13. Kapitel

 

13. Kapitel

Karzerkönig und Tanzgerät

 

Die Gefährten erreichten ein weiteres Plateau, auf dem der Boden fast schon eben war. Der Weg weitete sich zu einer schrundigen Lichtung, auf der ein rundes Etwas aufragte: Die Fasshütte der Hexe. In der Ferne heulten jetzt mehrere Wölfe.

"Und nun?" Jodokus schnaufte erst einmal durch.

"Da müssen wir rein", sagte Haldana.

"In das Fass?"

"Nein, in den Schacht darunter."

Hesindian näherte sich vorsichtig dem "Hexenhaus". Mit dem Zauberstab versuchte er die Türklinke zu öffnen, in Form des Zapfhahns. Nichts geschah. "Scheint magisch verschlossen zu sein. Wenn nicht noch mehr… möchte nicht wissen, was für Flüche unsere sieche Sisa da drauf gehext hat."

"Aarmarian kann das Fass anheben", sagte Haldana bestimmt.

Hesindian klopfte gegen das Fass. Es klang hohl.

"Jemand zu Hause?"

Nur das Wolfsgewinsel antwortete.

"Irgendwelche Vorschläge? Von Hochwürden Ingram vielleicht?" Alrik spähte durch eines der kleinen Fenster im Fass und zückte bereits ein Messer mit dünner Klinge. "Draht wäre natürlich besser… aber die Verriegelung wirkt nicht besonders schwierig".

"Einbruch in ein Hexenhaus? Na, ich weiß nicht." Der Hofmagier warf seinem Herrn und Freund einen warnenden Blick zu. "Ein Foramen täte es auch… aber ich spüre förmlich Sisas Kraft in diesem Holz… Es ist auch gar nicht gesagt, dass wir durch das Fass ins Bergwerk kommen."

Wind kam auf. Die Wipfel begannen sich zu bewegen. Aber es waren nicht nur die Bäume, die hier rauschten. Ein geflügelter Schatten schwebte herab. Goldene Augen glänzten, zwei majestätische Schwingen erhoben sich im Silberlicht des Mondes.

Ein gewaltiger Bergadler landete auf dem Fass, mit klackenden Fängen. Die Menschen und der Zwerg wichen respektvoll zurück. Das Tier war wirklich riesig, die Spannweite der Flügel mochte fast drei Schritt betragen. Aufgeregt öffnete der König der Lüfte den Schnabel. Sein Gefieder war von einem dunklen Braun, nur sein Kopf und seine Flügelspitzen waren heller gefärbt, fast schon weiß.

"Aarmar-Iama...." Hesindian neigte ehrfürchtig das Haupt und lüpfte seinen Hut.

"Aarmarian" flüsterte Haldana. Erst jetzt sah sie die schmutziggraue Eisenschelle am linken Fang des Tieres, der mehr an eine Fußfessel als an einen Ring erinnerte.

Der Greifvogel erhob sich wieder - und landete mit einem einzigen Flügelschlag vor Haldana. Den beringten Fuß hatte er erhoben.

"Ich glaube, er will, dass du ihm das Ding abmachst." Tuvok senkte ebenfalls reumütig den Blick. Wie hatte er nur auf den Gedanken kommen können, einen Pfeil auf ein derart prächtiges Tier abzuschießen? Oder das Band an seinem Fuß übersehen können?

Alrik reichte Haldana seine kleine Klinge. "Hier, meine Beutelschnei...meine Federklinge. Müsste passen."

Die junge Schlotzerin griff nach dem Adler und streichelte ihm vorsichtig die Federn, um ihn zu beruhigen. Ein vertrautes Gefühl durchströmte sie. Nein, umströmte sie, wie Aves Element, das sich rund um den Adler in Aufregung zu befinden schien.

"Luftikus… mein Luftikus."

Der Adler schmiegte sich mit dem Kopf an sie und ließ sich streicheln wie ein Kätzchen.

Sie tastete nach dem grün-bräunlich-grauen Reif, der den Adlerfuß an einem Stück umschloss. Irgendwie gab es da überhaupt keine Kante, in die sie das Messer hätte schieben können, jedenfalls nicht, ohne den stolzen Adler zu verletzen. War hier Magie im Spiel? Die Farbe des Eisens war höchst ungewöhnlich, am ehesten erinnerte es sie noch an angelaufenes Silber. Oder Grünspan? Die Oberfläche war jedenfalls rissig und grob. So ähnlich stellte sich Haldana Echsenleder oder eine Drachenschuppe vor.

"Hesindian?"

Der Magier eilte herbei.

"Was ist das?"

Der Edle von Orweiler versenkte sich in einen Zauber – und schrie leise auf.

Der Kopf des Adlers ruckte hoch.

"Ein Unmetall" flüsterte Hesindian. "Womöglich ist es dämonisch verseucht."

Haldanas Hand zuckte zurück. "Es sieht...irgendwie giftig aus. Könnte es Krankheiten verursachen...?"

"Nun, das Unmetall der Erzdämonin, gegen deren Macht wir hier kämpfen, wird Seuchenerz genannt. Viel mehr weiß ich leider nicht. Derartige Substanzen sind einfach zu chaotisch. Gut möglich, dass ein Erzbrocken im Bergwerk niederhöllischen Kräften ausgesetzt war und irgendwie an die Oberfläche gelangt ist. Wobei man Silber eigentlich nachsagt, vor Krankheiten zu schützen. Das Material kommt mir äußerst wandelbar vor… zur Transmutatio neigend… vermutlich ist der Reif in der Lage, sich mit dem Träger mit zu verwandeln, in eine Art Dampf oder Rauch, und ihn so auch in seiner elementaren Gestalt zu beherrschen. Mehr kann ich auf die Schnelle nicht sagen."

"Irgendwie muss es Sisa geformt haben." Haldana deutete auf eine kleine Delle im Unmetall. "Ihr Fingerabdruck? Besonders fest wirkt dieser Stoff nicht." Die Bardin versuchte erneut, das Messerchen unter den Ring zu schieben, und ihn aufzubrechen. Im nächsten Moment schrie sie auf, als die Klinge abrutschte und über die Hand glitt, mit dem sie die Adlerklaue hielt.

Blut quoll hervor und tropfte dunkel auf die Erde – aber auch den Ring. Ein leises Zischen war zu hören. Kurz entschlossen griff Haldana zu. Tatsächlich begann sich das Unmetall zu verformen, dampfte, wurde weich wie Wachs. In wenigen Herzschlägen hatte die Sichlerin den Reif entfernt und ließ ihn fallen.

"Intuition!" Hesindian schnippte mit den Fingern. "Seuchenerz… das klingt nach Seuchenherz. Das Zeug lechzt offenbar nach Blut. Allzu oft solltest du das aber nicht machen, Haldana. Und du solltest demnächst mal einen Perainetempel aufsuchen."

Aarmarian schrie grell auf, eher befreit als schmerzerfüllt. Ein ungeheurer Druck schien von dem Adler zu weichen. Sein Gefieder stellte sich auf. Das Federkleid verformte sich, wurde zu einem bläulichen Wabern. Einen Moment lang hielt Haldana einen kindergroßen Schemen in Händen, mit spitzen Ohren, wehenden Sylphenhaaren, Adleraugen, dicken Pausbacken. Es war Luft, reine, verdichtete Luft, und doch fühlte sich das Wesen unglaublich körperlich an, fast schon sinnlich. Haldana spürte einen zarten Kuss auf den Lippen. Dann zerstob die Gestalt, verwandelte sich in einen brausenden Wirbelsturm.

Freiii… endlich freiiiii… Ich daaanke… diiir...

"Aarmarian. Aarmar-Iama, oder wie immer dein wahrer Name ist. Vermagst du, noch einmal dieses Fass anzuheben? Auf das wir hinab in den Berg steigen können – um die schändliche Hexe zu bestrafen, die dich so lange in Gefangenschaft gehalten hat?"

Haldana wischte sich das flatternde Haar aus dem Gesicht. Auch ihre Gefährten hatten Mühe, der Urgewalt zu trotzen, die gerade auf der Lichtung tobte, Zweige und Baumnadeln aufwirbelte. Hesindians Hut flog einfach davon, Alriks Mantel wehte im Sturmwind wie ein losgerissenes Segel. Jodokus wurde umgeblasen, Tuvok hielt sich mit Müh und Not an einem Baumstamm fest. Nur der kleine, stämmige Rovik war wieder mal der Fels in der Brandung, wenn auch mit flatterndem Bart und zusammengekniffenen Augen.

Was immer du wünschst!

Zischend flog der Elementarherr auf das Fass zu, suchte sich Ritzen im Felsen, umströmte das Holz. Das Hexenhaus begann zu beben und wie wild zu ruckeln. Dann stieg es, wie von Geisterhand bewegt, in die Höhe, schwebte ein paar Schritt zur Seite, rumpelte schwerfällig zu Boden – und gab den Blick auf einen lichtlosen Abgrund frei.

 

Rovik, der Zwerg, führte die Gruppe an auf dem Weg in die Tiefe. Der Angroschim war zwar mehr in Schmiedewerkstätten als in Bergwerken aufgewachsen, aber die Gefährten vertrauten ihm von allen am meisten, was die Orientierung unter Tage wie auch das Beurteilen der Sicherheit von Stollen betraf. Hinter ihm folgte Haldana, danach Alrik. Der Friedwang hatte darauf bestanden, dass Rovik die Gruppe anführte und nicht Haldana, die sich von einem Spuk leiten ließ. Für Serdan und seine Grenzreiter, die sich dem Zug bis auf Hensgar und Brinia angeschlossen hatten – diese hatte Serdan zur Wache bei den Pferden eingeteilt – wäre es schwer vermittelbar gewesen, sich von einem Geist und einer Geistseherin anführen zu lassen. Da war es besser, Rovik als vertraueneinflößenden Bergwerkskundigen voran gehen zu lassen. Wo es Not tat, konnte Haldana ihm Ingalfs Informationen zuflüstern. Hesindian, Jodokus und Tuvok folgten.

Teils über Trittstufen, teils über Leitern, führte der Schacht tiefer in den Berg hinein. Rovik hielt an, als ein Stollen zur rechten abzweigte. Mit Kohlestift markierte der Zwerg die Stollenwand, damit er sich auf dem Rückweg nicht verlief. Gelernt ist gelernt, dachte Alrik. Auch ein schmiedender Zwerg, der nicht unter Tage lebte, hatte immer noch eine Grundkenntnis vom Bergbau.

Ausreichend Lampen hatten die Gefährten dabei. Haldana hatte ihnen mitgeteilt, wo am Eingang der Mine diese gelagert waren – oder hatte es Ingram ihnen mitgeteilt? Alrik hatte schon vieles erlebt, aber die Stimme eines Toten aus dem Körper der jungen Bardin zu hören, war sogar ihm unheimlich. Da war es sicher gut gewesen, dass die Grenzreiter Nerdans von dem Spuk nicht viel mitbekommen hatten.

Ist dieser Priester noch bei uns?“ raunte Alrik Haldana zu. Diese nickte. „Wir sind auf dem richtigen Weg. Ingalf war natürlich seit hundert Jahren nicht mehr hier, aber es wurden ja keine neuen Stollen angelegt.“

Aber Ingalf kann nicht wissen, wo die Gefangenen sind, und wo Gerrich sich verschanzt hat?“ Alrik war unsicher, wie der Geist des Ingerimmpriesters seine Umgebung wahrnahm und was er wissen konnte.

Nein, das kann er nicht wissen. Aber wenn wir diesem Stollen folgen, gelangen wir zum zentralen Schacht, über den die tiefer liegenden Stollen und Flöze erreicht werden. Das ist der einzige Zugang zur zweiten Sohle. Dort müssen wir auf jeden Fall hin. Dort geht ein Stollen, der noch für den Silberbergbau angelegt wurde, in dem sich noch Schienen für die Loren befinden müssen. Dort soll es in die Tiefe gehen, mit einer Seilwinde. Wenn, dann würde man dort die Gefangenen unterbringen. Weil man dort ohne die Winde nicht wieder hoch kommt, da braucht man die Gefangenen nicht bewachen. In der zweiten Sohle, da müssen die Gefangenen sein.“

Alrik verzichtete darauf, die Frage zu stellen, ob sie dann wieder nach oben kämen und wie man möglicherweise die Seilwinde sichern müsste. Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne strahlen. Und unter Tage ist immer Nacht. Warum sollte er seinem Glück nicht vertrauen? Vor allem wollte er seine Mitstreiter nicht beunruhigen. Am allerwenigsten konnte er jetzt Angst in den eigenen Reihen gebrauchen.

Rovik blieb stehen. Er deutete mit der Hand auf den bodenlosen Schacht, über dem, an einer Umlenkrolle aufgehängt, ein Seil zu beiden Seiten der Rolle in die Tiefe führte.

Ich hätte erwartet, dass der Lift oben ist. Offenbar ist schon jemand nach unten gefahren, denn der Korb muss unten sein.“ erläuterte der Zwerg. „Vermutlich bei den Gefangenen“ orakelte er hinterher. „Aber da müssen wir runter, wenn wir die Wahrheit heraus finden wollen und wenn wir die Gefangenen befreien wollen.“

Serdan brummte. „Wir müssen die Seilwinde bewachen. Ich weiß, es ist ein Risiko, uns aufzuteilen. Aber zwei von uns müssen hier bleiben und Wache halten. Halfried, Praiobert. Ihr beide bleibt hier. Ihr verteidigt die Seilwinde mit eurem Leben.“

Die Angesprochenen nickten. Vermutlich waren sie froh, nicht selbst weiter in die Tiefe zu müssen. Jedenfalls deutete Alrik so den Gesichtsausdruck der Soldaten. Aber er musste Serdan zustimmen. Die Seilwinde durfte nicht unbeaufsichtigt bleiben.

Rovik hatte inzwischen den Korb nach oben gezogen. Groß war er nicht. Mehr als zwei Mann zusammen würde er nicht in die Tiefe befördern können. Aber von der Kraft war es kein Problem, sich im Korb herunter zu lassen. Die Winde war als Flaschenzug ausgelegt, mit zwei Rädern oben und unten. Man würde nur ein Viertel des Gewichtes halten müssen.

Gut.“ Sinnierte Alrik. „Rovik und Haldana, ihr beide fahrt als erste runter. Wenn unten alles klar ist, dann folgen die nächsten zwei. Und… wir machen ein Kennwort aus. Wenn es dunkel ist oder wenn wir Halfried und Praiobert etwas zurufen wollen. Die Grenzreiter kennen uns nicht an unseren Stimmen, und wir sie auch nicht. Sicher ist sicher. Einigen wir uns auf Katzloch als Kennwort.“

S´isch recht“ bestätigte Haldana, als sie als erste in den Korb stieg. Rovik folgte mit einem lässigen Sprung über den Korbrand, den man dem behäbig wirkenden Zwerg gar nicht zugetraut hätte.

Bischt ganz in die´m Element, R`vik?“ erkundigte sich Haldana freundlich. Der Angroschim nickte und ließ den Korb langsam ab. „Ist Ingalf noch bei uns?“ fragte er leise, als die Soldaten außer Hörweite waren.

Freili“ antwortete Haldana. „Er schwebt nebe uns runt`r. D`r brücht keini Lift.“

Stück für Stück ließ Rovik das Seil nach, der Korb schwebte in die Tiefe. Gut und gerne dreißig Schritt reichte der Schacht nach unten.

