Der Wechselbalg
Der Wechselbalg
oder
Dreie sind zweie zuviel
Prolog
Was für schöne Schuhe!
Was für wunderschöne Schnabelschuhe!
Ein warmer Speichelfaden quoll aus dem Mund des Jungen. Tropfte glibberig über seine schlaffe Unterlippe, rann – ein lustig kitzelndes Gefühl – das Kinn hinab bis zum Halsansatz. Stürzte, wie ein kleiner, schleimiger Wasserfall, über den Wulst hinweg in die Tiefe. Landete als heller Klecks auf den linken der beiden Schuhe aus wechselseitig genähtem, dunkelbraunem Darpatbullenleder. Ein paar Herzschläge lang tröpfelte noch Speichel nach, dann versiegte der Sabberstrom.
Der Junge gluckste. Schwerfällig hob er den rechten seiner beiden Füße. Die auch dann unbeholfen gewesen wären, wenn nicht hölzerne, klobige Trippen daran festgeschnallt gewesen wären. Mit der Unterseite versuchte er die Speichelflecken zu verwischen, die nun das schöne Leder verunzierten. Er ruderte mit den Armen, schnaufte schwer – und merkte, dass er gerade den Dreck an der Holzsohle auf seinem schönen Schnabelschuh verteilte.
Meine schönen Schuhe!
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da merkte er, wie er das Gleichgewicht verlor – und wie ein schlecht verstauter Sack einfach zur Seite kippen wollte. Der Junge erschrak.
Hart, fast schon grob, packte ihn eine schwielige Männerhand am Schlafittchen, stellte ihn wieder aufrecht.
Lorenz musterte seinen Schützling ungehalten.
„Euer Wohlgeboren“ sagte der beleibte Mann mit dem mühsam gezüchteten Prinz-Storko-Bart, dem Federbarett und dem Waffenrock, auf dem das rote Hahnenwappen des Hauses Senkenthal prangte. Es klang mitleidig und vorwurfsvoll. Jedenfalls nicht nach Respekt.
„Euer Wohlgeboren. Trippen sind dafür da, damit man sich die Schuhe nicht schmutzig macht. Nicht, um sie sich damit einzusauen.“
Der Knabe wimmerte trotz der Hilfe empört, wie ein aufgestörtes Tier.
„Hesinde hilf...“ Der Hahnengardist ballte die Faust zusammen. „Euer Wohlgeboren“, wiederholte er leise. Und fügte, noch leiser, hinzu: „Allein die Anrede ist doch schon blanker Hohn...“
„Lass gut sein, Lorenz.“ Das fleischige, rotwangige, gütige, mit einem Wort perainegefällige Gesicht Salvidas tauchte hinter dem Mann auf. Die Amme hinkte heran, ein Bastkörbchen unter dem Arm, die braunen Haare unter einem Sturz verborgen. Sie zog ein weißes Taschentuch aus dem Weidengeflecht hervor, säuberte umständlich erst das starre Gesicht, dann den Schuh ihres Schutzbefohlenen.
„Er ist immerhin von Stand...“ Das trotz allem schwang unausgesprochen in den Worten mit. Salvida ächzte, hielt sich erst den schmerzenden Unterarm, dann die Beine. Die Gelenke taten ihr weh. Vermutlich die Gicht. An Götterläufen gemessen war sie eigentlich noch nicht besonders alt. Aber das viele Wildbret oben auf der Burg tat ihr wohl nicht gut. Schon seit einigen Jahren plagten sie die Zipperlein. Dieses vermaledeite Gliederreißen. Auch die Augen waren nicht mehr so gut wie früher.
Lorenz blickte ebenso verlegen wie ungehalten zu den dunkelgrünen, zerzausten Tannen hinauf, die unterhalb der Burgmauern rauschten. Zwischen den Zweigen blitzte das Licht der Nachmittagssonne. Wind umbrauste die bröckligen Schiefer-Felsen, die hier überall aufragten. Kaum zu glauben, dass auf der anderen Seite des Burgbergs, gen Praios, sogar ein paar Weinstöcke gediehen.
„Von Stand? Seine Wohlgeboren Solalin Firunian Veneficus von Friedwang-Glimmerdieck können doch noch nicht mal richtig stehen.Von alleine. Und wohl geboren ist er auch nicht gerade, wenn ich ihn mir so anschaue...“
Als das Kind seinen Namen hörte, blickte es dem Sprechenden geradewegs ins Gesicht. Lorenz hielt dem stumpfen Blick nur einen Herzschlag lang stand. Es waren die teilnahmslosen Augen eines Tieres, die ihn da anglotzten. Ohne jede innere Regung musterten. Eines klugen Tieres, das vielleicht, aber nicht die hellglänzenden, wachen Augen – eines Menschen.
Wie der Baronssohn sich schon vorwärts bewegte: Als ob er jeden Moment nach vorne fallen würde. Sicher, die hohe Stirn, die blasse Haut und die nussbraunen, vornehm vom Scheitel herabfließenden Haare zeigten noch die edle Abkunft, als erstgeborener Sohn Baron Alriks und seiner Gemahlin Serwa. Ansonsten wirkte er weniger wie ein Junge von elf, zwölf Götterläufen. Sondern wie ein...ein Wechselbalg. Wechselbalg. Ja, so nannten ihn die Leute, auf der Burg und unten im Dorf, hinter vorgehaltener Hand natürlich. Die spitzigen Ohren, die leicht vorkragende Oberlippe, der etwas zu groß geratene Kopf, die tierhaft starrenden Augen, der plumpe Körper: Diese...diese Kreatur da hatte etwas Koboldsartiges an sich. Der Büttel sah schnell zur Seite. Bevor der Balg ihn am Ende noch verzaubern würde.
„Dass die Herrin ihn aber auch immer wie einen Narren ankleiden muss“, seufzte Salvida und schob die eine Trippe, die sich gelöst hatte, wieder von unten auf den Schnabelschuh.
„Was für eine verruchte Tracht...“, murmelte sie. „Schnabelschuhe! Drunten, bei den Tiefländern, ja, da tragen sie so was. Im Palastviertel von Rommilys...oder im lästerlichen Gareth. Wie kann man Mutter Travia und ihr heiliges Tier nur derart verhöhnen? Heiliger Darpinian, bitt´ für uns Sünder...“
Der Leibwächter schnaubte verächtlich. Salvida ahnte, was gerade hinter seiner Stirnglatze vorging. Was die Soldaten Baron Bishdarielons dachten, die einen Teil von Burg Friedstein da oben besetzt hielten.
Unlängst hatte es eine Waffenmagd sogar ausgesprochen, überm dritten oder vierten Humpen, in der Burgschänke: „Dieser Schwachkopf Solalin...Kein Wunder, dass sein Vater sogar noch den stammelnden Bettnässer Alboran vorzieht. Diesen Bastard. Während Bishdarielons Erbe Ravenhart behandelt wird, als wäre e r der Spross eines Betrügers. Ich sag euch, es ist Praios´ Strafe, dass Alriks und Serwas Erstgeborener blödig ist. Jawoll. Das Hexenbalg. Wenn´s nicht in Wahrheit sogar am letzten der verfluchten Tage herausgekrochen ist, aus dem Schoß dieses Dämonenweibs, die Zwölfe stehen uns bei! “
Eine wüste Keilerei hatte es auf diese Worte hin gegeben, drunten im Ogerlöffel, auf halbem Weg zum Dorf. Zwischen den „Streithähnen“ und einer Handvoll ebenfalls angetrunkener Bocksgardisten. Die schamlos daher schimpfende Büttelin - nun, sie war buchstäblich mit einem blauen Auge davongekommen. Gen Firun, nach Oberfriedwang, auf Bishdarielons feine Wasserburg Suunkdal zurückgeschickt worden. Mehr nicht. Nach allem, was man so hörte. Überhaupt: Diese merkwürdige Zweiteilung des Lehens ebenso wie der Barönlichen Burg Friedstein. Das alles sollte ein einfaches Bauernkind wie sie verstehen. Ganerbe nannte sich das jetzt.
„Wie bei Bardo und Cella“ sagte ihr greiser Vater dazu. Das waren auch Zwillinge gewesen, die sich die Herrschaft geteilt hatten, übers Kaiserreich, in seiner Kindheit. Genauso wie jetzt die beiden ungleichen Brüder ihre Baronie.
Bardo und Cella. Das klang nach Schande, Zwietracht, Schwäche. Zerwürfnis. Damals, als Friedwang durch den götterlosen Feind besetzt worden war ... nun, da hatte das einfache Volk in aller Not wenigstens noch gewusst, woran es sich halten musste. In diesen unseligen Tagen schien die gewohnte, bewährte Ordnung zerrissen, zerstückelt, auseinandergefetzt zu sein wie der Ärmel ihrer Tunika, den sie sich gerade an einem spitzen Ast aufgeschlitzt hatte. Nichts passte mehr recht zusammen. Die Naht hielt einfach nicht mehr. Was war gut, was war böse? Wer im Recht oder Unrecht?
Eine kurze Zeit lang schwiegen sich die Drei an.
„Gehen wir weiter“, sagte der Büttel brummig, um Gleichmut bemüht.
Sie folgten dem Trampelpfad, gingen hinunter, hinein in den dichten Bergwald auf der Ostflanke des Friedstein. Schweigend sahen die Gipfel der Schwarzen Sichel aus der Ferne herüber. Hell lagen die grünen Almen und dunklen Wälder im Sonnenlicht. Wolken zeichneten im Vorüberziehen dunkle Schatten über die Hänge. Salvida empfand bei diesem vertrauten Anblick irgendwie nicht mehr das Gefühl von Heimat. Ein düsteres Verhängnis schien über der Bergeinsamkeit zu lauern. Das Jahresende und die verfluchten Namenlosen Tage waren nicht mehr fern.
Die Dohlen, die über den Felsen kreisten, erinnerten sie an etwas anderes. Der Aufstand der Fronbauern...Erst vor einigen Wochen war er brutal niedergeschlagen worden. Kastellan Mattis, den Fronknecht und noch ein paar barönliche Bedienstete hatten die Aufrührer umgebracht, weil die Unfreien die Vorburg nicht hatten pflastern wollen. Die Leichen der Rädelsführer, sie vermoderten schon, auf Räder geflochten und hohen Pfählen dem Krähenvolk zum Fraß preisgegeben...Drüben am schaurigen Greifenberg.
Seitdem die beiden Barone über die Blutsgerichtsbarkeit verfügten, hielten sie einen eigenen Scharfrichter in Diensten, Meister Kord. Kord aus Werweißwoher. Selbst unter der Gugel und seiner schwarzen Augenmaske sah der Henker gut aus, unverschämt gut sogar. Schon seine spitze Zunge war gefürchtet. Vom mächtigen Richtschwert, der Axt, den Zangen oder der Schandgeige ganz zu schweigen. Aber natürlich mieden die Leute Kords einsame Hütte. Außer, um Armsünderfett von ihm zu kaufen oder den abgeschnittenen Finger eines Gehenkten. Salvida hatte es bereits ausprobiert: Gegen ihre hartnäckigen Gebrechen halfen Großmutters Heilmittelchen nicht viel.
Der „Aufstand“. Nach ein paar verrückten Frühlingstagen war der Spuk schon wieder vorbei gewesen. Die Bannstrahler und die Söldner des Praiostempels hatten der Revolte schnell das Rückgrat gebrochen. Zusammen mit der Baronsgarde die hochlodernden Flammen des Aufstands ausgetrampelt. Niemand hatte Lügen-Alrik, dem belächelten „Streunerbaron“, soviel Härte zugetraut. Nun lag eine peinvolle, schmerzliche, vielleicht auch schamhafte Ruhe über allem. Wie damals, als ihr Mann sie das erste Mal geschlagen hatte. Mitten hinein ins Gesicht. Die scheinbare Normalität war hernach wieder über ihren eingezogenen Köpfen zusammen geschwappt. Viel zu schnell, wie ein hässlicher, heimtückischer Sumpf, der gerade ein völlig überraschtes, verdutztes Opfer hinuntergeschluckt hatte. War irgendetwas Unrechtes passiert? Kord, der Henker, galt seither als wohlhabender Mann.
Solalin trippelte unsicheren Gangs vornweg, beide Arme schlackernd, die sabbernde Zunge leicht herausgestreckt: ein Sinnbild hesindefernen Elends. Armer Junge, dachte Salvida. Hast nicht allzu viele Freunde auf dieser Welt. Möchte wetten, dass deine Eltern insgeheim kaum besser über dich denken als die Anhänger des Herrn Bishdarielon. Dass ausgerechnet ein Senkenthaler Büttel über dein Wohlergehen wachen soll, das sagt doch schon alles. Sonst misstrauen sich die hohen Herren da oben auf Schritt und Tritt. Wie Hund und Katz. Zwerg und Elf. Bei dir ist´s gerade egal.
Schließlich hatten sie die kleine, bunte Bergwiese erreicht, die ihr Schützling über alles liebte. Salvida zog die Decke hervor, breitete sie aus, ließ sich ächzend darauf nieder. Es war ein guter Platz. Lorenz machte es sich auf einem knochenfarbenen Baumstumpf bequem, zog einen Flachmann hervor. Der alternde, wanstige Büttel war ein stiller Säufer: Für das Gesinde ein offenes Geheimnis.
Dabei hatte er im Krieg bislang kaum einen Kratzer davongetragen. Bis auf den Schmiss auf seiner Wange, gut. Irgendetwas hatte ihm dafür gehörig die Seele zerschrammt. Solalin sprang einfältig auf der Lichtung umher und schien sich, lallend und stammelnd, einfach seines Daseins zu freuen.
Das erhoffte, insgeheim sogar erwartete Wunder geschah: Nach wenigen Herzschlägen taumelten die Sendboten der Tsa heran. Es waren eindeutig nicht die Sommerblumen, die die Schmetterlinge anlockten, sondern - der Wechselbalg. Sie umschwirrten das Kind, flatterten an seinen Haaren vorbei, ließen sich auf den staunend erhobenen Fingern nieder, klappten ihre buntschimmernden Flügel auf und zu. Salvida kannte sich mit diesen Tieren nicht gut aus, sie glaubte Tsafalter zu erkennen, einen Schwalbenschwanz und mehrere prachtvolle Pfauenaugen. Es waren sicher Dutzende der kleinen Flatterlinge, die hier ihren Liebling umschwärmten. Solalin schnalzte vergnügt. Die Amme fühlte sich ergriffen, Lorenz schien die ganze Szenerie suspekt zu sein.
„Ist es nicht ein wunderbarer Anblick?“ schwärmte Salvida, und packte die Äpfel, die Birnen und die Stullen für das Picknick aus, ebenso den großen Steinkrug mit dem Most. „Die Schmetterlinge scheinen Solalin wirklich lieb zu haben. Oder die Junge Göttin selbst, wer weiß?“
„Fehlt nur noch so ein Elfenschmetterling, ein Irrhalknarria oder wie das zauberische Kroppzeug heißt.“ Der Gardist spuckte aus, nahm einen tiefen Schluck aus der Pulle. „Heiliger Albo, steh uns bei! Man kann selber ganz blödsinnig werden im Kopf, wenn man zu lange hinschaut.“
Salvida war einen Moment lang beleidigt, fühlte sie sich doch mit dem „blödsinnig“ angesprochen: „Herzloser, roher Mensch!“ sagte sie und versuchte dabei flapsig zu klingen. „Heißt es nicht, den Göttern liegen die Einfältigen besonders am Herzen?“
Lorenz hachte, als ihm der Schnaps in der Kehle brannte und stieß dann sauer auf. „Mag sein. Ich wünschte nur, unser Wohlergehen in dieser verfluchten Wildermark hinge den Unsterblichen genauso sehr am Herzen.“
„Versündige dich nicht“, sagte die Dienerin streng. „Es ist so ein wunderbarer Rahjatag heute. Tausendfünfunddreißig wird ein guter Götterlauf, das spüre ich. Ein Apfel? Is´ gesünder als der ständige Brannt.“
Lorenz nickte matt und sie warf ihm das Obst zu. Geschickt fing der Alte es auf, sah es kurz an und steckte es achselzuckend in die Tasche.
„Hoffnung hatte ich schon mehr als genug in meinen Leben.“ Der Büttel zog sich den Hut vom Kopf und warf ihn über einen abgestorbenen Ast. „Viel zu viel davon.“
„Und jetzt?“ wollte Salvida wissen.
„Hab ich den Brannt...“ Lorenz prostete der Magd mit verkniffenem Mund zu.
Irgendwo in der Ferne flatterte ein schwerer Vogel aus dem Unterholz. Womöglich ein Auerhahn.
„Ich habe das Gefühl, das es langsam, aber sicher wieder aufwärts geht“, sagte Salvida leichthin. „In Rommilys laden sie jetzt sogar schon wieder zur Turnei.“
„Und drüben in Berler schlagen sich die hohen Herrschaften gegenseitig die Köpfe ein“. Lorenz trank, Schnaps lief ihm in den Mundwinkel, rann ihm in den Bart. „Jetzt, wo Bishdarielon ein Erbe geboren worden ist, wird es auch bei uns bald wieder Ärger geben...“ Er wischte sich das Kinn sauber. „Verlass dich drauf.“
„Meinst Du? Aber die edlen Herren sind doch Brüder. Und wir, ihre Diener, leben sogar Seite an Seite unter einem Dach.“
„Dein Wort in Herr Praios und Frau Travias Ohr.“
Dumpfes Gelächter erklang, von Solalin her. Der Narr haschte freudestrahlend nach den Schmetterlingen, hopste und strahlte. Selbst Lorenz vermochte sich ein schiefes Grinsen nicht zu verkneifen. Ein trockenes Knacken im Unterholz ließ ihn zusammenzucken. Ein Rascheln folgte. Stahl schepperte leise.
Der Gardist stellte den Flachmann weg, griff nach dem Schwert. Solalins Schnalzen und Lachen erstarb.
„Was zum Henker hat das...“
Sie waren zu viert. Buntscheckige, waffenstarrende, derbe Söldnergestalten, wie sie das Land schon oft gesehen hatte.
Viel zu oft.
Drei Männer und ein Weib, gewandet in speckiges Leder, angedellte Plattenharnische, wallende, schmutzige Mäntel, scharrende Arm- und Beinschienen. Die schlanke Frau sah für ihre Profession unverschämt gut aus, war vielleicht eine Spur zu männlich geraten. Unter ihren blonden, zu einem Zopf gebundenen Haaren blitzten zwei grüne Augen.
Ein Weiterer hatte zottelige, rotbraune Haare und trug eine Augenklappe unterm Eisenhut, das verschlagene Gesicht zierte ein Gabelbart. Der Dritte war klein, bleich und bullig, hatte das rostgesprenkelte, verbeulte Visier der Schaller hochgeklappt. Den Vierten schmückte eine Kettenhaube und als einzigem lediglich ein dreckiger, fleckiger, zerschlissener Gambeson, das feiste Antlitz war von Pockennarben verunstaltet. Womöglich gehörten sie noch nicht einmal zum Gefolge eines Kriegsherrn. Für bloße Straßenräuber waren sie allerdings zu gut bewaffnet: Der mit der Augenklappe hielt eine elegant geschwungene Streitaxt in Händen, die anderen jeweils ein Schwert, einen Streitkolben sowie einen stachelgespickten Kriegshammer.
Salvidas Herz erstarrte zu Eis. Der Krug mit dem Most fiel um, der klebrige, süßsäuerlich riechende Inhalt ergoss sich ins Gras. Furcht lähmte ihre ohnehin steifen Glieder. Sicher, mit Marodeuren war in Friedwang immer zu rechnen. Drunten, ja weit drunten im Tal. Aber soweit oben, auf der Rahjaseite der Burg? Leichtsinn, ihr bodenloser Leichtsinn wurde ihnen nun zum Verhängnis.
Das Quartett bildete schon bei seiner Ankunft ein waffenstarrendes Netz, aus dem nicht leicht zu entkommen sein würde.
„Ne Fotze und was zu fressen“, knurrte der zottelhaarige, einäugige Gabelbart mit der Streitaxt. „Das ist doch schon mal was. Sieh an. Was haben wir da noch alles? Einen alten Schwachkopf, der sicher quatschen kann, wie´s oben auf der Burg aussieht. Und ihr kleines Haustierchen zum Spielen, hm....?“ Letzteres galt dem Jungen, der wortlos die Neuankömmlinge musterte, mit leeren Augen. Die Schmetterlinge um ihn herum verflüchtigten sich.
„Oder zum Totschlagen“, sagte der Pockennarbige kalt und ließ den Schaft des Kriegshammers in seine Linke klatschen. „Einfach so. Zum Spaß. Hehe, hier stinkts schon. Der Blödkopf hat sich in die Hosen geschissen, was?“
Lorenz stellte sich, leicht wankend, vor seinen Schutzbefohlenen, das Schwert grimmig erhoben. „Nur über meine Leiche.“ Der Alkohol hatte den Mut in ihm geweckt. Er überlegte, ob er um Hilfe rufen sollte. Aber sie waren fast ein halbes Wassermaß lang unterwegs gewesen. Die Hilfe würde auf jeden Fall zu spät eintreffen – wenn überhaupt jemand den Schrei hören würde. Nach mehreren kleinen „Nettigkeiten“ zwischen „Streithähnen“ und „Steinböcken“ waren die meisten Wachen tagsüber von den Mauern und Türmen abgezogen worden. Am Tor der Vorburg würde schwerlich jemand etwas mitbekommen. Ebenso wenig wie Travinia hoch oben im Bergfried, die bestenfalls den Karrenweg im Auge behielt. Er tastete mit der Linken an den Gürtel, ins Leere. Hätte er doch nur das Alarmhorn aus der Waffenkammer mitgenommen, wie es sonst seine Gewohnheit war.
„Nur über meine Leiche, Abschaum“, wiederholte er. Der Büttel versuchte, dabei möglichst rondrianisch und entschlossen zu klingen.
„Aber gerne doch.“ Die Söldnerin lachte, bückte sich, ohne ihren Gegner aus den katzengrünen Augen zu lassen. Beiläufig hob sie einen Stein auf. Wog den schwarzgrauen, kantigen Steinbrocken in der linken Hand. Ließ das Schwert mit großer Pommel locker und pfeifend um das Handgelenk ihrer Rechten schwingen.
„BUUH!“
Lorenz zuckte zusammen.
Das Lachen der Soldfrau wurde hämisch. Sie hatte Überbiss, was ihrer Schönheit doch ziemlich abträglich war.
Die Fremde griff an. Der Büttel parierte. Stahl scharrte gegen Stahl. Ein schneller Schlagabtausch, ein paar Funken sprühten. Lorenz musste zurückweichen. Keuchte. Merkte nun jedes der Jahre, die er auf dem Buckel trug.
Seine Gegnerin hingegen, sie war jung. Sie umschlich ihn, wie eine Raubkatze ihr Opfer. Deutete einen Wurf mit dem Stein an. Genoss es, den alten Kämpfer zusammenzucken zu sehen.
Sie fintete mit dem kleinen Felsbrocken, schleuderte ihn. Das Geschoss traf den Alten hart an der Stirn. Mit einem Seufzen sank er ins Gras. Bald sickerte Blut aus der tiefen Platzwunde am Kopf. Ein derber Stiefeltritt beförderte ihn auf den Rücken, ein Tritt unters Kinn endgültig in Borons Arme.
„Gut. Jetzt wissen wir, dass die Verteidiger dieser Burg nichts taugen, bei Kors neungezacktem Spieß“. Das Söldnerweib grinste gehässig. „Hm. Die Rotznase da ist vornehm gekleidet, für nen Idioten. Vielleicht bekommt man für das Sabbermaul ein paar Goldstücke...als Lösegeld. Oder gleich die ganze Burg!?“
„Träum weiter, Kiara. Keinen Heller kriegst du.“ Der stämmige, untersetzte Söldling packte Solalin und warf ihn beiläufig zu Boden. Salvida ertappte sich dabei, wie sie in Richtung Pfad spähte. Einen Moment lang schien die Gelegenheit zur Flucht günstig. Oder für einen beherzten Hilfeschrei. Oder beides. Sie versuchte aufzustehen, schnappte nach Luft, spürte schmerzhaft ihre Gelenke – und die schartige Schneide der Streitaxt unter dem Kinn.
„Ich entscheide, wer geht und wer bleibt. Also nicht so hastig, mein Täubchen. Flatter mir nicht weg.“ Der Einäugige war offenbar der Wortführer der Meute. „Du magst hässlich sein wie ein Orkweib, aber ich werde mal ein Auge zudrücken.“ Mit diesen Worten nestelte er bereits an seinem Gürtel. „Gumblad, Fulko, haltet sie fest. Wenn die Schlampe schreit, schneidet ihr den fetten Hals durch! Wenn sie geschmiert ist, seid ihr dran.“
Für Salvida war diese Aussicht zuviel, der völlig verängstigten Amme schwanden die Sinne. Ächzend sank auch sie in Ohnmacht.
„Orksch noch mal“. Der Mann, der Gumblad genannt wurde, trat dem reglosen Büttel derb in die Seite, als trüge der die alleinige Schuld. „Vermaledeite Spielverderberin. Die Pest soll sie holen!“
„Was solls!“ Der Anführer wischte sich etwas Schweiß aus dem Gesicht. „Varena hat ihren Gefangenen. Der Rest ist auf dem Rückweg nur lästig.“ Beiläufig hob er die Axt, nahm Maß, die reglose Amme zu erschlagen. „Dreie sind zweie zuviel.“ Er zögerte kurz.
„Verdammt, ich kann´s einfach nicht leiden, wenn ich nem Weib beim Kaltmachen in die Fratze sehen muss! Sowas bringt Unglück…“ Mit dem Stiefel versuchte er die Reglose auf den Bauch zu drehen. Sie war schwerer, als er gedacht hatte.
„Hilf mir, Gumblad! Filzen wir sie erst mal.“
„Zu Befehl, Weibel Avesdan.“ Der Pockennarbige trat näher.
Salvida rollte herum. Viel Habseligkeiten hatte sie nicht bei sich: Ein Essmesserchen, das der Weibel achtlos an Gumblad weiterreichte, ein Säckchen mit ein paar Münzen (das er selber einsteckte) sowie ein unscheinbares Gänseamulett aus Kupfer, dass er abriss. Metalle wurden drüben in Transysilien geschätzt. Er grunzte, wie immer, wenn er überlegte. Irgendwie hätte er schon Lust, die Dicke schreien und zappeln zu sehen. Der Umstand, dass sein Opfer nicht allzu gutaussehend dalag, ließ ihm dessen Schändung wie einen vortrefflichen Scherz erscheinen. Eine kleine Abwechslung im Alltag eines Söldners. Hübsche Halbwüchsige hatte er zur Genüge gehabt...warum es nicht einmal einer „Erfahrenen“ besorgen? Avesdan gluckste vor selemischen Vergnügen.
„Blöde Schlampe, wach auf!“ Er verpasste der Ohnmächtigen ein paar Ohrfeigen, die sie aber nur noch tiefer in Borons Gefilde zu schicken schien. Es war aussichtslos.
Avesdan tastete nach der Axt. Dann würde er ihr den Schädel eben sofort spalten.
Ein verstörtes Keuchen hinter ihm.
Das Messer sauste ohne jede Vorwarnung, mit nassem, scharfem Geräusch, von der Seite her in seinen kräftigen Hals, wie der Rammsporn einer Galeere in einen mächtigen Holken. Blut spritzte hervor, erst als dünner, schwappender Strahl, dann grell sprühend. Noch ehe Avesdan Schmerz oder Verwunderung empfinden konnte, lag er bereits am Boden. Sah erstaunt Gumblads Streitkolben. Konnte noch hören, wie das schwere, dunkle Eisen sein ungeschütztes Gesicht zermalmte: Ein infernalisches Krachen. Den zweiten Hieb, der seinen Schädel endgültig zerbrach, nahmen nur noch seine Gefährten wahr.
Kiara, die den Büttel gerade noch einmal einen tüchtigen Hieb auf den Kopf verpasst, dessen Schwert begutachtet und dabei eine der Stullen gemampft hatte, blickte hoch. Ihre grünen Augen weigerten sich zu glauben, was sie gerade sahen. Verengten sich zu Schlitzen. Sie ließ das angebissene Brot fallen, spuckte den Rest aus.
Gumblad, der Mörder, drehte sich schwerfällig um, das zerbeulte Visier geschlossen. Merkwürdig steif, mit der dumpfen Beharrlichkeit einer Belagerungsmaschine, stapfte er auf die Söldnerin zu.
Fulko, der Pockennarbige, fand als erster die Sprache wieder: „Gumb. Wohl verrückt geworden, was...?“
Er packte seinen Kampfgefährten an der Schulter – und musste im nächsten Moment bereits zurückspringen, um den Schlag des blutbesudelten, triefenden Streitkolbens abzuwehren. Roter Matsch spritzte ihm von den gezackten Stahlblättern her an die Wange. Süßlicher Blutgestank drang in seine Nase.
Verwirrt wich Fulko zurück. Sah den zerstörten Kopf seines Weibels, in einer riesigen rahjanisbeerfarbenen, klebrigen Lache. Avesdan war tot, daran gab es keinen Zweifel. Was sollte das denn? Wollte Gumblad allen Ernstes das Leben dieser unansehnlichen Vettel da retten? Oder sich um die paar lausigen Talerchen zanken, die sich im Beutel der Alten befunden haben mochten?
Furcht stieg in ihm auf. Gumb war zwar ogerdumm. Aber doch nicht derart dumm...
Heißkalt und schmerzhaft, überaus schmerzhaft glitschte von hinten Stahl in seine Schulter. Ein wilder Schrei entrang sich seiner Kehle, der als Echo von den Bäumen wiederhallte. Es klang wie ein waidwundes Tier. Entsetzt drehte er sich um, starrte er auf Kiara, die mit blutverschmierter Klinge da stand. Der Blick ihrer wunderschönen Augen war merkwürdig leer.
Langsam begriff Fulko: Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Zauberei! Schwarze Magie!
Gumblad stapfte nun in Richtung Kiara. Die Söldnerin wehrte sich nicht einmal, als der Stämmige völlig gleichgültig auf sein Opfer eindrosch, als wäre sie ein Sack lebloses Holz. Instinkthaft griff Fulko an, zertrümmerte den Waffenarm des Besessenen. Dieser brüllte vor Schmerz, ließ den Streitkolben fallen, sank in die Knie. Mit heißem Kopf hieb Fulko auf den Helm seines Gegners ein, wie ein Schmied auf den Amboss. Krachen, Scheppern, Knacken. Nach einem Dutzend Schlägen rührte sich der Schwarztobrier nicht mehr. Blut sickerte unter dem Visier hervor. Fulko hatte dafür keinen Blick.
Er beugte sich über Kiara. Ein Fehler, wie er im nächsten Moment merkte. Als sich ihr Dolch spitz, hart und schneidend von unten in seine Eingeweide bohrte.
„Kor...verflucht...es MISTSTÜCK!!! AAAAAH!!!“
Rasend vor Schmerz und Zorn gab er ihr den Kriegshammer zu fressen.
Für kurze Zeit kehrte wieder Ruhe auf der Lichtung ein.
Taumelnd, mit getrübten Sinnen und von oben bis unten mit Blut bespritzt, stand Fulko da, wie ein Betrunkener. Spürte trotz der Mattigkeit seine Wunden, mit schmerzhafter Deutlichkeit. Das Blut rann ihm aus den Löchern im Rücken und im Unterleib herab, wie Wasser aus einem öffentlichen Brunnen. Aber das, was er nun sah, ließ ihn seine Qual für einen Moment hintanstellen.
Avesdan war nicht nur über den Darpat gegangen, nein. Er begann bereits zu verrotten, zu verwesen. Jetzt schon. In Windeseile. Seine verkrümmten Hände färbten sich schwarz. Quollen auf, wie der ganze Leib. Es war, als würde der Weibel in einem unsichtbaren Feuer brennen. Eklige Flüssigkeiten rannen aus seinem Fleisch. Der Mann fiel unter seiner Rüstung einfach auseinander, zu einer glitschigen, dunklen, erdigen Masse. Bestialischer, süßer Fäulnisgestank lag in der Luft.
Der Pockennarbige hielt sich seine fürchterliche Bauchwunde, ging lautlos klagend in die Knie. Eine Sturmflut aus Schmerz brach über ihn herein. Eine mörderische, alles zertrümmernde und mit sich fort spülende Woge aus Schmerz, Verzweiflung und Furcht. Jammernd versuchte er weg zu robben. Er konnte nicht glauben, was er gerade eben gesehen hatte. Was geschehen war. Was sie selbst getan hatten. Schwarze Magie. Das hier war schwarze Magie. Dazu dieser verfluchte, süßliche Gestank nach Verrotten und Verwesung. Nach viel zu schneller Verwesung.
„Kiara...Ich...wollte das nicht...“ Der Schwarzländer tastete mit trübem Blick nach seiner Gefährtin ...und griff bereits in einen feuchten, schwarzbraunen Matsch. Die Konturen waren nur noch zu erahnen, wie sie da in ihrer Rüstung zerfiel. Ein zertrümmerter, mit dunklen Fleischresten bedeckter Schädel, ein paar Rippenbögen waren noch das Menschlichste an ihr. Gumblad sah nicht viel besser aus. Der Weibel selbst war nur noch Dreck. Eine Art zerplatzter Schleimpilz. Über allem flirrten die Schmetterlinge. Wind kam auf, rüttelte sanft an den drei geschwärzten, zerfallenen Körpern. Als schwarzbraune Erde begannen sie zu verwehen. Wurden eins mit Sumus Element um sie herum. Wurden zu Humus. Wurden eingeerdet.
In jäher Panik zog sich Fulko an einem Tannenzweig wieder hoch, den er dabei mit dem Blut besudelte, das dick und schwer von seinen Fingern tropfte. Mit der letzten Kraft der Verzweiflung, der blanken Urangst ums eigene Leben, hastete er auf den Waldrand zu, stolperte auf dem abschüssigen Hang erneut, stürzte, rappelte sich wieder auf, kippte endgültig zur Seite. Dann merkte er, wie kleine, zarte Flügel über seine Haut strichen, sein Gesicht, seine Hände... Schmetterlingsflügel.
“Nein, nein! Nicht!“
Zu den Pferden...wenn er es bis zu den Pferden...Tränen schossen ihm ins Gesicht, vor Schmerz, Wut, Trauer, Selbstmitleid und Fassungslosigkeit.
Nur einer konnte das Unfassbare angerichtet haben. Auch wenn es kaum zu begreifen war.
Der Schwachsinnige. Mit ausdruckslosem Gesicht warf der Junge seine Trippen von den Füßen, huschte näher.
“Ihr guten Götter! Steht mir bei gegen das Böse!“ Fulko wunderte sich. Derartige Worte waren ihm schon seit langer Zeit nicht mehr über die Lippen gekommen. Ihm wurde kalt, die Kraft und die Körperwärme floss ihm mit dem Blut aus den Wunden. Er schlotterte, zitterte, sah wie die Hand unter all dem Blut schneeweiß wurde. Nur verschwommen nahm er sein Gegenüber wahr. Dass es sich dabei nur um ein Kind handelte, minderte sein Entsetzen kaum, im Gegenteil.
„Wer...wer bist du?“
Wie aus weiter Ferne und seltsam schrill hallte die Stimme des Wechselbalgs in seinem Kopf. Stockend und überbetont wie ein Fremder, der Mühe hatte, sich auf Garethi zu verständigen.
„Ihm erschien diese Tarnung als am zweckmäßigsten. Es ist der Meinung, dass es das Denken von euch Menschen ohnehin niemals verstehen würde.“
Das Wesen huschte näher, beugte sich über ihn. Ein neugieriges, altkluges Kind. Sein Kopf ruckte zur Seite, wie bei einer Katze, die ein Mäuschen erspäht hatte.
„Beantworte ihm nur eine Frage: Was genau meint ihr Sterblichen eigentlich mit - Gut und Böse?“
Fulko spürte Durst. Seine Kehle war verdörrt. Mit schrecklicher Klarheit wusste er, dass es mit ihm zu Ende ging. Besiegt. Von einem Kind.
„Ich...ich will...“ krächzte er. Matt hob er die rotverschmierte Hand.
Der Junge sah ihn ohne jede Gefühlsregung an.
„Ich will…nicht…sterben“, würgte Fulko mit letzter Kraftanstrengung hervor. Der Wechselbalg lächelte, mit fast so etwas wie Verstehen im ansonsten ausdruckslosen Gesicht. Die Antwort schien ihm zu gefallen.
Der Söldner hustete, spuckte etwas Blut. Dann setzte bereits die Schnappatmung ein. Das letzte, was er auf dieser Welt sah, waren die bunten, schwirrenden Flügel unzähliger Schmetterlinge. Eigentlich war sein Ende schön, dachte er noch.
Ein Rausch aus Farben.
Erster Tag des Namenlosen: Schenker des Irrsinns
„Fürchtet Euch nicht vor der Gegenwart des Bösen.
Fürchtet die Abwesenheit des Guten.“
Hal, Kaisersprüche
Zaberg, Isyahadin, 1034 nach Bosparans Fall.
Rohalstag.
Ein Rausch aus Farben. Wie Myriaden Schmetterlingsflügel.
Es war der erste der Namenlosen Tage - und er war herrlich.
Atemberaubende Bilder zogen an Ysildas Augen vorbei. Bilder, die sie in Worten kaum hätte beschreiben können. Prachtvolle Paläste lagen zu ihren Füßen, während sie mit purpurnen Fittichen den Himmel durcheilte. Eine Heerschar makelloser Liebhaber gab sich ihr hin. Lust in Vollendung. Vollkommenheit in Augenblicken. Stahl, der triumphierend ins Fleisch der Feinde schnitt. Blut, das purpurn hervorsprudelte. Die Leiber der Besiegten stürzten mit gellenden Schreien ins Bodenlose. Gold, Macht, Glanz, Ruhm, Schönheit. Ein goldenes Löwenlachen hallte in ihren Ohren. Ihr Lachen!
Sie war unbesiegbar.
Das Leben war wunderbar. Herrlich. Wie Wildwasser rauschte und toste es durch ihre Adern.
Das Leben. Ihr Leben! Macht, Stärke, Gewalt. Der Starke, der den Schwachen besiegt. Wie eine Made zerstampft. Wie eine Fliege erschlägt. Ohne Zögern, ohne Skrupel. Glückselig lächelnd lag sie im Blumenbeet, im Garten des Tastempels von Zaberg. Dieser unvergleichliche Duft in ihrer Nase. Dieser Wohlgeruch. Dazu ein purpurnes, goldenes Licht. Purpurgolden. Eine Flutwelle aus Purpur und Gold, die geradewegs aus dem Mittelpunkt des Kosmos auf sie herabzuströmen schien. Aus einer Art - schwarzen Quelle, einem rotierenden, umgekehrten Mahlstrom, dem alles Dasein entsprang. Und dazwischen diese Bilder, Bilder, diese fühlbaren, sinnlichen Bilder. Eine kosmische Urkraft ohnegleichen durchflutete sie, eine wollüstige, wahnsinnige Ekstase, die jedem Vergleich und jeder Erfahrung spottete.
Es war wie eine zweite Geburt, nein, es war ihre wahre Geburt. Ein neues Leben. Prunkvolle Farben, überderischer Wohlgeruch, jubilierende, sphärische Klänge umschmeichelten sie. Wohltöne, die das steinerne Herz eines Gargylen hätten erweichen müssen.
Da, ein Schemen tauchte im Farbenspiel auf – eine golden funkelnde Maske, beiseite gezogen von elfenbeinfarbenen Fingern. Es war ihr Gesicht, das nun enthüllt wurde, ihr eigenes entrücktes Antlitz. Sie, wie sie in Wirklichkeit war, wie sie sein konnte. Wenn sie es nur sein wollte. Ihr anderes Ich, es war wunderschön, makellos und machtvoll. Edel, stark, göttlich. Vollkommen. Und sie sprach Worte der Weisheit, die noch nie zuvor eines Sterblichen Ohr vernommen hatte. Dort oben hatte sie endlich sich selbst gefunden, ihre wahre Bestimmung. Glück! Wie konnte eines Menschen Herz soviel Glück empfinden, ohne dabei zu zerspringen? In tausend Stücke zu zerbersten? Sie schwebte über allen Sphären, aller derischen Bande ledig. Atemlose Erlösung. Vielleicht starb sie ja gerade wirklich, ging ein in das wunderbare, purpurne Licht. In die Herrlichkeit, in die Ewigkeit, die Allmacht, hinauf, hinauf zum Ursprung allen Seins, dort, wo alles Eins war. Eins mit dem All-Einen. Hinein in die Dunkelheit, in die Schwärze, in die Finsternis...ins vollkommene Nichts.
