12. Kapitel
12. Kapitel
Das Geisterdorf
Haldana rieb sich die schmerzende Stirn. Wo war Nasdja?
Richtig. Nasdja war… ein Geist, und Haldana war aus ihrer kurzen Ohnmacht nach dem Sturz vom Pferd erwacht. Ihr brummte immer noch der Schädel. So langsam reichte es mit den Entführungen, durchgehenden Pferden, Geistererscheinungen. Es war nun wirklich zu viel. Wo waren ihre Gefährten? In der Höhle. Haldana erinnerte sich, dass ihre Gefährten die rettende Höhle aufsuchen wollten. Sollte sie zurück gehen? Den Weg würde sie wohl finden. Auch wenn sie sich auf dem durchgegangenen Pferd nicht wirklich auf den Weg geachtet hatte, man musste kein Fährtenleser sein, um die Hufspuren im aufgeweichten Boden zurück zu verfolgen.
Wo war ihr Pferd? Jodokus Pferd? Sollte sie zuerst der Spur weiter folgen und den Warunker suchen, den Jodokus ihr geliehen hatte? Nein, das würde jetzt zu lange dauern. Die Bardin sah sich um. Das Ruinendorf. Nur ein Haus, der Ingerimmtempel, von dem Nasdja berichtet hatte, schien unbeschädigt zu sein. Von den anderen Hütten des Dorfes waren nur die Grundmauern und einige wenige Balken noch an ihrem Platz. Schutthaufen, zu Boden gefallene Dachziegel, zerbröckelte Mauersteine lagen umher.
So langsam hatte Haldana herausgefunden, wie sie ihre Augen auf das ungewohnte Nebeneinander von Geisterwelt und realer Welt einstellen konnte. Wenn sie durch die Ruinen hindurch sah, so als würde sie sich auf ein fernes Ziel konzentrieren, dann verschwammen die Ruinen vor ihren Augen und sie erkannte die Geisterwelt, die aussah, als wäre das Dorf noch so wie vor hundert Jahren. Konzentrierte sie ihren Blick auf die Mauern, so verblasste die unwirkliche Scheinwelt. Haldana schauderte. Aller Verstand riet ihr, die unheimliche Stätte sofort zu verlassen und zu ihren Gefährten zurück zu kehren.
Allein, ihre Füße bewegten sich nicht vom Dorf weg, sondern auf das Dorf zu. Die Neugier war stärker als die Angst und die Vernunft. Wie schon bei dem Fass im Kornfeld setzte die Vernunft schlicht aus. Es wäre normal gewesen, zu flüchten und Hilfe zu holen.
Aber Nasdja wirkte auf sie so vertraut, so als wäre sie mit der Ahnin schon seit Jahren bekannt. Nasdja würde nichts von ihr wollen, das ihr Schaden würde, das wirklich gefährlich würde. Und die alte Ahnin hatte sie um etwas gebeten, hatte ihr gesagt, was zu tun sei. Konnte sie das ignorieren?
Alles in Haldana schien ihr zu sagen, dass sie sich in Gefahr begab, dass sie Kurgasberg nicht betreten sollte. Aber die Warnungen drangen nicht an ihr Bewusstsein. Haldana schritt entschlossen auf das Ruinendorf zu, näherte sich den alten Hütten und Häusern. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf die fernen Berge hin. Die Ruinen verschwammen vor Haldanas Augen.
Haldana nahm schemenhafte Bewegungen aus dem Augenwinkel war. Sie drehte den Kopf. Ein Geist? Etwas bewegte sich. Es dauerte einen Moment, bis Haldanas Augen sich an die geisterhaften Erscheinungen gewöhnten.
Ein geisterhaftes Schild wackelte im Wind. Konnte ein geisterhaftes Schild eigentlich im Wind wackeln, oder wackelte es aus einem anderen Grund? Das musste das Wirtshaus sein. Gewesen sein, sollte Haldana wohl besser denken. Immerhin sahen ihre Augen die Dinge aus der Geisterwelt. Warum eigentlich? Die Bardin wusste noch immer keine Antwort, aber sie war nicht sicher, ob ihre Gefährten das Dorf ebenfalls sehen könnten, wären sie denn hier. Jedenfalls war es vielleicht besser, einen Bogen um die Geistertaverne zu machen. Wenn diese Wirtin böse war, wie Nasdja gesagt hatte. Zur Lore, so stand es nicht minder unwirklich auf dem Geisterschild. Ein passender Name für ein Wirtshaus in einer Bergarbeitersiedlung.
Vielleicht war es besser, zum Tempel zu gehen. Das Gebäude war intakt. War das Zufall, oder hatte das Unheil vor dem heiligen Haus Halt gemacht, vor hundert Jahren? Auch das würde sie vermutlich nie erfahren. Aber die Räuber hatten ihr Lager in dem alten Gemäuer. Nun, egal. Derzeit brachten sie ja gerade die Gefangenen in die Mine, hatte Nasdja gesagt. Vielleicht die beste Gelegenheit, sich gerade jetzt dort umzusehen. Vielleicht war das hilfreich. Bevor sie zum Dorfschulzen ging. Nein, was dachte sie da. Seit wann nahm sie Aufträge von Toten entgegen um Geister zu befragen? War sie jetzt völlig von Sinnen?
Offenbar schon, dachte Haldana und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Wenigstens war es im Tempel warm. Ein warmer Lufthauch strömte ihr entgegen, als sie das gemauerte alte Gebäude betrat und die Tür hinter sich schloss. Ein Feuer brannte in der Esse. Ein Feuer, das die Räuber angemacht hatten? Oder war es ein Ingerimmsfeuer, wie es in den Tempeln des Herrn Ingerimm zu sehen war? Herrje, es war das erste mal in ihrem Leben, dass Haldana einen Tempel des Schmiedegottes betrat. In ihrer Heimat hielt man es mit Travia, Firun, Praios. Einige glaubten auch an Sokramur oder an die Wilde Jagd. Aber Ingerimm… bevor sie Rovik vor einem Jahr getroffen hatte, hatte sie sich nie näher mit der Ingerimmkirche befasst. Tempel des Ingerimm gab es in Zwerch und in Rankaralire, diese hatte sie aber auch nicht besucht. Brannten die heiligen Feuer des Ingerimm eigentlich von selbst, so lange der Tempel geweiht war? Oder musste man wie bei einem gewöhnlichen Feuer Brennstoff nachlegen? Die Bardin wusste es nicht zu sagen. Nun, sie würde es ja sehen, wenn sie länger im Tempel bliebe.
Zu lange durfte sie nicht bleiben. Die Räuber konnten zurück kommen. Die Räuber? Haldana versuchte sich, an die Halunken zu erinnern, die sie im Kampf um die Flusshexe gesehen hatte. Aber sie konnte sich nur an den einen Hünen erinnern, der sie als Geisel genommen hatte und den sie erstochen hatte.
Haldana sah sich im Tempel um. Mehrere Schlaflager, Rucksäcke, etwas Proviant in Kisten verpackt… Der Tempel war ein gutes Lager für eine Räuberbande, sicherlich. Hier würde sich kaum eine Menschenseele hin verirren. Der Weg war weit und beschwerlich zur Straße am Fluss, sicherlich, aber der Rückzugsort war gut.
Haldana stellte sich an das Feuer und wärmte sich etwas auf, während sie sich weiter umsah. An der Rückwand, hinter den Schlaflagern der Räuber, war noch das Relief erkennbar, das den Herrn Ingerimm mit Hammer und Amboss zeigte. Ein wenig verwittert, und Teile des Steinbildes waren abgebröckelt, aber es war in einem guten Zustand, trotz hundert Jahren, in denen das Bildnis Wind und Wetter ausgesetzt war und in denen der Tempel nicht gepflegt worden war.
Ein Durchgang führte vom Hauptraum des Tempels in weitere Räume – eine Tür, die dort wohl früher war, war längst vergangen. Aber zuerst sah sich Haldana die Habe der Räuber durch. Das war wenig ergiebig. Schmutzige Kleider, nichts von Wert. Nur eine Kiste mit Bolzen fand Haldana. Die Armbrustschützin. Haldana erinnerte sich an die Trollbergerin mit der Armbrust. Sie nahm die Bolzen und legte sie in das Feuer.
Ein plötzlicher Schauer durchfuhr Haldana. Sie fühlte sich beobachtet. Schnell drehte sie sich um.
Niemand war da. Nein. Haldana ließ ihre Augen wieder in die Ferne schweifen. Die alten Tempelmauern verschwommen vor ihren Augen. Nun erkannte sie, wer sie beobachtet hatte. Ein Geist. Schwach erkannte die Bardin die Robe eines Ingerimmgeweihten, einen Geist von zwergischem Aussehen, nicht größer als Rovik.
„Hochwürden Ingram, Sohn des Ingalf?“ sprach Haldana den Geist an, der gerade Anstalten zu machen schien, selbst zu flüchten. Der Geist hielt inne, drehte sich langsam zu Haldana. Wenn Geister einen Gesichtsausdruck haben, so sah dieser gleichzeitig furchtsam wie auch entschlossen aus.
„Hochwürden!“ rief Haldana erneut.
Der Geist schien überrascht. Aber er hörte Haldana, das zeigte die Reaktion eindeutig.
„Welcher Geist sucht mich hier heim im Tempel?“ fragte der Geist. „Was sucht eine Spukgestalt an diesem heiligen Ort?“
Beinahe hätte Haldana gelacht. Aber ihr fiel ein, was Nasdja gesagt hatte. „Die Toten wissen nicht, dass sie tot sind“ murmelte die Bardin, zusammenfassend was sie aus der Erzählung ihrer Ahnin verstanden hatte.
Es schien, als würde der Geist lachen. Ein halb befreites, halb ängstliches Lachen.
„Ich verstehe. Geister halten sich für lebend, deshalb fahren sie nicht übers Nirgendmeer. Ist es das, was du sagen willst, Spukgestalt? Diese sieben Gespenster, die seit einigen Wochen den Tempel heimsuchen? Die wissen nicht, dass sie Gespenster sind? Und du willst es ihnen sagen? Dann weißt du, dass du tot bist?“
Haldana bemühte sich, zu lächeln. Von einem Geist als Spukgestalt bezeichnet zu werden, das war mit dem Wort ungewohnt nicht mehr zu bezeichnen.
„Das ist eine sehr interessante Frage. Die sieben Geister?“ Haldana kombinierte. „Du meinst diese Räuber, die hier im Tempel hausen? Nun… Dann lass Dir gesagt sein, zwei von Ihnen haben inzwischen erfahren, dass sie tot sind.“ Die junge Schlotzerin wusste nicht wirklich, was sie antworten sollte. Aber dass zwei der Räuber gefallen sind, das konnte sie bedenkenlos erzählen.
„Zwei… ja. Zuletzt habe ich nur noch fünf Geister gesehen. Nein. Es waren mehr. Es waren zwölf…“ Der Geist schien verwirrt. Haldana war nicht weniger konfus. Immerhin, dank Nasdjas Erzählung und ihrem Wissen um die Geschehnisse außerhalb Kurgasbergs konnte sie sich einiges zusammen reimen.
„Ihr habt Recht, Hochwürden. Von den sieben Räubergeistern habt ihr nur noch fünf gesehen. Die anderen Sieben, die sie begleiteten, waren von ihnen gefangen, nicht wahr?“ Das konnten nur die Traviaakoluthen sein, die Ingram gesehen hatte.
Der Geist nickte. „Aber du kannst mich sehen. Du kannst mit mir reden. Die anderen Geister reagieren nicht auf uns, sie sehen uns nicht. Warum?“
Auf diese Frage hatte Haldana keine Antwort. Lag es an Nasdja? War sie ein… ein Medium? Oder hatten die Räuber schlicht kein Interesse an den Geistern, die für sie harmlos und unbedeutend waren?
„Die sieben, sie sahen wie Diener der Herrin Travia aus, nicht wahr?“ Haldana stellte eine Frage und ließ die Frage des Angroschim unbeantwortet. Wieder nickte dieser.
„Gut, Hochwürden. Ich stelle Dir eine Frage. Wenn ein Geist also nicht weiß, dass er tot ist. Woher wisst Ihr dann, ob ihr lebt oder selbst ein Geist seid?“
„Weil….“ begann der Zwergenpriester „das so ist.“
Haldana überlegte, dass es nichts bringen würde, Ingram zu erklären, wer nun ein Geist war und wer nicht.
„Gut. Und genau so wie Ihr können auch die Räuber und die Traviadiener nicht wissen, ob sie Geister sind oder nicht. Wenn es selbst die Lebenden kaum begreifen, wie sollen es die Toten denn verstehen?“
Ingram sah Haldana fragend an. Das war nicht verwunderlich, konnte doch Haldana selbst kaum verstehen, was sie glaubte, von Nasdja erfahren zu haben.
„Aber, Hochwürden, ihr könnt mir helfen, die Geister zu erlösen. Nun… wie Ihr wohl gesehen habt, haben die Räuber die Diener Travias entführt. Es spielt dabei keine Rolle, ob nun Ihr oder die Traviadiener die Geister sind. Es geht um rechtgläubige Seelen, gleichgültig ob diese noch bei ihrem Körper sind oder nicht. Auf Euch als Priester kann ich doch zählen, die Seelen der Rechtgläubigen zu retten?“
Der Geist des Ingerimmpriester nickte erneut, völlig überrumpelt von den für ihn unheimlichen Ereignissen.
„Gut so.“ Haldana dachte einen Moment nach. Eigentlich spürte sie selbst eine panische Angst in sich hochsteigen. Sie unterhielt sich hier mit dem Geist eines vor hundert Jahren verstorbenen Zwergen, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Aber wenn sie eines als Sängerin gelernt hatte, dann war es, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Jedes Lied, jede Ballade und jede Geschichte erforderten es, dass man die Stimmung der Geschichte transportierte und nicht die eigene. Ein Sänger, der in der fernen Oper von Vinsalt auftreten wollte oder auch nur beim Gallyser Culturspectaculum, der musste ein fröhliches Lied singen können, selbst wenn er selbst todtraurig war. Sie hatte das lange genug geübt, die Stimmung auszustrahlen, die sie wollte und nicht die, in der sie selbst war. Nein, schon zuvor, beim Tod ihres Vaters, hatte sie gelernt, Trauer und Wut in Zaum zu halten und zu verbergen. Manchmal war das überlebensnotwendig.
„Um die Seelen der Traviadiener zu retten, muss ich sie befreien. Sie werden in der Höhle, in der Mine, gefangen gehalten. Deshalb bin ich hier.“
Der Zwergengeist antwortete nichts.
