?"

Der junge Baernfarn war tatsächlich am vorderen Seil hochgeklettert, an dem die "Flusshexe" festgemacht hatte. Dabei hatte er sich allerdings schwergetan, und seine Klinge sich irgendwo verhakt. Vermutlich lag es an dem Rattenschutz, die an der Festmacherleine angebracht war: eine tellergroße Holzscheibe, die Nagern das "Entern" erschweren sollte.

Um ein Haar wäre er in den schmalen, trüben Spalt zwischen Schiff und Kaimauer gefallen. Irgendwie hatte er es geschafft, sich über die Reling zu wuchten, während Alrik seine große Rede schwang. An Deck hatte er sich bereits im völligen Chaos wiedergefunden.

Der junge Baernfarn war ein Kaufmann, kein vollausgebildeter Kämpfer. Aber er fühlte sich auch nicht unbedingt als Rohalsjünger, geschweige denn Feigling. Nur hatte er keine Ahnung, mit wem er in diesem Tohuwabohu überhaupt fechten sollte (wie die Wilden des Regenwalds ein völliges Durcheinander im Dschungel nannten). Also duckte er sich erstmal hinter einem Fass. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Diesen Vorteil wollte er nicht aufgeben, und sich erstmal in Ruhe orientieren.

Seine "defensive" Taktik wurde belohnt. Dort lag Golo, der Schiefhals, auf dem Bauch, und rührte sich nicht. Der Kopf des Bräutigams war blutig geschlagen, die zertrümmerte Laute daneben sprach eine deutliche Sprache. Diese Hochzeit hat ein bisschen was von der Blutnacht zu Rommilys, dachte der Patrizier und lächelte grimmig.

Jodokus Blick fiel auf den Rapier, den sich der Junker umgeschnallt hatte: Das war doch Haldanas Waffe? Wo war sie eigentlich? Offenbar hatte sie sich mit Alrik, Rovik und Hesindian bereits den Steg hinunter geflüchtet. Das war eine sehr gute Idee.

Gerne wäre er es gewesen, der Haldana gerettet hatte, schon allein um seine Scharte der missglückten gemeinsamen Nacht wieder auszuwetzen. Nun, wenn er ihr ihren Rapier zurückbringen würde, konnte er bei diesem verkorksten Immanspiel vielleicht noch ein paar Punkte gutmachen. Er öffnete Golos Gürtel und zog das Schwertgehänge vorsichtig zu sich heran, hinters Fass, immer noch geduckt, beinahe liegend. Ja, das wirklich Haldanas Waffe.

"Quook". Eine hässliche erdbraune, warzige Kröte hopste ihm geradewegs vors Gesicht. "Quook". Wie war die denn das Seil hinauf gekommen?

Dann fielen ihm die Geschichten von den Zaubertieren wieder ein, die Hexen angeblich überall hin begleiteten. Schwarze Katzen natürlich, wohl auch Ratten, Krähen, Spinnen und Schlangengezücht. Und Kröten? Ja, das schleimige Kroppzeug sicherlich auch.

"Du wirst jetzt sofort an Bord der Flusshexe kommen, oder ich werde wirklich böööse." Eine kalte und herzlose Stimme.

Das war die Schwarze Sisa, die Bierhexe, die ihn ruinieren wollte. Was tat die Frevlerin da? Sie hielt eine lockige, blonde Haarsträhne in der Hand und schrie in Richtung Dorf.

"Weißt du, was das ist, Miststück? Was soll ich dir anhexen? Blindheit? Taubheit? Schmerz? Oder möchtest du lieber langsam verrotten?"

Haldana antwortete etwas, das Jodokus nicht richtig verstand. Haldana, warum suchst du nicht einfach das Weite, statt dich auf ein Streitgespräch einzulassen? Er glaubte der Seuchenhexe jedes Wort.

"Holt sie euch!" rief der Anführer der Bande, die irgendwie aus dem Nichts, aus Nacht und Nebel aufgetaucht war. Nun schoss auch noch eine Trollbergerin mit der Armbrust, in Richtung Hafen. Dem Gesichtsausdruck nach hatte sie ihr Ziel allerdings verfehlt.

Die Hexe schimpfte.

"Jodokus, wo steckst du, in Angroschs Namen"

Das war Rovik.

Das schien wiederum Sisa auf einen Gedanken zu bringen. Sie blickte in das kleine Körbchen aus Weidengeflecht, das an ihrem Gürtel baumelte. "Glibba, wo bist du?"

Die blutunterlaufenen Augen der Hexe irrten über das Deck, wo die schwankenden Laternen für ein wirres Schattenspiel sorgten. Einige waren erloschen.

Einen Moment lang wurde sie von den Pilgern abgelenkt, die zitternd neben dem Mast standen, einschließlich Domarian, ihre Hände gefaltet hatten und inbrünstig beteten, mit geschlossenen Augen. Einige Trollberger standen unentschlossen um sie herum, mit erhobenen Waffen. "Nehmt sie gefangen, wir brauchen frisches Blut. Und du, Kaelldor, schaff endlich Haldana her!"

"Sie scheint leider festzustecken" kommentierte der Than trocken.

Jodokus zählte in seinem Versteck Eins und Eins zusammen (das konnte er nun wirklich gut, bei Phex). Die lockigen Haare waren von Haldana, die kannte er aus nächster Nähe. Und Glibba saß gerade vor ihm und glotzte böse. Außerdem schien Rovik in der Klemme zu stecken. Er allerdings auch, wenn er sich die Übermacht auf dem Deck so ansah. Es war ohnehin ein Wunder, dass er noch nicht entdeckt worden war.

Die Kröte, die konnte ihnen vielleicht nützlich werden. Kurz entschlossen griff er nach Glibba - und schrie auf, als das glitschige Ding seine Haut verbrannte.

"Da ist noch einer", brüllte ein Trollberger.

 

"BLITZ DICH FIND - werde blind" Der Zweihänder-Schwinger schrie auf, hielt mitten im Angriff inne - und bekam von Hesindian noch einen Schlag mit dem Zauberstab verpasst, in die Magengrube.

Rovik wehrte sich tapfer gegen den Schildträger, der aber ein erfahrener Fechter zu sein schien, und ihn mit dem Schildstachel ebenso zusetzte wie mit dem Schwert. Stahl klirrte gegen Stahl, beide kämpften verbissen. Zum Glück behinderte den Großling der Pfeil, den ihm Tuvok durch den Schild geschossen hatte - und Haldana, die ihn von hinten festhielt. Rovik nutzte seinen Vorteil, und griff mit dem Beil an. Katz wehrte ab und schlug nach Haldana, die wie eine Wildkatze zappelte, auf der Schulter des Hünen. Fluchend ließ Katz den Schild los und musste erneut einen Tiefschlag des Zwergen parieren. Beide kreuzten die Klingen, wichen zurück, griffen erneut an. Rovik hatte Pech, seine Axt verkeilte sich mit der gegnerischen Parierstange. Ein Ruck, und der Angroscho war entwaffnet. Die Axt klirrte zu Boden. Katz holte zum entscheidenten Hieb aus, ein paar Fingerbreit zu weit. Haldana bekam den Schwertarm zu fassen und biss herzhaft hinein. Schreiend ließ der Ai´Than sein eigenes Schwert fallen.

Rovik hastete auf seine Axt zu, griff danach - und wurde im nächsten Moment von Katz umgerissen, der ihn am Bart packte und einen Dolch zückte. Strampelnd versuchte sich der Zwerg zu befreien. "Für dich reicht die kleine Klinge" knurrte sein Angreifer, der auch nicht allzu groß war, aber kräftig.

Irgendwie bekam Rovik die Gabel in der Lederscheide des Angreifers zu fassen, und stach zu, geradewegs in die buntbemalte Wange des Trollbergers. Farbe vermischte sich mit rotem Lebenssaft. Schreiend fiel der Räuber zur Seite. Blut sprudelte aus seinem Gesicht hervor, als er die Gabel heraus riss.

Hesindian trieb unterdessen einen Spitzbart zurück, der ihn mit einer Ochsenzunge hatte durchbohren wollen - und nun feige die Flucht ergriff. Im nächsten Moment traf den Magier schmerzhaft ein Schleuderstein am Bein. Stöhnend sank er in die Knie. Roburn kehrte hämisch grinsend zurück und schrie seinerseits auf, als ihm die Zwergenaxt den rechten Oberschenkel aufriss. Allerdings musste sich Rovik nun dem Zweihandkämpfer zuwenden, der sich von der Blendung erholt hatte und ihn mit dem Bihänder zu zerteilen versuchte. "Schöne Waffe" brummte der Zwerg, als er die gewaltige Klinge in den Wehrheimer Block nahm, und meinte es sogar ehrlich. Im nächsten Moment sah er den Spitzbart, der sich mit den Dolch in seinen Rücken zu schleichen versuchte.

Der Zwerg sprang zurück, um Abstand zu den beiden Gegnern zu bekommen. Ein Pfeil schwirrte vorbei, hinaus in die Nacht. Diesmal hatte der Jäger schlecht gezielt.

"Jodokus, würde sich der Herr endlich mal herbeibequemen?"

 

Der "Herr" hatte gerade andere Probleme. Mit viel Glück bekam Jodokus Glibba am Hinterbein zu fassen, wo ihre ätzende Haut nicht so brannte. Die Kröte knurrte und schnappte. Der Baernfarn verbiss den dämonischen Schmerz, den das Hautgift verursachte. Als ob er in ein Büschel Feuernesseln gelangt hätte.

Die Hexe starrte ihn ebenso entsetzt wie hasserfüllt an, und überlegte sich sicherlich schon einen üblen Fluch. Das Rapier in Jodokus Rechten ließ sie einen Moment zögern. Aber der Baernfarn wusste, dass sie ihm gleich ein "Donnerwetter" bereiten würde. Vor allen Dingen würde er die Schmerzen nicht mehr lange aushalten.

"Du willst deine Kröte wieder haben? Hol sie dir!" Mit voller Kraft schleuderte Jodokus das empört fauchende Vertrautentier über Bord, in Richtung Darpat, in dem es pflatschend verschwand. Es war fast schon eine Verzweiflungstat, aber sie funktionierte erstaunlich gut. Sisa schrie auf und streckte fordernd die Hand aus. Im nächsten Moment schwirrte ihr Besen herbei. Die Hexe schwang sich auf ihr widernatürliches Reittier und sauste hinaus auf den Fluss, um Glibba zu retten. Jodokus hatte keine Ahnung, wie gut Kröten schwimmen konnten. Aber das Wasser war kalt und die Strömung trotz des Niedrigwassers sicher nicht zu unterschätzen.

Sisa schien ähnliche Gedanken zu hegen: "Glibba, mein Liebling! Halt aus, ich rette dich..."

Wo war eigentlich Gerrich? Ah. Der Hexer von Rommilys war gerade dabei, mit einer Axt auf die hintere Leine einzuschlagen.

Da will wohl jemand die Fliege machen.

Jodokus blickte auf seine linke Hand, die mit dicken Wasserblasen gesprenkelt war, und verzog das Gesicht.

Nun drangen gleich drei Trollberger auf ihn ein. Jodokus wehrte die Hiebe und Stiche mehr schlecht als recht ab. Zum Glück behinderten sich die Angreifer in ihrem Übereifer gegenseitig. Ein Räuber zerschlug mit dem Morgenstern eine Lampe, seine Kumpanin durchschlug mit dem Säbel eines der Taue am Mast. Jodokus unternahm einen Ausfall (im schnellen Vinsalter Stil) und drängte das Trio zurück. Er packte das durchtrennte Seil, schwang sich einen Moment wie ein Moosaffe hin und her und sprang an Land.

Rovik kämpfte dort fluchend mit dem Zweihänder-Mann, dessen überlange Klinge immer wieder aufs Pflaster schlug. Hesindian hatte sich wieder aufgerappelt und lieferte sich ein Gefecht mit dem Spitzbart, der eine Ochsenzunge schwang. Jodokus sprang dem Magier bei, der (wie sein Gegner) stark hinkte, und verpasste dem Dolchkämpfer noch einen weiteren Stich, diesmal in den Arm. Der nahm nun endgültig Reißaus.

Der Ai´Than blutete unterdessen seinen Telt voll, presste die Hand aufs Gesicht und tastete nach seinem Kurzschwert.

Der Baernfarn machte kurzen, wenn auch unrondrianischen Prozess. Er durchbohrte Roviks Kontrahenten von hinten und stürzte sich auf den "Katzbalger". Beinahe hätte er es bereut, denn der Kerl verstand das korgefällige Handwerk. Zum Glück eilten Jodokus nun wiederum der Magier und der Zwerg zur Hilfe. Das genügte Katz, um den Rückzug anzutreten. Mit geschickten Finten, Hieben und Stößen versuchte er sich von seinen Gegnern zu lösen. Hesindian fiel tatsächlich stöhnend zurück und hielt sich am Zauberstab fest, wie an einer Krücke. Rovik hielt an, als ein Steingeschoss vor seinen Füßen abprallte.

Die Trollberger an Bord des Schiffes schienen jetzt ebenfalls genug zu haben. Sie kappten die zweite Festmachleine und drückten die Flusshexe vom Ufer weg. Katz schaffte es mit einem Sprung, der seinem Spitznamen alle Ehre machte, gerade noch bis zur Bordwand. Ein Pfeil bohrte sich eine Handbreit neben ihm ins Holz. Kaelldor packte ihn am Schlaffittchen und zog ihn an Deck. Selmia hatte dort ihre Armbrust nachgeladen und legte an. Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, auf welchen der Verfolger sie zielen sollte. Der Laufsteg rutschte rumpelnd aufs Pflaster.

Die Armbrusterin entschied sich für Jodokus. Der Baernfarn wuchtete den Steg hoch, wie einen Setzschild, und suchte dahinter Deckung. Der Bolzen schlug mittig ins Holz.

Träge taumelte die "Flusshexe" auf den nachtschwarzen Darpat hinaus, angetrieben von Stakstangen. Die sieben Pilger und Domarian schienen erst jetzt zu begreifen, dass sie gerade verschleppt wurden, und schrieen um Hilfe. "Trolling", brüllte Selmia, die Schützin. Nach und nach verloschen die Lichter an Bord.

Dann trieb das Treidelschiff endgültig in den Nebel und die Dunkelheit davon. Als Jodokus ans Darpatufer stürmte, schwamm dort nur noch eine blonde Haarsträhne im Wasser.

 

Ein wirres Durcheinander hatte die Hausnerhavener erfasst. Hochwürden Falswegen hatte alle Mühe, seine Schäfchen zu beruhigen. Auch wusste er immer noch nicht so ganz, wie er das Vorgefallene einordnen sollte. Nur eines war ihm klar: Der Schiffseigner, dieser Gerrich, musste mit finsteren Mächten paktieren. Er würde das dem Landesherrn berichten müssen. Und den Tempeloberen. Würde er sich selbst verantworten müssen? Immerhin hatte er das unheilvolle Schiff noch eingeladen? Nun ja, es war seinen Schäfchen Efferd sei es gedankt nichts geschehen, alle waren wohlbehalten von Bord gekommen. Anders als die Pilger. Der Geweihte sah dem Schiff nach. So wie es aussah, hatte das Befreiungskommando zwar eine entführte Braut befreit, aber dafür waren jetzt sieben rechtgläubige Seelen in Gefahr.

Ihr müsst die Pilger befreien“ bat Falswegen Alrik flehentlich. „Ihr habt doch das ganze Schlamassel verursacht. Sieben Seelen sind in Gefahr!“

Alrik reagierte nicht gleich.

Wer seid ihr eigentlich?“ fragte der Geweihte hinterher.

Los, fesselt den Riesen!“ unterbrach Hesindian, ehe Alrik antworten konnte. „Die Versteinerung hält nicht ewig. Reden können wir später“

Alrik folgte seinem Hofmagier und winkte den Geweihten hinterher. Er war froh, nicht gleich antworten zu müssen. Immerhin müsste er seine kleine Hochstapelei vorher plausibel erklären oder auch in einer Flut von Worten und Informationen vergessen machen. Ein wenig darüber nachzudenken und sich einen Plan zu machen, war da vorteilhaft. „Kommt mit, Hochwürden“, rief er.

Holt´s mi aussi“ schrie Haldana mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Der versteinerte, am Ufer stehende Grobian hatte sie immer noch über die Schulter geworfen, mit dem Arm und die Hüften geschlungen, so dass sie sich weder vorwärts noch rückwärts aus der steingewordenen Umklammerung befreien konnte. Die Aussicht, Geisel eines unbekannten, muskelbepackten Wüterichs zu sein, behagte ihr nicht. Jodokus griff nach einem Seil und eilte hinzu.

Doch es war zu spät.

Vom steinernen Grau wechselte die Farbe des Trollbergers wieder ins hautfarbene rosa.

Ein lautes Brüllen.

Verschwindet, alle, oder ich bringe das Weib um!“ die laute Bassstimme des Riesen überschallte alles Gerede und Gelärme der Menge rings um ihn. Ein Tritt nach Jodokus, der, mit dem Seil in der Hand, vor ihm stand, holte diesen von den Beinen.

Mit der rechten Hand hielt Trolling drohend die Axt erhoben.

Haldana schrie. Der unbändigen Kraft des riesenhaften Mannes hatte sie nichts entgegen zu setzen.

Mit gespanntem Bogen und aufgelegtem Pfeil trat Tuvok dem Hünen in den Weg. „Lass sie los. Dann magst Du Deiner Wege ziehen.“

Ha“ machte Trolling. „Hältst mich für blöd, wa? Du kannst schießen so viel du willst, ich habe genug Zeit, die Metze zu töten. Also verpiss dich, Schlitzauge!“ Mit einem weiteren Tritt bedachte er Jodokus, der sich einen Schmerzlaut hervor brachte und sich krümmte, dann aber rasch den Abstand zu dem Wüterich vergrößerte.

Haldana zappelte und versuchte sich aus der Umklammerung des Riesen zu befreien. Aber dieser hielt sie nur noch fester umfasst. Die Schlotzerin japste nach Luft. Wütend biss sie ihrem Peiniger in die Seite. Dieser schlug mit der Rückseite der Axt nach ihr, was eine blutende Platzwunde auf der Stirn nach sich zog.

Ich gewähre Dir freien Abzug. Gib die Gefangene frei, und Du kannst gehen.“ Wiederholte Alrik, ein wenig förmlicher als zuvor Tuvoks Aussage. Auf einen Gefangenen kam es ihm nicht an, und vielleicht hatte er als Edelmann mehr Autorität als ein nivesischer Jäger, hoffte er. Doch er hoffte vergeblich.

Wir können um sie kämpfen. Gewinnst du, bin ich Dein Gefangener. Gewinne ich, gehört die Maid mir, dann verlasse ich mit ihr Euer Dorf.“ Trolling schaute Alrik herausfordernd an. Der Streuner wusste, dass er in einem rondragefälligen Zweikampf gegen diesen Hünen keine Chance haben würde.

Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen!“ Alrik bemühte sich, unbeeindruckt zu bleiben. „Auf einen Wink von mir wirst du von Pfeilen durchbohrt. Also gib auf.“

Trolling lachte. „Nein. Du Feigling. Kämpf mit mir oder zieh Leine. Anders als Du habe ich keine Angst vor dem Tod. Aber Dich nehme ich mit über das Nirgendmeer, Angsthase. Und Dein blondes Liebchen hier auch. Jetzt schleich Dich oder kämpfe!“ Haldana zappelte noch immer auf der Schulter des Hünen. Trolling beachtete sie nicht weiter. An Kraft war die Gefangene ihm ohnehin unterlegen. Haldana griff mit der Hand an ihren Stiefel. Wieder zappelte sie.

Halt Still, Metze, oder ich schlage Dir die Zähne aus!“ herrschte Trolling sie an. Er hatte nichts bemerkt davon, was Haldana plante. Anders als Alrik, dem die kurze Klinge im Stiefel der Bardin nicht entgangen war. Ein wenig Ablenken noch, dachte der Streuner. Nur noch ein wenig. Und dann rasch reagieren. Er nickte Tuvok kaum merklich zu. Offenbar hatte auch der Nivese das Messer Haldanas gesehen.

Nun, mir scheint, du schätzt die Lage falsch ein. Mein Angebot ist großzügig. Ganz egal, ob du Angst vor dem Tod hast oder nicht.“ Begann Alrik weiter auf den Krieger einzureden. „Also sei vernünftig, wenn Du nicht in Scheibchen geschnitten und durchpikt wie ein Al`Hanischer Fleischspieß enden willst, dann hör jetzt besser auf mich. Meine Geduld hat auch ihre Grenzen, also nimm mein Angebot lieber an, bevor es zu spät ist.“

Plötzlich spuckte der Hüne Blut. Noch ehe dieser bemerkt hatte, dass ein Messer in seinem Hals steckte - das Messer der Matrosin Mimm, das Haldana aus dem Stiefel gezogen hatte - gab Alrik dem Nivesen einen Wink. Nicht dass es dazu bedurft hätte. Der Pfeil des Jägers sirrte bereits von der Sehne und traf den Krieger in die Brust. Auch Alrik sprang vor, mit der Klinge in der Hand, und stach zu.

Der Riese erschlaffte. Blut spritzte in Fontänen aus der offenen Halswunde. Kraftlos sank der Krieger zu Boden. Haldana - das weiße Hochzeitskleid nunmehr mit roten Blutspritzern übersät, befreite sich aus der Umklammerung und rappelte sich auf.

Das ist jetzt schon das zweite Kleid, das du so einsaust“ gab Alrik lapidar von sich, reichte Haldana die Hand und half ihr auf. „Naja“ sagte er weiter mit einem Blick auf Trolling. „Er hat es so gewollt. Ich habe ihm angeboten, zu gehen.“

Der Kämpfer röchelte noch ein wenig, dann erstarb das Geräusch. Noch immer sickerte Blut aus dem Hals hervor, es wurde jedoch langsam weniger. Alrik besah sich die Wunde mit Kennerblick. Entweder, die Bardin hatte einfach nur Glück gehabt, so gut zu treffen, oder sie hatte genau gewusst, wohin sie stechen musste. Jedenfalls war ihrem Peiniger keine Zeit mehr geblieben, seine Ankündigung, die Gefangene zu töten, umzusetzen. Dazu hätte es auch nicht einmal mehr Tuvoks Pfeil und Alriks Klinge bedurft.

Haldana selbst war kurz sprachlos, stammelte schließlich ein paar Satzfetzen vor sich hin. Dann umarmte sie den treuen Nivesen. Ein paar Tränen traten aus den Augen, die aber rasch weg gerieben wurden. Die Bardin fasste sich wieder.

`s zweite Klid… d´r zweite Tote. Un all`s innerhalb vo zwei Tag´. V´lleicht au drü Tote? I wois nit, ob da Golo no lebt. Langsam lern´ i des Kämpf`n.“ Haldanas Stimme klang jetzt wieder freundlich und unbeeindruckt, als habe sie über zwei bis drei Kleider und Schuhe gesprochen, nicht über die gleiche Anzahl Toter. Wieder war Alrik überrascht über die Weggefährtin. Aber er rief sich in Erinnerung, dass eine Sängerin gelernt haben musste, ihre Stimme zu kontrollieren. Wie es innerlich in der Bardin aussah, hatten die kurzen Tränen zuvor verraten.

Ähm… nun… Vielleicht hättet ihr die Güte, zu erklären, was das bedeutet?“ wagte Efferdi Falswegen zu fragen. „Es sind noch Gefangene, unschuldige Gefangene an Bord. Ich hoffe, der Graf nimmt sich ihrer an? Und wer seid ihr?“

Gewiss. Wir werden uns darum kümmern. Die Befreiung der Entführten Dame Haldana verlief leider nicht so reibungslos wie gewünscht.“ Alrik war wieder ganz der gefasste Gesandte, welches Grafen nun auch immer. „Wir müssen diesen Halunken ohnehin hinterher und sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Paktierei und Giftmischerei sind schwere Verbrechen. Ihr habt gesehen, wer oder auch was sich hinter dieser Maske verbirgt?“

Gewiss“ stotterte der Geweihte. „Jedenfalls habe ich so viel mitbekommen, dass der Reeder ganz sicher nichts mit efferdgefälliger Flussschiffahrt im Sinn hat. Auch wenn ich nicht weiß, was das dann mit der Hochzeit auf sich hatte.“

Ja, das ist mir auch ein Rätsel.“ Stimmte Alrik zu. „Von der Gefangennahme wussten wir, und daher sind wir der Dame Haldana zu Hilfe gekommen. Die anderen Pläne des Paktierers, die Hochzeit ebenso wie das, was er sonst noch plant, sind noch nicht zur Gänze enthüllt. Ich kann mir auch nicht im Geringsten erklären, warum er die Gefangene Dame Haldana verheiraten wollte. Wir waren von einer Entführung und Geiselnahme ausgegangen. In der Tat, es Bedarf noch weiterer Investigation. Und seid unbesorgt um die Pilger. Wir haben das im Blick und werden das uns Mögliche tun.“ Alrik vermied es jetzt tunlichst, weiter auf das Thema „Graf“ einzugehen. Er wollte sich nicht mehr als nötig aus dem Fenster lehnen. Zumal offenbar anderes, wie die Befreiung der Pilger, dem Geweihten wichtiger war. Nun, dann sollte das auch so bleiben.

Ja… seltsam. An besonderer Traviafrömmigkeit mag es kaum gelegen haben, dass man die Gefangene vorher, ähm, heiratet.“

Sich`r nit, Hochwürden.“ Warf Haldana ein. „I denk` s`is an d´r Zit, dass i des erklär´. Au mine B`freier, di nit all´s g´wisst hän. ´S ging um Erbschlicheri. Dies´r Schiffseign´r, en gewiss´r Gerrich aus dem Sichl´r Ad´lsg´schlecht der Friedwang´n, hat d´rnach g´strebt, sich die Sich´lmark zu unterwerfen. Nun… um sine Hüsmacht z´ stärk´n hat er sei`n Nachfahr´n, dies´n Golo vo Friedwang, mit mia verhirat´n woll´n. Er hätt´ sich uf dise Weis´ mi Erb´ unt´r de Nag´l reiß´n woll´n. I… bin Adginna Haldana vo Schnayttach-Binsböckel, B´ronin zu Schlotz.“

Potzblitz“ rief Rovik überrascht aus, dessen Rufen aber im allgemeinen Raunen unterging. Alrik und Jodokus, die als Boltanspieler und Händler es gewohnt waren, sich keine Gefühlsregungen anmerken zu lassen, wahrten die Fassung und ließen sich keine Überraschung anmerken. Alrik war sich noch nicht einmal sicher, ob er selbst der Ausführung seiner Kampfgefährtin glauben sollte. Immerhin würde das die Hochzeit erklären. Oder führte die Bardin das von ihm angefangene Vas-Banque-Spiel weiter und begann selbst mit Hochstapelei? Wenn sie das tat, dann war sie jedenfalls sehr überzeugend.

Nu, i war inkognito uf d´r Reis´, unt´r and´rem ging es au d´rum, einige merkwürdigi und etwaig´ g´fährlichi Begebehit´n in Romm´lys üfzuklär´n. Ab´r i wor zu üvorsicht´g un´ bi dem Schurken in´d Händ´ g´falln, der hint´r all dem stande g´het un den ihr z´vor g´si hät. Ab´r… de heil´gen Zwölfe´ si´s g´dankt, i hät G´fährten g´hät, uf di i mi v´rlass´n konnt´. G´fährten, di koa Wagnis g´scheut haben, mi zu b´freie. Un ebbe a so werd´n wir kein Wagnis scheu´n, di unschuldigi Pilg´r zu b´freie´.

Do sagt, Hochwürd´n. Während mini G´fangenschaft häb´ i g´hört, wie dies´r Schurke en Ort mit Nam´n Kurgasberg erwähnt het. ´S mag si, dass dies´r Ort ihr Ziel is. Könnt ihr ebbs sang üb´r dies´n Ort?“

Alrik zog leicht eine Augenbraue hoch. So langsam glaubte er tatsächlich, die mitreisende Bardin war in Wahrheit eine Adelige der Sichellande, nach all den seltsamen Wendungen.

Nun, mit dem Schlotzerland kannte er sich nicht so gut aus. Schlotz gehörte bereits zur Grafschaft Wehrheim, nicht zum Sichelhag. Obwohl die Menschen dort von Dialekt und Tradition mehr der Sichel als der alten Garnisonsstadt verbunden waren. Aber das war das alte Schicksal der Schwarzen Sichel. Dreigeteilt zwischen den Provinzen Tobrien, Weiden und Darpatien, inzwischen viergeteilt, da Darpatien in die Rommilyser Mark und die Rabenmark zerfallen war. Und darin noch verteilt auf verschiedene Grafschaften. Schlotz. Aber der Name der Thronerbin war richtig genannt. So mochte es wohl doch stimmen, was die Bardin sagte? Oder nicht? Kannte sich die Bardin nur gut aus? Als ortskundige Schwarzsichlerin war das gut möglich. Alrik wusste, dass die Baronmutter seiner südlichen Nachbarbaronie Gallys die Schwester der dortigen Vögtin war. Dieser Vögtin war er zwar auch noch nie selbst begegnet, aber es konnte schon sein. Oder nicht? Ihrer angeblichen oder tatsächlichen Tante, Valyria von Baernfarn, sah Haldana jedenfalls nicht ähnlich. Aber was musste das schon heißen?

Kurgasberg… ja.“ Stammelte Falswegen, sichtlich beeindruckt vom hohen Besuch, der sich unerwartet in Hausnerhaven eingefunden hatte. „Ein alter Bergwerksort in den Trollzacken. Eine halbe Tagesreise flussabwärts. Auf dem anderen Ufer. Das ist aber eine Geisterstadt. Dort wohnt niemand mehr. Also… jedenfalls soweit mir bekannt ist. Aber sicher ein brauchbarer Rückzugsort für jemanden, der unheilige Ränke schmiedet. Sicher, den Weg dorthin kann ich Euch weisen.“

Des is sähr gut.“ fuhr Haldana fort. „B´schribt uns de Weg so gut ihr könnt… un, Hochwürd´n. Danke. Ihr häbt mir Mut g´geben währ´nd min`r G´fangenschaft. ´s war mir e Ehr` un e großi Freud, Euch zu´ b´gegnen.“

Der Geweihte nickte, leicht verwirrt und zugleich sich geehrt fühlend. „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Hochgeboren. Nun, ich hatte bei dieser Hochzeitszeremonie von Anfang an ein seltsames Gefühl. Nicht zuletzt wegen Eurer Lieder. Nun, ja, jetzt klärt sich einiges. Aber ich… warum habt Ihr nichts gesagt?“

I het Angst g´het, d´s de Schurke v`r G`weihte un unschuldigi Lüt nit Halt macht. Ohni B´waffnete het ihr keini Schanz g´het gege de. Un alleini hät i au nit g´wusst, was i het tun soll´n. Di Pilg´r und ihr, Hochwürd´n, seit ja keini Krieg´r.“

Dein Rapier, liebe Kusine.“ mischte Jodokus sich ein und hielt die schlanke Klinge Haldana mit dem Griff zu ihr gewandt hin. „Damit du nicht wieder eine Laute zerschlagen musst, wenn es gegen unwillkommene Liebhaber geht. Ich hätte Dich erkennen müssen. Auch wenn es Jahre her ist, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Wir waren noch Kinder. Verzeih mir, Haldana.“ Beide, Haldana und Jodokus, wussten, dass der Händler nicht für das Nichterkennen der Kusine um Verzeihung bat.