Alles eins. All-eins.
Allein.
Dunkelheit. Erschöpfung. Leere.
Das erste, was Ysilda körperlich spürte, war krümelige, staubtrockene Erde, die zwischen den Fingern ihrer Linken zerbröselte. Das zweite war der Eidechsenschwanz in ihrer verkrampften Rechten. Natürlich, sie hatte eines der Tiere zu fangen versucht, in ihrer närrischen Begeisterung, als...als die Visionen einsetzten. Sogar einer der Gartenkobolde war zerbrochen, ausgerechnet der bunt bemalte, lustige Schubkarrenträger. Mit einem Mal fühlte sich alles ungemein öde an, so sinnlos und nichtig. Die Euphorie war verschwunden. Ebenso der Wohlgeruch. Damit der ganze Sinn ihres Daseins. Alles war jetzt trostlos. Wie gerne hätte sie geweint, aber da waren keine Gefühle mehr. Ysilda hatte sie alle, hatte sich einfach verbraucht. Vergeudet. Verschwendet.
Sie lag eine Zeitlang nur da und starrte apathisch in den Himmel, der jetzt nicht mehr lichtdurchflutet war, sondern grau und bewölkt. Ein Gewitter grummelte ungehalten. Nach einer Weile stürzten die ersten Tropfen herab, weckten sie etwas aus ihrer Lethargie. Sie hatte brennenden Durst. Gierig leckte sie sich das Nass von den Lippen. Langsam wurde ihre Erinnerung deutlicher...
Die Blume...die purpurne Blume mit dem goldenen Blütenrand...Ihr weihrauchartiger, betörender Wohlgeruch...sie musste nur zu Ihm zurückkehren...An der Blüte riechen...Dann würde alles wieder gut werden, gut und schön. Einmal nur, nur noch ein einziges Mal. Da, da ragte es in ihrem Gesichtsfeld auf, das vollkommene Labsal, das verheißene Glück. Wie eine grausame, schwarze Sonne ruhte im Blütenkelch die Samenkapsel, prall gefüllt, bereit zu platzen. Und war da nicht wieder eine Ahnung dieses ätherischen, köstlichen Dufts in ihrer Nase? Jähe Gier befiel sie. Sie musste dorthin, dorthin, egal was es kostete, den Verstand, das Leben, die Seele...sie musste...
Der Regen wurde stärker, fiel dichter. Ein monotones Prasseln setzt ein. Es blitzte, donnerte. Der Himmel klang zornig. Es roch jetzt überall feucht, nach Wasser und nasser Erde. Binnen weniger Herzschläge war sie bis auf die Haut durchnässt. Kühle ließ sie bibbern. Das zarte, lockende Odeur war verweht. Ihr patschnasser Kopf wurde klarer. Mit verdreckter, kalt an Schenkeln und Brüsten klebender Robe stand die Vertraute der Eidechse auf, taumelte einen Moment. Hielt sich an einem der jungen Kirschbäume fest, genauer an dessen Stützpfahl. Brünette Haarsträhnen hingen ihr regenschwer ins Gesicht. Sicherlich sah sie aus wie eine Irrsinnige. Instinktiv schwankte sie in Richtung Tempel. Kam erst vor dem (mit lebenden Blumen geschmückten) Altar wieder vollends zu Bewusstsein. Tastete nach den Füßen der Göttin, als eine Büßerin, eine Schutzsuchende.
Einen bangen Herzschlag lang fürchtete sie, von der Allesgebärenden zurückgestoßen zu werden. Aber Tsas vollkommene Gegenwart tröstete sie, ließ sie sofort ruhiger werden. Sich innerlich besinnen. Was hatte sie getan? Sie war dem Dreizehnten in die Falle gestolpert wie eine törichte Novizin.
Wie hatte sie nur derart verrückt sein können, diese vollkommene Saat der Finsternis für eine Malomis zu halten, eine Gabe der Göttin? Ausgerechnet eine Malomis! Zumal deren verführerischer, euphorisierender Geruch einem Menschen ebenfalls gefährlich werden konnte. Gewiss, im grauen Zwielicht hatte sie die Blütenfarbe nicht richtig erkannt, war ihr das Purpur wie ein zartes Rot erschienen. Dabei blühte die Malomis nur im Tsa, und, wenn überhaupt wieder, dann im Rondra. Ganz sicher nicht jetzt, in den Unheiligen Tagen.
Purpurmohn. Ein Gewächs des schrecklichen Gottes ohne Namen. Ysilda hätte die verfluchte Pflanze nie soweit im Norden erwartet, schon gar nicht hier, im Garten ihres eigenen Tempels, in Zaberg, auf gesegnetem Grund. Das Heiligtum hatte ihr eine trügerische Sicherheit vorgegaukelt, die es in den Tagen des Namenlosen nicht gab. Die junge Priesterin war einfach nur leichtsinnig gewesen.
Das Gewitter ließ etwas nach, der Regen verebbte. Ysilda hielt stumme Zwiesprache mit ihrer Göttin, die da über ihr aufragte, eine zeitlos schöne Frau mit kindlichklugen, unbekümmerten Zügen. Ihre Lippen schmückten ein wissendes Lächeln, dem der Zauber steten Neuanfangs innewohnte. Heiter und friedvoll strahlten ihre opalfarbenen Augen – und vermittelten dennoch das tröstliche Wissen, dass jede Neugeburt zugleich mit Schmerzen verbunden war. In den Händen hielt Tsa ein großes Ei, geschmückt mit der sich zum Kreis ringelnden Eidechse. Zur Linken wie Rechten der Jungen Herrin flackerten Ewige Lichter.
Gräme dich nicht, schien S i e ihr sagen zu wollen. Der Feind ohne Namen mag raffiniert sein und voller Arglist. Aber es sind doch immer nur a l t e Ränke, mit denen er euch Menschenkinder zu narren versucht. Bald wird dich das Leben wieder etwas Neues lehren, und das schmerzlich Erlebte, die Scham und Schmach des heutigen Tages nurmehr eine ferne Erinnerung sein. Blicke nach vorn, mein Kind, und lass die Zeit für die Zukunft, den Wandel und die Weisheit sterben.
Langsam, zaghaft wurde es wieder hell. Licht drang durch die großen Fenster, deren Facetten jetzt in allen, kunterbunten Regenbogenfarben aufleuchteten. Der Effekt wurde noch verstärkt durch die Unmengen lustiger Tropfen, die ans Glas klopften oder auf verschlungenen Wegen herab rannen, wie wuselnde kleine Eidechsen. Allerdings war das Farbenspiel nicht so faszinierend wie sonst, wenn es sich, je nach Tageszeit und Wetter, ständig aufs Neue veränderte. Ysilda spürte dennoch wohlige Erleichterung in sich aufsteigen. Ihr Kummer verrann mit den Regentropfen.
Ein grünes Spinnchen seilte sich am Altar ab. Sie war das Schönste, was Ysilda seit Sonnenaufgang gesehen hatte. Neue Zuversicht und Lebenskraft erfüllte mit der Wärme des späten Nachmittags ihre Glieder, aber auch ihre Seele. Es war ein kleiner, luftiger, heller Tempel, liebevoll geschmückt mit Blumen und Rankenpflanzen, die überall in Kübeln oder auf Podesten wuchsen, blühten und gediehen. An besseren Tagen flogen und zwitscherten hier Vögel, summten Bienen, schwirrten majestätische Libellen, brummten Käfer, flatterten prachtvolle Schmetterlinge zwischen all den schlanken, blau-grün-gelb-orange-rot gestreiften Säulen umher.
In der Mitte plätscherte fröhlich ein Zimmerbrunnen, die Fontäne sprudelte aus dem Füllhorn in den Händen eines Kobolds. Kleine Fische schwammen in dem klaren, frischen Wasser des Beckens. Ysilda trank ausgiebig daraus, reinigte sich etwas mit einem feuchten Tuch und lächelte. In Augenblicken wie diesen spürte sie das Leben, Ihr Geschenk, wieder mit voller Intensität: wie eine zum Tode Verurteilte, die gerade noch einmal dem Henker entkommen war.
Ihr Blick ging zu der Malwand. Auf der die Kinder, die sonst das Allerheiligste mit ihrem Jauchzen und unbeschwerten Lachen bevölkerten, phantasievolle Bilder hinterlassen durften, mit farbiger, quietschender Kreide. Den Jahreswechsel verbrachten die Kleinen natürlich zuhause. Diese unheilige Zeit wollten die Familien gemeinsam durchstehen, verständlicherweise. Von der Decke hingen klingende Glöckchen, elfische Traumfänger und geheimnisvoll klirrende Windspiele. Der Boden war mit farbenfrohen, losen Mosaiksteinen als eine Art Setzspiel gestaltet, so dass die Jüngsten stets neue Kunstwerke entstehen lassen konnten. Vor dem Altar lag farbiger Sand bereit, um damit das Symbol des Achtpfeils zu zeichnen: Ein frommer Zeitvertreib für Erwachsene („Vertreibt die Zeit, bevor sie euch vertreibt“, der Sinnspruch, den sie auf einem der letzten Konvente aufgeschnappt hatte, kam ihr in den Sinn). Am Ende wurde das heilige Zeichen feierlich wieder ausgelöscht, der Sand auseinander gefegt: Mahnung an das ewige Wechselspiel von Ende und Neuanfang - wie es im Grunde bereits die einzelnen Herzschläge und die winzigen Pausen dazwischen, die kleinen, unscheinbaren Momente des Todes im alltäglichen Leben des Menschen, darstellten.
Ysilda verneigte sich dankbar vor der Herrin allen Lebens. Dann ging sie gemessenen Schritts in den Vorraum, wo mehrere Gartengeräte bereitstanden. Die Geweihte nahm eine Harke an sich – die erste „Waffe“, die sie seit ihrer Weihe wieder in Händen hielt. Solcherart gerüstet trat sie ins Freie. Das Unwetter war tatsächlich weiter gezogen, das Wasser tropfte nur noch schwer vom Tempeldach herab. Überall glitzerten große Pfützen. Zum Glück waren die Wege zwischen den Beeten mit Kies bestreut. Die Eidechsen hatten sich in ihrem Steingarten verkrochen. Der erhabene Regenbogen, der so oft nach dem Ende eines Gewitters über dem Tal aufleuchtete: Heute fehlte das versöhnliche Zeichen der Göttin. Die Stimmung blieb getrübt. Die Stroh-, Schiefer- und Schindeldächer des Dorfes: eine schwere Last schien auf ihnen, die ganze Welt jenseits des Mauerovals zu lasten und zu drücken. Dagegen war der Garten ein echtes Refugium. Auch wenn sich der Namenlose selbst hier schon heimtückisch einzuschleichen versuchte.
Entschlossen eilte sie auf die Blume des Bösen zu. Dort stand sie, regennass und unscheinbar, der goldumrandete Purpur ihrer Blüte wirkte nicht mehr allzu prachtvoll, die finstere Samenkapsel in der Mitte nicht mehr gar so prall. Wieder stieg der zarte Wohlgeruch in ihre Nase, verlockend, flüsternd. Aber diesmal war sie gefeit. Der Duft brachte nur noch eine frivole, unangenehme Erinnerung. Und wurde bereits vom würzigen Geruch des Methumian, in der nahen Kräuterschnecke, überlagert.
Als gelte es, gleich dem Heiligen Geron ein gewaltiges Ungeheuer zu erschlagen, holte Ysilda mit ihrem Holzrechen aus. Ein Stoßgebet. Der Hieb, erst mit der stumpfen Seite, knickte den Stängel auf Anhieb. Weißlicher Saft quoll wie Blut (oder Eiter) hervor. Nun attackierte sie mit den Zinken, ließ sich das unheilige Kraut darin verhaken, zerrte daran, knickte den Stiel endgültig. Ungewohnte Gefühle – Hass, Zorn, Zerstörungswille – tobten durch ihren zierlichen Körper. Wenn es Seine Präsenz in dieser Pflanze war, die sie all dies spüren ließ, dann wandte sie sich nun gegen den Verursacher. Ysilda riss die Blume knapp über der Wurzel ab, rupfte die Blätter einzeln vom Stiel, zermalmte mit dunkler Freude die nachtschwarze Kapsel, die aufplatzte und goldene Körnchen enthüllte. Mit einem Wutschrei trampelte die Geweihte darauf herum. Nein, das genügte noch nicht. Akribisch las sie jedes Samenkorn einzeln auf, bevor der Wind die niederhöllische Saat verwehen konnte. Sollte sie den Mohnsamen verbrennen? Keine Zeit, und wer wusste schon, welche betörenden Dämpfe dabei entstehen würden. Kurzentschlossen warf sie die Körnchen in den Gartenteich, die Zierkarpfen würden sich schon nicht daran vergiften. War der Sieg vollkommen? Nein, noch befanden sich die Wurzeln des Purpurmohns in der regennassen Erde. Mit bloßen Händen begann Ysilda zu graben, ohne darauf zu achten, dass sie dadurch ihre Tunika beschmutzte. Nun fiel ihr auf, dass dort, wo der Purpurmohn aus dem Blumenbeet gewachsen war, das Erdreich etwas abgesenkt zu sein schien.
Die junge Frau scharrte wie ein Hund, wühlte das Wurzelwerk heraus, zerriss es mit fast schon kindlichem Zerstörungseifer. Waren da noch Reste im Boden? Als gelte es ein Geschwür aus einem lebendigen Körper herauszuschneiden, tastete, fingerte sie danach. Spürte etwas Hartes an den erdverklebten, schlammtropfenden Händen. Ein Stück völlig vermodertes Holz. Sie legte erstaunt weitere, größere Holzstücke frei, die alle nach unten wiesen. Überreste eines zerfallenen, halbrunden Deckels. Irgendein verrostetes Eisenteil, womöglich ein Scharnier. Hölzerne Seitenwände ragten nun schief aus dem Erdreich, wie von einer kleinen Truhe. Der Purpurmohn schien geradewegs aus diesem Kasten herausgewachsen zu sein. Ein graubraunes, rundliches Etwas ragte aus dem Schmutz, erinnerte an einen nicht allzu großen Schädel. Modergeruch stieg auf.
Erschrocken prallte die Tsageweihte zurück. Ein Sarg? Ein Kindersarg womöglich?! Im heiligen Garten der Allesgebärenden? Verstört rieb sie sich mit der schmutzigen Hand übers Gesicht. Sie kämpfte mit jähem Grauen. Es war, als wolle ihr der verfluchte Dreizehnte erst jetzt seine volle Macht zeigen. War in diesem Tempel ein furchtbares Verbrechen geschehen? Ein Frevel? Nur langsam beruhigten sich ihre Nerven wieder.
Sie legte das...das Ding vorsichtig frei. Nein, es waren zum Glück keine menschlichen Überreste. Ein Topf, ein kleiner Tiegel – mit Rissen und sich andeutenden Bruchstellen, aber noch gut erhalten. Vorsichtig nahm sie den Deckel ab: Eine schmierige, undefinierbare Masse stank ihr entgegen. Ein großes Tonstück fiel an der Seite des Topfs ab. Sie nahm das schmutzverklebte Gefäß hoch, wischte es vorsichtig sauber. Tatsächlich waren fein geschwungene Buchstaben eingeritzt: Gr...l...m...s...lb ?!
So sehr sie den Schmutz auch aus der Gravur zu reiben versuchte, sie vermochte das Wort nicht zu entziffern.
Ysilda holte sich eine Gartenschaufel, grub weiter, nun mit dem Eifer einer Schatzsucherin (oder liebfelder Archäologin). Ein viereckiges Etwas in dicker Hülle, wie ein Buch (mit Ledereinband?) kam zum Vorschein, am Truhenboden. Ysilda hob es an. Das Buch zerbrach, zerbröckelte fast sofort zu der Erde, aus der es gekommen war, wie eine Mahnung an die Vergänglichkeit. Die Geweihte schüttelte den Kopf. Tsa, was willst du mir damit sagen?
Dann sah sie etwas zwischen den Erdklumpen blinken. Ysilda griff nach diesem Fundstück, säuberte es: Ein Ring, ein silberner Ring – ohne Verfärbung, außer dem anhaftenden Schmutz, wie neu. Merkwürdige, verschlungene Zeichen waren darauf zu sehen, und eine Blütenfee, die den Edelstein hielt: Ein schwarzer Onyx. Der Ring sah schön aus. Makellos. Wertvoll. Wahrlich ein Schatz.
Die Vertraute der Eidechse wollte sich das Schmuckstück schon anstecken, hielt den Ring vor den Finger - und inne. Gerade eben erst war sie in die Falle getappt.... Was, wenn es sich dabei um ein magisches Artefakt handelte?
Sie wog ihre Entdeckung ab, in der Hand wie in ihrem Geist. In diesem Moment wurde ihr wieder einmal bewusst, wie wenig sie eigentlich über ihren Amtsvorgänger wusste. Eigentlich gar nichts. Zumindest nahm sie an, dass er ihr dieses Kleinod hinterlassen hatte.
Gewiss, es schickte sich nicht für eine Dienerin der Ewig Jungen, sich allzu sehr mit dem Leben anderer Menschen zu beschäftigen. Ein Sterblicher konnte bestenfalls nur Facetten eines fremden Daseins erahnen, niemals jedoch dessen Leben als Ganzes: Ein unfassbares Wunderwerk der Göttin, ein Mysterium, dem menschlichen Verstand kaum zugänglicher als der Tod. Umso mehr, wenn der Betreffende bereits in den Kreislauf der Ewigen Wiederkehr eingegangen war.
Dennoch, Ysilda war schnell klar geworden, das mit dem Erbauer des Tempels irgendetwas nicht gestimmt hatte. Schon bald, nachdem sie mit der Jungfer Glyrana aus Schlotz hierher gekommen war. Der Tempel war damals verlassen gewesen, eine halbe Ruine. Der Garten ein wild wucherndes, undurchdringliches Dickicht, wie es vielleicht noch echsischen Anbetern der Allesgebärenden hätte gefällig sein können.
Lacertinus von Zaberg. Bruder Lacio, wie er im Dorf genannt wurde. Offenbar ein Mann mit Geheimnissen. Über dreißig Jahre lang sollte es der Tsageweihte hier, an ein und demselben Ort ausgehalten haben. Was für einen Verkünder beständigen Wandels nicht nur höchst ungewöhnlich war. Sondern geradezu ungebührlich. Anderswo zogen die Brüder und Schwestern schon nach einem Götterlauf ihres Weges. Allerdings hatte das Dorf seinen Priester oft über längere Zeit hinweg nicht zu Gesicht bekommen. Manche munkelten sogar von gelegentlichen Reisen in die Anderwelt, ins Reich der Feen, wo Satinavs Gesetze nicht zählten. Kaum einen Tag gealtert sollte der Tempelvorsteher sein, in all den Jahren. Vom Geheimnis ewiger Jugend und mysteriösen Ritualen wurde geraunt. Zuvor sollte er sich auf der Insel der Jungen Göttin im Perlenmeer aufgehalten haben. Zumindest auf der Käferinsel Maraskan. Was man sich eben von einem eigenwilligen Diener der Ewigjungen so alles erzählte.
Die Menschen im Dorf sprachen, gegenüber Ortsfremden und Neulingen, aber nur höchst ungern über Lacertinus. Schon gar nicht vom Tag seines Verschwindens, wenige Wochen, bevor die Brut des Schwarzen Drachen über Darpatien hergefallen war. Damals, im Peraine 1027, als das unselige Jahr des Feuers begonnen hatte. Eine Kutsche mit verhängten Fenstern hatte ihn mitgenommen, streng bewacht durch eine Handvoll schwer bewaffneter Geleitreiter unter Kapuzenmänteln. Aus welchem düsterem Grund - und wohin - auch immer.
Lacertinus war nie mehr zurückgekehrt, ebenso wenig wie sein Novize, wie hatte der Schüler der Eidechse noch gleich geheißen? Answin. Die meisten Bauern nahmen an, dass sie beide in Wehrheim umgekommen waren, durch Dämonenwerk. Andere raunten, der Geweihte wäre nach Gareth gebracht worden, in die Stadt des Lichts. Was in den Tagen, als die Fliegende Festung Galottas Tod und Verderben über die Kaiserstadt gebracht hatte, leicht auf das Gleiche hinauslaufen mochte. Die Tsageweihte vermochte sich des Eindrucks nicht zu erwehren, dass die Ereignisse von damals ein Grund dafür waren, warum sich so viele Zaberger vom rechten Glauben abgewandt hatten. Bis heute. Um stattdessen zu Sokramor, Sumu, Levthan, den „Alten Göttern“, zu beten. Schon der anmaßende Name bereitete Ysilda Unbehagen. Alt, uralt, am ältesten – als ob Alter ein Wert an sich wäre. Was sich damals wirklich im Zaberger Tempel zugetragen hatte, dieses Geheimnis hatte die Zeit einfach überwuchert wie Efeu und Buschwerk das Haus der Jungen Göttin.
Sei´s drum. Ysilda hatte sich redlich bemüht, den Tempel, den Garten und den Glauben der Menschen zu erneuern...Natürlich nicht in der ursprünglichen Form wiederherzustellen, selbst wenn das möglich gewesen wäre. Auch wenn die Zierkarpfen im Teich und die Eidechsen die Schreckensjahre erstaunlich gut überstanden hatten. Der Steingarten, wo sich die Echslein im Sonnenlicht tummelten, war noch immer derselbe, ebenso wie die gemauerte Spirale des Kräuterbeets. Ansonsten hatte Ysilda, eingedenk der häufig drohenden Hungersnöte, weit mehr Nutzpflanzen angebaut als ihr Vorgänger, Kürbisse, Salat, Kohl, Rüben, Praiosblumen.
Die helle Glocke am Eingangstor riss sie aus ihren Gedanken. Seltsam, es stand doch eigentlich offen? Wer mochte das sein, an einem Tag wie diesen? Aus irgendeiner Intuition heraus ließ sie den Ring zurück in die kleine Grube fallen, setzte auch den Topf wieder hinein, scharrte alles wieder zu. Einen Moment lang sah sie sich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, streifte sie. Aber da war nichts. Vermutlich plagte sie einfach das schlechte Gewissen, oder die Aura des Jahreswechsels. Auf das scheppernde Bimmeln folgte ein herrisches Klopfen.
„Ja doch, ich komme. Gemach.“
Notdürftig gesäubert ging sie zum Eingang, öffnete.
Draußen stand ein hagerer Mann in rotgoldener Robe, nur wenig älter als sie. Den Kopf zierten gewellte, schulterlange braune Haare und eine rotgoldene Filzmütze, das Gesicht mit den lodernden Augen zeigte Ungeduld. Die markante, große Nase hätte einem Adler Ehre bereitet.
Der Fremde hatte ein Sonnenszepter aus der Schärpe mit den zwei Sphärenkugeln gezogen und scheinbar drohend erhoben (vermutlich wollte er aber damit einfach noch einmal gebieterisch anklopfen). Auf seinen Rücken befand sich ein Rucksack: Ein wandernder Praiosgeweihter.
Ysilda wusste nicht, ob sie diese Erkenntnis wirklich freute. Einerseits war sie froh, an einem Tag wie diesem einem Bruder der Zwölfgötterkirche zu begegnen. Andererseits, musste es denn ausgerechnet ein Diener des Sonnengottes sein? Es war kein Geheimnis, dass die Gemeinschaft des Lichts den Anhängern der „Echsengöttin“ misstraute. Tsageweihte neigten in deren Augen zu umstürzlerischen Gedanken, lehnten jede praiosgefällige Ordnung und Beständigkeit ab. Ysilda fühlte sich tatsächlich ein klein wenig schuldig, was an ihrem Erlebnis mit dem Purpurmohn lag. Dazu kam der Streit um das gläserne Prisma der Tsakirche. Für Praioten war es fast schon Frevel, das reine Licht ihres Herrn in die bunten Regenbogenfarben der Jungen Göttin zu brechen.
„Tsa zum Gruße“ sagte sie vorsichtig. „Ihr kommt schnell“, entschlüpfte es ihr, in einem Anflug von Sarkasmus.
Der Praiosgeweihte blickte leicht indigniert – und verständnislos. Der Ort selbst schien ihm nicht sonderlich zu behagen.
„Praios und die übrigen Elfe zum Gruße“, erwiderte er ebenso salbungsvoll wie herablassend und verstaute sein Sonnenszepter in der Schärpe. Der Neuankömmling griff nach einem schmucklosen Wanderstab, den er gegen das Mäuerchen gelehnt hatte. Irritiert musterte er seine Gegenüber: Die eigentlich regenbogenfarbene Robe der Priesterin war schlammbespritzt und durchnässt, deren blasses Gesicht zierten Schlieren, die Haare waren so wirr wie der Blick, die Augen blutunterlaufen.
„Ich war gerade beim Umtopfen“ log Ysilda, mit entschuldigendem Tonfall. Eine Lüge war nicht gerade der beste Einstand bei einem Lichtbringer und Wahrheitssucher. Aber der Praiot sah nicht so aus, als ob er Verständnis für namenlose Rauschträume aufbringen würde. Oder für Purpurmohn im Blumenbeet.
Seine braunen Augen musterten sie durchdringend und mit zunehmender Ungeduld. Ein scharfes Räuspern.
„Darf ich eintreten?“
Ysilda merkte erst jetzt, dass sie wie zur Abwehr in der geöffneten Tür stand. „An Tagen wie diesen, gewiss“ sagte sie freundlich und trat mit einladender Geste beiseite. „Besonders gerne, meine ich. Was verschafft mir die Ehre. Herr, äh...?“
„Xerber. Donator Lumini Praiodîn Xerber.“
„Ysilda. Ysilda von Schlotz.“
„Ihr seid adelig?“ Die Augenbrauen hoben sich erfreut.
„Nein. Aus Schlotz.“
„Verstehe.“ Die Brauen senkten sich wieder, scheinbar enttäuscht. „Ihr habt mich erwartet?“
„Nicht wirklich. Im Gegenteil, würde ich sagen. Eine höchst ungewöhnliche Zeit zum Reisen...“
„Der Himmelskönig leuchtet mir auf all meinen Wegen und steht mir allzeit bei gegen das Böse.“ Ein Hüsteln. „Das heißt. Eigentlich wollte ich schon gestern im Praiosschrein von Efferding eintreffen. Um dort die unheiligen Tage wachend und betend zu verbringen, und im Dorf nach dem Rechten zu sehen. Als neuer Geweihter im Tempel von Markt Friedwang. Leider wurde meine Reise durch überaus widrige Umstände verzögert.“ Leicht hinkend, auf den Stecken gestützt, trat der Gast ein. Ein leises Quietschen und Ächzen war dabei zu hören, ein Geräusch, das sie nicht recht einzuordnen vermochte.
Ysildas Blick fiel auf Praiodîns rechten Stiefel, der vorne aufgeplatzt war. Die Sohle hing etwas herunter, wie einem hechelnden Hund die Zunge. Sie verstand: Schusters Rappen lahmte. Vermutlich war der „Neue“ einfach zu stolz (oder arrogant) gewesen, sich die Sohle von einem handwerklich geschickten Bauern wieder annähen zu lassen. Aber womöglich bedeutete so etwas für einen Praioten eine Art Bußwallfahrt. Immerhin, Praiodîn schien bei dem Gewitter gerade eben nicht nass geworden zu sein, hatte sich vermutlich irgendwo untergestellt. Vielleicht drüben im Grünen Ritter oder Einhorn. Womöglich perlte ein Efferdsgruß an so einem stolzen Praiosgeweihten aber auch einfach nur ab.
Der Blick des Geweihten glitt über den Garten. Die Praiosblumen entlockten ihm ein karges Lächeln.
„Schön habt Ihr es hier.“ Der Ausbruch von Freundlichkeit in Praiodîns Worten überraschte die Hausherrin. Praiodîn räusperte sich, nahm seinen Rucksack ab. „Ich habe eine Botschaft für Euch. Vom Tempel Sankt Alboran und Gilborn.“
„Tatsächlich?“ Ysilda sah erstaunt auf die menschenleere Straße hinaus, schloss die Tür. „Das können wir gerne im Tempel besprechen.“
Wenig später saßen sie in der Sakristei, die Dienerin des Lebens hatte ihre Robe gewechselt und sich ein wenig frisch gemacht. Auf dem Tisch brannte eine rote Altarkerze, ihr warmes, freundlich flackerndes Licht brachte neue Zuversicht ins Halbdunkel.
Praiodîn ließ sich mit einem Schoppen Zaberger Ewigleben nieder – und erblickte gerade Simian, der über den Boden huschte: Die junge Smaragd-Eidechse hatte sich wohl vor dem Gewitter hier her geflüchtet. Der Geweihe hob irritiert den linken Fuß, als fürchte er gebissen zuwerden. Das Eidechsenmännchen nahm es wiederum als Bedrohung und machte sich lautlos aus dem Staub.
„Seid unbesorgt, es ist nur eine Eidechse, kein Schlinger aus dem Regenwald“, stichelte Ysilda und griff ebenfalls zum Wein (die Rebstöcke gehörten zum Tempelgut). Goldgelb rann der Rebensaft in ihren Zinnbecher. Sie prostete ihrem Gegenüber zu.
„Zum Wohle. Ihr habt hoffentlich keine Vorbehalte, vom geheimen Lebenselixier der Tsakirche zu trinken?“ Die junge Frau probierte ein schelmisches Lächeln.
„Mitnichten.“ Der Lichtgeber nickte. „Es ist die Sonne des Praios, die dem Wein seine Kraft gibt. Wie uns allen. Sagt man nicht: In vino veritas? Was könnte dem Herrn des Lichts gefälliger sein als - die Wahrheit?“
„Weise Worte.“ Ysildas Lächeln wurde freundlicher. Schien ein guter Beginn zu werden. Sie hatte bislang wenig mit Dienern der Praioskirche zu tun gehabt. Das war vermutlich auch besser so gewesen. Der hier sah eigentlich ganz harmlos aus: Ein junger Schwärmer, sicher auch ein Ehrgeizling, wie er da saß und seine Umgebung hochmütig taxierte. Irgendein Freibauern- oder Bürgersohn, für den die Praioskirche der Greif war, auf dessen Rücken man sich in ungeahnte Höhen schwingen konnte. Hinauf zum Licht. Wenn man sich für einen langweiligen Bauernhof oder eine schnöde Werkstatt zu schade wähnte.
Schuster waren seine Eltern schon einmal nicht gewesen.
Sie tranken entspannt.
Ysilda legte ihre Arme vor sich auf den Tisch, mit einem Mal beschwingt vom Zaberger. Lehnte sich neugierig vor, zupfte etwas Wachs von der Kerze.
„Also dann mal heraus mit der `Wahrheit´“, sagte sie und fand sich selbst etwas ranschmeißerisch. „Was hat Prätor...“ Sie stockte und suchte in Gedanken nach dem Namen.
„Neibhard.“
„Ach ja. Hochwürden Neibhard denn für eine ungemein dringende Botschaft an mich?“
Der Geweihte schob ihr den Brief entgegen, ein versiegeltes Kuvert. Verlegen sah Praiodîn auf das Elfenohr, das sich an der Ecke gebildet hatte. Hastig zog er den Umschlag noch einmal zurück, strich ihn sorgfältig glatt. Schob ihn wieder vor, deutete einladend darauf.
„Ordnung muss sein“, kommentierte Ysilda verschmitzt hinter ihrem Becher. Der Praiot nickte ausdruckslos.
Der Blick der Geweihten fiel auf das blutrote Siegel. Ein Greifenwappen vor einer Bergsilhouette, mit aufgehender, zwölfstrahliger Sonne. Sie brach die Wachsscheibe in der Mitte. Seltsam, auf diese Art das heilige Tier des Praios zu zerstückeln.
Ysilda überflog im Kerzenschein die feingeschwungenen Zeilen auf Honinger Büttenpapier. Stutzte. Hielt den Brief näher ans Licht. Las noch einmal. Sah auf.
„Ihr wisst, was da drin steht?“ fragte sie irritiert.
„Gewiss.“ Praiodîn sah sich demonstrativ um, zum Schrank mit dem Altargerät, dem Regal mit den bunten Laternen und Lampions. Musterte das Ölgemälde, das Sajalana zeigte, die Beschützerin der Hebammen, wie sie eine Mutter inmitten der Wehen segnete. Sah wieder auf die rotgoldene, glitzernde Filzkappe, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte.
Ysilda strich sich eine Strähne aus der Stirn, las noch einmal.
„Solalin Firunian…Von Schmetterlingen umschwirrt...So, so. Ein Überfall durch wandernde Untote… Tsa steh uns bei. Ein Angriff auf den Erstgeborenen des Barons...Wundersame Errettung?“
Sie klang dabei wie der Eleve eines Magus, der einen bislang unbekannten Zauberspruch vor sich hinmurmelte: Egal, wie er die Formel aussprach, es wollte sich dabei noch keine rechte Wirkung einstellen.
„Sicherlich höchst ungewöhnlich, das Ganze. Nur, sagt an, Bruder Praiodîn. Was habe ich mit all dem zu schaffen?“
„Es waren keine Untoten“, erwiderte Praiodîn bestimmt. „Der Überfall hat sich am helllichten Tag ereignet. Die Angreifer haben zuvor mit dem Gesinde gesprochen, in der groben Art von Söldnern. Es waren ganz sicher keine Untoten. Das nicht. Es ist…“
„Ja?“
Praiodîn lehnte sich zurück: „Hochwürden Neibhard glaubt in dieser Causa an das Wirken der Göttin Tsa.“
Ein leises Aufschnauben seiner Gegenüber.
„Ihr haltet es also für das Werk der Jungen Göttin, wenn sich Menschen gegenseitig erschlagen?“ Ysilda war bemüht, ihre Stimme nicht allzu spitz klingen zu lassen. „Ihre eigenen Gefährten? Und sie hernach zu Staub zerfallen zu lassen? Mit Verlaub, aber das ist nicht Euer Ernst!“
„Nicht zu Staub“, antwortete Praiodîn. „Sie sind verrottet. Zu Humus verwelkt. Bestem, fettem Mutterboden.“ Dem Donator Lumini war nicht anzumerken, was er davon hielt. Vermutlich versuchte er einfach nur, das seltsame Geschehen irgendwie in sein Weltbild einzuordnen. Das zweifelsohne starr und festgefügt war wie bei allen Praioten. „Hätten wir nicht ihre blutigen Waffen, Rüstungen und Gewänder gefunden, es hätte kaum noch einen Hinweis darauf gegeben, dass die Angreifer Menschen gewesen waren. Und sie sich am Ende gegenseitig umgebracht haben müssen. Die Diener des Barons waren in der Zwischenzeit ja ohne Besinnung. Aus dem unglücklichen Solalin war kein vernünftiges Wort herauszubekommen. Die Marodeure, darum handelte es sich sicher, nun, die sind einfach zerfallen. Zu Erde. Einschließlich ihrer Knochen. Dort, wo sie gelegen haben müssen, gedeihen jetzt ungewöhnlich viele Blumen, Gras, Pilze und dergleichen. Zusammen mit den Schmetterlingen könnte das schon auf ein Wirken der Tsa hinweisen.“
Ysilda ließ den Brief sinken.
„Hochwürden schreibt, dass ich mir diesen Solalin Firunian einmal genauer ansehen soll? Ihn nach Möglichkeit unter die Obhut des Tsatempels nehmen soll?!“ Ein Kopfschütteln. „Mit Verlaub. Wie stellt er sich das vor? Gewiss, wir müssen das Geschenk der Göttin so akzeptieren, wie es uns in die Wiege gelegt wird. Auch wenn es uns manchmal... auf schmerzliche Art unvollkommen erscheinen mag. Und ja, das Haus des Lebens, hier in Zaberg, bietet vielen Kindern Heim und Obdach. Doch was bringt den Hochgeweihten darauf, das ausgerechnet ich mich um den...geistesschwachen Spross von Hochgeboren Alrik kümmern soll? Er hat schließlich ein Zuhause und eine Familie. Eine ausgesprochen gutsituierte Familie sogar. Verzeihung. Geistesschwach, das ist der Junge doch, oder?“
Praiodîn sah über seine Schulter, zum Vorhang Richtung Altarraum. Und senkte seine wohltönende, kräftige Stimme etwas.
„Ich brauche Euch wohl kaum zu sagen, dass alles, was hier gerade besprochen wird, streng vertraulich zu behandeln ist?“
„Stillschweigen ist doch sonst nicht die Art der Gemeinschaft des Lichts?“
„Die Wahrheit ist manchmal derart kostbar, dass man sie mit einer Leibwache aus Verschwiegenheit umgeben muss. Zu ihrer und unser aller Schutz.“
„Wenn Ihr es sagt.“
„Ein Zitat des Großinquisitors Dexter Nemrod, Praios sei seiner leuchtenden Seele gnädig. Stillschweigen heißt ja nicht, dass man eine Wahrheit für immer und vor jedem verbirgt. Sondern dass man sie sich für den richtigen Zeit und Ort aufspart. Es braucht nicht jeder gleich zu wissen, dass der erstgeborene Sohn des Barons von Friedwang andere Leute kompostiert. Sein sonstiger Zustand ist schon peinlich genug. Ich wäre sogar befugt, Euch in dieser Angelegenheit unter Eid zu stellen.“
Ysilda genehmigte sich einen tiefen Schluck. Hatte sie aus Praiodîns Worten gerade eine Prise Humor herausgehört?
„Nicht nötig. Wie Ihr wisst, weiß unsere Kirche Geheimnisse wohl zu hüten. Und, nein, das Geheimnis der ewigen Jugend befindet sich nicht darunter.“
Ysilda erntete wieder einen verständnislosen, wenn nicht ungehaltenen Blick.
„Ein Scherz“ sagte sie begütigend.
„Verbrennen“, erwiderte Praiodîn tonlos und deutete auf die Kerze.
Nun fehlte es wiederum Ysilda an Verständnis.
„Ihr solltet den Brief verbrennen. Bevor er noch in falsche Hände gerät. Ja, Ihr habt Recht. Junker Solalin ist geistesschwach, wie Ihr es zu nennen beliebt. Seine andauernde Gegenwart auf Burg Friedstein trägt wenig zum Ansehen der Herrschaft Baron Ariks über dieses Lehen bei. Der Anblick eines Adelssprosses, noch dazu eines Erstgeborenen, sollte die Herzen des einfachen Volkes mit Freude, Stolz und Bewunderung erfüllen. Hier ist leider fast schon das Gegenteil der Fall. Da die Macht des Adels nun einmal vom Allerhöchsten selbst verliehen wird – und Solalin sogar am höchsten seiner Feiertage geboren worden ist - fällt damit auch ein Schatten auf den ansonsten makellosen Glanz unserer Kirche“ (Ysilda entgingen die leichten Betonungen nicht).
„Wie auch immer man es sehen will.“ Der Finger des Praioten fuhr über den Rand des Zinnbechers, als säße darin das Problem, das es zu umkreisen galt. „Solalin Firunian Veneficus von Friedwang ist bald zwölf Götterläufe alt. Aber er hat noch immer den Verstand eines Kleinkindes. Andererseits lockt er Geschöpfe der Tsa an. Und er scheint irgendwie vorm vorzeitigen Tode gefeit zu sein. Für derartige Dinge seid doch gemeinhin Ihr zuständig, oder?“
„Wenn überhaupt, dann die Junge Göttin. Falls sie sich wirklich in diesen merkwürdigen Vorfällen offenbart hat. Bedenkt, es könnte auch – etwas mit Hesinderei zu tun haben.“
Obschon Ysilda das Wort „Magie“ dezent umschrieben hatte, begannen Praiodîns Augen sofort zu lodern.