„Aber ich kann das nicht allein schaffen. Ich bin allein gegen die fünf Räuber. Und das ist nicht alles. Es müssen noch mehr Schurken hier sein, die den Traviadienern Übles wollen. Ein ältlicher Mann und eine scheinbar ewig junge Hexe müssen hier sein, vielleicht auch Geister. Ich weiß es nicht. Von diesen geht die eigentliche Gefahr aus. Nicht für mich. Vielmehr für Euch. Diesem Dorf droht Unheil. Irgend etwas Schlimmes geht hier vor. Kennt Ihr Euch in der Mine aus?“
„Natürlich. Wer, wenn nicht der Diener Ingerimms, wüsste über die Mine Bescheid? Ich leite die Grabungen.“
„Gut… doch ich denke, du weißt nicht alles. Irgend etwas haben die Mineure im Berg gefunden. Irgend ein altes Unheil wurde geweckt. Du kannst mir helfen.“
Haldana hatte keine Ahnung, ob es richtig war, was sie tat. Sie hatte keinen Plan. Und dennoch fütterte sie den Zwergengeist mit Informationen. Nun, Nasdja hatte gesagt, dass diese Alfengrund Übles plante. Aber dem Priester, dem konnte sie doch wohl vertrauen? Er würde über den Tod hinaus auf der zwölfgöttlichen Seite stehen, oder? Nun, sie hatte angefangen und sie konnte jetzt keinen anderen Weg mehr einschlagen.
„Es scheint mir so, als hätten manche der Mineure oder auch andere im Dorf nichts gutes vor. Die Gier ist es, die sie treibt. Gier lässt Vorsicht vergessen, Hochwürden. Gier lässt Menschen Schlimmes tun. Ihr müsst vorsichtig sein. Und ich bitte Euch, mir zu helfen.“
„Ja… Aber… Wer bist Du eigentlich“
Die Frage war zu erwarten. Welcher Lebende – oder wer, der sich für einen Lebenden hielt – würde sich denn von einem Geist Anweisungen erteilen lassen. Und ein Geist war sie, jedenfalls in den Augen Ingrams. Aber was sollte sie sagen? Dass sie die Baronin von Schlotz war? Absurd. Eine Baronin, die mit Geistern sprach war lächerlich. Und ein Titel würde hier auch nichts nützen, weil er nichts erklärte.
„Ich bin die Urenkelin einer längst verstorben Schamanin. Wie alt seid ihr, Hochwürden? Wie lange lebt ihr schon hier? Vielleicht schon Jahrzehnte oder gar hundert Jahre, wie das in Eurem Volk möglich ist. Meine Ahnin jedoch verstarb lange bevor hier eine Bergbausiedlung entstand. Das Unheil, das durch die Mineure freilegten, ist jedoch schon länger hier begraben.“
Eigentlich klappte das ganz gut, dachte Haldana. Sie musste auf den armen Priester ebenso geheimnisvoll wirken, wie Nasdja ihrerseits auf Haldana gewirkt hatte. Geheimnisvoll, aber durchaus vertrauenserweckend. Nur dass Nasdja wusste, was sie erzählte, wohingegen Haldana nicht viel wusste, sondern sich teils vage hielt, teils schlicht spekulierte. Jedenfalls hatte sie die Frage nach ihrem Namen noch nicht beantwortet. Nun, wenn der Priester nicht erneut danach fragte, würde sie es besser lassen.
Aber worauf sollte Haldana nun hinaus? Sollte sie den Geist ausschicken, ihre Gefährten zu verständigen? Hesindian als Magier würde vielleicht ebenso mit Geistern reden können. Oder sollte sie um Hilfe bitten, von Wim und Kiara den wahren Namen des Luftgeistes zu erfahren. Nun… Letzteres war vermutlich zielführender. Die Eltern Sisas würden dem Priester vielleicht vertrauen, wohingegen eine von einem Geist überbrachte Botschaft auch nach hinten losgehen konnte.
„Nun, Hochwürden. Ich muss mit den anderen Dorfbewohnern reden. Ich bitte, dich, sage Ihnen, dass sie keine Angst vor mir haben müssen. Ich weiß, wie seltsam das alles scheint, wie viel Angst ihr haben müsst. Aber das Unheil, das über Eurem Dorf liegt, könnt ihr nicht allein bekämpfen. Ihr könnt es nicht mit den Räubern aufnehmen, die in Eurem Dorf spuken. Ich kann es, wenn ihr mir helft. Darum bitte ich Euch, Hochwürden, helft mir, dem Dorf zu helfen.“
"Tritt ersteinmal näher an das Heilige Feuer" sagte der Zwergenpriester, mit feierlichem Bass
in der Stimme. "Lass mich dich ein wenig genauer ansehen! In seinem Schein trennt sich das Unlautere vom Beständigen."
Haldana tat, wie ihr geheißen worden. Lag es am Feuer, oder an dem Gefühl von Hitze, das die glosenden Flammen verbreiteten: Einen Moment lang wurde ihr schwindlig.
Als ihre Seele vom Körper getrennt worden war, da hatte sie sich in einer Hütte befunden. Aber die stand einige hundert Schritt vom Dorf entfernt. Ihr letztes "Erwachen" war weitaus näher an Kurgasberg gewesen. Und was hatte Nasdja zu ihr gesagt? Es wäre sicherer für sie, wenn der Geist von ihrem Körper getrennt wäre. Warum war sie dann wieder in ihre derische Hülle zurückgekehrt?
War sie das überhaupt: in ihren vertrauten Leib zurück gekehrt? Sie spürte gerade keinerlei Müdigkeit, keine Erschöpfung und auch nicht die Folgen des Hagelschlags, der durchaus schmerzhaft gewesen war. Nur eine angenehme Mattigkeit, eine gelöste Stimmung, wie bei einem leichten Höhenrausch, als stünde sie hoch oben auf einem Gipfel der Schwarzen Sichel, über dem Wolkenmeer.
Haldana blickte wieder auf ihre Hand, die blaß wirkte, gräulich und leicht durchscheinend. Die Bardin keuchte.
Weißlicher Kälteatem stieg auf, gleich neben der Heiligen Esse. Ein Feuer, das eigentlich warm und freundlich war.
Zumindest warm und freundlich zu sein schien.
Sie war noch immer ein Gespenst?! Aber irgendwie war sie gerade...gesprungen, von einem Ort zum anderen. Auch ihre "Großmutter" war verschwunden. Alles fühlte sich unwirklich an, wie in einem Traum. Vermutlich wurde sie deswegen nicht vom Grauen überflutet. Hier wirkten Kräfte, die sie nicht verstand.
Der Zwerg stand immer noch vor ihr, in seiner Lederschürze und hatte mittlerweile zum Hammer gegriffen.
Sie musterte den kleinen Mann. Die rotbraunen Haare waren zu Zöpfen geflochten, auch der Bart. Anders als bei Rovik war das Gesicht nicht klobig, sondern scharf geschnitten, einschließlich der Nase. Ingram sah verschmitzt aus – oder verschlagen? Wie konnte es sein, dass ein Geweihter nach dem Tod dazu verurteilt war, als Spuk herumzuirren, in einem trostlosen Gebirgstal wie diesem? Hatte er sich am Ende von seinem Gott abgewandt? Oder Ingerimm von seinem Diener?
Erst jetzt, im flackernden Lichtschein des Tempelfeuers, nahm sie den zarten, grünlichen Schimmer wahr, der von der Gestalt des Priesters ausging: ein ungesunder, fahler Farbton, der Haldana an den giftgrünen Schleim im Pechfass erinnerte, damals in Jodokus Brauerei. Ein mattes Glühwürmchen-Grün...merkwürdig, dass das Ingram nicht auffiel. Sie sah an sich selbst herab. Nein, ihr Leib war zart-durchsichtig wie Laternenpapier, das man vor eine Kerze hielt, aber nicht grünlich.
Ob die Aura des Priesters mit dem verfluchten Regen zusammenhing, der aus der Grünen Wolke auf das Dorf gefallen war? Das Gift schien immerhin dämonischen Ursprungs zu sein. War das der Grund, warum die Seelen der Kurgasberger nicht Einzug in die Zwölfgöttlichen Paradiese halten konnten? Oder in die Verdammnis, je nachdem?
Haldana hätte sich jetzt gerne mit einem Geweihten unterhalten, über dieses Problem. Aber der einzige, der, mehr oder weniger, greifbar war - der schien Teil des Problems zu sein.
Ingram hob die mächtigen Augenbrauen, in scheinbarem Erkennen.
"Nein...Nein, du bist kein Gespenst", stellte er fest, und klang dennoch beunruhigt.
"Die Anderen...das sind nur Schemen...Geräusche...Stimmen...Gerüche. Manchmal widerliche Gerüche. Dich aber sehe ich ganz deutlich. Was bist du? Eine Zauberin? Hast Du diese Geister herab beschworen? Im Hause des Herrn des Feuers? Das wäre Frevel… Überhaupt, was trägst du für eine gar seltsame Haartracht?"
Die junge Adelige wusste für einen Moment nicht, was sie antworten sollte.
"Bist du eine Spionin? Sag an, auf welcher Seite im ewigen Thronstreit stehst du? Geldana? Oder Perval?"
Totenstille.
Perval, den Namen hatte Haldana natürlich schon gehört. Das war der grausame Kaiser, der siegreich aus den Erbfolgekriegen hervorgegangen war.
Der Sohn Bardurons von Mersingen, der in der Schlacht von....sie kam sich vor, als stünde sie gerade vor ihrem Hauslehrer, auf Burg Schlotz. In der Schlacht um Albernia gefallen war? Von Elenvina? Egal, in irgendeiner Schlacht im Westen war Barduron tödlich verwundet worden.
Das war sicherlich vor mehr als einem Jahrhundert gewesen. Geldana, der Name sagte ihr im Moment nichts, auch wenn er ihrem eigenen ähnelte. Sie war froh, diesen nicht genannt zu haben. Offenbar waren Geldana und Perval verfeindet, und das bedeutete, Partei ergreifen zu müssen.
Die Kaiserlose Zeit. Ein Menschenleben lang Krieg.
Diese unseligen Jahrzehnte kannte sie eigentlich nur aus ihren Balladen. Brennende Dörfer, entvölkerte Provinzen, aufgeknüpfte Elendsgestalten. Trommelwirbel, Federbüsche, flatternde Fahnen. Landsknechte und Söldner, die für ihren jeweiligen Kaiser kämpften, ebenso wie um das Gold fremder Königreiche. Oder einfach nur ums nackte Überleben. Mehr als siebzig Herrscher sollten es am Ende gewesen sein. Diese Zahl hatte sie irgendwo aufgeschnappt, ebenso ein paar Namen. Flanedrius, Tedesco. Oder eben Barduron und Perval…
Bet, Kindlein, bet. Morgen brennt Gareth. Ing´rimmskäfer flieg. Die Mutter ist im Krieg. Der Vater ist im Tobrierland. Tobrierland ist abgebrannt...
Unwilkürlich hatte sie die todtraurige Melodie gesummt, als "Pfeifen im Walde", um ihre Furcht zu überdecken.
Wenn Ingram das Lied kannte, ließ er es sich nicht anmerken. Er senkte seinen Hammer.
"Stehst du überhaupt noch auf irgendeiner Seite, armes Kindlein?" Der "grüne Zwerg" schüttelte den bärtigen Kopf, und klang ebenfalls traurig.
Vermutlich hielt er sie jetzt eher für eine Verrückte, eine Landstreicherin, der das Elend des Krieges den Verstand gekostet hatte.
Sich als Gespenst auszugeben war ja auch nicht gerade die beste Tarnung für eine Spionin.
Der Meister der Esse wich zurück. "Du siehst wirklich ein wenig wie ein Geist aus" sagte er. "Bist du krank? Kommst du aus dem...Süden? Von Praios her?"
"Aus dem Norden" sagte sie einsilbig.
"Fürwahr, du sprichst wie jemand aus den Sichellanden...?"
"Ja..."
"Hausen da oben immer noch die Tobrier?"
"Äh, ich denke, ja..."
"Stimmt es, was man sich erzählt - dass das tobrische Kriegsvolk sich bereits mit Geldanas Haufen vereint hat? Und sie nun gemeinsam gegen Perval marschieren, den Vatermörder?"
Geldana...Geldana...so langsam konnte sich Haldana wieder an ihren Geschichtsunterricht erinnern, nebst Einweisung in die Historie der bedeutenden Adelshäuser Aventuriens. Jetzt konnte sie das Wissen wenigstens einmal anwenden, das ihr damals höchst unnütz vorgekommen war. Nicht, dass sonderlich viel davon haften geblieben war...aber Geldana, ja, die "Kaiserin", die fast genauso hieß wie sie, und einen Nivesen geliebt hatte - bei diesem Namen dämmerte ihr so langsam doch etwas.
Geldana war eine nahe Verwandte Pervals gewesen, seine Base oder Schwägerin. Die Herrin in Garetien, die sich nach dem überraschenden Tod "Kaiser" Bardurons zur Reichsverweserin ausgerufen hatte. Perval "der Ritterliche" hatte seine aufsässige Verwandte aber rasch in die Flucht geschlagen. Geldana von Gareth hatte dann den Rückzug in den hohen Norden angetreten, dort einen Nivesenkrieger geehelicht und das Haus der Herzöge von Paavi gegründet. Ihre Herrschaft und ihr Sturz waren in einem einzigen Götterlauf über die Bühne gegangen - eine runde Zahl, auch daran konnte sich Haldana jetzt wieder erinnern. 920? Nein, später. Wahrscheinlich930 nach Bosparans Fall. Die "Jahre des Richtblocks" hatten in dieser Zeit begonnen, als Perval seine letzten Widersacher im Reich beseitigt hatte.
"Von solchen Dingen weiß ich nicht viel, Hochwürden."
Haldana musste trotz allem schmunzeln. Sie reiste ebenfalls mit einem Nivesen durch die Lande, und hatte fast den gleichen Namen wie diese Geldana. Eine grausameTyrannin, derman nachsagte, Feinde lebendig eingemauert zu haben. Das unterschied sie dann doch ein klein wenig, Geldana und Haldana.
Der Zwerg musterte sie ausgiebig. "Wie bist du über die Palisade gekommen? Die Kurgasberger dulden keine Fremden in ihrem Dorf. Wer hat dir die Haare abrasiert - und warum?"
"Die Darpaten wollten nachsehen, ob ich die Pocken habe", sagte Haldana geistesgegenwärtig. "Wie du siehst, haben sie nichts gefunden, nicht einmal auf dem Kopf."
"Die Aranische Seuche!" Ingrams Stimme bebte vor Grauen. "Das überhaupt noch jemand lebt, unten am Fluss?"
"Das ist schon einige Tage her, und seitdem habe ich keine Menschenseele mehr getroffen."
"Nun hältst du dich für einen Geist? Die anderen, waren das deine Gefährten, die an der Seuche gestorben sind?" Der Zwerg klang teils mitleidig, teils mißtrauisch und furchtsam. Haldana konnte förmlich spüren, wie er sich aus dem Gesagten eine Geschichte formen wollte, die mit der Welt zusammenpasste, die er kannte. Und in Wahrheit schon längst verloren hatte.
"Wahrscheinlich spricht aus dir das Fieber...Du hast doch nicht etwa vom Flusswasser getrunken? Ein Trunk, der einem wahrlich schlecht bekommt. Der Darpat ist verseucht, von den vielen Toten..."
"Du hast selbst gesagt, dass es stimmt, was ich dir von den Geistern erzählt habe. Sogar ihre Zahl. Ich muss sie erlösen!"