Wenn i mi als Vagantin tarn´, muss i mi nit wund´rn, wenn i so b´handelt werd´. Und i bin nit nachtr`g´nd. Lass´ gut si.“ Für Haldana war damit alles gesagt, was zu sagen war. Wie konnte sie Jodokus für das verantwortlich machen, was er nicht gewusst hat. Sie selbst hatte mit ihm und seinen Gefühlen gespielt, hatte nicht nein zu ihm gesagt, hatte ihm die Wahrheit vorenthalten. Es war ihre eigene Schuld, was geschehen war.

Ich habe auch etwas für Dich.“ warf Tuvok ein, der, anders als Haldana, dem Stadtadeligen noch nicht verziehen hatte. Ohnehin war es leichtfertig von Haldana, nicht Entschädigung oder Sühneleistung zu fordern. Haldanas Mutter würde das sicher anders sehen als die ungestüme Tochter. „Bei den Pferden. Ich habe Deine Laute mitgenommen. Die klingt ohnehin besser als das billige Instrument auf dem Schiff. Zum Glück hast du die nicht auch zerschlagen.“

Wir sollten ohnehin zu den Pferden.“ sagte Hesindian. „Kurgasberg. Immerhin haben wir eine Spur.“

Ja… aber bei Dunkelheit dem Schiff nachzueilen macht wenig Sinn.“ Warf Alrik ein. Außerdem… wir müssen uns vorbereiten für eine Strafexpedition in die Berge. Wir sind von einem kurzen Ritt und einer kurzen Befreiung ausgegangen. Für eine längere Unternehmung brauchen wir Ausrüstung. Seile, Proviant. Das können wir hier sicher bekommen, in Hausnerhaven. Wir nehmen die Verfolgung ausgeruht beim ersten Praiosschein auf. Jodokus, kannst du die Pferde holen und im Hausnerhaven für die Nacht unterbringen?“ Der Händler nickte, auch wenn ein Teil von ihm jetzt lieber bei Haldana geblieben wäre. Aber andererseits tat es ihm sicher auch gut, etwas Zeit zum Nachdenken zu bekommen. Die Bardin war seine Kusine Haldana. Das änderte einiges. Das hätte er zuvor niemals vermutet.

Was soll mit dem Kapitän geschehen?“ Efferdi Falswegen deutete auf den langsam zu sich kommenden Flarion Silbertaler, der mit seinem Verletzten Bein nicht aufstehen konnte.

Hmm“ brummte Alrik. „Haldana, was meinst du. Wusste der Kapitän über Gerrichs Verbrechen Bescheid? Hat er mitgemacht? Oder ist er nur ein nichtsahnender Seemann wie die Matrosen?“

I weiß´ es nit.“ Die Bardin - vielmehr die Baronin - schüttelte den Kopf. „I mein´ er hat mi anständ´g b´handelt an Bord. I glaub´, er hat au keini Pakt oder so mit di unheilig´n Entität´n g´schloss´n. Ab´r a wen´g hat er wohl scho g´ahnt. I mein er war au scho mal in Kurgasb´rg. Kann gut si, dass er ebbs weiß.“

Wir werden ihn verhören und dann entscheiden. Hesindian, übernimmst du das mit Tuvok? Und du, Rovik, organisiere Proviant und Ausrüstung für die weitere Verfolgung. Und ich mache uns ein Zimmer in Basils Trunk klar. Wir haben morgen einen langen Ritt vor uns und eine anstrengende Verfolgung. Wir müssen ausgeruht sein. Vor allem Haldana braucht dringend etwas Ruhe.“

Der Magier und der Nivese nickten. Auch der Zwerg machte sich an seine Aufgabe.

Efferdi Falswegen fragte nicht weiter nach dem Vorgefallenen oder gar dem Auftrag des Grafen nach. Offenbar war er vom Titel und Namen Haldanas sowie der Zusicherung, sich um die entführten Pilger zu kümmern, ausreichend beruhigt. Da wollte Alrik auch keine weitere Neugier wecken. Der Zauber seines Hofmagiers, der Gerrich die Maske vom Kopf gerissen hatte, hatte für alle den eindeutigen Beweis erbracht, dass Alrik und die seinen hier auf der richtigen Seite standen. Auf Hesindian war eben Verlass, dachte Alrik. Er nickte dem Geweihten freundlich zu, nahm dann Haldana bei der Hand und ging zur Herberge. Der Friedwanger wusste, dass er - vielleicht auch aufgrund seines Alters - jetzt vielleicht der richtige war, mit dem die junge Bardin reden konnte. Und reden, das würde sie jetzt brauchen, nach all dem, was vorgefallen war. Gestern noch hatte die Bardin sich nur um ein missglücktes erstes Mal gesorgt. Seitdem waren Entführung und Zwangsheirat hinzu gekommen, dazu ein Scharmützel mit mindestens einem weiteren Toten, mit dem Haldana ihr Gewissen belasten musste. Das würde manchen Fünfzigjährigen überfordern. Wie sollte hingegen ein Mädchen damit umgehen, die bis vor zwei Tagen noch eine nahezu kindliche Unschuld ausgestrahlt hatte?

10. Kapitel - Der Meister des Wetters

10. Kapitel

Der Meister des Wetters



Burg Gernatsborn, Vormittag des 6. Praios 1043
"Herr Praios und Herr Ingerimm, schenkt uns Sterblichen vom himmlischen Feuer, auf dass es uns helfe mit seiner Kraft und Euer Lob verkünde!"
Eine kleine, freundliche Flamme flackerte auf dem Zeigefinger des Praiosgeweihten auf, wie durch einen der Lichtstrahlen entfacht, die von außen durchs Fenster drangen. Halblaute "Aaahs" und "Oohs" waren zu hören, als wäre Praiodîn ein Gaukler auf dem Alboransplatz von Markt Friedwang. Glyranas Kinder und der kleine Travin, Neffe von Jadvige von Kressenbrück der gemeinsam auf dem Gernatsborn mit der Junkerfamilie aufwächst, bekamen großen Augen. Nur Ravenhart versuchte möglichst erfahren und mutig zu wirken, aber auch ihm war die Angst anzumerken.  Die Furcht vor der "Bösen Frau", die da draußen umging. Viel hatten die Erwachsenen ihnen von der Bedrohung nicht erzählt, nur dass sie sich jetzt alle einsperren mussten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Den Jüngsten, Hilderich und Travin, hatte Glyrana weisgemacht, das alles nur ein Versteckspiel war, und sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Nun, sollte Praiodîn den Knaben die reine Wahrheit verkünden? "Die Menschen müssen die Wahrheit auch verstehen" hatte Garafanion einmal zu ihm gesagt. "Vor allem müssen sie sie auch ertragen können." Die Kinder waren jedenfalls nicht verstört, sondern strahlten die ruhige Würde künftiger Edler und Junker aus. Selbst Morgwyn und Ravenhart, die Ältesten, die die Situation am ehesten verstanden, blickten tapfer drein, als wollten sie die finstere Hexe persönlich zur Strecke bringen.
Ravenhart hatte Ritter Roderick, der mit zwei Gardisten an der Tür stand, sogar um dessen Dolch gebeten, um seine Tante und Herrin verteidigen zu können. Glyrana war gerührt gewesen, aber hatte ihm diskret abgewunken. Dann hatten sich die jungen Aristokraten ans Fenster gedrängelt, um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. "Geht weg da", sagte die Vögtin streng. "Es gibt nichts zu sehen. Außerdem dürfen wir selber nicht gesehen werden, bei diesem Versteckspiel." Ihr Blick ging zu Hilderich.
Praiodîn seufzte. Wie oft hatte er mit seinen Brüdern und Schwestern schon über das Thema debattiert, ob den Gläubigen "Notlügen" erlaubt waren und welche Buße dafür angemessen war. Eigentlich hatte er die Flamme nur erscheinen lassen, um die Kinder abzulenken, vor allem, um sie zu ermutigen und zu beruhigen. Nun kam er sich vor wie ein Jahrmarktszauberer. Die Kinder indes waren begeistert, umringten ihn wie einen guten Onkel. Der freche Hilderich versuchte die Flamme sogar auszublasen, und wurde von seiner Amme getadelt. "Brennt die wirklich?" wollte Orlande wissen und streckte ihre eigene Hand danach aus: Nur um erschrocken zurückzuzucken, sich das schmerzende Fingerchen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen.
"Kann man damit ein echtes Feuer machen?" wollte Ravenhart wissen. In diesem Moment gab es für die Kinder keine größere vorstellbare Sensation als diese Flamme aus dem Nichts.
"Es ist ein Feuer, dass uns die guten Götter aus Alveran gesandt haben" sagte Praiodîn Xerber feierlich. Er mochte Kinder, schließlich war er in einem Tsatempel groß geworden. Um ein Haar hätte er ihnen sogar das Sonnenszepter zur Begutachtung überlassen. Aber das brauchte er womöglich schon bald selbst. Wer wusste schon, welche abscheulichen Pläne diese Yasinthe Dengstein gerade ausheckte.
"Warum?" wollte Morgwyn wissen.
"Warum was?"
"Warum haben uns die guten Götter dieses Feuer geschickt? Es ist doch schon hell und soo warm heute" sagte Morgwyn. "Und warum dürfen wir das Fenster nicht aufmachen? Es ist sooo heiß."
"Warum tut Euch die Flamme nicht weh, aber Orlande schon?" Das kam von Ravenhart.
Kinderfragen. Am liebsten hätte Praiodîn das gesegnete Licht wieder verschwinden lassen – aber dann wäre es sich endgültig vorgekommen wie der große Praiodinicus Xerberino.
"Wir machen damit ein gescheites Feuer", verkündete Orlande. "Das vertreibt die böse Hexe. Wie ein Scheiterhaufen." Schon hatte sie das erste Holzscheit in der Hand.
Der kleine Hilderich bekam große Augen und schien ernsthaft besorgt zu sein: "Welche...böse Hexe, Mama?"
"Die böse Frau, die Kinder beim Versteckspielen entdeckt und sie dann an Jadvige verrät, die uns gerade sucht" sagte Glyrana schnell. "Mit all ihren Burgwachen."
Tatsächlich wurde es draußen gerade unruhig. Aufgeregtes Rufen war zu hören.
"Lass Hilderich in Ruhe!" Orlandes Befehl galt Morgwyn, die ihren Bruder knuffte. Der hatte gerade wieder aufgeregt in der Nase zu bohren begonnen.
"Aber Hilderich macht wieder Sauerei!"
"Hilderich, benimm dich! Alle beide!" Tatsächlich hatten Morgwyn und der quengelige Kleine zu raufen begonnen.
"Ihr müsst ruhig sein!" schimpfte Orlande. "Sonst werden wir doch sofort entdeckt.
Draußen erklang Jadviges kräftige Stimme. "Schaut überall nach, in jede Ecke und Ritze. Die Ratte ist erschöpft und verwundet, sie entkommt uns nicht. Aber sucht gründlich, bei der Heiligen Thalionmel!"
Erschrocken hielt Hilderich mit dem Nasebohren inne.
Praiodîn bewunderte die junge Mersingen. Sie sah ein wenig blasser wie vor dem Attentat, mehr nicht. Ansonsten wirkte sie vom hübschen Kopf bis zu den Füßen wie die Verkörperung des Wahlspruches ihres Hauses: "Den Tod vor Augen – frei von Furcht!" Man musste schon genau hinsehen, um die fehlende Haarsträhne zu bemerken, jetzt, wo die Burgherrin ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
Glyrana überlegte kurz: "Ein Feuer, warum nicht? Wir könnten einen Tee kochen – und ihr dürft danach in die Plätzchendose greifen. Aber nur, wenn ihr brav seid."
Die Kinder hatten ein neues Spiel entdeckt und schichteten, wenn auch ungeschickt, Scheite, Reisig, Tannenzapfen und Spreißel im Kamin auf. Praiodîn hinkte möglichst würdevoll näher, kniete ächzend nieder, türmte das Holz hochkant auf und steckte es formvollendet in Brand. Die Begeisterung war grenzenlos.
Die Dienerin nährte sorgfältig das Feuer und hängte einen Kessel Wasser in den Kamin.
"Heißes Wasser ist nie verkehrt, zur Verteidigung" sagte Glyrana leise zu Praiodîn, der neben sie gehumpelt war. "Im Grunde ist das hier ja so eine Art Belagerung. Wer hätte gedacht, dass die Bedrohung so schnell kommen würde...unsere Burg ist noch nicht einmal eingeweiht, und dann so etwas."
"Wie geht es Euch, Euer Wohlgeboren?"
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen." Glyrana blickte, halb besorgt, halb stolz, zu ihren Kindern, die sich gerade um ihre Tassen zankten.
Die Adelige lächelte tapfer. "Sagt man nicht: Bevor Uthars Pfeil trifft, hat er schon tausend andere Ziele verfehlt? Nun. Ich fühle mich gerade wie eines dieser tausend Ziele. Überaus lebendig."
"Der Pfeil ist leider noch immer in der Luft" sagte Praiodin und blickte beunruhigt zur Tür, die Hand am Sonnenszepter. Er würde die hässliche Scharte auswetzen und seinen Fehler von gestern wieder gut machen, bei Praios! Auch wenn seine Wunde alles andere als geheilt war.
"Unser Stand bringt eben nicht nur Privilegien mit sich", sagte die Junkerin, scheinbar leichthin. "Zumal in Zeiten wie diesen. Aber seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Eure Gnaden. Die Kinder mögen Euch."
Der Lichtbringer biss sich auf die Unterlippe. Erneute zögerte er, "wahre Worte" frei und offen aus zu sprechen. Wie zur Strafe machte sich nun das schmerzende Bein bemerkbar.
"Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden. Ihr habt Euer Blut für den wahren Glauben vergossen, nicht ich."
Praiodîn runzelte die Augenbrauen, vernahm aber nicht die leiseste Ironie in Glyranas Worten. Aufmunternd lächelnd wies sie ihm den Platz.
Von draußen waren jetzt wieder Rufe zu hören, von denen der Geweihte nur "Da steckt sie!" und Herbei, herbei!" verstand.
Glyrana atmete erleichtert auf. "Sie scheinen sie gefunden zu haben. Der Spuk ist vorbei?!"
"Das hoffe ich inständig, Euer Wohlgeboren!"
"Nun, es ist vielleicht nicht ganz der richtige Augenblick" Glyrana räusperte sich und blickte zu den Kindern. "Aber es gibt da eine etwas delikate Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen müsste. Wenn Euch die Götter schon nach Gernatsborn geführt haben."
Praiodîn blickte ehrlich erstaunt.
"Ysilda...Ysilda von Schlotz..." Glyrana hüstelte erneut.
"Was was will Sie von mir?" fragte Praiodîn, unwilliger, als er beabsichtigt hatte.
"Kinder, was werft Ihr denn da ins Feuer? Kehricht? Das qualmt ja fürchterlich...Hört auf damit...Nun, Herr Praiodîn, Ysilda ist nun schon einige Jahre Dienerin des Leben in Zaberg. Sie weilt bereits länger an einem Ort, als es für eine Tsageweihte üblich ist. Was sich auch wegen ihrer kleinen Tochter so ergeben hat."
"Melsine, ja. Unsere kleine Tochter. Das heißt, so klein ist sie jetzt gar nicht mehr."
"Wie soll ich sagen. Sie bat mich als Herrin von Zaberg um Vermittlung, da ihr Gewissen doch ein wenig...belastet ist. Wegen dieser Geschichte mit der Grolmensalbe. Sie hat mitbekommen, dass es in Eurem Tempel einige Aufregung deswegen gab".
Praiodîn nickte, erstaunt, aber auch zufrieden. "Das kann man wahrlich so sagen."
"Ysilda ist nach wie vor der Meinung, dass Tsas Macht in dieser Mudde gewirkt hat."
"Mudde?"
"So nennt sie den Seeschlamm."
"Stimmt. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ysilda behauptet, dass der Schlamm aus einem heiligen Lebensborn ihrer Göttin stammt. Dem Regenbogensee. Mag sein. Tsas Quelle der Ewigen Jugend soll irgendwo in den Sümpfen bei Selem liegen."
Praiodîns Hand krampfte sich um das Sonnenszepter. Glyrana blickte missbilligend. Nun ja, sie stand ja ebenfalls dem bunt (oder sumpfig?) schillernden Tsaglauben nahe. Der Geweihte hatte wahrlich nicht die Absicht, sich stellvertretend für Ysilda mit der Edlen von Zaberg zu zanken, in deren tiefer Schuld er stand. Vermutlich hatte die Zaberger Geweihte ihren Anteil daran, dass die Mersingen - deren Haus doch eigentlich dem Schweigsamen verbunden war - jetzt zur Ewigjungen betete. Ausgerechnet.
"Es soll einmal einen überaus heilkräftigen See in der Sichel gegeben haben, in der Nähe von Zaberg", sagte Glyrana, mit einer sanften, entwaffnenden Freundlichkeit, die weniger Widerspruch zuließ als es herrische Worte getan hätten. "Dieses verborgene Heiligtum der Tsa wurde leider entweiht und der Tempel zerstört, zur Zeit der Priesterkaiser. Heißt es zumindest in Zaberg. Aber da wisst Ihr sicherlich mehr darüber als ich."
Praiodîn hätte gerne eine scharfe Antwort gegeben, zum abergläubischen Zaberger Bauerngeschwätz. Aber das muntere, unbekümmerte Plappern der Kinder hielt ihn davon ab. Die bekamen nun dampfenden Tee in ihre Tassen geschöpft.
"Hm. Nun soll ich mich also um Melsine kümmern? Jetzt, da es Ihre Gnaden Ysilda zu neuen, bunten und aufregenden Abenteuern in die Ferne zieht? Die treusorgende Mutter, in deren Händen Melsine immer am besten aufgehoben war? " Das klang ein wenig von oben herab, wie er zugeben musste. Eigentlich war er ja genau deswegen nach Schlotz gekommen. Mit der Wahrheit war es schon eine seltsame Sache. Sobald persönliche Gefühle ins Spiel kamen.
"Wollt Ihr auch einen Tee?" Glyrana lächelte liebenswürdig. "Euer Gnaden?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Als abwarten und Tee trinken...sehr gerne..."
Wenig später dampfte das goldbraune Getränk auch schon in der kunstvoll bemalten Tasse, die ein Wappen zeigte: Krallenbewehrte rote Greifen auf Silber und steigende weiße Pferde auf blauem Grund. Das musste das Emblem des Hauses Streitzig sein. Ein Teil der Aussteuer von Glyranas Mutter? Praodîn verstand die Symbolik. Erstmal abdampfen und sich beruhigen, bevor mit einem die Pferde durchgehen. Oder einem der streitbare Greif wutentbrannt hochfliegt.
Auch der Tee schien nicht ganz billig zu sein. Vermutlich irgendeine tulamidische Sorte, auch wenn er sich da nicht auskannte. In jedem Fall wirkte er beruhigend.
Draußen war es ebenfalls ruhiger geworden, von einem ständigen dumpfen Gepolter abgesehen, das auf schwer deutbare Weise von oben zu kommen schien. Auch das Hackbrett des Barden war nun wieder zu hören, allerdings nicht mehr ganz so melodisch wie gestern abend.
"Melsine...Sicher kein einfaches Thema. Aber wenn Ihr es selbst schon ansprecht, Euer Gnaden. Etwas Gebäck?"
"Sehr gerne. Danke."
"Nun, wie soll ich sagen. Natürlich hat sich auch Ysilda Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter gemacht."
"Unserer Tochter."
"Gewiss. Eurer Tochter. Da scheint sich auch schon, ähm, etwas abzuzeichnen." Glyrana lächelte tapfer hinter ihrer Teetasse, als blickte sie über ein Visier, kurz vor dem scharfen Anreiten beim Tjost. "Hilderich, hörst du bitte auf, schon wieder in der Nase zu bohren? Und du, Ertel, schau mal nach, was da draußen los ist. Dann erstattest du Bericht." Der Gardist salutierte und ging nach draußen, an den beiden Posten vorbei, die vor der Tür standen.
"Wie darf ich das verstehen?" Praiodîn knabberte an einem Gewürzplätzchen, auch wenn es dafür noch nicht die richtige Jahreszeit war. Eigentlich war er froh über die gelöste Stimmung zwischen ihm, dem kleinen friedwanger Landgeweihten, und Ihrer Wohlgeboren. Er durfte sich wahrlich geehrt fühlen, gemeinsam an einem Tisch mit der Vögtin von Barken und Meidenstein sowie Landjunkerin von Gernatsborn zu sitzen, in derart vertraulicher Runde.
"Nun, oft ist unser Lebensweg schon frühzeitig vorgezeichnet, Euer Gnaden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Man könnte es auch Schicksal nennen."
"In jedem Fall haben dabei die Götter Alverans das letzte Wort", sagte Praiodîn, nippte vorsichtig und stellte den Tee wieder auf die Untertasse, die ebenfalls Pferd und Greif zierte. "Das heißt, das letzte Wort hat natürlich Praios, unser Götterfürst. In allen Belangen."
"Die Himmlische Tafel der Götter soll rund sein, wie ein großer Kreis, Euer Gnaden. An diesem Tisch hat auch Hesinde ein Wörtchen mitzureden, die Göttin der Weisheit. Ihr sollte ohnehin immer das letzte Wort gebühren."
"Hesinde?"
"Der Weisheit. Es muss vor etwa ein, zwei Jahren angefangen haben, bei Melsine. Ihr wisst ja, wie das ist. Ysilda hat einen geheimen Gedanken, und ihre Tochter spricht ihn aus. Sie behauptet, im nächsten Moment wird der und der Gläubige, das und das Kind durch die Tür kommen. Und, schwupp, wenig später steht die betreffende Person im Haus der Göttin. Ich habe selbst einmal erlebt, wie die Kleine zu Ruppert, dem Wünschelrutengänger gesagt hat, er sucht den Brunnen an der falschen Stelle. Und was soll ich sagen? Genau so war es."
Praiodîn verschluckte sich an einem Krümel. Umständlich hustete er sich den Hals frei. "Ich weiß, wie es ist? Nein, ich weiß durchaus nicht, wie Es ist. Mit Verlaub, aber von was sprecht Ihr gerade, Euer Wohlgeboren?"
"Nuun... Am Anfang hielt Ysilda die Vorfälle noch für Zufall. Wollte das alles nicht so recht wahrhaben. Bevor Melsine dann diese Bier- und Weinkugeln hat aufsteigen lassen, im Grünen Ritter."
"Bier- und Weinkugeln? Ist das auch eine Art Backwerk?"
"Nein. So eine Art Seifenblasen...aber aus Bier und Wein. Am Ende hat sie die Kugeln platzen lassen. Melsine fand das unglaublich lustig. Ebenso, den Wildschweinkopf an der Wand rotieren zu lassen. Oder die aufgehängten Jagdwaffen herunter zu werfen. Spätestens da war Ysilda der Meinung, es müsse etwas geschehen."
Praiodîn spürte ein dumpfes Grauen in sich aufsteigen. Es war, als stünde plötzlich ein Fass mit Hylailer Feuer im Raum und könne im nächsten Herzschlag explodieren. Die Beinwunde schmerzte niederhöllisch, als stünde sie bereits lichterloh in Flammen. Er spürte, wie der Riss wieder zu bluten begann, heftiger als zuvor. Du hättest dich mehr schonen müssen, dachte er, mit dem Teil seines Bewusstseins, der noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vor dem Kamin niederzuknien, das war ein Fehler gewesen.
Glyrana klang jetzt tatsächlich wie eine Heilerin, die eine erschreckende Diagnose zu verkünden hat: "Eure Tochter scheint magiebegabt zu sein, Euer Gnaden. Ysilda hat sich deswegen schon an Hesindian gewandt, Alriks Hofmagier. Mit der gebührenden Diskretion, versteht sich. Es ging darum, ob er sie vielleicht nächstes Jahr als Schülerin aufnehmen könnte. Aber Magister Hesindian hielt das für keine gute Idee. Angesicht der, äh, näheren Umstände. Seiner Meinung nach wäre sie beim Rommilyser Informations-Institut am besten aufgehoben. Melsine scheint nämlich ein besonderes Talent für Hellsichtsmagie.... Euer Gnaden? Euer Gnaden, was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?"
 
Alrik stand oben an der Balustrade und blickte hinunter auf den zerschmetterten Leichnam Yasinthe Dengsteins, seiner alten Feindin. Dieser löste sich in Rauch auf, dessen Schmutzigkeit der Wolke über der Kupferschmiede nichts nachstand. Selbst die große Blutlache unter dem Körper dampfte, wie bei einem Schlachttag im Winter, und verschwand nach und nach.
Die Wachen, die Yasinthe gerade noch den Rest geben wollten, mit Schwertern und Hellebarden, prallten entsetzt zurück.
Der finstere Rauch stieg nach oben, vermischte sich mit Wasserdampf und löste sich langsam, aber sicher in Luft auf. Nur ein kleiner, dunkler Fleck blieb auf dem Pflaster zurück. Wahrscheinlich würde der noch in einigen Jahrzehnten den Burgbesuchern gezeigt und die schaurige Geschichte vom Todessturz der Namenlosen Geweihten erzählt werden.
Der Phexgeweihte wunderte sich über seine eigene Kühle, aber er hatte schon von diesem Phänomen gehört. Bei ihrem Tod sollten sich manche Diener des Dreizehnten in Schattenwesen verwandeln und zur Sternenbresche entschweben.  Als der wabernde Rauch sich Alrik zuwandte und ihn eine häßliche Fratze anstarrte, schauderte ihm doch bis ins Mark. Mit einem Stoßgebet griff er nach dem Fuchsamulett.
"Verzieh dich endlich!" knurrte er in Yasinthes Richtung, gefolgt vom heiligen Zeichen des Phex.
Der Rauch zerstob seufzend im Sonnenlicht, wie zuvor der Morfunello.
Was war geschehen? Die purpurne Pfäffin musste abgestürzt und jämmerlich auf dem Burghof zerschmettert sein. Aber die Lage war noch ziemlich unübersichtlich. Warum dampfte der sonstige Burghof wie am Badetag in den Darpatthermen? Alrik ärgerte sich. Er hatte im Haus nach der Geweihten gesucht. Im Keller, weil ihm dieses Versteck am einleuchtendsten vorgekommen war. Aber dort unten gab es nicht mal echte Ratten.
"Sie ist auf dem Dach" hatte irgendwann einer der Diener gerufen und war nach oben gestürmt. Alrik hatte das für eine erneute Finte gehalten. Diener der Finsternis zog es früher oder später immer nach unten, oder? Das stimmte mittlerweile zwar. Aber die Ratte schien vorher durch den Kamin getürmt zu sein. Das Beste hatte er offenbar verpasst.
Wo war eigentlich der Schwarze Bär? Ah, dort kam er auf den Burghof, tropfend und fluchend wie ein maraskanischer Brunnengeist. Haar und Bart wirkten angesengt, die Haut war krebsrot, aber ansonsten schien er heil zu sein.
Der zarte Duft nach Rosenwasser drang von hinten an seine Nase. Ismena.
"Die Gefahr scheint gebannt zu sein.", sagte er zur Oppsteinerin. "Yasinthe ist gerade vom Dach abgestürzt und hat sich in Rauch aufgelöst."
"Die Meuchlerin war also wirklich noch auf der Burg?" Die Altjunkerin von Gießenborn fächerte sich aufgeregt Luft zu. "In Rauch aufgelöst hat sie sich? Rahja steh uns bei! Auf dem Dach war sie, nein sowas."
"Jetzt ist sie endgültig heruntergekommen", sagte Alrik und versuchte dabei lässig wie Dexter Nemrod persönlich zu klingen. "Sind alle unverletzt und in Sicherheit? Was ist mit Alboran?"
"Hat die Gelegenheit genutzt, sich mit Haldana aufs Zimmer zurück zu ziehen. Ja, es ist wohl alles glimpflich ausgegangen. Nur der Praiosgeweihte hatte gerade einen Schwächeanfall, in Glyranas Gemächern. Er wollte sie unbedingt beschützen."
"Was Ernstes?"
"Nur Erschöpfung, denke ich, nach seinem gestrigen Aderlass. Sie haben ihn wieder zurück auf seine Kammer gebracht. Er scheint aber ein bisschen verwirrt zu sein. Ich bins ehrlich gesagt auch."
"Schön, dann können wir ja endlich Verlobung feiern". Alrik zog den Ring aus seiner Tasche. "Also von Haldana und unserem Sohn meine ich...Vermisst du den hier zufällig?"
"Aber, das ist doch nicht möglich!" Ismena, die tatsächlich völlig durcheinander war, nahm das Artefakt an sich. "Ich habe ihn doch gut versteckt. Gerade eben wollte ich nachschauen."
"Unter dem Kopfkissen oder hinter dem Stiefelkratzer? Offenbar wollte Yasinthe nicht nur Glyrana meucheln, hier auf der Burg. Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein. Manche solcher Artefakte haben schon über das Schicksal ganzer Reiche entschieden."
"Spotte nicht." Ismena von Oppstein ließ das Schmuckstück in ihrem Almosentäschchen verschwinden. "Wir müssen den beiden zeigen, dass sie in der  Sichel nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Mächten Alverans haben."
"Du warst zu lange auf Cyclopäa… von wegen Bund des Feenkönigs mit der Seenwelt. Oder umgekehrt?"
"Auch ich ehre den gehörnten Sohn der Rahja", flüsterte Ismena in Alriks Ohr. "Übrigens sagt man, dass der Tod ein ganz hervorragendes Rahjaicum sein soll."
"Nicht jetzt, Ismena", sagte Alrik, mit leichtem Bedauern. "Wir sollten mal nachsehen, ob Odilon wirklich unverletzt ist. Und warum er überhaupt in den Fluss gefallen ist."