„O Hochheiliger Gilborn von Punin, Heilige Lechmin von Weiseprein, nein. Nein, nein und nochmals nein. Eine gründliche Examination des Kindes, auf Veranlassung des Barons, durch dessen Hofmagier hat keinerlei Hinweise auf den Fluch der Mada ergeben. Natürlich, natürlich, ein Zauberer, wenn auch mit leidlich gutem Leumund. Wir heißen seine Profession und Methoden keinesfalls gut, müssen ihr Ergebnis aber zur Kenntnis nehmen. Wohl oder übel. Mit schärfstem Tadel, versteht sich. Die Untersuchung erfolgte ohne unser Wissen, geschweige denn Einverständnis. Ich selbst habe den Jungen zuvor in Augenschein genommen. Auch Hochwürden Neibhard hat ihn hernach einer Seelenprüfung unterzogen. Jedenfalls: Kein Funken Magie. Das wäre ja entsetzlich, wenn das Kind eines Edelmanns nicht nur blödig, sondern zugleich auch noch...astral verseucht wäre! Wahrlich eine Strafe der Götter!“
Praiodîn blickte nun geradewegs in den Wein. „Selbstverständlich ist das alles hochgradig ungewöhnlich. Man könnte auch sagen: Wir sind mit unserem Bosparano erstmal am Ende.“
„Ungewöhnlich, fürwahr“ erwiderte Ysilda vieldeutig. „Wie lautet das Ergebnis der Seelenprüfung?“
„Das Ergebnis? Solalin ist eine gute Seele. Kein Frevlermal, keine Dämonenbündelei, kein göttlicher Fluch. Aber das ist in einem solchen Alter auch keine Überraschung.“
„Ihr müsst doch wenigstens…irgendeine…handfeste Vermutung haben?“
„Nun. Die Bauern schwatzen viel. Dass Solalin durch die Schmetterlinge beschützt wird, die sein Urgroßvater gefangen, erlegt und aufgespießt hat. Baron Alboran Sigismund von Friedwang. Der Schmetterlingssammler. Manche sagen auch: Tsafrevler. Glaubt man dem Volksmund, dann sollen seine geflügelten Opfer keine Ruhe gefunden haben. Und nun als Geisterschmetterlinge herumschwirren. Dann wiederum heißt es, dass der Geist seiner Großmutter, Tsalinde Kalmanderia, das Kind behütet. Oder aber...die Seele des Lacertinus von Zaberg keine Ruhe findet.“
Die Vertraute der Eidechse nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Becher, eigentlich nur, um nicht sofort antworten zu müssen. Lacertinus? Sie ahnte, dass sich ihr Gespräch langsam aber sicher dem eigentlichen Thema näherte.
„Mein Vorgänger“, sagte sie schließlich gedehnt.
„Ja.“
„Ich bitte Euch! Wollt Ihr mich foppen? Warum sollte Lacertinus...in einem Schwarm Schmetterlinge herumspuken? Um einen geistig beschränkten Baronssohn herum? Seit wann gibt der Tempel von Markt Friedwang überhaupt einen Heller auf das Geschwätz des abergläubischen Landvolks?“
Praiodîn sah erneut um sich.
„Weil Prätor Neibhard….nun, wie sagtet Ihr so schön, tatsächlich eine handfeste Vermutung hegt. Er glaubt, ohne es beweisen zu können, einen Teil der Wahrheit bereits zu kennen.“
„Die da wäre?“
„Absolutes Stillschweigen, ja?“
„Ja, doch. Ihr könnt mir vertrauen. Glaubt Ihr, die Dörfler hier erzählen mir alles?“
„Auch gegenüber der Jungfer Glyrana. Bis auf weiteres.“
„Glyrana weilt zu Zeit auf Gut Gernatsborn. In Wutzenwald. Was soll das hier werden: Eine Verschwörung?“
„Es geht hier zuvörderst um die Sicherheit der Baronie Friedwang. Ebenso wie der Wildermark. Damit auch um Euer Wohlergehen.“
„Ihr macht es ja sehr spannend. Also...“
„Natürlich hat Neibhard eine Vermutung. Sogar eine überaus handfeste. Was diesen Lacertinus schon einmal verdächtig erscheinen lässt: Die Baronin hat Stein und Bein geschworen, dass der Diener des Lebens damals einen Geburtssegen auf ihr Neugeborenes gesprochen hat. Ein göttliches Zeichen, das eigentlich bis heute sichtbar sein müsste, für einen Seelenprüfer. Soll heißen: Seine Wohlgeboren waren zwar nicht verflucht. Praios sei Dank! Aber ebenso wenig wurde der Erstgeborene nach seiner Geburt alveranisch gesegnet. Da könnte man sich schon einmal fragen: Warum nicht?“
„Ja, und warum nicht?“
„Vielleicht hatte Euer Amtsvorgänger größere Pläne mit dem Knaben. Pläne, die womöglich durch sein vorzeitiges Verschwinden durchkreuzt worden sind.“
„Ach kommt. Eine äußerst gewagte Spekulation. Warum sollte ausgerechnet ein Tsageweihter einem neugeborenen, unschuldigen Kind den Geburtssegen verweigern?“
„Nicht verweigern. Die heilige Handlung lediglich vortäuschen. Man könnte auch - Sakrileg dazu sagen. Aber wer weiß, was Lacertinus alles unter einem Segen verstanden hat. “
„Vielleicht wurde das Kind zwischenzeitlich vertauscht“, schlug Ysilda vor.
„Nein. Solalin fehlt ein Stück des rechten Ohrs, ebenso wie seinem Vater. Und ebenso wie Lacertinus.“
Ysilda hatte den Weinbecher gerade zum Mund geführt und hielt nun erstaunt in der Bewegung inne.
„Ganz Recht. Wenn man eins und eins zusammenzählt: Dann war Bruder Lacio wohl der leibliche Großvater des kleinen Solalin. Der überaus fromme Hofkaplan – ebenso wie der heimliche Geliebte Baronin Tsalindes.“ In Praiodîns Gesicht zuckte ein einzelner Nerv. „Überrascht Euch das?“
„Die Wege der gütigen Mutter Tsa sind voller Überraschungen.“
„Das kann man wohl sagen. Nach allem, was man so hört, hat Lacertinus erst einen Fruchtbarkeitssegen auf Ihre Hochgeboren gesprochen. Hier, in diesem Haus. Und dann höchstselbst dafür gesorgt, dass die wundersame Fruchtbarkeit der Baronin von Friedwang ihre volle Wirkung entfalten konnte. Noch in der gleichen Nacht. Wenn Ihr versteht, was ich meine?“ Ein sinnliches (oder leicht zynisches?) Lächeln des Praioten.
„Wirklich nur ein Gerücht ist, das in Folge dieser Liturgie die toten Schmetterlinge aus der Sammlung Baron Alborans wieder zum Leben erwacht sein sollen. Die hier, im Tempel von Zaberg, verwahrt worden sind, zur Buße. Manche sagen, dass es sich dabei in Wahrheit um ein altechsisches Ritual aus Maraskan gehandelt haben soll. Oder besser gesagt eine altechsische Spielart der Liturgie Tsas Wunderbare Fruchtbarkeit. Die dann dafür gesorgt hat, dass die Baronin neun Monde später nicht nur Nachwuchs, sondern gleich Vierlinge zur Welt gebracht hat. Man könnte auch sagen: Eine ganze Brut. Aus der zwei Söhne überlebt haben: Bishdarielon und Alrik, die jetzigen Herren dieses Landes. Einige nennen sie tatsächlich die Drachenbrüder. Wie auch immer. Aus dem Gelege eines Drachen überleben immer nur die Stärksten. Ihre sonstigen Geschwister töten sie. Fressen sie auf. Das Ganze riecht förmlich nach Echsenwerk. Euch ist doch bekannt, dass sich Lacertinus längere Zeit auf der Käferinsel herumgetrieben haben soll? Im tiefsten Dschungel der Maraskankette? Bevor er diesen Tempel hier gebaut hat? Neu erbaut…“
„Wenn Ihr es sagt. Mag sein. Ihr sprecht sehr offen zu mir. Dafür, dass wir uns nicht einmal seit einer halbe Stunde kennen.“
„Ich diene eben in allem der Wahrheit. Aber Ihr werdet verstehen, dass man derartig delikate Dinge nicht in einen Brief schreibt. Schon gar nicht in diesen Zeiten. Ebenso, dass ich Euch noch einmal inständig darum ersuchen muss, unser Gespräch hier streng vertraulich zu behandeln – auch mit Rücksicht auf die Reputation Eurer Kirche.“
„Frau Tsa freut sich über jedes Kind.“ Ysilda zuckte mit den Schultern. „Um den Ehebruch der Baronin mit ihrem Hofgeweihten zu ahnden, ist es wohl eine Winzigkeit zu spät. Ansonsten liegt es an Berufeneren als mir, über die Legitimität ihrer Erben zu urteilen.“
„Ehebruch? Tsalinde befand sich zum Zeitpunkt des Rituals noch gar nicht in einem Traviabund. Ihre Hochgeboren war mit dem älteren Baron Alrik nur verlobt. Und was die Legitimität von Adeligen angeht. Von Kaisern, Fürsten, Baronen…“ Praiodîn wies in die Runde, als säßen diese gleich unsichtbaren Gästen mit am Tisch. „Nach allem, was seit dem Verschwinden Seiner Allergöttlichsten Magnifizienz Kaiser Hal passiert ist...Politik, Politik, Politik. Das letzte Urteil darüber gebührt allein dem Obersten Richter Alverans. Einige behaupten sogar, Bruder Lacio wäre selbst von Stand gewesen.“
„Dann ist ja alles wunderbar…und niemandes Reputation gefährdet?!“
„Nicht ganz. Es gibt Grund zu der Annahme, dass auch die jetzigen Ereignisse, auf dem Friedstein, in irgendeiner Form mit Zaberg zu tun haben. Lacertinus war nicht nur Solalins leiblicher Großvater. Er war damals sogar bei der Geburt seines Enkels anwesend, vor ziemlich genau zwölf Jahren. Im Turm zu Schneiß. Es gab Komplikationen, es war der letzte der Namenlosen Tage, als die Wehen eingesetzt haben. Immerhin steht zweifelsfrei fest, dass der Baronssohn am ersten Tag des heiligen Praiosmonds das Licht des Götterfürsten erblicken durfte. Dem Himmelskönig sei Dank. Sanctus! Sanctisssimus! Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass ganz in der Nähe des Geburtsortes erneut ein Ritual stattgefunden hat. Eine abscheuliche namenlose Zeremonie...wenn es denn ein Ritual dieses verfluchten Götzen war. Insanctus! Insanctissimus!“
Der Donator Lumini räusperte sich. „Die Unterlagen des seligen Inquisitionsrates Parinor Rukus von Oppstein sind leider höchst unvollständig…Dennoch. Der Karnstein war bislang eigentlich nur als Schauplatz schauerlicher Hexenriten bekannt. Ein einsamer, verwunschener Findling im Wald. Fast in Sichtweite des Turms. Man sagt, er wäre Satuaria geweiht, der Götzin der Zauberweiber. Der Herr möge sie alle mit reinigender Flamme verbrennen! Es sollen ihre Zeichen gewesen sein, die man an den Stein geschmiert fand, kurz nach Solalins Geburt. Satuaria, ein uralter Echsenname. Für manche ist sie gleichbedeutend mit der dunklen Seite Tsas. Soweit würde ich zwar nicht gehen, noch nicht, aber….Ihr versteht, warum für Hochwürden Neibhard mittlerweile einige Spuren nach Zaberg verweisen?“
„Wie schön, dass es in Euren Augen auch noch eine helle Seite der Tsa gibt“, sagte Ysilda leichthin und zuckte erneut mit den Schultern. „Was etwaige Umtriebe meines Vorgängers angeht…Leider weile ich noch nicht lange genug an diesem Ort, um Euch diesbezüglich weiterhelfen zu können. Überhaupt. Was macht Euch eigentlich so sicher, dass Lacertinus tot ist? Oder dass er tatsächlich der leibliche Vater der beiden Baronsbrüder war?“
„Bevor wir als Diener des Praios die Wahrheit verkünden, ist es es erst einmal unsere Pflicht, sie in Erfahrung zu bringen.“ Praiodîn lehnte sich zurück. Der mit kunstvollen Ornamenten verzierte Stuhl knarrte. Der Geweihte verzog kurz das Gesicht, wie unter einem jähen Schmerz. „Was Eure letzte Frage angeht: Es ist keine Kunst, das Offensichtliche zu erkennen. Die Ähnlichkeit ist einfach zu groß, dazu gesellt sich das Detail des fehlenden Stücks vom rechten Ohr. Beim Geweihten wie seinen Kindern. Ein vererblicher Geburtsfehler, wie mir scheint. Die Antwort auf Eure erste Frage hingegen...“
Der junge Geweihte verstummte plötzlich. Hatte er bislang sehr förmlich und hochnäsig gesprochen, schien er plötzlich um Jahre, nein, nicht zu altern, sondern jünger zu werden. Sein Blick huschte hilflos umher. Er wirkte regelrecht verstört und eingeschüchtert. Am Ewigleben lag´s wohl nicht.
Ein gequältes Aufseufzen.
„Ich weiß es – nun…“
„Ja?“
„Weil ich meinen Meister damals selbst mit auf den Scheiterhaufen gebracht habe.“ Die Antwort brach förmlich aus dem Lichtgeber heraus.
Ysilda wusste nicht recht, was sie antworten sollte.
Eine quälende Pause.
Der Geweihte starrte wieder auf das Gemälde.
„Lacertinus hat das Bild gemalt, lange vor meiner Ankunft im Tempel. Sajalana, der Schoß der Eidechse. Nun, ich denke, ihr Gesicht soll ein Porträt der Baronin sein. Tsalindes Antlitz...“
Ein verlegenes Hüsteln.
„Nein. Nein. Solalins Großvater war kein guter Mensch, Ysilda. Nicht der Lacertinus, den ich gekannt habe. Wenn er jemals ein rechtschaffener Diener der Zwölfe gewesen sein sollte. Dann hat der Schwarze ihn verändert. Am Ende war er verderbt.“
Der Priester senkte seine Stimme und konnte die Angst darin dennoch nicht verbergen. „Das Grauen. Man entkommt ihm nicht. Der Körper vielleicht, aber niemals - die Seele. Ihn vor allem wollte ich vergessen. Den Schwarzen.“ Praiodîn vergrub erst das Gesicht in Händen, faltete sie dann. Tastete nach dem strahlenumkränzten Sonnenamulett an seinem Hals. Atmete schwer. Die Kerze begann unstet zu flackern.
„Ein Abgesandter geradewegs aus den Niederhöllen, der Hochheilige Gilborn steh´ uns bei. Mit leblosen, grausamen Wolfsaugen. Ich habe später sehr viel Grauenhaftes gesehen...aber das Grauen nur einmal. Er hat ihn auf den Pfad der Finsternis geführt, das ist gewiss, niemand sonst. Früher oder später hätte der Schwarzbärtige auch meine Seele zerstört. Da bin ich mir sicher. Wenn nicht, dann hätte er dafür gesorgt, dass Lacertinus irgendwann auch mir die Kehle durchschneidet. Dieses eiskalte Lächeln. Ein Mund wie ein frisch ausgehobenes Grab. Blutleere Lippen. Lavendel...Ich erinnere mich noch an den Duft von Lavendel...Heiliger Alboran, hilf uns Gläubigen, steh uns bei im Kampf gegen die Finsternis!“
Wie Blut rann rotes Kerzenwachs auf den Tisch herab. Nach einer Weile beruhigte sich die wild flackernde Kerzenflamme wieder.
Die Vertraute der Eidechse begriff.
„Lacertinus verschollener Novize“ flüsterte Ysilda. „Ihr seid Answin, nicht wahr?“ Sie griff nach seinen Händen, er wich aus. Ein Frosthauch schien sich auf sie beide zu legen. „Von wem sprecht Ihr? Wer ist…. dieser Schwarze Mann? Ihr müsst wahrhaft Schreckliches erlebt haben.“
„Ja. Aber auch ich…ich selbst habe Schreckliches getan. Ich habe ihn verraten. Lacertinus. Meinen Meister. Auf meine Weise habe ich es getan. Nicht bei der Inquisition denunziert. Nicht ich. Es genügte, bei den Bauern über all das zu sprechen, was in diesen Mauern geschehen ist. Über seine Sucht nach Purpurmohn, nach dessen unheilvollem Duft er lechzte wie ein Säufer nach Gebranntem. Die goldgeränderten Blüten, die ihm der Schwarze überbracht hat. Zum Lohn für sein Wohlverhalten, wie er es nannte. Als Lohn für die Eidechsen des Gartens, die Bruder Lacio bei lebendigem Leib zerstückelt hat. Oder verbrannt. Um seinem neuen, finsteren Herrn zu gefallen. Einmal, einmal hat er sogar ein neugeborenes Lämmchen geschlachtet, auf dem Altar der Allesgebärenden...und hat dann das warme, blutige Fleisch...“ Die Faust des Praioten klopfte wie unter Schmerzen auf den Tisch. „Nein. Nein. Wer...was immer auch Lacertinus von Zaberg am Ende gewesen sein mag. Er war kein Diener des Lebens mehr. Versteht Ihr?“
Purpurmohn? Ysilda begann tatsächlich zu begreifen. Die Kiste im Garten. Lacertinus hatte sie versteckt, bevor er „abgeholt“ worden war. Vermutlich hatte sich Purpurmohnsamen darin befunden. Offenbar hatte der Priester damit gerechnet, irgendwann wieder in den heimatlichen Tempel zurückkehren zu dürfen.
„Ja. Ich bin, nein, ich war einmal Answin Xerber“ hörte sie Praiodîn leise sagen. „Ein Bauernsohn aus Rübenscholl. Damals hielt ich das noch für eine große Ehre. Liebe Güte, was war ich stolz. Und meine Eltern erst. Novize, im Tempel von Zaberg. Bei Bruder Lacio, dem Gütigen. Das war noch unter Baron Gernot. Wenig später hat er dann sein wahres Gesicht gezeigt.“
„Gernot?“
„Gernot - und Lacertinus. Beide waren Verräter. Jeder auf seine Art. Auch wenn es sieben lange Jahre gedauert hat, bis sie dem Abtrünnigen auf die Schliche gekommen sind. Ich nehme an, es waren Leute des Reichsgroßgeheimrats. Vielleicht auch Diener der FDEA. Wir wurden in einer verhängten, verriegelten Kutsche nach Gareth gebracht. Durften mit niemandem sprechen - und sollten von niemandem gesehen werden. Wir haben selbst kaum ein Wort miteinander gewechselt. Er schien irgendwie erleichtert zu sein, dass es endlich vorbei war. Mir zu verzeihen. Das, was ich getan habe. Und mehr noch das, was ich nicht getan habe. Aber vielleicht rede ich mir das alles nur ein. In der Kaiserstadt haben sich unsere Wege endgültig getrennt, im Fackellicht. Es war das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Ich wurde dann im Tempel des Steten Wandels einquartiert, in Rosskuppel. Später habe ich gehört, dass mein Mentor für seine Untaten zum Tode verurteilt worden ist. Zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Aber vielleicht hat ihn zuvor schon die Fliegende Festung eingeäschert. Wer weiß...“
„Und du“, Ysilda merkte gar nicht, dass sie zu dieser geringschätzigeren Anrede übergegangen war. „Du hast dann einfach die Seiten gewechselt? Bist jetzt also Praiosdiener? War dein Glaube an die Allesgebärende derart schwach?“ Die Stimme der Geweihten zitterte leicht. Sie legte ihre Hand auf Praiodîns Unterarm.
„Warum denn ausgerechnet die Gemeinschaft des Lichts? Nach allem, was uns die Häscher der Priesterkaiser angetan haben? Der erste Tempel von Zaberg, er wurde von ihnen niedergebrannt, wusstest Du das? Die Geweihten haben sie zu Tode gefoltert, ja, als Anbeter einer Hexengöttin.“
„Ihr habt doch keine Ahnung!“ Praiodîn wand sich regelrecht auf seinem Stuhl, seine Hände krampften sich in die Lehne. „Ich kenne stärkere Charaktere, die unter dem flammenden Blick eines Inquisitionsrates weich werden würden, weicher wie Wachs. Seelen, die stärker sind, als ich es war, der halbwüchsige, unreife Knabe. Verschreckt und fern der Heimat. Meister Selbfried... Er hat meine Aussage zu Protokoll nehmen lassen, in der Stadt des Lichts, wo die Wahrheit ohnehin niemals verborgen werden kann. Ich habe dem Inquisitor alles gesagt, was ich wusste. Das war doch wenig genug. Aus freien Stücken. Ohne besonderen Zwang. Es hat noch nicht mal besonders lange gedauert.“
„Verstehe, Answin Xerber. Kurzer Prozess.“ Ysilda wollte einfach nicht glauben, dass der Erbauer dieses wunderbaren Tempels ein Ketzer gewesen sein sollte. Oder gar abgrundtief böse. Sie hatte durchaus auch sehr viel Gutes über Bruder Lacio gehört, den Heiler. Es gab kaum einen jüngeren Zaberger, der nicht mit Lacios Hilfe die bunten Farben der Tsa erblickt hatte. Wie konnte so jemand ein heimtückischer Finsterling geworden sein, aus freien Stücken? Was Purpurmohn mit dem Geist eines wirklich Süchtigen anzurichten vermochte – sie konnte es sich gerade lebhaft vorstellen. Aus eigener Erfahrung.
„Irgendwie habt Ihr da etwas gehörig missverstanden, dünkt mir“. Ysilda klang wieder sarkastisch. „Oder ein klein wenig übertrieben. Dass mit dem Tsageweihten und dem ewigen Wandel, meine ich. Musstet Ihr Euch darüber gleich in einen Träger der rotgoldenen Robe verwandeln? Über Nacht?“
Praiodîn wurde wieder ruhig. Ysilda merkte, dass sein Becher leer war und bot ihm die geöffnete Flasche an. Der Praiot nickte matt.
„Hochwürden Selbfried? Er allein hat in mir noch keine Glaubenskrise ausgelöst, Schwester Ysilda“, sagte er, während der Zaberger Ewigleben in sein Trinkgefäß schwappte. „Falls Ihr das meint. Auch wenn der Inquisitionsrat mir von Schwester Laniare erzählt hat.“
Die Vertraute der Eidechse hielt mit dem Einschenken inne. „Laniare?“
„Laniare, ja. Eine Mahnung, kein Versuch einer Bekehrung. Später hat es mir dennoch die Augen geöffnet. Sagt man nicht: Es fällt einem plötzlich wie Echsenschuppen von den Augen? Laniare von Dragenfeld. Wusstet Ihr, dass die Weidener Wüstenei durch eine Tsadienerin erschaffen worden ist? Nur mit Hilfe dieser törichten Frau, dieser Wahnsinnigen, konnte der vielfach verfluchte Bethanier in unsere Welt zurückkehren. Laniare. Sie allein hat all das Unglück und Leid über die Menschen gebracht, das uns bis heute heimsucht und peinigt. Ein furchtbarer Gedanke, und dennoch nur zu wahr. Durch ein ketzerisches Fruchtbarkeitsritual wurde ein ganzes Dorf in Ruinen verwandelt, wurden die Felder zu Staub, die Menschen vor der Zeit zu Greisen. Fruchtbarkeitsritual, ha. Ein uralter Echsenzauber, ein Fluch, den diese Verblendete, durch einen Schwarzmagier irregeführt, für einen Segen hielt. Am Ende brachte er das genaue Gegenteil: Tod, Chaos und Vernichtung. Die Herrschaft der Dämonen. Wenn so etwas Wahnsinn ist, so hat es doch Methode. Bei Laniare – und, wie es aussieht, auch bei Eurem Vorgänger Lacertinus. Wie sich die Bilder gleichen, nicht wahr?“
„Ja, ich habe auf den Konventen davon gehört“, sagte Ysilda, mit säuerlichem Beiklang. „Laniare Armand. Verrückt war sie wohl nicht, eher gutgläubig und naiv. Leider sind nicht einmal wir Geweihte davor gefeit, in einem Moment der Schwäche vom rechten Pfad der Götter abzuweichen. Wenn ich da an Albuin den Ketzer denke, den ehemaligen Illuminatus von Wehrheim, der sich heute für den leibhaftigen Sohn des Praios hält...“ Die Vertraute der Eidechse deutete ein versöhnliches Lächeln an.
Wieder begannen Praiodîns Augen zu glühen.
„Nun weicht Ihr ab - und zwar vom Thema! Umso schlimmer, falls Laniare ihren Frevel sogar noch bei klarem Verstand begangen haben sollte. Der Dere bis auf die Grundfesten erschüttert hat...Nicht einfach nur Staub und Asche zwischen den Trümmern aufgewirbelt. Wie dieser Verblendete, dessen Namen ich nicht mehr nennen möchte. Die Götter wirken auf dieser Welt durch uns Geweihte - nicht etwa wir Sterbliche mit Hilfe höherer Mächte. Manch einem mag diese Erkenntnis den Verstand rauben. Aber wehe dem, der sie vergisst! Nein. Schwester Laniare war nicht gutgläubig. Sie hat nicht mehr an das Gute geglaubt, an die Macht Alverans. Sonst hätte sie sich an die bewährten Rituale, die sicheren Wege der Zwölfgötter gehalten...“
„Wie schön, dass Ihr einer einzelnen Tsadienerin einen derartigen Einfluss auf das Weltgeschehen zutraut. Wenn schon Euer Meister Selbfried, seine heilige Inquisition oder die Bannstrahler es in all ihrer Macht und Herrlichkeit nicht geschafft haben, die Rückkehr des Nandussohnes zu verhindern.“
Selbstzufrieden verschränkte die Schlotzerin ihre Arme. Die Erwiderung kam ihr überaus schlagfertig vor. Allerdings rechnete sie sie nun mit einer scharfen Zurechtweisung.
Praiodîn sah sie tatsächlich durchdringend an. Dann ruckte er mitsamt seinem Stuhl kantig herum.
„Ihr habt Recht. Allerdings auf andere Weise, als Ihr Euch eingestehen wollt. Es bedarf der Macht, um dem Guten zu dienen. Um das Böse zu bekämpfen. Der höchsten Macht des Praios. Das habe ich in diesem Perainemond begriffen. In den Tagen, als der Überfall der Schwarzen Horden begann. Erst wurde das Reichsheer bei Wehrheim vernichtet, unter der Fliegenden Festung zertreten, wie Ungeziefer. Dann, am 29. Tag des Mondes Peraine, kam der Schrecken auch zu uns. Nach Gareth. Hinein in das Herz des Reiches.“
Er zog den Saum seiner Robe hoch. Ein weiteres Mal war Ysilda verblüfft. Dort, wo sich das rechte Bein hätte befinden sollen, blinkte matt eine eiserne Prothese, die mit starken Lederriemen am Stumpf festgeschnallt war. Sie erinnerte entfernt an das Beinteil einer Ritterrüstung.
„Das Werk eines Meisterschmieds aus Neu-Gareth“, ächzte Answin (oder Praiodîn) und schnallte das Ding ab. „Ein bisschen Öl hier, ein bisschen Nachjustieren dort, und schon läuft es wie geschmiert. Fast schon besser als mit jedem echten Bein.“ Die Mechanik der Prothese schien tatsächlich kompliziert zu sein. An Stelle des Kniegelenks waren Stell-Schrauben, und, hinter Führungsschlitzen, Federn zu erahnen.
Der junge Geweihte lächelte gequält. „Eigentlich völlig unerschwinglich, für jemanden wie mich. Aber was soll man sagen. Der kleine Mann brauchte dringend das Gold, als seine Schmiede in rauchenden Trümmern lag. Das mechanische Wunderwerk eines Zwergen. Ein Wunder, dass es mir auf Anhieb gepasst hat“. Beim Wort „Anhieb“ verzog der Priester etwas das Gesicht. Er entfernte einen Lappen und massierte sich den rosig vernarbten Stumpf, der überhaupt nicht zum restlichen, jugendfrischen Körper passen wollte.
„Der gleiche Zwergenschmied übrigens, dem Hochwürden Andras Braniborian seine eiserne Hand verdankt hat, nach der Dämonenschlacht“, sagte der Lichtgeber, mit verkniffenem Gesicht, aber auch einem Anflug von Stolz. „Ein Vorgänger Neibhards, der in diesen unheilvollen Tagen den Märtyrertod erleiden durfte, im Kampf gegen die Schergen Warunks.“
„Verstehe.“ Ysilda nickte mitfühlend, auch wenn ihr die friedwanger Praiosgeweihtenschaft in diesem Moment wie eine verstümmelte Piratenhorde vorkam. Erst jetzt sah die Dienerin des Lebens den Schmerz, der sich tief und hart in Praiodîns Gesicht eingegraben hatte.
„Wie ist es geschehen?“
„Wie? Wie bei einer Eidechse“ sagte Praiodîn, mit Bitterkeit in der Stimme. „Wie eine kleine Eidechse habe ich ein Teil von mir geopfert, als Kholak-Khai und…und der Schwarm am strahlend blauen Himmel über Gareth erschienen sind. Gekommen, um uns alle zu vernichten. Um die Kaiserstadt in ein Insanctuarium des erzdämonischen Herren der Rache zu verwandeln. Leider ist es nicht mehr nach gewachsen, mein Bein. Anders als bei einem Eidechsenschwanz. Was für eine verrückte Schlacht. Der Götterfürst möge mir verzeihen. Aber Galottas Fliegende Festung war ein überaus beeindruckender Anblick. Mit all ihren Türmen, Palästen und den riesigen Glotzaugen an der Unterseite. Wie eine gigantische Muschel ist sie über allem geschwebt, ein Hohn auf die Gesetze Deres. Ich kann mich an wenig sonst erinnern. An die Greifen, ja, natürlich. Praios Sendboten selbst sind in die Schlacht geeilt, um uns zu retten. Mit schimmernden, goldenen Schwingen. Ein herrlicher Anblick, aber der Preis dafür war hoch. Irgendwann hat Gareth lichterloh gebrannt und die Erde an allen Ecken und Enden gebebt. Diese Dröhnen, Tosen und Summen in meinem Kopf. Und die Schreie, die Schreie. Tausende sind gestorben, im rotglosenden Feuersturm. Ein Tag und eine Nacht voll Chaos.“
Praiodîn sprach scheinbar gleichmütig, während er seinen Oberschenkel wieder sorgfältig umwickelte.
Er sah hoch, mit fiebrigen Augen. Geradewegs hinein in die helle, rußige Kerzenflamme.
„Und ich, ich befand mich plötzlich mittendrin. Vermutlich habe ich in dieser unseligen Nacht selbst einen Menschen getötet. Nein, keinen Eindringling aus der Garde des Dämonenkaisers, auch wenn ich das, Tsa zum Trotz, liebend gerne getan hätte. Einen armseligen Plünderer. Der Bursche hat tatsächlich mit dem Weltenbrand darum gewetteifert, die Türen der Häuser kaputtzuschlagen. Vermutlich ist er in dem Inferno einfach nur wahnsinnig geworden, wie so viele. Wie wahrscheinlich wir alle. Das heißt, als er mit dem Beil auf mich losgegangen ist, habe ich ihn einfach in die Flammen geworfen - und das lichterloh brennende Haus ist dann über seinem Kopf zusammengebrochen...einfach so. Wie ein Kartenhaus.“ Praiodîns Blick wurde leer. „Wir…die Tsajünger sind ja recht geschickt im Ringkampf. Bruder Lacio war, was das anging, ein guter Lehrmeister. Manchmal höre ich noch das Gebrüll, in meinen Alpträumen.“
„Von Lacertinus? Oder dem Plünderer?“
„Von beiden, vermutlich.“
„Und Eure, äh, Verwundung?“
„Das Bein? Oh. Eine Dämonenranke hat es umwickelt und halb abgerissen. Eine Art blutroter Tentakel, wie sie plötzlich überall aus dem Boden gewuchert sind, gleich dämonischem Unkraut. Das….das Ding wollte mich in eine der gezackten Erdspalten ziehen. Ihre Dornen waren so scharf wie Reißzähne, so spitz wie Dolche, sie hat sich gewunden wie eine wütende Schlange. Es ging alles sehr schnell. Mit der Axt habe ich versucht, die Ranke zu zerhacken, und in meiner Panik wohl mein eigenes Bein getroffen. Womöglich hat aber gerade das mich gerettet: die Selbstamputation. Menschen rannten an mir vorbei, trampelten über mich hinweg, stolperten, fielen zu Boden, manche starben. Irgendwann ist die Festung abgestürzt. Einfach so, wie ein Stein. Nein, wie ein Berg. Aber ich hatte Glück, die Trümmer donnerten um mich herum herunter oder auf die arme Frau, die noch im Tod meinen Körper beschützte. Irgendwann waren da nur noch Staub und Vitrioldämpfe. Und Schmerzen. Aufgewacht bin ich dann in irgendeinem schäbigen Notlazarett, mit blutigem Stumpf.“
Praiodîn hustete.
„Schaut mich nicht so betroffen an. Es war die gerechte Strafe der Tsa. Sie hat mich, ihren ungetreuen Diener, schlicht und ergreifend verstoßen. Es hat Tage gedauert, bis ich wieder klar denken konnte. Als ich dann zum ersten Mal die Trümmer der Neuen Residenz, die Ruinen der Stadt des Lichts gesehen habe...Nun, da habe ich…habe ich geweint, und geklagt …mich selbst angeklagt…und mich endgültig als Verräter gefühlt. Als Verräter aus Schwäche. Ich war zu schwach gewesen, um das Gute, das Reich, das Recht, die gerechte Sache der Zwölfgötter zu verteidigen. Außerdem hatte ich meinen Meister verraten, einen Menschen getötet und war ein tsaverfluchter Krüppel. Was hatte einer wie ich da noch in der Kirche der Jungen Göttin verloren? Ich weiß, wie sehr Sie Verstümmelungen hasst. Nein, mein Platz war ab sofort an der Seite der ebenfalls schwer verwundeten Ordnung. Und des beleidigten Rechts. Also wurde ich Praiosgeweihter.“ Praiodîn schob seinen Stumpf wieder in die Prothese.
Auch wenn Ysilda den Anblick von Invaliden selbst kaum ertragen konnte, als ein Affront gegen die Schönheit des Lebendigen, empfand sie in diesem Fall den Anblick irgendwie als...sinnlich. Um nicht zu sagen: erregend. Hastig trank sie noch einen Schluck. Was gab ihr da die Namenlose Zeit für einen Gedanken ein?
Praiodîn zurrte die Lederriemen wieder fest und schloss die Schnallen.
„Eigentlich muss ich froh sein, dass die Gemeinschaft des Lichts jemanden wie mich aufgenommen hat. Einen Krüppel. Sagen wir, wie es ist. Mehr noch: Selbfried selbst hat sich meiner angenommen und mir wieder ein zweites Standbein verschafft.“ Der Geweihte schlug gegen das Eisen. „Sozusagen. Ja, er hat mir die Prothese beschafft. Mit seinen eigenen Dukaten…Ich solle meine Gebete künftig an den Erzheiligen Gilborn richten. Der Schutzheilige wider schwarze Magie habe ebenfalls große Qualen erleiden müssen im Kampf gegen das Böse. Wie der hinkende Großinquisitor Dexter Nemrod, der in der Schlacht in den Wolken von uns gegangen ist. Man sagt, der verfluchte Rübenschädel habe ihn gekreuzigt, ihm ein Auge ausgestochen…bestialisch und pervalisch gefoltert. So gesehen hatte ich noch Glück.“
Praiodîn ließ den Robensaum wieder fallen und lehnte sich zurück, das Gesicht vom Wein gerötet.
„Verzeiht meine Gefühlsaufwallung. Aber wenn ich an damals denke...Das sterbende Gareth...Das Schreien der Sterbenden und Tosen der gequälten Elemente. Die geschändete Ordnung…“ Der Geweihte schüttelte unwirsch den Kopf. „Verzeiht. Der Herrscher des ersten Tages ohne Namen...man sagt, er wecke in den Menschen den Wahn. Lasse schmerzliche Geschichten wiederkehren, die besser der Vergangenheit und dem Vergessen anheim gefallen wären.“
„Ich verstehe nicht.“ Ysilda runzelte die Stirn.
Praiodîn blickte in den Becher.
„Isyahadin. Der Schenker des Irrsinns.“ Der Geweihte schlug sorgfältig das Praioszeichen, seine Lippen bebten. „Der Erste der Tagesherrscher. Habt Ihr noch nie davon gehört: Isyahadin?“
Die Vertraute der Eidechse zuckte zusammen, als die Flamme vor ihr, auf dem Kerzenstumpen, jäh hochbrannte, sich ins Purpurne verfärbte. Irrte Ysilda sich, oder gab der wildlodernde Docht vor ihr einen Herzschlag lang merkwürdige Geräusche von sich: Es klang wie ein entferntes Jammern, Seufzen und Kreischen.
„Aphestadil, die Herrscherin des zweiten Tages. Sie bringt den Sterblichen Trägheit.“
Die Flamme beruhigte sich wieder. Wachs perlte herab wie Fieberschweiß. Der Anblick wirkte tatsächlich – ermüdend. Eine tropfende Fratze. Die Kerze erinnerte sie plötzlich an ein Schreckgesicht. Oder aber…einen Totenschädel…
„Rahastes gilt als der Herr der Plagen. Er ist der Herrscher des Dritten Tages.“
Ysilda beeilte sich, das schmelzende, warme, weiche Wachs umzukneten, um das böse Omen zu vertreiben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sie den Finger zurück, als etwas von der heißen Masse auf ihre nackte Haut tropfte. Praiodîn schien es gar nicht zu bemerken. Er sprach jetzt wie in Trance.
„Madaraestra, die Verführerin, weckt am vierten der verfluchten Tage verborgene Gelüste. Zuletzt, am fünften Tag, stiftet Shihayazad Streit unter Freunden. Oder lässt tödliche Unglücke geschehen“. Ein jäher Windhauch hob den Vorhang zum Altarraum leicht an. Mit einem Mal wurde es kühl. Die Kerzenflamme beugte sich, drohte für einen Moment zu verlöschen. Hastig schirmte Ysilda sie mit der Handfläche ab. Merkte der Praiot denn nicht, dass mit all diesen finsteren Namen etwas Unheiliges in ihre Sakristei kroch?
„Man nennt ihn auch den Sphärenspalter. Mögen die guten Götter uns beistehen.“
Das Lebenslichtlein kämpfte tapfer gegen seine Auslöschung an.
Zufrieden merkte die Schlotzerin, dass sie die Flamme tatsächlich gerettet hatte. Nach wenigen Augenblicken brannte die Kerze wieder ruhig und goldfarben. Um Gelassenheit bemüht, pflückte sie kleine Wachsklümpchen von ihrer Hand.
„Ach. Das meint Ihr. Nun, ich glaube nicht, dass bestimmte Tage im Jahreslauf den Menschen immer das Gleiche zu bringen vermögen. Und seien es die Namenlosen Tage...Das Leben steckt voller freudiger Überraschungen und es gibt immer Alternativen...Selbst wenn uns einmal alles ungemein trostlos und finster erscheinen mag. Gerade dann.“
„Eure Worte in der guten Götter Ohr. Glaubt mir: Es gibt Unerträgliches. Momente, in denen jede Hoffnung stirbt. Genug davon. Wie Ihr merkt, stand ich einige Zeit unter der Obhut eines kundigen Inquisitionsrates. Ich kenne die Schliche des Bösen. Nur zu gut, leider. Was soll ich sagen. Selbfried, mein Mentor, war der Einzige, der sich in den rauchenden Ruinen von Gareth, in all dem himmelschreienden Elend, meiner angenommen hat...Von Herzen angenommen hat, meine ich.“
Einen Moment lang herrschte Stille.
„Tut mir leid“, sagte Ysilda vieldeutig in das entstandene Schweigen hinein, wobei sie selbst nicht wusste, was genau ihr leid tat. Oder war das alles am Ende nur ein erneuter Trick des Namenlosen? Hatte er ihr, nach dem Purpurmohn, auch noch einen abtrünnigen Tsajünger und Praioseiferer geschickt, um ihren Glauben auf besonders perfide Weise zu erschüttern? Was, wenn es sich bei dem Fremden überhaupt nicht um einen Praiosgeweihten handelte? Sondern um ein Trugbild oder gar einen hinterlistigen Schergen des Dreizehnten? Hieß es nicht, dass diese Frevler ihrem finsteren Götzen Teile des eigenen Körpers als Opfer darbrachten? Woher kannte ihr Gegenüber all diese schrecklichen Dämonennamen?