Rovik“ flüsterte Haldana leise. „I hab eini Scheißangst“

Der Zwerg knuffte die Bardin leicht in die Seite. „Vor den Geistern oder vor der Tiefe und Enge hier im Berg?“

V´r dem Bergh. Wenn´s Licht aus is, dann findt ma nimma raus?“

Da brauchst du keine Angst zu haben. Ich finde auch im Dunkeln den Weg zurück.“ Das war glatt gelogen, aber gut geeignet, um keine Panik bei der Bardin aufkommen zu lassen. „Draußen in der Menschenwelt passt du auf mich auf, und hier beschütze ich Dich. Das ist nur gerecht.“ Die ruhige und selbstsichere Stimme des Zwerges tat Haldana gut, so dass sie ihre Angst unter Kontrolle halten konnte. Trotzdem hielt sich Haldana krampfhaft am Rand des Korbes fest, so dass die Handknöchel ganz weiß wurden.

Ihr Großlinge seid schon seltsam. Mit den Geistern Verstorbener unterhältst du dich, als wäre das völlig normal. Aber vor Ingerimms Leib, da hast du Angst. Das soll mal einer verstehen.“

Haldana und Rovik stiegen aus, als der Korb das untere Ende des Schachtes erreicht hatte.

Mit dem nächsten Korb gelangten Alrik und Hesindian nach unten. Zwei Grenzreiter folgten wenig später.

Rovik sah sich um. Irgendetwas brachte seine inneren Alarmglocken zum Läuten. Es gab nichts, was ihm auffiel. Dennoch, er spürte die Gefahr.

 

Korvid, du könntest die Brauersgattin langsam wieder einfangen. Und die beiden Gören.“ Sisa war ungehalten. „Wir benötigen sie für das Ritual. Da können wir uns keinen Fehler erlauben.“

Wie soll ich die denn finden? Irgendwo in der zweiten Sohle, ja, aber da gibt es Stollen und Gänge und Höhlen zuhauf. Die können sich überall verkrochen haben.

Stell dich nicht so an, Korvid. Sie hat dich einmal überrascht, aber jetzt weißt du ja, was Dich erwartet. Du hast doch keine Angst vor einer Frau mit ihren Kindern?“ Sisas Stimme klang herablassend und kalt.

Nein“ stammelte Korvid, obwohl das nicht stimmte. „Aber was ist, wenn dieser Alrik mit seinen Leuten kommt? Die waren doch schon auf dem Berg, wie Ihr sagtet.“

Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, du traurige Gestalt eines Medikus. Der Hagelschauer wird ihnen übel zugesetzt haben, wenn sie da draußen keinen Schutz gefunden haben. Und zum Eingang kommen sie auch nicht rein. Da steht mein Fass drauf, und das bekommen sie da nicht weg. Da ist mein Luftsklave vor“ Die Hexe sprach das Wort Luftsklave mit einer Betonung, als würde sie Lustsklave sagen wollen. „Und wenn dieser heimliche Schleicher von einem selbsternannten Baron doch noch hier her findet, ha, da freue ich mich schon fast darauf. Wir haben schließlich noch einige Überraschungen vorbereitet. Diese Krummbacherin ist ja nicht die einzige Geisel, die wir haben. Möchte doch mal sehen, was Alrik macht, wenn er sein Lieblingskind hier sieht, in Ketten und mit einem Messer am Hals. Ha! Der soll nur kommen. Und jetzt hol mir die Gefangenen. Ein kleines Blutopfer zum Beginn des Rituals kann nicht schaden…. Na wird’s bald?“ Korvid blickte kurz zu Gerrich, aber als dieser nickte, fügte er sich in sein Schicksal. Irgendwie würde er das schon schaffen. Immerhin kannte er sich auch ganz gut aus im Bergwerk. Er würde dieser Brauerin sein Kerbholz über den Schädel ziehen und sie dann in das geheime Labor der Hexe schleifen.“ Missmutig schlurfte Korvid zum Schacht mit der Leiter in die zweite Sohle.

Du hättest ihm das nicht sagen sollen, dass der Gefangene Alriks Sohn ist“ raunzte Gerrich Sisa an. „Korvid muss nicht alles wissen, sicher ist sicher.“

Ach was, Gerrich. Was nutzt es ihm denn? Nichts! Und du könntest dich durchaus mal bedanken für meinen Einfall, statt zu kritisieren. Dass ich diesen nichtsnutzigen Raberto nicht nur beauftragt habe, die Krummbacherin mit ihrer Brut zu fangen, sondern auch noch Alriks Bastard. Mit etwas adeligem Blut gelingt das ganze viel besser. Und bis dahin haben wir eine wunderbare Geisel, wenn dieser Phexschleicher doch noch hier auftaucht. Gut, dass Alrik nichts davon weiß. Aber da niemand Raberto bei der peinlichen Befragung nach etwas anderem gefragt hat, als nach der Brauersfrau, hat er auch nichts verraten.“

Ja, Sisa, aber rechne das mal nicht dir an. Ich habe zum Glück meine Quellen, auch in der Garde. Aber das war auch gutes Glück, dass in Rommilys niemand von Alborans Verschwinden Notiz genommen hat. Ist ja nichts Ungewöhnliches, wenn bei der Knappenschule jemand mal den Unterricht schwänzt.“ Gerrich lächelte eisig. „Aber was das adelige Blutopfer betrifft… dafür musst Du Dir jemand anders aussuchen. Außerdem ist blaues Blut nicht besser als Gemeines. Jedenfalls im Hinblick für magische Rituale. Meinetwegen kannst du diesen Hesindian opfern. Wenn wir ihn kriegen. Die magische Komponente in seinem Blut hilft vermutlich mehr als die ganze adelige Abstammung.“

Sisa wollte etwas erwidern, aber Gerrich schnitt ihr das Wort ab.

Mit Alboran habe ich andere Pläne. Mein Enkel braucht einen neuen Wirtskörper, nachdem diese singende Schlampe Golos Körper den Schädel mit der Laute zertrümmert hat. Ich muss neu planen. Vieles kann ich als Magier ja heilen. Aber wenn der Schädel zertrümmert ist, hilft auch keine Magie mehr. Golo soll auch nicht solange ohne Körper bleiben, das tut seinem Geist nicht gut. Er ist ohnehin schon verwirrter als ihm guttut, der Kleine.“ Gerrichs Stimme wurde nahezu väterlich.

Aber… so betrachtet ist Alborans Körper noch besser geeignet für Golo. Besser als der alte Körper. Dann soll Alrik selbst meinem Enkel auf den Thron helfen, ha. Einen Mondschatten wollte ich schon immer mal mit den eigenen Waffen schlagen. Geschieht ihm ganz recht, dem Thronräuber!“ Gerrich lachte innerlich bei dem Gedanken daran, dass Alrik seinem Enkel höchstselbst auf den Steinbockthron bringen könnte.

Und dann habe ich da noch ein Hühnchen zu rupfen. Mit diesem quiekenden Schlotzer Hühnchen. Wenn ich festlege, dass sie Golo heiratet, dass wird sie das auch tun. Ganz egal, in welchem Körper Golo gerade sitzt. Dann soll Alboran eben über zwei Baronien herrschen, ganz egal, solange nur Golo von Alboran Besitz genommen hat.“

Dieses ewige, fahle, zwielichtige Grün, das zwischen Stalaktiten und Stalagmiten leuchtete. Gerrich würde sich nie an die Aura der Göttin Belzorash gewöhnen, Dämonenpakt hin oder her. Aber für die Wiedergeburt und Gesundung Darpatiens mussten Opfer gebracht werden.

Sogar im Wortsinn. Der Rommilyser Edle durfte nicht daran denken, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen er sich vor Krankheit und Siechtum gefürchtet hatte. Als ihm jeder Schnupfen wie ein Vorbote der Blauen Keuche vorgekommen war und er sich ständig die Hände gewaschen hatte, mit dem Aquamanile. Selbst unter der magischen Maskerade spürte er die ekligen, borstigen Fliegenhaare, das sabbernde Mundloch und seine vielfach gespaltenen Augen. Einen Moment lang kämpfte der Paktierer mit Selbstekel. Eine Prüfung, das hier war nichts weiter als eine Prüfung seiner Glaubensstärke.

Wahrlich, auch er brachte ein Opfer, für den großen Neuanfang. Sein Zustand, so eklig er sich auch anfühlte, war nur der einer Larve. Am Ende, nach der "Verpuppung", würde er Teil IHRES Schwarms werden. Vielleicht sogar die Königin selbst erblicken, an ihrer unendlichen Macht und Weisheit teilhaben dürfen. Die Welt in all ihren Facetten sehen, so wie SIE mit ihren vielfach gespaltenen Augen alles sah und das Herz jedes Sterblichen durchschaute.

Der Blick des Hexers von Rommilys fiel auf die primitiven Malereien, an der Höhlenwand.

Schwer zu sagen, ob es Trollzacker oder Trolle waren, die hier zu einer geflügelten, vielbeinigen Göttin beteten. Eines stand fest. SIE war uralt, das hatte er in der Tiefe des Kurgasbergs begriffen. Eine Herrscherin, die im Verborgenen wirkte, wundersam wandelbar, vielgestaltig, unbegreiflich. Unangreifbar. Den hohlen, leeren Prunk Alverans hatte Belzorash gar nicht mehr nötig. Sie war längst eins geworden mit Dere und Feste. Korvid hatte einmal behauptet, dass Krankheiten nicht durch schlechte Luft, Schmutz oder göttliche Strafe, sondern durch winzige Lebewesen verursacht würden, die sich wie ein Schwarm überall hin ausbreiten und vermehren konnten: in jeder Ritze, in jedem Körper, im gewissen Sinn sogar in jeder Seele. Wo immer der Medicus dieses Wissen (oder seine Theorie) auch her hatte. Gerrich fand den Gedanken...interessant. Dachte man ihn zu Ende, dann waren diese unsichtbaren Winzlinge die wahren Herrscher der Welt. Nicht irgendwelche Zweibeiner, geschweige denn die Zwölfgötter und ihre Diener.

Die Gefangenen wurden nach und nach in die Haupthöhle getrieben, jammernd und wehklagend wie Gänse am Schlachttag. Fehlte nur noch, dass sie wieder zu singen anfingen. Der Traviadiener, wie hieß er noch gleich, Dormarian, versuchte zu verhandeln, Zeit zu gewinnen. Natürlich. Mit ein paar Knüppelhieben wurde er eines Besseren belehrt. Die Nacht war nicht mehr fern, sie durften keine Zeit mehr verlieren.

Sisa hatte den Ritualplatz geschickt gewählt, am Ufer des kleinen Sees. Einige Stalagmiten wuchsen hier so stattlich, dass sie als Opferpfähle dienen konnten. Es gab sogar Stalagnaten: Tropfsteine, die in der Mitte zusammengewachsen waren, vom Boden bis zur Decke reichten und ein wenig an Fieberschweiß, Insektenbeine oder Speichelfäden erinnerten. Schwere Ketten rasselten, als die Opfer an den Steinsäulen "ruhiggestellt" wurden.

Unter dem Hexenkessel, der inmitten eines Drudenfußes stand, brannte und rauchte ein kleines, übelriechendes Feuer. Die Hexe rührte gerade die uralte Rezeptur an, die in der Schriftrolle zu ihren Füßen aufgeschrieben war. Das Kurgasberger Grün würde die Wolke zu neuem Leben erwecken, sobald das Gebräu in den Loderbach gegossen wurde, vermischt mit Menschenblut. So wie Gerrich es verstanden hatte, war die Wolke längst in der Höhle anwesend, in nichtstofflicher Gestalt. Die Entität benötigte derische Substanzen, um länger in der Dritten Sphäre verweilen, vor allem aber, um sich darin ausbreiten zu können.

"Korvid Alfengrund, Ihr müsst das nicht tun". Es war das Brauerweib, das nun los zeterte. Die Krummbacherin wurde gerade herbei geschleift, von einer Trollbergerin. Ihre Kinder heulten im groben Griff des Medicus, der nervös um sich blickte.

"Ihr habt doch Peraine einmal einen heiligen Eid geschworen, habt ihr das vergessen?" klagte die Rommilyserin. "Wie könnt Ihr so etwas tun? Seid Ihr wirklich so ein Scheusal?"

Sisa verzog bei dem Namen der Milden Göttin das Gesicht, wie unter jähen Schmerzen.

"Da drüben ist noch Platz", sagte die Schwarzhexe. Dumpf hallte ihre Stimme von den Höhlenwänden wider. "Falls ich ein einziges weiteres Widerwort höre, Storchenanbeterin, schlachte ich deine Kinder sofort."

Verstört blickte die Rommilyserin in Richtung der Hexe. Selbst die Kinder versuchten ihr Weinen zu unterdrücken.

Sisa lachte kalt. "Damit habt ihr nicht gerechnet, was? Dass all die Schauermärchen über Hexen wahr sein könnten. Wo ist eigentlich Albo? Der Bastard sollte doch längst in Ketten neben mir sitzen. Katz, wärst du so liebenswürdig, ihn auch noch herbei zu holen? Damit wir endlich anfangen können. Gerrich, mein Liebling, wie viele von denen da brauchst du?" Die Hexe wies generös in die Runde, was erneut für lautes Wehklagen sorgte. Auch die Krummbacherin begann zu schluchzen.

Sisa verdrehte die Augen: "Ich mache nichts anders als dein werter Herr Gemahl. Ich braue. Also, Gerrich, wie viel Schank möchtest du?"

"Nach dir, liebe Sisa, nach dir." Der Magier deutete eine Verbeugung an. "Alborans Lebenskraft dürfte vollauf genügen. Sein armer Geist muss ohnehin den Körper verlassen. Platz machen für die große Hoffnung des Hauses Friedwang-Glimmerdieck."

"Lasst die Finger von meinem Sohn", wisperte es hinter ihm, aus dem Schatten der Höhle heraus.

"Golo, bitte, musst du denn immer im unpassendsten Augenblick das Disputieren anfangen?"

"Ich habe alles mit angehört. Von wegen Wirtskörper...?! Alboran ist mein Fleisch und Blut… Ich lebe bereits in ihm weiter."

Gerrich drehte sich gemessen um. Vor ihm waberte der schiefhalsige Junker, ein Schatten seiner selbst. Eigentlich nur ein Schemen, der kaum von der Finsternis der Kaverne zu unterscheiden war. Nur seine Augen leuchteten rötlich in all der Schwärze, wie glühende Kohlen.

"Golo. Mach dich nicht lächerlich. Deine angebliche Vaterschaft. Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Das war nur ein Trick, um aus dem Lieblingsbastard dieses Thronräubers einen vollwertigen Edelmann zu zaubern. Um ihn besser verramschen zu können, auf dem Heiratsmarkt. Dein Ruf ist es sicherlich nicht, den Alrik damit reinwaschen will. Erst beseitigen sie dich, sperren dich mit einer eisernen Maske in den tiefsten Kerker von Burg Oppstein - und plötzlich ist Junker Golo von Friedwang-Glimmerdieck wieder ein gefragter Mann? Das ist mindestens so durchsichtig, wie du es gerade bist, mein Lieber."

Schemenhaft glitt Golo näher.

"Auch Merwan hat mich betrogen… hat mir den Körper gestohlen, in Yol-Ghurmak. Soll ich Albo nun das Gleiche antun?"