Jähes "Verstehen" flackerte im grünlichen Zwergengesicht auf.
"Du bist eine Zauberin ? Natürlich, ein Hexenweib...Ihr schneidet euch die Haare ab und bindet sie zu Knöten. Um Geister aus dem Totenreich herbeizurufen!" Ingram hob seinen Schmiedehammer. "Man sollte dich ins reinigende Feuer unseres Herrn Ingerimm werfen."
Haldana seufzte, begleitet von einem weißlichen Atemwölkchen. "Das war wirklich eine Zeit der Wirren damals" entschlüpfte es ihr.
Ein jähes Brüllen lenkte sie ab: "Selmiaaa! Selmiaaa!"
Als wären sie auf der Theaterbühne des Gallyser Culturspectaculums gelandet, stampfte plötzlich das Halbblut herein - ihr trollgroßer, zottelhaariger, buntbemalter Geißelnehmer vom Darpat. Die Hautgemälde waren allerdings schon verblasst, wie der ganze Räuber. Dafür hatte er nun ein großes, blutiges Loch im Hals. Seinen karierten Umhang zierte ein einziger großer, roter Blutfleck.
Trollings Augen irrten umher: "Wo bist du, verdammte Schlampe? Glaubst du, ich habe nicht gespürt, dass dich einer der Dreckskerle angegriffelt hat? Wer wars? Balrik - oder Roburn? Ich bin noch keinen Tag tot, und du gehst schon fremd, du Hure!"
Haldana überlegte, ob sie in Deckung gehen sollte oder sich verstecken sollte. Aber in ihrem Zustand war das wahrscheinlich schwierig. Oder konnte sie jetzt durch Wände laufen?
"Da ist das Miststück ja, das mich umgebracht hat!" brüllte der Räuber, mit hallender Stimme. Immerhin schien er keine Waffen bei sich zu haben - und zu wissen, dass er verblichen war. Nichtsdestotrotz stapfte er wütend auf Haldana zu.
"Im Namen des Allmächtigen Baumeisters der Welt!" Der Ingerimmgeweihte ging dazwischen. "Haltet ein! Das hier ist ein Haus des Ingerimm und damit Heiliger Grund! Wahret Frieden!"
Unbeherrscht schlug der Riese nach dem Zwerg, der durchaus geschickt auswich - und sich mit dem Hammer revanchierte.
Die Waffe prallte gegen das Bein des Störenfrieds und hinterließ eine merkwürdige leuchtende Wunde, die wie ein Blitz durch Trollings Leib zuckte. Ein weiterer Schlag, und Trolling zerstob wie eine Rauchschwade.
Ingram blickte triumphierend drein, aber auch ein wenig verwirrt, ob des unerwartet schnellen Sieges.
"Ah, entschuldige, Kindchen, er ist mir irgendwie entwischt" Nasdjas Stimme erklang, die nun ebenfalls in den Tempel schwirrte, mit wehenden Geisterzöpfen. Ein Duft nach Bienenwachs breitete sich aus.
"Nasdja, wo warst du?" Haldana war erleichtert, die Ahnin wieder an ihrer Seite zu wissen.
"Und-Ihr-seid?" fragte Ingram gedehnt.
"Nasdja Persanzeff. Ich diene Mokoscha, der Herrin der Bienen. Das, äh, ist meine Gehilfin..."
"Also doch Hexenwerk!"
"Nichts da. Mokoscha ist eine Tochter Ingerimms...zumindest behauptet ihr Diener der Zwölfe das von unserer Großen Mutter."
"Was hat das alles zu bedeuten? Norbarden? So weit im Süden? Steht ihr in tobrischen Diensten?"
"Nasdja, du bist einfach verschwunden...Das heißt, ich wurde irgendwie...zurückgeschleudert. Plötzlich war ich wieder im Tal. Was ist geschehen?"
"Ja, das ist mir am Anfang auch passiert. In diesem Geisterdorf sind wir Eindringlinge. Das Tal akzeptiert uns nicht als Teil von Kurgasberg, sobald es sich wieder an die Geschehnisse von damals erinnert...sozusagen...ach, es ist schwer zu erklären...mit Willenskraft kann man aber dagegen ankämpfen, gegen das Wegschleudern."
Ingram war nun völlig perplex. "Noch bin ich hier der Hausherr. Nach Ingerimm natürlich. Ich erheische eine Erklärung...und zwar eine, die mich überzeugt..."
Nasdja blickte zu Haldana. "Was hast du ihm erzählt? Hast du versucht, es ihm schonend beizubringen?"
"Moment", mischte sich wieder Ingram ein. "Sehe ich es Recht: Ihr seid die Schamanin, die seit vielen Jahrhundert verstorben ist?" Der Zwergenpriester versuchte ein amüsiertes Lächeln. "Ich zähle selber schon 120 Lebensjahre...aber Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich ihr diesen Unsinn abkaufe? Wahrlich, eure Gehilfin ist kein verirrter Geist. Mir dünkt, sie hat einen verirrten Geist!"
"Ich habe ihm gesagt, dass ich auf der Suche nach den Geistern von Traviapilgern bin, um sie zu erlösen", sagte Haldana. "Das war wohl nicht sehr....geistreich, oder?"
"Ach, Kindchen. Wie erklärt man das Unerklärliche? Aber uns läuft gerade die Zeit davon. Ich fürchte, wir müssen es ihm auf dem schnellen, harten Weg beibringen."
Nasdja wandte sich Ingram zu. "Hast du schon einmal vom Rasiermesser des Nandus gehört? Nandus, der Hüter der Einsicht und Erkenntnis? Ein Hesindediener hat mir einmal davon erzählt, vor ,äh, vielen Jahren."
"Ich rasiere mich selten" Der Geweihte versuchte spöttisch zu klingen, während er sich über seinen grünlich glimmenden Bart strich, gefolgt von einer auffordernden Geste.
"Nun. Wenn du alles ausschließt, was unmöglich ist. Dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unglaubwürdig sie dir auch erscheinen mag."
Haldana hob die Augenbrauen. Aha, eine solch hochphilosophische Herangehensweise war für Nasdja also der "schnelle, harte Weg" des Erklärens?
"Werte Dame, ich weiß nicht, ob wir von dem gleichen Sprichwort reden. Ich kenne die Weisheit, wonach einfache Erklärungen den komplizierten vorzuziehen sind."
"Nun denn. So spürst du noch die Gegenwart deines Gottes, in dieser Halle, und in dir selbst?"
Ingram schnaubte, eine Spur zu heftig. "Was für eine völlig unsinnige, nein, lästerliche Frage!"
Seinem Gesicht war allerdings anzumerken, dass die Zibilja einen wunden Punkt berührt hatte.
Die Norbardin lächelte milde. "Immerhin spukt es bereits, an diesem einstmals heiligen Ort..."
"Fürwahr, es sind unselige Zeiten, in denen wir leben. Das hier ist ein Haus des Ingerimm, kein Tempel des Götterfürsten, der jedwede Magie aus seinen Heiligtümern verbannt. Aber was heißt hier einstmals? Dieser Ort ist noch immer heilig! Auch der Schmiedegott schätzt zauberische Ränke nicht...die Welt des Handwerks und der Zivilisation ist wohlgefügt, so wie wir sie im Schweiße unseres Angesichts erschaffen, nach dem Vorbild des Großen Meisters. Mit Bedacht, Fleiß und Kunstfertigkeit. Nicht mit magischen Zeichen, Flüchen, Sprüchen, Gesten und anderen Absonderlichkeiten!"
Der Zwerg klang mahnend, wie ein Zunftmeister bei der Freisprechungsfeier.
"Aber du musst doch stumme Zwiesprache mit deinem Gott gehalten haben, was die merkwürdigen Ereignisse in seinem Tempel betrifft?"
"Gewiss."
"Was hat er dir geantwortet?"
Schweigen.
"Du hast ihn sicherlich auch gefragt, was es mit diesem Unheiligtum auf sich hat, in der Tiefe des Bergwerks?"
Ingram zwirbelte sich nervös die Bartzöpfe: "Ihr sprecht, als wüsstet Ihr bereits die Antwort?"
"Es ist ein Unheiligtum der erzdämonischen Feindin der Göttin Peraine" sagte Haldana und wunderte sich, wie ruhig sie klang.
"Verzeiht, dass ich Euch vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe...nicht die ganze Wahrheit...ich verstehe, wie sehr Euch dies alles beunruhigen muss...Aber die...Erscheinungen hängen zweifelsohne mit dieser Höhle zusammen."
Die grünlich schimmernden Augen des Zwergs wanderten mal zu Nasdja, mal zu Haldana.
"Wer war der ungebetene Gast gerade eben?"
"Einer der Räuber, die die Traviapilger entführt haben" sagte Haldana. "Ich habe ihn getötet."
"Noch ein Geist also?" Der Geweihte lachte, eher nervös als wirklich unbeschwert. "Also gut, ich denke, ich beginne ein wenig zu verstehen. Der Eingang in die Höhle muss unbedingt verschlossen werden?! Vortrefflich, das war auch mein Ansinnen, gerade eben in der Dorfversammlung, in der Lore. Aber sie sind wie verrückt...einer hat behauptet, er hätte im Bach schon Silber gesehen. Man kann einfach nicht mehr mit ihnen reden. Und nun taucht ihr noch hier auf. Wenn ihr keine Hexen seid, keine Spione, keine Schurken: Was in Ingerimms Namen seid ihr dann?"
"Keine Verrückten", antwortete Haldana.
"Droht diesem Dorf eine Gefahr?" Ingrams Stimme wurde drängender.
"Nun, ich fürchte, das Unheil, um das es geht..ist schon längst geschehen...aber du kannst noch verhindern, dass Schlimmeres geschehen wird." Die Stimme der Zibilja klang ein wenig stockend.
"Ihr sprecht in einem fort in Rätseln."
"Kurgasberg...Das Dorf...Ich weiß, wie verstörend das klingen muss. Aber ich fürchte, ihr seid schon alle tot...tot und gestorben..."
Ingram schüttelte erneut den Kopf. "Wir sind schon so gut wie tot? Ich fürchte, ihr beide seid es, die den Ernst der Lage verkennt. Es gibt einige im Dorf, die keinerlei Skrupel haben, dahergelaufene Fremde zu erschlagen und irgendwo in den Bergen zu verscharren. Bevor sie den Roten Tod ins Kurgastal bringen oder irgendwelches plünderndes Söldnerpack anlocken".
"Dafür, dass ihr jeden Fremdling umbringt, seid ihr gut über die Ereignisse im Tiefland informiert", meinte Haldana. "Warum hört ihr dann nicht uns zu?"
"Nun, man kann sich auch auf Zuruf verständigen. Wir Kurgasberger sind keine Einsiedler. Wim Brundel vertraut mir - ab und an tausche ich Dinge ein, die wir selber nicht herstellen können. Natürlich halte ich dabei Abstand. Man legt die Ware in einiger Entfernung ab, oder das Silber. Eine Frage des Vertrauens. Ihr werdet mir nun endlich die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit. Oder ich muss euch beim Dorfschulzen melden."
Haldana war fast ein wenig enttäuscht. Irgendwie hatte sie erwartet, dass Nasdja, ihre allwissende Schamanen-Vorfahrin, die Sache mit wenigen Worten erklären würde. Stattdessen schien die Norbardin selbst nicht mehr weiter zu wissen. Rasiermesser des Nandus...? Sie hatte mal ein Bild des Hesindesohns gesehen, da war er ihr wirklich merkwürdig glattrasiert vorgekommen. Der Gott der Weisheit, den stellte sie sich irgendwie rauschebärtig vor, als einen ehrwürdigen alten Mann. War das der Weg zur Erkenntnis: Jeden Trugschluss weg zu schaben, bis nur noch die reine Wahrheit übrig blieb?
Was hatte Nasdja gesagt, bei ihrer ersten Begegnung? Es ist der Verstand, der euch den Blick versperrt. Oder so ähnlich...
Tatsächlich sah sie sich nun genauer in dem kleinen Tempel um, der nun wirklich wie ein Ingerimmtempelchen aussah: Das Relief mit dem Abbild INGerimms glänzte wie am ersten Tag, an den Wänden hing Bergmannsgerät, die bunten Glasfenster waren nicht zerbrochen und zeigten fleißige Bergleute, Zimmerer, Schuster oder Schmiede bei ihrem Tagwerk. Das Feuer brannte in voller Pracht.
Wohin war die Schlafstätte der Räuber verschwunden, mit den Kleidern, dem Plunder und den Vorräten? Sie konnte die Habseligkeiten der Bande nicht mehr sehen...so war es auch beim letzten Mal gewesen. Am Anfang war die Welt der Lebenden noch zum Greifen nahe gewesen, und dann irgendwie entrückt worden, bis...
Die summenden Bienen hatten sie ins Diesseits zurückgeholt, daran vermochte sie sich noch gut zu erinnern.
Sie blickte auf die Heilige Esse, in der noch immer die Armbrustbolzen lagen, als Feuerholz. Ohne zu verbrennen?
Erstaunt trat Nasdja näher. Eine der Pfeile ragte über den Rand der gemauerten Feuerstelle hinaus. Sie nahm das Geschoss an sich, das tatsächlich nicht einmal verkokelt war, sondern vollkommen unbeschädigt. Der Bolzen fühlte sich merkwürdig stofflich an, ebenso fremdartig...und schien eine Art Erinnerung zu wecken. Als sie über die Spitze hinweg blickte, verwandelte sich vor ihren Augen das stolze Landtempelchen wieder in eine traurige, halb überwucherte Ruine, mit leeren Fensteröffnungen, eingestürztem Dach, rissigen, bröckelnden Wänden. Dort an der Wand war auch wieder das Räuberlager zu erahnen. Von außen wallte Nebel herein. Nasdja und der Geweihte sahen merkwürdig schemenhaft aus, selbst ihre Umrisse waren kaum noch zu erahnen.
"Hochwürden Ingram? Hochwürden Ingram?"
Es dauerte eine Weile, bis der Ingerimmgeweihte sie überhaupt wahrzunehmen schien. Verwirrt glitt er näher.
Aus einem Gefühl heraus reichte Haldana ihm den Armbrustbolzen. Erstaunt taste der Zwerg über das Holz und die Fiederung...und sah entsetzt um sich. Zwinkernd stellte Haldana fest, dass sie selbst wieder im "Geistertempel" stand.
Mit merkwürdig hallendem Aufschrei ließ der Geist den Bolzen fallen. Er schien gerade das selbe gesehen zu haben wie sie.
"Kompliment, Haldana, du denkst schon fast wie eine Zibilja. Manche Gegenstände können tatsächlich eine Brücke zwischen den Welten der Lebenden und der Toten schaffen." Nasdja war neben ihre Nachfahrin getreten.
"Das ist alles nicht wahr", keuchte Ingram. "Das ist alles nur Hexenwerk...das sind alles nur Trugbilder...Zauberei..."
"Nein, es ist der Tempel, wie er wirklich aussieht: Eine Ruine. Was glaubst du eigentlich, woher dein grünes Leuchten kommt?"
Der Zwerg raufte seinen Bart. "Was wollt ihr von mir, warum behext ihr mich?"