Haldana schälte sich widerwillig aus den Armen Alborans. Irgendwas war los auf der Burg. Sie hatte Schreie gehört. Tumult. Laute Befehle vom Burghof her. Dabei hatte sie gehofft, hier auf Burg Gernatsborn auch ein wenig zur Ruhe zu finden, ein wenig dem strengen Korsett ihrer Mutter zu entkommen. Nach dem gestrigen Anschlag auf die Burgherrin war aber doch alles anders gekommen. Ein Anschlag auf eine Edle ihres Landes war auch ein Anschlag auf sie selbst, auf die göttergefällige Ordnung im Schlotzer Land. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, musste diese namenlosen Umtriebe aufklären, die da offenbar wurden. Immerhin war es da gut, nicht nur auf den tatkräftigen Junker von Gernatsborn zählen zu können mit dem Haus Mersingen im Hintergrund. Ganz praktisch war sie auch froh, dass der alte Waldläufer Odilon anwesend war. Von ihrer Tante Valyria wusste sie, dass diese vom Gallyser Altbaron eine hohe Meinung hatte.
Dennoch hatte sie sich gefreut, als, spät nachts, Alboran heimlich zu ihr gekommen war. Es wäre ihre Pflicht gewesen, Alborans Drängen zurück zu weisen. Nicht nur, weil sie noch nicht verheiratet waren. Vielmehr, weil Dringenderes anstand, als der Herrin Rahja zu huldigen und weil sie beide am nächsten Morgen ausgeschlafen sein mussten.
Allein, sie hatte alle Bedenken bei Seite geschoben und sich von den Liebkosungen Alborans überzeugen lassen. Es war Alboran nicht schwer gefallen, Haldana zu überzeugen. Wie der alte Friedwanger Fuchs gesagt hatte - Todesgefahr war ein gutes Rahjaikum.
Haldana stand auf, viel Schlaf hatte sie nicht abbekommen, und steckte ihren Kopf erst einmal in die Wasserschüssel, die bereit stand. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Dann erschrak sie, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Bei Rahja, Alboran! Warum hatte er sich nicht beherrschen können. „Ach, Hase!“ murmelte Haldana mit einem Seufzer in Richtung ihres Geliebten. „Kannst du beim nächsten Mal den Levthansfleck dahin machen, wo man das nicht so sieht? Jetzt muss ich ein Halstuch tragen, im Praiosmond, bei der Hitze!“ maulte sie.
Dann weckte Sie Alboran endgültig, in dem sie ihm erst den Rest Wasser aus der Schüssel über den Kopf schüttete, und ihn dann mit einem leidenschaftlichen Kuss bedachte.
Schlaftrunken wollte Alboran seine kräftige Braut wieder zu sich ins Bett ziehen. Aber diese zog kräftiger. „Später, Hase. Jetzt ruft die Pflicht. Steh auf und hilf mir. Baronin und Baron können nicht schlafen, wenn es ein Attentat aufzuklären gilt.“
„Ist ja gut“ seufzte Alboran. Seit wann nannte Haldana ihn eigentlich Hase? War ihm das überhaupt recht? Doch Alboran entschied, dass er darüber zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken konnte. Er kleidete sich so rasch an wie Haldana, und folgte ihr auf den Burghof, wo sie kurz nach Odilon eintrafen, der offenbar völlig durchnässt war, und wo der Burgherr, Storko, sich gerade von seinen Wachen Bericht erstatten ließ. So erfuhren auch Alboran und Haldana, ohne viele Fragen stellen zu müssen, von den Ereignissen.
„Den Zwölfen sei es gedankt, wir haben keine Verluste erlitten“ fasste Storko erleichtert zusammen. „Der Kampf auf dem Dach hätte übel ausgehen können. Ich will dankbar sein, dass keiner meiner Pfahlgardisten abgestürzt ist.“
„Da müssen wir uns bei Timoin bedanken. Er hat Robehild und Perainfried gerettet, mit dem Seil“ erläuterte Jadvige. „Ich denke, er hat nicht nur den beiden das Leben gerettet. Habe ich das richtig gesehen, Herr Timoin? Es war Euer Pfeil, der diese gedungene Meuchlerin traf?“
Timoin nickte mit einem schüchternen Gesichtsausdruck.
„Habt ihr den Barden festgesetzt? Diesen Wendelin? Ich möchte ihn verhört haben. Diese Yasinthe hat in seiner Kammer Zuflucht gefunden!“
„Natürlich, Wohlgeboren!“ nickte Jadvige. „Ich veranlasse das!“
„Sehr gut… Und lasst das Gesinde befragen. Yasinthe wird Unterstützer gehabt haben. Irgendjemand hat die Leiter hingestellt. Das kann doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben sein. Lass nach allen Auffälligkeiten fragen. Irgendeiner wird schon etwas bemerkt haben, was uns weiterhilft.“
„Verzeiht, Jadwige“ mischte sich die junge Baronin ein. „Lasst bitte nach meinem Jagdmeister schicken. Wir werden seine Hilfe sicher brauchen, wenn wir das Umfeld der Burg noch einmal nach Spuren absuchen. Und das sollten wir.“
Storko nickte Jadwige zu, dass sie dem Wunsch der Baronin entsprechen solle.
Die Dienstritterin salutierte und eilte zur Wachstube, um die Pfahlgardisten einzuteilen.
„Es wird heute Nachmittag regnen“ warf Odilon ein. „Wenn wir noch einmal nach Spuren suchen wollen, sollten wir das zeitig machen.“
„Regnen? Bei einem so klarem Himmel? Und es ist nicht so schwül, dass ein Hitzegewitter zu erwarten ist“ widersprach Alrik.
„Nun, Odilon, gestern habt Ihr ja bereits recht gehabt mit Eurer Prognose“ schmunzelte Storko. „Wir sollten das berücksichtigen. Sicher ist sicher.“
„Ja, du hast Recht, Alrik.” antwortete Odilon. “Kein Wärmegewitter. Wir haben eine andere Wetterlage. Seit drei Tagen schon zieht der Wind von Praiosrahja her, vom Golf von Perricum und vom Perlenmeer. Eine eher seltene Windrichtung in unserer Gegend, wo der Wind doch meist aus Efferd weht und selten richtig stürmisch ist. Eigentlich kommt Sturmwind vom Perlenmeer sonst fast nur im Winter vor. Du erinnerst dich, Alrik, so wie damals, kurz vor unserem Aufbruch nach Maraskan. Im Winter kommt das manchmal vor, da bringt ein solcher Wind Schneestürme. Gallysard, wie man das im Friedwangschen nennt, weil der unheilbringende Wind aus Sicht der Friedwangen von Gallys her kommt. Du weißt doch, Alrik. Spontaner Temperatursturz und Schneestürme mit großen Schneemassen, die in kurzer Zeit fallen. Nun, Alrik, im Hochsommer habe ich diese Wetterlage noch nie erlebt. Aber glaube mir, Alrik, es wird heute noch einen heftigen Guss geben.“
Storko wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde das Burgtor geöffnet, und der Wachhabende ließ eine Frau ein, offenbar eine Holzmagd. Ein Pfahlgardist führte die Frau, die ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel trug, schnurstracks zu Storko. Eine gesiegelte Pergamentrolle hatte sie auch unter den Arm geklemmt.
Die Holzmagd verbeugte sich, ein wenig linkisch, aber doch den Etiketten entsprechend. Dabei fiel ihr das längliche Bündel herunter.
Junker Storko lächelte der Frau zu, um sie zu beruhigen. Mit Nervosität angesichts einer größerer Schar Adeliger, die hier versammelt war, war auch niemandem geholfen. Schließlich fasste sich die Magd wieder.
„Meine Herrin in Gernatsquell war in Sorge, als sie die Nachricht der Frau von Mersingen erhielt…“ begann sie, unterbrach sich aber, weil sie noch ganz außer Atem war. „Sie hat sofort einen Brief an die Herrin… und an Euch… aufgesetzt und mich losgeschickt.“
„Ja, gut, danke. Ich werde das sofort lesen“ antwortete Storko. Dass seine Gemahlin vorhatte, eine Taube ins benachbarte Gernatsquell zu schicken, hatte er gewusst. Dass sie das schon getan hatte, war ihm in all dem Trubel noch nicht bekannt. Aber wenn jetzt schon eine Antwort eingetroffen war, dann hatte Glyrana wohl schon gestern Nacht die Brieftaube losgeschickt. Und dann schien eine so rasche Antwort wichtig zu sein. Der Junker ließ sich aber keine Überraschung anmerken. „Was hat es mit dem Bündel auf sich? Was bringt ihr uns noch?“ hakte Storko nach.
„Die Herrin hatte erfahren, dass unsere zwei Jäger sich bei Euch aufhalten. Sie meinte, sie würden sich Euch als nützlicher erweisen, hätten sie ihre Waffen dabei.“ Mit diesen Worten wickelte sie das Bündel aus. Ein schlichter Langbogen und zwei Schwerter kamen zum Vorschein.
„Das sind dann wohl Bavhano Bvaith und Wandelur. Die Namen hörte ich schon“ konstatierte Storko. „Nun gut, schaden kann gute Bewaffnung keinesfalls, sollten die Ränke des Namenlosen mit dem Attentatsversuch von gestern Nacht noch nicht überstanden sein.“
Sein kennender Blick fiel auch auf das Schwert. Auch ohne es in die Hand zu nehmen erkannte er, dass es gut ausgewogen war. Der Griff war in Form einer Irminsumul gebildet, ähnlich wie er es auch von den Artemareitern kannte. Die Klinge war schmal und glänzte. Wenn sie wirklich, wie man sagte, ein Erbstück seiner Familie und damit schon älter war, dann wies sie erstaunlich wenige Scharten auf. Storko hielt sich zurück in seiner Neugier, das Schwert prüfend in die Hand zu nehmen. Also nickte er kurz, und Odilon gürtete sich das Schwert um. Das zweite Schwert, ein wenig kürzer und mit einer einem Bogen nachgeformten Griffstange, gab er Timoin weiter, der sich ebenfalls damit gürtete. Zuletzt nahm Odilon den Bogen und die in ein Tuch eingeschlagene Sehne.
Storko indes hatte den Brief ergriffen und brach das Siegel mit dem Wappen von Gernatsquell.


Euer Wohlgeboren Glyrana und Storko von Gernatsborn-Mersingen!
Mit großer Besorgnis erfuhr ich von den Ereignissen, die sich auf Eurer Burg zugetragen haben. Ich danke, dass Ihr mich so rasch in Kenntnis setztet und ich hoffe, dass Euch meine Antwort noch rechtzeitig erreicht. Ich befürchte, dass das Attentat auf Euer Leben nicht das Ziel, sondern eher der Anfang von Ereignissen ist, die uns alle bedrohen können.
Bitte verzeiht, dass ich keine Bewaffneten schicken kann - außer meinem Schwiegervater befindet sich hier niemand, der ein Schwert führen könnte. Auch kann ich selbst nicht kommen, habe ich doch den kleinen Brin hier, den ich noch stille, und mit dem ich eine Reise scheue. Aber, liebe Glyrana, so berichtetest du mir ja, und das beruhigt mich, sind die beiden fähigsten Schützen, die ich zur Unterstützung senden könnte, ohnehin bereits auf dem Gernatsborn. Gestattet mir daher, den beiden ihre Waffen bringen zu lassen.
Doch gestattet mir ebenso, von meinen Beobachtungen zu berichten. Wie ich zudem hörte, weilen Baronin und Vögtin auch auf dem Gernatsborn. Umso wichtiger erscheint es mir, zu berichten, was mir Sorgen bereitet. Bitte setzt meine Schwester und meine Nichte auch in Kenntnis davon.
Seit einigen Monden schon stellen meine Leute fest, dass öfters als in den vergangenen Jahren Spuren des Rotpelz aufzufinden sind. Um exakt zu sein, seit der Abreise Odilons und Timoins zu ihrer Pilgerfahrt zum Hängenden Gletscher. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, mal traut der Goblin sich näher an die menschlichen Siedlungen heran und mal nicht. Dennoch erwähne ich es, denn es war der erste Hinweis auf eine mögliche Bedrohung. In den vergangenen Jahren, seit der Befriedung der Mark und seit dem harten Winter, in dem ich die Ehre hatte, Dich, liebe Glyrana erstmals zu sehen, habe ich im Umfeld meines Gutes nicht mehr so viele Fährten der Goblins gesehen. Als hätten sie es erahnt, dass ohne Odilon und Timoin mein Gut weitaus schlechter geschützt war. Nun, es kam zu keinem Scharmützel, keinem Überfall. Aber uns alle auf dem Gernatsquell beschlich das Gefühl, dass der Rotpelz durch die Wälder schleicht und uns beobachtet. Ihr versteht, dass ich froh bin, wenigstens Deggen an meiner Seite zu wissen und ihn hier nicht missen möchte, da schon Gerbald, mein Gemahl mit seinen Söhnen, leider nicht immer hier weilen kann.
Vor zwei Monden berichtete mir Gerbald, dass er eine ungute Stimmung in der Bevölkerung vernahm. Er konnte das nicht wirklich greifen. Es gab keine erwähnenswerten Vorkommnisse an sich. Aber er merkte, dass die Aufsässigkeit der Bauern zunahm. Ein Murren mehr, eine etwas langsamere Arbeit. Nichts, was jedes für sich genommen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber in der Summe fiel ihm das auf. Es war eine Art Unzufriedenheit, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Gewiss, der verregnete Sommer lässt die Ernte nicht ideal erscheinen, aber es ist doch weit davon entfernt, als dass man von einer schlechten Ernte sprechen könnte. Faktisch war es ihm nicht erklärbar, woher manche Aufsässigkeiten, mancher Ungehorsam der Bauern rührte. Und, wie ich im Gespräch mit den anderen Edlen des Schlotzer Landes erfuhr, wurden auch von diesen ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ihr das in Eurem Lehen auch bemerkt habt. Aber insbesondere auch in Schwaz scheinen doch größere Missstimmungen zu herrschen.
Nun habe ich nicht vor, einfach nur meine Sorgen zu schildern, wenn es dazu nicht tatsächlich Anlass gäbe. Eben erst erreichte mich auch eine Nachricht meines Gemahls - er schaute in Sokramshain nach dem rechten - in der er mir berichtete, dass es offenbar unter denen, die im Alten Glauben verhaftet sind, zu Aufruhr gekommen ist. Ihr wisst ja, üblicherweise fragen wir nicht nicht, ob jemand in der Gebetsnische eine Irminsumul hat oder eine Traviastatuette, solange die Bauern fleißig ihre Pflicht erfüllen und Abgaben leisten. Doch es scheint, als wäre die Stimmung unter manchen, nun, sagen wir aufgehetzt.
Es ist für mich immer noch schwer greifbar, aber es scheint, als gäbe es Aufwiegler, die bestrebt sind, das Volk gegen die göttergegebene Herrschaft aufzuhetzen. Als würde es Bestrebungen geben, die im Alten Glauben verhafteten von der bisherigen Koexistenz mit dem Glauben an die Heiligen und Unteilbaren Zwölf in einen Konflikt zu treiben. Einen Konflikt, bei dem letztlich wir alle verlieren würden.
Nun berichtetest du mir, liebe Glyrana, davon, dass eine mutmaßliche Anhängerin des Unsagbaren einen Anschlag auf dein Leben verursacht hat. Ich danke den Göttern dafür, dass Dir nichts geschehen ist. Aber jetzt verstehst du vielleicht meine Sorge.
Was, wenn diese aufgehetzte Stimmung unter dem einfachen Volk auch herbeigeführt ist? Wenn es jemand gezielt versucht, die göttergefällige Ordnung zu delegitimieren? Wenn dahinter mehr steckt als reine Unzufriedenheit? Wenn jemand das Volk gegen die göttergewollte Ordnung aufhetzt? Wenn jemand daraus seinen Nutzen ziehen will? Wenn gezielte Falschinformationen verbreitet und abstruse Theorien in Umlauf gebracht werden?
Du berichtest mir, dass der Kult dessen, der in die Sternenbresche verbannt wurde, dir nach dem Leben trachtete? Liebe Glyrana, dann befürchte ich, dass da eine Verschwörung dahinter steckt, dass es sich nicht um das Machwerk eines Einzeltäters handelt. Leider kann ich zu wenig einschätzen, wer oder was wirklich der Kopf der Verschwörung ist. Aber immerin eines kann ich noch berichten. Auch erst vor einigen Tagen erreichte mich ein Brief des Magisters Veneficus aus Edorlys. Ihr wisst, dass der Magister im Allgemeinen sehr gut vertraut ist mit dem, was unter den Sokramuriern vorgeht. Auch das kann ich schwer einordnen, und es kann Anlass zur Sorge sein. Jedoch berichtete der Magister, dass sich unter den Sokramoriern in Schlotz eine lose Vereinigung gebildet hat, der einige, eher radikaler denkende, angehören. Sie nennen sich die Wilden Keiler - oder auch die Wilden Kerle - vom Wutzenwald. So ganz genau konnte der Magister nicht davon berichten. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Bund gehört - und das bereitet mir fast mehr Sorge, dass etwas in unserem Land passiert von dieser Tragweite, von dem wir nichts erfahren haben. Aber wie Veneficus meinte, handele es sich bei diesem Bund nicht nur um harmlose Anhänger alter Riten. Offenbar werden in diesem Bund aufrührerische Reden geschwungen, yesatanische Schriften wiedergegeben und gegen die Obrigkeit gezetert. Offenbar scheinen sie recht stark in Schwaz vertreten zu sein, eben dort, wo auch die Unzufriedenheit am größten sein soll. Und, so meine ich, sie haben Gernatsborn nicht zufällig für ein Attentat ausgewählt. Es scheint mir plausibel, dass sie - von wem auch immer - mit dem Verweis auf `sumufrevelnden Kupferabbau´ in Gernatsborn aufgehetzt werden.
Vielleicht wurde die Attentäterin auf Dein Leben, Glyrana, auch dadurch angestachelt oder steht damit in Zusammenhang.
Und, nicht zuletzt, erwähnte mein Mann auch einen Sokramorian von Schratenholzen. Auch das ist eine Neuigkeit, die in der Art, wie sie an mein Ohr gelangt, überrascht. Dieser Sokramorian von Schratenholzen, wie er sich nennt, gibt vor, der Sohn des in den Kriegswirren verstorbenen vormaligen Ritters von Schratenholzen zu sein, der dessen Erbe antreten möchte. Das verwundert umso mehr, als dass das Dorf Schratenholzen kein erbliches Lehen war, es also dem Sohn des vormaligen Ritters, nicht von sich aus zufiele.
Warum aber jemand, der dieses Erbe beansprucht, dann nicht, wie er es eigentlich müsste, auf Burg Schlotz vorspricht, erschließt sich mir nicht und lassen den Anspruch Sokramorians auch in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob diese Wiederkehr des Schratenholzers mit all dem, was sonst Anlass zur Sorge gibt, in Zusammenhang steht - wer vermag das zu sagen. Doch ich will Euch und auch meine Nichte, die Baronin, darüber in Kenntnis setzen.

Liebe Glyrana, Lieber Storko, ich bitte euch um größte Vorsicht und Umsicht.
Es grüßt Dich und Deinen Gemahl
Valyria