"Neinneinnein...mein werter College hat dir deinen Körper nicht gestohlen. Sondern seinen untoten, langsam vermodernden Leib nach deinem Vorbild neu geformt. Das ist ein klitzekleiner Unterschied. Ich frage mich, was genau er mit dir angestellt hat, der verrückte Blutsauger. Merwan war ein Meister des REVERSALIS. Vielleicht ein ELIBATUMSNART OGAMI? Womöglich war es etwas aus der Domäne des Amazeroth, das in diesen Duplicator-Sarkophagen gesteckt hat? Vielleicht ein Quitslingoid? Er hat dein Aussehen einfach kopiert, soviel steht fest. Wie ein Gemälde. Ein nicht ganz vollkommenes Gemälde, dünkt mir. Alles wollte er wohl nicht übernehmen, von seinem Modell." Gerrich deutete an den Hals und legte ihn mit einer Grimasse schief.

"Summa summarum überaus faszinierend, auch wenn du dabei deine Seele ausgehaucht hast. Faszinierend wie dein Trick, als Geist in Serwas Körper zu schlüpfen. Ein wenig selemisch, sicher. Aber Genie und Wahnsinn liegen bekanntlich eng beieinander. Wie bei Merwan, der sich ausgerechnet in der Dämonenschmiede verkrochen hat. Geradewegs vor der Rübennase Galottas, der alles Namenlose gehasst hat, wie sonst nur das Kaiserhaus Gareth. Aber glaub mir, dein Meister hatte Recht: Eine Fliege, die nicht erschlagen werden will, setzt sich am besten auf die Fliegenklatsche. Sie alle fürchten das Böse, aber niemand erwartet es neben sich, in Gestalt des Guten. Geschweige denn in sich selbst. Warum sollten wir den Trick jetzt nicht einfach bei Albo wiederholen?"

"Weil er mein Sohn ist", ächzte das Geistwesen. "Das spüre ich, das fühle ich ganz deutlich."

"Das spürst du? Ich bitte dich. Du fühlst doch schon seit Jahren nichts mehr Es sei denn, du willst Selemie und Unzucht ernsthaft als Gefühle bezeichnen. Jeder weiß, dass Alrik sein wahrer Vater ist. Die Raben krächzen es von den Dächern, die Gänse schnattern es in jedem Traviatempel. Abgesehen davon hast du gar keine andere Wahl… deine Gemahlin hat dir hinterrücks den Schädel zertrümmert, mit der Laute. Schade um deinen alten Körper. Und um die Laute. Es hat mir damals einiges an Aufwand, Mühe und Dukaten gekostet, deinen Leichnam wiederzubeschaffen. Im Sarkophag mit der Fliegenden Festung über Gareth abgestürzt, nein, so was Verrücktes. Zum Glück stand wenigstens dein Name darauf. Weißt Du eigentlich, was es bedeutet hat, ein paar Quader schwarzen Marmor von Gareth nach Rommilys zu schaffen, mitten durch die Wildermark? Sisa musste ebenfalls sehr viel Kraft aufbringen. Um deinen Geist herbeizurufen - und alles wieder zusammenzufügen. Du warst kurz davor, dich im Limbus zu verlieren. Schon vergessen? Unsere liebe Sisa hat dich zurückgerufen, fast im letzten Moment. Sie kann dir einen Körper geben, der dir gebührt. Aber du hast schon bei Serwa gemerkt, dass man fremdes Fleisch nicht auf Dauer beherrschen kann. Jedenfalls nicht, solange es noch am Leben ist."

Sisa klopfte mit dem Besenstab gegen den brodelnden, dampfenden Hexenkessel. Ein wenig der giftgrünen Brühe schwappte heraus und verteilte sich zischend auf dem Pentagramm.

"Gerrich, große Reden kannst du schwingen, sobald du Fürst, Baron, Markgraf oder was auch immer geworden bist. Wir haben Geisterstunde, die Sterne stehen günstig. Zeit für ein wenig frischen Wind in Darpatien! Aarmarian, elender Furz von einem Luftgeist, herbei mit dir!" Gebieterisch hob die Hexe ihren Besen.

"Aaarmarian, her mit dir, aber ein bisschen plötzlich! Dir gebührt die Ehre, die Grüne Wolke in Richtung Rommilys zu blasen." Sisa rückte ihre Hörnerhaube zurecht, die verrutscht war. Ungeduldig blickte sie in Richtung des Höhlenausgangs, wo der Bach als Wasserfall in die Tiefe rauschte. Und wartete.

Vergebens.

"Luftelementar, eile herbei, zackzack!" Nichts geschah.

"Kein Plan überlebt Feindkontakt", höhnte Golo. "Hat Helme Haffax immer gesagt."

"Der Versager musste es ja wissen." Gerrich summte wütend und merkte, wie sich die "Maske" vor seinem Gesicht auflöste. Wie immer, wenn er seine Emotionen nicht im Griff hatte. Eitergelber Fliegenspeichel tropfte auf den Boden. Die Krummbachers begannen lauthals zu schreien, der Rest kannte den Anblick schon und begnügte sich mit ohnmächtigem Gewimmer.

Da stimmt was nicht“ murmelte die Hexe. „Eigentlich müsste jetzt dieser Luftsklave erscheinen.“

Das kann nur bedeuten, dass dieser Alrik es doch irgendwie geschafft hat.“ antwortete Gerrich. „Nun gut, bereiten wir ihm einen Empfang. Sisa, du kommst hier allein zurecht. Die Gefangenen sind ja alle angekettet. Katz holt gerade Alboran her. Golo, wenn du von ihm lebend Besitz nehmen kannst, soll es mir recht sein. Sonst eben tot. Aber bringe ihn unter Kontrolle. Ihr anderen“ Gerrich deutete zu den restlichen Räubern „kommt mit mir. Ihr dürft jetzt eure gefallenen Kameraden rächen.“

 

Renn in den Gang hinein“ sagte eine Stimme zu Haldana, und instinktiv gehorchte die Bardin, ehe sie sich gewahr wurde, dass Ingalf zu ihr gesprochen hatte.

REVERSALIS MILF MALF“ schallte ein lauter Ruf durch die eben noch vorherrschende Stille. Rovik wusste nicht, wie ihm geschah. Hatte er etwas übersehen? Woher waren der schwarzkuttige Mann und das knappe halbe Dutzend Bewaffneter so plötzlich gekommen, die Rovik noch erkennen konnte, bevor stockfinstere Nacht ihn umgab, nachdem alle Öllampen der Gefährten plötzlich erloschen. Die vorderste der Angreifer hatte eine Armbrust in der Hand. Der Zwerg erkannte das dumpfe Ploppen, das vom Abschuss eines Bolzens stammte. Ein Schrei. Offenbar hatte es eine Soldatin der Grenzreiter getroffen. Dann hörte Rovik rasche Schritte neben ihm. Das musste Alrik sein. Er erkannte den Baron am Geräusch seiner Schuhe, unverkennbar. Ein Schrei. Ein Todesschrei, der in einem gurgelnden Geräusch erstarb. Wieder eine Frau. Haldana war es nicht, das war der erste Gedanke, der Rovik durchzuckte. Der Laut kam aus der Richtung, in der vorhin die Armbrusterin stand. Hatte Alrik aufs Geratewohl in die Dunkelheit gestochen und dabei die Schützin erwischt?

FULMINICTUS!“ Rovik erkannte Hesindians Stimme.

Wilde Schreie klangen nun durch die Höhle. Der Angroschim konnte nichts mehr davon zuordnen, konnte Freund und Feind nicht unterscheiden. Rovik griff dorthin, wo er eben Alriks Schritte vernommen hatte und zog den Baron zur Seite. „Komm mit“ wisperte er leise. Er konnte in dem Durcheinander nichts für seine Gefährten tun. Allein, er hatte sich den Weg in seinem Sichtfeld zuvor gut eingeprägt. Er hatte ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen, wie alle Angroschim, und er zerrte den Baron in eine Nische, von der er einen abgehenden Seitenstollen erspäht hatte. Erst einmal in Sicherheit bringen, was möglich war. Keinen Augenblick zu spät. Dort, wo der Baron eben noch gestanden hatte, hörte man den klirrenden Aufschlag einer Axt auf den Felsboden. Hätte der Mondschatten dort noch gestanden, er hätte das Rauschen von Golgaris Schwingen vernommen. Rovik zog den Baron tiefer in den Felsspalt hinein.

Alrik folgte dem Zwerg. Ohne irgendetwas in der boronschwarzen Finsternis zu sehen, hätte er ohnehin nichts machen anderes können. Dass Rovik sich orientieren konnte, war seine einzige Hoffnung. Für seine Gefährten konnte er nichts tun. Nicht jetzt jedenfalls. Vielleicht konnte er später etwas tun. Vielleicht später gefangene Freunde befreien. Nichts war schlimmer, als hilflos in der Dunkelheit ausharren zu müssen und zu hoffen, selbst nicht gefangen oder erschlagen zu werden. Immerhin, die Schützin hatte er getroffen mit seiner Klinge. Und, bevor der Magier, den er als Gerrich erkannt hatte, die Lichter zum Verlöschen gebracht hatte, hatte er gesehen, dass nur vier Bewaffene ihn begleitet hatten. Vier. Von den Sieben Räubern, die er im Kampf um die Flusshexe gesehen hatte, waren zwei gefallen. Vier waren hier, es waren die gleichen, er hatte sie mit dem kurzen Blick, der ihm möglich war, zweifelsfrei wieder erkannt. Eine von ihnen, die Armbrustschützin, hatte er besiegt. Waren noch drei Räuber, die Gerrich um sich geschart hatte. Einer fehlte noch, vielleicht war dieser mit der Hexe Sisa noch irgendwo im Hintergrund. Oder verfügte Gerrich noch über Reserven, von denen er nichts wusste?

Das Klirren und Schreien, das Treten, Fallen und Poltern des Kampfes in der Finsternis hallte durch die Dunkelheit.

PARALÜ PARALEIN!“ schallte ein weiterer Ruf. Hesindians Stimme war es diesmal nicht. Blieb nur Gerrich, der offenbar einen der Gefährten außer Gefecht gesetzt hatte. Wieder Schreie. Schläge. Tritte. Konnten Gerrich und seine Bewaffneten in der Dunkelheit etwas erkennen? Hatten sie magische oder andere Möglichkeiten, fragte sich Alrik?

Dann verebbte langsam der Kampfeslärm.

Rovik zog Alrik tiefer hinter den Felsvorsprung.

Plötzlich wurde es wieder hell. Alrik spähte vorsichtig über den Felsen hinweg. Immerhin, er hatte sich zuvor richtig orientiert und richtig gesehen. Gerrich und drei Räuber – tatsächlich lag die Armbrusterin in ihrem Blut auf dem Steinboden – allerdings auch eine Soldatin. Drei weitere Grenzreiter stöhnten und versuchten, auf die Beine zu kommen, zu fliehen oder sich zu verstecken. Immerhin, auch ein Räuber war verletzt. Der Kampfzauber Hesindians hatte offenbar sein Ziel gefunden.

Stich sie ab, Than.“ kommandierte Gerrich. „Und die Steinstatue“ – Alrik erkannte seinen versteinerten Hofmagier und Freund Hesindian mit Schaudern - „zieht ihm einen Sack über und fesselt ihn. Wir bringen in runter. Sisa wird sich freuen.“ Die drei Räuber gehorchten. Alrik sah es mit Grausen, ohne einwirken zu können. Für die Soldaten konnte er nichts mehr tun. Und für Hesindian – nun, solange er versteinert war, konnte ihm wenigstens nichts geschehen.

Gerrich löste den Knoten am Ende des Seiles, mit dem der Flaschenzug bedient wurde. Den Knoten, der ein durchrutschen des selbigen verhinderte. Dann zog er am fallenden Seil, bis dieses vom eigenen Gewicht um die Umlenkrolle gezogen wurde und herab fiel und den Flaschenzug außer Betrieb setzte. „Na also. Wer immer jetzt noch oben ist, er wird uns nicht stören. Und wer unten ist, der wird uns in die Hände fallen. Früher oder später. Auf, Kameraden!“ Gerrich führte eine kreisende Bewegung mit seinem Stab aus. „Erhebt euch. Erschlagt jeden Mann, den ihr in den Gängen findet. Nur die Frau, die fangt ein und bringt sie mir.“

Die blutleeren Körper der vier erstochenen Grenzreiter erhoben sich.

Gerrich sah nach oben. Wie geplant war es ihm gelungen, Alriks Gruppe zu teilen. Es war zu schnell gegangen um genau zu erkennen, wer oben geblieben war und wer der Eindringlinge schon in die zweite Sohle gelangt war. Doch es tat nichts zur Sache. Sobald die Grüne Wolke ins Freie gelangte, wäre es um alle Geschehen, die dem Miasma im Weg standen.

 

"Im Namen von Erlaucht Swantje Rahjandrael von Rabenmund, lasst mich unverzüglich frei!"

Alborans Stimme hallte dumpf von den Wänden wider. Der junge Edelmann rüttelte an den rostigen Gittern. Das Metall fühlte sich schmutzig an, fast schon klebrig.

Angeekelt zog er seine Hände zurück, die tatsächlich mit Rost verschmiert waren. Hastig nestelte er sein Taschentüchlein hervor, mit dem eingestickten Drachenwappen des Hauses Oppstein, und säuberte seine zarten, weißen Finger.

"Ich sage es nicht noch einmal...."

Der Widerhall seiner Worte wurde am Ende des dunklen Gangs erstickt.

Zum hundertsten Mal blickte er sich in seiner Kerkerzelle um. Eine Höhle aus braungrauem, matt glitzerndem Gestein, die vermutlich künstlich bearbeitet worden war. Zumindest war sie ziemlich regelmäßig geformt. Ein wenig fauliges Stroh hatte man ihm als Lagerplatz gegönnt, und ein paar Talglichter, von dem eines heruntergebrannt war und das andere matt flackerte, in einer Nische. Sogar einen Eimer besaß er, für seine Notdurft. Gut, dass das Seidentüchlein mit Rosenwasser getränkt war, und er die Pein für seine empfindliche friedwanger "Bocksnase" ein klein wenig lindern konnte.

Unglaublich, wie impertinent man ihn hier behandelte. Gerne hätte er mit dem Zorn seines Lieblingsonkels gedroht. Aber Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein war im "Jahr des Feuers" vom Erdboden verschluckt worden. Leider im Wortsinn, beim Untergang der stolzen Grafenstadt Wehrheim. Praios seis geklagt. Ein weiterer einflussreicher Onkel, Redenhardt von Oppstein, Stadtvogt zu Rommilys, war vor einigen Jahren seinen Zipperlein erlegen: zu viel Wildbret, zu viel Rotwein, zu viel Aufregung mit den Mätressen, nach allem, was man so munkelte.

Was hatten die Oppsteins nicht alles erdulden müssen, in den letzten Götterläufen. Seine Mutter Ismena hatte den Untergang Gießenborns im Drachenfeuer nie verwunden. Ausgerechnet ein Drache hatte den friedwängischen Ländereien seiner Familie Tod und Verderben gebracht. Zusammen mit dem Heerwurm, der sich von Drachweiler bis hinunter zum "Feurigen Lindwurm" gewälzt hatte, dem altehrwürdigen Wirtshaus von Rübenscholl: Eines der wenigen Häuser dort, das den Roten Rondramond 1035 überstanden hatte. Es war, als hätten die Götter das Haus Oppstein verhöhnen wollen, indem sie es ausgerechnet durch ihr Wappentier hatten leiden lassen. Varena von Mersingen war die Herrin des Höhlendrachen Arlopir gewesen, begleitet von unzähligen Söldnern und Trollzacker Barbaren. Selbst Tatzelwurmreiter sollten sich im Gefolge der verfluchten Drachenmeisterin und dieser verrückten Ohrensammlerin befunden haben. Wie hieß sie noch gleich? Chayka irgendwas...