"Ich bitte dich, du weißt selbst am besten, wie schwer Zwerge zu verzaubern sind...und dann noch Geweihte...Zeit, ein paar unangenehmen Tatsachen ins Auge zu blicken...In deinem Innersten hast du es doch längst schon geahnt."
"Ingerimm, O Ingerimm, steh mir bei."
"Hast du heute schon das Dorf verlassen?"
"Wie? Gewiss....zum Feuerholz holen...heute morgen, ja...."
"Und wie weit bist du dabei gekommen?"
"Ich bin nicht weit hinausgegangen...alles war voller Nebel...da war nichts...nur ein kleines Murmeltier...irgendwie...kam es mir bekannt vor...."
Ingram wirkte nun völlig verstört. Er setzte sich auf einen Schemel, der Hammer fiel ihm aus den Händen.
Entsetzt starrte er seine grünlich leuchtenden Finger an. "Wir haben den Rest der Steine mit bloßen Händen weggeräumt. Da ist dieses Licht, dieses Zwielicht...in der Grotte...ich, ich dachte...es hat mit dem Gestein zu tun...oder mit einem Leuchtpilz...aber, ihr habt recht....das grüne Glimmen ist schon da, seitdem ich heute morgen aufgewacht bin...es ist überall...irgendetwas stimmt mit diesem Dorf nicht mehr. Diese Narren! Sie halten es für ein glückliches Omen...wenn es sie überhaupt kümmert...wenn sie es überhaupt sehen wollen. Was-ist-das?"
"So genau wissen wir es auch noch nicht", sagte Haldana, und wunderte sich selbst, wie fest ihre Stimme dabei klang. "Nur, dass Eure Seelen von den guten Göttern getrennt sind. Unsere Feinde nennen es die Grüne Wolke. Es ist ein Gift aus den Niederhöllen, das Menschen geradewegs in den Wahnsinn treibt."
"So bin ich selbst vom Wahnsinn ergriffen - und sehe deshalb Gespenster ?!" Der Zwerg gluckste, scheinbar vergnügt. Endlich schien er eine tragfähige Erklärung für das Rätsel gefunden zu haben, das ihn umgab.
"Nein", sagte Nasdja. "Die Wesen, die ihr für Gespenster haltet, das sind die Lebenden...ich sagte es bereits. Es ist alles längst geschehen. Der Untergang von Kurgasberg wiederholt sich jedes Jahr aufs Neue, seit mehr als hundert Jahren schon. Um Mitternacht wird sich der Nebel da draußen in eine grüne Wolke verwandeln, euch alle durchtränken, mit dem Brodem des Chaos. Ich sehe es nun klarer. Es ist der Bach, der das Verderben bringt, erst sich selbst und dann den Nebel grün färbt. Ein Nebel, der in die letzten Ritzen eurer Häuser kriechen und alles verseuchen wird. Die Grüne Wolke ist in dieser Schreckensnacht entstanden. Wer das Miasma einatmet, wer es berührt, der erkrankt scheinbar an den Zorgan-Pocken, und schlimmer noch an der Furcht vor der Pestilenz. Ja, es ist eine Art von Wahnsinn. Es wird Mord und Totschlag geben, das Dorf brennen und Kurgasberg für immer untergehen..."
"Kurgasberg...wird....untergehen..." echote der Geweihte. Es war, als wolle er die Belen-Horas-Nachrichten, die ihn nun ereilten, und die er so lange von sich gewiesen hatte, nun in sich aufsaugen. "Aber...ich leuchte doch schon grün...und fühle mich leicht...wie ein Glühwürmchen im Wind..."
"Ich sage es noch einmal. Die Vergiftung ist schon passiert - eine Folge davon ist, dass es immer und immer wieder aufs Neue geschieht. Ingram, du bist ein aufrechter Diener deines Gottes. Wer wüsste besser als du, dass es am Ende eines Lebens nicht mehr auf das Leben ankommt? Sondern darauf, dass die Seele den Weg ins Licht findet. Dieser Weg aber wurde euch versperrt...man könnte auch sagen, er wurde euch gestohlen. Du kannst jetzt nichts mehr für Kurgasberg tun, wie du es kennst. Die Seelen der Bewohner wurden bereits verdorben, von ihren sterblichen Leibern getrennt und vom Pfad des Guten weggelockt. Deine Pflicht ist es, sie wieder zurück zu geleiten, zu den guten Göttern zu führen. All jene, bei denen eine Erlösung noch möglich ist. Auch deine Seele kannst du noch retten. Glaubst du mir, Ingram, glaubst du mir das?"
Der Geweihte nickte schwach: "Aber...wenn dieser niederhöllische Brodem so machtvoll ist...wie vermag ich da Kurgasberg zu erlösen?"
"Nun, in der Welt der Lebenden versucht die Tochter Wim Brundels heute nacht, die Grüne Wolke ein weiteres Mal zu beschwören. Diesmal, um Rommilys damit heimzusuchen. Ich vermute, mit Hilfe des Luftgeistes. Den Sylph, wie ihr ihn nennt".
"Rommilys? Die Fürstenstadt? Was will man da noch verderben?"
"In der Welt, die ihr schon vor langer Zeit verlassen habt, ist Rommilys wieder eine wohlhabende Stadt geworden. Ich brauche dir nicht zu sagen, was es bedeutet, wenn Sisas Plan Erfolg hat..."
"Sisa? Die kleine, süße Sisa?" Ingram brachte ein gequältes Lächeln zustande. "Das kleine Mädchen tut doch niemanden etwas zuleide. Sie ist ein wenig seltsam, gewiss, sieht Dinge, die andere nicht sehen...aber das tue ich gerade auch, haha..."
"Hast du sie heute schon im Dorf gesehen?"
"Nein. Ihre Eltern vermissen sie auch schon...aber sie ist nunmal überaus eigenwillig. Spricht mit den Krähen, den Schweinen, Hühnern oder den Fröschen am Bachufer. Wer weiß, auf was für närrische Gedanken sie heute wieder gekommen ist..."
"Aber sie weiß, wie der Luftgeist mit wahrem Namen heißt, nicht wahr? Ebenso wie ihr Vater..."
"Mag sein... ich habe diese Geschichte nie recht geglaubt....Unser Freund, der Luftelf, der Kurgasberg auf wundersame Weise vor der Sieche bewahrt. Ebenso unsichtbar wie wunderbar. Für mich ist das alles nur ein Luftschloss. Ein Trick, damit niemand auf die Idee kommt, Wim Brundels Machtstellung über dieses Dorf anzuzweifeln. Vielleicht wurde Sisa verschleppt, um an den Namen des Sylphen gelangen? Dieser Raulinde würde ich ein solches Schurkenstück zutrauen...dem geizigen Bauern Otmar, oder Firundar dem neunfingrigen Holzfäller. Sie sind jetzt schon verrückt. Der Glanz des Silbers hat sie schon lange vor dem grünen Leuchten verrückt gemacht. Womöglich halten sie das arme Mädel irgendwo gefangen..."
"Nein, Ingram. Sisa ist allein deswegen nicht mehr in Kurgasberg, weil sie die Grüne Wolke überlebt hat. Anders als ihr. Ein kleines, unschuldiges Kind findet manchmal ein Versteck, wo es vor dem Bösen sicher zu sein scheint. Aber ihr Herz ist nun auf eine andere Weise verseucht, denn sie hat die Macht einer Erzdämonin kennengelernt. Mittlerweile ist sie selbst den Mächten der Finsternis anheimgefallen. Ich bin sicher, wenn es uns gelingt, die Grüne Wolke zu vernichten, wird der Fluch gebrochen sein. Aber dafür brauchen wir den Namen des Luftgeistes. Er allein kann den Pestodem nach Rommilys treiben...oder die Grüne Wolke auflösen."
Nasdja pustet ein weißes Dampfwölkchen in die Luft und lächelte verschmitzt.
Haldana, die ihrer Ahnherrin die ganze Zeit zugehört hatte, bekam große Augen (und Ohren). Bislang hatte es geheißen, dass der "Luftikus", den sie ja schon kennengelernt hatte, in der Lage war, das monströse Riesen-Flugfass anzuheben. Aber offenbar verfügte er noch über weitere Rollen - in den Plänen sowohl Sisas als auch Nasdjas.
"Schamanin, hör zu." Ingrams Miene hellte sich wieder ein wenig auf: "Du hast vorhin am Fenster der Lore gelauscht, nicht wahr? Einen Moment lang habe ich dort deinen Schatten gesehen...das war der Grund, warum ich die Schenke verlassen habe. Sag mir, was du alles mitbekommen hast?"
"Nicht viel. Geister sehen noch schemenhafter aus, wenn man sie durch ein Butzenglasfenster beobachtet. Und sie sind noch schwerer zu verstehen. Es ging wohl um die Höhle. Um den Schutz, den der Sylph für Kurgasberg bedeutet, und dass sich die Dörfler vor nichts zu fürchten brauchen, da ihr Schulze seinen wahren Namen kennt. Dank seiner Tochter. Gestritten wurde auch, um das Recht, Silber abbauen zu dürfen."
"Nun, Schamanin, ich dachte, ihr Geisteranbeter" - ein gequältes Zwergenlächeln - "glaubt mehr an die Macht der Elemente als an die Macht von Namen. Bevor ich mich als Brillantzwerg auf Wanderschaft begeben habe, bin ich selbst in einer Zwergenbinge aufgewachsen. Inmitten von Feuer, Fels und Erz. Ich frage dich, welchen wahren Namen könnest du diesen Elementen geben - außer Feuer, Fels und Erz?"
Nun war es an Nasdja, verständnislos zu blicken.
Dem Zwerg schien es zu gefallen, dass zur Abwechslung einmal er selbst der Eingeweihte war. "Was ich damit sagen möchte: Welchen wahren Namen sollte ein Luftelementar schon haben? Welchen Namen hat der Wind und der Sturm, der Schnee und der Regen über den Bergen? In der Vergangenheit haben ab und an Kobolde das Bergwerk heimgesucht. Angeblich kann man diese Plagegeister bannen, wenn man ihre Namen kennt. Die ohnehin unaussprechlich sein sollen. Aber bei so etwas schwer Greifbarem wie einem Luftgeist? Das wäre in den Wind gesprochen. Nein. Eher kann man die Geister der Berge mit bloßen Händen haschen und in eine Kiste sperren."
"Aber...Sisa hat es irgendwie geschafft, Macht über diesen Luftelfen zu erlangen. Wie hat sie das angestellt?"
Haldana kam sich immer mehr vor wie in einem fiebrigen Traum. Alles fühlte sich völlig unwirklich an. Der Zwerg, ihre "Großmutter", sie selbst.
In dem Moment, als der Zwergenpriester (wie hatte er sich genannt? Brillantzwerg?) sein Los akzeptiert hatte, war eine Veränderung mit ihm vor sich gegangen. Sein Gesicht wurde noch durchscheinender, die Andeutung eines Totenschädels war zu erahnen, ebenso wie Knochen hinter seinen Fingern. Die Schlotzerin schauderte. Der ganze Tempel wirkte jetzt beklemmend, eher wie eine Gruft als das Haus eines Gottes. Selbst das gerade noch so anheimelnde Feuer war nur noch ein gespenstisches Wabern.
Haldana spürte, dass sie wieder...weg zu treiben begann, in Gefilde, die nicht mehr schrecklich waren und faszinierend....sondern nur noch furchteinflössend.
"Ich bin Ingerimmpriester, kein Geisterbeschwörer. Zumindest war ich es bis zum heutigen Tag." Der Brillantzwerg lachte auf, ein hohles Skelettlachen. "Ach was, heutiger Tag. Wartet, wartet. Da fällt mir etwas ein. Wim Brundel ist Falkner. Zumindest behauptet er das von sich. Im letzten Sommer hat seine Tochter einen jungen Bergadler angeschleppt, durchbohrt von einem Pfeil. So ist Sisa. Sie haben ihn geheilt, beringt und wieder in die Freiheit entlassen. Ja, ja, ich erinnere mich. Wahrscheinlich ist Wim dadurch auf die verrückte Geschichte mit dem Luftelfen gekommen. "
"Ein Bergadler?" Nasdja legte den Zeigefinger ans wachsglänzende Kinn. "Luftgeister nehmen manchmal die Gestalt von Tieren an, die ihrem Element entstammen...womöglich genügt schon ein Ring aus Erz, um ein solches Wesen der Lüfte zu binden."
Nun war Stimmengewirr zu hören, von draußen - eigentlich nur ein dumpfes Wispern, Grollen, Flüstern und Raunen.
"Ingraaaam...Wir wissen, dass Freeemdeee in deinem Tempel sind!"
Sie gingen zum Eingang und sahen auf den Dorfplatz, wo grünlicher Nebel waberte. Merkwürdige Lichteffekte wechselten sich ab mit den Schatten von Häusern. Schemenhaft tauchten drei, nein, vier Dutzend Dörfler aus dem Dunst auf, mit Hacken, Dreschflegeln, Forken, die sie in knochigen, grünlich schimmernden Händen hielten. Zorn und Wut war in den totenschädeligen Gesichtern zu sehen und mehr noch zu spüren. Zorn, Wut - und Verderbtheit.
Vorneweg schritt ein hagerer Mann mit Schnauzbart, der ein klein wenig norbardisch aussah. Vor allem wirkte er untot, mit seinem Knochenleib, den nur noch die Ahnung eines menschlichen Körpers umgab. Sein Haupt schmückte ein altmodisches Federbarett, die Haare schienen zu wehen, obwohl überhaupt kein Wind spürbar war.
"Mein Tempel? Es ist unser aller Tempel", sagte Ingram feierlich, der nun wieder seinen Hammer in Händen hielt.
"Ein Tempel, in dem Geister umherschleichen. Geister und andere ungerufene Gäste." Die Stimme des Anführers klang drohend. "Wir wollten dich holen, Ingram. Deine Stimme fehlt in der Beratung. Stattdessen triffst du dich heimlich, still und leise mit Fremden. So stimmt es also doch, was Gerhelm berichtet hat."
"Seid Ihr endlich zu einem Ergebnis gekommen, Wim? Ihr habt meine Warnungen vor dem Abgrund gehört - und leider missachtet."
"Lenk nicht ab. Du weißt, dass wir keine Eindringlinge im Dorf dulden. Aus gutem Grund..."
"Sie wollen uns sicher bestehlen" keifte eine verschlagen blickende Frau, mit wirren, lockigen Haarsträhnen über einem mehr als nur eingefallenen Gesicht. Hinter einer großen Schürze lugten bereits Rippenknochen hervor. In ihrer untoten Linken hielt sie eine Schnapsflasche, gefüllt mit Branntwein, in dem sich eine große Made ringelte.
"Alle wollen nur unser Silber. Der Reichtum, der uns Kurgasbergern gehört, uns allen - und niemand sonst."
"Unser Silber, Raulinde?" Der Geist, der einmal Wim Brundel gewesen war, sah seiner Tochter tatsächlich ähnlich. Trotz seines grausigen Aussehens klang seine Stimme allerdings sanft und gutmütig.