Am Rand des Wutzenwaldes, Vormittag des 6. Praios 1043
Druckvoll strichen die runzligen Finger über das braungelbliche Bienenwachs.
Das Gesicht, das bislang dem formlosen Antlitz eines Golems geähnelt hatte, nahm langsam eine menschlichere, weiblichere Gestalt an. Ebenso wie der übrige Körper. Ein schwarzglänzender Dolch bohrte sich in die Mulden unter der Stirn, formte dort zwei runde Kulleraugen, stach Löcher in ein allzu hochgetragenes Näschen und ritzte zuletzt noch ein feines, kindlich erstauntes Lächeln in die Mundpartie.
Burchert von dem Born öffnete sein "Schatzkästlein", wie er es nannte, und zog zwei schwarze Steinchen hervor, ebenso eine schwarz-golden gestreifte Tunika, in Puppengröße. Vorsichtig, um die Arme und Beine nicht abzubrechen, zog der Druide dem Wachsfigürchen die vornehme Gewandung an und drückte die Kohlestückchen in die Augenhöhlen.
Versonnen betrachte Burchert sein Werk und strich sich über den grauen Bart, der sein hageres, faltiges Gesicht zierte, nebst einer hörnergeschmückten Haube.
"Euer Wohlgeboren Glyrana von Mersingen, ab sofort seid Ihr Wachs in meinen Händen!" Burchert versuchte, seine Stimme möglichst dunkel und bedrohlich klingen zu lassen.
Er schloss die Augen, genoss für einen Moment den Gedanken, fortan das echte Püppchen auf der Burg zu beherrschen wie ein Spielzeug. Das Gefühl von absoluter Macht währte nicht lang.
Mit einem jähen, wütenden Aufschrei zerdrückte Burchert das Wachs, erst den Kopf, angefangen mit den Augen, und dann den übrigen Körper. Es half alles nichts, ein wichtiger Bestandteil des Rituals fehlte. Leider war es der entscheidende Teil.
Einen Augenblick lang schnaufte der alte Mann schwer, bis ihn zarte Barthaare ablenkten, die über seine Hand strichen. "Sokramund, du bist es", sagte Burchert ungewohnt liebevoll und strich dem Eichhörnchen über das nachtschwarze Fell. Es musste unbemerkt durch das Fenster herein gehuscht sein, geradewegs aus dem grüngolden leuchtenden Wutzenwald, wo die Vögel zwitscherten und ein Specht klopfte.
Im letzten Sommer, als ihm der possierliche Bote der Schwarzen Göttin zum ersten Mal begegnet war. Da hatte er die kleine Eichkatze "Sokramurs Mund" genannt, nicht nur ob der zirpenden Laute, die sie von sich gegeben hatte. Ihr Biss war tief gegangen, als er unbedacht nach ihr hatte greifen wollen, und ihn an den Schnitt einer kleinen Sichel erinnert. Oder eben an einen blutroten Mund. Burchert wusste nicht einmal, ob es sich bei dem flinken Pelzträger um ein Männchen oder Weibchen handelte, also hatte er sich zu einer neutralen Titulatur entschlossen. Rasch war aus seinem Gefährten "Sokramund" geworden, in vertraulichen Momenten ein "Sokra".
Mit kargem Lächeln reichte er dem Feh eine Nuss, die es erfreut anknabberte, mit misstrauischem, unruhigem Eichhörnchenblick, zuckendem Schweif und aufgestellten Pinselohren. Die Vorstellung war selbst für ihn, den erfahrenen Zauberer, merkwürdig: Dass diese dunklen, großen, unergründlichen Augen gestern Nacht seine eigenen gewesen sein sollten. Streng genommen war die Leiter für Sokra angelehnt geworden, seinem Meisterspion. Das frisch gefügte Mauerwerk von Burg Gernatsborn war selbst für die Krallen eines Eichhörnchens zu glatt.
Welch überaus interessanter Anblick mächtige Menschen in Todesangst doch waren. Burchert musste zugeben, dass er Glyrana völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte wetten können, dass die Tsajüngerin aus gutem Hause in Furcht und Panik verfallen, weinen, zittern und schluchzen würde. Aber nein, sie hatte ihren Dolch gezückt und war hinter dem Thron in Deckung gegangen. Vielmehr war es die Attentäterin gewesen, die von jähem Schrecken erfüllt die Leiter hinunter geeilt, fast schon gestürzt war. Der Tod bereitet denjenigen, die ihn bringen, mitunter mehr Furcht wie denen, die ihn erleiden sollen. Interessant...
Der "Blick durch fremde Augen" hatte sich in jedem Fall gelohnt. Fast schon hatte er die Leidenschaften körperlich spüren können: Storkos Angst um die geliebte Gemahlin und Mutter seiner Kinder, war echt und rein gewesen – auch das hatte ihn ein wenig verblüfft. Offenbar war die Verbindung mit dem mächtigen Adelshaus Mersingen nicht nur dynastischer Natur.
Das schlechte Gewissen der Dienstritterin war schwer zu übersehen gewesen. Jadvige hatte sich sogar in einer theatralischen Geste in die Schußbahn werfen wollen. Die Rittfrau war aber eindeutig zu kurz gesprungen und eher gestolpertn. Was darauf hindeutete, dass sie in ihrer tiefsten Seele nicht wirklich für Glyrana hatte sterben wollen. Vermutlich beruhte dieser romantische Einfall nur auf irgendeinem rondrianischen Ideal von Ehre, Opfermut und Treue. Auch das würde Burchert sich merken müssen...
Alrik von Friedwang hatte wohl beizeiten "etwas geahnt". Als Boltanspieler nach Phexens Art hatte er sein schlechtes Blatt aber noch weiter ausgereizt, statt rechtzeitig auszusteigen. Dieser leichtlebige Streunerbaron spielte mit dem Leben anderer Menschen, wie mit bleigefüllten Würfeln oder gezinkten Karten. Der Wurf mit dem Silberstern war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Ein besserer Gaukler und Hofnarr seiner selbst, dieser einäugige Baron von Friedwang. Wäre die Armbrust nicht durch einen wahnwitzigen Zufall zerbrochen, hätte das Ganze erneut ins Auge gehen können...in Glyranas Auge. Am spannendsten fand Burchert, der selbst schon unzählige Sommer zählte, das Verhalten Odilon Wilgrimm von Gallys, den schwarzen Bären, der die Armbrusterin zu einem Duell hatte herausfordern wollen (wenn Burchert sein Talent zum Lippenlesen nicht im Stich gelassen hatte). Mit irgendeinem pickligen Bürschchen im Schlepptau, der wohl seine Nachfolger werden sollte. Kein Zweifel, der Baernfarn hatte Angst vor dem Alter und dem langsam Vergessenwerden. Also versuchte der Meisterschütze fast schon verzweifelt, seine Legende weiter zu stricken?
Etwas langweilig war ihm der angeschweißte Goldfasan vorgekommen, mit seiner allzu inbrünstigen, vermutlich reichlich schwülstigen Predigt. Der auch ohne Worte die Sorge anzumerken gewesen war, ob der kläglichen Humpelei nicht mehr ernst genommen zu werden. Als ob den Greifenkult in der Sichel noch irgendjemand ernst nehmen würde.
Angst, Angst, Angst, wohin man blickte...Sie war die wahre Herrscherin der Welt, da hatte Meister Archon von Havena völlig Recht. Sämtliche Leidenschaften der Menschen - gleich ob Liebe, Lebensfreude, Levthanslust, Habgier oder Machtstreben – führten früher oder später zur Kaiserin der Gefühle, wie einst sämtliche Wege nach Bosparan. Das Wissen, dass Sokramund auf der Burg gesammelt hatte, würde sich vorzüglich gegen die vermeintlichen Herren dieses Landes einsetzen lassen. Herrscher, die höchstens die Körper anderer Menschen beherrschten, aber nicht ihren Geist.
Das "Attentat" auf die Mersingen war wahrlich eine Szene für die Götter gewesen. Zumindest für die Alten Götter. Bedauerlich war nur, dass Sokra nicht diese wunderschöne, große Haarsträhne erbeutet hatte, die der Junkerin als einziges greifbares Ergebnis des kläglichen Mordversuchs abgetrennt worden war. Greifbar allerdings nur für den Barden, der sie heimlich eingesteckt und sich hernach mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Auch das war ein überaus faszinierendes, da rätselhaftes Verhalten. Vermutlich war der Minnesänger ein ganz gewöhnlicher Lüstling, der an Frauenhaar schnupperte.
Sokramund blickte ihn wieder mit seinen großen Augen an und zirpte, wobei es hektisch mit den Pfoten hin und her trippelte. Es sprach nicht wirklich mit ihm, aber auf eigentümliche Weise verstand Burchert, was das Tier ihm mitteilen wollte. Der kleine Schwarzpelz war ganz gewiss kein gewöhnliches Eichhörnchen. Dieses Feh war ihm von den Feen selbst geschickt worden, daran hatte Burchert nicht den geringsten Zweifel. Manchmal brachte es ihm sogar verzauberte Nüsse, Eicheln und Bucheckern aus der Anderwelt mit. Aber wie hätte der Druide diesen Umstand seinen Jüngern und Jüngerinnen vermitteln sollen: Dass ihr Meister gelegentlich mit einem schwarzen Eichhorn plauderte, auf höchst einseitige Weise. Also tat Burchert so, als spräche die Göttin aus seinem eigenen Mund, mit einigem Brimborium.
Gerade eben wollte Sokra ihm mitteilen, dass sich jemand der Hütte näherte. Nun, das hatte er schon längst gehört. Nun klopfte es an der Hüttentür: Zweimal kurz, einmal lang. Das war Gritta, natürlich. Das Köhlerkind liebte Geheimzeichen und Verschwörungsspiele. Außerdem war die Köhlertochter eine seiner gläubigsten Anhängerinnen. Das Wort "Köhlerglaube" kam nicht von ungefähr.
"Komm herein, mein Kind." Burchert ließ die Wachspuppe im Kästchen verschwinden und nahm das Eichhörnchen auf seinen Schoss. "Die Tür steht offen für den, der guten Willens ist."
Gritta öffnete die Tür. Die Sokramurierin wirkte blass und übernächtigt, wenn nicht verängstigt. Ihre Schuhe waren völlig verdreckt.
"Du solltest barfuß eintreten, wie es sich für eine Sumugläubige geziemt", sagte Burchert von dem Born. Manche seiner einfältigeren Anhänger glaubten ob des Namens, ihr Meister müsse weit gereist sein und aus dem Bornland stammen. Tatsächlich war damit Gernatsborn gemeint. Vielleicht auch Gernatsquell oder die echte Quelle des Gernat, so ganz wusste es Burchert selbst nicht zu sagen. In jedem Fall hörte es sich bedeutsam an, als verfüge der Druide über einen sprudelnden Quell ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wissens. Was zum Teil ja auch stimmte.
Gritta mühte sich ab, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie den gestampften Lehmboden betrat. Auch wenn sie schon öfters in der Hütte des Druiden zu Gast gewesen war, waren ihre Augen auch jetzt weit geöffnet, ein wenig ängstlich, vor allem aber fasziniert. Da waren die Stützbalken, die geheimnisvolle Runen zierten und voller Kräuterbüschel hingen. Der Wandteppich, der den mächtigen Leib von Mutter Sumu zeigte. Ein uralter Wald wuchs auf der Urgöttin, in dem sich allerhand Tiere tummelten: Ein Einhorn und ein Auerochse ebenso wie Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine. Über der ummauerten Feuerstelle hing ein Kupferkessel, auf dem Tisch lagen frisch geschnittene Mistelzweige.
Kein einzige Spur von Eisen war zu finden, das fiel dem Mädchen immer wieder von Neuen auf: weder an der Tür, über die ein Widderschädel prangte, noch an dem spärlichen Mobiliar. Für die wenigen Ungerufenen, die sich in die Nähe verirrten, war es die Hütte eines kauzigen, übel gelaunten Einsiedlers, die man besser mied.
Gritta sank in die Knie und küsste die dunkle Robe des Meisters, der ihr freundlich über die Wangen strich. Scheu blickte sie auf den Bergkristall, der an einer Lederschnur unter dem Bart des Druiden glitzerte. Huldvoll wies Buchert ihr den Platz auf einen kleinen Schemel. Dann lehnte er sich in seinem eigenen, thronähnlichen Sitz zurück, aus dem lebende, grüne Zweige rankten - ein Wunder, dass Gritta ebenso in den Bann schlug wie das tiefschwarze Eichhörnchen, das sich wie eine Katze an Burcherts Hand schmiegte.
Sie hatte noch nie ein solches Tier mit derartig schwarzem Fell gesehen. "Der Namenlose ist ein Eichhörnchen", das seltsame Sprichwort fiel Gritta ein, aus welchem Grund auch immer. Das sollte soll wohl heißen, dass das Erzböse flink und unscheinbar daherkam – und genauso schnell wieder verschwand. Ein Vorurteil gegen Eichhörnchen, gewiss, wie so oft, wenn die "Rechtgläubigen" über den unheimlichen Wald und seine Bewohner sprachen. Aber gestern Nacht musste es wirklich mit dem Dreizehnten zugegangen sein, da oben auf der Burg.
"Meister", sagte Gritta, mit gesenktem Blick. "Sicher habt Ihr es schon erfahren, aber..."
"Gritta, dein Herz schlägt ja schneller als mein Freund der Specht da draußen klopft. Du musst lernen, stark, ruhig, kühl und beständig zu werden, wie Mutter Erde selbst, die allein Ingerimms Hammerschlag zu erschüttern vermag."
Die Sokramurierin schaute ihn treuherzig an. Aber heute schienen Burcherts Weisheiten nicht so sehr bei ihr zu verfangen wie sonst.
"Gestern Nacht hat jemand versucht, die Junkerin heimtückisch zu ermorden. Sumu, steh uns bei!" Gritta stockte. "Man sagt, es heißt.... Die Meuchlerin wäre über die Leiter in die Burg geklettert, die...die wir ihr an die Mauer gestellt haben...und auf die gleiche Weise entkommen..."
Burchert hob die buschigen Augenbrauen und setzte das mißmutig keckernde Eichhörnchen auf den Tisch, das in Windeseile nach draußen huschte.
"Hast du gedacht, euer Auftrag wäre eine Art Fensterln oder besseres Haberfeldtreiben? Gritta, du enttäuschst mich. Der Kampf gegen die Frevler duldet keinen Kleinmut."
"Aber...von einem Mordanschlag auf Herrin Glyrana...davon war nie die Rede...Wenn der Bogen der Armbrust nicht zerbrochen wäre...dann..."
"Eisen ist nun einmal unzuverlässig." Burchert sah Gritta durchdringend an, während er sich ein süßlich riechendes Getränk aus einer Tonflasche in ein Trinkhorn goss. Der Duft nach Honig und Kräutern, der in der Luft lag, hatte etwas Betörendes.
"Möchtest du wie Eisen sein, Gritta?"
"Nein, Herr."
"Oder möchtest du stark, ruhig, kühl und beständig sein, wie unsere Mutter Erde?"
"Gewiss, Meister Burchert."
"Dann beruhige dich erst einmal. Darf ich dir etwas von meinem Zaubertrank anbieten?" Der Druide schmunzelte, mit väterlicher Güte.
Ein zweifelndes, fast schon verzweifeltes Kopfschütteln.
Burchert trank einen ordentlichen Schluck Met, von dem ihm einige goldene Tropfen über das Kinn rannen, und strich sich über den Bart, um ihn zu säubern. "Gräme dich nicht, Gritta. Wie du weißt, habe ich meine Augen überall...wirklich überall."
Für einen Moment war sein Blick tatsächlich an der Rahjakuhle und den wunderbaren Brüsten der jungen Frau hängen geblieben. Dann blickte er wieder streng in Grittas Augen. Diese fing nun an zu schniefen, die erste Träne kullerte ihr über die Wangen.
"Ich habe durch meine magischen Augen gesehen, was diese Söldnerin vorhatte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Also habe ich meine Zauberkraft genutzt und ihre Armbrust zerbrochen. Wir wahren Sokramurier sind doch keine Mörder, Gritta. Es sollte nur eine letzte Warnung sein, für die Mörder des Waldes. Eine allerletzte Warnung...und eine Ablenkung für ihre Wachen."
Burcherts Stimme klang machtvoll und stark. In solchen Momenten glaubte er selbst, dass er der heimliche Großmeister unter den Sichelhager Druiden war. Nicht sein alter Rivale Arthorn von Kamlanodis. Aber an den wollte er jetzt als allerletztes denken.
Mit geröteten Augen blickte die junge Frau auf, zog ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich hörbar. "Eine Ablenkung, Meister Burchert? Aber die Kupfergrube raucht doch noch immer."
"Ich muss zugeben, gestern Nacht hätte ich mit mehr Regen gerechnet. Wie du weißt, drängen wir Sumudiener den Elemente unseren Willen nicht auf. Anders als diese abgehobenen, verkopften Gildenmagier in ihren Türmen oder Studierstuben, die unsere Welt am liebsten in Formeln, Bücher und Zaubersprüche zwingen würden. Wir handeln mit den Kräften der Natur, niemals gegen sie, Gritta. Das hast du doch sicher verstanden?"
Gritta nickte.
"Nun, in diesen Tagen liegt der Gallysard in der Luft. Ich habe gehofft, er würde gestern Nacht schon den Wetterumschwung bringen. Ein Wind aus Südost, der schlechtes Wetter vom Meer heran treibt. Aber er ist auch sehr unbeständig und schwer berechenbar... Der Regen war leider zu schwach, um daraus ein echtes Unwetter zu zaubern, mit Hagelschlag und Sturmgebrüll."
"Ich dachte, der Gallysard wäre ein Schneesturm in der Baernfarner Heide", sagte Gritta, die verlegen einen Zopf um ihren Finger wickelte.
"Im Winter bringt er Sokramurs Landen Schnee und Kälte, das ist richtig." Burchert lächelte anerkennend. Die Köhlerstochter war ein kluges Mädchen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein gestriger Versuch, ein Hochwasser heraufzubeschwören und die Kupfergrube zu ersäufen, kläglich gescheitert war. Schuld daran war allein Reginlind, seine Hexenfreundin aus Schwaz, und dieser schwer durchschaubare Sokramorian. Sie hatten unbedingt das Levthansfest am Sokramurshügel besuchen wollen, statt sich an der Heilung der Sumuwunde zu beteiligen. Mit vereinten Kräften wäre ihnen ein Ritual der Wettermeisterschaft sicher gelungen.
Angeblich hatte Sokramorian Gerbold von Zwölfengrund herausfordern wollen, in dessen Rolle als gehörnter Abgesandter des Levthan. Burchert konnte Sokramorians Abneigung gegen den "Handlanger der Neuen Götter" verstehen, hielt die Herausforderung aber für aussichtslos: Arthorn war erst im Frühjahr zum "Hohepriester" des Druidenzirkels gewählt worden. Letzten Endes zog er hinter den Menhiren die Fäden. Wie Gerbold war der Kallerishainer ein stillschweigender Verbündeter der Hauses Baernfarn und damit auch der Binsböckels, Mersingens, Oppsteins, Friedwangs und wie sie alle hießen. Er würde nichts in die Wege leiten, was den Interessen der Adelsfamilien in der Sichel entgegenlaufen würde.
Die Kupfergrube war bei vielen verhasst, aber Gerbold hielt den Zorn der Sokramurier im Zaum... noch. Nun, die einsame Wölfin mit der Armbrust, oben auf der Burg, war ein deutliches Zeichen, dass nicht jeder gewillt war, nach der Bockspfeife des Sokramshainers zu tanzen. Sie war in Sokramurs Auftrag zur Burg aufgebrochen, das hatte ihm sein Eichhörnchen berichtet.
"Mein Vater sagt, das Bergwerk zerstört und verpestet alles. Aber ohne das Kupfer wäre Schlotz eine bitterarme Baronie." Gritta schien wirklich in ihrer Überzeugung schwankend zu werden. "Wir hätten nur die Wahl zwischen Schwarzer Wut und den Zorganpocken."
"Dann würde ich die Schwarze Wut wählen, als schwarzgesichtiger Köhler." Burchert versuchte ein Lächeln. "Die Wutzen werden dem Treiben nicht mehr lange tatenlos zusehen und all jene bestrafen, die es zugelassen haben. Es ist ein Frevel, Sumus Leib aufzureißen und Erz in Kupfer zu verwandeln. Erst im Frühjahr habe ich mit dem Wald gesprochen. Er leidet wirklich, Gritta."
"Ihr könnt...mit den Bäumen sprechen, Meister?"
"Gewiss. Eine Zeitlang war ich in Sumus Reich verwurzelt, wie sie, habe meine Äste und Blätter hinauf gereckt, zu den Wolken, den Vögeln, der Sonne und dem Regen...Ach, ich könnte dir so viel über das geheime Leben der Bäume erzählen, über die verborgene Weisheit des Waldes. Sie sprechen zu uns, mit dem Flüstern ihrer Zweige. Aber auch miteinander, durch ihren Duft. Sie warnen sich vor dem Orkenkäfer und anderen Schädlingen. Verabreden sich über viele Meilen hinweg, in der gleichen Stunde zu blühen. Die Mütter unter ihnen stillen die Baumkinder, mit ihrem Saft. Wie könnten wurzellose Menschen ermessen, was es bedeutet, wenn plötzlich das grausame Metall der Äxte in ihre Borkenhaut schlägt. Bis ihr Harz herausquillt wie Blut, der Stamm dröhnt, das gequälte Holz aufstöhnt und splittert, Jahrhundete alte Baumriesen ächzend zu Boden stürzen?"
Burchert trank noch einen Schluck und verscheuchte eine einzelne Wespe, die herein geschwirrt war. Die Köhlertochter ballte schuldbewusst, aber auch zornig ihre Faust.
"Nein, ich kann dir ihre Empfindungen nicht wirklich begreiflich machen, und will es auch gar nicht. Lebewesen nähren sich von anderen Lebewesen, Gritta. Das ist der natürliche Lauf der Welt. Ich weiß, dass auch dein Vater Bäume fällt, für seine Kohlemeiler. Aber die Schlotzer Kohlebrenner haben den Wutzenwald bislang immer maßvoll genutzt. Es ist der rötliche Glanz des Kupfers, der die Mersingens verwirrt. Heller wollen sie daraus prägen, Kupferlinge, um ihren Reichtum zu mehren. Der Wald wird auf Dauer nicht für die Köhler und die Kupferhütte zugleich reichen. Nicht jetzt, da Storko so viel Holz für seine Zwingburg verbraucht hat. Noch ein paar Jahre, und am Gernat wird sich überall trostloses Ödland erstrecken. Im Grunde schadet sich der Junker selbst am meisten, mit seiner zerstörerischen Gier, und er weiß es noch nicht einmal..."
"Wie recht Ihr doch habt, Meister. Verzeiht meine zweifelnden Worte. Ich habe nicht richtig nachgedacht." Gritta biss sich reumütig auf die Unterlippe. "Da ist noch etwas anderes..."
"Sprich, mein Kind. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für deine Nöte habe."
"Da war so ein komischer Kerl...wir dachten erst, sein Name wäre Ingalf. Ingalf aus Wutzenbach. Er ist plötzlich in den Gernat gesprungen und geflohen. Gleich nachdem wir die Leiter an die Mauer gestellt haben. Sokramur weiß, was in den gefahren ist."
"Nun, ihr habt die Krafteicheln gegessen, nehme ich an?"
Gritta nickte. "Sonst hätten wir es nie bis zur Burg geschafft, mit der schweren Leiter."
"Ihre Wirkung ist schwer zu kontrollieren, zumal für Neulinge. Er wird sich schon wieder beruhigen."
"Ja, aber als wir anderen uns heute früh noch einmal getroffen haben. Da war sich Harger, wie soll ich sagen...da war er sich gar nicht mal so sicher, ob Ingalf... wirklich Ingalf war. Er kennt ihn von uns am besten."
Burchert stellte das Trinkhorn wieder zurück in sein hölzernes Gestell.
"Was soll das jetzt wieder heißen?" fragte er ungehalten.
"Dieser Ingalf...also der falsche Ingalf. Er stand gestern am Gernat, wie vereinbart. Das heißt, eigentlich war er viel zu spät dran. Und hat sogar das Schlotzer Lied gesungen, wenn auch nicht die richtige Strophe. Ich war sicher, dass es Ingalf war..."
Der Druide strich sich wieder durch den Bart. Gritta war eine eifrige, lernbegierige Sokramurierin, gewiss. Aber sie war manchmal naiv wie ein kleines Kind. Naiv und leicht zu beeinflussen. Leider nicht nur zu seinen Gunsten.
Er hob den schwarzen Vulkanglasdolch an und prüfte dessen Schneide. Gritta bekam große Augen. Sie bewunderte ihn nicht nur, sie fürchtete ihn auch. Sehr gut.
"Gritta, tust du mir einen Gefallen?" sagte der Druide mit überfreundlicher Stimme. Er reichte dem Köhlerkind die Klinge, mit dem Griff voran. Die junge Frau war nun endgültig verwirrt. Die Spitze zielte genau auf Burchert.
"Schneide  deine Zöpfe ab...Nach allem, was gestern geschehen ist, bist du jetzt eine junge Frau und kein kleines Mädchen mehr."
"Aber..."
"Nichts aber. Tu es für mich. Einen Zopf, den gibst du mir. Den anderen darfst du behalten. Oder vertraust du mir etwa nicht?"
Gritta merkte, dass sie nun selber dasaß wie eine Attentäterin. Der Blick aus Burcherts blaugrauen Augen war durchdringender, als es diese steinerne Waffe hätte sein können. Oder? Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Dann begann ihre Hand zu zittern. Sie griff nach ihren Haaren und durchtrennte rasch hintereinander beide Zöpfe. Dann reichte sie Burchert die eine Hälfte sowie den Dolch.
"Ich danke dir, Gritta. Sei unbesorgt, ich werde mich um die Sache mit dem falschen Ingalf kümmern. Wie sah der Spion denn aus?"
"Ich...ich weiß nicht. Wie ein Jäger? Vielleicht vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare mit grauen Strähnen. Eher hager...eigentlich konnte er gar nicht Ingalf sein. Ich weiß nicht, wie er mich auf derart plumpe Weise täuschen konnte."
"Ein Jäger, so so." Burchert öffnete das Schatzkästchen, wobei er darauf achtete, dass Gritta den Inhalt sehen konnte, einschließlich des zerbrochenen Wachsfigürchens. "Was weiß er? Habt ihr euch in seiner Gegenwart über den großen Plan unterhalten? Wurden Namen genannt? Ist mein Name gefallen?"
Der Blick des Druiden wurde so scharf wie die Klinge seines Dolches.
Gritta nahm all ihren Mut zusammen und nickte, vollkommen zerknirscht.
"Meister...bitte...ich weiß, wir Wilden Keiler haben einen schweren Fehler begangen. Aber vielleicht können wir ihn wieder gut machen. Ihr wollt das Bergwerk mit einem Unwetter überfluten? Vielleicht würde es helfen, wenn wir gleichzeitig noch die Pumpenkunst zerstören." Der altbekannte Eifer kehrte in Grittas Stimme zurück, nicht nur wegen der "Haarspende". Sie wusste, dass es Burchert nicht darum ging, sie zu beherrschen oder zu erpressen. Aber dass er sie früher oder später bestrafen würde, mit unaussprechlichen Schmerzen. Einmal hatte sie eine solche Folterung erlebt und nie mehr vergessen. Allerdings war Gritta damals überzeugt gewesen, dass der Verräter diese Strafe verdient hatte. Sie wollte keine Verräterin sein, nicht einmal unbeabsichtigt.
"Im Grunde genügt es, wenn eines der Kunstgestänge längere Zeit ausfällt."
"Kunstgestänge?" Burchert war anzumerken, dass er nicht die geringste Ahnung von Bergbau, geschweige denn Mechanik hatte. Einige Herzschläge lang schien er der unwissende Schüler zu sein und Gritta seine junge Lehrmeisterin.
"Im Radhaus, ja...nicht im Rathaus, nein, sowas haben wir in Gernatsborn nicht. Das Haus, wo das Wasserrad untergebracht ist, das über einen Kanal mit Gernatswasser angetrieben wird. Über das Kunstgestänge werden die Pumpen betrieben, die verhindern, dass die Grube langsam vollläuft, mit Grundwasser." Gritta lächelte, ein ungesundes Fanatikerlächeln. Ihre Augen leuchteten wie bei einer Bannstrahlerin, die sich gerade Praios herrliches Strafgericht ausmalte.
"Das Gestänge, das die Kraft aus dem Wasserrad auf die Pumpe überträgt, ist aus Fichtenholz, nicht sehr dick. Mit einer Axt lässt sich da sehr viel Schaden anrichten. Wenn die Pumpen für längere Zeit ausfallen, und sei es nur für einen einzigen Tag...Das Wasser wird steigen und steigen, in einem fort, das Grundwasser ebenso wie der Pegel des Flusses, und das Bergwerk ein für alle Mal verschwinden. Danach wird es einen wunderbaren Wasserteich für die Köhler geben, zum Löschen der Holzkohle. Und für mich einen wunderschönen Fischteich zum Angeln".
Die Sokramurierin lachte, eine Spur zu laut und nervös. Sie wirkte nun wirklich älter, reifer. "Ihr braucht mich gar nicht zu bestrafen, Meister. Auch wenn ich Strafe mehr als verdient habe. Ich werde diese Scharte auswetzen, das schwöre ich bei Sumus Blut."
"Eine Axt, warum eigentlich nicht", sagte Burchert. "Das ist eine gute Idee. Man muss die Sumuschänder mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Wenn du Erfolg hast..." Der Druide klopfte auf das Kästchen.
Gritta sprang auf, murmelte einen Abschiedsgruß und eilte nach draußen
 
Der Druide ging zur Tür und sah amüsiert, wie das Gernatsbornerin über die kleine Lichtung und die Blumenwiese lief. Erst lief, und dann furchtsam los rannte, als etwas Großes über die Baumwipfel schwirrte, wie ein Raubvogel. Allerdings ein Raubvogel, der fast die Größe eines Greifen hatte. In Windeseile war sie auf dem Trampelpfad verschwunden. Der Druide war sich sicher, dass sie ihre Lektion gelernt hatte und der Schwur völlig ernst gemeint war. Aber wie lautet der alte Spruch in Druidenkreisen: Vertrauen ist gut. Beherrschung ist besser.
Überhaupt, der Himmel. Nachdem es zur zehnten Stunde noch schön und sonnig gewesen war, zogen sich nun, gegen Mittag, die grauen Wolken immer mehr zusammen. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Sehr gut, da war eindeutig etwa im Anmarsch, von Praiosrahja her.
Gemessen drehte Burchert sich um, gestützt auf seinen Stab. Dorthin, wo nun die Tochter Satuarias aus dem Wald trat. Mit wallenden roten Haaren und einer ebenso knappen wie opulenten Festtagsgewandung, die einer Ismena von Oppstein Ehre bereitet hätte.
"Reginlind, wie schön, dass du doch noch hereinschneist. In meine bescheidene Hütte."
"Wer war das Gör?" schimpfte die Hexe. "Deine neue Hexenfreundin?"
"Eine kleine, nützliche Handlangerin, mehr nicht." Burchert winkte ab. "Ist euer Fest etwa schon beendet? Hat es Sokramorian geschafft, Gerbold vom Thron zu stoßen, bei diesem Platzhirsch-Geforkel? Oh, verzeih, es sind ja die Oppsteiner, die mit dem Hirschgeweih aufeinander losgehen. In Schlotz krachen noch immer die guten alten Widderhörner." Er tippte auf seine eigene Hörnerhaube.
"Gerbold hat gewonnen" zischte die Schwazerin, die ihren Besen im Wald zurückgelassen hatte, vermutlich bewacht von ihrem Vertrauten. "Obwohl ihn Sokramorian einen kräftigen Schlag verpasst hat. Einen überaus levthansungefälligen Tiefschlag."
Burchert verzog theatralisch das Gesicht. "Oh, ich kann es mir vorstellen...der arme Gerbold."
"Der Ausgang des Zweikampfes war knapp, trotz allem. Gerbold von Zwölfengrund hat nur gewonnen, weil ihm eines seiner Hexenliebchen beigestanden hat. Mit einem verzauberten Ast..." Reginlind warf ihre blutrote Mähne rassig über die Schulter. "Danach hat er mich mit blutigen Fingern betatscht wie...wie..."
"Wie auf einem Hexenfest?" antwortete Burchert spitz.
"Wie ein Stück Vieh. Sogar ein Kind will er von mir… zum Glück hat Sokramorian wenigstens den zweiten Teil des Rituals verhindert, mit seinem beherzten Tritt. Oder besser gesagt aufgeschoben. "
"Verstehe. Offenbar ist eure kleine Rebellion also gescheitert. Ich erinnere mich, dass ich dich genau davor gewarnt habe. Wir sollten endlich auf eigene Faust handeln. Vollendete Tatsachen schaffen. Anders kommen wir Gerbold und seinen Adelsfreunden nicht bei." Burchert wies auf die Hütte. "Darf ich dich zu einem Schluck Met einladen? Mit dir auf die alten Zeiten anstoßen?"
"Eigentlich wollte ich heute noch nach Schwaz, bevor das Unwetter kommt". Reginlind sah besorgt nach oben. "Auf einem Besen können Blitze, Sturm und Hagelschauer sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man zuviel getrunken hat..."
"Auf der Erde mag so ein Wolkenbruch überaus nützlich sein." Burchert deutete in die Ferne, wo der bräunliche Rauch der Kupferhütte aufstieg. "Du weißt, was ich vorhabe?"
"Das wird Ärger geben" sagte die Hexe, fing einen Heuschreck und hörte verzückt zu, wie er in ihren Händen summte. Dann ließ sie den Grashüpfer wieder frei.
"Es soll ja auch Ärger geben. Bis es losgeht, sind es noch ein paar schöne Stunden. Bist du wirklich nur gelandet, um mir das mit Gerbold zu erzählen? Oder möchtest du deinem verhinderten Kultgemahl vielleicht doch einen klitzekleinen Denkzettel verpassen?"
"Eigentlich wollte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten. Und dir sagen, dass ganz in der Nähe Goblins herumstreunen. Gewöhnliche Räuber, vermutlich. Ihr Lager ist eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt...nahe am Fluss."
"Goblins, als ob die mir gefährlich werden könnten", sagte Burchert großsprecherisch. "Deine Sorge um mich ehrt dich. Aber glaub mir, es braucht mehr als nur einen Knüppel, um mich zu besiegen. Einen Goblinknüppel, meine ich."
Reginlind hatte die Anspielung verstanden, und lächelte säuerlich. "Ich will dich ja nur beizeiten warnen. Einen Gefangenen haben sie schon. Einen Jägersmann, den sie an einen Baum gebunden haben. Ich wollte nicht zu lange über ihrem Lager kreisen. Aber im ersten Moment sah der Unglückliche aus wie Tuvok, der barönliche Forstwart. Auch wenn sein Gesicht ziemlich verschmiert war, mit Ruß. Gerade deswegen habe ich es mir genauer angeschaut."
"Du hast scharfe Augen...Ich kenne den Forstwart nicht. Etwa vierzig Götterläufe alt, schwarze Haare, schon ein paar graue Strähnen, eher hager?"
"Dann kennst du ihn offenbar doch, du Scherzbold. Sah so aus, als wäre der Forstwart gestern Nacht auf Pirsch gewesen. Was haben sie mit ihm vor?"
"Zumindest haben die Goblins ihn nicht sofort umgebracht. Manchmal verlangen die Rotpelze Lösegeld. Schnaps, Pfeile, Metallwaffen und dergleichen. Tuvok heißt er also, so so..."
"Was hast du mit ihm zu schaffen?" Reginlind schaute den Druiden keck von unten herauf an. "Da ist doch irgendwas am Köcheln?"
 "Nur eine halbe Stunde Fußmarsch, sagst du?" Burchert überlegte. Dieser Tuvok wusste eindeutig zuviel. Der gescheiterte Zauber gestern hatte ihn ziemlich ausgelaugt. Ein wenig frisches Blut würde seine Kräfte stärken. Andererseits, der Barönliche Forstwart war kein Opfer wie jedes andere...Es würde Nachfragen geben, wahrscheinlich auch Nachforschungen. Der Druide spürte, wie Reginlind in seine Gedanken eindrang, und machte eine abwehrende Geste, als wolle er eine lästige Mücke vertreiben.
"Reginlind, lass das. Das bereitet mir Kopfschmerzen."
"Was weiß Tuvok zu viel?"
Burchert stockte. "Na was schon..." würgte er schließlich widerwillig hervor. "Der große Plan. Hör auf damit...nein, wirklich, lass das." Die Tochter Satuarias hatte tatsächlich noch einmal in seinem Geist nachgebohrt, wenn auch eher scherzhaft.
Die Rothaarige lächelte breit, und schwankte leicht. Sie schien noch ein wenig beschwipst zu sein, vom gestrigen Fest. Genau genommen wirkte sie leicht angetrunken. Ihr Atem roch nach Wein.
"Burchert, Burchert, wie schön, dass du dich für uns opfern willst. Für uns weiße, grüne, rote, gelbe und blaue Sokramurier, und wie wir alle heißen. Die schwarzen Anbeter der Bergmutter nicht zu vergessen...Was sind wir doch für ein buntes Schmetterlingsvölkchen! Egal. Wenn du das Bergwerk zerstörst, wird es Ärger mit der Obrigkeit geben. Mächtig Ärger. Viele Götterläufe lang haben wir all die Bannstrahler, Sonnenlegionäre und Inquisitoren aus der Sichel herausgehalten. Schlimm genug, dass die Greifen oben in den Bergen herum geflattert sind. Aber die wunderbar chaotischen Zeiten der Wildermark sind nun mal leider Vergangenheit. Recht und Ordnung halten wieder Einzug, in der Rommilyser Mark." Reginlind stieß kurz auf und erhob ihren Zeigefinger. "So ganz Unrecht hat Gerbold leider nicht. Unser Leben in den Zwölfgöttergefälligen Landen ist ein stetes Geben und Nehmen...und momentan ist für unsereins eben mehr Geben als Nehmen angesagt."
Die Hexe verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und schlenderte ein wenig über die Blumenwiese, auf der Spur eines Schmetterlings. "Und schlag dir das mit dieser scheußlichen Blutmagie aus dem Kopf. Das meine ich nicht wegen den Praidioten...sondern wegen dir! Auch für unsereins gibt es Grenzen, die wir nicht ohne Not überschreiten sollten."
"Bist du das, Gerbold von Zwölfengrund? Hast du dich in Gestalt Reginlinds auf meine Wiesen geschlichen? Dann tarnst du dich schlecht...Das ist nicht die stolze, freie Hexe, wie ich sie kenne."
Einen Herzschlag lang flammte der Zorn in den Augen der Tochter Satuarias auf. Wütend blies sie sich eine feuerrote Locke aus der Stirn. "Der große Plan? Was ist das für ein großer Plan...? Das Unwetter wird zugleich die Ernte der Bauern verderben, oder ihre Hütten zerstören. Sie werden uns alle für diese Schadenszauberei verantwortlich machen, wie sie es immer tun, seit Jahrhunderten..."
Burchert stützte sein Kinn mitsamt Bart auf die Hand und lächelte. Da war sie wieder, die wahre Herrscherin der Gefühle. Hexen hatten tief in ihrem Innersten noch immer Angst, vor der Verfolgung, der peinlichen Befragung und dem Scheiterhaufen, wie zur Zeit der Priesterkaiser. Druiden studierten die Angst, das war der Unterschied. Deswegen waren sie die wahren Herrscher des Waldes.
"Haben dich die Goblins gesehen? Oder Tuvok?"
"Die Rotpelze ganz sicher. Der Forstwart? Ich weiß nicht. Die Begegnung kam ein klein wenig überraschend, für uns alle. Das ist der Nachteil, wenn man ein paar Schritte über dem Wutzenwald fliegen muss, damit einen niemand aus der Ferne erspäht. Oder um die Baumwipfel herum... "
"Dann hast du jetzt ebenfalls ein Problem. Es sei denn, du färbst dir deine Haare um. Die Rote Reginlind ist keine Unbekannte und Schwaz zählt ebenfalls zum Barönlichen Forstrevier. Während nur eine Handvoll Zweibeiner den Weg zu meiner Hütte kennt. Wenn überhaupt."
"Was soll ich deiner Meinung nach tun? Dem Barönlichen Forstwart den Hals umdrehen? Schuld ist nur das vermaledeite Unwetter, sonst wäre ich niemals bei Tageslicht von Sokramshain hierher geflogen."
"Wie gut, dass es einen mächtigen Druidenzauber gibt, mit dem man unliebsame Erinnerungen auslöschen kann. Wobei ich gerade überlege, ob es nicht ratsam wäre, dem armen Tuvok noch ein paar falsche Erinnerungen einzugeben. Wonach ein gewisser Gerbold von Zwölfengrund der Anstifter des Ganzen war. Oder etwas in der Art..."
Die Hexe schaute ihren Gegenüber mit großen Augen an: "Ist so etwas möglich, bei Satuarias Schönheit? Diesen Zauber muss ich unbedingt erlernen! Druide müsste man sein, nein sowas." Reginlind legte ein klein wenig Spott in ihre Stimme. Burchert war keinesfalls unfähig, aber ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass ihm mächtigere Sprüche bisweilen misslangen. Kein Wunder, dass er seine Jünger vor allem in den Reihen der Nichtmagier fand. Mit den astralen Kräften eines Arthorn von Kallerishain konnte sich der Wutzenwalder nicht messen, was ihm schmerzlich bewusst zu sein schien. Er würde in jeden Fall Hilfe benötigen, bei seiner Wettermeisterschaft.
"Immer schön der Reihe nach. Fliegen wie eine Hexe kann ich leider nicht. Bring den Forstwart zu mir, mitsamt den Goblins. Versprich ihnen eine reiche Belohnung, egal welchen Preis sie für die Blankhaut verlangen. Was den Gewittersturm betrifft – nun, er wird die Baronie so oder so heimsuchen. Die Kraft, die ich ihm über Gernatsborn verleihen werde, wird sich in gleichen Maßen anderswo abschwächen. So will es das ewige Gesetz der Natur! Glaub mir, wenn du mir bei meinem Vorhaben hilfst, dann wirst du sogar vielen unschuldigen Menschen die Ernte und die Häuser retten..."
Reginlind brummte etwas Unverständliches. Deutete auf Burchert, als wolle sie etwas sagen, und verstummte sofort wieder. Dann nickte sie kurzentschlossen. "Ich glaube, ich werde doch noch auf dein Angebot mit dem Met zurückkommen...Aber ist es nicht gefährlich, die Rotpelze hierher zu führen? Das sind dann doch ebenfalls Mitwisser."
Burchert ging in Richtung Hütte. "Wie ich schon gesagt, oder besser gesagt gedacht habe... Meine Kräfte sind ein wenig erschöpft. Wenn der Jäger überleben soll, dann werden an seiner Stelle die Goblins in die Ewigen Jagdgründe eingehen müssen."
 

11. Kapitel

11. Kapitel

Das Unwetter vom Kurgasberg

 

Sanft knisterten die Flammen der Pechfackel, die Korwid entfacht hatte.

Der Medicus duckte sich und betrat den Stollen. Alte Spinnweben strichen ihm durchs Gesicht, ebenso Wurzelwerk. Grüner Farn hatte den Eingang zur Mine fast zu gewuchert. Ein paar verrottete Bretter mit rostigen Nägeln lagen im hüfthohen Gras: eine Erinnerung daran, dass der Zugang einmal verrammelt gewesen war. Auf einer der durchgemorschten, graubraunen Bohlen war sogar noch die Farbe zu erahnen. Irgendein verirrter Geweihter hatte einmal Bannzeichen hinterlassen, an diesem vermeintlichen Zugang zu den Niederhöllen.

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. Doctor Alfengrund kam das Zitat eines horasischen Poeten in den Sinn. Der Rommilyser lächelte spöttisch. Volkstümlicher Aberglauben, nichts weiter. Ein Pestmännchen sollte tief im Inneren des Berges hausen, und die Bergleute vertrieben haben, aus Zorn, dass sie in ihrer Gier nach Silber immer weiter in sein Reich vorgedrungen waren. Angeblich hatte der Kobold eine große, grüne Wolke aufsteigen lassen, die Sieche und Tod brachte. Vielleicht saß dort unten auch das Pechmanderl, das den Kindern die Augen verklebte, mit Zirbenpech, um sie zum Schlafen zu bringen. Wer wusste das schon?

Einen Moment lang starrte er tatsächlich in vollkommene Schwärze, bis sich seine Augen an das Wechselspiel von flackerndem Fackelschein, Schatten und Dunkelheit gewohnt hatten. Der Gang roch muffig, das Regenwasser war, auf leicht abschüssiger Strecke, tief in den Stollen hineingelaufen. Dahinter war es im Berg angenehm trocken, sogar warm, jedenfalls im Vergleich zur feuchten Höhenluft draußen. Eine Ratte ergriff die Flucht. Rötlich spiegelte sich der Fackelschein an den Wänden.