Seine geliebte Mutter. Alboran kämpfte mit einem Kloß im Hals. Auf und davon hatte sie sich gemacht, die "Hure von Oppstein", wie ihre Feinde sie schmähten. Das Goblinpanier sollte sie ergriffen haben, ihre Schützlinge feige verlassen haben. So zischten es manche der überlebenden Gießenborner. Undankbares Pack.

Ihr wunderschönes Gesicht sollte durch das Feuer Arlopirs verbrannt worden, die Flasche des Ersten Bosparanjers zerschmettert worden sein, im Heiligtum der Schönen Göttin, das lichterloh gebrannt hatte. Geschändet sei sie worden, die stolze Edeldame, auf dem Altar der Liebreizenden Göttin, sogar mehrfach - die Strafe Travias für ihren flatterhaften Lebenswandel!

Es fehlte nicht viel, und Albo hätte beim bloßen Gedanken daran losgeheult, wenn das für einen jungen Aristokraten statthaft gewesen wäre. Lügen, nichts als Lügen. Es war eine schöne Zeit gewesen: die "Goldenen Jahre" seiner Kindheit in Gießenborn. Oder genauer gesagt die Silbernen Jahre, als die Anteile an dem Bergwerk Mutters extravaganten Lebenswandel finanziert hatten.

Gaukelspiel, Bardensang, geschmeidige Säbeltanze, rauschende Erntefeste...ein unbeschwertes Leben, das sich angefühlt hatte wie leichter, prickelnder Schaumwein. Windstag, sein treuer Mohadiener. Er sollte als einer der ersten gefallen sein, als die Mordbrenner den "Pass der Freundschaft" heruntergekommen waren.

Wie konnten die Gießenborner nur derart schlecht über seine Mutter reden? Bis zuletzt hatte die Herrin des Gießentals dem Ansturm der Plünderer standgehalten. Ein Säbeltänzer nach dem anderen war unter deren blutigen Äxten und Klingen gefallen. Aber ein Großteil der Gießenborner hatte noch fliehen können, in die Wälder oder auf das nahe Bockshorn. Nun hieß es, die entstellte Jungfer habe sich in irgendeinem Kloster des Rahjaordens oder bei ihren Liebfelder Verwandten verkrochen, das Gesicht hinter einem rosafarbenen Schleier versteckt.

Durch den rosafarbenen Schleier, ja, so hatte Alboran die Welt viele Götterläufe lang gesehen. Sehen wollen. War es Glück oder Unglück gewesen, dass er in diesen Schreckenstagen Knappe auf Pfalz Brücksgau gewesen war, bei Ugdalf von Löwenhaupt-Hauberach?

Mittlerweile sah er ja ein, dass seine Mutter ihre Fürsorge übertrieben hatte, als sie ihn mit Leibwächter Gerding und Kinderfrau Harike in den Wehrheimer Forst geschickt hatte. Mit Packpferden voller Möbel, Gewändern und Spielzeug (das den Burgsassen im Winter als willkommenes Brennmaterial gedient hatte). Gerding war in die Reihen der Burgwächter gestellt worden, vom gestrengen Pfalzgrafen, und bei der Rückeroberung irgendeines Dorfes gefallen.

Mit Schaudern dachte Albo an die Toten, die qualmenden Trümmer, die Krähen auf den entstellten Gesichtern, die pfeilgespickten, starren Leiber und die Blutpfützen im Schlamm. Die Schrecken des Krieges, die er damals zum ersten Mal in seinem jungen Leben gesehen hatte...so ähnlich stellte er sich das Grauen in Gießenborn und Rübenscholl vor. Harike sollte in "Varenas Krieg" geschändet und erschlagen worden sein, zuhause in der Sichel. Die arme Harike. Er wollte gar nicht mehr daran denken.

Ugdalf von Brücksgau. Beim grüblerischen Vellberger hatte Alboran, trotz allen Verzichts, eine gewisse Narrenfreiheit genossen, in der prachtvollen, leidlich sicheren Reichsburg. Natürlich wusste der Pfalzgraf, dass Alboran nicht wirklich der Enkel des Verräters Gernot und seines verschollenen Sohns Golo von Gießenborn war, des "Elfchens". Sondern ein Bastard Baron Alriks von Friedwang, der im Krieg im Vellbergschen gekämpft hatte. Ugdalf hatte ihn einigermaßen vom Spott, vor der Verachtung und dem Misstrauen mancher seiner Gefährten geschützt. Wie es hieß, wollte er ihm, dem "Junkerlein Albo", irgendwann einen Posten in der Schatzgarde verschaffen. Sogar die Angst vor Pferden hatte er ihm genommen, indem er ihn vor allem mit der Versorgung der Pferde betraut hatte. Alborans Reitunterricht hatte besser geklappt, als er gedacht hätte. Er hatte es diesen jungen Schnöseln beweisen wollen, die als geachtete Aristokraten auf die Welt gekommen waren.

Wirklich unangenehm war es geworden, als plötzlich Auburia auf der Burg aufgetaucht war, die neue Pfalzgräfin. Auburia von Rosshagen. Die Elenvinerin hatte von Anfang an kein Hehl daraus gemacht, was sie von Alboran hielt: Wenig bis nichts. "Ein verzärteltes Füchslein, im schwarzen Schafspelz einer Borbaradianersippe. Bildet sich ein, er wäre etwas Besseres, falls er wirklich nur ein Bastard sein sollte." Diese Worte sollten gefallen sein, beim Blick auf den Burghof, wo er sich mit seinen Kameraden im Schwertkampf geübt hatte. "Was mag aus dem Basiliskenei schlüpfen, das uns Ugdalf da ins Nest gelegt hat?"

Das sagte die Richtige. Elende Tochter eines Answinisten! Glaubte wohl, sie wäre leuchtender als der Bote des Lichts, mit ihrer lächerlichen Pagenfrisur. Nur weil eine entfernte Verwandte mal Heliodana gewesen war. Mit der Serviette ins Gesicht geschlagen hatte sie ihm, den Neffen eines Inquisitors und Märtyrers der Schlacht auf dem Mythraelsfeld. Vor den anderen Knappen, als er ein wenig Wein verschüttet hatte. Welch Demütigung!

Immerhin, Ende 1035 hatte sein Vater doch eingegriffen, und ihn auf die Knappenschule der Markgräfin geschickt, Auburias Erzfeindin. Der Name Oppstein-Glimmerdieck hatte in Rommilys einen guten Klang. Der Dienst war rondrianisch hart, aber man behandelte ihn gerecht. Um genau zu sein: Er war mittlerweile Karzer gewohnt. Das Grausamste waren bislang Darpinias Scheltworte gewesen, als er der hübschen Binsböckel auf die Fußzehen getreten war, beim Tanzunterricht.

 

Zum wiederholten Mal schritt er seinen Kerker ab. Wo war er hier eigentlich gelandet? Und warum? Ein wenig sah die Umgebung aus wie in seiner Silbermine in Gießenborn, nur dass die Farbe des Gesteins nicht passte. Sichelfels war schwarzgrau und bröckelig, dieser Stein hier glatt und hellbräunlich. In der Gießenborner "Fürstenmine" hatte es einen ähnlichen Raum gegeben, wo die Schätze der Jungfer eingelagert worden waren, im Jahr des Feuers (dem weitere "Jahre des Feuers" gefolgt waren).

Wie konnte ihm ein derartiges Missgeschick passieren, so kurz vor der Schwertleihe? Ausgerechnet jetzt. Bisch, sein gutgläubiger Onkel, der war mal unter die Räuber gefallen. Aber der war als junger Bursche in eine Rahjafliegenfalle getappt. Angeblich hatte er mal mit einer ungetreuen Magd rumgetändelt, einem Räuberliebchen, das sich in Burg Rabenmund eingeschlichen hatte, und seinen rahjagefälligen Leichtsinn schnell bereut.

Würde man ihn jetzt auch in die Al´Anfaner Sklaverei verkaufen, wie Onkel Bishdarielon damals? Albo schauderte und griff nach dem Sonnenamulett unter dem Rüschenkragen, das man ihm aus irgendeinem Grund gelassen (oder einfach nur übersehen) hatte.

Er hatte nichts falsch gemacht, oder? War einfach nur durch die Gassen von Rommilys geschlendert, auf seiner Lieblingsstrecke. Vor einem Wirtshaus waren ein paar schräge, aber auch lustige Vögel gestanden, hatten gezecht und gewürfelt, an einem Tisch, der nur aus einem über zwei Fässer gelegten Brett bestanden hatte. Als ihm die Würfel vor die Füße gerollt waren, da war man irgendwie ins Gespräch geraten. Die fröhlichen Trinkbrüder und - schwestern hatten ihn eingeladen, einen Becher auf das Wohl Ihrer Erlaucht Swantje Rahjandrael zu trinken. Früher, da hätte der Junker solch gemeines Volk einfach linkerhand stehen gelassen. Aber nachdem Darpinia mal gemeint hatte, er wäre ganz schon hochnäsig, trotz allem...

Also hatte er die Einladung großherzig angenommen, und einen Anstandsschluck getrunken. Vielleicht auch zwei oder drei Schlucke. Sicher nicht mehr. Auf Swantje! Höflichkeit, die hatte man ihm nun wirklich beigebracht, in der Knappenschule, und Respekt vor der Markgräfin. Ein paar Schritte war er noch über den Markt gelaufen, in Gedanken an Gießenborn, wo es früher ähnlich feuchtfröhlich zugegangen war. Plötzlich war alles ganz seltsam gewesen.

Im nächsten Moment hatten ihn seine "Gastgeber" auch schon untergehakt – zwielichtige Gestalten, die ihn im Nachhinein doch sehr an die Bande von Knochenbrecher-Gundo erinnerten (der sein Senkenthaler Onkel damals zum Opfer gefallen war).

Irgendwann war er auf einem Karren gelegen, neben einer dicken Frau und zwei Kindern, unter einer Plane. "Schlafkrankheit", das Wort war auch gefallen, wie eine Erklärung für sein Unbill. Tatsächlich hatte sich alles wie Fieberwahn angefühlt. Über den Darpat war er geflogen, im Liegen. Ein seltsames Wesen mit Storchenkopf hatte ihn etwas Bitteres zu Trinken eingeflösst. Sie waren durch die Berge gefahren, auf unmöglichen Wegen, irgendwann war er aus seinem wirren Alptraum aufgewacht, hier in seinem "Karzer".

Albo tastete über die zwölfstrahlige, vergoldete Sonne, die durchaus kostbar war, vor allem für ihn. Es war wahrlich ein kleines Praioswunder, dass die Entführer das Amulett nicht gestohlen hatten, ein Geschenk des Hochgeweihten Parinor Rukus. Auch wenn die Strahlen durchaus spitz waren, hatte er es dennoch nicht vermocht, damit das Schloss der Tür zu knacken. Sein Adoptivvater Alrik, der in Wahrheit wohl sein leiblicher Vater war: Er hätte das Kunststück sicher fertig gebracht.

Alboran strich sich über seine dunklen Locken. Wie konnten die guten Götter nur so grausam zu ihm sein? Hätte er nicht einfach als legitimer Sohn Alriks von Friedwang und Ismenas von Oppstein geboren werden können? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Banditen, die ihn verschleppt hatten, es nicht gewagt hätten, Hand an einen in Ehren gezeugten Baronssohn zu legen. Man sah ihm seine travialästerliche Abkunft wohl an. Die Rommilyser hatten einfach ein Gespür für so etwas, selbst das Gesindel.

"Sieh an, da geht doch glatt die Sonne auf, in diesem finsteren Orkarsch hier unten." Eine hässliche, gemeine Stimme. Das verschlagene Rattengesicht eines seiner Kerkerwärter tauchte hinter den Gitterstäben auf. "Zeig mal her, was du da Hübsches hast, Bastard!"

"Wage er es, Hand an ein geweihtes Amulett unseres Götterfürsten zu legen!" Alboran hob trotzig das Kinn. Einen Moment lang glaubte er, wieder auf der Theaterbühne zu stehen, wie damals, als sie das Singspiel zu Ehren des Hauses Rabenmund aufgeführt hatten. Bastard? Wenn der Strolch ihn so bezeichnete, dann bedeutete es, dass er kein Zufallsopfer gewesen war.

Eine schmutzige Hand schob sich durch die Gitterstäbe. "Du wirst es mir natürlich geben, Schafsnase. Freiwillig."

Alboran wich an die kühle, trockene Felsenwand zurück, und hoffte, dabei nicht allzu furchtsam zu wirken.

Irgendwo hatte er mal gehört, dass Bestechung die einfachste Möglichkeit war, aus einem Gefängnis zu entfliehen. Auch wenn er die Methode nie ganz verstanden hatte: Wenn ein Gefangener noch über Reichtümer verfügte, dann konnte man sie ihm ja jederzeit abnehmen. Und ganz gewiss würde er das Amulett nicht aus der Hand geben.

"Wer seid ihr? Wo bin ich hier? Wisst ihr nicht, dass ich der Sohn des Junkers von Oppstein-Glimmerdieck bin?"

Der Halbschatten stutzte - und begann zu kichern. Im flackernden Licht war sein Gesicht nur schwer zu erkennen, aber der buntkarierte Umhang sah merkwürdig aus. Roch nach Wolle und Schlimmeren. Ein Schwert klirrte gegen die Gitterstäbe.

"Es stimmt schon, was man sagt. Jedes Schaf hat mehr Verstand als ihr Tiefländer. Und jetzt her damit, oder soll ich´s dir aus den Fingern schneiden? Na komm, ich will´s mir doch nur mal anschauen..."

Tatsächlich hielt Alboran das Amulett fest umklammert. "Tiefländer? Also sind wir in den Trollzacken." Der Junker hatte einfach geraten, weit konnte die Reise ja nicht gegangen sein, aus der Stadt heraus.

"Ganz Recht, du bist in unseren Bergen, Romlysher! In den freien Trollzacken."

Alborans Augen verengten sich. Trollzacken, allein das Wort ließ Wut in ihm hochsteigen. Es waren (auch) götterlose Trollzacker Barbaren gewesen, die sein geliebtes Gießenborn massakriert und zerstört hatten. Kalt lächelnd nahm er das Amulett ab und ließ es in der Hand baumeln. "Komm herein und hol es dir. Meine korrekte Anrede lautet übrigens Euer Wohlgeboren."

Ein verächtliches Schnauben: "Lass rüberwachsen, wenn du möchtest, dass du demnächst noch auf deinem Thron sitzen kannst, ohne dir die wohlgeborene Nase zuhalten zu müssen" Der Räuber blickte zum Latrineneimer. "Einer muss ihn dir ja schließlich ausleeren, nicht wahr? Speisen möchte der hochedle Herr wahrscheinlich auch noch - und zu diesem Zweck seine Zähne behalten? Also spuck hier keine großen Töne, oder du spuckst bald was anderes, Bürschchen."

Alboran versuchte seine Chancen abzuschätzen. Ringen und Faustkampf beherrschte er gut genug, um zu wissen, dass dieser Gegner weit erfahrener und kräftiger war. Vor allem hatte der ein Schwert an der Seite, und Alboran nicht.