"Dieses Gespräch führen wir lieber ein anderes Mal zu Ende. Wir sollten nun besser beratschlagen, wie wir unser neues Problem lösen...Deine Gäste haben womöglich die Seuche in den Tempel getragen, Ingram. Oder sogar schon ins Dorf, was die Götter verhüten mögen. Du kennst die Regeln. Fremde haben zwei Wochen in der Hütte vor dem Dorf zu warten, bis wir wissen, ob sie krank sind. Vor dem Dorf, Ingram. Was hast du dir dabei gedacht? Ausgerechnet du spielst mit dem Leben eines jeden einzelnen von uns?"
"Du bist viel zu nachsichtig, Wim Brundel", zischte die Wirtin. "Es sind die Fremden, die uns den Tod bringen. Also sind es unsere Feinde. Es ist nur gerecht, wenn wir sie auch so behandeln. Wie Todfeinde. Schaut sie euch doch an...selbst die Haare haben sie ihnen geschoren. Die Alte schaut aus, als käme sie geradewegs aus Aranien." Raulinde Alfengrund spuckte auf den Boden - die Geisterspucke verwehte im Nebel zu einem dampfenden Nichts.
Die dumpfen Laute der Schemen und Schatten um sie herum deuteten auf Zustimmung.
Wim Brundel hob seine Hand und gebot der Geisterschar Ruhe. Nur widerwillig beruhigte sich die Menge wieder. "Verstehe ich dich recht? Wir sollen diese Unbekannten einfach erschlagen, wie streunende Hunde? Dabei kommen wir ihnen aber sehr nahe. Womöglich zu nahe. Und das möchtest du doch nicht, oder, Raulinde? Man kann sich auch durch Blut an den Händen anstecken."
"Der Loderbach ist ebenfalls nahe", zischte Raulinde. "Blut lässt sich abwaschen. Die Pest nicht mehr."
Wim Brundel seufzte, und klang ein wenig resignierend. Der Knochenmann musterte die Frauen, die im Tempeleingang standen. Offenbar sah er die Welt schon mit anderen Augen. Sein marbides Äußeres schien ihm nicht im Geringsten bewusst zu sein, ebensowenig wie den übrigen Kurgasbergern. Spürte er dafür die Verwandtschaft, die ihn mit Nasdja und Haldana verband? Er schien einen Moment lang nachzusinnen.
"Die Fremden hatten mit niemandem Kontakt außer mit Ingram", sagte der Dorfschulze schließlich. "Auf das Urteil von Hochwürden Ingram ist, für gewöhnlich, Verlass. Vielleicht genügt es, wenn sich alle drei im Tempel einschließen, und wir sie die nächsten zwei Wochen versorgen. Aber zunächst möchte ich wissen, wer deine Gäste sind, Ingram, und was sie in unserem Dorf zu suchen haben."
„Dieser Frage ging ich gerade auf dem Grund, Schulze. Ich habe schon viel erfahren. Bis ihr alle gekommen seid und hier alles durcheinander bringt. Im Übrigen: Da Geister nicht stofflich sind, können sie auch keine Krankheiten übertragen. So viel ist klar. “
Raulinde wollte auffahren, aber eine Handbewegung von Wim ließ sie schweigen. „Es ist besser, du gehst jetzt mit den anderen wieder ins Gasthaus. Ich kümmere mich hier um alles.“ Der Tonfall des Schulzen ließ keinen Widerspruch aufkommen. „Ihr habts gehört.“ brummte sie. „Trinken wir wieder einen.“
Haldana atmete innerlich auf, als die Meute an Geistern verschwunden war und nur die Geister von Ingram und Wim übrig blieben. Mit denen, so hatte sie das Gefühl, konnte man reden. Mit den anderen, nun, das schien bei den Lebenden nicht anders zu sein als bei den Toten, verhinderte die reine Anzahl ein ruhiges Gespräch.
Haldana war immer noch verwirrt. Ein großer Teil von ihr wollte nicht glauben, was sie hier sah. Redete sie wirklich mit Geistern?
„Das tust du“ sagte Nasdja. „Du bist ein Medium. Auch wenn du es erst seit kurzem erlebst, so bist du schon immer ein Medium gewesen. Allein, es tat Not, dich zu erwecken, damit du mehr von der Welt siehst als nur die Oberfläche. Verzeih, Haldana. Ich sollte mir abgewöhnen, in deinen Gedanken zu lesen.“
„Nun… die Frage ist noch offen“ erinnerte Wim. Was habt ihr hier im Dorf zu suchen?“
„Wie ich Hochwürden Ingram schon erklärte… Ihr habt schon diese Räuber gesehen, die sich hier im Tempel nieder gelassen hatten.“ begann Haldana erneut. „Diese haben sich mit einer Hexe und einem Schwarzmagier verbündet, gemeinsam sind sie für all das Übel hier verantwortlich. Und sie haben die Seelen von sieben Pilger der Travia gefangen. Wir müssen sie befreien. So wie wir alle Seelen hier retten müssen.“
Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. Irgendwie fiel es ihr zunehmend schwerer, sich zu konzentrieren. Vielleicht – ganz sicher – war das alles einfach nur ungewohnt für sie.
„Wir können die Traviapilger retten“ führte Haldana die Rede fort. Aber vieles hängt mit dem Adler zusammen, den Sisa ins Dorf gebracht hat. Wie hat Sisa diesen doch gleich genannt?“
Überrumpelung und Dreistheit siegen immer wieder, dachte Haldana
„Aarmarian“ stammelte Wim.
Langsam beruhigte sich das Toben der Elemente wieder. Die beiden vermissten Kameraden von Serdans Truppe tauchten wieder auf. Die Grenzreiter hatten, wenn auch arg zerschrammt, im Bergwald Zuflucht gefunden. Haldana aber blieb vermisst.
Immerhin, die Sonne spendete noch etwas rötliches Licht, und der Abend war frühsommerlich warm. So würde die restliche Feuchte rasch aus den Kleidern weichen.
An der engsten Stelle der Schlucht war ein Erdrutsch niedergegangen, aber vom aufgestauten Loderbach rasch wieder weggespült worden. Das Wildwasser strömte nun in zahlreichen kleinen und großen Kaskaden über den eingestürzten Damm hinweg oder durch ihn hindurch. Überall türmten sich Schlammhalden, zersplitterte Baumstämme, Geröllhaufen. Tuvok war verzweifelt. Er fürchtete, sein Schützling könne irgendwo in dem Chaos verschüttet oder mitgerissen worden sein. Er beruhigte sich erst wieder ein wenig, als Haldanas Brauner antrabte - wenn auch ohne Herrin. Von der Bardin fehlte nach wie vor jede Spur. Allerdings, wenn das Pferd noch am Leben war, dann mochte auch die junge Adelige Glück gehabt haben.
Neben einer kleinen Tanne fanden sie Haldanas Dukatenbeutel. Im Bach verschwunden war sie schon mal nicht. Sie folgten dem Fußweg, die Pferde wurden am Zügel geführt. An einer eingestürzten Hütte entdeckte Tuvok Fußspuren, die weiter ins Tal führten. Rasch wurde es dunkel. Keine halbe Wegstunde später führte sie der Pfad zur alten Bergarbeitersiedlung.
„Das ist schon ein trostloser Flecken“ murmelte Tuvok, als er im Schein der Lampen die verfallenen und eingestürzten Hütten sah.
„Hättest du mal sehen sollen wie das hier früher aussah. Sogar einen Ingerimmtempel hat er hier einmal gegeben“ erzählte Rovik. Ein Priester aus meinem Volk war hier früher und hat seine Schäfchen angeleitet. Hier wurde einmal Silber abgebaut. Die Ader soll zeitweise recht ergiebig gewesen sein. Vor hundert Jahren, wie man so erzählt bei meinem Volk.“
„War das eine Zwergenbinge?“ wollte Serdan wissen.
„Nein, eine menschliche Mine. Aber dennoch, das kriegt man bei uns mit, wenn irgendwo eine Mine aufgemacht wird. Auch wenn ihr Großfüße mal zum buddeln anfangt.“
Jodokus lachte ansteckend über den Witz des Angroschim. Vorsorglich, nicht dass Serdan oder einer der Soldaten sich irgendwie provoziert fühlte bei den Worten des Zwergen. „Ja, Kurgasberger Silber, den Namen kennen die Alten noch in Rommilys. Das Silber war für seinen Reinheitsgrad bekannt. Man musste nicht so viel verhütten, naja, so ungefähr. Mir fehlt da jetzt die Fachkenntnis. Aber es war wohl ganz gut, das Silbererz hier.“
„Hmm“ brummte Rovik zustimmend. Ob er der fehlenden Fachkenntnis des Brauereibesitzers oder dem guten Reinheitsgrad zustimmte, blieb offen.
„Aber der Tempel scheint noch zu stehen. Das achteckige Gemäuer dort sieht doch aus wie ein Tempel, oder?“ warf Hesindian ein. „Zwar kenne ich achteckige Tempel eher von der Herrin Hesinde, aber warum nicht auch beim Herrn der Feuer.“
„S´ gibt auch achteckigen Basalt. Ist meistens sechseckig, in Einzelfällen aber achteckig. Daher die Form.“ erläuterte der Zwerg.
Alrik nickte zustimmend, auch wenn ihm die Formen von Basalt im Augenblick nicht sehr interessierte. „Wir können die Pferde hier anpflocken, bevor wir in das Dorf gehen. In den Ruinen bringen uns die Reittieren nichts, und wenn wir uns die Mine anschauen wollen, müssen wir ohnehin einen Platz für die Tiere finden.“
„Aber dann sollten wir unbedingt den Tempel anschauen“ befand Rovik. „Immerhin das einzige erhaltene Gebäude hier.“
„Ist recht, Rovik.“ bestätigte Alrik. „Wir werden uns den Tempel ansehen. Irgendwo müssen wir ja anfangen.“
Serdan stellte zwei seiner Leute ab, um auf die Reittiere aufzupassen und den Weg zum Dorf im Auge zu behalten. Er befand es nicht für notwendig, mit seiner Halblanze in den Tempel oder in die Ruinen einzufallen. Wenn man später die Mine betrat, konnte er immer noch anders entscheiden.
„Haldana!“ rief Jodokus aus, der als erster den Tempel betrat. „Bei Firun, bin ich froh, dass du lebst!“
Mit raschen Schritten folgte Tuvok in den Tempel, um sich zu überzeugen, dass es seinem Schützling gut ging. Die junge Schlotzerin brauchte aber keinen Schutz. Sie hatte es sich schlicht auf einem der Deckenlager im Hauptraum des Tempels bequem gemacht und schlief. Erst als Jodokus sie gerufen hatte, kam sie langsam wieder zu sich.
„Zwölfgrüezi“ brachte sie verschlafen hervor. „Ihr wart uf enmal verschwund´n...“ murmelte sie. Wenn die Geister sich selbst für lebend hielten, konnte sie auch behaupten, die anderen und nicht sie selbst wären verschwunden gewesen. Alles war nur eine Frage der Betrachtungsweise.
„Ich habe mir sorgen um Dich gemacht“ Tuvoks Stimme klang halb erleichtert, halb vorwurfsvoll.
„I wo, des brauchts nit.“ Die Bardin stand auf. „S´war ganz intr´ssant hier. Ab´r s´isch guat, das ihr da sit. De Rüba hend die Pilg´r in da Mine g´fangen. Da wern´s itz alle si“
„Meine liebe Schwester im Stand“ begann Alrik. „Wir haben Soldaten aus Perricum bei uns. Wäre schön, wenn diese dich auch verstehen würden. Sonst müssen wir nachher alles wiederholen.“
„Ach so. ja. Stimmt. Entschuldigung“ brachte Haldana hervor, streckte sich und wechselte ins Garethi. Dann blickte sie in die Runde. „Ihr seid soweit wohlauf. Ich habe mir sorgen um Euch gemacht.“
„Es war an uns, uns Sorgen zu machen. Ihr wart verschwunden.“ warf Weibel Serdan ein.
„Gewiss. Aber genau das ist es, was ich gerade verdeutlichen wollte. Für mich wart ihr alle verschwunden. Das ist alles eine Frage der Betrachtung. Natürlich an sich ohne Bedeutung, aber ihr müsst verstehen, das Dorf und seine Bewohner zu verstehen.“
„Das ist ein Geisterdorf. Hier wohnt niemand.“ stellte Alrik nüchtern fest.
„Das ist ein Geisterdorf, tatsächlich.“ bestätigte Haldana. „Hier wohnen Geister“
„Und du bist zu heftig auf den Kopf gefallen, als der Gaul mit Dir durchgegangen ist.“ brummte Jodokus.
„Das auch, fürwahr. Aber Schlotzer Schädel halten einiges aus. Vielleicht liegt es am Trollblut unserer Vorfahren, das in unseren Adern fließt.“ Haldana lachte.
„Ach hör auf und werde ernst, liebes Kind“ parierte Jodokus, den väterlichen Geschäftsmann mimend. Eine Rolle, die er gegenüber Haldana ja bislang nicht eingenommen hatte.
„Gut, Jodokus. Das mit dem Trollblut ist natürlich nichts anderes als Schwarzsichler Käse.“ stimmte Haldana zu. „Aber Geister gibt es hier. Das solltet ihr mal tatsächlich wissen. Irgendwas ist hier vor hundert Jahren passiert, wobei fast das ganze Dorf ausgelöscht wurde. Und die Seelen der Dorfbewohner haben dabei keine Ruhe gefunden. Wer das nicht weiß, kann leicht Angst bekommen, wenn man einem Geist begegnet. Nicht alle übrigens sind uns wohlgesonnen. Mit manchen kann man aber ganz gut reden. Also der alte Ingram zum Beispiel, der Priester dieses Tempels...“
„Du kannst dir Deine Geschichten für den nächsten Tavernenabend aufsparen“ knurrte Alrik. „Wenn du etwas zu berichten hast, dann sachlich. Wenn du aber nur einen Schwank für die Tavernen hast… gerne später, wenn wir wieder in Rommilys sind.“
„Gut, ich sehe ein, ich muss euch das anders erklären.“ Haldana dachte nach. So wirklich leicht zu erklären war das nicht. Sie verstand ja selbst nicht alles. „Jedenfalls, soweit ich das mitbekommen habe, haben die Räuber – ihr seht ihre Lager hier im Tempel – die gefangenen Traviapilger in die Mine gebracht. Und da weder Räuber noch Pilger wieder zurück gekommen sind, sind sie vermutlich noch alle dort. Also wenn wir die Räuberbande besiegen und die Pilger befreien wollen, dann müssen wir da rein.“
„Das hört sich schon mal logisch an“ kommentierte Hesindian. „Besser als die Geistergeschichte.“
„Spektabilität, spottet nicht.“ Haldana sah Hesindian mit leicht vorwurfsvoller Miene an. „Ich weiß das von den Geistern. Ich habe mich eine Weile mit Ingram unterhalten. Also mit seiner Seele. Und mit Wim Brundel, dem Dorfschulzen. Das ist der Vater von Sisa Brundel. Ich weiß nicht, wie ich das Euch erklären soll.“
„Du hast zu viele schlechte Geschichten gehört“ brummte Alrik.