Im Boden waren verrottete Holzschienen zu erahnen, die nur noch Stolperfallen waren. Vorsichtig und gebeugt folgte Korwid dem Verlauf des nicht ganz mannshohen Tunnels. Die Stützbalken wirkten morsch, waren krumm und hie und da umgestürzt, so dass man sie übersteigen musste. Einsturzgefährdet schien der Stollen aber nicht zu sein. Der Medicus musste nur darauf achten, nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Wann immer er das graubraune Gestein streife, bröckelte sacht Steinstaub herab, manchmal auch das eine oder andere Steinchen.

Er blickte zurück, zum Eingang, wo der wolkenverhangene Bergwald der Trollzacken noch zu erahnen war. Irgendwo in der Ferne heulten Wölfe, gefolgt vom Grollen eines Gewitters. Vielleicht war es auch ein schwerer Steinschlag, der gerade ins Tal donnerte.

Die Silbermine vom Kurgasberg. Alfengrund hätte sich schon unter Tage unwohl gefühlt. Aber das einstige Bergwerk befand sich auch noch inmitten götterverlassener Wildnis. Das Geisterdorf zu Füßen des Kurgas- oder Kurgansbergs, es war kaum mehr als eine armselige Ansammlung von Ruinen und Steinhaufen, überwuchert von Gestrüpp. Die Pecher, die in der Gegend verstreut das Baumharz ernteten - sie waren der Meinung, dass der Berg wie ein geduckter, buntbemalter Trollzacker aussah, auf seinem Reittier: ein Kurga eben, zumindest wenn das Sonnenlicht merkwürdige gezackte Muster auf die Flanken zeichnete. Beilfels wurde der Ausläufer genannt, an dessen Fuß sich der Eingang zur Unterwelt befand.

Niemand wusste mehr zu sagen, ob das Geisterdorf da unten, neben dem Geröllfeld des türkisfarbenen Loderbachs, wirklich einmal Kurgasberg (oder Kurgansberg) geheißen hatte. Die Pechhacker, in ihren abgelegenen Berghütten, waren froh, mit dem einstigen Dorfplatz überhaupt so etwas wie einen Lebensmittelpunkt zu besitzen. Wo sie ihr Pech verkaufen konnten, das sie manchmal in Butten zu Tal trugen, auf dem eigenen Rücken, gelegentlich auch mit einem Schlitten oder auf einen Esel gepackt. Drei bis vier Ernten gab es im Jahr. Ein, zwei Mal kamen die Händler aus Rommilys und füllten die klebrige Ware um. Dann herrschte Festtagsstimmung in der Bergeinsamkeit.

Korwid kannte diese Welt zur Genüge. Eines Tages, er war noch keine zehn Götterläufe alt gewesen, hatten sie ihn nach Rommilys mitgenommen, die Pechhändler. Seinen Eltern abgekauft, um genau zu sein, diesen armen Hungerleidern. Mutter war krank gewesen, der Winter hart und ein Heiler teuer. Sein Opfer war nicht umsonst gewesen, hatte er später erfahren.

Billige Arbeitskräfte waren in der Fürstenstadt begehrt. Niemand war billiger als die schmutzigen, zotteligen, in Lumpen gehüllten "Trollkinder" aus den Bergen. Rommilys war groß und prachtvoll, eine Stadt mit vielen Kaminen.

Als Schornsteinfeger hatte er seine steile Karriere begonnen, gerade klein und schmächtig genug, um für die hohen Herren in den Kamin zu klettern und ihnen aufs Dach zu steigen.

Es gab jede Menge Schläge und Fußtritte vom Meister. Staub und Asche legten sich auf die Lungen, wenn man sich kein Tuch vor Mund und Nase band. Der Blick über die Dächer von Rommilys, bis zum Schloss und zu den Darpatfällen, entschädigte für einiges. Es war ein Anblick, der Ehrgeiz in einem Trollkind wecken konnte, das mit seinem rußverschmierten Gesicht einem kleinen Schwarzpelz fast noch ähnlicher sah als einem jungen Bergschrat.

Korwid konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er seinem Wohltäter begegnet war. Im Adelspalais in der Bockengasse war das gewesen, wo er öfters die Aschekruste von der Innenwand des Kamins kratzte. Der hohe Herr und seine Gemahlin hatten ihn sofort gemocht, aus jenen unerfindlichen Gründen heraus, die vom ersten Augenblick an ein Band der Sympathie zwischen Menschen zu knüpfen vermochte. Eines Tages hatte sich Wolpert, der junge, unerfahrene Teckel des Herrn, in einen Dachsbau verirrt, vor den Toren der Fürstenstadt. War steckengeblieben, jaulte und winselte zum Göttererbarmen. Alles Graben war vergeblich. Seine Wohlgeboren hatte Korwid herbeiholen lassen, wohl wissend, dass der sich vor Schmutz, Dunkelheit und Enge nicht fürchtete. Als er in den Schlund der Erde gekrochen war, Wolpert gerettet und dessen Blessuren verarztet hatte, Dachsbisse gingen tief - da war das Eis zwischen ihm und seinem Wohltäter endgültig gebrochen.

"Wir beide haben vieles gemeinsam", hatte der Edelmann zu ihm gesagt. Einen Moment lang hatte sich Gerrich an seinem Erstaunen geweidet, als er, der hohe Herr, ihm, den armen, erdverschmierten Trollbergbub, begütigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte: eine blasse, vornehme, zarte Hand mit einem silbernen Siegelring, den ein Steinbockwappen geziert hatte. "Du musst wissen, ich beschäftige mich ebenfalls mit der Schwarzen Kunst - zumindest sagen mir übelmeinende Leute das nach. In Wahrheit möchte ich einfach nur hoch hinaus. So wie du. Das sehe ich dir an. Denn ich sehe vieles, was andere Menschen nicht sehen. Auch diese Gabe haben wir gemeinsam."

Gerrich Praionald von Friedwang, Edler zu Rommilys. Ein Magier, der aufgrund von Madas Gabe, die immer auch ein Fluch war in den praiosfürchtigen Landen, auf sämtliche Güter und Lehen hatte verzichten müssen, wie es ein altes Gesetz aus der Rohalszeit verlangte. Niemand wusste so recht, woher Gerrichs glänzenden Golddukaten kamen, nur dass er reichlich davon hatte, im Friedwanger Haus in der Bockengasse.

Eine Ausbildung, ein anständiges Leben, hatte ihm der Herr zur Belohnung versprochen, welchen Beruf - welchen wahren Beruf er auch immer ergreifen wolle. "Medicus" hatte Korwid wie aus der Armbrust geschossen gesagt und sich über sich selbst gewundert.

Korwid ging tiefer ins Dunkle hinein, das im Lichtschein immer mehr zurückwich.

Ganz von ungefähr kam sein Interesse an Körpersäften, am verborgenen Innenleben von Mensch oder Tier nicht.

Er war ja der Sohn eines Pechers, und hatte von Kindesbeinen an erlebt, wie Vater tiefe Wunden in die Stämme von Fichten, Kiefern und Föhren geschlagen hatte, mit seiner Dechsel und anderen Werkzeugen, die mehr an Foltergeräte erinnerten. Von den Scharten aus war das gelbbräunliche Blut der Bäume in die Pechbecher getropft. Gerade so viel, dass der alte Baum am Leben blieb. Als Kind war ihm das ungemein grausam und eigennützig vorgekommen. Fast schon ein wenig perainelästerlich. Aber es hatte ihn auch - fasziniert. Es gab viele Methoden, Pech zu gewinnen: manchmal musste man dazu mit einer Leiter den Stamm hinaufsteigen. Manchmal wurde unten einfach nur ein "Schrott" ins Holz geschlagen, um dort das Harz zu sammeln.

Der spitze Stab, mit dem der aufgehackte Stamm geputzt wurde, er wurde zugleich als Kerbholz genutzt, das anzeigte, aus wie vielen Bäumen das künftige Pech bereits tropfte. Rowisch, nannten die Pechhacker das Werkzeug, eines von vielen. Wie ein mächtiger Zauberstab war ihm dieser Holzstab vorgekommen, damals, in seinen Kindertagen. Gerrichs fein gedrechselter Stab hatte ihn auf Anhieb daran erinnert. Etwas auf dem Kerbholz haben: Das Sprichwort hatte er nie richtig verstanden. Was anderen als Makel erschien, war für ihn ein Maßstab für Erfolg.

Kerbholz, das Wort klang für ihn wie Kerbhold: Der Ketzer, der im Goldenen Wald die Menschen zum Unglauben an den Namenlosen verführt hatte und zur Strafe auf einen Fliegenden Felsen verbannt worden war. Schon als Jüngling hatte er über die Sage eher gelächelt. Kerbhold, der Name wirkte eher trollig als bedrohlich. Kein Wald war golden, außer das klebrige, übelriechende Harz. Aus dem auch der Bernstein entstand, der angeblich PRAios, dem Herrn, heilig sein sollte. Wie konnte Harz dem Götterfürsten heilig sein, wenn es kleine, unschuldige Ameisen, Fliegen und andere Insekten umfloss, erstickte und für immer in einem goldenen Kerker einschloss, wie er es selbst schon gesehen hatte? Ein durch die Lüfte fliegender Fels, die Vorstellung war ohnehin lächerlich gewesen (nun, diesbezüglich war er eines Besseren belehrt worden, damals in Wehrheim).

Wie auch immer. Die Sache mit dem Kerbholz hatte ihn nie ganz losgelassen. Er trug noch immer so einen Rowisch bei sich, auch jetzt, im Gürtel, neben dem Dolch. Eine feste Tradition, vielleicht auch eine Marotte. Nach jeder Sünde, nein, nach jeder vermeintlichen Missetat, hinterließ er dort eine weitere Kerbe, nach jedem echten Frevel ein Sternchen. Es war, als würde damit die Sünde auf das Holz übergehen. Die erste Kerbe hatte er sich erworben, als er seiner dummen, kleinen Schwester beinahe das Auge ausgestochen hatte, beim Ritterspielen. Ein Versehen.

Nun ja, vielleicht nicht ganz ein Versehen.

Die Accademia Magica Curativa, die Anatomische Akademie zu Vinsalt. Dort hatte Korwid seinen "Dottore" erworben, an der "weltlichen" Fakultät, mit Mühsal und Fleiß. Und dabei reichlich Gelegenheit gehabt, Menschen die "Rinde" abzuziehen. Die anders als die Bäume von Kurgasberg nicht mehr der Sphäre der Lebenden angehörten. Getreu dem Wahlspruch des Instituts: Hic gaudet mors succurrere vitae. Hier ist der Ort, wo der Tod dem Leben freudig zur Hilfe eilt.

Es war eine wunderbare Zeit gewesen, vor den Toren des horaskaiserlichen Palasts, in der Tausendtürmigen Stadt. Der Unterschied zur erstickenden Enge und Finsternis, die zuhause, im Raulschen Reich herrschte - nicht nur in den Kaminschächten, sondern auch in den Köpfen ihrer Besitzer - hätte kaum größer sein können. Ganz abgesehen von den vielen anderen Reizen des Lieblichen Feldes: Amore, Vino, Lautenklang und Opernsang. Der laue Sommerwind, das Zirpen der Zikaden, die prachtvollen Gewänder, die vornehme Lebensart. Die Erinnerung an die verschneiten Trollzacken war damals so unwirklich gewesen wie eine Moritat über die Zwölfgöttliche Verdammnis.

Mit Dottore Corvidio Albigundi, pardon, Doctor Alfengrund war ein anderer Mensch nach Darpatien zurückgekehrt, in mehr als nur einer Hinsicht. Eine Zeitlang hatte das einstige Kaminfeger-Kind schon auf Dere wie in Peraines Paradies gelebt.

Auch wenn bei weitem nicht jeder im Spital oder Tempel Verständnis für horasische Heil- und Forschungsmethoden aufbrachte. Heiler, die unter einem Dach mit Magiern Peraines Kunst erlernten? Heiliger Therbûn, steh uns bei! Bücher mit Geheimwissen, aus dem Reich der Rastullah-Anbeter, einschließlich einem tiefen Blick in die Leiber der Sterblichen? Praios bewahre!

Hätten diese Frömmler geahnt, wie oft er selbst zum Seziermesser gegriffen und das aufgeschnittene tote Fleisch mit Haken offen gehalten hatte, damals in Vinsalt - wahrscheinlich hätten sie ihn sofort hinauf zum Greifenplatz gezerrt. Oder gleich lebend beerdigt, drüben auf dem Boronanger.

Doctor Alfengrund hatte sich beizeiten zu verstellen gelernt. Sich mit einem Schutzmantel und einer Storchenmaske umgeben, auch im übertragenen Wortsinn. Hatte sich gewappnet, gegen das Miasma der Krankheit ebenso wie gegen die Ausdünstungen falsch verstandener Götterfürchtigkeit. Dennoch, schon seine niedere Herkunft hatte an ihm geklebt wie unsichtbares Pech. Selbst wenn diese Neidhammel und Ignoranten nicht die ganze Geschichte kannten. Sie ahnten wohl, dass er nur durch einen mächtigen Förderer in die feinsten Kreise der Fürstenstadt aufgestiegen war. Die Großzügigkeit, mit denen er dabei den Armen und Ausgestoßenen half, eingedenk seines eigenen Schicksals, reizte seine Feinde fast noch mehr, als wenn er fürstlicher Leibarzt geworden wäre.

Natürlich hatte Korwids schwindelerregender Aufstieg vom Niemand zum geachteten Bürger seinen Preis gehabt, wie alles im Leben. Gerrich hatte sich die Originalformel des TRANSMUTARE ausbedungen, die damals noch in der Accademia verwahrt worden war - ein profaner Verschönerungszauber, mit dem man die menschliche Gestalt über längere Zeit verändern konnte. Der entsprechende Geschäftszweig der Akademie war damals aufgelöst worden, wegen "mangelnder Ernsthaftigkeit der Forschungen", wie es hieß. Die Beschaffung des Folianten war verblüffend einfach gewesen, in einer Zeit des Chaos, als sich mit der lukrativen Einnahmequelle der "Fakultät" auch deren Ordnung aufgelöst hatte: das erste, wohlverdiente Sternchen auf seinem Rowisch.

Gerrich, sein Förderer. Erst nach und nach hatte er begriffen, dass ihm nicht nur seine Adelsgüter verweigert worden waren. Vor vielen Jahren hatte er auch sein Zaubersiegel verloren und die sogenannte Expurgico erlitten, den Ausschluss aus der Gilde. Seitdem hatte der "Hexer von Rommilys" neue Wege gefunden, den Inhalt seines Dukatensäckels aufzubessern. Von Glücksspiel war die Rede und all zu guten Kontakten zur Unterwelt von Rommilys. Korwid war es gleich. Wohin moralische Gefallsucht den Menschen bringen konnte, das führten ihm die bornierten, engstirnigen Rommilyser Perainediener jeden Tag aufs Neue vor Augen.

Dann war der fürchterliche Bethanierkrieg über Darpatien und das Reich hereingebrochen. Gerrich hatte sich verändert, Korwid nicht, auch wenn einige das behaupteten. Ein Krieg war im Grunde nichts anderes als ein Skalpell, das alles Morsche, Verrottete und Schwache wegschnitt - und das Innerste des Menschen zeigte, wie er in Wirklichkeit war. Hässlich, stinkend, ekelerregend. In diesem Fall half nur nüchterner, kalter Verstand über die Abgründe hinweg.

Den musste sein Mentor aber irgendwann verloren haben, in den letzten, unseligen Götterläufen. Spätestens als Lorena, seine Gemahlin, umgekommen war, in einem der vielen Hunger- und Pestwinter. Sisa, dieses verruchte Hexenweib, hatte sicherlich ihren Anteil daran gehabt. Sogar von einem finsteren Pakt mit den Mächten der Anti-Peraine war die Rede. Korwid beurteilte selbst solche Dinge nicht moralisch. Wer so verzweifelt war, seine Seele den Niederhöllen zu verpfänden, der hatte seine Gründe. Aber Wahnsinn war noch einmal etwas völlig anderes, auch und gerade da, wo er schleichend in die Herzen der Menschen kroch.

Gerrich und Sisa waren verrückt, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Das Schlimmste war, dass er, Korwid, Ihnen womöglich sogar die Ideen zu ihren wahnwitzigen Plänen eingeflößt hatte. Dieses groteske Fliegende Fass der Hexe: Was war es mehr als eine Nachäffung von Galottas Fliegender Festung, deren Zerstörungswerk er in Wehrheim selbst erlebt hatte? Erlebt und überlebt. Gerrich und seine Mätresse hatten seine Erzählung vom grauenhaften Untergang des "Stählernen Herz des Reiches" einfach nur - interessant gefunden.

Der Schmuggel dieses grünen kriechenden Schleims im Pech aus Kurgasberg: Letzten Endes war es Korwids Leben, sein altes Leben, in das sie sich nun immer mehr einmischten. Das Unheiligtum der Faulenden Monarchin des Ewigen Siechtums, das hatten sie ihm geradewegs vor den Gutshof gestellt. Schlussendlich der TRANSMUTARE: Die Thesis hatte er Gerrich beschafft, der damit vor allem sein Aussehen hatte verjüngen wollen.

Korwid hegte allerdings den Verdacht, dass Gerrichs vermeintlicher Enkel Golo nicht einmal der echte Junker von Gießenborn war. Der sollte schon vor vielen Jahren umgekommen sein, als Jünger des Namenlosen. Womöglich verbarg sich hinter dem Wiedergänger nur ein armer, ehrgeiziger Narr, der als Spielzeug in Gerrichs (oder Sisas) Klauen geraten war. So wie es ihm geschehen war, dem einstigen Pechvogel aus Kurgansberg. Ein neuer Jünger, den sie nun nach Belieben formen konnte, im Wortsinn. Einem Gerücht zufolge sollte es sich dabei um einen von Golos verflossenen Liebhabern handeln. Der wahrscheinlich auch noch stolz darauf war, nun mit schiefen Hals und selemitischer Visage über Dere zu schlurchen.

Das war alles nur noch Wahnwitz und Bosheit, ebenso wie die Räuberbande, die sich unten im Geisterdorf eingenistet hatte, und die armen Pecherdrangsalierte. Aber vielleicht hatte Gerrichs Wahnsinn auch Methode. Heiratsfähige Nachkommen waren das Kapital eines Edelmanns, ebenso wie dessen Güter. Anders als sein Großvater sollte Golo über Ländereien verfügen, irgendwo in der Sichel. Man munkelte, dass der Edle zu Rommilys seinen Enkel partout unter die Haube bringen wollte, natürlich lukrativ.

 

Korwid erreichte nun die Stelle, wo ein "Hunt" auf den Schienenreste ruhte, ein hölzerner Wagen, dessen eiserne Beschläge völlig verrostet waren. Im Inneren der primitiven Lore befand sich sogar noch etwas Abraumschutt.

Der Medicus zwängte sich vorsichtig durch die Engstelle hindurch. Nach einigen Schritten kam er zu einer Abzweigung, die nach links führte. Erschrocken duckte er sich, als scharrend ein schwarzer Schatten an der Decke entlang flatterte. Eine Fledermaus, nichts weiter. Unten in der Zweiten Sohle hatten sie ihre Kolonie, wo sie kopfüber hingen, als Geschöpfe der ewigen Nacht.

Korwid schluckte und hielt die Fackel höher, seine Waffe im Kampf gegen die Finsternis. Der Nebengang, dem er nun folgte, erinnerte ihn irgendwie an die Kamine von Rommilys, in die er damals hineingekrochen war. Ein kurzes Stück lang musste er sich auf allen Vieren fortbewegen.

Dort vorne war er auch schon: der Aufzug hinab in den Kerker, in den er Selina und die Kinder hinabgelassen hatte. In der unteren Sohle gab es keinen Ausgang. Natürlich hatte er den Gefangenen Talglichter, Wasser, Brot, Schinken und Käse mitgegeben. Sogar Decken. Aber Korwid musste zugeben, dass sein Vorgehen grausam gewesen war.

Die Seilwinde war in einem erstaunlich guten Zustand, ebenso wie das Seil selbst - vermutlich lag es an der trockenen Luft. In der Ecke lag sogar noch ein fast intaktes "Arschleder", mit dem die Bergleute einst in den schrägen Schächten nach unten gerutscht waren. Er griff nach dem kleinen Kerbholz in seinem Gürtel. Die Verschleppung der Familie des Braumeisters war die letzte Kerbe gewesen.

Die Handhaspel sah aus wie eine Brunnenwinde, der kreisrunde Schacht darunter führte senkrecht in die Tiefe. Am Seil war ein schlichter Holzkasten befestigt, der als Aufzug diente.

 

"Selina". Korwid rief lauter: "Selina!"

I-na. I-na-I-na.

"Selina Krummbacher?!"

Acher, acher, acher, seufzte das Echo. Nichts, keine Antwort. Nicht einmal Kinderweinen, wie beim letzten Mal.

Der Medicus nahm einen kleinen Stein und ließ in die Tiefe fallen. Klackernd prallte er von den Seitenwänden ab. Ein dumpfes Pocken zeigte den Aufschlag an. Besonders tief war der Schacht nicht. Immer noch keine Reaktion, kein Licht, keine Stimmen.

Der Medicus leckte sich über die trockenen Lippen. Was wollte er hier überhaupt?

Nach seinen Gefangenen sehen, sicher... und dann?

"Selina Krummbacher" sagte er halblaut und wartete, bis das matte Echo verklungen war.

"Versteht mich richtig...ich, also mir...es geht mir vor allem um Eure Sicherheit..."

Eit...eit...eit...

Befreien. Vielleicht wollte, sollte er seine Opfer ja befreien. Und dann selbst fliehen?! Seine Gedanken überschlugen sich.

Wie war er überhaupt so weit gekommen? Er war doch kein schlechter Mensch. Verlor er selber schon den Verstand? "Dottore Corvidio Albigundi" musste zugeben, dass er, der große Heilkundige aus dem Horasreich, sich wenig mit Krankheiten des Geistes auskannte. Die waren nun mal ein Fall für die Noioniten. Oder man schickte sie den Darpat hinunter, zur Halle der Austreibung nach Perricum. Dort wäre ein irrer Magier wie Gerrich sicher gut aufgehoben gewesen.

Sein "Gönner" hatte ihn beauftragt, Mutter und Kinder nach Kurgasberg zu bringen und sicher einzusperren, zu deren eigenen Sicherheit. Vielleicht machte das sogar Sinn. Wenn demnächst das Chaos in Rommilys losbrach, konnten die Krummbachers ihm sogar dankbar sein.

Vielleicht wusste der Magier ja doch noch, was er tat. Ihm verdankte sein Schüler doch alles. Natürlich würde Korwid sich niemals auf einen Pakt einlassen. Im Krieg hatte er oft genug erlebt, was Dämonenbündelei bedeutete. Aber dennoch, er hatte auch miterlebt, über welche Macht die Siebte Sphäre verfügte.

Wer heilt, hat Recht.

Wenn Peraines Macht begrenzt war, und das war sie nun mal, nach allem, was er die letzten Jahre erlebt hatte. Nun, da musste sich der wahre Heiler eben mit Mächten zusammentun, die selbst in ausweglos scheinenden Fällen noch helfen konnten. Ohne ihnen dabei zu verfallen. Wenn diesen Spießbürgern im Spital Borons Gebote wichtiger war als das Wohlergehen ihrer Patienten, wenn sie eine kalte, ausgebuddelte Leiche höher schätzten als das Leben ihrer Schutzbefohlenen, dann verdienten sie ein wenig Chaos und Geschrei.

Noch immer tat sich da unten nichts. Korwid begutachtete die Winde. Den beiden Kurbeln nach zu urteilen war sie wohl mal für zwei Bergleute gedacht gewesen. Der Medicus war sich keinesfalls sicher, ob er es schaffen würde, die stämmige Brauersgemahlin durch den Schacht wieder nach oben zu bekommen. Die Kinder, ja, die schon...

"Heee!" rief er nun nach unten, fast schon etwas zornig. "Wo seid Ihr?"

E-e-e. Ir...irr...irr....

"Ihr braucht keine Angst zu haben."

Aben. Aben. Aben.

Er warf sein Kerbholz hinab. Stille.

Klackernd schlug es auf.

Dann wieder Stille.

 

So wurde das nichts. Waren seine Schützlinge am Ende geflohen? So gut kannte er das alte Bergwerk auch wieder nicht. Es gab ein paar schräge Schächte, die runter auf die zweite Sohle führten - eben jene, für die die Bergleute ihren Lederschutz gebraucht hatten. Aber sie waren so steil, dass ein Mensch unmöglich wieder hinaufklettern konnte, ohne Hilfe von oben. Oder etwa doch?

Einen Moment lang wurde ihm heiß und kalt. Wenn die Drei fliehen konnten, und es bis nach Rommilys schaffen würden: sein Ruf wäre für immer ruiniert. Niemand würde seine wahren Beweggründe verstehen.

Es gab nur eine Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen: Er musste da runter. Und danach musste er auch wieder hinauf. Nun, er kannte sich aus, mit dem Klettern in engen Schächten und Schlöten, aus der Zeit als Rommilyser Schornsteinfeger. Mit einem Seil und schrundigen Seitenwänden, so wie hier, war eine solche Kletterpartie zu schaffen.

Er stellte die Fackel in den "Aufzug" und kurbelte ihn hinab. Langsam sank das Licht in die Tiefe.

Dann prüfte er noch einmal die Festigkeit des Seils, das einen zuverlässigen Eindruck machte, und schwang sich hinüber, über den Schacht. Einen Moment lang hing er zitternd im Nichts, suchte mit den Füßen Halt. Ein bisschen war er doch aus der Übung. Das morsche Hanf ächzte. Wenn es jetzt riss. Korwid wollte gar nicht daran denken. Ebenso wenig wie an den Wiederaufstieg.

Langsam schwand seine Unsicherheit. Nach und nach hangelte er sich nach unten, auf den Fackelschein zu, und musste dabei nicht einmal seine Füße zu Hilfe nehmen.

Erstaunlich schnell kam er auf der unteren Sohle an und nahm die Fackel an sich. Wieder ein alter Stollen. Auf dem Boden lagen der Brotbeutel, der Wasserschlauch und die Decken. Von den Talglichtern war nichts zu sehen. Also hatten sie sich wirklich auf die Suche nach einem Ausgang begeben.

Im Fackelschein offenbarten sich immer mehr Abzweigungen nach links und rechts. Korwid wurde ein wenig nervös. Das war ein regelrechtes Labyrinth, in dem er sich auf keinen Fall verlaufen durfte. Als Kinder hatten sie öfters in der Mine gespielt, trotz des strengen Verbots, aber das war oben, auf der ersten Sohle gewesen, immer in der Nähe des Eingangs. Naja, gespielt - eigentlich waren es eher Mutproben gewesen. Viel zu sehen gab es oben nicht, der Hauptgang war ein paar Dutzend Schritt hinter dem "Hunt" eingestürzt. Die wenigen Seitengänge endeten an blankem Fels. Nur ein paar Schächte führten hie und da nach unten.

Er war zum ersten Mal so tief unten - und erstaunt wie weiträumig der untere Teil des Bergwerks war, ganz anders, als er es sich damals vorgestellt hatte. Das Licht der Fackel wurde ein wenig schwächer, und Korwid nervös. Ewig konnte er hier unten nicht herumsuchen. Und ja, die Fackel würde er auch nicht mehr den Schacht hinauf bringen. Das bedeutete, dass er sich in vollkommener Dunkelheit würde zurücktasten müssen. Keine besonders erfreuliche Vorstellung.

Noch ein paar Schritt, und der Medicus stellte fest, dass auch dieser Gang eingestürzt war. Felsbrocken und Stützbalken hatten ihn vollkommen verrammelt. Korwid schluckte. Lagen seine Gefangenen am Ende darunter begraben? Irgendwie war schwer abzuschätzen, wie lange der Einsturz her war, zumindest im Flackerlicht seiner Fackel. Besonders staubig wirkte die Luft nicht.

Er wollte erneut nach den Krummbachers rufen, war sich aber keinesfalls sicher, ob dann nicht der Rest der Decke herunterkommen würde. Lawinen konnte man mit Geschrei auslösen. Er leuchtete mal in diesen, mal in jenen Gang. Fast überall lagen schon Felsentrümmer herum, hie und da war ein Stützbalken umgesunken wie eine vorgereckte Hellebarde.

Peraineverflucht, er hatte sich auf die Vernunft der eingekerkerten Krummbachers verlassen. Er blickte nach Markierungen, Pfeilen, Kreuzen oder anderen Orientierungshilfen. Nichts.

 

Langsam wurde es hier unten gruselig. Fast schon konnte er die Quader an Felsgestein, die über ihm lagen, körperlich spüren. Die Fackel brannte immer mehr herunter. Eine Ahnung von Panik breitete sich in ihm aus.

Er blickte um sich. Die meisten Quergänge sahen wirklich nicht sehr einladend aus. Um nicht zu sagen lebensgefährlich. Das musste doch auch Selina sofort begriffen haben.

Dort, der große Durchgang. Das Tragwerk schien einigermaßen intakt zu sein. Er beschloss, den Gang auf gut Glück zu folgen. Er endete in einer Aufweitung und an einem schrägen Schacht, der in die Tiefe führte.

Es gab noch eine dritte Sohle? Waren diese Narren am Ende da hinunter gerutscht? Noch ehe Korwid einen weiteren Gedanken fassen konnte, flackerte die Fackel kurz auf und verglühte.

Schwer legte sich Schwärze vor seine Augen, so überraschend, dass er nicht einmal Furcht empfand. Die vollkommene Stille und Finsternis hatte fast schon etwas Angenehmes. Nur würde es nicht auf Dauer so sein. Es war, als hätte ihm das Pechmanderl tatsächlich die Augen zugeklebt. Blind. So fühlte es sich also an, blind zu sein.

Was jetzt? Er konnte immer noch zurück, in den unteren Hauptgang, sich zum Seil tasten und wieder hinaufhangeln... wobei Klettern in vollkommener Nacht nun wirklich ein Wagnis war. Ein Absturz, ein Knochenbruch, und sein Ende würde überaus qualvoll sein. Qualvoll und langwierig. Als Futter für die Ratten, noch vor seinem Ableben.

Er konnte auch in den Schacht hineinrutschen, aber was würde es ihm bringen? Außer dass er irgendwann endgültig in den Tiefen des Kurgasbergs verschwand.

Einen Moment lang bestand die Welt nur noch aus dem Geruch von verbranntem Pech und dem Geräusch seines Atems. Ebenso aus der Angst, die langsam in ihm hochkroch. Luft, er brauchte Luft. Frische Luft, nicht diesen ewigen Gruftodem hier unten.

Boron. Natürlich. Der Herr der rabenschwarzen Finsternis war gekommen, um ihn zu holen. Ihn zu bestrafen, für seine Sünden.

Ein mattes Wimmern entrang sich seiner Kehle.

Lebendig begraben. Die gerechte Strafe für Grabräuber und Leichendiebe. Oder für deren Anstifter.

Nur langsam beruhigte er sich. Feuerstein, Stahl und Zunder. Damit hatte er die Fackel entfacht, am Eingang. Er hatte das Kästchen bei sich, in der Hosentasche. Erst nachdenken, dann handeln, darauf kam es an. Sich gründlich besinnen. Nur keine Panik.

Ratschend schlug Stahl gegen Stein. Funken sprühten in der Schwärze. Nach einigen bangen Augenblicken brannte der Zunderschwamm. Vorsichtig spähte er im Lichtschein nach dem Rückweg. Nichts wie raus hier.

Eine bleiche, hasserfüllte Fratze starrte ihn, sofort gefolgt von einem wütenden Angriff.