Sein Gegenüber schien die Unsicherheit zu merken. Er zog grinsend einen Schlüssel hervor und schlug damit gegen den Gitterstab. "Wenn ich reinkomme, ist es zu spät. Überleg´s dir."

Alboran legte das Sonnenzeichen des Praios wieder um. "Es ist ein altes Familienerbstück, das ich ungern verlieren möchte. Aber ich kann dir etwas anderes dafür geben. In meinem Gürtel sind Dukaten eingenäht".

Alboran wunderte sich, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen ging, trotz der glänzenden Sonne des Greifen um seinen Hals.

"Sag bloß."

"Für Fälle wie diese." Alboran verschränkte die Arme. "Glaub mir, Goldmünzen passen viel besser zu dir. Besser als ein Amulett des Götterfürsten, das von Inquistionsrat Parinor Rukus von Oppstein persönlich geweiht worden ist. Ich an deiner Stelle müsste ständig an Praios Gerechtigkeit denken, wenn ich so etwas stehlen würde. Oder an einen Galgenstrick um den Hals."

"So schwer kommt mir dein Gürtelchen gar nicht vor." Dennoch leuchtete die Gier, in den Augen des Trollbergers. "Nimm ihn mal ab, damit ich ihn besser sehen kann."

Alboran tat, wie ihm geheißen worden war.

"Nie im Leben sind da Duckern drin."

"Also gut." Der junge Friedwang seufzte. "Ich sehe, dich kann man nicht so leicht hinters Licht führen. Die Münzen sind natürlich in meinem Stiefelabsatz versteckt. Im Linken."

Alboran hob den Stiefel etwas an.

"Vielleicht werden wir doch noch Freunde." Der Räuber steckte sich den Schlüssel in seinen Gürtel. "Schieb deinen Stiefel durchs Gitter durch, aber ein bisschen plötzlich."

Der Knappe lehnte sich gegen die Wand und versuchte, den Stiefel auszuziehen, vergeblich: "Geht nicht. Bewegt sich kein Haarbreit."

"Stell dich nicht so blöd an. Und vor allem, verkauf mich ja nicht für blöd."

"Wie könnte ich, in meiner Lage. Wäre nett, wenn du helfen könntest." Alboran schob seinen Fuß durchs Gitter, oberhalb der ersten Querstange. Der Trollberger schaute halb ungehalten, halb verständnislos.

"Ans Geheimfach kommt man nur von innen ran. Also mach schon. Wie ist dein Name?"

"Freunde nennen mich Katz. Ich will großzügig sein. Du darfst mich Ai´Than nennen"

"Für dich bin ich Euer Wohlgeboren Alboran Praiosin Raul von Oppstein-Glimmerdieck. Nun mach schon."

Der Räuber kauerte nieder, packte den Stiefel und verdrehte ihn, durchaus schmerzhaft für Alboran. Das Leder bewegte sich tatsächlich keinen Fingerbreit. Katz schnaufte und mühte sich ab, packte mal den Absatz, mal den Stiefelschaft, mit rotem Kopf. Dann griff er erst mit der einen, dann der anderen Hand durchs Gitter und fasste den Stiefel direkt an der Stulpe an. Alboran grinste, wenn auch mehr vor Schmerz. Es sah aus, als würde er gerade den Wehrheimer Stechschritt üben und sei mitten in der unangenehmsten Position erstarrt.

Plötzlich ging alles ganz schnell. In Windeseile schlang Alboran seinen Gürtel um Katz Hände. Dann zog er die Schnalle zu. Der Räuber merkte, dass er an einen der Gitterstäbe gefesselt war.

"Was zum Namenlosen?" Katz war ehrlich verblüfft. Alboran befreite sein Bein aus der Tür und unterdrückte dabei einen Schrei, ob des Wadenkrampfs. Dann tastete er nach Katz´ Schlüssel, zog ihn aus dem Gürtel, steckte ihn ins Schlüsselloch und drehte ihn knirschend um.

Der Trollberger versuchte sich ruckend und fluchend zu befreien: vergeblich. Die schwere Tür schwang quietschend nach außen auf. Alboran ließ sich nach vorne fallen und knallte sein Opfer mit Wucht gegen die Wand, immer und immer wieder. Ein halbes Dutzend Mal wiederholte er die Ramm-Attacke, bis das Stöhnen des Ai´Than zwischen Gitter und Fels schwächer wurde. Dann packte Alboran seinen benommenen Feind am Hinterkopf und knallte ihn mehrfach mit der Stirn gegen das Eisen, höchst unrondrianisch. Einige Herzschläge lang spürte er, wie der gefürchtete Jähzorn des Hauses Friedwang in ihm aufstieg. Kalt grinsend stellte er sich vor, wie er den Schädel des Trollzackers langsam, aber sich zerschmettern würde. In Brei verwandeln. Der erste Mann, den er in seinem Leben töten würde, mit kaum mehr als zwanzig Götterläufen. Ein gutes Gefühl.

Ein zu gutes Gefühl. Alboran merkte, dass er seinen eigenen Kopf schief hielt. Mit leisem Schrei ließ er sein Opfer los, das in die Knie sackte und dann reglos zur Seite kippte.

"Der Henker von Rommilys soll auch noch was von dir haben", knurrte der junge Edelmann. "Kanaille."

Ein gutes Schwert, dachte der Bastard, als er scharrend die Klinge des Besiegten aus der Scheide zog.

Nun hatte er den Beweis erbracht, zumindest für sich selbst.

Er war wirklich der Sohn von Alrik, dem Fuchs von Friedwang.

Alboran hatte seinen regungslosen Gefangenenwärter in die Zelle geschleift und angekettet. Im Dunkel der Zelle würde es auf den ersten Blick so aussehen, als kauere ein Gefangener dort in der Ecke. Mindestens einen nicht gezielt Suchenden würde er damit täuschen können. Sorgfältig verschloss er die Zelle und steckte den Schlüssel ein. Dann gürtete er sich Katz´ Schwert um und legte dessen Lederrüstung an. Er wusste nicht, wem er auf der Flucht begegnen würde, und mit seinem zerschlissenen Hemd wäre er nicht nur völlig ungeschützt, sondern auch sofort erkennbar. Zuletzt schaute er den Inhalt des Lederbeutels am Gürtel des Wärters. Eine Hartwurst. Die aß Alboran gleich. Ein Feuerstein, etwas Zunder. Ein paar Münzen. Immerhin der Feuerstein konnte Alboran nützlich sein. Er steckte den Lederbeutel ein.

Frei war er nun… nur wohin sollte er gehen? Er kannte sich in der Höhle nicht aus, und ohne Ortskenntnis würde er sich hier verlaufen. Er hatte keine Chance, hier heraus zu kommen. Die Fackel an der Wand, die Katz zuvor entzündet hatte, als er nach ihm sah, würde vielleicht ein halbes Wassermaß lang brennen. Danach wäre er in der Finsternis gefangen. Wenn er in dieser Zeitspanne keinen Ausweg fand, wäre es vermutlich um ihn geschehen. Mit der Linken packte er die Fackel, in der Rechten hielt er das Schwert. Dann stapfte er vorwärts. Was hätte er auch sonst tun sollen.

Wie würde es ihm gelingen, sich nicht zu verlaufen? Alborans Zelle war am Ende eines Stollens gewesen. Wenn er bei jeder Abzweigung rechts abbog, würde er zurück finden. Stieße er in eine Sackgasse, würde er zurückgehen zur letzten Biegung, dort den anderen Abzweig nehmen und dann wieder immer nur rechts gehen. So würde er systematisch die Gänge und Stollen durchsuchen und sich nicht verlaufen. Dann würde er irgendwann einen Schacht nach oben finden müssen. Alboran erinnerte sich, dass man ihn in einem Korb herab gelassen hat. Den würde er doch wieder finden? Das hoffte er zumindest.

Wenn nur die Fackel lange genug Licht spenden würde. Sonst war er verloren.

Alboran kämpfte einen Anflug von Verzweiflung nieder und stapfte los. Schon nach einigen Abzweigungen stellte er fest, dass sein Plan zur systematischen Erforschung der Gänge und Stollen nicht funktionierte. Er hatte sich hoffnungslos verlaufen. Also wählte er bei Abzweigungen immer den Gang, der eher nach oben führte.

Der junge Friedwang hatte gehört, dass einem im Bergwerk manchmal ein Luftzug den Weg zum Ausgang verriet. Aber er verspürte nichts, nicht einen Hauch. Die Fackel brannte ruhig ohne jedes Zittern der Flamme. Er würde hier nie wieder herausfinden.

Alboran hätte nicht sagen können, wie lange er durch die Stollen und Gänge unter Tage geirrt war. Aber irgendwann kam es, wie es kommen musste. Die Fackel war nieder gebrannt. Eine letzte Flamme züngelte noch sacht zitternd empor, dann war auch diese erstorben. Nach einer weiteren halben Minute war auch der Rest an beruhigend glimmender Glut erloschen. Schwarze Finsternis umfing den jungen Friedwang.

Tastend und vorsichtig bewegte Alboran sich vorwärts. Er wusste nicht wohin, aber sich einfach hinsetzen und warten würde auch nicht weiter helfen. Es gab genau drei Möglichkeiten für ihn. Er würde hier herum irren, bis er entkräftet zu Boden sank und verhungerte – das war die schlimmste Vorstellung für ihn – oder er würde irgendwann jemandem seiner Häscher in die Hände fallen – dann könnte er wenigstens kämpfen und hätte eine, wenn auch winzige, Chance zu überleben und zu erfahren, wer und warum ihn eigentlich entführt hatte. Zuletzt – aber die Aussicht darauf war wirklich minimal – konnte er auch durch einen Zufall den richtigen Gang entlang – nun – mehr kriechen als laufen – und dann tatsächlich einen Weg nach draußen finden. Alboran wusste, dass die Wahrscheinlichkeit hierzu mit Gering gar nicht zu beschreiben war. Aber die Hoffnung darauf war das Einzige, was seine Verzweiflung in Zaum hielt.

Es war wirklich stockfinster. Er hatte schon sternenlose Neumondnächte in der Schwarzen Sichel erlebt, aber die Finsternis einer solchen Nacht war nicht zu vergleichen mit dieser wirklich namenlosen Schwärze hier unter Tage, die ihn umgab. Außerdem war es kalt unter Tage. Nicht frostig kalt, aber kühl, und langsam drang die Kälte ihm durch die zerschlissenen Kleider und lähmte ihn zusätzlich.

Auf seinem Weg hielt Alboran sich immer eine Hand vor die Stirn, um nirgendwo gegen einen herab hängenden Felsen zu laufen. Die andere Hand ließ er an der Wand entlang gleiten. Er versuchte zu ertasten, ob der Gang natürlich entstanden oder in den Fels gehauen worden war. Er tippte auf gehauen, denn die Wand fühlte sich weitgehend gerade an, anders als er es bei einer natürlichen Felswand vermuten würde. Aber das war letztlich auch nur geraten.

Mit seinen Füßen schlurfte er langsam auf dem Boden entlang, er hob die Füße nicht vom Boden ab, um Unebenheiten ertasten zu können und um nicht etwa unversehens in ein Loch zu treten und in die Tiefe zu fallen. Es war eine unheimliche Erfahrung, ohne etwas zu sehen und etwas zu hören – die Stille war tatsächlich beeindruckend, aber es war auch beängstigend – durch die Tiefe zu irren.

Verdammt, war es tatsächlich sein Schicksal, hier irgendwann kläglich zu verhungern und ein schmähliches, einem Friedwang unwürdiges Ende zu finden? Dann hätte er sich auf der Knappenschule nicht so anstrengen zu müssen. Da hätte er lieber noch den einen oder anderen Krug Wein mehr getrunken und sich mit den Mädchen in den Schänken vergnügt, anstatt sich darum zu bemühen, nicht nur dem Namen nach ein Edelmann zu sein.

Doch was half es zu lamentieren. Die Gelegenheit auf ein von Festen und Tanz geprägtes Leben in Rommilys war vorbei, für immer vorbei, wenn er hier nicht herausfand. So wollte er wenigstens in Anstand und Würde ein Ende finden. Immerhin in Freiheit und nicht in einer Zelle würde er die Reise übers Nirgendmeer antreten.

Aus der Ferne hörte Alboran Stimmen, Poltern, Klirren. Woher kam das? Vorsichtig tastete Alboan sich in die Richtung weiter. Wer immer dort war, freundlich gesonnen war er ihm sicher nicht. Vermutlich waren es weitere Ganoven, die mit seinen Entführern unter einer Decke steckten. Aber eine andere Wahl hatte Alboran nicht, als dorthin zu gehen. Alles war besser, als im Finsteren irgendwann elendig zu verrecken.

Leider waren die Geräusche nicht lange zu hören. Zu kurz, um im Dunkeln einen Weg dorthin zu finden. Aber eine Hoffnung auf ein Entrinnen aus der ewigen Finsternis war in ihm wieder wach geworden. Wenn er nur die Richtung halten konnte. Irgendetwas musste dort ja zu finden sein.

Plötzlich hörte Alboran wieder etwas. Schritte. Leise. Keine Horde Bewaffneter, wie er befürchtet oder erwartet hatte. Aber Schritte, die, wem immer sie gehörten, auch kein Licht mit sich brachten. Wer war das, der sich hier unten ohne Licht orientieren konnte? Es konnte nur eine unheilige Entität sein, der das vermochte. Oder war Magie im Spiel? Alboran hielt den Atem an, hielt sich still. Die Schritte kamen auf ihn zu. Es hörte sich nach nur einer Person an. Lederne Schuhe auf steinernem Boden, wie er anhand des Klanges vermutete.

Alboran entschied sich, das Risiko einzugehen. Wer immer kam, den würde er überwältigen. Ohne Hilfe kam er hier nicht raus, und wenn einer der Wärter sein Gefangener war, so war das vielleicht das Beste, was er sich erhoffen konnte.

Alboran verharrte regungslos und wagte nicht zu atmen. Die Schritte kamen weiter auf ihn zu. Er würde den heimlichen Schleicher einfach umfassen und zu Boden reißen, immerhin die Überraschung hatte er auf seiner Seite.

Etwas berührte Alboran an der Brust. Eine tastend vorgestreckte Hand? Ein leises, überraschtes Ausatmen. Der Friedwang griff zu, packte das Handgelenk und zog, einen Schritt zurückgehend, und die unbekannte Gestalt nach vorne aus dem Gleichgewicht bringend. Alboran merkte, wie der Schleicher stolperte und zu Boden fiel.

Die Hand, die Hand. Sie war Alborans einziger Angriffspunkt, den er sicher hatte. Er sprang, die Hand des unbekannten festhaltend, dorthin, wo er die am Boden liegende Gestalt vermutete und drehte dieser die Hand auf den Rücken, im Büttelgriff in Richtung Schulter hebelnd. Der Angriff musste für den Schleicher völlig überraschend gekommen sein. Offenbar konnte dieser also doch nicht im Dunkeln sehen. Immerhin. Also vermutlich doch nur ein einfacher Mensch, kein Zauberer und keine unheilige Kreatur.

Alboran stellte überrascht fest, dass sein Gefangener nicht Alarm geschlagen, nicht um Hilfe gerufen hatte. Aber vielleicht war er der Schleicher auch allein, die Kameraden längst woanders im Bergwerk. Oder war der Unbekannte zu überrascht von seiner plötzlichen Gefangennahme?