„Vermutlich hast du recht, ich habe schon viele schlechte Geschichten gehört. Und sicher auch erzählt. Aber diese hier ist wahr. Vor hundert Jahren ist die Katastrophe über das Dorf herein gebrochen. Das hat alle hier das Leben gekostet. Bei Praios, Alrik, du siehst doch die Ruinen hier. Und du glaubst doch nicht, dass der Hexer von Rommilys sich zufällig dieses Dorf und diese Mine hier ausgesucht hat, für seine Pläne. Du hast doch das Gift schon mal abbekommen, das von hier kommt. Dieses unheilige Miasma, dieses Pustelerregende dämonische Zeug. Das kommt von hier. Die Dörfler haben damals zu tief gegraben in ihrer Gier nach Silber. Irgendwas da unten haben sie entdeckt. Dabei sind alle Dorfbewohner ums Leben gekommen. Alle, bis auf eine. Die schwarze Hexe. Die weiß, was hier schlummert, und sie wird es wieder wecken, Alrik. Also hör mir zu, auch wenn du nicht alles verstehst, was ich sage. Ich kann es selbst nicht alles verstehen. Aber es ist so. Irgendwas ist in der Mine. Vergiss die Geister hier. Entweder du wirst sie selbst sehen, oder es ist belanglos, was ich gesagt habe. Aber wir müssen in die Mine. Wir müssen Gerrich und Sisa fassen, oder Rommilys wird untergehen. Was meinst du, was passiert, wenn die Hexe das unheilige aus der Tiefe der Stollen befreit und nach Rommilys wehen lässt? Dagegen ist die gepanschte Darpatperle doch bestenfalls ein kleiner Kater.“
„Ist ja gut“ beschwichtigte Hesindian. „Soweit sind wir uns einig. Wir müssen in die Mine.“
„Vergiss nicht, von dem Luftelementar zu erzählen“ erinnerte Nasdja Haldana.
„Ja. Halt dich mal da raus, du verwirrst mich ganz.“ antwortete die Schlotzerin.“
„Jetzt reiß Dich aber mal zusammen, Haldana. So musst du meinen Hofmagier auch nicht zurecht weisen.“ Alrik wurde ein wenig ungehalten.
„Wie… ach ja. Nein, nicht Hesindian. Nasdja soll sich raushalten.“ versuchte Haldana zu erklären.
„Wer?“ bohrte Rovik nach.
„War das nicht der Name, mit dem du diese Norbardenleiche benannt hast?“ fragte Jodokus
„Ihr habt nicht so viel Zeit, Haldana. Wenn Sisa das Ritual durchführt, ist es zu spät.“ erinnerte Nasdja erneut.
„Mensch, Nasdja, ich kann nicht mit Lebenden und Toten gleichzeitig reden!“
„Haldana, mit wem redest du?“ fragte Tuvok, sichtlich besorgt.
Haldana schnaufte einmal tief durch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um die wirre Pracht auf ihrer rechten Kopfseite halbwegs zu bändigen.
„Nasdja sagt, das Sisa einen Luftelementar kontrolliert. Ein mächtiges Wesen muss dieser Luftgeist sein. Hesindian, hilf mir. Ich kann das nicht wirklich formulieren, weil ich das nicht verstehe. Aber dieser Luftgeist, er steht unter der Kontrolle der schwarzen Hexe, und man kann ihn nur aus dem Bann befreien, wenn man seinen Namen kennt.“
„Luftelementar...“ wiederholte Hesindian. „Das kann sein. Das würde passen. Dann war es kein Elfenzauberer, der uns in Adlergestalt ausspioniert. Dann war das ein Luftelementar. Ja, so hört sich das plausibler an. Der Elfenzauber passt auch nicht recht zu Gerrich und Sisa. Und, ja, manche Wesen kann man tatsächlich nur kontrollieren, wenn man ihren wahren Namen kennt. Aber wenn das so ist, dann haben wir ein Problem. Wo sollen wir den Namen erfahren?“
„Er heißt Aarmarian“ antwortete Haldana.
„Hat das Nasdja auch gesagt?“ frage der Magier stirnrunzelnd.
„Nein. Das war Wim. Wim Brundel. Sisas Vater.“ erzählte Haldana mit ruhiger Stimme, als würde sie über einen Nachbarn von daheim reden und nicht über einen Geist.
„Also, Haldana, jetzt hör mal auf. Langsam reicht es aber mit den Geistergeschichten.“ Jodokus war sichtlich verwirrt.
"Hast du denn überhaupt keine Gespenster in deiner Rommilyser Villa?" Alrik lachte auf, vielleicht ein wenig zu laut. Der Friedwanger griff zu seinem "Flachen Valpo" und nahm einen tiefen Schluck. Nervös spähte der Mondschatten um sich. Das flackernde Laternenlicht zeichnete wandernde Schatten und rötliche Flecken auf die Mauerreste. Irgendwo in den Bergen heulte ein Wolf, und klang dabei selbst ängstlich. Der Baron versicherte sich der Gegenwart seinen Fuchsamuletts unter dem ergrauten Spitzbart.
"Die Hälfte meiner Verwandten sind Gespenster", sagte er und hustete. "Da ist schon mal Oswin, der Türmer...steht in dunklen Winternächten oben auf dem Bergfried, neben der Wache am Feuer. Zumindest behaupten das manche Büttel steif und fest. Dann gibts noch Olas Blutstropfen...angeblich hinterlässt die selige Baronin mitunter etwas von ihrem Lebenssaft im Schloss. Wann immer sie sich über ihre Nachfahren aufregt. Also uns."
"Die Geschichte kenne ich gar nicht" Hesindian warf einen Blick auf die gemauerte Feuerstelle des Tempels, wo mehrere Armbrustbolzen lagen. Darunter befanden sich Asche und Holzreste. Offenbar hatten die Räuber hier ein Feuerchen gemacht. Der Magier tupfte mit den Finger hinein und blies ein Staubwölkchen hoch. "Kalt wie eine Gruft."
"Oleana Schwanenhals. Die Schöne Baronin, die angeblich selbst Grafen und Fürsten heiraten wollten, von Weiden bis Almada. Ein Junker von Rabenmund hat ihr einen Liebesbrief geschickt, bei der Brautwerbung. Beinahe hätte sie seinem Ansinnen nachgegeben, aber dann hat sie sich im Garten an den Dornen einer Rose gestochen – und beim Anblick der Blutstropfen daran erinnert, dass die Fürstenfamilie ihren Großvater Barnhelm einen Kopf kürzer gemacht hat." Der Friedwanger deutete mit der Hand Halsabschneiden an. "Der Kopflose Barne. Der soll in Friedwang schon an den umöglichsten Stellen aufgetaucht sein, auf der Suche nach seinem davongekullerten Haupt. Völlig orientierungslos, wie schon zu Lebzeiten."
"Den Kopf haben sie ihm abgeschlagen? Warum denn das, in Praios Namen?" Jodokus schluckte.
"Angeblich wollte Barnhelm schon damals eine eigene Grafschaft Schwarze Sichel erreichen, zur Zeit der Gründung Darpatiens, unter Reichskanzler Randolph. Eine Geschichte, von der man in unserer Familie nur ungern spricht. Ebenso wie vom Begrabenen Büttel. Oder von Herdfriede, der Weißen Frau von..."
"Schon gut, schon gut" Der Patrizier begann zu frösteln. "Ich glaube eure Spukgeschichten fast schon ein wenig...aber nur fast...zumindest mehr als das wirre Gerede Haldanas."
"Baron Barnhelm von Friedwang? Der mit dem Cui dolet, meminit?" Hesindian spähte im magischen Fackelschein seines Zauberstabs hinaus in die Nacht. Der Blick des Magisters war ebenfalls unruhig. Sein scharfer Magierinstinkt schien es zumindest für möglich zu halten, dass sich in der Nähe underische Wesenheiten aufhielten.
Alrik nickte. "Wer Schmerz erleidet, erinnert sich daran. Oder auch: Gebranntes Kind scheut das Feuer." Der Friedwanger trank erneut und sah hinauf, zu einem Loch im Tempeldach, über dem das Madamal gespenstisch leuchtete. Schwarze Wolkenfetzen eilten am Nachthimmel vorbei. "Der Wahlspruch unseres Hauses. Ich fand den Spruch schon immer wehleidig. Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen - das Motto gefällt mir weitaus besser. Vom Unfassbaren Schleicher an den Sternenhimmel versetzt zu werden, damit könnte ich mich anfreunden...aber nicht, die ganze Nacht mit Ketten herumzurasseln, zu heulen und zu wehklagen. Ja, ich denke ich werde es als Spruchband über mein Wappen stellen. Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen...klingt richtig gut. "
"Ist ja auch von dir." Hesindian zuckte zusammen, als der Wolf erneut heulte. Es war mehr ein klägliches, kehliges Winseln als stolzer Wolfsgesang. Nervöses Wiehern und Stampfen antwortete, aus Richtung der Pferde. "Meister Isegrimm macht mich auch ganz verrückt."
"Wir sollten langsam wieder mal einen Plan für das Hier und Jetzt fassen." Jodokus kratzte sich am Kopf. "Wir sind hier nicht in Friedwang, und leider auch nicht in Rommilys. Sondern in der schlimmsten, zwölfgötterverlassensten Einöde, in die ich mich jemals verirrt habe."
Hesindian legte versonnen die Hand ans Kinn. "Das kann man so auch wieder nicht sagen."
"Ich weiß nicht, in welchen Wüsteneien du schon unterwegs warst, Magier. Ich finde es selbst im Katzloch gemütlicher oder auf dem Boronanger in der Litzelstadt..."
"Das meine ich nicht. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Dass das hier rein gar nichts mit Friedwang zu tun hat. Das Tal hier erinnert mich schon ein wenig an Gießenborn. Nicht ganz so lieblich und auch nicht weintragend. Die Felsen sind aus Kalk, nicht Schiefer, gewiss. Aber es gibt ein paar Übereinstimmungen. Das Silberbergwerk, der Wasserfall - und ein mächtiger Luftgeist. Wie beim Luftigen Lobesan im Gießental..."
"Der Luftige Lobesan?" Alrik wischte ein Spinnwebchen vom Ingerimmrelief. "Der Löbliche Luftgeist von Gießenborn...na, ich weiß nicht...das Gießental kommt schon ein wenig freundlicher daher als dieser... Trümmerhaufen mitten in der Wildnis."
"Aarmarian, so hat Haldana den Luftgeist genannt. Das klingt schwarzsichlerisch. Nicht nach den Trollzacken. Aarmar der Riese, ein Sohn der Sokramor...er hat das Land südlich der Sichel gepflügt..." Hesindian begutachtete ein geborstenes Fenster. "Eine typische Sage der Sichel".
"Die das arme Kind irgendwo aufgeschnappt hat, gewiss. Ich sag euch, Haldana ist völlig durch den Wind." Der Baernfarn sah auf die Bardin, die sich tatsächlich in die Decke gewickelt hatte und totenblass vor sich hinstarrte. "Ich bin ja froh, dass wir sie wiedergefunden haben. Aber bedenkt, was ihr in den letzten Tagen alles widerfahren ist. Der Schlag auf den Kopf in Helbers Hof war da noch das Wenigste..."
Tuvok atmete scharf durch. Du brauchst grad was sagen, stand ihm auf der gerunzelten Stirn geschrieben. Fast schon hilfesuchend sah er zu Rovik, aber der schien in eine Art Zwergenandacht verfallen zu sein, vor dem verwitterten Bildnis Ingerimms.
"Mit deiner Magie...ich meine, du könntest doch mal nachschauen, sozusagen...obs hier spukt...ob sich hier... was rumtreibt." Alrik spähte, noch immer unruhig, über seine Schulter, und tastete nach der Fuchskopf-Pfeife. "Ein wenig unheimlich ists mir schon zu Mute. Da ist so ein ständiger Eishauch. Als ob gerade jemand auf meinem künftigen Grab herumläuft...wie die Sichler sagen."
"Das hier ist ein Ingerimmtempel. Ein geweihter Ort. Zumindest die Ruine davon. Was soll sich hier schon herumtreiben?" Hesindian schritt leicht geistesabwesend auf und ab.
Alrik nickte. Natürlich, sein Freund geizte wieder mal mit seinen astralen Kräften. "Ausgebrannt, hm?"
"Nein, ich denke nach. Aarmarian. Aarmarian. Aarmar-Iama, der Name sagt mir etwas. Das soll der ältere Name des Luftigen Lobesans sein. Was auf Isdira, der Elfenzunge, soviel wie Freund des Aarmar heißt. Aarmar-Iama blickt mit seinen Adleraugen bis in die tiefsten Täler der Sichel und Herzen der Menschen. Er erspürt mit seinem Schnabel sogar Gold und Silber, tief unter den Bergen. Der Preis für diesen Dienst besteht in einem Stück des eigenen Fleisches, das man ihm als Atzung anbieten muss..."
"Kling eher dämonisch als nach einem freundlichen Luftgeist..."
"Du weißt wie die Friedwangen sind: Sie lassen es harmlos klingen, wenn sie zu den Alten beten. Die nicht gut sind oder böse, wie die Götter und Erzdämonen. Sondern einfach nur sind: Machtvoll und uralt. Lobesan wirkt für mich eher wie ein Titel als ein Name. Und was dieses angebliche Geisterdorf angeht. Auch da gibt es eine ähnliche Geschichte im Gießenbornschen. Weißenkohl, der Verwunschene Weiler, der von Orken niedergebrannt worden ist und alle 13 Jahre wiederkehren soll...in den Namenlosen Tagen."
Alrik setzte sich auf das Bruchstück einer umgestürzten Säule, um seine Pfeife zu stopfen, und anzuzünden. "Jaja, die Sagen der Sichel. Oder auch nur Friedwangschen Geschichten. Die verrückten Gebrüder Trollgrimm kennen jede Menge davon, auf unserer Burg. Mein Kanzler Herdmund soll sogar aus diesem Verwunschenen Weiler gestammt haben. Glaub mir, ich war öfters zwischen Rübenscholl und Gießenborn unterwegs, wo das Dorf auf halbem Weg gestanden haben soll. Dort gibt es ein paar Mauerreste, aber bestenfalls von einem einsamen Gehöft...nicht von einer ganzen Wüstung."
"Und dennoch sind die Parallelen zu Kurgasberg bemerkenswert, findest du nicht."
"Wie? Nein, eigentlich nicht. Kurgasberg in den Trollzacken soll ein Zwillingsdorf von Gießenborn sein, in der Sichel? Wie das? Man könnte meinen, ihr Magier werdet für die Theorien bezahlt, die ihr in einem Moment aufstellt und im nächsten wieder verwerft." Alrik begann aufgeregt zu paffen. Er hustete und verwedelte die Rauchwolke, die leicht grünlich schimmerte.
Jodokus schüttelte den Kopf. "Genug mit diesen Spukgeschichten. Seht ihr nicht, dass Haldana völlig durch den Wind ist? Bei der Heiligen Noiona, merkt ihr denn nicht, dass es diese sprechende Honigmumie, die Geister und das alles nur in ihren Kopf gibt...sie hat einfach zu viel durchgemacht und braucht jetzt Ruhe. Wie wir alle."