Es war Selina, die ihn mit dem spitzen Kerbholz attackierte, mit flackernden Augen. Und sie war kräftig.

Der Zunder fiel zu Boden und erlosch. Auch das Kästchen verschwand in der Finsternis. Schmerzhaft schrammte das Holz über Korwids Gesicht. Er stieß die verrückte Brauersgattin zurück - und taumelte selbst nach hinten. Dann fiel er ins Bodenlose.

Die Rutschfahrt im Schacht wäre schon unter besten Bedingungen unangenehm gewesen. Nun schlitterte er rücklings in vollkommener Dunkelheit in die Tiefe, den Kopf voran. Schrammte mal gegen die Wand, ruckelte mal über einen Höcker im Boden. Irgendwie schaffte er es sich auf den Bauch zu drehen: Bei der Landung wollte er sich wenigstens abfangen können, mit den Händen.

Sein Höllensturz dauerte quälend lange. Dann verschwand die Felsröhre um ihn herum, und er flog hinaus ins Nichts, wie eine Balestrinakugel. Ehe er das durchaus faszinierende Gefühl auskosten konnte, packte in Sumu und warf ihn hart und mitleidlos auf blanken Stein.

Ein paar Steinchen klackerten noch hinterher, dann herrschte wieder Stille.

Stille und Schwärze, durchzuckt von grellen Lichtblitzen. Das war der Schmerz. Sein Kopf dröhnte, die Glieder schmerzten.

Korwid tastete sich ab. Seine Gewänder waren zerfetzt, die Hände zerschrammt, ebenso das Gesicht und die Beine. Gebrochen war nichts. Wo das Kerbholz ihn getroffen hatte, blutete seine Wange. Er hatte sehr viel Glück gehabt, trotz allem.

Langsam beruhigte sich das Lichterspiel vor seinen Augen. Bis auf ein grünliches Zwielicht, das partout nicht weichen wollte.

Einen Moment lang befürchtete Korwid, dass sein Hirn einen dauerhaften Schaden davon getragen hatte, aber da vorne war wirklich Licht. Ein sanftes Gluckern und Plätschern war zu hören.

Der Medicus schöpfte neue Hoffnung und kroch los, wie ein Verdurstender in der Wüste, der eine Oase (oder eine Fata Morgana) entdeckt hatte. Ein muffig riechender, rissiger Balken versperrte ihm den Weg. Vorsichtig ertastete er sich einen Durchgang und stieg über das Hindernis. Steinbrocken kollerten unter seinen Schritten umher und ließen ihn immer wieder straucheln.

Das grüne Licht wurde heller. Korwids Zuversicht kehrte zurück.

Tatsächlich, da vorne war ein Ausgang. Ein Durchbruch.

Der Bergwanderer schwankte hindurch, und stand im nächsten Moment in einer natürlichen Höhle. Eine unregelmäßig geformte Tropfsteinhöhle, durch die ein kleiner Bach floss. Wasser war gut, er hatte wirklich Durst. Korwid trank einige Schluck, wusch seine Schrammen und Kratzer. Das koboldsgrüne Licht war seltsam. War er am Ende in die Höhle des Pestmännchens geraten?

Er folgte dem Wasserlauf. Die Kaverne weitete sich zur Säulenhalle. Der Bach wurde zum Grottensee. Wie Drachenzähne hingen Stalagtiten herab oder ragten Stalagmiten um ihn herum auf. Fledermäuse flatterten die Decke entlang.

Wie merkwürdig die Felsen geformt waren. Der dort drüben sah aus wie ein riesiger Totenschädel, dessen Maul geradewegs ins Nichts zu führen schien. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, nicht Angst. Eher Traurigkeit. Mattigkeit. Unwohlsein. Als wäre der Dumpfschädel oder eine andere Krankheit im Anmarsch. Korwid hustete.

Seltsame Zeichen waren an die Höhlenwände geschmiert. Bilder von bärtigen Riesen, die zu einer Geflügelten Gottheit beteten. Ein Götze mit unzähligen Beinen und Insektenflügeln. Vielbeiner in allen Variationen. Eine Art Kessel, aus dem grüner Rauch dampfte.

Wo kam das Licht her? Der Bach schien hinter dem See weiter zu verlaufen. Vermutlich führte er zu dem Wasserfall, den man vom Geisterdorf aus sehen konnte. Der Loderbachfall. Von dort her drang wirklich etwas Zwielicht in die Höhle.

"Habt Ihr Euch verlaufen, Doctor?" Eine spöttische Stimme, die von überall her gleichzeitig zu hallen schien. Der gewaltige Schatten eines Gehörnten ragte an der Felswand auf. Korwid zuckte zusammen. Ein Schwarm Ratten nahm fiepend Reißaus.

Der Medicus merkte, wie sich ihm endgültig die Nackenhaare aufstellten. Reflexartig griff er zum Dolch.

Ein verschrumpelter Apfel rollte Korwid vor die Füße.

"Alrik und Gritta, verirrten sich im Wald. Es war so finster, und auch so bitter kalt"

Nein, es war kein Dämon, der hier grollte. Sisa Brundel stand neben dem See. Die Hörnerhaube und die dunklen Hexengewänder ließen sie tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen, grausameren Welt aussehen. Sie hatte das Obst mit ihrem Besen geschlagen, als wäre es ein Imman-Korkball.

"Ich habe euch etwas mitgebracht, von einer Hochzeitsfeier. Das Geschenk eines einfältigen Bauern."

Der Anatom hob den Apfel auf. Auf der einen Seite sah er recht lecker aus, rot und saftig. Aber Korwid musste ihn nur ein klein wenig drehen, um die faule, wurmstichige Seite zu entdecken.

"Nun, welche Seite gefällt Euch lieber, Leichenschnippler?" Sisa lachte auf. Ihren grünen Augen leuchteten, fast im selben Farbton wie die Höhle. "Vor allem, was macht Ihr hier? Wolltet Ihr nicht auf eure Gefangenen aufpassen?"

"Ich habe sie oben in der zweiten Sohle eingesperrt."

Sisa hatte ihren Kessel dabei und packte allerhand Zauberutensilien aus: Kreide, Kerzen, übelriechende Kräuter, Pilze, Edelsteine, ein Fläschchen. Ebenso eine große Schriftrolle.

"Eingesperrt? Ihr selbst steht inmitten des Allerunheiligsten. Also erzählt mir nichts von - eingesperrt, Dottore Corvidio Albigundi. Denn ich bin sicher, Ihr seid nicht auf die selbe Weise hierhergelangt wie ich. Könnte ich den Apfel bitte wieder haben? Wenn Ihr ihn nicht verspeisen wollt, benötige ich ihn als Paraphernalium. Bei der Fäulnis von Mishkara, wie seht Ihr denn aus?"

 

"Selina hat mich einen Schacht heruntergestoßen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, mehr nicht." Korwid rollte den Apfel zurück. Sisa hob ihn auf und ritzte mit dem Fingernagel irgendein finsteres Zeichen hinein.

"Wer? Ach so, das Weib des Braumeisters. Und nun ist sie geflohen, mitsamt ihren Bälgern? Korwid, ich bitte Euch - das war keine Kriegerin oder Geweihte. Nur eine dumme kleine Spießbürgerin aus Rommilys. "

"Ich glaube nicht, dass sie das Seil hinaufkommt, das ich verwendet habe. Man muss schon ein überaus geschickter Kletterer sein."

"Der sich nicht bei erstbester Gelegenheit übertölpeln lässt, gewiss. Es gibt noch einen weiteren Schacht, in dem man nach oben gelangt, mit einer Leiter. Nach ganz oben, hinauf zum zweiten Eingang. Ebenso führt von dort ein Aufzug herab, nach ganz unten."

"Zweiter Eingang? Davon weiß ich nichts. Und ich kenne mich in der Gegend wirklich aus."

"Glaubt mir, ich auch. Immerhin steht mein Haus gleich über dem Loch. Wie sagt man dazu noch gleich? Ich glaube Pinge. Ihr wisst schon, der Trichter, der entsteht, wenn eine Grube teilweise einstürzt. Das Bergwerk ist gewissermaßen mein Keller. Aber ich kann euch beruhigen. Am Riesenfass von Rommilys kommt so schnell niemand vorbei. Es sei denn, ich will es so."

"Diese Krummbacherin ist schlau. Ich muss zugeben, ich habe sie sträflich unterschätzt. "

"Wenn es Euch beruhigt: Ich werde einen Trollberger zum Beilfelsen schicken, der nachsieht und die Drei wieder einfängt. Am Ende verheddern sie sich noch im Netz meines kleinen Haustierchens. Sicherlich ein saftiger Happen für die vielbeinige Tempelwächterin. Wenn sie nicht schon vorher von den Gruftasseln gefressen werden. Es wäre schade um das schöne Blut."

Korwid schluckte. "So wollt Ihr das Ritual also wirklich vollführen? Ich wusste gar nicht, dass man dafür... dass es dafür Menschenopfer braucht."

"Nun, die Zeremonie fordert vor allem astrale Kraft - und dafür benötigen wir Blutmagie. Leider ist Gerrich ein wenig ausgebrannt, nach der letzten Begegnung mit Eurem Patienten. Er hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt seinen Enkel zu verheiraten...ach, das ist eine längere Geschichte. Es gab einen Kampf, am Darpat, mit Müh und Not konnten wir das Schiff retten. Wenn auch kaum mehr. Um ein Haar hätte dieser Jodokus auch noch meine arme Glibberta ertränkt." Sisas Augen loderten vor Hass, als sie die Kröte aus ihrem Körbchen holte, gefolgt von einem liebevollen Blick. Die Hexe drückte ihrem Vertrautentier einen dicken Kuss aufs Maul - ohne sich dabei die eigenen, bläulichen Lippen zu verbrennen.

"Dieser herzlose Schurke. Wenn sich Glibba nicht auf einen vorbeitreibenden Ast gerettet hätte... wer weiß, wie das ausgegangen wäre... das wird mir Jodokus büßen, dafür werde ich sorgen...ich werde ihn persönlich den Loderbachfall hinunterstoßen. Ihm vorher die Haare herausreißen, jedes einzeln, die Fingernägel ziehen, die Zehen zerquetschen, die Augen herauskratzen. Von den Flüchen ganz zu schweigen. Leiden soll er, leiden. Ich werde..."

"Wolltet Ihr nicht sein Bier mit diesen Hektabeloiden vergiften?"

"Sicher, das wäre die sanftere Variante gewesen, um die Rommilyser zur Unterwerfung zu zwingen. Aber der Wind steht heute Nacht günstig, um die Grüne Wolke geradewegs in die Grafenstadt zu treiben. Der Sieche Regen wird der Herrin gefälliger sein als diese umständliche Vergifterei. Ihr wisst, was ich von allzu langen Incubationszeiten halte. Auf diese Art lässt sich am besten Angst und Panik erzeugen: Wenn es aussieht, als ob sie alle gleichzeitig die Zorganpocken bekommen. Zu Tode trampeln wird sich das Pack, es wird ein wundervolles Heulen und Wehklagen geben."

Korwid wich ein wenig zurück. "Die Rede war nur von einer Lektion, nicht dem Untergang von ganz Rommilys, im Schleimregen."

"Oh, das habe ich ganz vergessen, werter Herr Medicus. Euer Haus ist zwischenzeitlich in Flammen aufgegangen, ebenso wie der Schrein der Bienenkönigin. Die Häscher haben sich längst auf Eure Fersen geheftet. Ihr könnt nicht mehr allzu wählerisch sein - und nicht mehr allzu zimperlich."

 

Alrik hatte den Gefährten nur eine kurze Ruhephase gegönnt. Gerrich hatte einen Vorsprung, und seine Gefangenen waren in Gefahr. Nachdem er von Haldana erfahren hatte, wie diese den Hexer mit ihrer Taktik des Zeitverzugs geschwächt hatte, und nach dem, was er in all den Jahren von Hesindian über das Wirken schwarzer Magie - zumindest theoretisch - erfahren hatte, befürchtete der Friedwange, dass die Gefangenen Wanderprediger in Lebensgefahr sein könnten. Er wusste nicht, ob sein schurkischer Verwandter Blutmagie beherrschte oder gar darauf zurückgriff. Ausschließen konnte er es jedoch nicht, dass ein geschwächter Schwarzhexer in der Not sich auch der Blutmagie bediente, und so sah er, anders als am Vorabend, Grund zur besonderen Eile. Nun, am Vorabend, bei Dunkelheit und erschöpft vom langen Ritt, wäre eine Verfolgung letztlich nicht möglich gewesen, beim besten Willen nicht. Nun aber wollte Alrik keinen längeren Aufschub dulden.

Eine halbe Tagesreise stromabwärts sollte dieses Kurgasberg liegen. Bis dahin würden jedenfalls ihre Kleider nach dem abermaligen Durchreiten der Furt durch den Darpat wieder trocken sein. Immerhin, ausgerüstet war die Schar für eine mehrtägige Unternehmung in den Trollzacken. Proviant, Seile, Decken und einiges mehr hatte Rovik, der emsige Zwerg, am Vorabend trotz der späten Stunde noch aufgetrieben. Und so ritten die Gefährten in den ersten wärmenden Praiosstrahlen am rahjawärtigen Darpatufer entlang.

Für Alrik war es immer noch ein seltsames Gefühl, in der jungen Haldana nicht mehr eine abenteuerlustige Bardin, sondern eine angehende Baronin zu sehen. Anfangs hatte er sich gefragt, warum Haldana und ihre Gefährten sich dann für einige Silberlinge Sold der Queste angeschlossen hatten. Aber dass die junge Adelige nach ihrer Abschlussprüfung an der Markgräflichen Knappenschule ein Rohalsjahr eingelegt hatte, nun ja, sicher nicht das Alltäglichste für eine angehende Baronin, aber auch nicht gänzlich ungewöhnlich. Vermutlich wollte Haldana auch einfach ein Jahr lang frei von allen sonstigen Verpflichtungen sein. Wenn er sich da an seine Brabaker Zeit erinnerte - sicher, er hatte sich sein „Rohalsjahr“ nicht freiwillig ausgesucht. Aber er mochte die Erinnerungen daran und vor allem auch die Erfahrungen daraus nicht missen. Sich damals in den Gassen behauptet und durchgesetzt zu haben, dagegen waren manchmal die Verhandlungen mit den Dorfschulzen und Edlen in Friedwang das reinste Ogermethschlecken. Die Erfahrungen damals hatten ihn durchaus fit gemacht für seine Aufgabe als Baron. Warum also sollte eine ähnliche Erfahrung Haldana nicht gleichermaßen nützlich sein? Wobei er, wie er den Erzählungen der Bardin - in Gedanken war sie für ihn immer noch mehr Bardin als Baronin - ihr Rohalsjahr vor allem auch dazu nutzen wollte, ein Jahr lang sie selbst sein zu können. Als Baronin erwartete sie - das wusste er nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - ein Leben, das an den Anforderungen des Amtes und den Erwartungen der Bevölkerung wie auch anderer Adeliger orientiert war. Alles im Leben eines Adeligen war fremdbestimmt und an den Erwartungen anderer ausgerichtet. Eigene Wünsche zu haben war ein Luxus, den sich eine Baronin oft nicht leisten konnte. Zuerst würde Haldana damit konfrontiert werden, einen Mann heiraten zu müssen, den ihre Familie für sie aussuchte und der ihre Hausmachtposition stärkte. Egal, ob dieser Mann ihr nun irgendwie sympathisch war oder auch nicht. Alrik konnte verstehen, dass das für eine Baronieerbin mitunter mehr eine Belastung war. Nicht zuletzt da sie in einer konservativen Umgebung wie dem ländlichen Wehrheimer Land oder dem Sichelhag - die traviagefällige Frömmigkeit einhalten musste. Da hatte er selbst noch Glück gehabt mit der ihm angetrauten Serwa, mit der er sich immerhin gut vertrug und die - auch wenn seine Serwa ebenso wie er mitunter ihre eigenen Wege ging, ihm Respekt und Freundschaft entgegen brachte. Serwa hatte sich nicht daran gestört, dass Alrik Liebschaften nebenher und sogar Bastardkinder hatte. Natürlich hatte er seiner Gemahlin das gleiche Recht eingeräumt und auch nie die Frage gestellt, ob er tatsächlich der Vater von Serwas Kindern war. So gesehen, Serwa und er hatten miteinander durchaus Glück gehabt. Ein Glück, das aber nicht jeder Baron oder jede Baronin hatte. Und wie er wusste war Golo nicht der erste, der Haldana allein des Erbes wegen heiraten wollte, ohne nach ihrem Willen zu fragen. In den Kriegswirren der Wildermark hatte sich schon einmal ein Edler darum bemüht, die damals noch kindliche Haldana als Verlobte zugesprochen zu bekommen. Nichts ungewöhnliches, manche Adelsfamilien verlobten ihre Kinder miteinander, noch ehe sie von der Mutterbrust entwöhnt waren.

Nun, vielleicht war es da irgendwie sogar vom Schicksal nicht schlecht gemeint, dass Haldana nunmehr… Alrik dachte nach. War Golo tot? Oder lebte er noch. Als Witwe würde Haldana jedenfalls bei einer späteren Eheschließung keiner mehr fragen, warum sie nicht unkeusch geblieben war. Der Schicksalsschlag, den die junge Adelige erlitten hatte, konnte sich vielleicht gar als befreiend für sie erweisen. Langfristig jedenfalls.

Und… wenn Golo tatsächlich tot war, und in Gießenborn der Erbfall anstand… Alrik dachte schon wieder strategisch. Würde eine Edle von Schnayttach-Binsböckel zu Gießenborn, in Personalunion Baronin zu Schlotz, ihm etwas nützen? War sie eine wertvolle Verbündete in seiner Hausmachtpolitik gegenüber Bishdarielon, seinem Bruder, der den Norden Friedwangs beherrschte? Nutzte ihm das, um seine Position zwischen den alten Baernfarns in der reichen Stadt Gallys und dem aufstrebenden Haus Oppstein besser behaupten zu können? Oder würde er sich damit nur eine dritte Partei in die Baronie holen, die das fragile Gleichgewicht der Mächtegruppen gefährdete? Ließe sich hier ein Stein im Spiel der Throne setzen, der ihm zum Vorteil gereichen würde? Immerhin war davon auszugehen, dass eine künftige Baronin Haldana zu Schlotz, nach den gemeinsamen Ereignissen, eher seine Verbündete als die Bishdarielons werden würde. Gegenwärtig stand er in Friedwang seinem Bruder Bishdarielon gegenüber, seinerseits gestärkt durch das Bündnis mit den Baernfarns aus dem südlichen Gallys. Bishdarielon hatte seine Position durch die Ehe mit dem einflussreichen Haus Mersingen gestärkt. Wenn nun Alrik auch die Baronie Schlotz auf seine Seite zog und damit das Haus Binsböckel… Dann konnte er sich vielleicht gegenüber seinem Bruder durchsetzen bei der Regelung der Erbfolge in Friedwang. Alrik dachte schon wieder weit in die Zukunft, den möglichen dritten Schritt vor dem tatsächlichen ersten tuend. Aber nur wer klug voraus zu planen und zu denken in der Lage war, konnte sich so lange wie er auf dem Thron halten. Zunächst einmal hatte er hier eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die, erfolgreich beendet, ihm das Wohlwollen der Markgräfin sichern konnte. Und wenn dabei zugleich mit Golo ein Adeliger Friedwangs, der sich nie mit ihm verbünden würde - und den er auch nie als Verbündeten akzeptieren würde - über das Nirgendmeer ziehen würde, dann wäre das sicher von Vorteil. Und das noch nicht einmal allein aus machttaktischen Erwägungen, sondern weil Golos Tod die immer noch bestehende Gefahr von den Anhängern des Namenlosen, sie auch nach dem Ende der Wildermarkära noch nicht gänzlich besiegt waren, nachhaltig schwächen würde.

Nur eines wusste Alrik. Wenn Golo tot war, dann stand es in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die, wenn auch zwangsweise, erfolgte Eheschließung Haldanas und Golos rechtlich Bestand haben würde. Er konnte Haldana damit den Skandal der Unkeuschheit ersparen. Und er konnte sich damit in einem wichtigen Edlengut seiner Baronie eine treue Gefolgsfrau sichern. Wie es unter Phexdienern hieß: eine Hand wäscht die andere. Nun, man würde sehen. Alrik würde das jedenfalls im Blick behalten. Wenn Golo tatsächlich tot war, dann würde er in einem geeigneten Moment unter vier Augen (der einäugige Baron sollte vielleicht besser unter drei Augen sagen) über die Ränke der Politik reden. Aber jetzt galt es erst einmal, Gerrich zu finden und zu besiegen.

Was Alrik unter seinen Gefährten am meisten überraschte war, dass Haldana und Jodokus nunmehr, da Jodokus um Haldanas wahre Identität wusste, miteinander völlig offen und unbefangen umgehen konnten. Wie eben Verwandte, die sich einfach länger nicht mehr gesehen haben, aber die sich ungezwungen über alle Tanten und Onkels, Großkusinen und Oheime und Großmütter und alle anderen Angehörigen der weitläufigen Familien Baernfarn und Binsböckel austauschten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Irgendwie fast - wie Geschwister. Jodokus war nicht mehr der zurückgewiesene Liebhaber, auch nicht mögliche reiche Verehrer einer entlaufenen leibeigenen Musikantin, und Haldana war nicht mehr in der selbst gewählten Verpflichtung, dem Cousin ihre Herkunft zu verschweigen, ständig darauf achtend, nicht zu viel über sich Preis zu geben. Und damit hatte sich jede Spannung zwischen den beiden in Luft aufgelöst. Beide schienen sich in der neuen Rolle zueinander wohler zu fühlen. Der missglückte gemeinsame Abend, der gerade zwei Tage zurück lag, schien völlig vergessen zu sein.

Das ganze schien den „Anstandsnivesen“ Tuvok ein wenig zu verwirren, der ´seine´ Haldana fröhlich und unbefangen mit dem Stadtgeck, wie er das sagen würde, plaudern sah. Vermutlich war der sonst eher schweigsame Waldläufer keiner, der Gefühle bei seinen Mitmenschen verstehen oder deuten konnte. Das wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Tuvok war Jäger, nicht Seelsorger. Aber er schien sich damit zu arrangieren.

Und Rovik, der gesellige Gemütsmensch (nein, Gemütszwerg) war ohnehin eine immer fröhliche Seele, der ungezwungen und optimistisch in die Zukunft blickte. Irgendwie mochte Alrik den kleinen bärtigen Gesellen, der wenig Fragen stellte und immer mit der Hand oder der Axt den Gefährten hilfreich zur Seite stand.

Nun, auch das war für Alrik eine gute Entwicklung. Nichts konnte er weniger gebrauchen als Zwist unter den Leuten, mit denen er vielleicht bald einem gefährlichen Schwarzmagier gegenüber treten würde.

Nach drei Stunden - Alrik hatte während des Rittes so viel über die Angehörigen der Familien Baernfarn und Binsböckel gehört, wie sonst in einem halben Jahr nicht - machte Tuvok, der von allen die schärfsten Augen hatte, ihn aufmerksam auf ein knappes Dutzend Menschen, die ihnen, einige Meilen entfernt, auf der Straße entgegen kamen.

Ja… Wanderer, Reisende. Das ist eine Handelsstraße. Natürlich werden wir auch anderen Reisenden begegnen. Aber Danke. Siehst du Grund zur Besorgnis?“ Alrik dachte sich nichts dabei, andere Reisende zu sehen. Dass sie bislang noch niemandem begegnet waren, mochte an der frühen Aufbruchszeit liegen, jedoch sicher nicht an der Route. Erst nach dem Abzweig nach Kurgasberg waren weniger Reisende zu erwarten.

Es… Nun… sie sind noch zu weit weg, als dass ich sie erkennen könnte. Aber… der vorderste hat eine auffällige rote Hose an. So wie einer der Matrosen auf der Flusshexe. Es könnten Matrosen von der Flusshexe sein.“

Alrik zog die Augenbraue hoch. „Könnte sein“ brummte er. „Neun oder zehn, kannst du sie genauer zählen?“

Neun. Wenn sich keiner versteckt hat“

Sieht nicht so aus. Sie gehen auf der Straße, in unsere Richtung. Wer einen Hinterhalt vorbereitet, zeigt sich nicht so offen. Aber, du hast Recht. Wir müssen vorsichtig sein.“

Sollen wir uns vorsichtshalber verstecken?“ hakte Rovik ein.

Nein“ beschied Alrik. „Wenn sie es sind… dann sind wir immer noch im Auftrag des Grafenhofs unterwegs. Sie haben uns gestern nicht angegriffen. Warum sollten sie es heute tun. Gestern waren es eher Zwanzig gegen uns fünf, mit Hexer und Hexe und Gefangenen, auf ihrem vertrauten Schiff. Heute sind es neun gegen sechs und ohne Hexer im Hintergrund. Überraschen können sie uns ohnehin nicht. Wenn sie sich von der Straße entfernen, kriegen wir das hier im offenen Gelände mit. Und selbst wenn sie jetzt feindlich eingestellt sind… Wenn ein Bogenschütze, ein Axtkämpfer, drei in der Fechtkunst ausgebildete Adelige und ein Magier mit ein paar Matrosen nicht fertig werden, dann weiß ich auch nicht mehr! Wenn es tatsächlich Matrosen von der Flusshexe sind, dann sollten wir ihnen besser auf den Zahn fühlen. Die werden vor der Obrigkeit schon kuschen. Haben sie gestern ja auch getan.“

Ja, du magst Recht haben“ stimmte Jodokus zu. „Besser, wir bleiben in der Rolle von gestern. Wir sind zudem beritten, selbst im Schlimmsten Fall könnte das Fußvolk uns gar nicht aufhalten.“

Inzwischen waren die wärmenden Strahlen Praios kräftiger geworden, und die Kleidung der Gefährten war getrocknet. Anders als am Vortag war Haldana nicht mehr im Hochzeitsgewand gekleidet - das hatte sie der Besitzerin zurück gegeben, zusammen mit einigen Münzen als Entschädigung für den erheblichen Reinigungsaufwand - sondern hatte wieder die lederne Reisegewandung angelegt, die sich in ihrem Bündel befand, das Tuvok seit der Entführung mitgenommen hatte. Auch das Rapier steckte jetzt wieder in der Schulterscheide.

Tuvok hatte vorsorglich die Sehne auf den Bogen aufgezogen und war die Pfeile in seinem Köcher durchgegangen - einen Teil der Pfeile, die er beim vergangenen Gefecht verschossen hatte, hatte er wieder gefunden. Nur nicht die, die auf dem Schiff oder im Fluss verblieben sind. Allerdings hatte Tuvok zwei Dutzend Pfeile in Hausen erstanden. So war er für kommende Gefechte gut ausgerüstet.

Für Jodokus hatte Rovik in Hausen noch eine lederne Rüstung erstanden. Der Patrizier hatte Rommilys mit standesgemäßer Kleidung verlassen, sich aber nicht auf ein wirkliches Gefecht vorbereitet. Das gerüschte und bestickte Hemd ließ ihn sicher gut aussehen, aber für ein Gefecht war es wohl nicht das Richtige. Da bot der lederne, mit Schnallen und Nieten besetzte Kittel doch deutlich mehr Schutz. Und Jodokus mochte ein Händler sein. Ein wenig Umgang mit der Klinge zu erlernen war dennoch üblich in seiner Familie, selbst wenn er nicht wie seine Schwester als Baronin der Markgräfin Heeresfolge leisten musste.

Im Näherkommen erkannten die Gefährten, dass die zu Fuß auf dem Karrenweg dahin ziehenden Männer und Frauen tatsächlich Matrosen der Flusshexe waren - die ihrerseits aber keine feindselige Haltung zeigten, sondern sich respektvoll ganz auf die rechte Seite der Straße zusammen drückten und im Gänsemarsch hinter einander liefen, um den Reitern keinesfalls in die Quere zu kommen. Aha, dachte Alrik. Hat der Auftritt gestern Abend also Eindruck gemacht. Immerhin. Alrik setzte sich im Sattel aufrecht und mit Respekt heischender Körperhaltung hin und setzte sich mit einem kurzen Galopp an die Spitze der Gefährten. Dann hob er die linke Hand, um seine Gefährten ebenso wie die Matrosen zum Halten zu bewegen, während er lässig die Zügel in der rechten Hand hielt und sein Ross elegant zum Stehen brachte. Selbstsicher und souverän im Auftritt, wie man sich einen gräflichen Abgesandten eben vorstellte.

Seid gegrüßt in Praios Namen!“ Alrik verwendete die Grußformel mit Praios üblicherweise nicht, aber hier schien der Bezug auf den Götterfürsten ihm angebracht, und blickte dem Vordersten der Flussschiffer in die Augen. „Ihr seid von Bord gegangen? Was ist vorgefallen? Was kann er rapportieren?“ Alriks Stimme klang ruhig und befehlsgewohnt.

Der angesehene Flussschiffer senkte den Blick. Gut, dachte Alrik. Klappt also weiterhin. „Herr“ begann der Angesprochene „Verzeiht, Herr, aber… nach dem wir gestern gesehen haben, wer der Schiffseigner…“ stammelte er.

Wir sind einfache Flussschiffer“ erklärte ein anderer, etwas weniger eingeschüchtert. „Wir steuern, stakten oder treideln das Schiff, wir beladen und entladen die Ware, aber was gestern geschehen ist… wir halten unseren Kopf nicht hin, wenn der Eigner sich mit… mit schwarzer Magie einlässt. Oder mit Dämo… mit was auch immer.“

Da habt ihr Recht gehandelt“ stellte Alrik lobend fest. „Ihr habt also die Heuer gekündigt?“

Ja.“ Raunten einige der Schiffersleute.

Gut so. Aber gestern waren mehr Matrosen auf der Flusshexe. Also haben nicht alle den Kahn verlassen?“ Alrik nutzte die Gelegenheit, Informationen über die Flusshexe und die verbleibende Besatzung zu erlangen. Fragend und zum Reden auffordernd blickte er in die Runde der Matrosen.

Ähm, nein. Wie stellt ihr Euch das vor, Herr. Mit einem Hexer verhandeln? Der hätte uns vielleicht verwandelt, vielleicht verhext. Nein. Wir neun sind… einfach über Bord gesprungen und an Land geschwommen. Getürmt. Den Abgang gemacht. Wir sind einfache Leute Herr. Wir stellen auch keine Fragen an den Kapitän oder Eigner, aber mit den unheiligen… nein, damit haben wir nichts zu tun.“

Aha. Ja. Ihr habt wohl klug gehandelt. Ihr hättet kaum etwas ausrichten können gegen Gerrich. Aber sprecht, wie viele Matrosen sind noch an Bord? Diese haben wohl keine Probleme mit einem Schurken als Befehliger?“ insistierte Alrik.

Das weiß ich nicht… nicht jeder kann schwimmen. Vielleicht haben manche der Mannschaft auch einfach Angst?“ stammelte ein rothaariger dicker Mann.

Noch acht Matrosen waren an Bord. Jedenfalls als wir getürmt sind.“ Ergänzte ein anderer.

Und die Traviapilger?“ forschte Alrik nach.

Die hat Gerrich gleich zu Anfang unter Deck gebracht. Gleich nach dem, ähm, Ablegen. Hat sie eingesperrt in einem Lagerraum.“

Acht Matrosen, sieben Pilger. Und die fünf Barbaren. Sonst noch jemand an Bord der Flusshexe?“

Einhelliges Schulterzucken war die Antwort.