Kein Laut, oder ich stech´ dich ab!“ flüsterte Alrik dem Gefangenen zu, er sprach dabei ein wenig mit norddarpatischem Akzent, was sicher an der Aufregung lag. Der Gefangene unter ihm, auf dessen Rücken er kniete, atmete schwer, aber schwieg. ´Nur kein Risiko eingehen` dachte Alboran sich. Einen hatte er überwältigen können. Ob er noch mal so viel Glück haben würde, nun, er wollte es nicht darauf ankommen lassen. `Erst mal feststellen, ob er bewaffnet ist´ beschloss der Friedwange. Wobei er dazu nur eine Hand hatte, mit der linken Hand hielt er den Arm des Gefangenen gehebelt auf dessen Rücken. Vorsichtig tastete er den Rücken des Gefangenen ab. Dieser zitterte vor Angst.

Alboran ertastete etwas ledernes, festes, längliches, Rundes auf dem Rücken des Gefangenen. Eine Lederscheide? Die Finger seiner rechten glitten an dem Lederstück entlang, Richtung Schulter. Tatsächlich. Ein metallener Korb. Vermutlich ein Rapier. Natürlich war der unbekannte bewaffnet. Wie hätte er mit etwas anderem rechnen können. Vorsichtig zog er das Rapier aus der Scheide und legte ihn außer Reichweite des Gefangenen auf den Boden. Dann tastete er weiter. Wer eine Klinge hat, der hat auch eine Zweite. Jedenfalls war das nicht unwahrscheinlich. Alriks Finger fanden den Gürtel des Gefangenen und fuhren daran entlang. Kein Dolch, kein Messer. Jedenfalls nicht, soweit er tasten konnte. Wenn, dann läge der Gefangene auf seiner Klinge, wenn diese in einer Scheide bei dem Sturz nach vorne verrutscht wäre. Alboran löste den Druck seiner Knie auf dem Rücken des Gefangenen ein wenig, um den Gürtel auch unter dem Bauch abzutasten. Keine Klinge.

Aber der Gefangene war eine Frau.

Einen Augenblick lang war Alboran überrascht. Nicht lang, aber lange genug, dass die Gefangene es schaffte, den Arm loszureißen und sich auf Armen und Beinen nach oben stemmen wollte, um zu türmen. Alboran wäre beinahe nach hinten umgekippt, schaffte es aber, mit der Linken die Aufstehende an einem kräftigen Bein zu erwischen und zu umfassen, wobei diese wiederum das Gleichgewicht verlor, und nach vorne fiel.

Eine Frau, die durch finsterer Stollen lief und ein Rapier trug. Kein Püppchen wie manche Patrizierdame in Rommilys. Wie hatte Alboran nur so unachtsam sein können. Nur weil die Gefangene eine Frau war. Herrje, Alboran, du hast doch schon genug Kriegerinnen gesehen, schalt er sich und drückte sich nach vorne ab, die Arme der Kontrahentin um die Hüften schlingend und diese wieder zu Boden drückend. Diese aber hatte jetzt die Arme frei, und Alboran stöhnte kurz auf, als ein heftiger Schlag, vermutlich mit dem Ellbogen, ihn über dem Ohr traf.

Alboran ignorierte den Schmerz in der Sicherheit, dass er ohne die Gefangene vermutlich nie aus der Dunkelheit unter Tage entkommen würde. Er warf sich nach vorne, seine rechte Hand griff in etwas Weiches. Haare. Alboran krallte sich mit der Hand in den Haaren fest und zog daran – egal wie unritterlich das war, wenn man den Lektionen in der Knappenschule zu Rommilys glauben wollte. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Wieder kam die Frau bäuchlings unter ihm auf dem Steinboden zum Liegen, und er kniete sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Schultern der Frau, ohne deren Haare loszulassen. Der Widerstand der Frau erlahmte. Offenbar nahm diese an, dass sie ihm an Kraft unterlegen war? Oder wollte die Frau ihn nur wieder in Sicherheit wiegen, um später einen Ausbruch zu versuchen? Noch einmal würde Alboran nicht leichtsinnig sein. Zumal der Schlag ihm gezeigt hatte, dass die Gegnerin sicher nicht schwächer als er war.

Wer bist du?“ wollte Alboran wissen

´N wär bisch du?“ war die Antwort. Nun, eigentlich war es Alboran auch egal, wie die Gefangene hieß. Aber die Unbekannte sprach mit einem starken Schwarzsichler Einschlag. Sie hatte eine angenehme Stimme. Mehr konnte er in der Finsternis ohnehin nicht feststellen.

Du führst mich jetzt nach draußen, dann lasse ich dich frei.“ stellte Alboran fest.

Alboran spürte, wie etwas Warmes über seine Wange troff. Offenbar hatte der Ellbogenschlag der Frau ihm eine Platzwunde beschert. Die Wunde brannte auch leicht, und er spürte ein Pochen in der Schläfe.

Nein, an Kraft war er der Gefangenen sicher nicht überlegen. Er hatte nur den Vorteil der besseren Position. Und dass die Frau nicht wusste, wie stark er war. Das war sein einziger Trumpf, und den durfte er nicht verlieren.

Also was ist… Willst du leben und mich hier raus führen, oder willst du lieber hier für immer im Berg bleiben. Deine Entscheidung.“

Lass mi los, dann können wir red´n“

Ja sicher. So blöd bin ich auch wieder nicht“ Alboran musste leicht auflachen, angesichts der einfachen Masche, mit der es die Gefangene versuchte. „Also was ist? Ich nehme dir jetzt den Gürtel ab und fessele Deine Hände, dann können wir aufstehen. Du führst mich raus, und dann lasse ich dich frei.“

I werd´s nit hind´rn können.“ sagte die Frau mit einer sich in ihr Schicksal ergeben klingenden Stimme. „Ab´r i find´t an Weg au nit, ohne Licht.“

Die zur Schau gestellte Schicksalsergebenheit der Gefangenen überraschte den jungen Friedwang

Hergefunden hast du ja auch, also red´ nicht so einen Mist daher.“ konterte Alboran. Gleichwohl musste Alboran annehmen, dass die Gefangene in diesem Punkt sogar die Wahrheit sprechen könnte. Dennoch, er wollte es nicht glauben, wollte nicht seine Möglichkeit auf Entrinnen aus dieser Höhlenwelt sich in Nichts auflösen sehen. Mit der Linken tastete er erneut nach dem Gürtel der Gefangenen. Rasch löste er den Lederriemen, während er immer noch die Hand in die Haare der Gefangenen gekrallt hatte und diese mit seinem Gewicht zu Boden drückte.

Also… die Hände auf den Rücken. Oder sollen wir wieder kämpfen? Ich habe ein Schwert, du nicht.“

Einen Moment zögerte die Frau.

I glaub´ wir steh´n uf d´r glichi Sit“ sagte die Frau ruhig und legte gehorsam beide Hände auf den Rücken.

Jetzt zögerte Alboran. War das eine neue List seiner Gefangenen? Aber diese redete einfach weiter.

Du willst hier raus, offenbar warst du ein Gefangener. Aber ich habe dich nicht gefangen genommen. Also sind wir keine Feinde“ sagte die Frau ruhig, dieses mal auf Hochgarethi. „Aber fessele mich ruhig, ist egal. Wir kommen hier ohnehin beide nicht mehr raus. Wir haben kein Licht, und im Dunkeln finden wir keinen Weg. Ich kenne den Weg nach draußen genau so wenig wie du. Und du hast genug Zeit, mich zu verhören und selbst festzustellen, dass ich nicht dein Feind bin. Ich vertraue Dir. Wir müssen nicht miteinander kämpfen“

Alboran überlegte, ob das eine List der Gefangenen war, oder ob sie die Wahrheit sprach. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere Person, die nicht zu den Räubern und Entführern gehörte, hier wie zufällig vorbei spaziert kam, allein und ohne Licht, war doch eher gering.

Dennoch… die Gefangene sagte, sie vertraue ihm. Das hatte ihn verunsichert. Das hatte noch nie eine Frau zu ihm gesagt. Üblicherweise hörte er von den Mädchen in Rommilys viele Schmeicheleien in den Gaststätten, wobei ihm klar, war, dass diese Mädchen nur von ihm eingeladen werden wollten. Auch die bürgerlichen Mädchen hatten ihm immer wieder schön getan. Aber das war durchschaubar, war doch ein adeliger Name selbst eines nicht in traviagefälliger Ehe geborenem Junkers von Interesse für aufstrebende bürgerliche Familien mit ledigen Töchtern. Aber dass sie ihm vertraue, das hatte noch nie eine Frau zu ihm gesagt.

Nein, er vertraute der Unbekannten nicht. Selbst wenn er das vielleicht gerne gewollt hätte. Und eine Frau, die er angegriffen, überwältigt und zu Boden gerungen hatte, hatte keinen Grund, ihm zu vertrauen. Vermutlich war die Frau einfach berechnend. Dennoch, dann wollte er das zu seinem Vorteil nutzen.

Gut. So machen wir es. Reden wir. Aber gefesselt. Ist dir ja ohnehin egal, wie du sagst.“ Alboran wickelte den Lederriemen um die Arme der Gefangenen und zog die Schnalle fest zu. Der Friedwang war sich sicher, dass seine Gefangene sich nicht selbst befreien konnte. Diese wehrte sich tatsächlich nicht gegen das fesseln, obwohl – gut, Alboran achtete darauf, der Frau nicht unnötig weh zu tun – der festgezurrte Lederriemen auf der blanken Haut sicher nicht angenehm war.

Kann ich mich dann aufsetzen?“ fragte die Frauenstimme. Alboran war ein wenig verwirrt darüber, dass die Gefangene erst im Dialekt und nun auf Garethi sprach, aber er maß dem keine weitere Bedeutung zu. „Im Liegen redet es sich nicht so gut. Du musst mir aber helfen, mit den Händen auf dem Rücken bin ich etwas unbeweglich.“

Klar“ sagte Alboran. Insgeheim war er sich nicht sicher, ob die Gefangene nicht einfach anfing, die Waffen einer Frau einzusetzen. Die Wehrlose zu spielen und dann mit Worten so lange schön zu reden, bis er sie frei ließ. Gut möglich, dass die Gefangene sich dabei mehr Chancen ausrechnete, als bei einem Kampf im Dunklen mit ihm. Aber Albo kannte die Masche, er würde nicht darauf herein fallen. Reden konnte er sie dennoch lassen. Erstens würde er dann vielleicht etwas erfahren, und zweitens würde sie keinen Kampf wagen, wenn sie hoffen konnte, mit Worten zum Ziel zu kommen.

Ebenso aber war es möglich, dass die Gefangene vielleicht die Wahrheit sprach und nicht sein Feind war. Herrje… mit einem Mal fühlte er sich unwohl, angesichts seiner Ahnungslosigkeit und der Ausweglosigkeit seiner Lage hier in der Höhle, selbst mit einer Gefangenen. Ein Teil von ihm wollte ihr glauben. Dass die unbekannte Gefangene ihm vertraute, war ihm wie Honig herunter gegangen. Dass er nicht mehr allein war, sondern vielleicht eine Verbündete finden konnte, mit der er gemeinsam aus der Finsternis entkommen konnte.

Oder war es das Rulat-Syndrom, das die Frau in ihrem Verhalten leitete? Nein, unwahrscheinlich. Das kam erst nach längerer Gefangenschaft zum Tragen, soweit er wusste.

Aber er konnte erst einmal auf die Gefangene eingehen. Vielleicht erfuhr er ja mehr über sie und kam zu einem besseren Entschluss.

Also half er der Gefangenen auf, lehnte sie an die Steinwand und setzte sich neben sie.

Also?“ fragte er.

Also was?“ erwiderte die Gefangene. „Was willst du wissen, bevor wir beide hier in der Dunkelheit irgendwann verrecken?“

Angst hast du wohl keine vor dem Tod, oder?“ Das war irgendwie eine blöde Frage, fand Alboran, aber sie war ihm einfach heraus gerutscht.

Doch, ein wenig, schon.“ antwortete die Frau. „Ein bisschen Zeit ist es aber noch bis zum Sterben. Das ist es aber sicher nicht das, was du wissen willst, nicht wahr.“

Warum hast du dich fesseln lassen. Warum hast du nicht deine Chance gesucht, mir zu entkommen? Vielleicht hättest du es geschafft?“

Wohin hätte ich fliehen sollen? Ich habe kein Licht. Ich kenne mich hier nicht aus, genau so wenig wie du. Aber ich habe keine Angst vor dir. Du hast Angst, weil du mich nicht kennst. Weil du mich für einen Räuber oder ähnliches Gesindel hältst. Wenn ich mich gegen dich wehre, wirst du kämpfen, weil du mich dann für einen Feind hältst. Klar, ich könnte gewinnen. Ich könnte aber auch verlieren. Nur, unser Kampf ist unnötig, wir sind keine Feinde. Ich bin mir sicher, dass du mir nichts tust, weil du nur aus Angst handelst und nicht aus Feindschaft.“ Die Antwort verwirrte Alboran ein wenig. Aber dennoch spürte er, dass auch die Gefangene Angst hatte. Wovor, wenn nicht vor ihm?

Und warum hast du keine Angst vor mir? Was macht dich sicher, dass ich dir die Fesseln auch wieder abnehme? Ich könnte alles Mögliche jetzt mit Dir anstellen?“

Die Frau lachte leise. „Nein. Deine Stimme verrät mir, dass du nichts Böses vorhast, dass du einfach nur hier raus willst. Die Stimme verrät mehr über einen Menschen als alles andere. Erst recht, wenn man nur hören und nichts sehen kann, und von Äußerlichkeiten nicht abgelenkt wird.“

Das war eine schöne Antwort, dachte Alboran. Reden konnte die Frau, ganz offenbar. Nur hilfreich war ihm das im Augenblick wenig. Aber es war ja seine Schuld, er musste eben andere Fragen stellen, wenn er mehr erfahren wollte.

Wenn du nicht zu den Räubern gehörst… was machst du dann hier?“

Es sind mehrere Seelen in Gefahr. Die Räuber haben zahlreiche Menschen entführt, und ich glaube nicht, dass es nur um Lösegeld geht. Sieben Laienprediger der Travia. Und drei Rommilyser Bürger. Vielleicht auch mehr. Von dir haben wir jedenfalls nichts gewusst. Wir wollten die Gefangenen befreien.“

Wir? Du bist nicht allein? Wer ist noch da“

Nein, nicht allein… Nun, jetzt bin ich schon allein. Ich weiß nicht, wo der Rest meiner Mitstreiter ist. Soldaten aus der Mark Perricum, und ein paar Freiwillige aus Rommilys.“

Wie viele seid ihr?“

Wir sind zu sechst. Sechs Darpatier. Dazu kommen acht Soldaten der Perricumer Grenzreiter, aber die sind mehr oder weniger zufällig in gleicher Mission unterwegs. Wir sind aber gemeinsam nach Kurgasberg gekommen.“ Kurgasberg. Gut. Jetzt wusste Alboran immerhin, wo ungefähr er war.