Ysilda saß mit einem Mal äußerst angespannt da. Blickte auf den Wein: Hatte ihr Gast schon Gelegenheit gehabt, irgendein Gift hinein zu träufeln? Oder waren seine Worte das eigentliche Gift?
„Macht und das Gute, wie Ihr es nennt, schließen sich in meinen Augen allzu oft aus, Herr Xerber. Eigentlich immer. Der Pfad in die Niederhöllen ist mit guten Vorsätzen gepflastert, das schon. Wenn ich an die Zeit der Priesterkaiser denke, als man unserer Kirche das Geheimnis der ewigen Jugend zu entreißen versucht hat. Als ob derartige Wunder nicht allein der Gnade und dem unermesslichen Ratschluss der Jungen Göttin bedürften. Aber es gibt eine Liturgie, die verlorene Körperteile auf wundersame Weise wieder zu erneuern vermag...“ Ysilda nippte erneut und blickte auf die Prothese. Die Verstümmelung kam ihr mehr wie ein Frevel an der milden Tsa denn eine Bestrafung durch die Göttin vor.
„Habt Ihr den Echsenhammer gelesen?“ fragte Praiodîn dumpf.
„Habe ich den Echsenhammer gelesen?“ echote Ysilda irritiert. „Ich kenne die Vorwürfe. Zzah, die obskure Echsengöttin. Na und? Auch die Göttin selbst, oder besser gesagt, das Bild, das wir von ihr haben, unterliegt stetem Wandel und ständiger Erneuerung. Selbstverständlich wurde die Herrin allen Lebens schon von vielen Völkern vor uns angebetet. Praios war zum Beispiel ein Gott der Güldenländer. Jenseits des Großen Ozeans, Richtung Sonnenuntergang, soll es noch weitaus exotischere Wesenheiten geben als Geschuppte. Im Übrigen bedürfen die Kaltblütigen weit mehr der Sonne, des Lichts und der Wärme als wir Menschen. Gilt Sonnenanbetung deswegen als etwas Echsisches? Nein. Praios Schild scheint gleichermaßen auf uns alle.“
„Bis auf all jene, die sein Licht scheuen. Derer sind nicht wenige. Blutegel und Vampire stehlen ebenfalls die Lebenskraft, die sie selbst nicht haben“. Verstohlen rieb sich Praiodîn über den Handrücken. „Dienen sie damit dem Leben? Im Gegenteil. Ich weiß, von was ich spreche. Erst vor kurzem hat mich eines dieser Untiere gebissen.“
„Ein Vampir?“
„Spottet nicht. Ein Blutegel. Es geschah am Hofe der Baronin von Friedwang, die sie dort zu Heilzwecken appliziert.“
„Und? Hat Euch der Aderlass etwas gebracht?“
„Nicht an mir. An ihrem Sohn Solalin. Sie behauptet, es helfe gegen seine ständigen Krämpfe. Ich habe mir einen dieser Würmer einmal genauer angesehen. Nach dem Abfallen. Und da hat dieses widerliche Geschöpf doch tatsächlich zugebissen. Mit seinem kreisrunden Maul voller Zähnchen. Obwohl das eklige Tier bereits feist vom Blut war…abscheulich…Ich habe den Egel sofort abgerissen und in einer Feuerschale verbrannt…Dieses Zischen und Zucken, dieser Gestank. Einfach nur widerwärtig.“
„Warum? Heißt es im Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisung nicht, dass alles Gewürm aus den ersten Tränen des Los entstanden ist? Weswegen die Lebenskraft in ihnen so groß ist, dass sie zu alter Größe wachsen, wenn man sie zerteilt?“
Praiodîn sah die Fragestellerin einen Augenblick merkwürdig an. Merkwürdig und durchdringend. Schatten zuckten in seinem Gesicht.
„Warum? Weil es ekelhafte Blutsauger sind, die sich in Schlamm und dunklen Gewässern winden. Und sie mich an die blutroten Garether Daimonen-Ranken erinnern. Schuppig wie Schlangengezücht sind sie obendrein. Wie sollte ein derartiges Geziefer praiosgefällig sein? Was die Echs´schen angeht. Ihre Kaltblütigkeit erscheint mir eher wie ein Fluch des Praios. Es muss etwas Praiosungefälliges an ihren Leibern sein, wenn die Sonne sie nicht auf gleiche Weise zu erwärmen vermag, wie uns Menschen. “
„Und doch wirkt die Echsengöttin, wie Ihr sie nennt, große Wunder. An Leib und Gliedern...“
„Tsas Wunderbare Erneuerung, ich habe davon gehört“, antwortete der Praiot gereizt und machte eine abweisende Geste. „Selbst wenn. Glaubt Ihr, ich möchte eine widernatürliche, praiosverfluchte Chimäre werden? Oder wie würdet Ihr es nennen, wenn einem plötzlich ein Bein wächst, das nicht das eigene ist? Einfach so, aus dem Nichts heraus?“
„Oder gar ein Kopf mit eigenem Hirn und neuen, selbstständigen Gedanken. Gar nicht auszudenken!“
„Wie meint Ihr das?“ konterte Praiodîn scharf.
„Warum sollte ein Wunder nicht unsere alten Wunden heilen dürfen? Muss es denn immer auf endlose Selbstgeißelung und Bestrafung der Sünden hinauslaufen? Die Junge Göttin...sie...Ach, vergesst es einfach. Ihr versteht es ja doch nicht. Noch nicht. Wer war denn nun dieser ominöse Schwarze Mann, von dem Ihr gesprochen habt? Der Lacertinus in Versuchung geführt haben soll?“
Ein weiterer Schatten legte sich auf das Gesicht des Geweihten.
„Merwan“, sagte Praiodîn. „Merwan der Schreckliche, so nannten sie ihn. Ein zweibeiniger Blutegel im Dienste dessen, dessen Namen man nicht nennt. Er war verflucht, glaubt es mir. Der Tempel hier. Das Haus Eurer Göttin stand wahrlich kurz davor, zu einem Hort des Bösen zu werden, wenn er es nicht…“
Der Geweihte hielt inne, schnaufte, wurde ruhiger. Blickte auf seinen Becher. „Verzeiht, ich habe zuviel geredet, und noch dazu in Rage. Das ziemt sich nicht für einen Gast...Euer Wein ist aber auch ziemlich stark.“
Erst jetzt merkte Ysilda, dass sie dem Ankömmling gar nichts zu essen angeboten hatte. Wie traviaungefällig. Vermutlich verhielt er sich deswegen so hitzköpfig: Ein solcher Trunk auf nüchternen Magen.
„Schon gut. Habt Ihr Hunger?“
„Wie? Oh ja, vielen Dank, der Weg war beschwerlich...“
Wenig später stand ein einfaches (und vor allem fleischloses) Mahl auf dem Tisch: Brot, Grütze und Tsarella-Käse, von der Ziege. Praiodîn schien schlichte Kost gewohnt zu sein, er langte herzhaft zu. Eine neue Kerze flackerte, die alte war heruntergebrannt.
„Seid bedankt. Auf Eurem Haus liegt der Segen der Jungen Göttin, das spüre ich ganz deutlich. Zumindest jetzt wieder. Ich weiß, ich weiß, Euereins haltet uns Praiosdiener für blinde Eiferer, voller Argwohn, Zorn und Verdacht gegen alles und jeden. Aber ich habe bereits unglaubliche Ränke des Feindes erlebt, in Gareth und anderswo. Trotz meiner jungen Jahre. Dinge, von denen die meisten Menschen nicht einmal eine Ahnung hegen...Die Herzen der meisten Sterblichen sind schwach. Und so viele Aufrechte sind gestorben. So viele. Zuletzt Meister Selbfried, hier in der Wildermark. Im Kampf gegen Orken, habe ich gehört.“ Praiodîn blickte kummervoll, seine Augen wurden feucht.
„Das tut mir leid.“
Ysilda musterte ihr Gegenüber erneut, buchstäblich etwas nüchterner als zuvor. Er sah wirklich noch sehr jung aus. Gramvoll, aber nicht gar so borniert wie mancher seiner Glaubensbrüder. Vermutlich bestand die List des Namenlosen darin, ein Keil zwischen sie beide und ihren Glauben treiben zu wollen. So waren die Heiligen Zwölfe nun einmal: Für den Verstand eines Sterblichen ungleich, ja, widerstreitend, und auf höherer Ebene doch wieder eins. Untrennbar verbunden im Pantheon von Alveran. Sie fasste Vertrauen zu dem einbeinigen Praiosgeweihten. Vielleicht war es sogar ein gutes Zeichen, dass er einmal Novize in diesem Tempel gewesen war. Fast schon kam sie sich wie ein Eindringling in seinem Haus vor. Nein, es war gut, nicht völlig allein zu sein, an einem Tag wie heute.
„Inquisitoren“, fuhr Praiodîn fort. „Viele Kleinmütige halten sie für Unmenschen, kennen nur die Schauergeschichten. Selbfried war streng, sehr streng, aber immer gerecht. Gerechtigkeit. Das ist es, was ich unter Praios Attributen für noch wichtiger halte als das Gebot zu Wahrheit und Ordnung. Eigentlich ist sie die Voraussetzung für alles weitere: Keine Wahrheit und keine Ordnung hat Bestand, die nicht auf Gerechtigkeit fußt. Und doch ist sie vielleicht am schwierigsten zu ermessen. Was auf Dere ist gerecht?“
Ysilda lächelte begütigend. Da war sie ja an einen richtigen Philosophen geraten. Einen Gerechtigkeitsfanatiker. Ein kleiner, aber aufdringlicher Schmerz vom Handgelenk her ließ sie zusammenzucken. Es war eigentlich mehr ein unangenehmes Brennen: Nanu, die winzige Schramme hatte sie gar nicht bemerkt. Sie musste sich die Hand aufgeritzt haben, als sie den Purpurmohn ausgerissen hatte. Oder beim Graben nach diesem eigenartigen „Schatz“ im Tempelgarten.
„Ihr ward sehr offen und ehrlich zu mir. Also halte ich es nur für gerecht, dass ich Euch ebenfalls die ganze Wahrheit sage. Vorhin, im Garten...beim, äh, Umtopfen. Da habe ich etwas überaus Merkwürdiges gefunden.“
Praiodîn blickte zwischen zwei tropfenden Löffeln Grütze hoch.
„Ich vermute, Lacertinus hat es versteckt. Vergraben, um genau zu sein. Vielleicht könnt Ihr mir sagen, um was es sich dabei handelt.“
Wenig später standen sie am umgewühlten Blumenbeet. Praiodîn stieß seinen Stab in den Boden und blickte zum Himmel, der nicht wirklich klar und hell war, sondern von einem unheilverkündenden, schwefligen Grau.
Ysilda ging in die Knie, sah sich nervös um. Irgendwie fühlte sie sich beobachtet, schon wieder...Ihr Blick streifte über den nassen Garten. Da war nichts, oder?
Die Geweihte hüstelte, schüttelte den Kopf. Mit ihren Nerven stand es nicht mehr zum Besten. Kein Wunder, bei all den Schauergeschichten des Praioten. Jetzt, während der Namenlosen Tage. Sie grub mit bloßen Händen im Erdreich nach. Ein paar Regenwürmer ringelten davon. Der Topf kam zum Vorschein. Sie hob ihn heraus, vergaß für einen Moment das Gewicht. Das Behältnis kippte zur Seite, der Deckel rutschte weg, etwas von dem schlammigen Inhalt schwappte über ihren Handrücken. Zu Ysildas Erstaunen fühlte sich der...der Dreck keineswegs widerlich an, er prickelte belebend. Verblüfft stand sie auf.
„Was ist das?“ wollte sie von Praiodîn wissen.
Der nahm das Steingut vorsichtig in die Hand. Seine Stirn runzelte sich zusehends, während er die Buchstaben mit dem Zeigefinger nachzeichnete.
„Grolmensalbe“ sagte er schließlich. „So hat mein Meister das Zeug zumindest genannt.“
Ysilda verrieb nachdenklich den Schmutz auf ihrer Hand. Das warme und zugleich frische, sanfte und ungemein kräftigende Gefühl, dass sich von dort wellenartig in den ganzen Arm hinein auszubreiten schien, stand im Widerspruch zur grünlichbraunen Farbe und dem fauligen Geruch der „Salbe“. Es war, beinahe schreckte sie vor dem Gedanken zurück: Es war, als ob die Junge Göttin selbst sie gerade auf die Hand geküsst hätte.
„Es fühlt sich wunderbar an...“ Sie sah auf den kleinen Kratzer, oder besser gesagt die Stelle, wo er sich hätte befinden müssen. Tatsächlich schien er verschwunden zu sein, aber vielleicht war er nur unter den Schlammschlieren verborgen.
„Ein Heilmittel“, murmelte Praiodîn. „Ein überaus wirksames Heilmittel...“ Bedächtig, aber auch mit einer Spur Widerwillen im Gesicht, stellte er den Tiegel wieder auf den Boden. Es schien ihn kaum mehr zu behagen als Serwas Blutegel. „So hat er es genannt.“
Der Ring. Der Ring fiel der Schlotzerin ein. Sie tastete in der nassen Erde danach, dort, wo sie das Artefakt verscharrt hatte. Es kam, trotz hektisch werdender Suche, nicht zum Vorschein. Dort, wo er sich eigentlich hätte befinden müssen, war nur noch eine kleine Kuhle. Erst jetzt sah sie die Vertiefungen, die in zwei Linien von dem „Versteck“ wegführten. Fußstapfen.
Praiodîn folgte ihrem Blick. „Was sucht Ihr?“
„Ein Ring...da war noch ein silberner Ring in dem Versteck...“
Ein Rascheln im Gebüsch. Irgendetwas, nein, irgendjemand huschte gerade davon. Eine kindergroße Gestalt, den Kopf unter einer Kapuze versteckt, eine große Umhängetasche an der Seite – mehr konnte Ysilda auf die Schnelle nicht wahrnehmen.
„Dort!“ rief sie und deutete auf den Flüchtenden.
„Halt, im Namen des Götterfürsten!“ donnerte Praiodîn und griff zum Sonnenszepter. Auch wenn seine Stimme überaus fest und ehrfurchtgebietend klang: Natürlich blieb die Gestalt nicht stehen. In Windeseile sprang sie über die Bruchstein-Mauer und war verschwunden.
Entschlossen griff der Praiot zu seinem Wanderstab und eilte hinterher, vermochte sein Hinken aber nicht zu verbergen. Ysilda kam einige Zeit vor ihm an.
Die Tempelanlage war noch ein Teil des Dorfes, lag allerdings an dessen Rand. Ein Weidenzaun, der Etter, umschloss die schmucken Fachwerkhäuser, dahinter, auf den Anhöhen, lag bereits der neblige Sichelwald.
Der Praiosdiener spähte mit Greifenaugen nach dem Dieb. Vermutlich hätte er den Eindringling nicht wiederentdeckt. Wenn nicht ein silbriges Glitzern, gefolgt von einem grünlichen Aufleuchten seine Aufmerksamkeit erregt hätte: Das Leuchten kam von einem mauergeschützten Dreiseit-Hof her. Tatsächlich, dort stand der kleine Kerl und steckte seine Beute gerade an den Finger.
Ysilda schrie empört auf, raffte ihre Robe mitsamt dem Mantel hoch, sprang, ohne groß nachzudenken, die anderthalb Schritt hohe Mauer nach unten – und knickte mit einem Wehklagen um. Der Langfinger sah erschrocken in ihre Richtung und enthüllte dabei ein runzliges, gelbliches, halbverschattetes Mondgesicht. So kam es Praiodîn zumindest vor. Mit kurzen, trippelnden Schritten eilte der Wicht auf das Nordtor zu.
In Praiodîns Kopf meldete sich der Logiker zu Wort. Mit seinem Eisenbein war es unmöglich, den dreisten Burschen noch irgendwie einzuholen. Vermutlich würde er es nicht einmal das Mäuerchen hinunter auf die Straße schaffen. Andererseits war der Eindringling ungewöhnlich klein. Der mannshohe Etterzaun aus Weidengeflecht würde ein echtes Hindernis für ihn darstellen. Die Tore des Dorfes waren jetzt, zum Jahresende, auch tagsüber fest verriegelt, mit schweren Balken.
Der Geweihte wusste von früher, dass es in der Tempelmauer eine kleine Wasserpforte für das Bächlein gab, das den Garten durchfloss. Ein Durchlass, der hinaus ins Freie führte, Richtung Straße. Wenn der Schurke - es handelte sich hier wahrlich um einen besonders dreisten Fall von Tempeldiebstahl - gen Firun wollte, ließ ihm sich vielleicht dort der Weg abschneiden.
Praiodîn humpelte den munter plätschernden Wasserlauf entlang zur Lücke im Mauerwerk, die durch ein Fallgatter verschlossen war. Beherzt sprang er in den (kaum kniehohen Bach), stemmte das kleine Falltor-Gitter nach oben, zwängte sich durch die halbrunde Öffnung hindurch, watete, auf seinem Stecken gestützt, durch das Wasser. Kiesel klackerten und rollten davon. Der Geweihte hangelte sich, im Gebüsch verheddert, nach oben und kletterte aus dem halb zugewucherten Bachlauf. Dann eilte er durch einen Hain Kirschbäume hindurch auf das Palisaden-Tor zu. Jemand drückte dort von innen dagegen. Polternd fiel genau in diesem Moment der schwere Sperrbalken zu Boden. Im nächsten Moment öffnete sich knarrend einer der beiden Torflügel, der kleine Mann huschte heraus. Der Lichtgeber steuerte den Pfad in Richtung Bergwerk an, mit der Erwartung, dass sein Gegner auf dem einzigen vorhandenen Weg gen Firun fliehen würde. Das Zwerglein hatte seinen Verfolger aber bereits erspäht und wich auf eine mit Pfützen, Pilzen und Kuhfladen gesprenkelte Wiese, in Richtung Waldrand, aus.
„Stehenbleiben!“ Keine Reaktion.
Praiodîn nahm die Verfolgung auf. Unter normalen Umständen hätte er gute Chancen gehabt, den Flüchtling einzuholen, der schwer bepackt zu sein schien. Wenn nur sein eigenes quälendes, würdeloses Gehumpel nicht gewesen wäre, am Stab, mit quietschender Prothese. Verbissen stemmte er sich mit seiner „Krücke“ vorwärts. Diese Verfolgungsjagd war eine einzige Verhöhnung des Himmelskönigs. Wie ein Hüpftanz der aarmarischen Bergbauern. Praiodîn rutschte auf dem glitschigen Untergrund aus und fiel der Länge nach in den Dreck, geradewegs in einen Kuhfladen. Als er sich, mit unterdrücktem Fluch, wieder aufrappelte, verunzierte ein großer, brauner, übelriechender Fleck seine Robe.
Der junge Mann wunderte sich über sich selbst. Warum tat er sich das hier eigentlich alles an, in seiner Lage? Wollte er wirklich den dreisten Diebstahl bestrafen? Oder am Ende gar der Tsageweihten imponieren?
Ein grünlichbrauner Klumpen plumpste vor ihm ins feuchte Gras, dann noch einer. Etwas Weiches, Glitschiges streifte sein Gesicht. Ein empörtes Quaken. Aus dem Augenwinkel sah er ein zuckendes Bein mit Schwimmhaut zwischen den Zehen. Dort, wo das Ding seine Haut berührt hatte begann sie leicht zu brennen. Kröten! Es waren Kröten, die hier vom Himmel fielen, erst eine Handvoll, dann Dutzende, schließlich ein Prasseln aus feisten, warzigen, schleimigen Echsenleibern.
Ein Krötenregen! Praiodîn wehrte den eklen Guß mit der Hand und dem Stab ab, so gut es ging. Der Namenlose! Hier war der Namenlose am Werk! Es schien, als würde die unheilvolle Fracht fässerweise über Zaberg ausgekippt. Dann, so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er wieder vorbei. Überall hopsten die Hexentiere im Grün umher, glucksten, quakten, als wollten sie den Sonnengott und die praiosgegebene Ordnung verhöhnen. Die nun einmal besagte, dass Kröten nicht einfach so vom Himmel fielen. Mit einem Stoßgebet zum Hochheiligen Gilborn pflückte Praiodîn eines der Untiere von seiner Schulter. Ein weiteres stürzte bei dieser Bewegung von seiner Kappe und hoppste quakend davon. Kalt, das Kroppzeug fühlte sich eisig kalt an. Überall kroch, wimmelte das Gezücht durch das Gras. War der Dieb mit dem Namenlosen selbst im Bunde?
Nein, der grauenhafte Regen nützte dem Fliehenden wenig. Dort vorne stand er und jammerte ob der Kröten, die ihn zornig ansprangen, anscheinend sogar bissen. Ein Tier schien ihm in die Gugel gefallen zu sein, zappelnd versuchte er sich davon zu befreien. Praiodîn schritt geradewegs auf ihn zu, ohne auf die Lurche zu achten, die er dabei zertrat.
„Hab ich dich, Langfinger!“
Der Kleine sah sich erschrocken um, gerade in dem Moment, als er die (aus seiner Sicht) riesige Kröte am Hinterbein zu fassen begonnen hatte. Wild fluchend schleuderte er sie von sich. Zumindest hörte sich das aufgeregte Schnalzen und Klicken so an. Die Kapuze rutschte ihm vom Kopf, entblößte einen grotesken Wasserkopf. Auch wenn der Besitzer gerade einmal so groß war wie ein fünf oder sechs Jahre alter Junge, war seine gelbe Haut verrunzelt wie die eines Greisen, der Schädel kahl und verbeult. Ein schmaler, rötlichbrauner Haarkranz türmte sich oberhalb der spitzigen Ohren auf, ähnlich der Frisur eines verrückten Gelehrten. Verschattete Augen musterten ihn böse. Die lange Nase erinnerte mehr an eine krumme Rübe. Jedenfalls gehörte sie keinem Menschen.
Praiodîns erster, vager Verdacht wurde zur Gewissheit. „Ein Grolm !“ brach es aus ihm heraus. „Ein Zehnteler also! Ein diebischer Feilscher.“ Tatsächlich, an einem der langen, dürren Finger des Wichts leuchtete der silberne Ring, von dem Ysilda gesprochen hatte, in grünlichem Feuer. Zum Erstaunen des Priesters zierte das Schmuckstück kein Smaragd, wie er ob der Farbe des Lichts erwartet hätte, sondern ein nachtschwarzer Stein. Der Verfolger rammte den Stab in den Boden und zog das Sonnenszepter.
„Her damit!“ dröhnte Praiodîn los, während er den Streitkolben drohend erhob. „Gib freiwillig zurück, was du der Kirche gestohlen hast, Knilch! Oder du wirst den Zorn des Obersten Richters Alverans spüren!“
Der Grolm bleckte ihn nur an, zeigte ihm die Faust. Und lief wieder los, die Hand auf die Tasche gelegt, geradewegs auf den Waldrand zu.
Praiodîn eilte hinterher, ohne auf die Schmerzen im Beinstumpf zu achten. Es war frustrierend zu sehen, wie sich der Abstand zwischen ihm und dem Grolm sofort wieder vergrößerte, trotz dessen geringerer Schrittweite. Nach wenigen Augenblicken hatte den Gnom das grüne Dickicht verschluckt.
Etwas hilflos hinkte Praiodîn in den Wald, suchte umständlich nach einem Pfad durch das Unterholz hindurch. Dort, dort hörte er Zweige brechen und Laub rascheln. Wieder das merkwürdige grüne Leuchten. Hier wirkte offenkundig Magie, was Praiodîns Groll geradezu ins Unermessliche steigerte.
Da, dort drüben lief der Feilscher, einen Hang hinauf. Sich links und rechts an den Bäumen abstützend, humpelte Praiodîn ihm nach, kam erstaunlich gut voran. Während sein Feind sich immer wieder mit seiner Tasche verhedderte. Na also. Der Grolm schien ihn nicht bemerkt zu haben. Tatsächlich, der Onyx leuchtete in einem satten Lindgrün, nein, flackerte mal kräftiger, mal schwächer, wie eine Fackel im unsichtbaren Sturm, nicht wie eine Lampe.
Praiodîn hielt für einen Moment inne. Der Zehnteler schien ihn nicht zu sehen. Aber sich heimtückisch anschleichen war natürlich keine Option.
„Zum allerletzten Mal! Bleib stehen und gib den Ring her, den du aus einem Tempel der Zwölfgötter gestohlen hast, verfluchte Zauberkreatur!“ Erzürnt hob er sein greifengeschmücktes Amulett, als müsse er einen Dämon bannen.
Der übergroße, verknitterte Kopf sah in seine Richtung, eher erstaunt als ungehalten.
Praiodîn griff nun wieder zum Sonnenszepter, erfüllt von heiligem Zorn. Er würde den Götterlästerer den unförmigen Schädel zertrümmern, schon allein zur Strafe dafür, dass er es wagte, in seiner Gegenwart frech Magie anzuwenden – welcher Art diese auch sein mochte. Und dann das Zauberartefakt zerstören. Im nächsten Moment strauchelte er, blieb in Geäst hängen: Vermaledeite Prothese.
Der Ringträger eilte nun wieder hangabwärts, mit grünglimmender Hand und seinen, im Rhythmus der Schritte hochschlagendem, Umhängebeutel. Wütend riss sich Praiodîn frei, ohne auf seinen Hut zu achten, der ihm dabei vom Kopf fiel.
Jetzt sah er, wohin sein Feind wollte: Zu einer alten, verkrüppelten Wettereiche am Waldrand, zwischen deren Wurzeln ein dunkles Loch klaffte. Offenbar wollte der Wasserkopf sich dort verkriechen. Einer jähen Eingebung folgend, riss Praiodîn das Sonnenszepter hoch und schleuderte es hinterher. Die Waffe verfehlte die kurzen Beine des Grolms knapp, schlug kurz davor auf. Was tat der Schurke jetzt? Er bückte sich mit fantastischer Geschwindigkeit - und raffte das vergoldete Szepter an sich. Höhnisch grüßte ihn der Grolm mit seinem Diebesgut. Praiodîn wollte seinen Augen nicht glauben. Was für eine unerhörte Dreistigkeit! Welch götterlose Habgier! Im nächsten Moment war der Grolm auch schon an der Wettereiche angekommen, entledigte sich der Tasche, sprang, kroch in das finstere Loch – das unter dem dick bemoosten, verdrehten Stamm dalag wie ein Eingang geradewegs in die Unterwelt. Oder wie das Maul eines sphärenschänderischen Dämons?!
Praiodîn deutete mit dem Zeigefinger auf die Eiche, bereit, das morsche Holz mit einem vernichtenden, gleißenden Bannstrahl in Flammen zu setzen. Der Grolm packte den Riemen der Tasche, zerrte sie hinter sich her. Dann sah Praiodîn, wie ein Ruck durch den Baum ging – und sich das „Tor in die Niederhöllen“ schloss. Die Wurzeln von allen Seiten durch das Erdreich hindurch zusammen zogen, als wären sie tatsächlich die Zähne einer gewaltigen Fratze. Magie! dröhnte es hinter Praiodîns Schläfen. Fassungslos trat er näher. Er mochte es einfach nicht glauben: Nicht nur, dass ihm der Dieb entkommen war. Er hatte dabei auch noch sein geweihtes Sonnenszepter gestohlen!
Praiodîn langte sich schweratmend an die Stirn. Wäre er kein Geweihter gewesen, er hätte losgeheult vor Wut, wenn nicht Verzweiflung. Er stocherte mit dem Stab zwischen den Wurzeln herum, versuchte sie aufzustemmen: Vergebens, die Holzstränge federten ein wenig, bewegten sich ansonsten keinen Fingerbreit. Ebenso gut hätte er am Berghang hinter sich rütteln können. Seine Hände tasteten über die borkige Rindenhaut der Eiche, versuchten das Wurzelwerk wieder auseinander zu schieben. Bis auf ein paar Fußstapfen und Kriechspuren, die schnurstracks zum Schoß der Eiche führten und dort abrupt abbrachen, deutete nichts mehr auf das hin, was gerade eben geschehen war. Der Grolm war buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden.
Dumpf starrte Praiodîn auf das Hindernis. Leise pochten die Sphärenkugeln an seiner Schärpe gegen den Baumstamm. Der Dreizehnte! Ohne Zweifel hatte der verfluchte Gott ohne Namen hier seine Klauen im Spiel. Es war aussichtslos: Praiodîn beherrschte die Liturgie zur Aufhebung von Zauberei noch nicht, und die Stunde der Dämmerung nahte. Er musste froh sein, wenn er es rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zurück in den Tempel schaffte. Eine Niederlage, das hier war eine astreine Niederlage, im Wortsinn. Unwillig schlug er einen der nassen Äste beiseite, drehte sich um.
Praiodîn hörte das dumpfe Dröhnen, spürte den bebenden Laubboden, nahm den scharfen Geruch wahr, noch bevor er das schwarze Ungeheuer auf sich zustampfen sah. Böse glimmende Schweinsäuglein, dolchartige Hauer, wütend aufgestellte Nackenborsten: Es war ein kapitaler Eber, der da mit voller Wucht auf ihn zudonnerte. Erschrocken hob Praiodîn den Stab, versuchte den Überfall abzuwehren. Mit Urgewalt rannte das Vieh in seine Beine. Die eiserne Prothese riss ab, flog davon. Er prallte mit dem Hinterkopf brutal gegen die Eiche, stürzte ungemein hart zur Erde. Das wütende Quieken und Grunzen des Wildschweins war das letzte, was er hörte. Dann schwanden ihm die Sinne.
Als er erwachte, lag schon der Abendnebel über allem – oder waren es die Schleier in seinem Kopf, der wie ein pausenlos geschlagener Praiosgong dröhnte? Eine dunkle, massige Gestalt beugte sich über ihn: Ein Wildschwein!!! Aber es war nicht der Eber, sondern eine Bache. Aber warum saß ihr Kopf auf einem beinahe menschenähnlichen Körper, mit großen Zitzen (oder waren es Brüste?). Und warum sah das Wesen irgendwie besorgt, ja, gütig, drein? Es schienen noch mehr der merkwürdigen Kreaturen anwesend zu sein, geduckt, aber aufrecht gehende Wildschweine, so schien es, mit geisterhaft glühenden Augen. Sicherlich nur eine Halluzination. Dennoch, ein durchdringender Geruch nach Wildsau mischte sich mit dem nach Kuhfladen. Vom Dorf her waren jetzt aufgeregte Rufe zu hören, schemenhaft nahm er Fackelschein wahr. Die Tierwesen schnupperten und grunzten aufgeregt, ein helles warnendes Quieken - dann verschwanden sie in Windeseile im Wald.
Es wurde endgültig Nacht.
Zweiter Tag des Namenlosen: Trägheit
„Der Schweigsame gibt nur, indem er uns nimmt.
Meidet das Dunkel, wenn es Geschenke bringt!“
Weisheit der Boroni
Zaberg, Aphestadil.
Feuertag.
Entsetzt starrte Praiodîn erst auf Ysilda, dann auf den Dolch in seiner Brust, dessen Knauf eine Eidechse zierte. Blut sprudelte über das heilige Tier der Göttin des Lebens. Ebenso wie über die Hand der Tsageweihten, als sie die Klinge tiefer hineinstieß. Der Onyxring leuchtete kraftvoll durch das Rot des Lebenssafts hindurch, pulsierte jetzt in einem satten, alles durchdringenden, echsenhaften Grün. „Verfluchte Tsahexe!“ Voller Schmerzen und Qual sah der Praiosdiener seine Gegenüber an. „Was hast du getan?“ Kaum hatte er die hasserfüllten Worte gekeucht, wurden seine Augen glasig, mit einem letzten, schrillen Schrei und kraftlos rudernden Armen fiel er hinab ins Bodenlose. „Verrecke, du Scheusal!“ zischte ihm Ysilda hinterher. Praiodîns Todesschrei wurde noch schriller, heller...
Weiblicher.
Schweißgebadet ruckte Ysilda hoch. Musste sich einen Moment lang besinnen, wo sie sich befand. Im Allerheiligsten des Tsatempels zu Zaberg. Ihres Tempels. Zuletzt war sie es gewesen, die geschrieen hatte. Eine Zeitlang lauschte sie dem beruhigenden Plätschern des Brunnens. Ein Alptraum? Oder eine Nachwirkung des Purpurmohns? Schlechte Träume waren keinesfalls ungewöhnlich in diesen Tagen. Und dennoch, das Geträumte hatte so fürchterlich echt gewirkt, als würde sie alles in Wirklichkeit erleben. Als hätte sie Praiodîn wirklich getötet – ein doppelter Frevel. In Tsas Gegenwart hatte Ysilda sich eigentlich vor derartigen Schrecken sicher gefühlt. Die junge Geweihte wollte einfach nicht glauben, dass das Böse sogar bis hierher, ins Innere des Tempels hinein, zu kriechen vermochte. Sie sah von ihrer Lagerstätte hinüber zur Milden Göttin, im bunten Schein der Ewigen Lichter. Hatte Sie ihr diesen Traum gesandt? Ein Wahrtraum, zu ihrer Warnung? Verstört sah sie auf ihre Finger, die tatsächlich blutbefleckt zu sein schienen. Aber es war nur die Morgenröte, die langsam in das Gotteshaus drang.
Draußen wurde es zögerlich hell. Kein Vogelgezwitscher, wie sonst, begrüßte den Praiosaufgang. Kalt und krank sickerte das Morgenlicht herein, ein fahles Zwielicht. Ysilda schälte sich aus der Decke, stand auf, strich sich die Haare glatt. Dann ging sie durch die Sakristei, hinüber in ihr eigentliches Schlafgemach.
Dort lag Praiodîn, halb zugedeckt, mit nacktem Oberkörper. Seine beiden Arme waren mit Verbandstoff an den Bettpfosten festgebunden, ebenso das gesunde Bein. Das Gesicht war hier und da noch immer mit Schmutzschlieren bedeckt. Die Augenlider bebten leicht, begannen ab und an zittern. Hatte der Praiot nicht gerade eben geseufzt? Bald würde die Wirkung des Schlafmittels nachlassen, dass sie ihm verabreicht hatte.
Ysilda lächelte sinister. Gestern hatte sie noch in finsteren Rauschträumen geschwelt, heute war bereits ein Praiosgeweihter ihr Gefangener, nackt und gefesselt. Was würden die Zaberger Bauern sagen, wenn sie ihr Opfer so sehen könnten? Der Blick der Schlotzerin fiel auf das Messer, mit dem sie den Stoff zurechtgeschnitten hatte. Ysilda nahm es vom Nachttisch, strich über den Knauf, der wie eine kleine Eideche geformt war. Erst jetzt merkte sie, dass die Spitze genau auf den Lichtgeber wies. Dieser schlug unvermittelt die Augen auf. Sein Blick war erst trübe, dann verwirrt.
Es dauerte eine Weile, bis Praiodîn bewusst wurde, wo er sich befand. Mit leisem Stöhnen versuchte er sich aufzurichten. Dann merkte er ruckend, dass er am Bett festgebunden war. Schlaftrunken sah er sich um. Erblickte mit verschleierten Augen Ysilda.
„Was ist los?“ fragte er mit verwaschener Stimme. Dann ruckte er erneut an seinen Fesseln. Seine Benommenheit wich völliger Verwirrung. „Was soll das?“ fragte er nach einer geraumen Weile tonlos. Die Erkenntnis, dass sein Misstrauen gegenüber Tsadienern nicht völlig unbegründet war, schien ihn selbst zu verblüffen. Nun sah er das Messer in Ysildas Hand. Verlegen ließ die Frau es in die lederne Scheide verschwinden, legte es ins Regal. Dann schwang sie sich auf einen Hocker.
„Wie fühlt Ihr Euch?“ fragte sie, mit Medicus-Miene.
„Wie ich mich fühle? Ich bin offenbar mit einem wütenden Wildschwein kollidiert, und jetzt...jetzt fühle ich mich irgendwie kurz angebunden.“ Zur Demonstration reckte Praiodîn sämtliche Finger in die Höhe. „Wie mir scheint, bin ich Euer Gefangener. Auch wenn sich mir der Sinn des Ganzen noch nicht recht erschließen will.“
„Sagen wir, es dient bis auf weiteres Eurer eigenen Sicherheit.“ Ysilda verschränkte die Arme und lächelte maliziös. „Aber erzählt mir erst einmal, was geschehen ist, bevor wir Euch völlig zerschunden und zerschlagen im Wald gefunden haben.“
„Bindet mich sofort los! Was soll das Possenspiel?“
„Ihr werdet es schon noch beizeiten verstehen. Also, was ist passiert? “
„Nichts da. Ich bin Donator Lumini der Praioskirche und als solcher befehle ich...“
„Ja, Euer Titel scheint bereits die Wildsau überaus beeindruckt zu haben...“ Ysilda blickte zum Fenster, hinter dem nun der Sommertag begann. Die Luft begann sich langsam, aber sicher zu erwärmen. Zaghaft war jetzt doch Vogelgezwitscher zu hören.
Der Geweihte schloss die Augen, musste sich selbst erst wieder besinnen. „Ich habe den Ringdieb verfolgt. Bis in den Wald hinein. Es war ein Grolm...“
Ysilda hob die feingeschwungenen Augenbrauen, sagte aber nichts.
„Es gab einen Krötenregen, aber das wisst Ihr sicherlich selbst. Zwischen den Bäumen habe ich den Wicht dann aus den Augen verloren. Das heißt, ich ließ mich dazu verleiten, mein Sonnenszepter nach ihm zu werfen. Praios seis geklagt. Er ist damit geflohen. In eine Eiche...“
„In eine Eiche?“
„Ja. Zuvor der Ring zu leuchten begonnen hat, in einem merkwürdigen grünen Licht. Vermutlich stammt der kleine Dickschädel aus Grolmental. Ein kleines Feilscherdorf, ganz in der Nähe. Bei der Gelegenheit, wo ist eigentlich meine Robe...?“
„Wird gerade gewaschen. Das sollte eigentlich in Eurem Sinne sein, so sehr wie die nach Kuhmist gestunken hat. Ich dachte, Ihr wisst, um was es sich bei dem Ring Eures Meisters handelt?“
„Nun, alle seine Geheimnisse hat er mir dann doch nicht anvertraut. Soviel gibt es eigentlich gar nicht zu erzählen. Also, der Feilscher ist in dem Loch unter dieser Eiche verschwunden...und das Loch hat sich wieder geschlossen...glaube ich. Nun, im nächsten Herzschlag ist schon der Eber aufgetaucht...Als ich wieder erwacht bin, waren überall diese zweibeinigen Wildschweine...Ja, eine Art Mischung aus Menschen und Schweinen...“
„So unreinlich sind meine Zaberger auch wieder nicht.“
„Nein. Nicht die Bauern. Es waren wirklich aufrecht gehende Borstentiere. Vielleicht habe ich mir das Ganze auch nur eingebildet...Immerhin muss ich ziemlich hart auf den Kopf gefallen sein. Was habt Ihr mit mir gemacht? Ich spüre überhaupt keine Schmerzen...außer in den Handgelenken...“
„Interessant.“ Ysilda legte den Finger ans Kinn. „Bei uns in Schlotz erzählt man sich viele Geschichten über derartige Kreaturen. Man sagt, sie hätten dem Wutzenwald ihren Namen gegeben. Jungfer Glyrana ist den…den Wutzen sogar schon einmal begegnet, im Wald...Ich wusste nicht, dass man sie derart weit westlich antreffen kann. Hm ja, Feenwesen halten sich wohl nicht an derische Sumugraphie. Da fällt mir ein, die Bauern hier haben mir einmal vom Orvairi erzählt.“
„Dem was?“
„Ein böser Wildschwein-Geist, der ab und an in die Hausschweine fährt. Bei uns in Zaberg wird eine ganze Menge an Rüsseltieren gehalten und im Herbst zur Eichelmast in den Wald getrieben. Ich hielt das Ganze bislang nur für eine Sage. Aber die Bauern scheinen sich ernsthaft vor diesem Unhold zu fürchten. Ihr solltet froh sein, dass Ihr als Donator Lumini aus Markt Friedwang doch über eine gewisse Reputation verfügt. Sonst würdet Ihr noch immer mit zerbrochenen Knochen im Wald liegen. Und die Zaberger sich zitternd in ihren Häusern verstecken. Wenigstens die Frommen konnte ich nach einigem Hin und Her überzeugen, Euch zu suchen.“
„Seid bedankt. Was macht eigentlich Euer Fuß? Ihr habt ihn Euch doch übelst verstaucht, oder?“
„Nicht der Rede wert. Jedenfalls nicht so schlimm wie Euer blutender Hinterkopf und die gebrochenen Rippen...