Hmm. Und jetzt? Seid ihr auf dem Weg nach Rommilys?“

Ja, Herr. Wir suchen eine neue Heuer, irgend ein Flusskahn braucht uns hoffentlich. Oder vielleicht gibt es im Hafen Arbeit.“

Recht so. Gut. Wenn ihr nach Rommilys kommt, dann berichtet im Kontor des Hafenmeisters über die Vorfälle an Bord, und alles was ihr sonst über die Flusshexe wisst. Dort soll man erfahren, was für einen finsteren Schurken man hat anlegen lassen.“

Einhelliges Nicken.

Wo befindet sich die Flusshexe jetzt? Kurgasberg?“

Ja, vermutlich. Jedenfalls hat Gerrich das Schiff dorthin lenken lassen. Aber natürlich wissen wir das nicht genau.“

Alrik nickte. Viel mehr würde er aus den Matrosen wohl nicht heraus holen können an Informationen.

Gut. Dann soll es das jetzt sein. Wie schon gesagt, man weiß Bescheid und kann sehr gut unterscheiden zwischen einem Schurken und einem einfachen Flussschiffer. Ihr habt also nichts zu befürchten. Dass der eine oder andere seine Seele in einem Tempel der Zwölf erleichtert, kann aber dennoch nicht schaden.“ Die richtige Mischung von herrschaftlicher Strenge und verständnisvoller Milde in der Stimme des Friedwangers war beabsichtigt. „Ich werde mich aber erkundigen, ob ihr in Rommilys beim Hafenmeister vorgesprochen habt.“ Alrik wollte sicher gehen, dass die Matrosen tatsächlich in die Markgrafenstadt weiter zogen.

 

"Wie, Knoppsberg? Was hat sie da gerade gesagt?"

Alriks Kopf tauchte hinter dem mächtigen Rad des Fuhrwerks auf. Gerade eben hatte er mit Hilfe seiner Gefährten den Wagen zurück auf die Landstraße gewuchtet. Zusammen mit der Fuhrfrau und ihrem Begleiter, die vom Weg abgekommen und in einem tückischen Schlammloch gelandet waren. Die beiden mächtigen Darpatrinder, die den Karren zogen, wären sicherlich kräftig genug gewesen, ihn aus der Falle zu befreien - aber das Rad hatte sich immer tiefer eingewühlt.

Sattgrün ragten Bäume und Hecken auf beiden Seiten des Weges auf.

Die Fuhrfrau, eine kräftige, bäuerlich wirkende Frau mit struppigen braunen Haaren, Sommersprossen und wettergegerbten Gesicht, tippte sich mit der Peitsche an den Hut.

"Ich sagte: Seid bedankt für Eure Hilfe. Mögen Euch die Götter dafür entlohnen."

"Keine Umstände" Der Friedwanger zückte wieder mal seine Pfeife und begann sie zu stopfen.

"Aber ich meinte etwas anderes. Sie sagte gerade, sie käme von Knoppsberg rauf?!"

"Jau, is nicht mehr weit bis dorthin. In zwei, drei Stunden seid Ihr dort. "

Alrik zündete einen Span an, versenkte die Flamme im Fuchskopf und begann zu paffen. Knoppsberg, lag bereits in der Markgrafschaft Perricum.

"Wir wollten eigentlich nach Kurgasberg." Jodokus wischte sich die schlammigen Hände mit einem Büschel Gras sauber.

Die Fuhrfrau zuckte mit den breiten Schultern. "Nie gehört...Komm aber auch ausm Süden. Gluckenhang. Muss wieder weiter, tutmirleid. Kurgasberg, nee, nie gehört. Fahr aber auch meistens die Südroute, Richtung Dergelmund und Perricum."

"Was habt Ihr denn geladen?" fragte der Baron, um das Gespräch am Laufen zu halten.

"Wolle. Nachschub für die Spinnräder in Rommilys."

"Aber der Efferdgeweihte hat doch gesagt..." Der Einwand kam von Haldana. "Es hieß doch, bis nach Kurgasberg sei es eine halbe Tagesreise die Handelstraße runter. Und dann gibt es eine Abzweigung in die Berge. Ein alter, verlassener Bergwerksort… Ein Geisterdorf..."

Die Fuhrfrau schüttelte ratlos den Kopf: "Markt Knoppsberg, da gibts eine Burg, wo der Herr Leomir residiert, der Vogt. Aber von nem Bergwerk hab ich noch nie gehört...Und verlassen ist Knoppsberg auch nicht. Netter Marktflecken...Die ham dort die allerbeste Räucherwurst."

"Falswegen, ein sprechender Name..." Alrik tätschelte eines der braune Rinder und ließ einige Rauchkringel aufsteigen.

Hatte der Efferdgeweihte am Ende Kurgasberg mit Knoppsberg verwechselt? Sah fast so aus.

Ritten sie hier die ganze Zeit in die Irre? Der Darpat zur Rechten war in weite Ferne gerückt, stattdessen schimmerten dort Sümpfe, Tümpel und die Altarme des Hauptstroms, zwischen lockerem Auenwald. Zur Linken ragten steile Felsenhänge auf: die erstaunlich hohen Ausläufer der Trollzacken. Vor etwa einer halben Stunde hatten sie einen dichten Wald hinter sich gelassen. Dann waren sie den Flussschiffern begegnet, und kurz darauf dem "gestrandeten" Fuhrwerk. Die Gegend sah eigentlich ganz manierlich aus: eine Landstraße, begrenzt mit Hecken, Bäumen, Steinmäuerchen. Dahinter erstreckten sich Äcker und Hangweiden. Ab und zu läutete eine Kuhglocke. Wäre das Felsgestein, das hie und da emprragte, schwarzgrau gewesen und nicht grauweiß, man sich leicht in der Sichel wähnen können.

Waren sie auf dem richtigen Weg? Auch Flarion war keine Hilfe gewesen: Angeblich war der Käpt´n noch nie selbst in Kurgasberg gewesen. Er wusste nur, dass das Geisterdorf in den Bergen auf der Ostseite des Darpat lag, und es zumindest zwei Wege dorthin gab. Ein Karrenweg, irgendwo von Neuborn aus, und eine Abzweigung weiter südlich, wo der Weg schlechter wäre. Die einzige Abzweigung, an der sie vorbeigeritten waren, hatte in Richtung Darpat geführt - wo es sicherlich niemals ein Bergwerk gegeben hatte.

"Nun, edle Herren und Dame" Der Begleiter der Fuhrfrau, ein bärtiger, drahtiger Zackenländer deutete eine Verbeugung an. "Wenn Ihr uns vielleicht sagen könntet, was Ihr in diesem Krugsberg..."

"Kurgasberg..."

"....an diesem Ort anzutreffen erhofft."

Alrik wechselte einen Blick mit Jodokus und nickte.

"Wir sind einer Räuberbande auf den Fersen", sagte der junge Baernfarn. "Die im Geisterdorf ihr Versteck haben sollen. Ein Haufen buntbemalter Trollberger..."

Der Bärtige blickte versonnen: "Trollzacker? Klingt eher nach Gorbingen...ebenso wie dieses...Kurgasberg."

Seine Begleiterin kicherte, ein wenig verschroben. "Gorbingen? Jau, das passt. Das gibt es nämlich auch nicht."

Alrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Von dem augenzwinkernden Sprichwort hatte er mal gehört. Die Baronie Gorbingen galt als derart abgelegen, dass sie angeblich gar nicht existierte. "Es sind Trollberger, keine Wilden, auch wenn sie offenbar diesen Eindruck erwecken wollen. Sie sind wohl beritten, und..."

Dumpfes Pferdegetrappel lenkte ihn ab. Die Hand des Einäugigen ging zum Rapier: Wenn man vom Namenlosen sprach !? Auch die Darpatbullen schnaubten und blicken mit großen, dunklen Augen über ihre höckrige Schulter.

Alriks Gefährten gingen links und recht des Weges in Kampfstellung. Tuvok stellte sich hinter eine halb eingesunkene Steinmauer und legte einen Pfeil auf die Sehne. Der Mondschatten warf einen Blick auf die Ladefläche, mit den wollgefüllten Säcken. Das Fuhrwerk auf der Straße würde den Ansturm von Reitern sofort bremsen, als Wellenbrecher. Notfalls konnten sie sich hinter die hohe Ladefläche zurückziehen - auch wenn die Wollladung und die hohe Plane sicherlich lichterloh brennen würden, bei einem Angriff mit Feuer. Aber momentan waren sie im Vorteil.

Ihre eigenen Pferde, die an einem Gatter festgebunden waren, stampften nervös auf und hoben bockend die Köpfe.

Der Bärtige zog eine Armbrust aus dem Fuhrwerk, die Fuhrfrau griff zum Kurzschwert und entrollte ihre Peitsche (was sie ein wenig wie ein weiblicher Heshthoth aussehen ließ).

Dann trabten die Reiter auch schon heran. Es war fast eine ganze Lanze, acht Männer und Frauen, in blauen und roten Waffenröcken, wippende Federbüsche auf den Helmen. Erdbrocken flogen von den Hufen ihrer Rösser: edle Reittiere, die Alrik schmerzhaft an Ruß erinnerten, sein schwarzes Shadif, das in der Schlacht am Arvepass geblieben war.

Der spitzbärtige Anführer hob die behandschuhte Rechte, und die Kavalkade stoppte. Wie Strauchdiebe oder Marodeure sahen die Neuankömmlinge nicht aus: Die Haltung war tadellos und kerzengerade, die rondrianischen Blicke hätten jedem Schlachtengemälde Ehre bereitet. Alrik stellte fest, dass er den Anblick disziplinierter, regulärer Soldaten irgendwie nicht mehr gewohnt war.

Streng genommen sah eher seine, nun ja, Halblanze aus wie eine Rudel heruntergekommener Strolche. Alrik klopfte die Pfeife aus und verstaute sie an seinem Gürtel.

Der Befehliger lenkte sein Pferd zur Seite, seine Hand ging zum Säbel. "Was ist hier los, in Rondras Namen?"

Es schien einige Herzschläge zu dauern, bis der junge Spitzbart merkte, dass er nicht Zeuge eines Überfalls auf der Zackenberger Landstraße wurde

Der Phexgeweihte lüpfte formvollendet seinen Federhut. "Alrik Tsalind von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, Baron zu Friedwang", sagte er freundlich, buchstäblich entgegenkommend. "Das Fuhrwerk hier ist vom Weg abgekommen, wir haben geholfen."

Einen Moment lang kämpfte Misstrauen mit Verstehen, im Gesicht des Unteroffiziers. Als die beiden Fuhrleute die Geschichte bestätigten, nickte er knapp.

"Serdan Noris Burgschall, Weibel II. Lanze, 6.Schwadron Markgräflich Perricumer Grenzreiter" schnarrte er formvollendet, schlug mit der Faust gegen seine Brust und verneigte sich. "Euer Hochgeboren…"

Nun vermochte Alrik das Wappen auf dem Waffenrock zu erkennen: Auf der Herzseite zeigte es ein steigendes silbernes Pferd auf rotem Grund. Die heraldisch linke Seite zierte der gekrönte, silberne Delphinkopf über gekreuzten Säbeln, auf meerblauem Grund. Das Wappen der Markgrafschaft Perricum.

Einen Moment lang verzog Alrik das Gesicht. Immerhin war er der Enkel Sangive von Gluckenhangs. Somit Abkömmling einer Baronie, die mal tiefstes Süddarpatien gewesen war, und nun den Besitz Markgraf Rondrigan Paligans mehrte: Kaiserlicher Gemahl, Nachfahre Al´Anfanischer Granden, Reichsgroßgeheimrat. Alle drei Punkte schmerzten den altdarpatischen Edelmann: Primo, dass ein Herzstück des stolzen, Jahrhunderte alten Fürstentums wie eine Morgengabe den Besitzer gewechselt hatte. Secundo, dass es nun zu den Ländereien eines "Paligan" zählte - ein Name, den er, der in die Sklaverei verkaufte "Nachtfuchs" aus Brabak, kennen und fürchten gelernt hatte. Tertio, dass Rondrigan als Reichsgroßgeheimrat in die Fußstapfen eines Dexter Nemrod getreten war, seines einstigen Grafen und stillschweigenden, überaus stillschweigenden Gönners.

"Perricumer Grenzreiter? Seid Ihr nicht ein wenig arg weit nach Norden geraten?" entschlüpfte es dem Schwarzsichler Baron.

Wenn Burgschall die Stichelei erahnte, ließ er es sich nicht anmerken. "Serdan Noris Burgschall" sah wirklich aus, wie Alrik sich einen Perricumer "Fischkopp" vorstellte: Glatt und stromlinienförmig wie ein Delphin, schneidig wie die Klingen im Markgräflichen Wappen. Zugleich aber gutherzig, aufrecht, edel und idealistisch. Ein Fischkopp war der Weibel eigentlich auch nicht, sondern ziemlich gutaussehend, zumindest für einen Unteroffizier. Außerdem schien er zwei Vornamen zu haben, womit er sicher ebenfalls Eindruck schinden konnte, bei den Damen.

"Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass die Grenzreiter tief im Süden stationiert sind, um unsere Grenze nach Aranien zu behüten", fügte Alrik mit charmanten Lächeln hinzu, nicht ohne seinen Siegelring in der Sonne blinken zu lassen. Nein, er hegte keinen echten Groll gegen die Perricumer. Rondrigan Paligan hatte kaum mehr als den Namen mit der verruchten Al´Anfaner Grandensippe gemein, nach allem, was man vom Gemahl der Kaiserin Rohaja so hörte.

Weibel Burgschall schien nun überzeugt zu sein, dass er es hier mit einem echten Adeligen zu tun hatte.

"Friedwang? Liegt das nicht weit oben in der Rommilyser Mark?"

"So ist es. Ich hoffe, wir haben keine Grenzstation und keinen Schlagbaum verpasst", meinte Alrik, und klang schon wieder spitz. "Besondere Umstände haben uns dazu gezwungen, durch den Darpat zu reiten. Wir haben jedenfalls nichts zu verzollen, werter Herr Grenzreiter."

"Ihr missversteht uns, Euer Hochgeboren. Wie Ihr schon sagtet, eigentlich obliegt uns die Grenzwacht am Barun-Ulah, rund um Burg Ferkina. Wir sind auf der Suche nach einem Deserteur, der einen guten Kamerade gemeuchelt hat. Feige von hinten erschlagen, am hellichten Tag in Darrenfurt. Ein Halbblut, das uns eigentlich im Kampf gegen die Barbaren des Raschtullswalls beistehen sollte, als Späher. Vor kurzem haben wir erfahren, dass er sich einer Räuberbande in den Trollzacken angeschlossen haben soll, seiner alten Heimat. Obristin Doranthe von Zwickenfell war so großzügig, uns die Jagd auf den Verräter zu gestatten, fern der aranischen Grenze. Eine Frage der Regimentsehre - die Geschichte hat sich schon etwas herumgesprochen. Diese Wilden respektieren einen nur, wenn man bereit ist, die Bestrafung für ein Verbrechen selbst zu vollziehen. Die Barbaren würden es Blutrache nennen. Wir nennen es Genugtuung."

"Natürlich" Alrik nickte verständnisvoll.

Jodokus war der Erste, bei dem der Heller fiel. "Es könnte sein, dass Ihr zu spät gekommen seid, Weibel Burgschall. Wir hatten gestern eine Begegnung mit einem riesigen Räuber, auf dem Eure Beschreibung ganz gut passen würde. Eine Begegnung, die für den verrückten Burschen tödlich geendet ist." Ein stolzer Blick zu Haldana, die eher melancholisch als stolz drein sah.

Weibel Burgschall wirkte regelrecht enttäuscht. "Drüben auf der garetischen Seite?"

"Ja. Die Bande hat einen Flusskahn überfallen und der Trollzacker dabei unsere Gefährtin in seine Gewalt gebracht. Sie hat sich mit dem Messer gewehrt. Erfolgreich, würde ich sagen"

"Nun, sie sind alle so riesig, wie sie verrückt sind, diese Barbaren. Hoffen wir, dass es den Richtigen erwischt hat. Der Tod durch die Klinge einer Gefangenen, noch dazu einer Blutlosen, wie sie sagen. Nun, das wäre ein überaus schimpfliches Ende, wie es dieser götterlose Schurke verdient hätte. Nicht in meinen Augen, versteht mich recht, da sei Frau Rondra vor. Aber in den Augen der Wilden zählt eine Frau weniger als ein Lastpony. Mein Kompliment, Frau, äh…"

Eine angedeutete Verbeugung in Richtung Haldana, die halblaut ihren Namen nannte.

"Wie es scheint, suchen wir alle die gleiche Bande?!" hakte Alrik ein.

"Gut möglich. Der Landvogt bat uns heute morgen um Amtshilfe. Vor ein paar Stunden hat ihn die Nachricht erreicht, dass ein Schiff am Perricumer Ufer des Darpat gestrandet ist. Menschenleer und geplündert."

"Ja, der Rest der Bande konnte mit dem Treidelkahn entkommen", sagte Alrik. "Eine etwas komplizierte Geschichte. Ich fürchte, dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Strauchdiebe handelt. Ein abtrünniger Edler aus Rommilys führt sie an, namens Gerrich, und sein verkommener Sohn. Wir haben außerdem Grund zu der Annahme, dass sie mit einem Hexenweib unter einer Decke stecken. Sie haben sieben Traviapilger verschleppt, ich glaube sogar aus Knoppsberg. Vermutlich zu unheiligen Zwecken."

Weibel Burgschall wurde doch etwas blass um den Schnurrbart. "Eine Hexe? Praios steh uns bei!" Hastig schlug der Grenzreiter das Sonnenzeichen, und seine Fast-Lanze tat es ihm gleich.

"Ich denke, wir sollten in dieser Angelegenheit zusammenarbeiten. Selbst wenn der Verräter schon gerichtet sein sollte, harren die unglücklichen Gefangenen immer noch der Befreiung. Mein Hofmagier Hesindian kennt sich mit schwarzmagischen Ränken aus...des Gegners, meine ich. Sagt Euch der Name Kurgasberg etwas?"

"Wie? Nein...Das heißt, Kurgas, so nennen sich die Wilden der Trollzacken selbst, in ihrer fürchterlichen Sprache, oder?"

"Offenbar handelt es sich um ein lange verlassenes Dorf in den Bergen, wo die Bande ihr Versteck hat."

"Ich denke, es wird Zeit für eine ausführliche Lagebesprechung." Der Weibel drehte sich im Sattel um. "Absitzen. Korporal Flux, zwei Wachposten einteilen. Der Rest darf sich einen Moment die Beine vertreten." Dann glitt er selbst aus den Steigbügeln und zog eine Karte aus der Satteltasche hervor.

"Wir befinden uns einige Meilen vor der Grenze zur Rommilyser Mark, also Neuborn, denke ich. Wie gesagt. Heute früh kam ein Bote aus dem Hartsteenschen nach Knoppsberg und hat von dem gestrandeten Flusschiff berichtet. Es liegt ungefähr auf der Höhe dieses Sees dort, kurz vor der Flussbiegung. Die kaiserliche Feste Darpatwacht hat sofort ein Boot dorthin geschickt, zwecks Erkundung der Lage. Das Schiff, die Flusshexe, war allerdings schon verlassen. Die Patrouille hat sofort die Verfolgung aufgenommen, es gab Feindberührung. Angesichts der Gegenwehr und des sumpfigen Geländes, noch dazu auf Perricumer Gebiet, hat sich Burgvogt Brinidan darauf beschränkt, Vogt Leomir auf Burg Knoppsberg zu benachrichtigen. Wir vermuten, dass die Räuber zur Landstraße nach Neuborn unterwegs sind. Die Schurken wissen genau, dass es die Rabenmünd...die Rommilyser nicht gerne sehen, wenn wir die Grenze überschreiten, ungefragt und mit Waffen. Unsere Hoffnung ist, dass wir ihnen rechtzeitig den Weg abschneiden können. Das Spiel hat das Pack wohl schon ein paar Mal gespielt - aber nun verfügt Leomir über schlagkräftige Reiter. Meine tapferen Jungs und Mädels."

 

Alrik musterte die Karte. "Nun, was den Grenzübergang angeht, mag ich Euch Hilfe leisten. Immerhin bin ich Baron der Rommilyser Mark, und Herr von Baernfarn hier" - ein Blick zu Jodokus - "verfügt dort auch über einen guten Namen. Allerdings fürchte ich, dass es der Bande diesmal nicht ums Rauben und Plündern nebst anschließender Flucht geht. Jedenfalls nicht nur. Eine etwas komplizierte Geschichte, die mehr mit Schmuggel als mit Flusspiraterie zu tun hat. Sie wollen in dieses Kurgasberg, da bin ich mir sicher, und das liegt irgendwo in den Bergen. Die Betonung liegt auf irgendwo. Wir müssen sie unter allem Umständen aufhalten, denn sie planen ein finsteres Ritual, bei dem die Gefangenen geopfert werden sollen. Was nichts daran ändert, dass ich nicht weiß, wo dieses Geisterdorf liegt - und die Trollzacken groß sind." Der Mondschatten strich mit dem Pfeifenstil über die eingezeichneten Bergketten. "Vielleicht wollen sie wirklich über die Grenze nach Norden. Womöglich steuern sie geradewegs die Berge im Osten an, Richtung Hendweiler. Oder sie haben still und heimlich umgedreht, und sind schon wieder auf dem Weg nach Südosten. Wir könnten die Himmelsrichtung genauso gut auswürfeln."

Hesindian schlug sich an die Stirn, so dass sein spitzer Zauberhut verrutschte. "Natürlich, das ist die Lösung."

Der Magier strahlte in die Runde, und schob mit dem Stab die Kopfbedeckung wieder zurecht.

"Wir haben ja noch die gezinkten Glücksspiele des Hexers. Die Boltankarten, die Würfel, und das Chorhoper Glücksrad. Die deuten doch geradewegs in die Richtung, wo sich Gerrich aufhält?! Wie dumm von mir, dass ich da nicht früher dran gedacht habe. Oder besser gesagt, dass ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe."

"Mein Hofmagus und arkaner Berater Hesindian von Orweiler - hesindial wie immer", brummte Alrik mehrdeutig.

"Ich verstehe nicht ganz?" Weibel Burgschall faltete die Karte wieder zusammen.

"Wir haben die Möglichkeit, den Hexer von Rommilys magisch aufzuspüren, den Anführer der Bande."

Der Edle von Orweiler eilte zu seinem Packpferd, und holte einen in Tuch eingeschlagenen Kasten heraus.

Einige neugierige Blicke der Grenzreiter trafen den Magier, über geöffnete Feldflaschen oder angezündete Pfeifen hinweg.

Selbst die Darpatbullen schienen beeindruckt zu sein - ebenso wie die Fuhrleute.

Hesindian achtete nicht darauf, sondern enthüllte das Glücksrad. Es bestand aus einer Drehscheibe, das kesselartig in ein rundes Ebenholztischchen eingelassen war, das wiederum auf sechs kleinen Füßen stand. Die Scheibe war in zwölf Fächer unterteilt, die jeweils die Symbole der Götter zeigte, wie bei einer Sonnenuhr. Hesindian platzierte das Glücksrad so, dass der Praiosgreif nach Norden zeigte, ungefähr dem Verlauf des Weges entsprechend.

Nun "zauberte" der Arkane Berater eine kleine Elfenbeinkugel hervor: "Noch werden Wetten angenommen, meine Herren und Damen. Nein? Na gut..." Hesindian betätigte das Drehkreuz und warf die Kugel ins rotierende Rad. "Nichts geht mehr."

Ein kullerndes Geräusch wetteiferte mit dem Zwitschern der Vögel. Am Ende lag die Kugel im Fach mit der Löwin, Rondras Zeichen. Der "Hexer von Rommilys" trieb sich demnach nordöstlich von ihnen herum.

Weibel Burgschall zwirbelte sich verlegen den Spitzbart. "Wie zuverlässig, sagtet Ihr, ist diese Methode?"

"Nun, wir können das ganze nochmal überprüfen", sagte Hesindian und warf drei knöcherne Würfel.

"Ne 6, ne 2 und ne 1" stellte die Fuhrfrau fest. "Hat das jetzt was zu bedeuten?"

"Ja, das ergibt 9" Der Magier deutete auf die Würfel, die vor die Glücksrad-Kugel gerollt waren, mit merkwürdig eckigen, unnatürlichen Bewegungen. "Ebenfalls Nordost, würde ich sagen. Die Würfel zeigen fast in die gleiche Richtung wie die Elfenbeinkugel "

"Ist die Kugel magisch, weil die aus Elfenknochen geschnitzt ist?", wollte der bärtige Ochsentreiber wissen.

"Elfenbein besteht nicht aus Elfenknochen" murmelte der Magier. "Sondern aus den Zähnen eines Tieres, das im Tulamidenland lebt...fern im Süden. Egal. Allzuviel Vorsprung kann Gerrich nicht haben, mit seinen Gefangenen. Zu Pferde holen wir ihn schnell ein. "

 

Fluchend brach Alrik durch das dichte Unterholz, hackte einen Farn beiseite und führte Flocke um einen umgestürzten Baumstamm herum. Irgendwie erinnerte ihn der Knoppsberger (oder war es der Neuborner) Hangwald an unschöne Erlebnisse im dampfenden Dschungel Meridianas.

Irgendwo schnarrte ein Specht. Ein Eichhörnchen protestierte zirpend gegen die Störenfriede. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Walddecke.

"Es ist ja schön, dass wir jetzt wissen, wo sich Gerrich befindet...oder er sich vielleicht befinden könnte." Auch Jodokus prallte zurück, in diesem Fall vor einem Netz, von dem sich gerade ein kleines Spinnchen abseilte. "Wenn diese kleine Kugel Recht hat. Aber ein richtiger Weg nach Kurgasberg wäre auch nicht schlecht."

Schon seit geraumer Zeit führten sie ihre Pferde am Halfter, und stolperten zwischen Bergwald und felsigen Abhängen umher. "Wo ist überhaupt Nordost?" Der Baernfarn pflückte einige Kletten aus seinem Umhang - ebenso wie eine Dornenranke aus seiner Rüstung, die sich tief ins Leder gebohrt hatte. Auch Haldana fluchte, als sie zum hundertsten Mal stolperte und ihr Pferd beruhigen musste.

"Tuvok würde es wissen" brummte der Zwerg und starrte geradewegs auf einen dicht bemoosten Baumstamm. "Wo ist nochmal diese Wetterseite?"

"Da wos Miesch wächst" keuchte Haldana.

"Das Zeug wächst auf allen Seiten prächtig", stellte Rovik fest. Er blinzelte nach der Sonne, aber die schien sich gerade zu bewölken

Alrik hielt nach dem Jäger Ausschau, der ihrem stattlichen Trupp tatsächlich vorausgeeilt war, als Kundschafter.

Die Grenzreiter sahen ebenfalls schon aus wie eine geschlagene Armee auf dem Rückzug.

"Es sollte doch eine Abzweigung nach Kurgasberg geben" schimpfte Jodokus.

"Such dir einen Zweig aus" Alrik verschnaufte für einen Moment und erschlug eine lästige Mücke. "Ich glaub langsam wirklich, dieser Efferdi Falswegen hat irgendwie Knoppsberg und Kurgasberg durcheinander gebracht."

"Kein Wunder, dass sie ihn vom offenen Perlenmeer an den Arsch von Väterchen Darpat versetzt haben" lästerte Jodokus.

Alrik sah den Patrizier erstaunt an. Der "Schnösel" konnte in der Wildnis ja ein richtiger Kumpeltyp sein. Firun war halt doch der Schutzgott des Hauses Baernfarn. Der Friedwanger bot ihm einen Schluck aus seinem "Flachen Valpo" an. Dankbar nahm der Rommilyser einen tiefen Schluck. "Ah, Trollbirne."

"Unser Tuvok kehrt wieder heim" stellte Alrik fest, nachdem er sich ebenfalls etwas aufgemuntert hatte. "Mal sehn, ob er Jagdbeute dabei hat".

Der Jäger eilte leichtfüßig herbei, und schien nicht im mindesten müde oder abgespannt zu sein. Der kleine Ausflug in den Wald bereitete ihm offenkundig Spaß.

"Da vorne sind jede Menge Fußspuren" berichtete Tuvok. "Eine alte Waldlöwenfährte gäbe es auch noch. Und das hier habe ich auch gefunden, neben einem Ameisenhaufen."

Der Waidmann öffnete seine Handfläche, in der eine kleine Bronzebrosche lag, in Gänseform.

"Domarian, der Travialieb", sagte Haldana sofort.

Mit der Hand wies Tuvok die Richtung. "Da vorne ist ein kleiner Bach. Den sind sie entlang gezogen."

Tatsächlich erreichten sie nach einigen Mühen den Bachlauf, der durch eine tief eingekerbte Schlucht plätscherte. Das Wasser war durch die Trockenheit ziemlich geschwunden, so dass sie am breiten Ufer gut vorankamen. Auch die Spuren waren auf feuchtem Grund leicht zu verfolgen. Der Trupp ihrer Gegner hatte hier wohl kurz gerastet. Auch die Verfolger erfrischten sich und tränkten die Pferde.

Etwa eine Stunde lang verlief der Weg äußerst windungsreich, aber ohne größeres Hindernis. Nur der zunehmend bewölkte Himmel erschwerte die Orientierung. So langsam hatten die Wanderer das Gefühl, in eine andere Welt einzudringen.

Immer höher ragten die Felsen zur Linken und zur Rechten auf, deren Abhänge nur noch von Nadelbäumen bewachsen waren.

Der Gedanke, dass diese Einöde hier nur das Vorgebirge der "Zacken" sein sollten, war fast beunruhigender, als wenn sie sich schon ins Hochgebirge begeben hätten. Das Bächlein mündete in einen weiteren, laut plätschernden Wasserlauf, der schon deutlich mehr Wasser führte. Die Felswände erhoben sich zu einer großen, von windschiefen Tannen und Fichten bewachsenen Schlucht.

"Ist der Gipfel da hinten der Wolfenkopf?" wollte Jodokus wissen.

Alrik musste passen. Hatte er vorhin noch das Gefühl gehabt, nicht voranzukommen, stießen sie nun erschreckend schnell ins Reich der "Königin der Berge" vor. Die Sichel wuchs nicht derart steil aus dem Flachland empor wie die Trollzacken. "Ist der Wolfenkopf überhaupt ein Berg? Ich dachte, das wäre ein Kloster. Wo ist Tuvok schon wieder?"

Der Jäger war tatsächlich mit Spurenlesen beschäftigt, ebenso wie einige der Grenzreiter. Aus irgendeinem Grund schienen sie damit nicht voranzukommen.

"Die Räuber sind womöglich durchs Wasser gewatet" vermutete Jodokus. "Unsere Spürhunde scheinen die Fährte jedenfalls verloren zu haben. Was für eine Wildnis..."

"Das? Das ist noch keine Wildnis", flachste Alrik. "Das ist gerade mal Firuns Vorgarten. Hesindian, die Karten?"

Der Magier hatte die magischen Boltankarten bereits ausgepackt und warf sie auf eine Felsplatte. Wie von Geisterhand bewegt, schienen sich die bunten Karten selbst auf dem steinernen Tisch auszurichten. Sie wiesen eindeutig"fluss"aufwärts.

Nun war es an Haldana, Tuvok die Richtung anzuzeigen.

"Laut unserem Magier gehts da lang" verkündete auch Rovik. "Keine Spur gefunden?"