Aha. Besteht die Chance, dass deine Leute uns finden? Kommen wir dann hier raus?“ wollte Alboran wissen. Kaum, dass er die Frage gestellt hatte, hätte er sich beinahe auf die Zunge gebissen. Konnte es sein, dass die Frau ihm einfach ein Märchen erzählte, ihm nur mit leerer Hoffnung köderte? Was würde eine Frau tun, um ihn zu überzeugen, ihr die Fesseln abzunehmen? Vermutlich genauso eine Geschichte erzählen. Aber irgendetwas in ihm wollte der Frau glauben.

Kann sein. Ich weiß es nicht. Wir wurden angegriffen, ich bin geflohen. Ich weiß nicht, was aus den anderen geworden ist. Naja, es ist nicht alles verloren. Vielleicht findet Ingalf uns. Der kennt sich hier aus, und der ist sicher… auch nicht gestorben. Also jedenfalls nicht bei diesem Überfall vorhin. Aber das ist alles ungewiss.“

Na gut… Ich weiß nicht, ob du mich anlügst oder nicht. Woher sollte ich das auch wissen. Also fangen wir mal mit etwas einfachem an. Wer bist du?“

Ich bin Haldana. Haldana von Schnayttach-Binsböckel. Aus Schlotz.“

Jetzt war Alboran wirklich überrascht. Die hübsche Traviafrömmlerin von der Knappenschule? Das Mädchen, das er kannte? Die abends oft in der Kaminstube saß und auf ihrer Laute oder der Gutbrander Viola spielte und dazu sang? Albo war selbst oft abends in der Kaminstube, mit einigen Freunden aus der Knappenschule, und dass oft Musik von der Binsböckel zu hören war, hatte zum Gelingen der gemeinsamen Abende sicher beigetragen. Auch wenn Albo nur selten am gleichen Tisch saß wie die Klampfin – mit diesem Scherzwort, kombiniert aus Knappin und Klampfe, hatten manche an der Schule die Binsböckel benannt.

Alboran war es aufgefallen, dass oft irgendwelche männlichen Mitschüler sich um die Sängerin scharten und den Galan machten, als wäre sie eine leicht zu beeindruckende und zu erobernde Gauklerin aus einer Taverne und kein Mädchen von Stand. Manch ein Knappe hatte zu spät bemerkt, dass Haldana sich nicht wegen der niederen Minne für Musik und Tanz interessierte und nicht des Männerfangs wegen in der Kaminstube musizierte. Alboran hatte jedes Mal grinsen müssen, wenn jemand, der Haldana noch nicht kannte, den gleichen Fehler machte wie alle anderen zuvor und dann gleich von der Binsböckel eine rhetorisch feinsinnige Abfuhr erteilt bekam. Immerhin, seine Beobachtungsgabe hatte ihn davor bewahrt, den gleichen Fehler zu machen. Wer Haldana nur bei Musik und Gesang sah, der käme auch nicht auf den Gedanken, eine Traviafrömmlerin vor sich zu haben, die sich nicht vorstellen konnte, dass man auch ohne den Segen der Herdmutter mit dem anderen Geschlecht Umgang haben konnte. Gerade weil Haldana auch die Lieder mit zweideutigem Text kannte und mitunter auch darbot.

War das tatsächlich möglich, hier der spießigen Binsböckel zu begegnen?

Aber dann fasste Alboran sich rasch wieder. Mit seiner rechten Hand tastete er der Gefangenen über den Kopf. Die eine Seite mit langen Haaren… die andere Seite kahl geschoren. Er folgte mit den Fingern dem Haaransatz entlang des Scheitels nach hinten. Ja, es könnte sein. Er ertastete eine Halskette. Mit geschickten Fingern zog er das Amulett daran nach oben. Sechs Beine, zwei Flügel. Ein Anhänger in Form einer Biene.

Der Anhänger war Alboran beim Tanzuntericht am Hals der Binsböckel aufgefallen. Er hatte Haldana häufig beim Tanzen als Partnerin aufgefordert. Einerseits tanzte sie wirklich gut, und andererseits hatte er bei Haldana das Gefühl, dass sie ihn weder als hochnäsig empfand – wie manche andere – noch sich daran störte, dass er ein Bastard war. Alboran musste grinsen. Tanzgerät, so hatten einige seiner Mitschüler Haldana bezeichnet. Weil man mit der Keuschheitsprinzessin zwar gut tanzen konnte und immer im richtigen Rhythmus war – kein Wunder, bei einer Musikantin. Aber darüber hinaus war bei Haldana kein Stich zu machen. Weswegen die meisten Mitschüler sich lieber den Mädchen zuwandten, die sie auch nach Ende des Tanzunterrichtes in den Arm nehmen durften.

Aber anders als die Mehrheit der aus Rommilys stammenden Knappenschüler wusste Alboran, was es hieß, in der kriegsgeplagten Wildermark aufgewachsen zu sein. In einer Umgebung, in der man kaum jemandem außer den eigenen Familienanghörigen vertrauen konnte, und in der sich viele Frauen nach Einbruch der Dunkelheit – und oft auch schon zuvor – nicht mehr aus dem Haus wagten, um nicht einer marodierenden Söldnerbande oder gesetzlosem Gesindel in die Hände zu fallen. Ein Mädchen aus der Wildermark, wie Haldana, das von den Frauen in ihrem Umfeld vorgelebt bekam, ständig in Angst vor fremden Männern zu leben, die hatte folglich eine größere Scheu dem Mannsvolk gegenüber. Es hatte eine Weile gebraucht, bis Albo das verstanden hatte.

Alboran hatte sich nicht an der Traviafrömmigkeit der Binsböckel gestört, und so hatte er jedenfalls nie das Risiko getragen, beim Tanzen einen Korb zu bekommen oder, wenn es nicht aufging bei den Knappen, ohne eine Tänzerin zu bleiben und allein oder gar mit einem der männlichen Knappen die Tanzschritte üben zu müssen. Jedenfalls war aus ihm und Haldana in der Knappenschule ein Tanzpaar geworden. Außerhalb der Tanzstunden hatten sie nicht viel gemeinsam unternommen. Zu sehr gingen beide ihre eigenen Wege, Aber bei Festlichkeiten und Tanzbällen, bei denen die Knappenschüler oft mit eingeladen waren, hatte er sich wenigstens nicht um eine Tanzpartnerin umsehen müssen. Da war er froh, dass er mit Haldana eine hübsche und schrittsichere Tänzerin gefunden zu haben, mit der er sich sehen lassen konnte.

Alboran zögerte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, eine Kommilitonin von der Knappenschule hier in einer Höhle in den Trollzacken zu treffen. Aber es war noch unwahrscheinlicher, dass jemand, der zufällig die gleiche Frisur und die gleiche Halskette hatte, sich hier für Haldana ausgab. Hatte man in der Knappenschule sein Verschwinden bemerkt? War Haldana deswegen hierher unterwegs gewesen? Nein, das passte nicht zusammen. Dennoch, der Teil seines Verstandes, der der Gefangenen glauben wollte, setzte sich durch.

Fast sanft und langsamer als nötig glitt er mit der Hand über Haldanas Haare und über den Rücken, herunter zu den Fesseln, und löste diese.

Danke“

Wenn du es wirklich bist, muss ich mich entschuldigen.“ begann Alboran zögernd.

Du hast immer noch Zweifel? Immerhin weißt du offenbar, wie ich aussehe, warum sonst hättest du meine Haare ertastet?“

Haldana stellte nicht die naheliegende Frage nach dem Namen des Mannes, der sie eben noch in Fesseln gehalten hatte. Ohnehin war Haldana sicher, die sein Stimme schon einmal gehört zu haben. Der Stimme nach war er um die zwanzig, ein leichter norddarpatischer Einschlag, gewählte und gebildete Ausdrucksweise, niemand, der sonst in der Gosse lebte. Irgendwo in Rommilys. Ihr fiel gerade kein Gesicht, kein Name dazu ein. Aber sie würde noch darauf kommen. Haldana hatte sich Stimmen schon immer gut einprägen können.

Und noch etwas anderes beschäftigte Haldana, was sie sich nicht bewusst war vor diesem Ausflug in die Tiefe des Kurgasberges: Sie hatte eine niederhöllische Platzangst. Schon zuvor, im Transportkorb, hatte sie Rovik ihre Angst eingestehen müssen. Wer die Hügel und Felsen des Sichelvorlandes gewohnt war, den Himmel immer über sich, der hielt es schon in der Enge einer Stadt schwer aus. Aber hier, unter dem Berg, das empfand die Binsböckel als ungemein beängstigend. Rovik hatte sich schon zurecht gewundert, aber es stimmte. Die Binsböckel hatte mehr Angst vor der Enge und der Dunkelheit als vor den Geistern der Verstorbenen.

Es tat Haldana gut, jemanden zum Reden zu haben, nicht allein zu sein in der Namenlosen Finsternis. Selbst wenn dieser jemand sie eben noch nieder gerungen und gefesselt hatte. Aber vermutlich hätte sie das gleiche getan, an seiner Stelle.

Ja, ich kenne dich. Du warst an der Knappenschule, nicht wahr?“ begann Alboran. „Wir sind uns dort begegnet. Bist ja nicht zu übersehen mit der markanten Matte auf deinem Kopf. Aber erzähl, wie kommt es, dass eine Knappin aus Rommilys mir hier in der Tiefe unter den Trollzacken über den Weg läuft.“

Das ist eine lange Geschichte. Knappenschule, ja.“

Jetzt fiel Haldana auch wieder ein, woher sie die Stimme kannte. Das war der Karzerkönig, wie er von einigen seiner Mitknappen hinter seinem Rücken genannt wurde.

Du bist der Gießenborner Junker, der beim Menuett immer den rechten Fuß zu früh bewegt, nicht wahr?“ Oft genug war Alboran ihr in den Tanzstunden auf die Zehen getreten, so dass Haldana irgendwann vorsorglich dicke Strümpfe zum Tanzen in die Schuhe angezogen hatte. Ein eigenwilliger junger Mann, dieser Gießenborn. Anfangs hatte sie ihn für ein verhätscheltes Einzelkind gehalten, der Spross von irgendeiner verwitweten Oppsteinerin. Das war wohl auch die Einschätzung einiger Dozenten der Knappenschule, was ihm zum häufigsten Besucher des Karzers gemacht hatte. Vor allem mit dem Historienlehrer war er öfters aneinander geraten. Gerade der Dozent, den Haldana am meisten schätzte.

Beim Tanzunterricht hatte war sie oft vom Gießenborner zum Tanz gebeten worden. Sie wusste nicht warum… aber von einigen Knappenschülerinnen wusste sie, dass der Junker zumindest bei den Kommilitoninnen nicht der begehrteste Tanzpartner war. Haldana hingegen war es recht. Anders als einige der anderen jungen Männer konnte der Gießenborner beim Tanzen wenigstens seine Finger da lassen, wo sie hingehörten. Und lieber spürte sie den Fuß des Tänzers auf ihrem Zeh, als dessen Finger absichtlich und wie zufällig von der Hüfte ständig nach oben oder unten wegrutschtend.

Aber auch aufgrund seiner Herkunft hatte Haldana sich gerne mit dem Junker unterhalten. Sein leichter Akzent war immer auch eine kleine Erinnerung an die Heimat in der fremden großen Stadt für sie gewesen, auch wenn die Sichler Sprachmelodie bei Albo bei weitem nicht so ausgeprägt war wie bei ihr selbst, und er Schwierigkeiten hatte, die mit noch ausgeprägterem Dialekt sprechenden Bergbauern in abgelegenen Tälern zu verstehen. Und irgendwann hatte sie gemerkt, dass der Junker auch eine andere Seite hatte, dass er mehr konnte als mit erhobener Nase durch die Knappenschule zu stolzieren und sein barönliches Erbe zu betonen, dass er mit der Klinge doch recht gut umzugehen gelernt hatte und dass hinter den Eigenwilligkeiten des Junkers eine Geschichte stand, die irgendwann erzählt werden musste. Sicher war es nicht leicht, immer am erfolgreichen Onkel Redenhardt gemessen zu werden, und zugleich mit dem Makel leben zu müssen, vermutlich unehelich geboren zu sein. So genau hatte Haldana das bisher nicht erfahren, wie die Zusammenhänge der Heimat des Junkers waren.

Bei den Tanzbällen, so hatte es sich irgendwie ergeben, hatte der Gießenborn immer sie zur Tanzpartnerin gebeten. Haldana wusste nicht warum, aber es war ihr recht gewesen. Abseits der Tanzsstunden hatte sie nicht so viel Kontakt mit dem Gießenborn gehabt. Zu unterschiedlich waren ihre Interessen nach dem Unterricht gewesen.

Nun, Zeit ist das einzige, das wir hier zur Genüge haben.“ unterbrach Alboran das nachdenkliche Schweigen. „Erzähl es mir. Sonst können wir ohnehin nichts tun, außer hoffen, dass dieser Ingalf uns findet.

Und Haldana erzählte. Nach Singen und Musizieren war Erzählen das, worin sich die Binsböckel am meisten hineinsteigern konnte. Und, immerhin das war unbestritten, das bisher erlebte konnte eine gute Geschichte ergeben. Und über der Geschichte vergaß Haldana, dass sie in der Tiefe eines finsteren Bergwerks festsaß, sie fühlte, als würde sie mit einem Kommilitonen in einer Gaststube wie dem Brand in Rommilys zusammen sitzen und Geschichten erzählen.

Haldana erzählte, wie sie mit Rovik und Tuvok den sich verborgen und maskiert haltenden Alrik im Flussschiffer kennen gelernt hatten, und wie sie ihn beim Kartenspiel überlistet hatte. Der Gießenborner lachte herzlich, und erst jetzt wurde Haldana gewahr, dass sie Alboran erzählt hatte, dass sie dessen Vater beim Kartenspiel abgezockt hatte. Gut, dass der Junker es mit Humor nahm.

Weiter erzählte sie von den Nachforschungen in der Brauerei und in Korvid Alfengrunds Anwesen, von ihrer nächtlichen Entführung und der Gefangenschaft auf der Flusshexe. Auch ihre Angst und Verzweiflung angesichts ihrer zwangsweisen Verheiratung mit Golo kleidete sie in Worte. Dass Golo der rechtliche Vater Alborans war, das wusste Haldana freilich nicht. Sonst hätte sie vielleicht nicht erzählt, dass sie Golo mit der Laute nieder geschlagen hatte.

Nur ihre peinliche Liebschaft mit Jodokus sparte sie aus, und auch dass sie mit Geistern redete, das verschwieg sie lieber. Alboran würde sie sicher für verrückt halten, wenn er davon erfuhr.

Nur waren wir leichtsinnig. Wir hätten nicht einfach so im Schacht in die Tiefe fahren sollen. Uns hätte klar sein müssen, dass wir für einen Hinterhalt ein ideales Opfer bilden.“ kam Haldana zum Ende der Erzählung. „Und im Dunkeln… ich kenne mich nicht aus mit Magie, aber irgendwie hat dieser Gerrich meine Öllampe zum Erlöschen gebracht, was hätte ich machen sollen? Ich bin einfach in die Dunkelheit geflohen.“

Du hast eine Öllampe? Also doch Licht! Warum machst du sie nicht an?“

Wie denn… ohne Feuerstein, ohne Zunder, ohne irgendwas zum Feuer machen?“

Wo ist die Lampe…? einen Feuerstein habe ich doch dabei!“ rief Alboran erregt aus.

Sie muss runter gefallen sein, als du mich angesprungen hast.“ sinnierte Haldana. „Aber das war nicht weit.“ Haldana begann, am Boden entlang zu kriechen und mit den Händen zu tasten. Alboran tat es ihr gleich.