„Ich spüre nichts“. Praiodîn blickte an sich herab.
„Das glaube ich gerne. Diese Grolmensalbe hat wahre Wunder gewirkt...“
Der Kopf des Geweihten ruckte hoch.
„Sagt das noch mal?“
„Nun, dieser Heilschlamm...So eklig wie er stinkt...Aber ich habe noch nie ein derart wirksames Heilmittel gesehen...“
„Ihr habt mich...ihr habt mich nicht wirklich mit diesem verfluchten Zeugs eingeschmiert?“ Praiodîns Stimme wurde schrill.
„Nun, Ihr sagtet selbst, es wäre überaus heilkräftig. Genauso kam es mir vor. Etwas davon auf den Knöchel, und er hat sich fast von allein wieder eingerenkt“
„Es ist ziemlich sicher magisch. Grolmenwerk. Wenn nicht noch schlimmer...Selbst Lacertinus hat davor zurückgeschreckt, es anzuwenden. Er meinte, seine Wirkung wäre jetzt zum Jahreswechsel am stärksten. In den Namenlosen Tagen...Das sagt doch schon alles.“
„Papperlapp“, antwortete Ysilda leichthin. „Wer heilt, hat Recht. Ihr ward ziemlich schwer verletzt. Mit Wirselkraut alleine wäre es da nicht getan gewesen, und meinen letzten Heiltrank habe ich schon vor Wochen verbraucht. Kaum habe ich die Salbe aufgetragen...die Wunden haben sich fast von allein geschlossen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ein Wunder der Tsa, anders kann ich es mir nicht erklären.“
„Oder ein Werk dessen, dessen Namen man nicht nennt!“
Betrübt sah Ysilda ihren Patienten an.
„Dann wird Euch das hier ebenfalls nicht gefallen.“
Sie schlug die Decke zurück. Praiodîn starrte auf seinen Beinstumpf. Dort, wo sich eine verrunzelte Narbenfläche befinden sollte, ragte ein rosiges Etwas heraus, ein fleischiges Beinchen. Ein kleiner Fuß, wie von einem Säugling.
Praiodîns Mund öffnete sich langsam. Dann ruckte er so hektisch an seinem Bett, dass es zu wackeln begann.
„Nein! Neeeein! O neeeiiiin! Sagt, dass das nicht wahr ist! Was habt Ihr getan?“ Einen Augenblick lang lähmte das Grauen die Zunge des Praioten.
„Nun, eigentlich habe ich gar nichts getan. Zumindest habe ich selbst nicht mit einem derart...wunderbaren Ergebnis gerechnet. Ich wollte nur den Riss an Eurem Oberschenkel behandeln. Nach einem halben Wassermaß war die Wunde vollständig verschwunden und schon die erste Zehe zu sehen. Was soll ich sagen? Das neue Bein wächst und gedeiht, schon seit Stunden. Als ich schlafen gegangen bin, war es noch ganz winzig.“
„Schneidet das...das Ding da ab! Das…das ist…Praiosfrevel!“
„So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Nun wisst Ihr, warum ich Euch festgebunden habe...“
„Schneidet es ab! Brennt die Wunde am besten aus. Ich beschwöre Euch! Meine Brüder und Schwestern werden mich auf den Scheiterhaufen stellen, wenn sie das sehen! Zu Recht! Ich mag es gar nicht anschauen. Gilborn, Alboran und alle Heiligen, steht mir bei. Es ist...dämonisch!“
Praiodîn wand sich nun wie in Fieberschauern. „Macht es weg!“ stöhnte er mit geschlossenen Augen.
„Wenigstens können sie Euch dann wieder auf einen Holzstoß stellen“ Ysilda lachte grimmig. „Und müssen Euch nicht draufsetzen. Tut mir leid. Ihr habt ohnehin keine Wahl. Euer Eisenbein ist nur noch ein Haufen Schrott. Liegt drüben in der Dorfschmiede. Wollt Ihr an Krücken zurück nach Markt Friedwang humpeln? Aber glaubt mir, ich spüre die Macht der Jungen Göttin in dieser Salbe. Der Schlamm ist einfach fantastisch. Wisst Ihr, woher Bruder Lacio ihn hatte? Ich benötige unbedingt mehr davon.“
„Ich sagte doch, von den Grolmen. Und die beten ganz gewiss nicht zu Eurer Ewigjungen Göttin.“
„Aber auch nicht zum Namenlosen, bei den unsterblichen Zwölfen. Diese Tinktur erscheint mir mindestens so potent zu sein wie Taluedwasser. Bedenkt nur, wie viel Gutes man damit bewirken könnte. Gerade in unseligen Zeiten wie diesen!“
„Gutes bewirken? In den Tagen des Namenlosen ?“ Praiodîn lachte auf, freudlos, fast schon hysterisch. „Ja. Fragt den kleinen wasserköpfigen Dieb da draußen in seiner verhexten Eiche, ob er Euch noch mehr von…von dieser Hexensalbe besorgen kann. Mein Sonnenszepter und Euren Ring hat der Strolch ja schon, als fürstliche Anzahlung. Wer weiß, was für Viecher er dann auf Euch hetzt. Ysilda, Ihr seid naiv. Aber noch ist es nicht zu spät, Euren Fehler wieder gut zu machen.“
„Das ist nicht Euer Ernst. Euch das gesunde Bein wieder abzuschneiden, im Augenblick der Heilung, das wäre grotesk und frevlerisch. Wärd Ihr lieber ein Krüppel geblieben? Genug. Letztlich habe ich diese Wirkung ja gar nicht erwartet. Sie war ein Versehen, sozusagen. Ihr seid völlig überreizt. Ruht Euch etwas aus.“
Den Rest des Tages dämmerte Praiodîn dahin, müde, antriebslos, träge. Das Bein wuchs und wuchs, wie in einem Fiebertraum. Er fühlte sich schlapp, als würde das neue Fleisch sämtliche Kräfte aus dem alten Körper saugen, und ziemlich sicher tat es genau das. Immer, wenn er sich freigestrampelt hatte, um das monströse Ding zu betrachten, kam die Tsageweihte herein und steckte es wieder in die Decke. Das hieß, einmal kitzelte sie sogar die kleine, schrumpelige Fußsohle, als wäre er ein Säugling. Ein klein wenig reizte es ihn zum Lachen. Die bizarre Situation schien Muttergefühle in Ysilda zu erwecken...Irgendwann zur Mittagsstunde fütterte sie ihn sogar, löffelweise mit einem faden, aber nahrhaften Brei. Sein Stolz befahl ihn, abzulehnen – aber er entwickelte wirklich rasenden Hunger. Herumzuzappeln und zu zucken, dass ihm die Grütze ins Gesicht geschmiert wurde: Nun, das wäre noch weitaus praiosungefälliger gewesen. Schließlich trieb sein Geist in einen tiefen, dunklen Schlaf.
Als er gegen Abend erwachte, waren seine Fesseln verschwunden. Schlaftrunken zog er die Decke beiseite, sah das Bein, das fast schon halb so lang war wie das linke Gegenstück, aber völlig haarlos. Einen Moment lang fühlte er Freude. Er würde wieder laufen können wie früher. Laufen. Dann wieder hämmerte, dröhnte, echote das entsetzliche Wort in seinem Kopf. Magie, Magie. Unheilige Zauberei. Oder noch schlimmer. Noch schlimmer. Es wird immer schlimmer.
Wirre Träume peinigten ihn: Gareth brannte lichterloh, ein gewaltiger Topf voll Grolmensalbe schwebte, mit starrenden Glotzaugen, über der Stadt des Lichts. In deren Mitte stand sein Meister, auf einem lodernden Scheiterhaufen, umringt vom Flammenmeer der sterbenden Metropole und verfluchte ihn. Was hast du getan? Mörder, Mörder! Das Bein aber wuchs, und wuchs, ins Unermessliche. Wie eine feiste, prall gefressene Schlange, bedeckt mit bläulichen Schuppen. Heerscharen verhüllter Kultisten huldigten ihm, sangen Worte der Ehrehrbietung: Anan...dsha...Anan...dsha... Die blaue Schlange ringelte sich wie ein gewaltiger Tentakel, nein, wie ein blutfetter Egel aus dem Bett, auf Ysilda zu, verdorrte zu einer Dämonenranke, er schlug mit der Axt darauf ein, sie fiel einfach ab – und verwandelte sich in eine purpurn leuchtende, dreizehnfach gehörnte Eidechse. Höhnisch lachend verschwand sie in einem tiefen, schwarzen Loch unter der Wettereiche, mit einem fratzenhaften Stamm: Ein Schreckbild, das in Wahrheit sein eigenes, fassungsloses, völlig verstörtes und verwirrtes Gesicht war.
Dritter Tag des Namenlosen: Plagen
„Selten, wohl nur einmal alle hundert Götterläufe, mag es geschehen, dass zur Stunde der Dämmerung Mada, Simiastern und Regenbogen zugleich über dem uralten Hexenwald leuchten. Ein Menschenkind, das rechtschaffen ist, und reinen Herzens, mag sich dann wohlgemut auf die Suche nach jenem Ort begeben, wo das bunte Zeichen der Tsa aus Sumus taufeuchter Erde entspringt. Bist du ihm nahe, findet sich ein Stein, auf dem eine Eule wacht, mit schneeweißem Gefieder, spitzigen Ohren und großen, goldenen Augen. Ihr Name ist Kuck. Folgst du dem Flug der Eule, wird sie dich zum Regenbogensee führen. Der Jungen Göttin ist er heilig, von wisperndem Schilf umsäumt, mit Seerosen bedeckt, von drei unsterblichen Jungfern wird er gehütet. Einhorn, Faun, Kobold und Fee trinken sein funkelndes Wasser. Bade darin im Mondenschein, und du wirst seinen Nebeln wie neu geboren entsteigen, wundersam frei von Krankheit, Alter, Wunden, Bresthaftigkeit und Schmerz. Doch sei gewarnt: Am Grund des Sees sitzt ein böser alter Nöck, mit grünem Bart, Fischschwanz und schuppigen Klauenhänden. Wenn er grollt, steigt sein Odem brodelnd hinauf zur Menschenwelt. Jeden zieht er zu sich hinab in die Tiefe, der den Heiligen Ort als Frevler entweiht, jeden, der sich mit Krug oder Schlauch mehr vom Lebenswasser nimmt, als ihm zusteht, ohne Erbarmen und Wiederkehr“.
- Eine Sage Aarmariens -
Praiodîn erwachte schweißgebadet. Es war schwül, und er fühlte sich kraftlos, unwirklich, wie ein Geist. Es war bereits hell, er hatte sich erneut aufgedeckt. Nackt, wie ihn Praios erschaffen hatte, lag er da – nein, nicht mehr wie ihn Praios erschaffen hatte. Das rechte Bein war neu, viel rosiger, makelloser und heller als seine übrige Haut. Ein merkwürdiges Ziehen und Spannen breitete sich von dem Punkt aus, wo der Schlamm den Stumpf berührt hatte. Ansonsten spürte er nichts. Das...Bein fühlte sich einfach wie eingeschlafen an.
Wackle, großer Zeh.
Nichts geschah.
Wackle!
Ein Zucken, immerhin. Mühsam und umständlich versuchte er sein „drittes Bein“ zu bewegen. Es half nichts. Es blieb ein Fremdkörper, ein starres Anhängsel, schlimmer als jede Prothese. Immerhin, er war nicht mehr festgebunden, wie er nun bemerkte.
Mit verkniffenem Gesicht schwang er sich über den Bettrand, das steife Bein fest im Griff. Saß einen Moment keuchend da. Er versuchte aufzustehen – und fiel polternd aufs linke Knie. Wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hatte.
„Ein Praiosgeweihter, der vor einer Tsadienerin kniet. Sowas sieht man auch nicht alle Tage.“
Ysilda...
Mit hängender, schweißnasser Haarsträhne im Gesicht blickte Praiodîn hoch zu der Vertrauten der Eidechse.
Die Geweihte hatte seine gewaschene, nach Seife duftende Robe und Unterkleider dabei, ebenso wie die geflickten und geputzten Schuhe. Freundlich half sie ihm aufs Bett. Dann zog sie ihn an, massierte ihm das Bein. Langsam setzte die Durchblutung ein. Apathisch schwankte Praiodîn mit dem Oberkörper hin und her.
„Es ist unglaublich“, sagte Ysilda leise. „Vollkommen heil. Ein Geschenk der Tsa. Aber selbst mit göttlichem Beistand dauert es viele Tage, bis ein verlorengegangenes Körperteil wieder zur Gänze hergestellt ist. Ich muss unbedingt wissen, was das für ein Heilschlamm ist. Wir müssen zu diesem Grolmental...Dort werden wir Antworten finden. Das spüre ich ganz deutlich. Ja, bei Simias Licht. Wir müssen so schnell wie irgend möglich zu den Feilschern.“
Praiodîn sah sie zerknirscht an. „Es gelingt Euch, immer noch einen draufzusetzen, nicht wahr? Ich bin froh, wenn ich die Verfluchten Tage auch nur in diesen Heiligen Mauern hier überstehe. Ohne dabei wahnsinnig zu werden. Ich werde nicht zu den Feilschern gehen, schon gar nicht jetzt. Noch ist mein Verstand klar, bei der Heiligen Lechmin von Weiseprein.“
„Vorgestern habt Ihr noch behauptet, Praios behütet Euch vor den Schrecken der Namenlosen Zeit. Dass Ihr Euch nicht fürchten würdet ?!“
„Nein. Ich fürchte mich immer. Ich fürchte Seinen Zorn. Er wird mich bestrafen ob...ob dieses ungeheuren Frevels.“
„Findet erstmal heraus, ob es wirklich einer ist.“ Ysilda strahlte über das ganze Gesicht, als wäre das Fest des Lebens angebrochen. „Eine Antwort werdet Ihr aber nur da draußen erhalten. Vielleicht sogar auf die Frage, was Solalin widerfahren ist. Eine unerwartete Reise, ich weiß – aber wenn Ihr Euer Sonnenszepter zurückhaben wollt…“
„Ich kann noch nicht mal richtig laufen.“ Der Lichtgeber sank seufzend zurück aufs Bett. „Was meint Ihr damit: Eine Antwort auf die Frage, was dem Baronssohn widerfahren ist?“
„Du. Ich finde wir sollten uns langsam mal duzen. Nachdem wir uns schon...derart nahegekommen sind.“
Ysildas Lächeln wurde sinnlicher. Praiodîn erschrak. Einen Moment lang zog er ernsthaft in Erwägung, diese verrückte Geweihte könnte seinen Tiefschlaf, seine Wehrlosigkeit ausgenutzt haben. Aber nein, das war mehr als unwahrscheinlich.
„Von mir aus“, sagte er lahm. Er winkelte das Bein etwas an, was überraschend gut gelang. Streckte es wieder. Hob es, senkte es. Noch etwas ungelenk, aber besser als dieses...Eisenbein. Weitaus besser. Einen Moment lang zog er ernsthaft in Erwägung, dass es wirklich Tsas Segen war, der ihn, ihren abtrünnigen Schüler, geheilt hatte. Eine Göttin des alveranischen Pantheons und Schwester des Praios, immerhin. Eine flatterhafte Schwester, aber vom gleichen göttlichen Geblüt. Vielleicht schrieb er dem Namenlosen eine Macht, Arglist und Tücke zu, die dieser gar nicht besaß. Andererseits: Was konnte schlimmer sein als ein Praiot, der nicht nur andere anlog – sondern sich selbst hinters Licht zu führen versuchte? Egal, er musste dieses Problem wohl oder übel erst einmal hintan stellen.
Er blickt fragend: „Also?“
„Nun, ein wenig Wissen über Feen, Kobolde und dergleichen hat auch mal zu meiner Ausbildung gehört. Feilscher kamen ebenfalls kurz vor. Man weiß wenig über diese Kindgreise, aber...Grolme sollen über eine mächtige, uns unbekannte Spielart der Magie verfügen.“
Praiodîn verzog seine Lippen, wie unter einem unsichtbaren Peitschenhieb.
„Was nicht heißt, dass das hier der Fall sein muss“, fügte Ysilda hastig hinzu. „Aber es könnte erklären, warum sich Solalin derart merkwürdig verhält. Immerhin sollen Feilscher über machtvolle Beherrschungsmagie verfügen. Über Menschen – aber auch Tiere. Denkt an das Wildschwein, das Euch...dich über den Haufen gerannt hat.“
„Ihr...“
„Du. Bitte, du.“
„Du glaubst, der Baronssohn ist ein Wechselbalg?“
„Nun, es wäre zumindest eine Erklärung. Die Leute nennen ihn so.“
„Dieser Hofmagier Hesindian hat keinerlei Hinweise auf Magie gefunden...“
„Selbst die lassen sich magisch verbergen...Und Zauberer können sich irren…“
„Ihr ganzes praioslästerliches Dasein und Treiben ist ein Irrtum“, grollte Praiodîn. Ein dunkler Schatten legte sich über seine Stirn.
„Wer weiß, was aus dem echten Solalin geworden ist?“ Ysilda schien ihr Gedankenspiel zu gefallen. „Vielleicht finden wir den wahren Erben ja in diesem Grolmendorf. Oder erhalten zumindest einen Hinweis auf seinen Verbleib.“
„Du hast wirklich einen unverbesserlichen Optimismus.“ Praiodîn schwang sich erneut aus dem Bett. „Oder einfach nur eine blühende Phantasie…“
„Die Wege des Lebens sind unerforschlich“, sagte Ysilda geduldig und legte die Hand auf die Eidechsenklinge in ihrem Gürtel. „Ich werde dir ein Beispiel geben. Nimm das Messer hier. Ich habe es vor einiger Zeit auf dem Markt in Rommilys gekauft, von einer Fischerin. Sie hat es in ihrem Netz gefunden, weit draußen auf dem Ochsenwasser. Das heißt, sie meinte, sie habe es zuvor in der Tiefe blinken gesehen, und deswegen, aus irgendeiner Eingebung heraus, ihre Netze ausgeworfen. Es wollte gefunden werden. Klarer Fall, dass es der Ewigjungen geweiht ist. Aber mehr als das. Ein Gläubiger der Tsa hat die Klinge weniger später als Messer des Lacertinus erkannt. In Schlotz. Niemand weiß, wie es in den See gekommen ist. Das Ochsenwasser, es ist groß und tief. Ein wunderbares Zeichen der Tsa. Verstehst Du? Alles, was für unseren kümmerlichen Menschenverstand schon verloren zu sein scheint, kehrt irgendwann zu uns zurück. Unserer aller Lebensfäden sind wie zu einem riesigen Netz verbunden, in dem sich alles Verlorene früher oder später wiederfindet. Manchmal über Generationen hinweg. Ich weiß nicht, wie es dir geht: Mir schauert bei dem Gedanken.“ Ysilda lächelte verzückt. „Seit der Geschichte mit dem Messer war mir jedenfalls klar, dass es mir bestimmt ist, den verwaisten Tempel der Göttin in Zaberg neu aufzubauen und zu leiten.“
„Ich würde dir gerne glauben, dass wenigstens darin noch das Wirken der Guten Zwölfe erkennbar ist.“ Praiodîn winkte ab. „Aber mir schaudert bei dem Gedanken, dass Lacertinus die entweihte Klinge einfach dem Schwarzen ausgeliefert haben könnte. Seinem finsteren Lehrmeister. Der Unhold hat sie dann womöglich in den See geworfen, wie Abfall...Womöglich liegt ein Fluch auf diesem Stahl, der viele Lebewesen getötet hat. Darunter auch die heiligen Tiere der Tsa.“
„Ich habe es erneut gesegnet und spüre wieder die Macht der Ewigjungen darin. Es ist ein heiliges Hebammen-Messer. Seine Klinge durchschneidet alles, was uns an Vergangenes bindet und weist den Weg aus der Nichtwelt hinein ins Leben. Mehr noch. Es lenkt den Odem der Tsa in den Leib der Kinder, in dem Augenblick, in dem es ihre Nabelschnur durchtrennt. “
„Ein Grund mehr für den Todesbringer, es in dunklen Tiefen zu versenken.“
„Das Ochsenwasser ist viele Tagesreisen von Zaberg entfernt.“
„Dieser Finsterling reiste selten nach Menschenart. Eine Magd hat ihn einmal am Nachthimmel gesehen, wo er geflogen ist, wie eine riesige Fledermaus. Jawohl, geflogen. Über den Baumwipfeln, in einen flatternden schwarz-purpurnen Zaubermantel gehüllt, im blutigroten Mondenlicht... “
„Was all die anderen Geschichtchen über Lacertinus nicht glaubwürdiger macht. Ammenmärchen, nichts als Ammenmärchen.“
„Merwan war böse, böse und mächtig. Ein Versucher voller Hass. Die Waffe hatte es ihm angetan, er hat bereits begehrliche Blicke darauf gerichtet, aus leblosen Augen. Manche Sterbliche verfangen sich für immer im Spinnennetz der Finsternis, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Glaub mir. Nicht jedem bleibt Hoffnung, wenn er sich zu weit von den Wegen der Götter entfernt.“
„In Grolmental werden wir Antworten erhalten. Das spüre ich.“
„Es ist streng verboten, das Dorf der Grolme zu betreten. Ohne ausdrückliche barönliche Genehmigung. Die Zaberger haben dieses Verbot nur allzu gerne befolgt. Sie können diese elenden Wichte nicht ausstehen, ebenso wenig wie ich. Lacio, nun, er hatte wohl irgendein gesiegeltes Pergament Seiner Hochgeboren...Zumindest hat er sich nie sonderlich um das Verbot geschert.“
„Siehst du!“
„Einmal war ich mit meinem Meister sogar dort...im Tal der Grolme..“
„Und?“
„Er widerstand hartnäckig der Versuchung, mich als Skläy zu verkaufen. Trotz ihrer Angebote.“ Praiodîns Gesicht zuckte. Er schien gerade mit unangenehmen Erinnerungen zu kämpfen.
„Skläy?“
„Ja, so nennen die Feilscher ihre Sklaven.“
„Aber das heißt, du kennst den Weg dorthin?!“
„Das ist schon Jahre her“, sagte Praiodîn dumpf. „Keine Ahnung, was genau Lacio dort wollte. Heilkräuter kaufen, vermute ich. Wenn nicht zauberische Dinge. Die kleinen Kerle sind wirklich widerlich in ihrer maßlosen Gier. Abscheulich. Gelegentlich kamen sie bis nach Zaberg, und haben dort um alles gefeilscht, was nicht niet- und nagelfest war. Sie sind Hausierer und fahrendes Volk. Nein. Unholde, Missgeburten. Praiosverfluchte Zauberwesen. Ich verstehe nicht, dass Alrik sie in seiner Baronie duldet. Je länger ich darüber nachdenke, desto dämonischer kommt mir ihr Treiben vor. Nennt man den Gegenspieler des Phex nicht sogar - den Gierigen Feilscher?“
„Nun übertreib mal nicht. Sowas hätte Baron Alrik wohl gemerkt, der alte Fuchs. Die Grolme sollen Flüchtlinge aus der tobrischen Sichel sein, die von den dunklen Horden vertrieben worden sind. Schon im Bethanierkrieg. Also unsere Verbündeten, wenn man so will…“
„Spione, meinst du wohl. Wenn nicht Saboteure.“
„Zaberg wäre nicht gerade der beste Ort, um Darpatien auszuspionieren. Mitten in der Wildnis. Und das Dorf wurde bislang vom Krieg verschont.“
„Eine Ratte beschmutzt niemals ihr eigenes Nest. Und eine götterlose Zauberkreatur ändert niemals ihr Wesen. Blendwerk hin oder her: Früher oder später zeigt dieses Natterngezücht immer seine wahre Natur. So wie vorhin in deinem Garten. Schon vergessen? Oder willst du abstreiten, dass es sich dabei um Diebstahl gehandelt hat? Nein, es handelt sich sogar um ein schweres Sakrileg…Ein heimtückischer Tempelraub…Vom heiligen Szepter des Praios ganz zu schweigen.“
„Nun, mag sein. Aber darf man von ein paar bedauerlichen Einzelfällen gleich auf das große Ganze schließen? Magie, was immer man davon hält, ist nun einmal die wahre Natur vieler Wesen. Sie gehört zur jetzigen Ordnung der Welt, ob es einem gefällt oder nicht. Ich kann gut verstehen, dass die Praioskirche Zauberei bei Menschen ablehnt. Sie ist uns nicht von Anbeginn aller Zeit in die Wiege gelegt und für manch schwache Seele zweifelsohne eine Versuchung. Aber hat Tsa nicht das Chaos der natürlichen Astralenergie in geordnete Bahnen gelenkt, als sie die Feen, Kobolde und wohl auch Grolme erschaffen hat? So etwas müsste doch ganz im Sinne der Gemeinschaft des Lichts sein. Zumindest wirkt in diesen Geschöpfen seither die Macht der Tsa, nichts Dämonisches…“
„Gefährliche Haarspalterei, ohne Beweise. Man kann aus anrüchigem Schlamm keine kostbaren Vasen töpfern…oder ein drittes Bein wachsen lassen. Keines, das die Seele eines Menschen hinauf in die Zwölfgöttlichen Paradiese trägt. Drei sind in diesem Fall zwei zuviel. Da fällt mir ein. Dieser Ring, der gestohlen wurde...Er hat geleuchtet, an der Hand des Diebs. In einem grünen Licht!“
„Ein weiteres Zeichen der Göttin !?“
„Oder noch mehr praiosverfluchte Hesinderei!“
„Wenn du dein geliebtes Sonnenszepter noch mal wiedersehen möchtest...“
„Würde ich in den gierigen Augen der Grolme viel Gold dafür bezahlen müssen. Sehr viel Gold. Das ich weder besitze noch dafür herzugeben gedenke...Diebstahl bleibt Diebstahl. Lieber spende ich die Dukaten Sankt Alboran und Gilborn, als es diesen Wasserköpfen in ihren fetten kleinen Hals zu stopfen.“
„Nun, wenn die Feilscher ein derart gutes Verhältnis zu meinem Vorgänger hatten...Vielleicht kann ich ja mit ihnen reden?“
Praiodîn sah sie nur ausdruckslos an. Ysilda hakte nach: „Du hast selbst gesagt, es war ein Einbruch, auf geweihtem Grund und Boden. Vergiss nicht, es ist deine Pflicht als Praiosgeweihter, Rechtsbrüche zu ahnden. Du, ich und mein Tempel, wir wurden bestohlen. Solange Glyrana abwesend ist, obliegt es dir als ranghöchsten Geweihten, in Zaberg das Gesetz zu vertreten. In Zaberg und um Zaberg herum.“
Praiodîn ging auf diese Schmeichelei nicht ein.
„Du brauchst mich gewiss nicht über meine Pflichten als Diener des Obersten Richters Alverans zu belehren. Wenn du das Koboldsvolk schon als Teil der göttergefälligen Weltordnung siehst, nun - die Grolme haben ihre eigene Gerichtsbarkeit, falls sie überhaupt so etwas wie Recht und Gesetz kennen. Die Vergehen bei ihnen anzuzeigen, hat Zeit, bis wieder der heilige Monat Praios angebrochen ist.“
„Dein Eifer ist wirklich bemerkenswert. Wer weiß, welchen Schaden dieser dreiste Grolmendieb mit dem Zauberring anrichten wird. In den kommenden Tagen...Oder was genau er damit plant?“
„Falls das Artefakt magisch sein sollte, muss ich es ohnehin sicherstellen und unschädlich machen“. Praiodîn zwängte sich in seine Schuhe und sah nur kurz auf.
„ Dann tu es! Oder fürchtest du dich vor der Macht der Grolme?“
Eine fette Kröte hüpfte schwerfällig über den kleinen Trampelpfad, verschwand zwischen dichten Farnen. Irgendwo in der Nähe quakte eine weitere. Praiodîn zweifelte nicht daran, dass es sich bei dem Schuppengezücht um Überreste des Krötenregens von vorgestern handelte. Natürlich, in dieser drückenden Schwüle fühlte sich das Hexengetier wohl. Der Geweihte blieb, im Schatten eines schwarzen Felsenturms stehen, und wischte sich ächzend den klebrigen Schweiß aus der Stirn.
So ähnlich stellte er sich den Regenwald vor, tief im Süden, dort, wo die götterlosen Wilden hausten. Wahrlich kein guter Tag, um zu reisen, gleich aus mehreren Gründen nicht. Verzweifelt versuchte er die allgegenwärtigen Mücken zu vertreiben. Seine Robe klebte schweißnass auf seiner Haut. Er roch unangenehm, obwohl er sich vor dem Aufbruch noch gewaschen hatte. Selbst sein eigener Körper schien Unheil ausdünsten zu wollen, wie der dumpf brütende Wald um ihn herum. Das Sonnenamulett schaukelte an seinem Hals, verhakte sich immer wieder in Zweigen. Irgendwann ließ er es entnervt unter dem Robenkragen verschwinden.
Praiodîn verlagerte das Gewicht des Rucksacks, der ihn im Rücken drückte. Über Wurzelwerk hinweg schritt er, auf einen Wanderstab gestützt, weiter, wollte den Anschluss an Ysilda nicht verlieren. Ein wenig hinkte er noch immer. Was auch daran lag, dass er das zweite Bein einfach nicht mehr gewohnt war. Nein, sein drittes Bein. Allein der Gedanke erschien ihm widernatürlich.
War es Wahnsinn oder Pflichtbewusstsein, an einem Tag wie diesen in die Wildnis hinein aufzubrechen? Oder war es in diesen Tagen bereits Wahnsinn, seine Pflicht zu erfüllen? Sie hatten nicht einmal Waffen dabei. Von der Eidechsenklinge und ihren Stecken einmal abgesehen. Schlagkräftigeres gab es im Tempel einfach nicht, und das Szepter hatte er ja verloren. Wer hier draußen unterwegs war, würde zwei einsame Wanderer gewiss nicht verschonen, nur weil sie Priester der Zwölfgötter waren. Vielleicht gerade deswegen nicht.
Ysildas Stab. Dessen Spitze zierte ein irisierendes Prisma der Tsakirche: eine weitere Provokation für den müden und ausgelaugten, aber gereizten Diener des Lichts. Wütend vertrieb er die immer aufdringlicheren Mückenschwärme, sie schienen die einzigen Tiere weit und breit zu sein. Der Wald schwieg, selbst die Bäume gaben keinen Laut von sich, von einem matten Rauschen oder gequälten Knarren einmal abgesehen. Praiodîn fühlte sich, als liefe er geradewegs in sein Verderben. Wenn er das Verderben nicht schon längst in sich trug.
Die Tsadienerin, die gemerkt hatte, dass ihr Begleiter zurückgefallen war, blieb nun stehen, drehte sich, ebenfalls mit einem kleinen Rucksack über der Schulter, um. „Geht es?“
Praiodîn sah sie strafend an, wie ein Novadi. Er wich den Regenbogenstrahlen, die von dem Glas auf ihn herab fielen, mit einer abwehrenden Handbewegung aus. „Musstest du ausgerechnet das Ding da mitnehmen?“, schnaubte er. Er wies auf das Prisma. „Schon wieder so ein Echsenzeug.“
„Ein Symbol der Jungen Göttin“, erwiderte die Schlotzerin sanft. „Es zeigt uns, wie bunt das Licht und damit unser aller Leben in Wahrheit ist. Dass man den Lauf der Dinge und damit sich selbst immer wieder aufs Neue verändern kann. “
„Sprich nicht von Wahrheit! Das reine Licht des Praios zu brechen, zu...zu...zerbrechen... ist eine Sünde. Nutzloses Spiel mit dem Inbegriff seiner Herrlichkeit.“
„Die Farben des Prismas – das sind die Farben, die wir überall um uns herum in der Natur finden. Die Farben des Lebens. Manches davon mag uns nutzlos erscheinen, vieles erleichtert uns das Dasein. Selbst wenn es uns nur Heiterkeit und Frohsinn bereitet. Jedes Spiel ist nützlich.“
„Praios Gebot befiehlt uns, uns selbst und die Welt um uns herum zu ordnen, in seinem Licht. Einmal gebrochen, kann man das Verlorene nicht mehr zurückverwandeln. Ich sehe vor allem Chaos in deiner Natur. Ablenkung von den Geboten der Unsterblichen Zwölfe. Ihr zerstört Dinge, die unwiederbringlich sind, und merkt es nicht einmal. Wir aber geleiten die Menschen auf den rechten Weg, zum Heil der Seele, in die leuchtenden Hallen seines Paradieses.“ Er blickte demütig nach oben, zur Sonne.
„Wir zerstören nur? Wer hat denn dein Bein geheilt? Überhaupt, irgendwie der falsche Zeitpunkt und Ort für eine deiner Praiostagspredigten.“
„Geheilt ist da doch etwas der falsche Ausdruck, findest du nicht?“ Praiodîn hätte beinahe eine Mücke verschluckt, wütend spuckte er den kleinen schwarzen Batzen wieder aus.
„Eine Untertreibung, ja. Oh, Praiodîn, du bist so erwachsen!“ Kopfschüttelnd schritt Ysilda wieder voran, bog einen Zweig beiseite, der um ein Haar ihrem Hintermann ins Gesicht geschnellt wäre.
Dieser beugte sich darunter weg, spähte nach links und rechts. Sie schienen sich in einer Art Schlucht zu befinden, an beiden Rändern des Blickfelds ragten große, schwarze, zerklüftete Schieferwände auf.
„Mit Heilkunst allein ist es in diesem Wald nicht getan. Wir haben nicht mal richtige Waffen, falls wir angegriffen werden.“
„Die braucht es gar nicht. In Zaberg und seiner Umgebung wirkt die Macht der Tsa, das spüre ich.“ Ysilda lächelte beglückt.
Praiodîn rümpfte die Nase, was auch an dem süßlichen Aasgeruch lag, den er nun wahrnahm. Tatsächlich, dort drüben lag eine Kröte, zerplatzt auf einem großen Schieferstein. Widerliches Gezücht. Der Kadaver schien kaum angenagt zu sein, was an dem Krötengift liegen mochte oder noch Unheilvollerem. Nur Fliegen und jede Menge Ameisen taten sich an dem grünbräunlichen Matsch gütlich.
„Ich würde es eher einen Hexenwald nennen.“
„Daran habe ich gestern auch gedacht.“
„An was?“
„Dass deine wundersame Genesung etwas mit dem Regenbogensee zu tun haben könnte. Der Heilige See der Ewigjungen im Hexenwald.“
Praiodîn schritt über morsches Geäst und trat einen gelblichen Pilz beiseite – auch wenn Praios derart emotionale, völlig sinnfreie Handlungen sicher nicht gerne sah. War seine Führerin endgültig übergeschnappt?
„Du glaubst doch nicht, dass an diesem Märchen etwas Wahres dran ist. Wenn Mond, Simiastern und Regenbogen leuchten. Eine weiße Eule, die dem Auserwählten den Weg weist. Ins verborgene Zauberreich. Eine Gutenachtgeschichte für kleine Kinder, mehr nicht.“
„Manche bringen sie mit Zaberg in Verbindung. Immerhin heißt der Wald hier Eulenkuhl. Und sie würde erklären, warum du gerade so ungemein schwungvoll durch den Wald laufen kannst.“
„Bin ich ein Regenwurm, der sich nur im Schlamm wälzen muss, damit ihm seine fehlende Hälfte wieder anwächst? Das Zeug im Tiegel war Dreck, stinkender Schlamm. Ganz bestimmt kein heiliges Wasser aus irgendeinem Jungbrunnen. Außerdem stand Grolmensalbe drauf und nicht Märchenpaste. Und das böse Ungeheuer frisst jeden, der sich Lebenswasser aus dem Tümpel mitnehmen will...“ Praiodîn blieb stehen, fletschte die Zähne und machte eine bedrohliche Geste mit beiden Händen. Wobei ihm der Stab in Buschwerk fiel. Umständlich zog er ihn wieder daraus hervor.
Ob Ysilda wollte oder nicht, sie musste lachen. Dass der junge Praiot derart...albern sein konnte. Mit der Heilung der Verstümmelung schien eine schwere Last von ihm abgefallen zu sein. Oder besser gesagt, etwas Neues angewachsen. Etwas, was sogar dem Trübsinn der Verfluchten Tage hier trotzte. Wenn sich darin nicht das Wirken des Tsa offenbarte, was dann?
„Es ist deine Heimat, Answin. Du hast weitaus länger in dieser Gegend hier gelebt als ich.“
„Nenn mich nicht Answin.“ Unwirsch verscheuchte der Geweihte eine besonders aufdringliche Stechfliege.
„Du bist hier auch auf dem Weg in deine Vergangenheit.“
„Die Grolme sind nicht meine Vergangenheit.“
„Immerhin haben sie dir dein Bein...“
„Hör auf damit!“ Praiodîn wurde laut, so laut, dass seine Stimme von den Bäumen und Felswänden widerhallte. Fast schon klang das Echo höhnisch. „Hör endlich auf! Gerade noch hast du behauptet, das hier wäre das Wirken der Tsa. Ist es das, was du willst? Mich verspotten? Oder zurück bekehren? Vergiss es. Die Tsa, die ich kennengelernt habe, ist offenbar nicht die deinige. Ich respektiere sie und deinen Glauben, aber zu mir war sie grausam. Ein überaus grausames Spiel hat sie mit mir gespielt, schlimme Dinge zugelassen. Hässliche Dinge, die ich nicht recht verstehe. Zurückgestoßen hat sie mich, als ich ihren Zuspruch am nötigsten gebraucht hätte. Leben: das hat für mich nicht mehr den munteren, sorglosen Klang wie ehedem. Ich ehre Tsa, aber ich verehre sie nicht mehr. Verstehst du? Ich will, muss einige Dinge aufklären, nur deswegen bin ich hier...“
Ysilda sah ihn lange an. Zuckte dann mit den Schultern und ging weiter den ansteigenden Weg hinauf.
Eine Zeitlang marschierten sie schweigend. Als sie anhielten, um aus den Wasserflaschen zu trinken, sah Praiodîn sie fragend an.
„Keine Widerrede ?!“
„Was erwartest du? Das hier ist kein maraskanisches Dschungellager, wo alle, kaum, dass das Feuer brennt, wild durcheinander schwatzen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sich endlos zanken und streiten und das für ein Gespräch halten. Wenn du es wirklich so siehst, vermag ich es nicht zu ändern. Es ist dein Leben. Die Pläne der Götter sind auch für mich unergründlich. Ich weiß nur, dass der Mensch niemals zweimal in den gleichen Fluss steigt. Die Vergangenheit gibt es nicht. Hat es nie gegeben. Morgen wirst du vielleicht schon wieder alles ganz anders sehen. Wie weit ist eigentlich noch bis zu diesem Grolmental?“
„Zur Störgerstiege? Bis Mittag müssten wir dort sein.“
„Sehr gut. Grolmisch essen wollte ich schon immer einmal. Was ist denn die Störgerstiege?“
„Eine überaus steile Treppe hinab ins Tal. Wo ihre Händler, Störger nennen sie die, ihre Kiepen hinauf und hinabtragen. Viel weiter sind wir damals nicht gekommen. Die Grolme wollten mich partout nicht ins Dorf lassen – und vermutlich hatten wir ja auch gar keine Erlaubnis dazu. Ebensowenig wie wir jetzt gerade, übrigens….“
Sie folgten dem Weg, der sich immer steiler nach oben schlängelte. Der lindgrüne Mischwald wich langsam Nadelbäumen, Tannen, Fichten und Kiefern. War Ysilda der Eulenkuhl bislang noch wage vertraut vorgekommen, änderte sich dies nun. Über ihnen drehte ein Adler seine Kreise, als wolle er die praiosgefälligen Lande in diesen dunklen Stunden behüten. Beinahe beneidete die Geweihte den majestätischen Vogel, der den Göttern um einiges näher war als sie. Viel zu schnell war das prachtvolle Tier wieder aus ihrem Blickwinkel verschwunden. Der wuchtige Berg dort, gen Firun, das musste der Alboranszahn sein. Bizarre Schieferformationen ragten überall zwischen den Baumreihen auf. In der Ferne waren noch die schwarzgeschuppten Dächer und hellen Fachwerkmauern von Zaberg zu erahnen. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Seine Bewohner hatten sich in ihren Höfen, hinter fest verriegelten Türen verschanzt, die zudem mit Kränzen aus Satuariensbüschen und magischen Runen geschützt waren: dem Geweih des Karnmanns, seinem unfehlbaren Pfeil oder das Gehörn des Levthan (manchmal symbolisiert durch einen echten Bocksschädel). Zwischen den Dachfirsten ragte ihr geliebter Tempel auf – zum ersten Mal seit dem Aufbruch wünschte sich Ysilda dorthin zurück.