"Zu viele Spuren" sagte Tuvok, etwas einsilbig. "In beide Richtungen. Und dazu noch schlechtes Licht."

"Die haben sich geteilt?" wollte Jodokus wissen.

"Ich denke eher, der Pfad hier wird öfters benutzt. Manche Fährten sind schon älter. Da hinten liegt ein völlig verrostetes Hufeisen."

"Ah, unsere Abzweigung", sagte Alrik, ein wenig sarkastisch.

Der Weg entfernte sich etwas vom Bachlauf, wurde steiler und folgte der Anhöhe. Unten, im Tal, weitete sich das Flüsschen zum blauschimmernden See, hinter einem Biberdamm, halb verborgen hinter Fichten, Tannen, Lärchen und Zirbelkiefern. Jodokus nutzte die Gelegenheit für einen Rundblick mit seinem "Zauberglas".

"Und?" wollte Rovik wissen.

"Ich glaube, das da hinten sind schon Gemsen" sagte der Patrizier fasziniert. "Was ist denn das? Das gibt´s doch nicht. Ein Troll? Nein, nur ein Felsen. Schade. Oh, putzig, auf der Alm sitzen Biber und grasen."

"Grasende Biber?" fragte Alrik erstaunt.

"Des sin Mistbellerli" meinte Haldana, leicht genervt.

"Mistwas?"

"Murmeltiere" grinste Tuvok.

Sie ritten den Pfad weiter, der eine hohe, dicht bewaldete Bergflanke entlang führte. Auf einer Hochebene ragte ein Turm aus Felsbrocken auf, jeder größer, als dass sie ein Mensch hätte umfassen können. Aufgetürmt von Trollen?

Selbst im Dämmerlicht war die Aussicht gigantisch, über die schattenverhüllten Täler und Schluchten hinweg. Die Luft war frisch, klar und duftete nach Blumen und Frühlingskräutern. Tuvok erspähte einen Bergadler, der über ihm seine Kreise zog, im Reich der Wolken.

Der gleiche Adler wie er ihn am Darpat gesichtet hatte? Einen Moment lang gab sich der Jäger dem Gefühl hin, einen treuen Begleiter und ein gutes Omen gefunden zu haben. Es war unglaublich, wie abrupt die Berge begannen, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt: Zerklüftete, bizarre, gezackte Felsformationen. Womöglich stimmten die alten Legenden, dass die Trollzacken aus ihren versteinerten Namensgebern entstanden waren. Hier und dort schienen bärtige Gesichter und klobige Nasen aus den Felswänden zu starren.

Der Weg führte nun wieder nach unten, tiefer in den Nadelwald hinein. Wie ein Tor ragte der Überrest eines alten Gefluders vor ihnen auf: eine Wasserrinne für die Holzschwemme, die auf Pfeilern über den Pfad geführt hatte, und nun größtenteils eingestürzt war. Die Gegend schien früher einmal dichter besiedelt gewesen zu sein. Oder überhaupt einmal besiedelt gewesen zu sein.

Nach einer Weile ritten sie wieder durchs Tal, den Bach entlang, der an dieser Stelle bereits ein rauschendes Wildwasser war, zu Füßen der Pferde. Die Felsen rückten näher und näher an den Gebirgspfad heran. In der Ferne grollte ein Gewitter.

Die Reiter erblickten eine Höhle, deren finsterer Eingang sich zur Rechten öffnete, groß wie ein Burgtor, unter einem vorkragenden Felsen.

Der Himmel wurde dunkler und dunkler. Dann, ohne weitere Vorwarnung, zischte ein Blitz herab und setzte mit funkensprühender Flamme eine alte Kiefer in Brand, hoch über ihren Köpfen. Die Pferde wieherten, scheuten, wichen zur Seite aus oder stiegen. Ein Grenzreiter stürzte fluchend aus dem Sattel.

Toktoktok. Nun prasselte Hagel herunter, erst in der Größe von Kies, dann nussgroß, hart und schmerzhaft. Firuns Gruß knallte laut gegen die Helme und Rüstungen.

"Zurück zur Höhle", brüllte Weibel Burgschall gegen das Toben der Elemente an. Es wurde stockfinstere, eiskalte Nacht, durchzuckt vom grellen Lichtschein der Blitze, in dem schneeweißer Hagel und grauer Regen flirrte. Das erste Pferd ging durch, in Richtung Höhle, ein weiteres stürzte, mitsamt Reiterin. Ihre Gefährten halfen ihr auf.

Alrik fluchte, wie ein Brabaker Gassenjunge, der er ja auch mal gewesen war. Sein Federhut flog einfach davon, und damit der letzte Schutz gegen den Hagelschlag. War das Hexenwerk? Die eisigen Geschosse wurden immer größer. Es half alles nichts, der Weibel hatte Recht. Nur in der Höhle waren sie einigermaßen sicher. Insofern dort kein Höhlenbär saß...

Durch die Nachtschwärze kämpften sie sich zurück, trafen nach und nach an der Höhle ein, wo sie Hesindian schon erwartete, im orangefarbenen Schein einer magischen Lichtkugel. Erschöpft stolperten sie hinein, vor Regen und teilweise auch vor Blut triefend. Immerhin, die Grotte war groß genug, um ein Dutzend Reiter mit Pferden aufzunehmen.

Drei Gefährten fehlten beim Durchzählen - zwei Grenzreiter. Und Haldana.

 

Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle.

Die alte Söldnerweisheit echote in Haldanas Kopf, während sie mit dem Rest ihres Bewusstseins versuchte, dass durchgehende Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Es konnte einfach nicht sein, dass sie nach so kurzer Zeit schon wieder entführt wurde. Diesmal von ihrem eigenen Pferd. Ein Missverständnis. Die Götter mussten doch endlich mal ein Einsehen mit ihr haben.

Es war alles wie in einem verrückten Traum. Ihr Warunker flog über den Pfad hinweg, der längst rutschig war von den unzähligen Eiskörnern. Dass sie nicht schon längst gestürzt war, ins Wildwasser, das im Licht der zuckenden Blitze neben ihr, nein, unter ihr schäumte, war das eigentlich Verrückte.

Die guten Götter waren gnädig. Die Schlucht weitete sich wieder. Als Haldana im prasselnden Hagelschauer die Zügel aus der Hand glitten, fiel sie nur auf eine nasskalte Bergwiese. Eine junge Tanne bremste ihren Sturz ebenfalls.

Sie rollte sich einigermaßen geschickt ab und stand wenig später schon wieder auf beiden Beinen. So dass sie ihrem Reittier hinterher blicken konnte, das mit schleifenden Zügeln und wehenden Steigbügeln im Unwetter verschwand - hinaus in dunkelste Nacht, die gerade eben noch ein freundlicher Frühlingstag gewesen war.

Der majestätische Hangrutsch, der polternd und krachend einsetzte, sah im ersten Moment sogar faszinierend aus, im Flackern der Blitze.

Dann rannte sie auch schon um ihr Leben, als sich Unmengen von Geröll, Erde, Baumstämmchen und Gestein in eine Lawine verwandelten. Die Mure landete im Bach, verstopfte die Engstelle, staute das Wasser in wahnsinniger Geschwindigkeit auf und schleuderte allerhand Trümmer in die Umgebung. Wieder hatte sie Glück, keines der Geschosse traf sie. Zumindest nicht diese Geschosse.

Was aus den Wolken prasselte, verfehlte sein Ziel nicht. Einige Hagelkörner waren nun fast taubeneigroß. Schläge, Schläge, Schläge. Instinktgetrieben taumelte sie auf einen großen, viereckigen Schatten zu. Eine alte Hütte, im Blockhausstil. Die Tür war offen oder besser gesagt, sie fehlte ganz.

Haldana taumelte hinein, kroch unter dem Teil des Holzschindeldachs in Deckung, das (gerade noch so) vorhanden war.

Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Blitz auf Blitz leuchtete ins Innere der Hütte, gefolgt vom Brüllen des Donners. Aus Hagel wurde prasselnder Regen und fauchender Sturmwind.

Sie fröstelte, bibberte, lag in einer immer größer werdenden Eiswasser-Lache, die mit hereingerollten Hagelkörnern angefüllt war. Stimmen umwisperten sie. Geisterhafte Fratzen starrten sie an, eine kalte Hand griff nach ihrem Herz.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ das dämonische Toben nach. Es wurde sogar heller. Der Regen verrebbte zu einem sanften Plätschern. Hörte schließlich ganz auf. Nur in der Ferne rollte noch Donner.

Sie kroch aus ihrer Hütte, rappelte sich auf. Freundliche Abendstimmung lag in der Luft, fast so, als wäre nichts gewesen.

Verstört sah sie sich um. Der Erdrutsch war fast an der engsten Stelle des Tals herunter gegangen, und hatte den Wildbach völlig verstopft. Immerhin, das Gewässer war stark genug, um sich einen Weg hindurchzubahnen, staute sich dabei allerdings mächtig auf. Über das Geröll und die zersplitterten Nadelbäume konnte man vielleicht noch hinüberklettern. Aber der aufgewühlte Stausee sah wenig vertrauenswürdig aus. Ganz so, als würde der Wasserdruck den Damm jeden Moment einreißen - und alles mit sich fegen, was sich ihm sonst noch in den Weg stellte. Immer wieder kollerten neue Steine die Schneiße herunter, die von der Mure in den Bergwald geschlagen worden war. Vielleicht würde es noch einen weiteren Bergrutsch geben? Alles am Ort der Katastrophe schien sie warnen, nein, anschreien zu wollen: Bleib fern von hier.

Abgeschnitten. Sie war von ihren Freunden abgeschnitten.

Als Kind der Sichel wusste Haldana nur zu gut, wie launisch das Wetter in den Bergen sein konnte. Aber dieses Unwetter war irgendwie zu heftig und plötzlich über sie und ihre Gefährten hereingebrochen. War das Sisa Brundels Werk? Wieder mal ein Hexenfluch?

Sie sah nach ihrem Pferd, aber nicht einmal Hufgetrappel war zu hören. Die umliegenden Gipfel schimmerten sanft im Abendrot, fast schon wie beim Sichelglühen. Irgendwo in den Wäldern heulten Wölfe. Witterten sie Frischfleisch?

Der Rapier hing noch über ihrem Rücken, wie sich das gehörte. Zumindest spürte sie die Klinge dort.

Was nun? In den Packtaschen befanden sich ihr Proviant, eine warme Decke und einige andere Dinge, auf die sie hier draußen ungern verzichten wollte.

Nur war ihr Hab und Gut mit dem Braunen gerade Praiosweißwohin galoppiert. Also erst mal hinterher.

Das Tal hier sah eigentlich recht freundlich aus. Einige hundert Schritt vom Felssturz entfernt wirkte der Bach fast normal. Türkisfarben plätscherte er in einem großen Geröllfeld dahin. Keine Spur vom Pferd.

Sie folgte dem gut ausgetretenen, regennassen Pfad. Hagelkörner knirschten unter ihren Füßen. Ein besonders markanter Berg fiel ihr ins Auge, der ein wenig wie ein geduckter Reiter aussah, der von oben in das kleine Tal blickte. Wie ein Ferkina – oder ein Kurga? War das der berühmte Kurgasberg?

Die Schlucht beschrieb eine sanfte Biegung. Rasch wurde es dunkler. Die Nacht brach herein, diesmal die echte. Der eine oder andere Stern blinkte zwischen Wolkenresten. Das Madamal stieg auf und hüllte alles in silbriges Licht. Rauchfarbener Nebel wallte aus dem Schatten der Wälder.

Erstaunt sah Haldana weitere Lichter im Halbdunkel flackern. Schindeldächer, Natursteinmauern und Holzwände tauchten im Mondlicht auf, hinter einem Palisadenwall. Ein hölzerner Wachtturm ragte empor. Am Bach klapperte ein Mühlrad. Lautes Stimmengewirr war zu hören, vielleicht aus einer Taverne. Ein, nein, eher zwei Dutzend Häuser. Die meisten bestanden wohl aus Holz, einige wenige aus Stein. Ein kleiner Tempel stand in der Mitte der Siedlung, am Dorfplatz. Rauch stieg über den Kaminen auf. Einige hundert Schritt hinter dem Dorf rauschte ein Wasserfall einen steilen Felsen hinab, nicht weit vom "Reiterberg" entfernt.

Alles war unwirklich, wie in einem Traum, der noch kein Alptraum war - aber doch bedrückend. Das Dorf schien irgendwie aus Nacht und Nebel zu bestehen, nicht aus echten Holzbalken oder Steinblöcken. Angst stieg in Haldana auf, aber noch etwas anderes: Eine Art gespannte Erwartung lag in der Luft, wie auf einer nächtlichen Jagd, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Dinge sahen, die bislang im Verborgenen geblieben waren. Ihre ungemein geschärften Sinne sahen beides: Ein trostloses Ruinenfeld - und das Dorf. Beide Szenen schienen einen Moment lang ineinander zu verschwimmen, wie bei einer Fata Morgana in der Khomwüste (eine Luftspiegelung, von der ihr einmal ein reisender Händler erzählt hatte).

"Willkommen in Kurgasberg". Obwohl die Stimme vertraut war, zuckte Haldana innerlich zusammen. Ein zarter Geruch nach Bienenwachs drang in ihre Nase.

Sie drehte sich um und sah in das gütige, pummelige Gesicht von Nasdja, ihrer Ahnin. Ein himmelblaues Gewand, die Bienenkorb-Zöpfe, der kahl rasierte Schädel. Kein Zweifel, das war ihre Ururur… Großmutter.

"Nasdja, was machst du denn hier?"

"Geister heften sich gerne an, eine alte Untugend. " Die Zibilja hob ihr Pendel. "Entschuldige, ich musste dich schon wieder von deinem Körper trennen, in der Hütte. Dieses Tal ist bösartig. Verflucht. In deiner jetzigen Gestalt bist du sicher. Naja, etwas sicherer. Ich will nicht übertreiben."

"Du hast was?" Entsetzt sah Haldana auf ihre Hand, die tatsächlich durchsichtig wirkte. Das Mondlicht schien regelrecht hindurch zu scheinen. Da war wieder dieses schaurig-schöne Gefühl des Schwebens, des schwerelos Dahingleitens zwischen den Welten.

"Schau nicht auf die Ruinen, aus denen Kurgasberg heute besteht. Konzentriere dich auf die Häuser, wie sie früher einmal ausgesehen haben."

Verwirrt blickte Haldana zum Dorf. Runzelte die Stirn. Die Häuser gewannen tatsächlich wieder an Konturen, wurden "diesseitiger". Oder war sie es, Haldana von Schlotz, die tiefer ins Jenseits blickte? Tatsächlich schien das Tal mit einem mal ins Dunkle entrückt zu sein, während das Dorf klar und deutlich vor ihr aufragte.

"Was hat das alles zu bedeuten?"

"Kurgasberg ist ein Geisterdorf. Was glaubst du, könnte es mit diesem Namen auf sich haben, Kindchen?" Die Norbardin verstaute ihr Pendel wieder. "Du hast schon ein wenig über die Zwischenwelt gelernt, bei unserer letzten Begegnung. Aber ein ganzes Dorf voller Geister, das ist noch einmal etwas anderes. Heute ist der Jahrestag, musst du wissen."

"Der Jahreswas? Du sprichst in Rätseln."

"Natürlich tue ich das. Wir Norbarden sind schließlich ein hesindegefälliges Volk. Das Leben ist voller Rätsel. Eines davon ist der Tod. Während du in der Hütte gezittert hast, habe ich schon ein wenig von den Dingen erspürt, die in diesem Tal vor sich gehen. Es ist, als ob die Steine selbst zu einem sprechen würden, das Wasser, der Himmel und die Erde. Jedes Jahr im Frühling durchleben die Geister noch einmal das Ende von Kurgasberg. Das Ende im Giftregen einer Grünen Wolke, die um Mitternacht aus dem Bergwerk aufsteigen wird. Tief im Berg haben die Hauer etwas entdeckt, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ungefähr dort, wo der Wasserfall entspringt. Vor etwas mehr als hundert Wintern muss an diesem Ort etwas Fürchterliches geschehen sein. Ich hatte leider nur eine kurze Vision davon. Leider, und Hesinde sei Dank. Der Regen, der aus der Grünen Wolke fällt, bringt Unheil. Rote Beulen und Pocken, die die Menschen in Windeseile in den Wahnsinn treiben. Sie müssen sich gegenseitig erschlagen haben: die einen, um sich vor dem Roten Tod zu schützen, die anderen, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie haben manche der Kranken sogar in ihre Häuser gesperrt und diese angezündet. Die Gier nach dem Silber der Opfer hat wohl ebenfalls eine Rolle gespielt. Ein Teil hat sich gewehrt und wiederum die Angreifer erschlagen. Ein fürchterlicher Ort."

"Die Zorganpocken, ich verstehe." Haldana nickte. Hundert Götterläufe sollte das etwa her gewesen sein? Nun, dann war das wohl in der unseligen Kaiserlosen Zeit gewesen. Die Ära der Erbfolgekriege, als die grausamste aller derischen Pestilenzen ins Reich eingeschleppt worden war, durch aranische Kornschiffe.

"Gut zu wissen. Aber ich würde nun gerne wieder in meinen Körper zurückkehren. Die Trennung war das letzte Mal… nun ja, ziemlich gespenstisch."

"Nun, ich fand die Welt der Toten schon immer interessant. Schon zu Lebzeiten. Geister können überaus nützlich sein, nicht nur die irrlichternden Seelen der Menschen. Ich habe die Kurgasberger ein wenig belauscht. Wenn ich ihre Gespräche richtig deute, haben die Dorfbewohner damals einen mächtigen Luftgeist in ihre Dienste gezwungen."

"Einen Luftgeist?"

"Ja, ich glaube, es war Sisas Werk. Die Kurgasberger haben geglaubt, dass die Zorganpocken durch schlechte Luft zu ihnen heran geweht werden könnte. Also haben sie einen Luftelementar gebannt, der sie vor den Ausdünstungen der Welt da draußen beschützen sollte. In dem er einen ständigen leichten Ostwind über das Tal wehen ließ, weg vom Dorf."

"Moment. Sisa stammt aus Kurgasberg? Und sie ist… über hundert Jahre alt?"

"Ich glaube schon, auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen sein muss. Allerdings ein Kind, das mit Geistern gesprochen hat, so wie du" Nasdja lächelte, ein wenig stolz. "Die Tochter des Dorfschulzen, Wim Brundel. Er hat durch sie den Wahren Namen des Sylphen oder Luftelfen erfahren, wie sie ihn nennen. Wie auch immer, das ständige Lüften hat den Kurgasbergern wenig genutzt. Die Sieche, oder auch nur der Wahnsinn, kam aus dem Innersten ihren kleinen, abgeschotteten Welt. Nicht von außen. Wie so oft. Aber all das ist längst geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Geister ändern sich nicht mehr, das ist der Unterschied zur Welt der Lebenden. Ihr könnt euch noch ändern, eure Seele weiterentwickeln, vielleicht sogar vervollkommnen. Aber ich schweife ab. Es ist der Sylph, der jetzt Sisas Hexenhütte durch die Lüfte tragen muss. Das Riesenfass von Rommilys, auf dem du an den Darpat verschleppt worden bist. Das Fass verschließt gerade den einzigen Eingang ins Bergwerk, der bis ganz nach unten führt. Die Räuber sind in diesem Moment dabei, die Gefangenen dorthin zu bringen, in der Gegenwart. Wenn deine Gefährten das Ritual verhindern wollen, musst du den Luftgeist aus Sisas Knechtschaft befreien, damit er das Fass für euch beiseite heben kann."

"Moment, ich soll jetzt in dieses Geisterdorf hinein schweben, das offenbar immer noch in der Zeit Pervals lebt...?"

"Lebt ist vielleicht der falsche Ausdruck."

"Egal. Ich soll also mir nichts, dir nichts hinein spazieren und diesen...untoten Dorfschulzen nach dem Namen des Sylphen fragen?"

"Du lernst schnell. Aber keine Angst, ich werde dich begleiten."

"Warum habe ich den Verdacht, dass sie uns selber für Spukgestalten aus einer anderen Welt halten werden? Was wir ja auch sind - Leute, die Gespenster sehen? Also zumindest ich...du bist ja schon tot."

"Nun, die meisten Geister wollen im Grunde ihrer Seele erlöst werden. Um dann ins wahre Jenseits zu gehen. Auch wenn sie anfangs oft nicht wahrhaben wollen, dass sie Geister sind. Du hast es ja selbst schon erlebt, bei der armen Mia. Kurgasberg ist noch immer restlos überzeugt, ein Ort der Lebenden zu sein, kein Geisterdorf. So kann man sich irren."

"Sie werden uns niemals glauben...die denken doch, wir sind Verrückte. Fremde, die ihnen die Pest ins Dorf bringen. Wenn sie sich am Ende sogar gegenseitig abgeschlachtet und verbrannt haben, aus Angst vor den Zorganpocken."

"Mag sein, aber der eine oder andere Umstand könnte uns nützlich sein. Am letzten Tag von Kurgasberg - ein Tag, der seit über hundert Jahren wiederkehrt - ist die kleine Sisa spurlos verschwunden. Da sie ja immer noch unter den Lebenden weilt, kann sie nicht in ihrem Heimatdorf herumspuken. Wim Brundel und seine Frau Kiara vermissen ihre Tochter, und wären dankbar für jeden Hinweis auf ihren Verbleib. Natürlich müssen wir vorsichtig sein und behutsam vorgehen. Auf keinen Fall dürfen wir zugeben, dass wir aus dem Tiefland oder gar Rommilys zu ihnen gekommen sind. Letztlich müssen wir erreichen, dass Brundel uns vertraut und den Namen des Luftgeists nennt".

"Da würde ich aber gerne noch ein paar andere Umstände hören, die uns nützen könnten."

"Nun, die Kurgasberger nehmen Lebende wahr, sobald sie in ihr Dorf kommen, wenn auch nur äußerst schemenhaft. Ähnlich wie Geister. Die Räuber haben sich im einzigen unzerstörten Gebäude niedergelassen, dem Tempel des Ingerimm, in der Dorfmitte. Für die Kurgasberger spukt es in ihrem Tempel, was sie natürlich außerordentlich beunruhigt. Vor allem ihren Schamanen, wie sagt ihr: Geweihten? Sein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Er ist zugleich der Schmied. Für ihn ist es vollkommen unerklärlich, das in seinem Tempel, also auf heiligem Grund, Gespenster umgehen sollen". Nasdja lächelte erneut.

"Schließlich gibt es noch diese Entdeckung im Bergwerk. Die Kurgasberger sind heute auf eine Höhle gestoßen, mit merkwürdigen Zeichnungen, die sie ebenfalls ängstigen. Nun sitzen sie im Wirtshaus und beratschlagen, ob sie den Zugang verschließen oder den Abgrund weiter erkunden sollen, auf der Suche nach Erz. Die Wirtin heißt übrigens Raulinde Alfengrund. Sie ist böse, soviel kann ich spüren. Ich glaube, sie heckt schon seit längerem einen Plan aus, um an das Silber der Bergleute zu kommen - und mit der Beute anderswo noch einmal neu anzufangen, fernab von diesem finsteren Tal. Sie scheint einige der Bauern und Handwerker, die in Kurgasberg wohnen, auf ihre Seite gebracht zu haben. Das war dann wohl der Hauptgrund für das Gemetzel, neben der Furcht vor der Seuche: Nackte Gier. Die Pocken waren auch ein Vorwand, um ungestraft zu stehlen, zu morden und zu plündern."

"Raulinde Alfengrund? Doch nicht etwa eine Vorfahrin unseres Medicus?"

"Gut möglich. In diesem Dorf herrscht sehr viel Neid - und Hass auf den Schulzen, der offenbar selbstherrlich bestimmt, wer nach Silber schürfen darf und wer nicht. Wobei es sich nicht wirklich um einen Schatz handelt, auf den diese Alfengrund aus ist. Das Bergwerk scheint ziemlich erschöpft zu sein. Deswegen haben sie tiefer und tiefer gegraben...irgendwann zu tief."

 

Tuvok brummte etwas unverständliches vor sich hin, während er in mit seinem Bogen und etwas Holz ein Feuer bohrte. Der Nivese verwendete, anders als die meisten anderen Jäger, keinen Feuerstein, um Feuer zu machen. Seinen Bogen hatte er ohnehin immer dabei. Und da er im Feuerbohren geübt war, war der Jäger dabei nicht langsamer als andere mit dem Feuerstein. Bald prasselte ein kleines Feuer in der Höhle, das den durchnässten und durchfrorenen Männern gut tat. Auch Serdan und seine verbliebenen Männer und Frauen drängten sich um das Feuer.

Auf ein Wort, Magier“ brummte Tuvok.

Hesindian zog die Augenbraue hoch. „Wie kann ich dir helfen. Das Feuer brennt schon, eine Feuerlanze wäre nun verschwendete Kraft“ Hesindian bemühte sich, mit einer humorvollen Bemerkung die gedrückte Stimmung – ob des Verschwindens von Haldana und zweier Soldaten – zu heben.

Hmm“ brummte Tuvok in seinem gewohnten Ernst. „Ich glaube nicht, dass der Hagelschauer zufällig kam. Was meinst du, Magier?“

Er kam schon sehr plötzlich. Und Sisa ist eine Hexe. Ja, ich hatte auch schon den Gedanken, dass da ein fauler Hexenzauber dahinter steckt. Wettermeisterschaft ist zwar allgemein eher druidisches Metier. Aber jedenfalls gibt es eine Formel, die den Hagelschauer verursacht haben könnte. Ich kann das aber nicht sicher feststellen.“ antwortete Hesindian sachlich.

Ich hatte auch schon an Magie gedacht.“ warf Jodokus ein. „Mein Großvater war Druide, das ist bekannt. Bei den Drudnern in der Sichel ist der Zauber nichts Ungewöhnliches. Und auch Gerrich beherrscht Magie. Er kann etwas von Druiden gelernt haben.“

Alrik nickte. „Denkbar. Es gibt genug schwarzmagische Umtriebe, auch in der Sichel. Wir wissen es nicht.“

Aber wenn das Unwetter von Sisa oder Gerrich gehext wurde,“ begann Tuvok, „dann wissen sie, wo wir sind. Mindestens ungefähr.“

Der Jäger sah ernst in die Runde, keiner der Mitstreiter wusste eine Antwort.

Dann bleibt die Frage, woher sie das wissen“ setzte Tuvok seine Analyse fort. Die Stimme des Jägers hörte sich jetzt fast an wie Hesindian, wenn er einen Fachvortrag rezitierte. „Von Kurgasberg aus hätten sie uns nicht beobachten können. Nicht mal mit so einem Zauberglas, wie du eines hast.“ Tuvok nickte in Richtung Jodokus. „Keine Sichtverbindung. Dann müsste ein Späher wo anders gewesen sein. In dem dichten Wald ist das aber kaum möglich, so weit zu schauen. Auch nicht an diesem Flusslauf. Und ein Späher wäre kaum so schnell wieder zurück nach Kurgasberg gelangt, um dort Meldung zu erstatten und die Hexe auf den Plan zu rufen.“

Was meinst du damit?“ wollte Jodokus wissen. „Und woher willst du wissen, dass Sisa und Gerrich in Kurgasberg sind? Sie könnten überall sein.“ Alrik hörte aus Jodokus Stimme dessen Unbehagen heraus. Sich mit Magie anzulegen war sicher nicht die Sache des Händlers.

Weiß ich auch nicht, wo sie sind.“ brummte Tuvok. „Aber ich meine, sie haben uns aus der Luft beobachtet.“

Nun, eine Hexe auf ihrem Besen hätten wir wohl gesehen“ warf Rovik ein. „Erst recht eine Hexe in einem großen Flugfass.“

Nein, kein Besen. Kein Fass.“ Tuvok flüsterte. „Adler sind scheue Tiere. Sie spähen nicht da nach Beute, wo ein Jäger pirscht. Und erst recht nicht dort, wo eine Horde gepanzerter durch den Wald zieht. Überdies, Adler jagen viel lieber über offenem Gelände. Im dichten Wald tun Adler sich viel schwerer, Beute zu greifen.“

Was meinst du mit Adler?“ wollte Jodokus wissen. „Welcher Adler?“

Hat ihn keiner gesehen? Keiner von Euch hat den Adler gesehen, der über uns gekreist ist, als wir durch den Bergwald geritten sind?“ Tuvok sah in die Runde, alle Gefährten schüttelten den Kopf. Niemand war der Adler aufgefallen. „Der gleiche Adler ist übrigens schon über dem Rabenkopf gekreist, als ich den Berg bestiegen habe und mit diesem Zauberglas die Flusshexe gesehen habe.“

Woher weißt du, dass das der gleiche Adler war?“ hakte Jodokus nach.

Stadtmensch. Kannst du einen Hund wieder erkennen, der durch die Gassen stromert, oder schauen für dich alle Hunde gleich aus. Ich erkenne einen Adler wieder, wenn ich ihn sehe. Es war der gleiche. Aber für den gleichen Adler wäre die Entfernung doch recht groß vom Rabenberg bis hier her. So große Jagdreviere haben Adler üblicherweise nicht. Außerdem… woher haben die Räuber gewusst, dass sie zur Flusshexe kommen sollen und dass wir sie mit dem Steig um den Rabenberg umgangen haben? Hast du vergessen, was Haldana an Bord belauscht hatte? Die Räuber hätten uns abfangen sollen. Woher hätten sie denn sonst wissen sollen, dass wir sie umgangen haben, wenn uns nicht irgendwer beobachtet hätte? Es war kein Adler, was ich sah. Es war ein Späher. Magier, was sagst du dazu?“

Hesindian legte den Finger an die Wange. „Es gibt da natürlich Zauber, mit denen man Tiergestalt annehmen kann. Ein Zauber der Elfen. Die Thesis kenne ich, ich habe sie damals von Jirka gelernt. Der Zauber ist aber auch unter Magiern, Druiden und Hexen durchaus verbreitet. Es kann also durchaus sein. Aber es bleibt eine Theorie. Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, dann könnte ich das überprüfen...“

Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, überprüfe ich das selbst“ unterbrach Tuvok und fasste nach seinem Bogen. „Ich schieße ihn einfach von Himmel. Einerlei ob das Sisa oder Gerrich ist.“

So kann man es natürlich auch überprüfen“ stimmte Hesindian lapidar zu. „Mit dem Tod würde ein verwandelter Magier seine ursprüngliche Gestalt annehmen. Ich erinnere mich da an einen Pfeilschuss von Odilon Wildgrimm, damals, Alrik, auf unserer Maraskanreise, du erinnerst Dich? Da hatte der feindliche Magier auch in Vogelgestalt versucht, uns auszukundschaften. Ist über der alten Kapelle gekreist, in der wir uns verschanzt hatten. Aber wenn die Ausgekundschafteten über einen guten Schützen verfügt, wie wir damals, ist das… ja, riskant für den Zauberer.“

Ja, ich erinnere mich.“ Alrik nickte. „Das ist eine Weile her, damals in Mylendijians Klause. Hat einen mächtigen Rumms gemacht, als statt eines Federviehs ein ausgewachsener Mann auf das Dach gefallen ist. Der Schuss von Odilon war nicht schlecht. Aus dem Liegen heraus geschossen, hinter einer Sanddüne in Deckung liegend. Damit hatte der Magier nicht gerechnet. Nun, Tuvok, wenn uns wirklich dieser Gerrich aus Adler auskundschaftet, ich kann mich mit deiner Methode zur Überprüfung wirklich anfreunden.“