Tatsächlich stieß Alboran mit den Fingern auf das irdene Gefäß. Wie durch ein Wunder war es bei dem Handgemenge nicht zersprungen. Auch der Kork war nicht aus dem Loch gefallen, so dass kein Öl ausgelaufen war. Der Friedwang stellte sich die Öllampe bereit vor sich hin und kramte dann in dem Lederbeutels des Räubers nach Feuerstein und Zunder. Den Zunder formte er zu einem kleinen Haufen, auf einem trockenen Stück Felsboden zwischen seinen Knien. Dann griff er nach seinem Dolch, der in der Außenscheide der Schwertscheide steckte, die er dem Räuber abgenommen hatte, und schlug den Feuerstein auf den Rücken der Klinge.

Das beruhigende Klong Klong, das dabei entstand, weckte wieder Hoffnung in den beiden Rommilyser Knappengeschwistern. Beim elften oder zwölften Versuch fiel der Funken endlich richtig. Der Zunder glimmte. Alboran pustete sacht, und eine kleine Flamme züngelte aus den Pflanzenfasern empor. Rasch griff der Junker nach dem Zunder und drückte die Flamme an den Docht der Öllampe.

Endlich Licht!

Im rötlichen Widerschein der Flamme tauchte Haldanas Gesicht auf, nur wenige Fingerbreit von Alboran entfernt. Der Baronsohn zuckte zurück und blinzelte, was vor allem daran lag, dass seine Augen nicht mehr an so viel Helligkeit gewöhnt waren. Praios sei es geklagt!

Nach und nach sah er die Einzelheiten. Da waren schon einmal blonde, lange Haare, auf der linken Seite einfach kahl rasiert. Was Haldanas aristokratischem Charisma doch ein wenig abträglich war, wie der Junker fand. Kornblumenblaue Augen gab es auch noch. Eigentlich hübsch. Aber irgendwie war der Blick merkwürdig, ohne dass Alboran dieses Gefühl in Worte zu fassen vermochte. Am Hals glänzte das Bienenamulett. Haldana war nicht sehr groß, was ihr im engen Tunnel zum Vorteil gereichen mochte, aber dafür kräftig gebaut. Die Binsböckel war eine natürliche Schönheit aus den Bergen, der man die Adelige wirklich nicht sofort ansah. Kein vollendeter Rahjaliebling, im Vergleich zu den Säbeltänzern und Rosenkavalieren (oder diesem Elf), die auf Gut Gießenborn ein und ausgegangen waren. Was Alboran sogar sympathisch fand. Man konnte sich schnell sattsehen, an Menschen, die den Anschein erweckten, als würden sie den ganzen Tag nackt und wohlproportioniert vor Bildhauern oder Malern Modell sitzen.

"Sapperlott!" sagte der Baronssohn. Was hatte er erwartet? Haldana sah eigentlich aus, wie er sie von der Knappenschule her kannte. Nur dass sie sich noch nie… derart nahe gekommen waren. Eigentlich hätte er sie jetzt küssen können. Aber es war einfach nicht der rechte Augenblick, um die Contenance zu verlieren. Leider. Etwas anderes kam ihm in den Sinn.

"Was, was soll das heißen? Alrik… mein Va… der Baron von Friedwang ist auch hier?" Er hob die Öllampe wieder an, die er etwas gesenkt hatte.

Haldana nickte, kniff die Augen zu und schützte sie mit der Hand. Sie schien geblendet zu sein. Alboran dreht das Licht von ihr weg.

"So hat er sich sofort auf die Suche nach mir begeben?!"

Seine Gegenüber öffnete ihre blauen Augen.

"Nun, hm... nicht direkt, aber… er hätte es sicher getan, wenn er gewusst hätte, dass du hier bist."

Dem "Tanzgerät" war nicht anzumerken, was sie von Alborans Anblick hielt. Sie war blass und schien nervös zu sein, vielleicht gar Angst zu haben. Irgendwie atmete sie schwer, mit geweiteten Pupillen. Natürlich, sie hatte Angst vor dem Eingesperrtsein, in diesen erdrückenden, muffigen Stollen, die im Wechselspiel aus Flackerlicht und Schatten bedrohlicher aussahen, als wenn man ihren Verlauf nur ertastete. Der Decke sah man jeden Quader Gestein an, der über ihr aufragte. Besonders stabil schienen die Stützbalken über ihren geduckten Köpfen auch nicht mehr zu sein.

"He? He! Ganz ruhig. Wir schaffen das, hörst du?" Alboran ertappte sich dabei, wie er nach Haldanas Hand griff. Tatsächlich hatte er kaum Angst vor der Tiefe. Seiner Familie gehörte schließlich ein Bergwerk, zumindest ein ordentlicher Anteil daran. Nur der Gedanke ans Grubenwasser, das in der Tiefe schwappte und die Gießenborner Mine angeblich ständig "zu ersaufen" drohte, war ihm unangenehm gewesen. Vielleicht war sein wahrer Platz ja bei den Kaiserlichen Mineuren und Sappeuren?

"Stollen haben schon mal den Vorteil, dass der Feind nur von zwei Seiten her angreifen kann", sagte er, und versuchte möglichst erfahren, mutig und kriegskundig zu klingen.

"Stollen haben den Nachteil, dass man sich schnell darin verirrt", ächzte Haldana. "Oder dass sie einfach einstürzen."

Als hätten Haldanas Worte allein das Unheil heraufbeschworen, begann die Erde zu zittern. Erst sacht und unmerklich, dann mit heftigeren Stößen. Ein Erdbeben? Steinstaub rieselte herab. Die Balken an der Seite oder der Decke ächzten und bogen sich durch.

Albo fiel auf den Boden, spürte, wie kleine Steinbrocken auf ihn herunter prasselten. Krachend knickte ein Stützbalken ein. Staub wallte hoch. Mehr noch als das jähe Unheil erstaunte Alboran Haldana, die sich auf ihn warf – um ihn mit ihrem eigenen Körper zu schützen? Wäre das nicht seine Aufgabe gewesen? Mit der Hand versuchte er zumindest die Öllampe abzudecken. Das Knistern, Klackern und Poltern im Gang ließ nach. Sie husteten und keuchten.

Langsam legte sich der braungraue Nebel wieder, enthüllte den Blick auf Schutthalden und kreuz und quer verkeilte Balken, zu beiden Seiten des Wegs. Die zähe, kleine Lampe flackerte noch immer. Ihr Lebenslicht. Unglaublich. Eine richtige kleine Wunderlampe. Wieder einmal war er dem warmen, weichen, wohlgerundeten Leib der Binsböckel sehr nahe. Ein Trost im Halbdunkel, immerhin.

Haldana rutschte von ihm herunter und wirkte verlegen. "Die Lampe… die Lampe durfte auf keinen Fall ausgehen." Ihr Gesicht war mit bräunlichen Staub verschmiert.

"Natürlich." Alboran setzte sich auf, blickte auf einen Steinbrocken, der einen halben Spann neben seinem Kopf lag und hustete. "Bist du verletzt?"

"N...nein. Glaube nicht. Aber du blutest ja?!"

Tatsächlich, an seiner rechten Hand hatte er eine üble Schramme. Alboran verkniff sich den Schmerz, zog das Taschentuch heraus und verband die klaffende Wunde. "Ist nur ein Kratzer."

Haldana leuchtete im trüben Dunst umher. Auch sie hustete, zum Peraineerbarmen. "Es wird immer schlimmer statt besser. Wir kommen hier nie mehr raus."

Alboran folgte ihrem Blick. Sie schienen tatsächlich verschüttet zu sein. Der jähe Einsturz hatte ihnen nur eine kleine Grabkammer von zwei, drei Schritt Länge und vielleicht einem Schritt Breite gelassen. "Vielleicht sollten wir um Hilfe rufen? Oder klopfen?"

"Bist du verrückt?" Haldana versuchte ein wenig Schutt wegzuräumen, was aber sofort zu einem klackernden Nachrutschen von Gestein sorgte. Seufzend setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand. "Selbst wenn uns jemand rausgraben würde...es wären mit ziemlicher Sicherheit die Falschen. Ich muss nachdenken."

"Alrik ist da draußen. Der holt uns raus."

Haldana sah ihn müde an. "Was glaubst du, wie lange die Luft noch reichen wird? Und wer weiß, was aus meinen Gefährten geworden ist...Wir sind Gerrich in die Falle getappt wie die Orkhirne."

"Ich nicht." Alboran stemmte die Hand in seine Seite. Haldana gab ihm nicht einmal eine Antwort.

Sie versuchte, einige Steine im Gang zu beseitigen, von denen immer wieder neue nachrutschten. Schnell merkte sie, dass sie den Hohlraum immer kleiner werden ließ, der ihnen noch als Zuflucht geblieben war, statt einen Weg nach draußen zu schaffen.

Vielleicht lag es wirklich schon am Luftmangel, aber irgendwie gefiel ihm die Situation. Eingesperrt mit Haldana. Dem Tanzgerät. So nahe würden sie sich vermutlich nie wieder kommen.

"Alrik holt uns hier raus..." wiederholte er frohgemut. Er würde nicht sterben. Völlig ausgeschlossen. Nicht auf so eine verrückte Weise. Nicht so jung, und nicht mit Haldana. Sie beide nebeneinander als Skelette. Für alle Ewigkeit vereint. Absurder Gedanke.

Sein Vater. Alboran erinnerte sich daran, wie er ihn einmal in die "Halle der Süßen Verzückung" mitgenommen hatte, als er gerade 15 Götterläufe alt geworden war: "Damit du nicht endest wie dein Onkel Golo, dieses Elfchen!" Onkel Golo. Eine merkwürdige Bezeichnung für einen Mann, der laut Wappenbaum sein Erzeuger sein sollte. Es war ein wunderschöner Abend gewesen, auch wenn das Vorgehen wieder mal typisch Alrik gewesen war. Alboran, der unreife Jüngling, fremdelte bei Frauen? Nur rein mit ihm in den Rahjatempel von Rommilys. Damit er es lernt.

So war es ein Leben lang gewesen. Der kleine Alboran hatte Angst vor Pferden? Also bekommt er ein Pony, und wird einfach draufgesetzt, auch wenn das Mistvieh von Aarmari schnappt und auskeilt.

Wie angenehm ruhig war im Vergleich dazu ein Trallopper Riese. Auf dem Streitross hatte er sich einigermaßen sicher gefühlt. Auch wenn ihm der Vollhelm die Sicht genommen, er kaum Luft bekommen hatte, und die Lanze sperrig und unhandlich gewesen war. Seine Atemnot unter dem Metall und der wattierten Haube...bloß nicht daran denken. Mit der verbundenen Hand lockerte Albo seinen Rüschenkragen. Frische Luft bekamen sie hier unten wirklich nicht.

Schon das Aufsitzen war für ihn eine Qual gewesen, dieses Schieben, Scheppern, Zurückrutschen. Der Anritt auf sein Übungsziel war ihm dann völlig missglückt. Der "Flinke Ferdoker" hatte ihn prompt zu Fall gebracht - nicht mit dem Sack, der wie ein Morgenstern am Schwungarm hing. Albo hatte die Drehpuppe gar nicht erst getroffen, sondern war polternd an ihr hängengeblieben. Irgendwann hatte sich der Staub vor dem Sehschlitz wieder gelegt, zusammen mit seiner Benommenheit. Selbst das Schlachtross, hoch über ihm, schien das Ganze peinlich zu finden. Dennoch hatte der erträgliche Sturz seine Furcht vor den verdammten Gäulen etwas gemildert. Beim Ringelstechen war er schon mutiger gewesen, drüben am Hohenstein - auch wenn ihm der Dienstritter schnell klar gemacht wurde, dass er gewiss nicht bei der Schweren Reiterei landen würde: "Wir können Eure Rüstung nicht jede Woche ausbeulen lassen, Euer Wohlgeboren."

Die Rahjageweihte in Rommilys. Zwei Stunden oder mehr hatte er bei ihr verbracht, ohne auch nur ihren Namen zu kennen. Was hatte sein "Adoptivvater" geglaubt? Dass er ein verklemmtes Muttersöhnchen war, das aufgeklärt werden musste? Da kannte er das süße Wohlleben in Gießenborn schlecht. Die Lehrerin der Freude hatte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen gedrückt, ihn gestreichelt und innig umarmt. Mehr nicht. "Ich spüre, dass du noch nicht soweit bist. Dein Körper, gewiss. Aber nicht deine Seele. Allein darauf kommt es an." Sie war wunderschön gewesen, anmutig, eine charmante Plauderin, wahrlich von der Herrin gesegnet. Am Ende hatten sie Rote und Weiße Kamele gespielt, gelacht, geschäkert, bei einem guten, herzhaft prickelnden Schaumwein.

Flinker Ferdoker, Rahjatempel. Alboran saß verschüttet in einem Bergwerk, jeden Moment konnte der Rest der Decke auch noch einstürzen, ihn unter Quadern von Felsgestein zerschmettern oder wirklich qualvoll ersticken lassen. Es ging um ihrer beider Leben und Tod, und er verlor sich in Tagträumereien?!

Immerhin, wenn er schon derart früh von Dere scheiden musste, ein paar schöne Erinnerungen nahm er noch mit. Vor allem die Berührungen, die er Haldana hatte zuteil werden lassen. Ein vortrefflicher Scherz der Göttin Rahja. Liebe mal nicht auf den ersten Blick. Mutter Ismena hatte ganz gerne auf Augenbinden und Levthansbänder zurückgegriffen, in ihrem großen Himmelbett, nach allem, was er so mitbekommen hatte. Was ihrem Sohn immer ein klein wenig oronisch vorgekommen war. "Solange Liebe ein Geben und Nehmen ist, mein Sohn, ist sie rahjagefällig. Man kann einem Menschen seine alte Freiheit nehmen und ihm dafür eine lustvolle neue Form der Freiheit verschaffen. Du weißt ja, es gibt nicht nur eine heilige Farbe der Schönen Göttin. Sondern viele Schattierungen davon. Zartrosa, Rosenrot, Weinrot. Dunkelrot".

Liebe? Wie kam er jetzt auf Liebe...?

Darpinia, ja, die liebte er ein bisschen. Vielleicht. Aber doch nicht das Tanzgerät, mit ihrer merkwürdigen Frisur.

Nun musste er sich aber wirklich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Das Ganze war kein Levthansspielchen. Trotz der Atemnot. Luft. Er brauchte Luft. Was war mit Haldana? Sie saß zusammengekauert neben einem Trümmerbalken, und schien eingenickt zu sein.

"Haldana? Haldana?! Hallo, Tanzgerät?" Erst ungeduldig, dann zunehmend besorgt, versuchte er sie wachzurütteln. Sie konnte doch unmöglich schon erstickt sein??? Sein Herz verwandelte sich in einen Eisklumpen, durchbohrt von heißen Nadeln.

"Du darfst nicht einschlafen! Haldana!!!

Die Lampe flackerte wie wild. Erst jetzt merkte Alboran, dass sie einen großen Riss hatte, leckte und tropfte. Ihr Vorrat an scharf riechendem Öl floss auf den Boden. Dann verlosch sie, einfach so. Als hätte ihn der Namenlose nur ein wenig quälen wollen, mit einem kleinen, armseligen Hoffnungsschimmer.

Vollkommene Finsternis breitete sich aus.

Er musste raus aus diesem Grab...raus...er musste....

Ein erstickter Schrei.

Schwärze.