Haldanas Kopf ruckte hoch, mit einem hohlen, tiefen Lachen.
"Seht Ihr!" Jodokus klang anklagend.
"Es stimmt also doch", sagte die Baronstochter dumpf. "Danke, Nasdja und Haldana, das ihr mir die Augen geöffnet habt, über mein wahres Dasein. Mein Nichtsein."
Mit merkwürdig starrem Blick sah Haldana in Richtung des Magiers und des Barons von Friedwang. Dann ging sie geistesabwesend im Tempel auf und ab und langte sich an den Kopf. "Wie das hier aussieht...Gütiger Herr des Feuers...Das darf doch nicht wahr sein. All die Jahre voller Mühe und Arbeit vergebens. Umsonst, alles umsonst!"
Abrupt blieb sie stehen, sah mit verschleierten Augen um sich.
"Hört...hört Ihr mich? Mein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Ich bin der Geweihte dieses Tempels."
Jodokus seufzte, und auch Tuvok blickte entsetzt. Rovik blinzelte irritiert, als er aus seinem Gebet erwachte. "Wie was?"
Der Baernfarn blickte um sich, als würde er nach einer Selemer Jacke suchen, und legte begütigend die Hand auf die Schulter der jungen Frau, mit Noionitenlächeln. "Haldana, du bist sehr verwirrt, was ich natürlich verstehe...aber...dein Name ist immer noch Haldana..."
Die Angesprochene sah ihn durchdringend an, so dass Jodokus schaudernd zurückwich.
"Eure Gefährtin war so liebenswürdig, mir ihren Körper zu leihen, um mich mit eigenen Augen zu überzeugen. Das heißt, eigentlich mit ihren Augen...Wen erblicke ich denn dort? Ein vertrautes Gesicht aus meinem Volk...?!"
Rovik runzelte die klobige Stirn. "Das ist...Zauberei...Weiche von mir!"
Haldana lächelte versonnen. "Ich habe euer Gespräch mit angehört. Sagt mir nur, wer hat den Krieg gewonnen? Perval? Oder Geldana?"
Die Männer im Tempel sahen sich verständnislos an.
"Egal. Sie sind beides Scheusale. Verzeiht. Es gibt wahrlich Wichtigeres zu tun, und die Zeit drängt. Barnhelm von Friedwang, der Name sagt mir etwas. Der Baron soll vor einem halben Zwergenleben unser Dorf gegründet haben, zusammen mit seiner Gemahlin, der Edlen Korgard von Alfengrund. Korgardsberg, ihr versteht? Nachdem sie und ihr Gemahl in Ungnade gefallen sind, wurde das Dorf in Kurgasberg umbenannt."
Alrik fiel die Pfeife aus dem Mund. "In Ungnade gefallen? Wie, in Ungnade gefallen?"
"Nun ist aber genug" Jodokus blickte zu Tuvok. "Sag doch auch mal was. Du bist doch immer so furchtbar besorgt um Haldana. Bring deine Gefährtin zur Vernunft...einigermaßen...das kann man ja nicht mehr mit anhören..."
Der Jäger zückte Pfeil und Bogen: "Was immer du bist...wer auch immer da aus Haldana spricht. Lass sie in Ruhe, oder..."
"Gemach, Gemach!" Alrik hatte seine Pfeife geschickt aufgefangen, aber seine Hände zitterten. "Niemand weiß, wie Barnhelms Gemahlin geheißen hat, oder was aus ihr nach seiner Hinrichtung geworden ist. Nur, dass sie aus der Gegend von Rommilys gestammt haben soll. Sogar der Adelstitel wurde ihr aberkannt, und der Name fortan nicht mehr genannt. Haldana kann ihn gar nicht kennen...Baronin Unbekannt. Noch so ein Gespenst aus unserer Familiengeschichte."
"Ach was, der Name klingt doch schon wie Korwid Alfengrund, der Doktor...Haldana fantasiert sich das alles bloß zusammen." Jodokus klang ein wenig unsicher. "Wenn du den Namen nicht kennst, woher willst du wissen, dass Haldana ihn kennt...?"
"Korgard und Barnhelm, jeder Kurgasberger kennt die Geschichte". Die junge Frau klang trotzig. "Die beiden Adeligen haben sich auf einem Feldzug gegen die Trollzacker kennen gelernt. Dabei sind sie in dieses Tal gekommen, das den Baron sofort an seine Heimat in der Schwarzen Sichel erinnert hat. Die Edle von Alfengrund ist über einen Stein gestolpert, und als sie ihn umgedreht hat - da funkelte er silbern. Korgard mit dem silbernen Fuß, so wird sie bei uns genannt. So ist unser Dorf entstanden, und sein Reichtum. Korgard wurde mit der Siedlung belehnt und die Gemahlin des Friedwangers. Allerdings war Korgards Glück nur von kurzer Dauer. Ihr Gemahl wurde eines Mordanschlags überführt. Ich glaube, auf seinen Vetter, der zuvor über Friedwang geherrscht hatte."
"Mordanschlag? Sigismund der Sänger wurde Opfer eines...Erdrutsches, auf dem Weg nach Rommilys...und Barnhelm dadurch Nachfolger. Sigismund, auch bekannt als der kleine Graf. Einer meiner Vorfahren." Alrik war nun hellwach.
"Soweit ich weiß, war der Steinschlag kein Unfall. Barnhelm wurde wegen Mordes an seinem eigenen Blut in Wehrheim enthauptet. Seine Gemahlin, deren Schuld man nie zur Gänze nachweisen konnte, verlor nur ihren Adelsstand und verbrachte den Rest ihres Lebens in Kurgasberg. Dort soll sie einige Kinder gehabt haben, unter anderem mit einem Luftgeist...der Silph, der unser Dorf beschützt. Es gibt noch immer einige Alfengrunds im Dorf...oder besser gesagt, gab." Haldana seufzte.
"Moment, das würde ja heißen, dass ich und dieser Medicus...das wir zu allem Überfluss auch noch miteinander verwandt sind." Alrik begann aufgeregt zu paffen. "Über ein paar Ecken zumindest. Das fände ich ehrlich gruseliger als jede Gespenstergeschichte."
"Es kommt noch besser", sagte Hesindian. "Der Silph? Emmeran Silpho, einer meiner entfernten Vorfahren, soll ein Dschinnengeborener gewesen sein. Das Kind einer Sterblichen und eines Elementarherren. Allerdings dachte ich bislang, die Geschichte hätte sich irgendwo im Raschtulswall ereignet. Am Konzil der Elemente..."
"Konzil der Elemente? Elementarherr? Jetzt prahlst du aber." Aus irgendeinem Grund schien Alrik gut gelaunt zu sein. Der Duft von Pfeifenkraut erfüllte die Luft und schien die Nerven tatsächlich ein wenig zu beruhigen. Ebenso lag der Geruch von Trollbirnenschnaps in der Luft - womöglich der eigentliche Grund für die beschwingte Stimmung des Friedwangers.
"Das reinste Familientreffen", brummte Rovik, der Haldana in gehörigem Abstand umschlich. "Fehlt nur noch, dass dieser angebliche Ingolf..."
"Ingram..." sagte Haldana freundlich und rieb sich das Kinn. Irgendwie schien sie zu merken, dass dort etwas fehlte, und strich sich stattdessen über den Hals.
"Ingram Sohn des Dingsbums einer meiner Verwandten ist..."
"Das ist doch alles kein Zufall." Auch Hesindian war ganz aus dem Häuschen. "Dass wir alle zu einem bestimmten Zeit an diesem Ort sind, und irgendwie schon immer mit ihm verbunden waren? Man könnte fast schon karmatischer Kausalknoten dazu sagen...Faszinierend."
Haldana begutachtete mittlerweile eingehend sich selbst.
"Wenn die Geschichte stimmt, würde das bedeuten, dass wir beide auch verwandt sind." Alrik grinste in Richtung seines Hofmagiers. "Das wäre ja eine kleine Sensation. Neben der Geistererscheinung dort, versteht sich."
Jodokus sah ein wenig bleich aus der Wäsche. Sein Bedarf an Abenteuern und Unheimlichen schien auf Jahre gedeckt zu sein. "Wunderbar… überaus geistreich, das Ganze. Haha. Sicher, sicher, ihr beide hattet schon mit dem Dämonenmeister zu tun und Heerscharen von Untoten. Rovik, Tuvok und Haldana sind auch schon etwas herumgekommen. Ich bin es einfach noch nicht gewohnt, mit Toten zu plaudern. Mal angenommen...das stimmt alles, was Haldana… Ingram… oder wer auch immer… uns gerade erzählt. Was fangen wir mit dieser Erkenntnis an?"
"Ihr müsst hinauf auf Korgards Berg, und dieses Ritual verhindern", sagte "Haldana" bestimmt. "Genauer gesagt in die Tiefen des Berg hinab. Die Zeit wird knapp und der Weg ist beschwerlich. Aber es gibt eine Abkürzung, dank meiner bahnbrechenden Erfindung." Die vermeintliche Bardin reckte stolz ihr bartloses Kinn.
"Was denn schon wieder für eine Abkürzung? Bitte nicht durch die Geisterwelt." Hesindian rümpfte die Nase, was auch dem Tabaksqualm galt.
"Eine mechanische Bergkunst. Mein Meisterwerk. Ich habe es Seilbahn getauft. Wir haben damit das Erz ins Tal geschafft. Folgt mir, ich zeige es euch...Na kommt schon. Habt keine Angst. Ich beiße nicht."
Haldana steuerte die Bresche an, die früher einmal der Eingang des Achtecks gewesen war, und starrte dabei mit verklärtem Gesichtsausdruck gerade aus. Sie wirkte steif und ungelenk, wie eine sprechende Schlafwandlerin.
Draußen schien der Mond auf die Trümmer von Kurgasberg.
Weibel Burgschall kam ihnen entgegen: "Die Pferde sind sehr nervös. Wahrscheinlich wegen dem Wolf. Aber einigen der Reiter ist die Gegend hier auch nicht geheuer..." Der Perricumer räusperte sich verlegen. "Ein paar Abergläubische sprechen sogar schon von Geistern".
Mit begütigendem Lächeln trat Alrik neben Haldana, deren Blick zunehmend entsetzt über das Ruinenfeld wanderte. "Wie lange bin ich schon tot?" seufzte sie. "Zehn Jahre? Zwanzig Jahre?"
"Wie meinen, werte Dame Haldana?" Mit angedeuteter Verbeugung blickte der junge Spitzbart in Richtung der Schwarzsichlerin.
"Oh, äh..." Alrik räusperte sich. "Fort, liebe Haldana, äh, fort warst du nur ein paar Stunden. Auch wenn es uns ebenfalls wie viele Jahre vorgekommen sein mag". Der Friedwanger tätschelte seiner Begleiterin die Schulter - und prallte zurück, als habe er gerade versehentlich eine Leiche berührt.
"Äh, ja, natürlich..." Seradan Noris Burgschall war anzumerken, dass er durchaus selbst zu den "Abergläubischen"" zählte. "Wir haben einen Pfad entdeckt, der wohl hinauf zu diesem Bergwerk führt. Ich würde vorschlagen, dass wir ihm folgen, auch wenn er ziemlich steil und gewunden zu sein scheint. Die Pferde würde ich unter Bewachung zurücklassen. Die Gemeinen Hensgar und Brinia wurden durch den Hagel doch schwerer verwundet, als ich dachte".
"Nun, es gibt einen Hinweis auf eine Abkürzung ins Bergwerk, vielleicht sollten wir zunächst dem nachgehen. Es kann sehr gut sein, dass die Räuber mit unserem Eintreffen rechnen, und dann wären sie oben am Berg im Vorteil. So hätten zumindest wir den Überraschungsmoment auf unserer Seite."
"Folgt mir", sagte Haldana steif.
"Gewiss." Weibel Burgschall räusperte sich. "Ich werde kurz meinen Leuten bescheid geben"
"Gut." Alrik nickte. "Wobei wir uns die Abkürzung erst einmal selber anschauen wollen. Sobald wir oben angekommen sind, und der Eingang zur Mine frei ist, geben wir euch ein Zeichen. Dann könnt ihr auf dem anderen Pfad heraufkommen".
Haldana ging bereits den Loderbach entlang, entgegen der Strömung. Trotz des hellen Mondlichts schien sie Probleme mit der Orientierung zu haben. An den Überresten eines Holzstegs blieb sie stehen. Kurz entschlossen watete sie durch das silbrig glänzende Wasser. Nebel wallte im Bergwald. Das Rauschen des nahen Wasserfalls war nun deutlich zu hören.
Die Gefährten folgten ihrem merkwürdigen Fremdenführer, und standen nach einigen Schritten vor einer halb eingefallenen Holzkonstruktion: Im Wesentlichen war es eine Art freistehender Stamm, der sich mitsamt einem großen Rad gedreht hatte.
"Das hier ist der Rundgöpel", sagte Ingram, mit Haldanas Stimme. "Besser gesagt, das war er einmal..." Die Entäuschung war ihm anzumerken.
"Was für ein Klöppel?" Die Frage hatte Tuvok gestellt.
"Eine Art Ankerspill", murmelte Jodokus.
"Ankerspill?" Rovik rieb sich über den Bart (den echten).
"Naja, eine Winde, oder eine Art Mühlwerk. Das von Pferden, nicht vom Wasser angetrieben wird. Zum Auf- und Abwickeln von Seilen." Der Rommilyser leuchtete mit der Lampe über den "Göpel". Der Stamm stand auf einer Bodenplatte. Das dazugehörige Rad war völlig vermodert: nicht borongefällig zerbrochen, eher skelettiert. Fast schon wie ein Symbol für Geisterunwesen.
In der Nähe lag noch der Überrest eines Tragkorbs. Der Mond kam nun in voller Pracht heraus, und die Gefährten konnten in seinem Lichtschein den Hang überblicken. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, dass die mal umgestürzten, mal vermoderten Stämme, die dort über Felsen oder Gras aufragten, ebenfalls keine Bäume waren, sondern seitlich abgestützte Balken. Zumindest das, was von den Konstruktionen noch übrig war. Zumindest einer der Balken schien vom Blitz gespalten worden zu sein, in der Mitte.
Ein schnarrendes, sirrendes, leicht quietschendes Geräusch drang an ihre Ohren, und zerrte an ihren Nerven. Gespenstisch, der Begriff passte. Auf der Spitze eines Balkens, der noch intakt aufragte, drehte sich eine metallische, völlig verrostete Rolle, wie ein Windrädchen oder eine tulamidische Gebetsmühle.
Oben, am Berg, war ein weiteres Rad zu erahnen: ein zweites, besser erhaltenes Göpelwerk. Es sah aus wie ein Henkersrad, das auf einen Pfahl gesteckt worden war. Es dauerte eine Weile, bis Jodokus erahnte, wie diese sogenannte Seilbahn einmal funktioniert haben mochte.