Wie leichtsinnig, nein, verblendet sie gewesen sein musste, mirnichtsdirnichts in die Wildnis aufzubrechen. Niemand dort unten wusste, wohin sie unterwegs waren. Und Praiodîn hatte es ja gesagt: Vermutlich würden die Feilscher sie nicht einmal in ihre Siedlung lassen, geschweige denn Fragen nach einem dreistem Dieb oder wertvollem Heilschlamm beantworten. Dann mussten sie froh sein, wenn sie es noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück nach Zaberg schaffen würden.
Dennoch, hier oben wehte ein frischerer Wind als im Tal, die späte Vormittagssonne war nicht unangenehm. In der Ferne wanderten einige Steinböcke. Das Gefühl der Bedrückung schwand allmählich. Konnte es sein, das in den Bergen andere Mächte herrschten als die der Zwölfe, aber auch des Dreizehnten? Die Vertraute der Eidechse hatte gehört, dass manche Dörfler den Jahreswechsel einfach die Graunächte nannten: eine Zeit ohne die gewohnte Herrschaft und Ordnung der Götter, hart und gefahrvoll. Aber nicht überall und zwangsläufig dem Bösen geweiht. Die Wilde Jagd sollte hier draußen umgehen, sich Tore ins „Verwunschene Reich“ öffnen, an entlegenen Heiligtümern die Macht der Alten Götter erstarken. Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte...das Graue dazwischen. Dennoch, für ihre Ohren klang das ebenfalls nach Grauen.
Sie rasteten kurz und gingen dann die kleine, steinbedeckte Hochebene entlang, die jäh an einem wild zerklüfteten, steilen, mit Buschwerk und Nadelbäumen bewachsenen Abhang endete. Unten schien sich ein dichter Wald anzuschließen.
„Da wären wir auch schon: das Grolmental“, sagte Praiodîn.
„So nahe am Dorf?“
„Ja und nein. Der einzige Zugang, den ich kenne, ist noch ein ganzes Stückweit entfernt.“
Tatsächlich schlängelte sich der Pfad nun zusehends eine mächtige, dicht begrünte Bergflanke entlang. Praiodîn übernahm die Führung. Der Umstand, dass der Abgrund zu ihrer Linken zwischen all den Bäumen und Büschen nur zu erahnen war, beunruhigte sie beinahe mehr, als ein Blick in den Schlund hinein es vermocht hätte.
Zur Rechten wurde die nackte Felswand immer steiler, ein Wirrwarr aus Felsvorsprüngen, Schieferplatten, Klüften. Eine Spalte hatte sich tief in den Pfad gekerbt, vermutlich war hier im letzten Frühjahr noch ein Wildbach heruntergestürzt. Jetzt, im Sommer tropfte das Wasser nur matt zwischen feuchten, grünschwarzen, mit Moos, Ranken und Wurzeln überwucherten Felsen herunter. Ein verflucht schmaler Steg aus drei kaum behauenen Fichtenstämmchen führte über die kleine Schlucht. Diese „Brücke“ war für eindeutig für Grolmen- nicht Menschenfüße gedacht. Das Holz schien rutschig zu sein und morsch. Das Licht der Mittagssonne drang nur vereinzelt durch die Wipfel und Felsvorsprünge herab. Schweigende Schatten lauerten in der Tiefe. Der Schrund roch muffig, modrig, wie eine Gruft. Nur das Plitsch, plitsch, plitsch der Tropfen und ein leises Murmeln des Rinnsals drangen an ihr Ohr.
Der Praiot schwang sich elegant und scheinbar furchtlos hinüber, reichte ihr, die Linke in herabhängendes Wurzelwerk gekrallt, seinen Wanderstab.
„Halt dich gut daran fest.“
Ysilda zögerte. Das Durchfedern der Stämme, als der Geweihte sie betreten hatte, bereitete ihr Ungemach. Hier ging es verflucht tief runter. Und es gab kein Geländer, kein Seil, nichts. Irgendwo krächzte unheilverkündend eine Krähe.
Sie nahm ihren Prismenstab in die Linke, griff mit zitternden Knien und flauem Gefühl im Magen nach Praiodîns Stecken. Verflucht, der war mehr als einen Schritt entfernt. Ysildas Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie eine Gauklerin auf dem Seil ging sie etwas in die Knie, versuchte wackelig zu balancieren. Sie kämpfte mit dem Schwindel, dem Gleichgewicht und dem unsichtbaren Sog des Abgrunds. Am dritten Tag des Namenlosen in so einer Falle, wisperte es in ihr. Das kann nicht gut gehen.
Als hätte sie das Unglück damit selbst heraufbeschwören, hörte sie ein Klackern. Von oben regnete es Steine herab, erst muntere kleine Bröckchen, dann schwerfällig ganze Kanten. Ein Felssturz?! Ausgerechnet jetzt ??? Und hier?! Das musste doch mit dem Namenlosen...
Krackklack. KrackTARACK. Das Knistern und Krachen steigerte sich zu einem vielfältigen Dröhnen.
Mit entsetztem Blick hob Praiodîn seinen Stab, als wolle er dem herab polternden Gestein einen anderen Weg befehlen. Nun sah Ysilda, dass mindestens eine umgeknickte Tanne dabei war.
„Nein!“ hörte sie den Lichtgeber schreien. Es klang erschrocken, aber irgendwie auch gebieterisch.
Alles ging wahnsinnig schnell. Sie hatte noch nicht einmal Zeit, zu erstarren, da war schon alles geschehen. Trümmer rauschten, rutschten links und rechts an ihr vorbei, hüpften über kleine Felsvorsprünge, schauerten über ihren panisch geduckten Kopf. Das fallende Bäumchen schlug gegen den Steg, glitt nach unten. Kleine Kiesel trafen ihre Hand und die Stirn. Unten zerkrachte, splitterte Holz auf Stein, Stein auf Stein.
Tot. Tot! Sie war so gut wie tot. Mit Wucht schlug etwas Großes in das Brücklein, kollerte über den Rand. Der Steg knickte spürbar in der Mitte durch. Mit einem Aufschrei ließ sie den Prismenstab fallen, trippelte auf Praiodîn zu, der an der Felswand Schutz suchte, seinen Stab aus der Hand geschlagen bekam. Im nächsten Moment sackte der Boden einfach unter ihr weg. Ihr Rucksack verschwand mit hässlichen, wuchtigen Aufschlägen in der Tiefe.
Praiodîns Hand krallte sich im gleichen Augenblick in die ihrige. Mehr als einen Herzschlag lang wurden sie beiden nur von der dünnen Wurzel gehalten, an der sich Praiodîns Linke festklammerte. Ein schriller, panischer Schrei: Ihr eigener. Der nächste Stein streifte ihre Flanke. Ysildas Fuß fand Halt, konnte sich abstemmen. Dann zog der Geweihte sie zu sich hinauf, ins Leben, in Sicherheit, auf festen Grund. Als wäre ein Greif vom höchsten Himmel herabgestoßen und hätte sie vor dem Absturz bewahrt. Einen Moment lang lagen sich beide in den Armen. Er fühlte sich warm an, stark.
Das Getöse um sie herum verebbte. Den Kopf auf seiner Brust, vermochte sie seinen kräftig und schnell pochenden Herzschlag zu hören, der nach und nach alles andere übertönte. Sie löste sich aus der Umarmung, nicht ohne Widerwillen. Lehnte sich gegen den harten Fels, kämpfte mit den Tränen. Atmete schwer. Wischte sich etwas Blut von der Stirn. Nur eine leichte Schramme...Nicht zu glauben bei den Unmengen von Geröll. Ein paar Steinchen klickerten noch nach, dann herrschte wieder gespenstische Ruhe. Der Steg war verschwunden. Stattdessen klaffte die tiefe Spalte in der Felswand nun in ihrer ganzen Pracht. Irgendwann setzte wieder das Plitsch, plitsch, plitsch der Wassertropfen ein.
„Auf diesen Weg können wir schon mal nicht mehr zurück“, stellte Praiodîn sachlich fest. „Bist du verletzt?“
„Nein, nur ein paar Kratzer. Es ist unglaublich...eigentlich müssten wir jetzt tot sein.“ Ysilda schloss die Augen, zitterte sich den Schreck aus dem Körper. „Ich zumindest. Danke, Praiodîn.“
„Meine Freunde nennen mich Dîn...“
Ysilda lächelte keuchend, mit geschlossenen Lidern. „Ist das nicht schon wieder Blasphemie? Für deine Verhältnisse?“
„Praio wäre lästerlicher. “
Nun musste die Geweihte überdreht lachen. Sie schlug die Augen auf. Ihre Hand suchte die des Praioten. „Ysi. Ich heiße Ysi. Unglaublich. Soviel Glück kann ein Mensch doch gar nicht haben. Andererseits, mit uns sind ja gleich zwei Diener Alverans unterwegs. Gütige Herrin Tsa, ich danke dir...für dieses Wunder...Ein Wunder, ja, anders kann man es gar nicht nennen...“
Der Geweihte wischte sich schweigend etwas Schmutz aus dem Gesicht. Erst jetzt merkte er, dass er ebenfalls seinen Rucksack und die Filzkappe verloren hatte. Praiodîn faltete die Hände über den Sphärenkugeln an seinem Gürtel, murmelte inbrünstig ein Gebet.
Dann spähte er hinunter, beeilte sich aber, mit seinem Körper wieder an den Felsen zu gelangen: „Unsere Rucksäcke sind weg. Ein nettes Gastgeschenk für die Feilscher.“
„Es hätte uns schlimmer treffen können. Glaubst du, die Zehnteler haben den Steinschlag ausgelöst?“
„Sie sind keine guten Kletterer...Und warum sollten sie ihren wahrscheinlich einzigen Zugang zur Außenwelt zerstören? Ausgerechnet an dieser Stelle. Unfassbar. Wir hatten trotzdem Glück. Glück im Unglück. Und natürlich den Beistand Praios´!“
„Ebenso wie der Ewigjungen!“
„Sagtest du nicht, es wäre ihr Wald und wir wären darin sicher?“
„Ihr Wald, aber nicht ihr Fels.“
„Fängst du schon wieder an zu streiten?“
„Keineswegs.“
Vorsichtig, beinahe schon übervorsichtig tasteten sie sich den schmalen Sims entlang weiter. Das Tal lag unter ihnen, verschleiert von grünen Baumwipfeln. Der Ziegenpfad stieg mal an, fiel dann wieder ab. Endete urplötzlich an in den Fels gehauenen Treppenstufen, in Richtung Abgrund.
Ysi sah misstrauisch nach unten. Die Stufen schienen erneut nur für Grolmenfüße abgemessen zu sein.
„Haben wir ein Seil?“ fragte Dîn, mit belegter Stimme.
„Im Rucksack war eins.“
„Wenigstens behindern uns die Rucksäcke nicht mehr.“
Mit wackeligen Knien stieg die Geweihte nach unten, mit dem Gesicht zum Steilhang, immer wieder über ihre Schulter spähend. Jeden Schritt setzte sie mit Bedacht. Die Treppe hätte leicht eine Rolle in einem der Kletteralpträume spielen können, die sie von Zeit zu Zeit befielen. Zaghaft hielt sie sich an den seitlichen Felsvorsprüngen fest, die aber, bröckelig und glatt, nur trügerische Sicherheit versprachen. Bei Regennässe wäre das hier die nächste Todesfalle gewesen.
Mit jedem Absatz kehrte etwas mehr ihrer Sicherheit zurück. Praiodîn wollte folgen, aber Ysilda hielt ihn zurück. Wenn er ausrutschte, würde er sie mit sich diese Knochenbrecher-Treppe hinab fegen.
Tannen und Buchen ragten links und recht von ihr auf. Die letzten Stufen sprang sie, landete weich auf Moos, Laub und Totholz, im Halbdunkel des Waldes. Smaragdgrün, wohin das Auge blickte. Einen richtigen Weg schien es nicht zu geben. Der Boden war noch immer von Felsen durchzogen und abschüssig.
„Bin unten!“ rief sie, ihr Echo hallte matt von der schattigen Felswand wieder. Irgendwie hatte sie mit einem Empfangskomitee aus Grolmen gerechnet, aber nun fühlte sie sich, in diesem urtümlichen Tobel, allein gelassen und irgendwie einsam.
„Praiodîn?!“ rief sie halblaut, es klang fast ein wenig ängstlich. Stille.
Ein Rascheln im Gebüsch. Ysilda zuckte zusammen, als dort ein großes Rotpüschel Männchen machte. Täuschte sie sich, oder wuchs dem Tier tatsächlich eine Art Geweih zwischen den Ohren? Oder war es doch nur irgendein morscher Zweig? Eilig verschwand das Tier hinter einem umgestürzten, vermoderten, moosbedeckten Baumstamm. Irgendwo schnarrte ein Specht. Sein Hämmern, eine feiste Hummel, hie und da eine Bremse, sowie das Rauschen der Ästen boten die einzige Geräuschkulisse. Die Stille war das eigentlich Beunruhigende.
Angsthäsin, schalt sie sich. Tatsächlich war nun Praiodîn zu hören. Ein ärgerliches Keuchen, dann stolperte er nach unten, ihr geradewegs in die Arme. Nun war sie es, die den Praioten vor einem Sturz bewahrte. Sie sahen sich einen Moment durchdringend an, versicherten sich ihrer Gegenwart. Wie im Märchen von Klein-Alrik und Gritta im großen, finsteren Reichsforst...Und dennoch beschlich sie auch ein merkwürdiges Hochgefühl. Eine Ahnung von Freiheit, ausgerechnet in diesem Talkessel . Als ob eine schwere Last von ihr abfallen würde, oder eine hemmende Kruste. Zurück in der Wildnis. Der Ort des wahren Lebens.
Keine Grolme. Praidoîn sah sich um. Alle Wege schienen hier sanft nach unten zu führen, zwischen großen Bodenwellen und Felsschründen hindurch. Mit jedem Schritt kam sich Ysilda mehr wie ein Eindringling vor. Scheu blickte sie zu den Kronen hinauf, zwischen dem Ästgewirr sickerte unwirkliches Licht zum dunklen, mit Laub, Tannenzapfen, Nadeln, Totholz und Pilzen bedeckten Boden. Hie und da hing Schratmoos von den Bäumen: ein Verwunschener Wald.
Schließlich erreichten sie den Talgrund, eine große Lichtung mit einer blumengeschmückten Waldwiese. Bunte oder weißliche Pilze ragten überall im Grün von Moos und Grasmatten auf, Ysilda erkannte Schleimige Sumpfkröteriche, Pfifferlinge, Praiosschirmlinge und weiße Feenkäppchen. Sie schienen große Ringe zu bilden, die sich bis in den Wald hinein erstreckten.
In der Mitte dieser halbverborgenen Kreise glitzerte, zwischen Schilf und Binsen, ein runder, bräunlichgrüner Weiher, bedeckt mit Seerosen. Leichter Nebel waberte über dem Wasser. Dahinter, auf der anderen Seite, lauerte etwas Großes, im Schatten der Felsen.
Es dauerte einen Schreckmoment, bis sie realisierten, dass dort nur ein grob behauener Felsblock stand. Ein übermannshoher Stein in Form einer Eule, mit sichelförmigen Ohren. Ihre riesigen Augen schienen die Neuankömmlinge zu mustern. Und dabei mehr als nur ihre Leiber zu betrachten.
„Die Kuck“ hörte sie sich ehrfurchtsvoll flüstern.
„Das Hexentier“ sagte Praiodîn verächtlich. Seine Augen weiteten sich, wie bei einem Krieger, der einen alten Feind erspäht hatte. „Offenbar eine Götzenfigur…“
Ysilda trat scheu näher, blickte mal hier hin, mal dorthin. Alles kam ihr unwirklich vor, wie in einem Traum. Gepaart mit einem Gefühl der Bedrückung und leichtem Schwindel im Kopf. Der Wald schien sie regelrecht zu umzingeln. Der Regenbogensee kam ihr in den Sinn. Nur grasten hier keine Einhörner, schwirrten keine munteren Blütenfeen. Du bist hier nicht erwünscht, schien ihr die Umgebung sagen zu wollen. Du nicht, und dein praiosgefälliger Begleiter schon gleich gar nicht.
„Bist du sicher, dass das hier dieses Grolmental ist?“
„Bis zur Treppe war ich es eigentlich noch. Wer weiß, zu welchen komischen Götzen diese Wichte beten...“
Dîn ging zum Schilfgürtel, der das Gewässer einhegte. An den Rändern war es von grünlichen Wasserlinsen bedeckt. Der See schien nicht besonders groß zu sein, aber der Nebelschleier machte es irgendwie unmöglich, seine genauen Abmessungen zu schätzen. Irgendetwas stimmte hier nicht – ohne dass sie genau hätte sagen können, was sie störte. Es war…es war als ob hier etwas von der anderen Seite her am derischen Gefüge zog und zerrte, heimlich, still und leise, kaum merklich. Ohne dass sie dieses Gefühl selbst hätte genauer erklären könne.
„Seltsamer Ort, das hier...“ Ysilda zuckte zusammen, als sie erneut eine Bewegung im Wald wahrnahm. Sie schrie leise auf. Eine grünhelle, zierliche Gestalt. Eine Frau...? Beim nächsten Wimpernschlag war sie bereits verschwunden, wie ein Gespenst.
„Da war was“ hauchte sie. „Irgendjemand ist im Wald.“
Praiodîns Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm.
„Ein Grolm?“
„Eher eine Frau. Eine grüne Frau...glaube ich...“
„Noch ein wenig früh für die Geisterstunde.“
„Eine grüne Frau. Keine weiße Dame.“
Der Geweihte sah, zunehmend ungläubig, um sich. Blickte dann etwas herablassend auf seine Begleiterin. „Gewiss. Man nennt diese grünen Wesen Tannen oder Fichten.“
Die Vertraute der Eidechse ging einige Schritt auf den Wald zu. Sie fühlte sich sofort beobachtet. Ihr Herz schlug schnell, der Atem raste. Wohin waren sie hier geraten? Zwei glühende Augen bohrten sich in die ihrigen, von einem Baum herunter. Bernsteinfarbene Augen, umgeben von Schwärze. Dann lösten sie sich im Nichts auf. Ysilda fröstelte.
„Praiodîn?! Irgendetwas ist da im Wald.“
„Ein wildes Tier, vermutlich. Irgendwo müssen die Grolme doch ihr Dorf haben.“ Praiodîn ging auf die andere Seite der Lichtung. „So groß ist das Tal auch wieder nicht.“
Er schlug sich in den Wald. Ysilda überlegte, ob sie ihm folgen sollte, ärgerte sich aber zugleich, dass er ihr nicht glaubte. Und sie hier einfach stehen ließ. Nun, genau genommen stand es mit ihren Nerven wirklich gerade nicht zum Besten. Vielleicht hatte sie sich das mit der Gestalt tatsächlich nur eingebildet, der Wind irgendwelches Schratmoos bewegt. Also genoss sie den milden Sonnenschein, tat für einen Moment so, als wäre alles zum Besten. Schlenderte ein wenig auf und ab.
Schließlich ging auch sie zu dem kleinen See. Sollte sie sich dort waschen, verschwitzt wie sie war? Aber das hier war kein Badezuber in ihrem vertrauten Tempel. Das Licht, das auf ihn fiel, hatte sich irgendwie geändert, er wirkte anders als gerade eben, freundlicher, sanfter, lockender. Verlockender? Oder kam das Licht aus dem See selbst? Der Dunst war fast vollständig verschwunden. Sie sah hinein. Nein, der Teich leuchtete nicht, sondern bestand aus trübem, grünlichbraunem, leicht modrig riechendem Wasser. Mit dumpfem Glucksen stiegen in der Mitte ein paar Wasserblasen nach oben, zerplatzten. Der Nöck? Etwas von der anderen Seite? Oder doch eher verrottendes Holz und Laub am Seegrund? Libellen schwirrten zwischen den Seerosen umher, ein kleiner grüner Frosch hüpfte dumpf quakend von einem einzelnen, flachen Stein ins Wasser, verschwand pflatschend, hinterließ ein paar Wellenkreise. Nein, das hier war nicht der Regenbogensee. Zumindest nicht, wie sie ihn sich vorstellte. Ihr Spiegelbild - nur ein trüber Schemen. Ysilda schrie auf, als ein weiterer Schatten daneben trat.
„Praiodîn, hast du mich erschreckt.“
Der Geweihte zupfte sich einige Kletten aus der Robe und ein einzelnes abgebrochenes Ästchen. „Da hinten ist nichts. Nur Hangwald. Vielleicht sollten wir es doch noch mal auf der anderen Seite versuchen.“
Sie folgte ihm. Nach kurzer Zeit versperrte ihnen Dickicht den Weg.
Die ganze Szenerie hatte schon wieder etwas Abweisendes.
„Ysilda?“
„Ja?“
„Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Praiodîn stemmte die Arme in die Seite.
Der Praiot ging wieder zu der Stelle zurück, wo er seine Erkundung begonnen hatte. Rümpfte die Nase.
„Riechst du das?“ Er folgte dem Pfad, den er selbst über Farne und Zweige hinweg ins Unterholz getrampelt hatte und schnupperte erneut. Dann nickte er aufgeregt. „Genau. Rauch!“
Ysilda ging hinterher. Nach einer Weile nahm auch sie den beißenden Geruch eines Herdfeuers wahr.
Dennoch, zu sehen war nichts außer dem Grün des Eulenwaldes.
Praiodîn erhob seine Hände zum Himmel.
„Herr Praios, ich bitte dich, steh uns bei gegen dieses Blendwerk, das deiner Allmacht Hohn spricht und der Weisheit deiner Ordnung lästert.“ Mit loderndem Blick sah er sich um. Auch Ysilda hatte nun das Gefühl, dass der Wald etwas vor ihren Augen verbarg. Nein, nicht der Wald. Es war etwas in ihrem Kopf, dass sie blendete, die Wahrheit nicht sehen ließ, davon war sie nun überzeugt. Ein Schleier vor ihren Augen. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, mit einem Stoßgebet an die Junge Göttin.
Die Luft zwischen den Baumstämmen begann zu wabern und zu flimmern, so schien es.
Im nächsten Moment schien etwas mit dem Wald zu geschehen. Oder etwas in Ysildas Kopf. Oder beides. Langsam tauchten Konturen aus dem Wirrwarr des Waldes auf, die vorher einfach nicht da gewesen waren. Wie ein verborgenes Muster im Chaos. Ein kleiner Graben mit Erdwall. Darauf Palisaden. Kaum mannshoch. Ein Holztor war weit geöffnet. Dahinter waren merkwürdige, begrünte Erhebungen auszumachen, sowie eine Art von Schornsteinen, aus denen es tatsächlich qualmte. Es war völlig ausgeschlossen, dass ihnen dieser Anblick gerade eben irgendwie entgangen sein konnte. Also doch Zauberei. Ein übler Geruch trat in ihre Nase. Gefolgt von einem wütenden Knurren und Lispeln.
Rotpelzige Gestalten stapften neben, hinter ihnen aus dem Wald. Goblins, sicher ein Dutzend. Geduckte, struppige Gestalten, mit schlichten Lederkappen und erdverschmierten Tunikas. Sie hielten schwere Knüppeln, Forken, Sensen und Sicheln in Händen. Zusammen mit den krummen Hauern in ihren rostbraunen Affengesichtern schien das ihre einzige Bewaffnung zu sein.
Irgendwie stierten die Rotpelze noch stumpfer drein als sonst, ihr Blick war merkwürdig leer, noch nicht einmal äffisch. Die Goblins wirkten eher wie Bauern als die Banditen, die man in dieser Gegend nur all zu gut kannte. Oder wie Zombies? Um ihren Hals trugen sie schwere Lederkrägen mit Eisenringen, wohl um sie jederzeit an die Leine legen zu können. Es schien sich um Unfreie zu handeln. Knechte. Dennoch verspürte Ysilda Angst. Die schlenkernden Arme der Rotpelze waren überaus kräftig.
„Sklaven“, sprach Praiodîn den Gedanken laut aus. „Das sind Skläys.“
Wütende Goblinlaute antworteten ihm.
Die Stinker drängten sie, wie bei einer Treibjagd, aber mehr mit Gesten und Knurren als mit den Waffen, in Richtung Wall. Hinein durch das offene Tor.
„Ich denke, wir sollten der Einladung erst einmal Folge leisten“, sagte Ysilda.
Sie traten mit dem Rücken zum Dorf ein, ohne die Goblins aus den Augen zu lassen. Auf eine freie Fläche zwischen den Bäumen und Häuschen. Alles war von seinen Abmessungen her deutlich kleiner geraten als in Zaberg, bestenfalls halbhoch. Langsam erkannten sie die Umrisse des Dörfchens. Erdhütten, die in Bodenwellen versunken zu sein schienen. Grasbewachsene Dächer. Kleine, blumengeschmückte Fenster, Türen, steinerne, efeugeschmückte Fassaden und Giebel, Kamine. Freistehende Blockhäuschen schienen Ställe für Kleinvieh zu sein. Ysilda war ratlos. Es war keine einzige Menschen- oder Grolmenseele zu sehen. Die Goblins deuteten auf einen gemauerten Brunnen. Das Ziel der Reise? Tatsächlich, hier führte eine Strickleiter in die Tiefe.
Die Rotpelze verharrten respektvoll in einigen Schritt Entfernung. Wiesen mit ihren schlichten Waffen auf die Leiter. Schienen sich mehr vor dem zu fürchten, was im Boden versteckt war, als vor den beiden Menschen.
„Ich glaube, wir sollen da hinunter“, meinte Praiodîn.
„Und, wollen wir das?“
„Nun, du hattest das Bedürfnis, unbedingt diese verfluchten Zauberkreaturen aufzusuchen. Und so wie es aussieht, haben wir ohnehin keine andere Wahl.“
Praiodîn stieg mutig in die Tiefe. Hinein in den engen, gemauerten Brunnenschacht. Die Strickleiter schaukelte wild. Keine große Handwerkskunst, aber stabil. Einigermaßen.
Es ging verblüffend (und beunruhigend) weit nach unten, in der Tiefe glänzte Wasser. Es roch brackig. Vor ihm öffnete sich eine Art gemauerter Türbogen, dessen Scheitelpunkt eine stilisierte Eule zierte. Ein dunkel angerostetes Gittertürchen schwang quietschend nach innen. Aus der Öffnung drang blaugrünliches Schummerlicht.
Ein kurzer Gang, von Grolmenhöhe. Praiodîn kroch mit eingezogenem Kopf hinein. Wurzeln strichen ihm übers Gesicht. Die Krabbelei endete an einem schweren Vorhang. Der Geweihte hatte mit einer besseren Erdhöhle gerechnet, aber was er nun sah, war eine geräumige Audienzhalle, die hier einfach im Boden versunken zu sein schien. Die Decke war aus Stein gemauert, ebenso die Seitenwände. Hölzerne Balken stützten das Gewölbe ab. In Rommilys wäre das bereits als Weinkeller eines Patriziers durchgegangen.
In kostbaren Schalen, auf Dreibeinen, leuchteten Gwen Petryl-Steine. An der Wand flackerten Fackeln. Die Luft roch muffig und nach verbranntem Pech, aber nach der Schwüle des Tages war die Kühle hier unten keinesfalls unangenehm. Er erblickte einen gemauerten Kamin, prunkvolle Wandbehänge (unter anderem mit dem darpatischen Ochsenwappen), Ölgemälde, eine Ritterrüstung, bunte Heiligenfiguren der Travia sowie der Peraine, einen Gong, silberne Kandelaber ohne Kerzen, Truhen mit wertvollen Intarsien, Schränke, Regale voll Weinflaschen, Phiolen und Folianten, Jagdtrophäen, gekreuzte Waffen und Schilde. Der Keller sah aus wie der Empfangssaal eines Großfürsten, wenn auch ohne erkennbaren Stil und Geschmack. Mit einem Wort: protzig. Als Mensch konnte er hier unten einigermaßen bequem stehen, für einen Grolm musste die Halle eine beeindruckende Größe haben.
Erst jetzt sah er die Ausgänge und Treppenaufgänge, die seitlich wegführten, vermutlich in Richtung der Hütten. Das hier schien der zentrale Versammlungsort der Feilscher zu sein. Auf der Stirnseite stand tatsächlich eine Art Thron: ein weinrot gepolsterter Salonstuhl almadanischer oder liebfelder Machart. Allerdings war der Stoffbezug fleckig und hier und da sogar aufgeplatzt. Die Wände entlang huschten Mäuse, ebenso auf den Regalen.
Ysi krabbelte herein und sah sich ebenfalls staunend um. „Ziemlich vornehm eingerichtet, für so einen Eichhörnchenkobel.“
Zarte, trappelnde Fußschritte waren zu hören. In den Seitengängen, von den Treppchen her, war nun Bewegung auszumachen. Schatten wanderten über die Wände. Die ersten Gnome huschten in den Saal: Runzelgesichter mit viel zu großen, eisenverstärkten Lederhelmen, fein ziselierten Kurbulen und Armbrüsten. Statt Schwertern hingen Dolche an ihren eisenbeschlagenen Gürteln. Die Schusswaffen sahen durchaus gefährlich aus, auch wenn sie „oben“, in der Menschenwelt, kaum als Balestrinas durchgegangen wären. Die Wachen verteilten sich, mit aufgeregten Klick- und Schnalzlauten. Es waren mindestens ein halbes Dutzend Grolmenkrieger.
In den „Bau“ kam Bewegung. Immer mehr Grolme tauchten auf. Ihre Gewandung bestand aus einer bunten Imitation menschlicher Kleider, wenn auch um einige Größen kleiner als gewohnt. Die Gürtelschnallen waren auffallend prachtvoll geraten, mit Ziselierungen und verschlungenen Ornamenten. Überall tauchten nun verkniffene, viel zu große Greisengesichter auf, spitze Ohren, zu Berge stehende Haare. Große, rötliche, schwarze, blaue, graue oder bernsteinfarbene Augen starrten die Menschen an. Augen, die irgendwie an die Kuck erinnerten. Schwer zu sagen, wer Männlein, wer Weiblein war. Ysilda musterte die Kleinen ohne Scheu. Sie hatte sie sich wie hässliche, wasserköpfige Missgeburten vorgestellt. Aber die Grolme, die sie hier sah, besaßen eine fremdartige Eleganz. Wirkten mit ihren schlaksigen Körpern, erschrockenen Katzenblicken und langen Fingern fast schon zerbrechlich, ja, schutzbedürftig. Praiodîn sah nicht so angetan aus, er rang sichtlich um Fassung.
„Seid willkommen nicht geheißen.“
Ein kahlköpfiger Kindgreis hatte die Worte gesprochen, der in eine rote Miniaturschaube gekleidet war. Huldvoll seine Untertanen grüßend, setzte er sich, um Würde bemüht, auf den Thron. Er hielt ein mit bunten Bändern geschmücktes Szepter in Händen, dessen Spitze eine holzgeschnitzte Eule zierte. Auf seinem mächtigen Haupt ruhte ein goldener Reif, besetzt mit vier Perlen. Eine Edlenkrone?
„Mein Name Zackparak sein. Klk.“ Die übergroßen Katzenaugen des Feilschers musterte erst den Praiosgeweihten, dann Ysilda. Seine Stimme klang merkwürdig hell, klickend und schnalzend. „Mensch sagen Zackparak Wulfenohr. Häuptling von Dorf Grolmorolidrindrom. Tsch´a. “ Tatsächlich, die langen, spitzen Ohren, die silbernen, buschigen Augenbrauen ließen ihn entfernt wölfisch aussehen. Ebenso das maliziöse Lächeln.
Sein langer, dürrer Finger ruckte vor. „Hier willkommen nur sein, wer guten Handel bringt. Gnädig wir sein. Versuchen wir wollen. Schönes Gewand trägst du, Menschling. Tsch´a. Du verkaufst? Für, wir sagen, sechs Taler? Klk.“
„Das Heilige Gewand des Praios ist unverkäuflich“, entgegnete Praiodîn kühl.
„Sieben Silbertaler?“
„Nein. Hört zu, Häuptling…“
„Acht Silberstück. Klk. Mein letztes Gebot. Kugeln niemals echt Gold sein.“
„Gewiss, sie sind aus echtem Gold und weit mehr als das.“ Praiodîn schnaubte. „Beuge dich vor Praios und dem Gesetz, oder lerne seine Macht fürchten, Schultheiß, Häuptling, oder wie immer du dich nennen magst. Mein Name sein…“ Der Geweihte räusperte sich. „Mein Name ist Praiodîn Xerber, Donator Lumini der Heiligen Gemeinschaft des Lichts, der Kirche unseres aller Götterfürsten Praios. Neben mir steht Ihre Gnaden Ysilda von Schlotz, Tsageweihte aus Zaberg. Wir sind nicht hierhergekommen, um irgendwelche Kuhhandel mit Euch abzuschließen. Sondern um Beschwerde zu führen. Der Tempel zu Zaberg wurde bestohlen. Wir haben leider Grund zu der Annahme, dass einer der Dorfbewohner hier …der Dieb ist.“
„Welches Recht Ihr habt hier zu sein? Freibrief man braucht. Mit Siegel von Baron und Zeichen von Zackparak Wulfenohr.“ Tatsächlich baumelte um den Hals des Grolms ein großer Siegelstempel. „Vierzig Goldstück kostet. Klk.“
„Vierzig Dukaten? Lächerlich. Soviel Gold haben wir gar nicht. Wie gesagt, wir sind nicht zum Handeln hierhergekommen, sondern…“
„Vierzig Dukat“. Der dünne Finger des Häuptlings ruckte erneut vor. „Für jeden.“
„Das wäre ja Wucher. Aber was erwarte ich anderes von Koboldsvolk? Hört zu, Häuptling. Ein Grolm hat dem Tsatempel einen wertvollen, silbernen Ring gestohlen, und mir wurde ein geweihtes Sonnenszepter entwendet. Bislang wusste ich nur, dass man Euresgleichen Feilscher und Zehnteler nennt. Aber wenn ich es recht betrachte, müsste es eher - Langfinger heißen.“
„Ja. Wir geahnt, dass Großling kommen werd.“ Zackparak griff an seinen breiten Gürtel, öffnete die Riemenschnallen einer Tasche, und zog ihn beiläufig und scheinbar gleichmütig hervor: den Ring. Der Onyxstein schimmerte grünlich im Widerschein der Leuchtsteine, so schien es zumindest. Dann schnippte der Häuptling mit den Fingern. Der gelbe Gnom, den Praiodîn nur zu gut kannte, huschte herbei, das Sonnenszepter in Händen. Hämisch blickte er in Richtung der Neuankömmlinge. Seine gelblichen Finger glitten versonnen über Schaft und Sonnenscheibe. Die Augen funkelten gehässig. Praiodîn wollte bereits sich auf den kleinen Gnom stürzten, aber Ysilda hielt ihn mit Nachdruck zurück. Ihre Hand krallte sich in seine Robe.
„Das hier ist ihr Tal, vergesst das nicht!“ flüsterte sie ihm ins Ohr. „Sie sind in der Überzahl, außerdem, denkt an die Goblins. Wir sollten uns einstweilen aufs Verhandeln…“
„Die Heilige Gemeinschaft des Lichts verhandelt und feilscht nicht. Schon gar nicht mit frevlerischen Zauberkreaturen, wie ihr es seid. Niemals. Nur bei vollkommener, sofortiger Unterwerfung unter das Gesetz des Praios bin ich vielleicht noch zur Milde bereit. Händigt mir unverzüglich mein Szepter aus, beim reinigenden Licht des Königs von Alveran! “
„Warum?“ Zackparak lächelt gleisnerisch und wies mit dem Eulenstab auf seinen Untertanen. „Eure Keule auf armen Bohk geworfen Ihr habt. Klak. Man etwas weg nur wirft, das nicht mehr haben man möcht!“
„Erspart mir derartige phexische Sophistereien. Das hier, das ist keine Keule. Sondern eine geheiligte Waffe des Praios. Ein Sonnenszepter. Mein Sonnenszepter. Allein die Empörung ob des frevlerischen Diebstahls trieb mich zu meiner Tat! Die unbesonnen war und voreilig, das gebe ich zu.“
„Diebe selbst hart wir bestrafen. Tscha. Bohk gesagt, kein Dieb er ist. In Zaberg er war, den Ring im Garten gefunden er hat …Kl´k.“
„Am ersten Tag des Namenlosen schleicht dein…dein Untergebener also mal eben so im Dorf der Menschen umher. Um dort lange Finger zu machen?“
„Kräuter gesammelt er hat. Klak.“
„Im...Dorf? Das kann er seiner Großmutter erzählen.“
„Der beste Ort, Kraut zu sammeln und beste Zeit. Sie überall dort …Gute Heilkraut es sein…Ihr sie nennt: Tarnel, Vierblatt, Wirsel, Satuarsbeer. Klk.“
Praiodîn wechselte Blicke mit der Tsageweihten.
„Ihr meint doch nicht etwa - die Kränze an den Haustüren?“ fragte Ysilda.
„Doch, die meinen. Heilkraut jedem gehören, der guten Gebrauch macht. Überaus wertvoll für Salben und Trank sein. Tsch´k. Schlechter Gebrauch sein, einfach verrotten lassen. Wie Großling zwischen dem Jahr es tun. Klk.“
„Sie dienen nach dem Glauben der Menschen zur Abwehr des Bösen. Das Böse, das in den fünf Namenlosen Tagen die Macht ergreift.“
„Gut. Dann entweder nicht bös es war, Heilkraut zu sammeln. Oder aber sie gegen Bös nutzlos sein. Und stehlen man nur kann, was im Haus sein. Klk. Nicht was draußen vor Tür…“
„Der Ring hing aber nicht draußen am Tempeltor“, sagte Ysilda.
„Noch neu in Zaberg du bist, nicht wahr, Dienerin der großen Eidechs-Pakatai? Tschk.“
„J-ja.“
„Dann nicht wissen du kannst, dass der Ring uns gehört. Wenn Bohk wirklich Dieb sein, auch die Salb mitgenommen er hätt …Kl´k.“
„Was ist das für eine Salbe?“ Ysildas Kopf ruckte vor.
„Sehr neugierig du bist. Nicht einmal das Recht du hast, hier zu sein, in Tal. Tschak.“
„Diese Salbe…ist ein überaus machtvolles Heilmittel, nicht wahr? Ich muss wissen, woher ihr sie habt…“
„Klak. Wenn Antwort ich dir geb, was du mir dafür gibst?“
„Es ist nur eine simple Frage…Bedenkt. Man könnte damit vielleicht Hunderten gutherzigen Kreaturen das Leben retten. “
Das Eulenszepter wies nun auf Ysilda.
„Vergiss nicht: Feilscher fragst du, der klein ist, aber gierig. Anders als euch Großling uns nicht ganz Welt da oben gehört. Tscha. Kleiner Grolm sehen muss, wo bleibt.“
Ysilda tastete nach ihrem Dukatenbeutel. Zog einen Silbertaler hervor und drückte ihn dem Grolm in die Hand. Sie fühlte sich weich an, knittrig und irgendwie alt.