"Hesindial" murmelte er. "Aber irgendwie auch ziemlich lidschäftig. Von Satinavs Hörnern zerstört..."
"Was hast du erwartet? Den Rommilyser Lastenaufzug? Voll funktionstüchtig, an diesem Spukort?" Alrik sah ein wenig ratlos drein. Auch wenn diese Seite des Bergs nicht allzu steil zu sein schein, wurde der Aufstieg immer wieder von Felskanten erschwert. Sicherlich 300, nein 400 Schritt ging es den Kurgasberg hinauf. In regelmäßigen Abständen waren die Überreste von Balkenkonstruktionen zu sehen.
"Sieht so aus, als müssten wir doch den Haupteingang nehmen."
Haldana/Ingram schien völlig verzweifelt zu sein. "Zerstört...mein Lebenswerk ist vernichtet....von mir wird nichts überdauern."
"Gibt es nicht irgendeinen Zauber, mit dem man dieses… Etwas aus Haldana vertreiben kann? Was muss dieses Mädchen denn noch alles mitmachen?" Halb zornig, halb furchtsam blickte Jodokus in Richtung der Besessenen. "Diese Spukgestalt führt uns in die Irre."
"Ich habe nicht gesagt, dass ihr damit hinauffahren könnt." Haldana hob abwehrend die Hand. "Meine Bergkunst war noch eher… experimentell. Das Seil ist ständig aus den Rollen gesprungen, oder ein Tragkorb hängen geblieben, mit dem Haken. Dann musste jemand hinauf, mit einer Stange, und das reparieren. Zu diesem Zweck gibt es einen eigenen Pfad, mit Treppenstufen und Krampen. Den meine ich als Schleichweg."
Sie stiegen nach oben, den Kurgasberg hinauf, was im Mondlicht erstaunlich einfach war. Tuvok eilte voran, flink wie eine Bergziege, den Bogen und den Rucksack auf den Rücken geschnallt. Tatsächlich führte ein schmaler Pfad den schroffen Abhang hinauf, der mal eine Bergwiese war, dann wieder massiver Fels. An einigen Abschnitten waren Treppenstufen in den Stein gemeißelt, an steileren Stellen krumme, verrostete Krampen eingeschlagen. Alrik, der Tuvok folgte, sandte ein Dankgebet zum Heimlichen. Wenn nicht der Heimliche, wer dann wies ihm hier gerade den Weg?
Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen.
Jodokus folgte Haldana, während Hesindian und Rovik die Nachhut übernahmen. Der Baernfarn wusste nicht Recht, ob er auf seine einstige Flamme aufpassen oder sich vor ihr gruseln sollte. Sie kam gut voran, als wäre sie auf diesem Ziegenpfad schon hundertmal geschritten - und angeblich war "sie" das ja auch.
Schließlich erreichten sie den letzten Abschnitt, wo wieder rostige Klammern in den Fels geschlagen waren. Der Baernfarn wollte den Göttern schon für den leichten Aufstieg danken, als ihn ein Fluch Tuvoks eines Besseren belehrte, der vorgeklettert war. Mit metallischem "Pling" stürzte eine der Metallkrampen nach unten, und verfehlte Roviks Kopf nur um Fingerbreite. Selbst der schwere Zwergenschädel hätte dieses Geschoss nur schwer verkraftet.
"Tuvok… nicht so stürmisch!" brummte Rovik
Der Jäger hing, nur wenige Schritt unter einem Plateau, am Fels. Auch eine zweite Krampe löste sich unter seinem Griff, diesmal behielt der Waidmann sie aber noch in der Hand. Kopfschüttelnd schleuderte er sie weg, in die Dunkelheit. Dann kletterte er mit bloßen Händen und Füßen los, erstaunlich geschickt im Zwielicht des Madamals. Wenig später stand er oben, schlang ein Seil um eine einsame Tanne und lies das andere Ende nach unten ringeln, Alrik entgegen. Auch der Baron tat sich leicht. Fast schon wirkte er wie ein alter, erfahrener Fassadenkletter, wie er da "den Berg stürmte". Allerdings war er dabei ein wenig ungestüm.
Kleinere Brocken und Steine kollerten unter seinem schweren Tritt nach unten. Jodokus ging in Deckung, Haldana wurde getroffen, wieder mal am Kopf. Bevor sie in die Tiefe taumeln konnte, packte sie der Rommilyser und presste sie an den steilen Hang. Einen Augenblick lang waren sie eng umschlungen.
"Autsch." Haldana langte sich an den halbrasierten Kopf. Es schien nur ein besseres Steinchen gewesen zu sein, dass sie dort gestreift hatte.
"Verzeiht, Hochwürden", sagte Jodokus, etwas steif. Irgendwie hatte er das Gefühl, das im nächsten Moment auch noch ein wütender Pfeil folgen könnte, von Tuvok. Der zog aber gerade den Baron über die Felskante, der sich zuletzt etwas verklettert hatte.
"Danke, Jodokus", hauchte Haldana. "Du hast mich gerade gerettet."
Sie blickte verwirrt nach unten. "Ziemlich steil..."
"Ich sollte Euch nun besser wieder loslassen, Herr...äh, Ingram..."
"Haldana reicht." Das Gesicht der Schlotzerin war ein einziger Schatten, nur ihre Zähnen leuchteten hell im Mondlicht.
"So bist du endlich wieder normal?"
"Nasdja hat gesagt, ich soll den Zwerg in meinen Körper schlüpfen lassen...sonst würdet ihr mir niemals glauben… es fühlte sich irgendwie… seltsam an… aber auch faszinierend..."
"Du solltest keine Zwerge nachts in dich eindringen lassen." Jodokus wusste nicht recht, was er von allem halten sollte.
"Das sagt der Richtige." brummte Tuvok barsch.
"Wie meinst du das?" Jodokus wollte schon wieder aufbrausen.
"Egal. Sie hat etwas von Medium gesagt… ich wäre für solche Sachen begabt." Haldana unterband jedweden Streit der Gefährten.
"Medium? Ich esse mein Darpatrind am liebsten gut durchgebraten." Jodokus versuchte einen
Scherz. "Hauptsache nicht albernisch...oder orkisch...haha..."
Haldana blickte verständnislos. Einen Moment lang befürchtete Jodokus, Ingram könnte "zurückgekehrt" sein, und bewegte die Hand vor ihren Augen.
"Haldana?!"
"Schon gut. Wir müssen ganz nach oben. Da ist ein Loch… oben im Berg… Pinge heißt das glaube ich."
"Eine Zwergenbinge?"
"Nein, eine Art Krater, von einem Deckeneinsturz. Da liegt das Fass drauf, und verschließt den Zugang nach ganz unten. Wir müssen uns sputen. Mitternacht ist nicht mehr fern."
"Wunderbar. Haldana scheint wieder normal zu sein. So einigermaßen." Jodokus Worte galten Hesindian, der sich mühsam von unten heraufquälte, den Hut lüpfte und etwas Schweiß aus der Stirn wischte.
"Zumindest schon mal ein beruhigendes Gefühl." Der Magier deutete auf das herabpendelnde Seil. "Schaffen wir das, so eine waghalsige Klettertour?"
"Mich werdet ihr hinaufziehen müssen", brummte Rovik, der von unten folgte. "Bei Angroschs Bart, wenn der Weltenbaumeister gewollt hätte, das wir auf Bergen und Hügeln herumklettern, statt in ihnen zu wohnen. Dann hätte er uns nicht Schlägel, Eisen und Spitzhacke gegeben."
"Was ist los da unten?" Die Frage kam von Tuvok.
"Der Herr Zwerg will nach oben gezogen werden", sagte Jodokus halblaut.
"Sonst noch Wünsche, Rovik? Ich weiß, dass du schwer bist wie ein kleiner Amboss..."
"Da oben ist doch dieses Göpeldings, mit zwei Stangen. Wenn ihr das Seil dort rumlegt, und die Winde dreht, könnt ihr mich hochziehen wie einen Anker..."
"Hm. Gute Idee...vielleicht."
"Funktionieren muss es natürlich auch noch."
Es funktionierte besser, als es Tuvok vermutet hätte. Knarrend setzte sich die Winde in Bewegung. Schritt für Schritt wurde der Zwerg nach oben gewuchtet, der das andere Ende des Seils um seinen gedrungenen Oberkörper geschlungen hatte. Auf die gleiche Weise wurde auch Haldana nach oben befördert, ebenso Hesindian und Jodokus.
"Unser Stadtmensch", begrüßte Tuvok den Patrizier, etwas einsilbig.
Sie standen nun am Rande eines kleinen Felsplateaus, das dicht mit Nadelbäumen bestanden war. Völlig verrostete, halb überwucherte Schienen führten in den "Wald". Sie folgten dem angedeuteten Pfad, noch immer im sanften Schein des Mondlichts, wobei sie sich durch stachelige, feuchte, harzig duftende Zweige hindurch kämpfen mussten. Schließlich standen sie erneut vor einer Felswand, die deutlich steiler und felsiger wirkte als der Hang, den sie gerade bezwungen hatten. Eine dunkle Öffnung zeigte den Eingang der Mine an, neben einem Stapel vermoderter Bretter. Ein breiter Pfad führte von dort aus die Bergflanke hinunter, ins Tal.
"Warum haben wir nicht den genommen?" wollte Jodokus wissen. Zum Glück hatte er instinktiv geflüstert.
Tuvok deutete auf zwei Gestalten, die vor der Mine herumstanden, und sich halblaut unterhielten. Eine schien eine Armbrust zu halten - eine Frau?
Vor den beiden Schatten stand eine hölzerne, eisenbeschlagene Lore, bis zum Rand befüllt mit Steinbrocken. Der Rommilyser verstand. Würden die Wachen den Wagen in Bewegung setzen, würde jeder, der den Pfad im Gänsemarsch heraufkam, von diesem einfachen, aber wirkungsvollen Geschoss den Berg hinunter gefegt werden. Die Räuber rechneten offenbar mit Besuch.
Rovik griff schon zur Axt, auch Tuvok legte einen Pfeil auf. Alrik hob die Hand, um die beiden zu bremsen, und ging hinter einer Tanne in Deckung. Das Mondlicht, das ihnen bislang den Weg ausgeleuchtet hatte, war nun ihr größter Gegner: Sie waren bei einem Angriff gut zu sehen, und für die Trollberger wäre es ein leichtes, sich in den Tunnel zurückzuziehen und Alarm zu schlagen.
Der Mondschatten spähte nach oben, um eine Wolke zu suchen, auf dem Weg zum Madamal. Aber die war im Moment nicht in Sicht.
Im nächsten Augenblich schrie die Armbrusterin auch schon auf. Alrik dachte schon, Tuvoks Pfeil hätte sie durchbohrt. Dem Geräusch nach war sie aber von einem Stein getroffen worden.
"Was zum Namenlosen?" Die Räuberin hob die Armbrust - und schrie erneut auf, als ihr die Waffe aus der Hand gerissen wurde. Auch ihr Gefährte keuchte, als irgendetwas Unsichtbares gegen ihn prallte.
Klock-klock-Klock. Steine polterten von der Lore. Dann setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Einen Herzschlag lang sah Alrik einen kleinen, bärtigen Mann mit Zöpfen hinter dem Wagen, fast von der gleichen Farbe wie das Mondlicht. War das Rovik? Nein, der stand neben ihm, ziemlich verwirrt.
Dann war die Erscheinung auch schon wieder verschwunden. Die Lore rutschte los, auch wenn die Räder nicht wirklich drehten. Einige Dutzend Schritt hielt sich das Ungetüm auf dem Pfad, dann kippte es seitlich um, schüttete seinen Inhalt heraus, überschlug sich und zerlegte sich in Windeseile selbst, auf dem Weg in den Bergwald.
Die Wachen schrie auf, fast schon panisch, und verschwanden im Tunnel. Der fremde Zwerg war verschwunden.
Tuvok wollte den Räubern noch einen Pfeil hinterherschicken, seine Hände bebten aber zu sehr.
"Habt Ihr...den Geist auch gesehen?" Jodokus war leichenblass.
"Wir haben uns sogar mit ihm unterhalten." Alrik versuchte kaltschnäuzig zu klingen.
Rovik stürmte bereits auf den Eingang der Mine zu, aber Haldana hielt ihn zurück.
"Wir müssen ganz nach oben."
"Sollten wir nicht besser auf die Grenzreiter warten?" Das kam von Jodokus.
"Hm… ich denke mal, das Gepolter gerade eben könnte man als Signal durchgehen lassen, dass sie raufkommen sollen." Alrik blickte in die Tiefe.
Im Inneren der Mine war Lichtschein zu sehen, gefolgt von erneutem Krachen, Rumpeln - und Schreien. Dann wurde es wieder dunkel, gefolgt von einem Staubwölkchen, das der Stollen ausblies. Ein Einsturz?
"Soweit zum Thema Tunnel", sagte Tuvok trocken. "Das Bergwerk scheint eine einzige Falle zu sein."
"Von oben kommt man leichter in die Höhle", wiederholte Haldana, klang aber selber nicht ganz überzeugt.
"Vielleicht sollten wir wirklich erst mal auf Verstärkung warten", versuchte es Jodokus erneut.
"Falls die Grenzreiter überhaupt Lust auf ne echte Grenzerfahrung haben..." Alrik klang schon wieder beschwingt, was auch am restlichen Birnenschnaps lag, den er sich gerade in die Kehle hatte laufen lassen.
Es wurde schlagartig finster. Eine Wolke hatte sich nun doch vor den Mond geschoben.
Hesindian ließ seinen Zauberstab aufflammen. Einen Moment lang sah die Gruppe selbst gespenstisch aus, wie sie im Widerschein des magischen Lichts vor dem Bergwerkseingang stand, in der Mitte von Nirgendwo. Nur das Pfeifen und Säuseln des Bergwindes war zu hören.
"Schön hier oben." Auch Jodokus versuchte es jetzt mit demonstrativer Gelassenheit. "Aber ich sehe kein Schild Hier entlang gehts zum Gipfel."
Hesindian ging auf und ab und versuchte die Umgebung auszuleuchten. Schroffe, braungraue Felsen, ab und zu ein paar Bäumchen, mehr war nicht zu sehen.
"Wir müssen nicht bis auf den Gipfel. Ingram sagt, dass die Pinge nicht sehr weit entfernt ist." Haldana wies unbestimmt ins Dunkle.
"Der Zwergengeweihte?" Jodokus fröstelte. Nervös blickte er um sich.
"Er steht genau neben dir" sagte Haldana.
Man konnte förmlich sehen, wie sich dem Baernfarn die Haare aufstellten.
Haldana marschierte schon wieder los, den Pfad nach unten, in Richtung Dorf. Nach einigen Dutzend Schritt, kurz vor der Stelle, wo die Lore umgekippt war, schlug sie sich seitlich in den Bergwald. Tatsächlich, dort führte eine Abzweigung wieder nach oben. Zunächst war dieser Weg unangenehm steil, wurde aber rasch erträglicher. Windungsreich schlängelte er sich Felswände und Baumreihen entlang. Zwischenzeitlich zeigte sogar "Frau Mada" wieder ihr Antlitz. Es wurde deutlich kühler.