Zackparak verzog sein leichenblasses Greisen-Gesicht, nachdem er das Geschenk kurz gemustert hatte „Glaubst du, Skläy ich bin, der um Heller und Kreuzer feilscht? Bettler ihr nennt. Sie euren Geist verwirren. Mitleid oder schlecht Gewissen ihr nennt. Mitleid machen Mensch verrückt. Klk.“ Er bohrte sich den Finger in die Schläfe des kahlen, viel zu großen Kopfs. „Dein Münze du behältst, Großlingfrau. Ein alter Gratenfels Greifax-Taler, höchstens fünf Heller wert ist. Klak.“ Er warf ihn wieder zurück. Die Geweihte fing das Geldstück auf.
„Ein Silbertaler ist ein Silbertaler.“ Ysilda wog die abgegriffene Münze in ihrer Hand. Sie glaubte, ein Turmwappen in dem schwärzlich angelaufenen Silber zu erahnen.
„Du siehst. Allen Dingen den Wert wir geben, mit Handel. Erst durch gut Geschäft alles Sinn bekommt. Und was der Dank ist? Klk. Ihr uns veracht. Mit jedem Geschäft kannst machen, nur mit Zehnteler nicht. So man bei Großling sagt, nicht wahr? Sie dir einen Dukaten für zwei verkauf. Nein. Du fünf Heller für zehn geben mir willst. Ist nur schlecht Gratenfels Gießmünz. Nur gut für gierige Zwerge. Ich nicht haben will. Klk…Schlechter Handel für Grolm, keine Ehre er bringt.“
„Was wollt Ihr denn dann?“ Ysilda steckte die Münze wieder ein. „Den Ring?“
„Der Ring uns gehört …seit langer Zeit uns schon gehört.“
„Gehört er selbstverständlich nicht“, ging der Praiosgeweihte dazwischen. „Das wäre ja noch schöner. Ich warne dich zum letzten Mal, Wasserkopf. Ich muss wohl euren momentanen Aufenthalt in dieser Baronie akzeptieren, so schwer es mir fällt. Aber das heißt nicht, dass deine Räuberhöhle hier unten ein rechtsfreier Raum ist. Stell meine Geduld also nicht auf eine zu harte Probe!“
„Nun gut. Eine alte Geschichte. Wegen See Bruder Lazioh ins Dorf gekommen ist. Wasser des Lebens gewollt er hat, für Heilen von sich und andere Großling. Wie Du, Schwester der Eidechs. Genau wie Du. Zu Zeit, als noch jung Grolm ich war, Lazioh bei uns war. Mehr als einmal. Viele Male. Baden er durft, viel baden. Für wenig Gold. Weise Frauen gewarnt ihn haben: Kein Wasser in Krug mitnehmen er darf. Wegen Zorn der Pakatai verboten es ist. Tsch´k. Nur Schlamm wir ihm gegeben haben, einen ganzen Topf. Sonst Fluch von Geister. Böser Fluch.“
„Ist das Zeug im Topf…magisch?“ wollte Praiodîn wissen.
„Kein Zeug. Schlamm aus dem Spiegel der Satu“, sagte der Häuptling, um Gleichmut bemüht.
„Dem Spiegel der Satu?“
„Alter Nam für unser See. Sehr alter Nam.“
„Was ist das für… ein Hexenteich?“ fragte Praiodîn, mit herrischer Inquisitorenmiene.
Zackparak stockte kurz, seine Augen irrten umher, als suchten sie Beistand. Er klickte und schnalzte aufgeregt in Grolmensprache.
„Heraus damit? Was hat es mit diesem Tümpel auf sich?“
„Tor für Pakatai ist“ sagte Zackparak leise. „ Für Geister aus andere Welt.“
Ysilda spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam und eine Art Schauer sie warm und kalt zugleich durchzuckte.
„Also ist der See da draußen wirklich der Regenbogenteich?“ fragte sie.
„So Hexen des Tals ihn nennen, klk.“
„Was denn für Hexen?“ grollte Praiodîn. „Das wird ja immer besser. Nun beherbergt Ihr also auch noch Levthansbuhlen? Ich nehme an, die Zauberweiber haben nicht beim Herrn Baron um Erlaubnis nachgefragt, sich hier anzusiedeln. Hoffe ich zumindest, für Seine Hochgeboren. Sonst wird das auch für ihn ernste Konsequenzen haben. Äußerst ernste Konsequenzen, bei der Heiligen Lechmin von Weiseprein“
„Frauen der Großling Fest hier feiern. Jeden Sommer. Länger, als unser Dorf es gibt. Sehr viel länger. Eigen Handel mit Grolmenvolk sie haben. Guten Handel. Klk.“
Der Lichtgeber schien diese Neuigkeit erst einmal verdauen zu müssen. „Frevel“, stöhnte er fassungslos. „Nichts als Praioslästerei. Ich habe von Anfang an geahnt, dass dieser Ort verflucht und voller Hexenzauberei und Blendwerk ist.“
„Natürlich ist es ein magischer Ort, das war nie ein Geheimnis“. Ysilda hob beschwichtigend die Hand. „Was bewirken die Geister im See?“
Zackparak lächelte. „Wünsche der Sterblichen sie erfüllen. Wünsch, die ausgesprochen, und Wünsche, die nicht gesprochen werden. Die tief in Seel verborgen sind. So tief wie der See. Ein Spiegel von Anderwelt, wie unsere weis Frauen sagen. Ein Spiegel der Seel, ja, das er ist, der See…Heilig er ist. Pakatai bringen unsere Wünsch in Anderwelt. Und Macht der Anderwelt in unser Welt kommt. Tor in den Tagen sich öffnet, wo Jahr wechselt. Nur ein klein Spalt, aber ein Spalt. Wer zuviel sich wünscht, dessen Seel dazwischen bleibt. Für immer.“
„Ich dachte, der Regenbogensee gibt verlorene Jugend, Lebenskraft und Schönheit zurück.“
„Das der häufigste Wunsch von Hexen sein“, sagte der Häuptling. Seine dicklichen Lippen formten erneut ein Lächeln. „Und der Grund ist, warum Grolmenvolk hier her gekommen ist.“
„Um das ewige Leben zu erlangen? Ihr nutzt also selbst die Macht dieses…dieses Wünsche erfüllenden Spiegelsees?“
„Ein kleines Bad zum Jahresende, was dabei ist? Und wer schon seine wahren Wünsche kennt? Wir sogar Heiligen Schlamm mit Großling teilen. Und was Lazioh uns gegeben hat, zum Dank?“ Der Grolm schnippte mit den Fingern.
„Nichts. Gierig er war. Gierig und geizig. Versucht er hat, uns zu Glaub an sein Pakatai zu bekehren. Diese T´saa.“ Zackparak schnalzte den Namen verächtlich heraus. „Kein Gold mehr gehabt er hat. Aber schöner Ring an seiner Hand hat geleucht. Für Schlamm nicht geben er wollt. Zornig er geworden ist. Verrückt geworden. Gesagt, Regenbogen-See von Tsa und gehören nur Diener der Tsa. Beten zu Pakatai Tsa wir müssen, sonst wir in See nicht baden dürfen. Verrückt er war. Klk. “
„Das Geschenk dieser Tsa, wie Ihr sie nennt, ist niemals nur Nichts. Es ist das Wertvollste und Teuerste, was es gibt. Das Leben selbst ist wunderbarer als jeder derische Reichtum.“ Ysilda strich wütend eine Strähne zurück, die ihr in die Stirn gefallen war. „Ihr seid kurzlebiger als wir, nicht wahr? Er hätte Euch einen göttergefälligen Weg aufzeigen können, Euer Dasein auf Dere zu verlängern. Und Euer Seelenheil in der nächsten Welt zu retten…“
„Spart die Worte. Glauben mir. Lazioh hat geschenkt sehr viel. Viel Wort. Gestohlen den Schlamm er hat, für nichts als Worte. Sein Pakatai geholfen ihm hat….Verschwunden er ist, wie Geist. Was kleine Grolme sollen tun. Früher immer Krieg, immer Flucht. Keinen Streit mit Baron und Großlingvolk wir wollen. Wollen Frieden und Zuflucht. Wissen, dass Lazioh Vater war von Baron. Wissen, dass der Schlamm im Tal nur hilft. Draußen nur in der Zeit zwischen Jahren. Danach alle Wünsche wieder vergehen…wie Schlamm in der Hand zerrinnt…durch die Finger fließt…“
Praiodîn schluckte. Hatte er das Kauderwelsch des Grolmenhäuptlings gerade richtig verstanden? Verstohlen langte er sich ans neue Bein. Es bestand eindeutig aus Fleisch und Blut. Bedeuteten die Worte des Grolms, dass er damit nur auf Zeit über Dere und Feste wandelte? Er spürte so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. Im Praiosmond, im machtvollen Schein des Praios, in der Welt der Rechtgläubigen, würde die gewohnte derischer Ordnung also wieder die Oberhand erlangen?
Natürlich würde sie das. Eigentlich…schade. Aber gerecht. Gerecht all den Frommen und Götterfürchtigen gegenüber, die sich nicht mit irgendwelchem namenlosen Dämonendreck, irgendeneinem stinkenden Zauberkot von jenseits der Sphären einrieben, um ihre Gebrechen zu heilen.
Einige Herzschläge lang spürte er nackte Angst in sich aufsteigen. Auf welche groteske Art würde das verfluchte Bein verschwinden? Langsam verkümmern, wieder schrumpfen, sich in Nebel auflösen? Oder abfallen? In Windeseile verwesen und verfaulen, wie diese Söldlinge auf dem Friedstein? Würde es - schmerzhaft werden? Einen Moment lang peinigte ihn der Gedanke an damals, an den krachenden, splitternden Knochen, die Schärfe des Stahls, klaffendes Fleisch, dunkel hervor schwallendes Blut. Egal, er hatte Strafe und Sühne verdient. Hauptsache, er wurde diese wahrhaft niederhöllische, verzauberte und verfluchte Extremität wieder los. So schnell wie möglich.
Er rieb sich über das Kinn. Ihm fiel etwas anderes ein.
„Soso. Wenn die Wirkung der sogenannten Heilsalbe also an einen ganz bestimmten Ort gebunden ist: Dann wolltet Ihr den Geweihten also schamlos betrügen? Ihm etwas verkaufen, was für ihn völlig nutzlos war? Jedenfalls mit einer Wirkung, die nicht von Dauer ist? Her mit dem Ring, er gehört Euch nicht!“
„Er den Schlamm unbedingt haben wollt.“ Der Grolmenhäuptling wirkte für einen Moment wie ein trotziges Kind, seine Faust schloss sich um das Artefakt und zog sich zurück. „Vater von Alrik sagen, dass See von großer Tsa, nicht wir. Klk.“
„Moment. Ihr wisst also, dass Lacertinus der Großvater des wahren Baroniererben war? Also habt Ihr den kleinen Solalin entführt und durch ein Grolmenkind ersetzt?“ Die Worte brachen geradezu aus Ysilda heraus. „Aus Rache? Zur Strafe, dass Lacertinus nichts für die Grolmensalbe bezahlt hat?“
„Was reden? Beschuldigung, nichts als unhöflich Beschuldigung. Sehr unhöflich und laut ihr seid, wie alle Großling und Zwerg. Zuviel ihr fragt und schon zu viel Antwort erhalten ihr habt. Nein, nur ungebetene Gäst ihr seid.“ Zackparak hob gebieterisch das Szepter. „Störenfried und Eindringling auf heilig Grund. Ein jeder jetzt sechzig Golddukat uns schuld. Zahlen Ihr könnt?“
„Was soll das? Das ist lächerlich. Natürlich werden wir einen derartigen Wucherpreis nicht…“
„Schlecht für euch. Dann Schuld mit Arbeit bezahlen ihr werd. Arbeit für Grolme. Klack.“ Zackparak klatschte in die Hände. Erst jetzt sah Ysilda, dass die übrigen Dorfbewohner näher gekommen waren. Ihre Augen leuchteten zornig. Ein herrischer Wink mit dem Eulenstab. Die Feilscher begannen sich feierlich an den Händen zu fassen – und die beiden Menschen zu umkreisen.
Zackparaks Lächeln wurde dünner und dünner. Gleichzeitig setzte ein monotoner, klickender, schnalzender Singsang der Grolme ein. Der Geweihte wollte einen Schritt auf den Häuptling zutreten, wurde aber von den anderen Grolmen abgedrängt. Diese begannen die beiden Menschen zu umtanzen, wie bei einem kindlichen Ringelreigen. Die fremdartigen Töne, die sie dabei von sich gaben, wirkten aber alles andere als wie Kindergesang. Es klang drängend, fordernd, nein, sogar beherrschend, als wollten sie mit ihren Lauten tumbe Pferde antreiben.
Ysilda wandte sich instinktiv zum Ausgang – und prallte plötzlich wie gegen eine unsichtbare Wand. Mit merkwürdig leerem Blick drehte sie sich um, so, als müsste sie angestrengt nachdenken. „Praiodîn?“ fragte sie verwirrt. „Was geschieht…“ Ächzend sank sie in die Knie. Der junge Priester eilte auf sie zu, fing sie auf. Mit verdrehten Augen starrte die junge Geweihte ihn an, gelegentlich durcheilte ein Zucken ihren Körper, Schaum trat auf ihre Lippen.
Plötzlich riss sie die Augen auf – ein dünner Blutfaden rann aus ihrer Nase.
„Ysilda!“ rief der Prieser, rüttelte seine Weggefährtin an der Schulter. Aber ihr Blick war nicht klar.
Die Grolme setzten, klickend, schnalzend, den Ringelreigen um die beiden fort. Immer schneller schienen sie sich zu drehen, die Gesichter begannen zu verwirbeln, immer fremdartiger wurden ihre Laute, schienen aus einer fernen und fremden, einer anderen Welt herüber an Praiodîns Ohr zu dringen. Der Geweihte spürte, wie aus diesem Außerhalb etwas in seinen Kopf, nein, in sein Innerstes drang, und dort die Herrschaft zu übernehmen versuchte.
Ein goldenes, in sich verdrehtes Horn zuckte herab…Zweige, die sich im Mondschein bewegten, gleich den Fingern von Riesen…Blut rann über dunklen Stein…Oder war es das Blut in Ysildas Gesicht? Ein Schrei, schrill, hell, klagend. Ein verwundetes Tier? Oder ein Kind? Er selbst? Irgendetwas erwachte, in seinem Innersten, das konnte er spüren.
Nein, es waren die Grolme, die schrien. Sie ließen ihre Hände los, mit Entsetzen in ihren viel zu großen Mondgesichtern. Prallten vor dem Geweihten zurück, als hätten sie den Tod ins Antlitz gesehen. Praiodin schüttelte das Traumbild ab, spürte, wie sich sein Geist klärte. Bislang war er geduldig gewesen. Viel zu geduldig, beim Obersten Richter Alverans. Aber nun waren die kleinen Missgeburten zu weit gegangen: Sie hatten Ysilda bezaubert und versucht ihn zu behexen, ihn, einem geweihten Lichtgeber der Praioskirche.
„Im Namen des Heiligen Alboran! Jetzt reicht´s mir aber! Schluss mit dem niederhöllischen Getanze!“ Praiodin stürmte durch den sich auflösenden Tanzkreis, auf den Thron zu, ohne auf die kleinen Armbrustbolzen zu achten, der an ihm vorbeischwirrten. Das hieß, ein Pfeil verfing sich in seiner flatternden Robe, das andere Geschoss streckte einen fliehenden Grolm nieder, der zappelnd und wehklagend liegen blieb. Die Furcht um ihn herum wurde zur wilden Panik. Hier fiel eine Schale mit Gwen Petryl-Steinen um, dort wurde ein Gobelin von der Wand gerissen. Die Grolme rannten auf die Ausgänge zu, und begannen sie dadurch zu verstopfen. Die Wachen scharten sich um ihren Häuptling, kurze Schwerter in ihren Fäusten.
Bohk, der Langfinger, lief ebenfalls davon, stolperte dabei aber über den niedergeschossenen Zehnteler. Praiodîn packte ihn am Schlaffittchen, hob ihn hoch. Angstvoll zappelnd versuchte sich der gelbe Zwerg zu befreien, holte mit dem Streitkolben aus. Mit einem einzigen wütenden Griff brach ihm Praiodîn das Handgelenk. Der Grolm schrie wie am Spieß. Das Sonnenszepter fiel ihm aus der kraftlosen Hand.
„Ich hoffe für dich, du hast genügend Heilkräuter gestohlen, elender Dieb“. Praiodîns Faust krachte in den Schädel des Grolms, einmal, zweimal, dreimal. „Damit es sich für dich auch wirklich lohnt.“ Dann schleuderte er ihn in die scheppernde Ritterrüstung, die mit Getöse zusammenkrachte. Der Geweihte griff nach seiner Waffe und wandte sich wieder Zackparak zu. Zwei Wachen griffen ihn an, er parierte leichthändig, fegte die Angreifer mit schnellen Hieben beiseite. Die verbliebenen Wachen wichen zurück, schienen sich mehr hinter dem Thron verstecken als ihren Häuptling verteidigen zu wollen.
Das Wolfsohr wurde blass und hob die Finger zur Abwehr. Damit schien er nicht gerechnet zu haben. Sein Stirnreif rutschte zur Seite, schepperte auf den Boden.
„Nun zu dir, Räuberhäuptling. Her mit dem Ring, oder du bekommst auch noch ein paar hinter deine hässlichen Ziegenohren!“
Ein grolmischer Fluch antwortete ihm. Das Sonnenszepter sauste schwer herab. Der Häuptling parierte mit dem eigenen Szepter – es wurde ihm aus der Hand gerissen.
Zackparaks Finger ruckte vor. „Tot ihn mach!“ Die Stimme des Grolmen klang schrill.
Praiodîn drehte sich um, keinen Herzschlag zu früh – und sah Ysilda, wie sie mit dem Eidechsendolch auf ihn zustakste, der Blick verschleiert, die Bewegungen unsicher. Aber die Finger waren fest um die Waffe geschlossen, die verflucht scharf und spitz im Schummerlicht blinkte.
„Ysi, nein!“
Die Geweihte ging einen weiteren Schritt auf ihn zu, wurde zunehmend unsicher, geriet buchstäblich ins Schwanken, innerlich wie äußerlich.
Ysilda sah auf die Klinge in ihrer Hand, runzelte die fein geschwungenen Augenbrauen. Was tat sie da? Und warum? Ihr Alptraum im Tempel kam ihr in den Sinn. War es das, wovor die Göttin sie hatte warnen wollen?
Eine helle, schnalzende, fordernde Stimme drang an ihre Sinne, die wie in Watte gepackt zu sein schienen. Fern und doch nah. Zu nah.
„Tot ihn mach!“
Sie hob das Messer, sah Praiodîn in die verwunderten Augen. Unsicher hob er das Sonnenszepter, wehrte klirrend ihren ersten, matten Stoß ab.
„Ysilda, in der guten Götter Namen, was tust du da! Du darfst nicht töten!“
Erneut ein Stoß, der schon treffsicherer, entschlossener war, und ein Stück von Praiodîns Robenärmel aufriss.
„In Tsas Namen! Nein!!!“
Einen Moment lang hielt sie inne. Tsa…Nicht töten…Ja, da war etwas…da war einmal etwas gewesen…Nicht töten…nicht töten…
„Tot ihn mach!“ forderte die unbarmherzige Stimme zwischen ihren Schläfen.
Als wäre ihre Hand an unsichtbare Fäden gebunden, hob sie erneut die Klinge, bereit zum nächsten Angriff.
Nein. Nein. Nein. Sie wollte das nicht. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Nicht töten. Kein Blutvergießen. Ein Mensch. Ein Geweihter des Praios. Praidoîn. Ein Freund. Wenn nicht sogar…
„Tot ihn mach!“ herrschte sie die Stimme in ihrem Kopf an, mit entsetzlicher Klarheit. Nein, schrie es in ihrem Innersten. Tu es nicht! Es war, als würden die beiden Befehle sie zerreißen, als würde ein Blitz geradewegs durch ihre Seele zucken. Gelähmt sah sie der Klinge hinterher, die ihr aus den starren Fingern purzelte, sich überschlug und eine schiere Ewigkeit brauchte, um zwischen den glühenden Gwen Petryl-Steinen aufzuschlagen, die überall auf dem Boden verstreut lagen.
Auch ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Die Kniekehlen gaben nach. Mit einem Ächzen sank sie zu Boden, wie eine gefällte Tanne. Ihr wurde endgültig schwarz vor Augen. Bevor sie mit der Stirn aufschlagen konnte, fing Praiodîn sie auf.
„Ysilda!“ seufzte Praiodîn. „Ihr verfluchten Krüppelzwerge! Das werdet ihr mir büßen!“ Er tastete nach dem gesegneten Messer, hob es auf, blickte sich nach dem Häuptling um. Wenn sie lebend aus dem Tal herauskommen wollten, brauchten sie ein Faustpfand. Eine Geisel…Zackparak…wo steckte dieser verfluchte Schurke? Tatsächlich, der Kürbiskopf hatte die Ablenkung genutzt, um zu türmen. Selbst dieser Bohk war irgendwie davon gekrochen.
Dann musste er sich jetzt eben ganz auf Praios Schutz verlassen. Der Himmelskönig, er war trotz allem stärker als der Herrscher der Namenlosen Tage, der an diesem unheiligen Ort die Fäden zog. Gilborn und Alboran, steht mir bei! Gebt mir Kraft! Er schob Messer und Sonnenszepter in die Schärpe, warf sich die hoffentlich nur besinnungslose Ysilda über die Schulter, wie ein erlegtes Wild. Vorsichtig balancierte er seine schwere Last in Richtung Ausgang. Nein, er würde die Reglose niemals den engen Brunnenschacht hinauf tragen können.
Erneut schwirrten zwei, drei kleine Armbrustbolzen, aber auch Steine und Holzprügel an ihm vorbei: Die Grolme duckten sich in den Öffnungen der übrigen Gänge und nahmen sie von dort aus unter Beschuss – zum Glück ebenso aufgeregt wie ungeschickt.
Praiodîn blickte sich um. Nur ein einziger Gang schien frei zu sein, wenn auch verflucht niedrig und schmal. Er hastete geduckt auf das dunkle, schwarze Loch zu. Robbte hinein, ohne auf seine Robe zu achten und zerrte Ysilda hinter sich her. Wahrlich kein würdevoller, praiosgefälliger Rückzug, aber was war an diesem Karnickelbau hier schon praiosgefällig?
Feuchtes Wurzelwerk hing ihm wieder ins Gesicht, der Boden war nass von Grundwasser und stieg kontinuierlich an. Mäuse huschten aufgeregt fiepend davon. Immerhin, der oberste Richter Alverans schien ihm gewogen zu sein – dort vorne wies ihm bereits sein herrliches Licht den Weg. Praiodîn drückte, hob und schob ein Holzgitter beiseite, das wohl größeres Getier abhalten sollte, und schlüpfte aus Sumus Reich. Dann zog er Ysilda hinter sich hinaus, ins Freie, wo überall der Wald aufragte. Ein mattes Stöhnen zeigte an, dass sie noch unter den Lebenden weilte.
Der Geweihte wuchtete sie in die Arme, und rannte los.
TSCHONK.
Ungemein hart und kantig traf ihn der Schleuderstein an der rechten Schläfe. Im nächsten Moment wälzte er sich auch schon benommen über den Waldboden, mit warmen, klebrigen Blut im Auge. Die Bäume über seinen Kopf tanzten im blutigroten, verschwommenen Tageshell. Es roch nach Goblin. Die Rotpelze, die hätte er beinahe vergessen. Nun war er ihnen geradewegs in die Falle gelaufen, wie ein aus dem Bau gescheuchtes Karnickel beim Frettieren. Im nächsten Moment ragten sie auch schon über ihn auf, schlugen mit Keulen und Dreschflegeln auf ihn ein, merkwürdig mechanisch und ruckend, wie Spieluhrfiguren. Aber dennoch überaus hart.
Irgendwann spürte er ihre Hiebe kaum noch, nur ein sanftes Hinübergleiten. Der Faden seines Bewusstseins begann zu zerfasern, wurde dünner, länger und länger und riss.
Als er den Faden wieder aufnehmen konnte, hatten die Schläge aufgehört. Er blinzelte, öffnete die Augen. Bernsteinfarbene Pupillen erwiderten seinen Blick. Ein großer, schwarzer Katzenkopf musterte ihn misstrauisch. Ein Kater…Ein Hexentier…Praiodîn wollte aufstehen, als sich die Schmerzen zu Wort meldeten, in seinen Rippen, im Kopf, im Arm, der womöglich gebrochen war.
„Ich sage, Goldrock tot wir machen. Großlingfrau als Skläy wir behalten.“ War es Zackparak, der da sprach? „Hübsche Skläy sein. Können nicht gehen lass. Geheimnis von Tal sie kennen. Drei Grolme verwundet sie haben. Gefährlich sie sein. Klack.“
„Du solltest nichts tun, was du nicht ungeschehen machen kannst.“ Eine rauchige Frauenstimme. Ysilda? Nein, diese Frau klang verruchter, wilder, ungezähmter. „Lass Ludwina entscheiden. Vergiss nicht, es sind zwei Pfaffen. Alrik wird Fragen stellen, wenn in seiner Baronie Kuttenpisser verschwinden. Schlecht für euch Grolme. Damit auch schlecht - für uns.“
„Diener des Sonnenpakatai ich fürchte. Das Hexenvolk sie hassen. Vom See der Satu sie euch vertreiben. Uns alle sie vertreiben. Klk.“
Jemand beugte sich über ihn. Ein Geruch nach Moos und Kräutern trat an Praiodîns Nase. Im Gegenlicht vermochte er das Gesicht kaum zu sehen, glaubte nur kirschrote Locken und grüne Augen zu erahnen, sowie eine Tunika in fast gleicher Farbe. Außerdem zarte Finger, die dem aufgeregt schnurrenden, pechschwarzen Kater übers Fell strichen. Zwei ins Mieder gestopfte Brüste, vor allem die Kuhle dazwischen, fielen ihm ebenfalls ins blutgetrübte Auge.
„Schtt, Muriel, schtt. Hast du noch nie einen Praiosdiener gerochen? Er wird dir nichts antun, dafür sorge ich.“ Der Kater sprang zur Seite. Die Finger glitten über Praiodîns Wunde an der Schläfe, die sich unter ihrem Griff klebrig anfühlte und heiß. „Ganz hässlich ist er ja nicht“, flüsterte die Tochter Satuarias. „Schade eigentlich, dass aus ihm nichts Besseres geworden ist…“
„Elende…Hexe…“ hörte sich Praiodîn stöhnen und schmeckte Blut auf seinen Lippen. Er hustete es mühsam aus. „Lass deine Levthansklauen…von mir und Ysilda…“
Ein belustigtes Lachen. „Ich kann dich auch den Klauen der Goblins überlassen, wenn dir das lieber ist, mein stolzer, einfältiger Freund. Oder deinen neuen, grolmischen Freunden. Zeit, deine Wunden zu verarzten, die du heute im Kampf für den rechten Glauben erlitten hast. Mal wieder…“
„Wage es, den Allerhöchsten Herrn des Lichts zu verspotten…frevlerische Ausgeburt…der Niederhöllen.“
„Was denn nun: Allerhöchster Herr des Lichts oder frevlerische Ausgeburt der Niederhöllen?“ Erneut ein belustigtes Lachen.
„Wie ist dein Name, Weib? Auf dass ich dich…für deine Worte…eigenhändig den Flammen übergeben kann…“
„Du spricht sehr leichtfertig über derart schmerzhafte Dinge. Oder von eigenhändig. Für jemanden, der ein ausgerenktes Schulterblatt hat. Neben ein paar anderen hübschen Blessuren.“
„Was zum…“
Im nächsten Moment wurde der Griff der Hexe fester. Mit brachialer Gewalt zog sie an seinem Oberarm und drehte ihn zugleich nach außen. Knackend sprang das Gelenk wieder in die Pfanne zurück. Eine grellheiße Flutwelle, ein maraskanischer Tsanami aus Schmerz und Übelkeit fegte über Praiodîn herein. Ein infernalisches Brüllen drang aus seiner Kehle, hallte als Echo von den Talwänden wieder. Erschrocken flatterte ein Schwarm Krähen aus den Wipfeln, verteilte sich krächzend im Wind.
Erneut schwanden dem Praioten die Sinne. Das letzte, was er in die schweren Wogen der Qual hinein hörte, war die sanfte Stimme der Hexe.
„Hekata. Mein Name ist Hekata. Ich bin die Wächterin des Sees. Du darfst mich ruhig Kata nennen. Du bist zwar kein Freund, aber auf Feinde kann man sich wenigstens jederzeit verlassen.“
Vierter Tag des Namenlosen: Verführung
„Mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen !“
Angeblich ein alter Fluch der Zahori
Zaberger Hexenkessel. Madaraestra.
Windstag.
Praiodîn blinzelte. Seltsamerweise vermochte er sich fast sofort daran zu erinnern, was geschehen war. Ganz so, als wäre er nur einen winzigen Moment geistesabwesend gewesen. Sein Kopf dröhnte, wie ein zur Praiosstunde geschlagener Gong. Bei allen Heiligen, selbst während der schrecklichsten namenlosen Tage, die er bislang erlebt hatte, war er nicht an fast jedem einzelnen Tag aus irgendeiner Ohnmacht erwacht.
Er lag in einem recht großen, rotweiß gestreiften Rundzelt, irgendjemand hatte ihn weich auf Stroh gebettet. Die spröden, heuduftenden Halme knisterten bei jeder Bewegung, stachen ihn in Nacken und Hände. Helles, goldenes Tageslicht drang von oben, aus einem Lichtloch, und vom Eingang herein. Die Stimmung war freundlich, fast schon wohlgemut. Irgendwie überhaupt nicht namenlos. Sein rechter Arm steckte in einer Binde, auch sein Kopf war bandagiert. Glücklicherweise schienen das seine einzigen ernsthaften Verletzungen zu sein.
Mühsam stand er auf, setzte sich auf eine Bank, die hier neben einem Tisch stand, wartete, bis die Benommenheit gewichen war. Dann schenkte er sich aus einer Zinnkanne etwas Wein in einen Tonbecher. Fühl dich eingeladen, spöttelte etwas in ihm. Auch wenn er sich langsam wieder an all das erinnerte, was geschehen war, ergab das Zelt hier noch keinen rechten Sinn.
Ysilda? Wo war Ysilda abgeblieben? Er stand auf, steckte den Kopf nach draußen – und zuckte zurück, als eine jauchzende blonde Frau an ihm vorbeischwebte, nein, in Windeseile dahinflog, mit wehenden Haaren, und flatterndem buntscheckigen Gewand. Auf einem Reißstrohbesen, in zwei Schritt Höhe über das zertrampelte Wiesengras hinweg...
Sanft landete die Hexe in der Mitte eines kleinen „Feldlagers“, zwischen vielleicht einem halben Dutzend Zelten und noch einmal soviel Laubhütten. Unweit des Seeufers, im starren Blick der Eule aus Stein. In den Bäumen flatterten bunte Bänder oder wurden gerade daran festgeknotet. Junge Leute in Bauerntracht schlenderten umher. Aber auch die eine oder andere leichtbekleidete Frau war zu sehen, die eine Schlange liebkoste, eine Kröte oder eine Eule aus Fleisch, Blut und Federn. Überall schlichen schwarze Katzen.
Der Himmel über dem Tal war wonnig blau, weiße Wolken glitten dahin. Eine gelöste, feierliche Stimmung lag in der Luft. Feierstimmung. Das Lager, es wurde gerade erst aufgebaut, überall lagen Säcke, standen Körbe, Bretter und Balken herum. Über einem Lagerfeuer qualmte ein kleiner Kessel.
Praiodîn ahnte, wohin es ihn hier verschlagen hatte. Das Hexenfest...Seltsamerweise verspürte er kaum noch Groll ob der Zuschaustellung praioslästerlicher Magie um ihn herum. Zuviel davon hatte er in den letzten Tagen erlebt. Es war eher ein Gefühl vollkommener Unwirklichkeit, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Vielleicht lag es auch an dem Schlag auf seinen Kopf, dass er trotz der lästerlichen Szenerie derart ruhig blieb.
Einen Moment lang widerstand er der Versuchung, sich wieder ins Zelt zurück zu ziehen, um sein Praiosgewand zu verbergen. Kurzentschlossen trat er hinaus ins Sonnenlicht, spürte Praios Kraft in seinen Gliedern. Sofort trafen ihn die Blicke der Umstehenden, mehr neugierig und verdutzt als wirklich misstrauisch.
„Bist du der Brennende Praiosmann?“ unterbrach ein junger, sommersprossiger Bauernbursche das Schweigen und gab sich mit wildem Gelächter selbst die Antwort. „Also wirklich, bei der Herrin der Erde. Du traust dich was, in so nem Fummel zu Alboran Hevin zu kommen. Nee, echt: Deine Verkleidung ist herrlich, Bruder! Und die Verbände, die passen auch. Bist wohl im Wald vom Gehörnten verdroschen worden, was? “ Feixend ging der Halbwüchsige weiter und begab sich in die Arme eines schwarzhaarigen, barbusigen Hexenweibs.
Praiodîn schluckte – und merkte erst jetzt, wie etwas Goldenes in seinem Gesichtsfeld baumelte. Eine Sphärenkugel. Heiliger Alboran – seine Kopfwunde war tatsächlich mit der eigenen Schärpe verbunden worden. Er musste aussehen wie ein Schelm, Hofnarr oder Gaukler. Kein Wunder, dass er nicht einmal mehr als echter Diener des Sonnengottes erkannt wurde. Geschweige denn anerkannt.
Er überlegte, ob er sich mit einer donnernden Rede als solcher zu erkennen geben sollte. Aber momentan sah er alles andere als beeindruckend aus. Das Gebot, jedem Feind offen entgegen zu treten, setzte voraus, dass der eigene Anblick wenigstens noch einigermaßen praiosgefällig war. Er tastete nach dem Kopfverband, wollte ihn abnehmen – spürte aber sofort, dass es besser war, ihn auf der Wunde zu belassen. Das Sonnenszepter, es war ihm schon wieder abhandengekommen, kaum dass er es zurück erobert hatte. Das Praiosamulett fehlte ebenfalls.
„Ah, du bist aufgewacht!“ Eine vertraute Stimme neben ihm. Die Rothaarige mit den katzenhaft grünen, unruhig umherwandernden Augen. Blass sah sie aus, fast schon gespenstisch, ihre Glieder wirkten zart und zerbrechlich. Er hatte ihre Annäherung nicht gehört.
„Die Goblins haben dich übel zugerichtet. Hat uns einige Kräuter und Speichel gekostet, dich so schnell wieder auf die Beine zu bringen.“
Praiodîn sah sie ausdruckslos an.
„Wir sollten hineingehen, bevor noch jemand merkt, dass du tatsächlich ein Praiospfaffe bist“, sagte die Hexe leise, aber fröhlich, als wären sie seit jeher allerbeste Freunde gewesen. Wie war noch mal ihr Name? Ach ja.
„Hekata“ sagte er leise. Es klang wie die Eröffnung einer Anklagerede. „Deinen Namen werde ich mir ganz gewiss merken.“
„Kata. Der Einfachheit halber. Ich habe endlich ordentliches Verbandszeug aufgetrieben.“ Sie wies ins Innere.
Der Geweihte nahm wieder auf der Bank Platz. „Die Zwölfgöttliche Verdammnis ist euch gewiss“, sagte er tonlos. „Euch allen. Nicht nur, dass Ihr hier ein Hexenfest feiert. Ihr feiert es ausgerechnet auch noch am dritten der Namenlosen Tage.“
„Nein, am vierten Grautag. Du warst ziemlich lange weggetreten.“
„Fass mich nicht an“, zischte Praiodîn, als Kata ihm an das Kopftuch langen wollte. Seine Linke schloss sich um ihr Handgelenk. Ihm schauderte. Das Hexenweib fühlte sich merkwürdig unstofflich an, auch wenn er dieses Gefühl kaum hätte erklären können. Er ließ sie los, rieb sich die Hand an der Robe, als hätte er sie sich gerade beschmutzt. Oder verbrannt. „Praioslästerliche Satuariensbrut! Ihr wagt es, einen Diener des Himmelskönigs gefangen zu nehmen? Diesen unerhörten Frevel wird Euch die Heilige Inquisition gebührend büßen lassen, verlasst euch drauf!“
„Ich verlass mich drauf“, sagte Hekata leichthin und breitet ihr Verbandsmaterial auf dem Tisch aus, darunter ein Messer und ein Tiegelchen mit Salbe. „Ja nun, wo soll ich anfangen? Es ist noch gar nicht solange her, da hatten wir einen Ritter des Heiligen Golgari hier, als uneingeladenen Gast, der hat ganz ähnlich gesprochen...zumindest am Anfang war er genauso keck.“
„Er hat überaus wahr gesprochen. Was habt Ihr ihm angetan?“
„O, ich glaube, er ist jetzt Baron von Friedwang. Zumindest einer von den beiden.“
„Das ist eine Lüge! Du wirst bald schon auf dem Scheiterhaufen brennen, zu Asche und Rauch vergehen. Ein langsamer, qualvoller Tod ist dir gewiss. Dir und deinen Komplizinnen.“
Ein dünnes Lächeln antwortete ihm. Hekata nahm die Weinflasche und goss etwas von ihrem Inhalt über das Tuch.
„Glaub mir, du weißt nichts vom Tod“, sagte sie, und klang nun überaus ernsthaft. „Gar nichts.“
„Da bin ich ganz gewiss anderer Meinung. Fass mich nicht an!“
„Falls du das Wundfieber überleben solltest, können wir uns gerne noch einmal über den Tod und das Sterben unterhalten.“ Sie drückte mit sanfter Gewalt seine Linke beiseite, löste den provisorischen Verband und tupfte die Kopfwunde sauber: behutsam, sanft, fast liebevoll. Praiodîn verzog das Gesicht, was nicht nur am brennendheißen Schmerz lag. Ein Gemisch aus Wein und Blut rann ihm über das Gesicht. Einen Moment lang sah er geradewegs auf ihre Rahjakuppeln, roch ihren Frauenduft. Eilig drehte er den Kopf weg.
„Warum tust du das? Als Hexe müsstest du mich doch ebenso hassen wie ich dich !?“
„Als Hexe schon. Abgesehen davon, dass wir beide eine große Katze als Vertrautentier haben. Und sie beide fliegen können.“
„Spotte....dem Heiligen....Greifen....nicht!“ Praiodîns Zeigefinger ruckte vor.
„Wenn du schon Verständnis dafür hegst, dass ich dich und deinesgleichen hasse, müsstest du eigentlich ebenso Verständnis dafür haben, dass ich deinen Glauben nicht teile.“
„Ich...ich habe kein Verständnis...“ Der Lichtgeber wischte sich das Gesicht sauber.
„Das ist ja gerade das Problem.“
„Hör auf, mir ständig das Wort im Mund umzudrehen. Wo ist Ysi? Wohin habt Schwester Ysilda verschleppt?“
„Die Tsadienerin? Sie sieht sich gerade ein wenig im Tal um, glaube ich. Ihr scheint es hier ganz gut zu gefallen. Nachdem das mit den Grolmen geregelt ist. Ihr habt Glück. Eigentlich haben sie hier noch immer das Sagen. Die Herrschaft unserer Festkönigin Ludwina beginnt streng genommen erst Anfang Praios. Zur Sommersonnenwende. Aber es ist normal, dass einige meiner Schwestern etwas früher anreisen, um das Fest im Eulenkuhl vorzubereiten. “
„Namenloses gesellt sich eben gerne zu Namenlosem!“ Mit zusammengekniffenem Gesicht ließ es Praiodîn geschehen, dass Kata ein Leinentuch um seine Stirn schlang. Erst jetzt merkte er, dass nahe der Wunde ein Teil seiner Haare abgeschoren war. „Im Praios herrscht allein der Götterfürst und niemand sonst. Die Bresche im Götterlauf ist seit jeher verflucht.“
„Die Graunächte...ach, das sehen wir nicht so eng. Das Böse beginnt erst von uns Besitz zu ergreifen, wenn man es in sein Herz hinein lässt. Der Jahreswechsel ist einfach eine Zeit der besonderen Freiheit. Eine Zeit der besonderen Gefahr, gewiss, das auch. Aber wenn man die Wahl hat, sich zitternd in einem dunklen Abgrund zu verbergen. Oder einfach beherzt darüber zu springen...nun, dann wähle ich lieber die Freiheit. Man kann das Böse auf dieser Welt auch mit Tanzen, Lachen und Feiern vertreiben.“
„Gewiss doch. Dass man sich in diesen Tagen ebenso in die Obhut eines Tempels begeben könnte, um dort die Zwölfgötter um Beistand und Schutz anzurufen, davon hat euereins noch nichts gehört. Der Einzige, der bei eurem verruchten Treiben Grund zum Lachen, Tanzen und Feiern hat. Das ist der Dreizehnte selbst. Außer den Niederhöllen natürlich.“
„Natürlich. In Gareth oder Vinsalt halten sie es genauso, habe ich gehört. Früher haben wir Alboran Hevis, die Große Sommersonnenwende, zwölf Tage lang gefeiert, vom letzten Tag der Rahja an. Aber die Zeiten sind eben härter als früher, freudloser. Die Düsternis hat überhand genommen. “
„Alboran Hevis? Ihr wagt es, auch noch den Namen des Heiligen Alboran von Baliho in den Schmutz eures wirren Aberglaubens zu treten? Ein Frevel mehr, den ihr unter Qualen büßen werdet!“
Kata schmunzelte und blickte aufreizend: „Für uns ist der Eulenkuhl ein Heiligtum. Ein Tempel der Satuaria, wenn man so will. Insofern haben wir uns in die Obhut einer Göttin begeben.“
„Satuaria“, grollte Praiodîn. Er wollte schon wieder zu einer Strafpredigt ansetzen, dann fiel ihm der Karnstein im Wald bei Schneiß ein. Sein Mentor war Inquisitor gewesen. Nicht zimperlich in der Wahl seiner Methoden. Wenn er sich schon in einer derartigen Zwangslage befand, dann musste er sie wenigstens nutzen, um endlich der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Momentan herrschte so etwas wie ein notgedrungener Waffenstillstand zwischen ihm und den Götzenanbetern. Es wäre töricht gewesen, ihn völlig ungenutzt verstreichen zu lassen.
„Eine Echsengötzin“, sagte er grimmig. „Wie können sich Menschen nur auf eine Stufe mit Kaltblütern und Geschuppten stellen, die einst unsere Vorfahren gejagt haben wie Tiere...versklavt, wie Vieh gehalten...“
„O, die Pfaffenkaiserzeit war für unsereins auch nicht gerade angenehm, glaub mir. Insofern würde ich das mit den Echsen als verjährt ansehen, zumal das lange vor der Ankunft der Güldenländer geschehen sein soll. Wusstest du eigentlich, dass es früher, ganz am Anfang, kein Magieverbot in der Praioskirche gegeben hat? Vielleicht werden wir doch noch Freunde...“
„Ganz sicher nicht. Von einer verirrten, verwirrten Seele, die nicht einmal mehr zum Allerhöchsten Herrn der Sonne betet, brauche ich mich gewiss nicht über die Geschichte der Heiligen Gemeinschaft des Lichts belehren zu lassen. Heiligtum der Satuaria! Wenn es nicht so frevlerisch wäre, müsste man lachen...Ich dachte, das wäre dieser besudelte Felsbrocken da im Wald bei Schneiß, dieser Karnstein, oder wie ihr diesen verfluchten Hexentisch nennt...“ Der junge Geweihte blickte lauernd und schämte sich sofort dafür. Soweit hatten sie ihn gebracht, dass er nun selber schon verschlagen und hinterlistig durch die Welt schlich. Wie ein Hexenweib auf dem Weg zu ihrem frevlerischen Götzendienst.
„Der Karnstein.“ Die rothaarige Hexe wurde ernst. „Er ist seit jeher mit dem Karnmann verbunden, dem Gehörnten Jäger. Ein uralter Freund der Hexen...Verborgen an einem Ort großer Macht. Aber ein Festplatz unserer Herrin war dort nie.“
Praiodîn blickte prüfend in die smaragdgrünen, scheuen Augen der Hexe, entdeckte aber kein Falsch darin. Sie schien die Wahrheit zu sagen. Ihre Wahrheit...
„Gehörnt, ja, das seid ihr fürwahr, und eure dämonischen Götzen sind es auch. Jäger eurer Seelen, das sind sie...Dir ist hoffentlich klar, dass Ich Euer lästerliches Treiben hier zur Anzeige bringen werde, sobald ich diesen Sündenpfuhl verlassen habe. Ich hoffe, dass wir wenigstens noch euer Seelenheil retten können, wenn schon nicht mehr eure sündigen Leiber...“
„Wenn du aus dem Eulenkuhl noch einmal herauskommst.“ Die Schwarzsichlerin klang mit einem mal sehr kühl, der Blick ihrer grünen Augen erinnerte urplötzlich an eine Katze, die ein Mäuslein in der Ecke einer Vorratskammer erspäht hatte. „Hast du eigentlich irgendeine Idee, um was für ein Ritual es sich bei dem Brennenden Praiosmann handeln könnte?“
„Willst du mir drohen?“
„Sagen wir mal so: Sollten meine Freundinnen da draußen auch nur ahnen, dass sich hier, mitten unter ihnen, ein echter Praiot aufhält. Und nicht nur ein Scherzbold aus einem der umliegenden Dörfer, der zuviel Rauschkraut, Bier und Wein intus hat. Dann wird es sehr schwer werden, dich auch nur solange am Leben zu erhalten, bis Ludwina ihr Urteil über dich sprechen wird. Insofern solltest du dich...unaufälliger verhalten. Bei einer Flucht kommst du ohnehin nicht weit. Mein Kater wird dir auf Schritt und Tritt folgen. Solltest du bis zu ihrer Ankunft noch einmal Ärger machen, werden wir als erstes dein schönes Sonnenszepter zerbrechen. Danach verfluchen wir dich und sperren dich in einen Käfig, wie ein wildes Tier...Mindestens...“
Das werden wir ja sehen, dachte Praiosîn. Nicht alle der Sünder hier schienen widernatürlich auf dem Luftweg angereist zu sein. Vielleicht gab es einen Fluchtweg. Andererseits, das Gefühl, ein Gefangener, nicht „Gast“ der Kultisten zu sein, beruhigte seine Gewissensqualen doch um einiges.
Hekata wies auf einige Bauernkleider auf einem Strohhaufen. „Mit unauffällig meine ich auch, dass du dir eine andere Gewandung anlegst.“
„Sonst?“
„Sonst werde ich ein anderes Gesicht zeigen müssen. Wir sind hier, um ein Fest zu feiern, heiter und unbeschwert. Aber du wärst nicht der erste Eindringling, der an diesem Ort für seine ungebührliche Neugierde büßen muss. Die arme Ysilda hast du da auch noch mit hineingezogen...Ich warne dich: Muriels Augen sind so scharf wie seine Krallen...“
„Niemals werde ich mein Ornat ablegen. Geschweige denn mein Amt als Praiosdiener verleugnen. Die Augen und Krallen des Greifen sind um einiges schärfer, das kannst du mir glauben! Außerdem verlange ich sofort mein Szepter und das Sonnenamulett zurück, elende Diebe. Ich warne euch zum letzten Mal. Wer mit dem Feuer spielt, wird sich daran verbrennen!“ Im nächsten Moment schrie er auf, denn die Hexe hatte seine verletzte Schulter berührt. Nur leicht angetippt, aber genug, um ihm gleißenden Schmerz empfinden zu lassen. Mehr als einen Augenblick lang rang er um Fassung, schnappte nach Luft.
„Du bist kein Greif mehr!“ Kata packte ihm am Kragen, zückte ihr Messer. Dann zerschnitt und zerriss sie ihm mit wenigen Handbewegungen die Robe. „An diesem Ort sind deine Schwingen gestutzt!“
Das Lagerfeuer brannte, flackerte hoch, trockene Zweige prasselten. Praiodîn hatte etwas Holz nachgelegt, und saß auf einem Baumstamm, einen Becher Wein und ein Stück Fladenbrot in der gesunden Hand. Matt spiegelten sich die Feuer (von denen gleich vier Stück auf der Lichtung brannten) auf der steinernen Eule und im Wasser des Teichs. Funken schwirrten, Glühwürmchen gleich, in den Nachthimmel davon. Es war ein schöner, lauer Sommerabend, kaum auszudenken, dass sie sich in den Namenlosen Tagen befanden. Ob sich der Ort tatsächlich unter einem besonderen Schutz befand? Der Geweihte schüttelte unwirsch den Kopf – verärgert über sich selbst. Die Robe hatte man ihn vom Leib gerissen, das Sonnenszepter gestohlen und offensichtlich ein großes Stück seiner Selbstachtung als Priester der Zwölfgötter. Es wäre seine Pflicht gewesen, eine donnernde Strafpredigt zu halten, die Hütten und Zelte hier anzuzünden. Irgendein Zeichen zu setzen. Statt hier vor Hexenvolk zu kuschen wie ein eingeschüchtertes, machtloses, in seine Schranken gewiesenes Kind.
Aber was tun? Kata hatte in einem Recht gehabt: Niemand schien sich vorstellen zu können, dass sich ein echter Geweihter des Praios an einen götterlosen Ort wie diesen verirren könnte. Viele der Gäste hier gaben sich dem Rausch hin, mit starkem Trunk, aber auch allerhand Kräutlein – erst vorhin hatte einer eine lallende, wirre Rede gehalten. Womöglich würde man seine Worte ebenfalls für den Wahn eines Berauschten halten. Als ihm ein donnerndes „Bei Praios, was für ein frevlerischer Ort voll Sünde und Hoffart“ entfahren war, hatte er jedenfalls nur vergnügtes Gelächter geerntet, und heftigen, zustimmenden Beifall. Er hatte sich damit begnügen müssen, einige der götterverdammten Hexenpilze umzutreten, die hier überall wucherten – aber nicht einmal das schien irgendjemand sonderlich aufzuregen. Eine sanfte, heitere Gleichgültigkeit lag über allem. Womöglich taten die Ketzer aber auch einfach nur so, als würden sie ihn, den Praiosdiener, nicht als solchen erkennen. Ein pervalisches Spiel, eine besonders abgefeimte Demütigung ?!
Dann war da noch dieser große schwarze Hexenkater, der ihm tatsächlich kaum von der Seite gewichen war, ihn aus bernsteinfarbenen, unergründlichen Augen musterte. Als er sich vorhin zum Austreten in die Büsche hatte schlagen wollen (wo ein Hexenweib zum gleichen Behufe ihren Rock gehoben hatte). Da hatte das Zaubertier warnend geknurrt, das Fell gesträubt. Gefolgt von einem kurzen, heulenden Singsang, als wäre Praiodîn seinesgleichen, nur eben ein Eindringling in einem fremden Revier. Vermutlich war er das in seinen glimmenden Katzenaugen auch. Und dann war da noch die Steineule, die ihn ebenfalls auf Schritt und Tritt an zu stieren schien. Dennoch war es fast gemütlich hier, das musste er widerwillig zugeben. Selbst der Schmerz in seiner Schulter hatte nachgelassen.
Nein: Es war zu gemütlich. War der vierte der unheiligen Tage nicht der dämonischen Herrin der Versuchung geweiht? Natürlich: In dem lockeren, zwanglosen Treiben um ihn herum wirkte ihre niederhöllische Macht. Flöten zwitscherten, Männlein und Weiblein schäkerten, manchmal kam es auch schon zu mehr: Hier ruhte eine Hand auf einer levthansgefälligen Rundung, dort berührten sich zwei Lippen zu einem innigen Kuss. Abscheulich. Widerwärtig.
Praiodîn blickte hoch, zu Ysilda, die in der regenbogenfarbigen Robe einer Tsageweihten keinesfalls exotisch wirkte, zwischen all dem buntscheckigen Volk um sie herum. Allerdings schien die übrige „Festgesellschaft“ sie (respektvoll oder leicht irrritiert?) zu meiden, was dem Lichtgeber keinesfalls unangenehm war.
„So, nun sind wir also an dem Ort, zu dem du unbedingt hinwolltest!“ sagte er und blickte sich nach dem Kater um. Der war gerade nicht zu sehen, was bei einer Katze nichts heißen musste. „Zufrieden? Haben wir nun Antworten zu Solalins Geheimnis erhalten? Ich denke nein. Stattdessen bedroht man mich mit Verbrennen. Also, wie sieht es aus? Kommen wir hier je wieder mit heiler Haut heraus?“
„So übel ist es im Eulenkuhl doch gar nicht.“ Ysilda lächelte tapfer. Im flackernden Feuerschein sah sie dabei fast selbst wie eine Hexe aus. „Im Vergleich zu den Feilschern sind unsere Gastgeber geradezu traviagefällig. Man merkt sofort, dass wir uns unter darpatischen Hexen befinden.“
„Das meinst du jetzt nicht ernst. Also...Ich nehme doch an, du hast dich nach einem Fluchtweg aus dem Talkessel umgesehen? Ich konnte leider wenig ausrichten...diese verfluchte Hexenkatz.“
„Nun, es scheint nur einen Weg heraus zu geben, das ist die Treppe, über die wir selbst hergekommen sind. Nur ist die Brücke dort oben wohl immer noch zerstört.“
„Die Zelte, die Kisten, die Körbe...Sie können den ganzen Kram unmöglich auf Besen oder in Fässern herbeigeflogen haben.“ (Tatsächlich war vorhin eine Satuarienstochter in einem Bierfass über den Baumwipfeln heran geschwebt, ein grotesker Anblick im Sternenlicht).
„Es scheint noch eine Felsspalte zu geben, aber da ist wohl irgendwann ebenfalls ein Steinschlag heruntergegangen. Dieser Ausweg ist regelrecht verbarrikadiert, mit Steinen und Baumstämmen. Was es gibt, ist eine Art Kran in der Nähe der Treppe – eine hölzerne Plattform auf dem Felsen, von dem aus sie alle möglichen Sachen herunter kurbeln. Der von Goblinsklaven betrieben wird.... Sie gehorchen offenbar nur den Feilschern. Ich komme leider nicht näher ran, die kleinen Schwellköppe scheinen nicht allzu gut auf uns zu sprechen zu sein. Da gab es schon einige böse Blicke. Außerdem haben die Grolme ordentlich Maut kassiert, von allen nichthexischen Festbesuchern...“
„Natürlich...Clevere Geschäftsidee. Da muss man dann wohl wirklich davon ausgehen, dass das momentan der einzige Ein- und Ausgang ist. Wenn man nicht gerade auf einem Besen herumfliegt.“
„So sieht es aus. Und der Kran ist ziemlich gut bewacht.“
„Man könnte über die Felsen klettern...“
„Viel zu gefährlich...alles Steilwände, aus bröckligem Schiefergestein...da käme keine Gebirgsziege hoch. Du am allerwenigsten, in deinem Zustand. Dann das Geklacker der Steine. Wir würden schnell auffliegen, herunterstürzen oder beides. Ich habe das Gefühl, die haben mich nur deswegen alles genau inspizieren lassen, damit ich selbst beizeiten merke, dass es kein Entkommen gibt...“
„Wie geht es dir sonst?“ fragte Praiodîn, ehrlich besorgt. „Dieser grolmische Beherrschungszauber war ziemlich heftig...“
„Ich kann mich kaum daran erinnern“, seufzte Ysilda. „Vielleicht will ich es auch gar nicht. Da sind nur Bildfetzen, und so ein ungutes, mulmiges Gefühl. Wie nach einem furchtbaren Alptraum. Ein wenig kann ich euch Praiosgeweihte verstehen. Manchmal ist Magie einfach nur...abscheulich...“
„Ach was...abgesehen davon, dass du mit dem Messer auf mich losgegangen bist, nicht der Rede wert.“ Praidoîn lachte sarkastisch, und wurde sofort wieder ernst. Ironie war alles andere als praiosgefällig. „Ich habe die größeren Kopfschmerzen von uns beiden, glaub mir.“
„Was macht die Wunde?“
„Geht schon. Hab Schlimmeres überstanden. Nur die Art der Heilung, die wird von Mal zu Mal schlimmer und lästerlicher.“
„Sei froh, wenn sich überhaupt jemand deiner Wunden annimmt. Du hast mich aus der Grolmenhöhle gerettet. Zumindest hast du es versucht. Dafür danke ich dir.“
„Weit sind wir dabei trotzdem nicht gekommen...“
Ysilda sah sich verstohlen um und senkte ihre Stimme. „Nun, ich glaube, ich habe schon einen Plan...“
„Aha, das geht aber schnell. Ich sage dir eins: Noch mehr verkleiden werde ich mich nicht...Sie würden es ohnehin bemerken, und es ist einfach nicht praiosgefällig.“ Praiodin langte sich wieder an den schmerzenden Arm in der Schlinge. „Seltsam, wenn man die Wahrheit nur deswegen nicht ausspricht, weil sie einem ohnehin keiner glaubt. Und sobald sie geglaubt wird, schadet man damit nur sich selbst. Welch Wahnwitz. Welch Verhöhnung der Wege des Herrn der Wahrheit. Wenn in diesem niederhöllischen Abgrund hier nicht Namenloses wirkt, in all seiner Perfidie, was dann?“
„Es gibt vielleicht einen Weg. Mir ist aufgefallen, dass immer wieder große Körbe und Kiepen rauf und runter gekurbelt wurden, zusammen mit Bauern, Sägen und Äxten. Wenn sie rauf gezogen wurden, waren die Körbe leer, danach voller Brennholz. Ich habe gehört, wie oben im Wald Holz geschlagen wurde, für die Lagerfeuer. Offenbar wollen sie die Bäume hier unten im Heiligen Tal nicht antasten. In ihrem Heiligen Tal, meine ich. Wenn es uns gelingt, den Goblins weiszumachen, dass wir so ein Holzfällertrupp sind...da drüben steht jetzt das ganze Zeug....“
„Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit? Das ist mutig. In dieser benbukulischen Finsternis kommen wir nicht weit...“
„Morgen früh stehen wieder die Grolme am Aufzug.“
„Ich weiß nicht. So blöd sind doch nicht mal stinkige Rotpelze.“
„Nun, ich weiß, wie zermatscht sich ein Gehirn nach Beherrschungsmagie anfühlt.“ Die Dienerin des Lebens lächelte gequält. „Momentan sind die Goblins völlig willenlos. Womöglich gehorchen sie auch der Macht der Gewohnheit…“
„Dein Wort in Praios Ohr. Ein klitzekleines Problem gibt es dabei aber noch. Der Hexenkater, der mir auf Schritt und Tritt folgt.“ Tatsächlich, dort drüben kauerte er, neben einem Zelt, die gelben Augen glimmten wie Kohlestückchen. „Wir müssen diese dämonische Kreatur irgendwie los werden.“ Praiodîns Stimme war wohl anzumerken, was er dabei dachte, denn Ysilda schüttelte sofort energisch den Kopf: „Wir werden ihm kein Haar krümmen, in Tsas Namen. Überhaupt, die Rache der Hexe würde fürchterlich sein, falls unser Plan scheitert. Eigentlich ist sie ja ganz nett. Für eine Tochter Satuarias, meine ich…Ich habe eine Idee…“
Ysilda stand auf und verschwand in dem Wirrwarr aus Pärchen, Feuern, Hütten, Musikanten. Nach einiger Zeit kehrte sie mit einer Schale zurück, und stellte sie in einiger Entfernung vor der schwarzen Katze auf den Boden: Milch schimmerte im flackernden Dämmerlicht: „Na, mein Hübscher. Du musst hungrig sein, nach all der Zeit, in der du uns Zweibeiner schon bewachst.“ Ein misstrauischer, aber durchaus interessierter Blick des Katers. Einige Augenblick lang schien in ihm Pflicht mit Gier zu kämpfen.
Ysilda setzte sich demonstrativ gelassen wieder ans Lagerfeuer. Kaum fühlte Muriel sich selbst unbeobachtet, sprang er auf. Näherte sich, erst zögernd und widerstrebend, dann immer entschlossener dem Festmahl. Schließlich waren leise Schlabbergeräusche zu hören.
„Bestechlich wie ein Brabaker Büttel.“ Die Tsageweihte rieb sich die Hände, was nicht nur an der beginnenden Kühle der Nacht lag. Praiodîn blickte fragend. Nach einiger Zeit kehrte der Kater zufrieden und satt an den Zeltrand zurück, legte sich unter eine der Spannschnüre an den Pflock, leckte sich ausgiebig den weißen Bart und die Pfoten, mit denen er sich mit der gleichen Bewegung die Milch aus dem Gesicht wischte. Plötzlich begann er heftig zu zucken, kippte zur Seite, stieß einen halblauten Schrei aus und lag mucksmäuschenstill.
„Du hast das Mistvieh vergiftet“, stellte der Praiosdiener fest, halb anerkennend, halb missbilligend. Keine sehr praiosgefällige Art, eine solche Zauberkreatur zu vernichten, aber Hauptsache, sie war ein für allemal aus dem Weg geräumt. „Ich dachte, du fürchtest den Zorn der Götzendienerin?“
Ysilda rieb sich noch immer die Finger, die mit einem dunkelroten, ranzig riechenden Saft verschmiert war, wie ihr Gegenüber jetzt merkte.
„Ogerschellenbeere“ sagte sie. „Das Zeug wird hier in rauen Mengen vertilgt, zusammen mit getrockneten oder geräucherten Fliegenpilzen. Eine macht nur dumm, zweie hauen dich um. Ich habe mal den Saft von drei Beeren in die Milch geträufelt. Richtig heftig sind angeblich nur die Kerne oder die Schale…die meisten hier lutschen die Beeren einfach und spucken den Rest aus.“
„Ich möchte gar nicht wissen, wie die Rauschkrautträume einer Hexenkatze beschaffen sind…“ brummte Praiodîn. „Gar kein schlechter Trick. Man muss diese Wirrköpfe einfach mit ihren eigenen Waffen schlagen.“
Ysilda lachte: „Da wird morgen jemand einen ganz schönen Kater haben, soviel steht fest.“
Wenig später standen sie am Holzlagerplatz, wo allerhand belaubte Äste, Tannenzweige und zerhackte Stämmchen umher lagen. Sie griffen sich einen der Körbe, in der sich eine Axt und eine große Holzfäller-Säge befand, und schlenderten damit auf den Pfad in Richtung Felsenstiege (in deren Nähe sich der Aufzug befand). Niemand schien sich sonderlich um sie zu kümmern, dennoch schlug Praiodîns Herz bis zum Hals.
Ein schriller Schrei ließ ihn zusammenzucken.
Im Schein der Lagerfeuer sahen sie, wie Hekata aus dem großen Rundzelt taumelte, die Augen verdreht, und wild mit den Armen ruderte. Dann wurde ihr Blick wieder klar, während sie in Richtung der beiden Geweihten deutete: „Sie haben meinen Muriel vergiftet. Haltet sie auf.“ Dann eilte sie wehklagend in Richtung ihres reglosen Vertrautentiers.
Die beiden ließen den Korb fallen (Praiodîn riss geistesgegenwärtig die Axt an sich) und liefen in Richtung Pfad. Genau in zwei junge Sokramorier hinein, die gerade umständlich ihre Hosen festzurrten. Offenbar waren sie gerade beim Austreten überrumpelt worden. Oder bei Schlimmerem?
„Festhalten!“ rief jemand hinter ihnen. Der eine Bauernlümmel machte tatsächlich Anstalten, sich ihnen in den Weg zu stellen – ließ den Versuch aber bleiben, als der Geweihte mit der freien Hand drohend das Beil hob. Im nächsten Moment verfing sich kreischend ein Rabe in Ysildas Haar, und begann flügelschlagend auf sie einzuhacken. Schreiend stürzte die Geweihte zu Boden. Praiodîn hob erneut das Beil. Was sollte er tun? Würde er auf den Raben einschlagen, war die Wahrscheinlichkeit hoch, seiner Gefährtin den Kopf zu spalten. Er hatte da so seine Erfahrungen.
Im nächsten Moment wurde er auch schon von kräftigen Armen zu Boden geworfen. Praiodîn schrie vor Schmerz auf, als die Schlinge von seinem Arm gerissen wurde. Ein heftiger Schlag auf den bandagierten Kopf. Er blinzelte benommen. Auch hier wurde der Verband weg gefetzt. Widerstand war sinnlos. Nach kurzem Handgemenge war alles vorbei.
„Xalan, lass ab!“ keifte eine alte Frau. Dennoch dauerte es noch eine Weile, bis der Rabe von der Schlotzerin aufflog. Hinter Praiodîn her wurde sie mit groben Händen in Richtung „Festplatz“ geschleift.
„Es sind Geweihte der Zwölfe, die sich auf unser Fest geschlichen haben“, schimpfte Hekata, mit loderndem Blick, der an grünliches Wetterleuchten erinnerte. Aufgeregtes Stimmengewirr antwortete. „Also doch“, murmelte eine. „Unglaublich“, schimpfte eine andere. „Schon wieder“ ächzte die Dritte. Anklagend hob Hekata ihren Kater hoch. „Gut, dass ich mich für einen Moment in Muriels Geist versenkt habe. Sie wollten fliehen und uns alle verraten.“
„Lebt er noch?“ fragte eine besorgte Junghexe.
„Sein Herz schlägt noch. Mit was habt Ihr meinen Gefährten vergiftet, Ihr Abschaum?“ Hass und Zorn glühte in den Augen der Tochter Satuarias. „Dieses Tier ist mehr wert, als ihr zweibeiniges Ungeziefer je sein werdet!“ Tränen der Wut rannen ihr durchs blasse Gesicht. „Oh, gütige Mutter der Erde, warum wird die Milde deiner Kinder immer derart missbraucht?“
„Ogerschelle“ sagte Ysilda, und wischte sich die schmale Blutspur ab, die ihr von der Stirn rann. Schlimmer schien sie nicht verwundet zu sein. „Nur Ogerschelle…der Saft von drei Beeren, mehr nicht.“
Hekata schnaubte verächtlich. „Nur Ogerschelle…Drei Beeren, mehr nicht? Damit könnt Ihr einem Menschen den Verstand rauben. Wenn hier jemand mit dem Namenlosen im Bunde ist, dann ihr. Mein armer kleiner Muriel. Mein armes Murrchen…Was haben sie dir angetan?“ Sie schmiegte ihr Gesicht an den schlaff herabhängenden Kopf des Katers. Seine Augenlider zuckten, ebenso die eine Vorderpfote. Diese deutlichen Lebenszeichen sorgten dafür, dass die Hexe sich doch etwas beruhigte.
„Ich habe dich gewarnt, Praiot“, sagte sie, mit gefährlicher Ruhe in der Stimme. „Wenn du Ärger machst, kommst du in den Käfig. Steckt sie hinein, alle beide…“ Die grünen Augen der Hexe bohrten sich in die Gefangenen. „Nackt. Dann können wir wenigstens sicher sein, dass diese heimtückischen Meuchler keine Waffen versteckt haben…“
Praiodîn warf sich gegen die Käfigwand, rüttelte geduckt und einhändig an den Holzstäben. Ein Hexenbesen knisterte drohend über das Gitter. „Hör zu, Mordbrenner des gierigen Greifen“ zischte es hasserfüllt. „Wenn du keine Ruhe gibst, kippen wir dich mitsamt Käfig in den See, als Opfer für Satuaria.“
Eine blondbezopfte Frau daneben schüttelte heftig den Kopf: „Neiiiin, er soll brennen! Brennen soll er. Lichterloh. Wie meine Kröte, die sie in den Ofen geworfen haben wie ein Stück Holz. Verfluchte Bannstrahler, wie der da einer ist…“ Ein Speichelstrahl traf die Schulter des Praioten.
„Ich bin kein Bannstrahler!“ sagte er knapp. „Und wenn demnächst jemand brennen wird, dann seid Ihr es…Überhaupt, Ihr habt eine feuchte Aussprache, meine Dame.“ Angeekelt wischte er sich sauber.
„Ziemlich schlecht bestückt, unser Pfäfflein!“ kicherte es von der Seite. „Ein wahrhaft lausiges Sonnenszepter, was du jetzt noch trägst, Goldröckchen!“
Praiodîn merkte, wie er rot anlief. Ysilda neben ihm sagte nichts, versuchte nur die eigene Blöße zu verdecken.
Auch er zog es vor zu schweigen. Was nicht einfach war, wenn man von allen Seiten begafft wurde, wie ein Stück Vieh auf dem Jahrmarkt. Die aufgeregt schnatternde Meute beruhigte sich erst wieder, als Hekata zurückkehrte.
„Muriel geht es schon etwas besser“, sagte sie erleichtert. „Er ist wach und hat sich erbrochen…mit Satuarias Hilfe wird er schon morgen wieder geheilt sein. Elende Giftmischer… Bishdarielon war wenigstens unschuldig, als er sich damals an eurer Stelle befand…“
„Was heißt da Giftmischer? Jeder hier knabbert an den Beeren“ sagte Ysilda mit fester Stimme. „Vielleicht solltet ihr eure Feste einfach mit weniger Rauschkraut feiern.“
„Sagen die ungeladenen Gäste.“ Hekata ging in die Hocke. „Seid dem Tod Walerians, des barönlichen Leibgeißlers, hat uns Ludwina verboten, Pfaffen ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis gen Alveran zu schicken. Dorthin, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Insofern werden wir ihr Urteil abwarten müssen…Leider.“
„Ihr habt einen Bannstrahler ermordet, ihr verfluchten….“ Praiodîns Gesicht prallte wütend gegen das Gitter.
„Halt die Klappe. Walerian Karrer war ein Schwein, und er ist gestorben wie ein Schwein. Nun zu euch. Ihr seid also der Meinung, der Saft dreier Ogerschellenbeeren wären völlig harmlos. Gut, dann bekommt jeder von euch vier Beeren, die ihr mit Haut und Stiel essen werdet. Das wird euch lehren, was es heißt, unschuldige Tiere zu vergiften.“ Hekata hob die Linke, in der sich die hölzerne Milchschale befand.
„Vier Beeren, das ist Wahnsinn“, ächzte Ysilda nach einer Weile.
„Sagen wir, es macht euch etwas lockerer!“ kicherte die Blonde. Praiodîn spürte, wie ihm ein Hexenbesen in die Seite gestochert wurde. „Wirkt ein bisschen hüftig, der fromme Mann. Eigentlich könnten wir ihn auch gleich braten und auffressen, wie in den Schauermärchen, die sie ihren Kindern erzählen.“
„Gar nichts werde ich essen!“ knurrte der Geweihte. „Ihr werdet uns sofort rauslassen, oder…“
Im nächsten Moment bohrte sich der Besenstiel in seine lädierte Schulter. Schreiend vor Schmerz drängte sich Praiodîn in die Käfigecke.
„Oder was? Ich glaube, du brauchst dringend etwas gegen deine Schmerzen.“ Hekata griff in die Schale und zog zwei kleine, runzlige, rotbraune Beerchen hervor, die wie Kirschen an einem Stiel hingen. „Iss, oder sollen wir dich mit Blindheit schlagen? Oder der hübschen Ysilda hier dauerhaft ein paar Warzen sprießen lassen? Vielleicht wäre dir auch ein Hexenschuss Recht. In so einem engen Käfig, wo man nicht einmal aufrecht stehen kann, stell ich mir das recht unangenehm vor. Zusammen mit deinen sonstigen Wunden…“
„Lass gut sein!“ Ysilda griff nach den Beeren. Wenn sie die Kerne ausspucken konnte, mochte der Rausch sogar angenehm sein. Sie pflückte die Beeren ab, schob sie sich in den Mund. Ein ranziger, mehliger Geschmack nach Ogerfett, dem das ansonsten unscheinbare Sträuchlein wohl seinen Namen verdankte. Sie presste den süßlichen Saft mit der Zunge aus, wollte die trockene Haut und die spitzigen, glatten Kernchen wieder ausspuckten. Von hinten legte sich schwer eine Hand auf den Mund, presste sie mit dem Rücken gegen das Gitter. „Schön aufessen“, höhnte es. Die Geweihte kaute mühselig, der Geschmack in ihrem Mund wurde bitter. Sie schluckte hinunter. Die Hand vor den Lippen verschwand – nur um ihr zwei weitere Beeren zwischen die Zähne zu stopfen. Sie verschlang sie unzerkaut, allein um den unangenehmen Geschmack zu entgehen. Lediglich den gegabelten Stiel spuckte sie aus.
Praiodîn wollte eingreifen, musste sich aber unter pervalischen Stichen und Stößen von Hexenbesen ducken. „Wir sind Geweihte der Zwölfgötter! Das werdet ihr büßen!“
„Diesen Spruch höre ich heute schon zum hundertsten Mal!“
Sie schoben ihn mit den klebrigen Besenstielen in Richtung Gitter. Eine Frauenhand grub sich in sein Haar, hielt seinen Kopf fest.
„Eine für den lieben Herrn Praios!“ Dröhnendes Gelächter. Die Beere landete in seinem Mund. Er wollte sie komplett wieder ausspucken, aber in schneller Folge kamen drei weitere nach. Er kaute, wenn auch stur. „….und der Rest für die Alten Götter. Das wird euch hoffentlich eine Lehre sein. Die ihr immer so gerne anderen Menschen erteilen wollt.“
Sie ließen von ihnen ab, scheinbar angewidert. Praiodîn überlegte, ob er die schmierige Masse wieder herauswürgen sollte, ließ es dann aber sein. Lieber das Schicksal mit Stolz ertragen, als hier das ungezogene Kind zu spielen. „Verflucht soll ihr sein!“ nuschelte er, und schluckte mehrfach. Der Geschmack war eklig, wie gewässertes Leder. Wie konnte man so etwas freiwillig zu sich nehmen? Dann lehnte er sich gegen die Rückwand des Käfigs.
„Jeden Tag vier Beeren und sie werden bis zum sechsten Tag des Praios vergessen haben, wie sie heißen“, schlug jemand vor. „Dann setzen wir sie im Wald aus und überlassen sie den wilden Tieren…“
„Die Frau schon. Der Praiosmann ist gefährlicher.“
Ach ja? Praiodîn verkniff sich ein Grinsen. Irgendwie hatte er plötzlich Hunger. Das hier war alles lächerlich.
„Habt Ihr nicht besseres zu essen als diese Beerchen…? Mir knurrt der Magen…“
„Willst du noch mehr…? Ansonsten bleibt deine Küche kalt.“
In seinem Kopf begann sich langsam eine Art Mühlrad in Bewegung zu setzen. Das jähe Schwindelgefühl sorgte dafür, dass er sich an einem Gitterstab festhalten musste. Er fühlte sich mit einem Mal leicht, entspannt, die Schmerzen in der Schulter waren einem angenehm tauben, kühlen Gefühl gewichen.
„Beerchen…Bärchen…Ihr wollt uns hier einen Bären aufbinden, oder?“ quasselte er plötzlich drauf los. Abrupt brach er ab, erschrocken über seinen würdelosen Rededrang. Was hatte er da nur für einen unangenehmen Geschmack im Mund? Es war, als hätte sich der ranzige Saft in seinen Gaumen eingebrannt. Seine Zunge war pelzig. Nein, der ganze Körper fühlte sich pelzig an. War er etwa ein Bär, den man in einen Käfig gesperrt hatte?
Er brummte, begab sich auf alle Viere. Gelächter drang aus weiter Entfernung an sein Ohr. Er schwankte. „Hört auf, am Käfig zu rütteln.“ Noch mehr Gelächter.
Er starrte in Ysildas Gesicht, in ihre glasigen Augen, auf den rotgesprenkelten Mund, auf ihre mit Saft vollgetropften Brüste, merkte erst jetzt, wie nahe er ihr war. Sie waren ja beide nackt. Splitterfasernackt. Barfuß bis zum Kopf. Erschrocken prallte er zurück.
„Ich glaube, die beiden treiben es heute Nacht noch miteinander.“ Die Frauenstimme klang merkwürdig laut, und irgendwie verzerrt, grell, fern und nah zugleich. Überhaupt schien Satinavs Zeitfluss in kleine Stücke zerhackt zu sein. Wie lange starrte er jetzt schon hinaus auf den glänzenden See? Und warum tropfte ihm dabei ein einzelner langer Speichelfaden aus dem Mund?
„…sabbert…wie ein Tier…der feine Herr Praiosdiener…“
Heiliger Alboran, steh mir bei. Er wurde angehoben, so schien es, mitsamt Käfig. Nein, der Käfig ging durch ihn hindurch. Jetzt kauerte er wieder am Boden. Das Mühlrad in seinem Kopf drehte sich immer schneller. Er fiel ins Bodenlose, landete weich auf Ysilda.
Was für schöne Brüste sie hatte. Eine Dienerin des Lebens, ja, das war sie. Das pralle Leben. Er röchelte lustvoll.
Sie sagte etwas zu ihm, derart abgehackt, dass er es nicht verstehen konnte. Es war, als würden viele Stimmen durcheinander palavern, mal laut, mal leise. Chaotische Wortfetzen drangen an sein Ohr, die keinen Sinn mehr ergaben, dumpf, als hätte er seinen Kopf unter Wasser. Die Gitterstäbe begannen zu rotieren, bildeten immer neue Muster und Formen, wie ein Fischernetz, das ständig aufgelöst und aufs Neue geknüpft wurde.
„Das ist ja besser als Purpurmohn“. Ysilda kicherte überdreht und schlang sich mit lüsternem Stöhnen um ihn. Sie versuchten sich gegenseitig festzuhalten, während sie hinausflogen zu den Baumwipfeln, hinauf zu den Sternen und der Käfig sich immer schneller zu drehen begann.
„Ich hab daran gerochen, bevor du zu mir gekommen bist, Praiodîn. Wunder…wunderschöner Purpurmohn. Einfach wunderbar. Lacertinus hatte einfach wunderbare Pflanzen in seinem Garten. Verstehst du? Wir beide auf einem Hexenfest, kann es etwas Schöneres geben?“
Praiodîn lachte, lachte von ganzem Herzen. Ysilda kroch auf ihn. Von draußen, der Außenwelt her, die aus schemenhaften, verzerrten Gesichtern bestand, drang johlender Applaus herein.
Er griff mit keuchendem Lachen nach draußen, nach dem Fuß einer Hexe. Reissig klatschte ihm ins Gesicht, nicht allzu hart, eher neckisch.
Der Grasboden draußen wankte und schwankte und sah ihn merkwürdig an. Eine Schlange ringelte sich über seinen Arm hinweg, mit ledriger, kühler Haut. Er drehte sich wieder auf den Rücken, starrte in den Nachthimmel. Es war, als würde eine gewaltige kosmische Flut hereinbranden, Welle auf Welle. Nein, es war Ysilda, die sich auf ihn geschwungen hatte, als wäre er ein Hexenbesen, und ihn im wilden Rahjaspiel ritt….und ritt…und ritt. Er spürte nur leichten Widerwillen, eine verblasste Erinnerung an das Vorher, das ihm immer mehr entglitt.
Tierische Brunst erfüllte mit jedem Stoß, jeder Berührung seinen Geist und Körper. Sie umschlangen sich, heiß, feucht und innig. Ungebändigte Levthanslust bereitete sich in ihm aus, und doch blieb etwas in seinen überreizten Sinnen völlig unbeteiligt, als ginge ihm das Geschehen gar nichts an. Als stünde er irgendwo in Schar der Zaungäste, die um den Käfig herum gafften, mit leuchtenden Augen, an den Gittern rüttelten und das Liebespaar mit rhythmischen Gejohle anfeuerten.
Hinter ihr erblickte er die Sternenleere, das grausame Schwarz, mehr in seinem Innersten als vor seinen getrübten Augen.
Sah jetzt das grausame Geschoss, das sich aus der Tiefe des Universums näherte, geschleudert voller grenzenlosem Hass.
Die Wellen schlugen höher und höher.
Warum leuchtete Ysilda mit einem mal so blau. Blau…sie war ein blauer Stern in der Finsternis des All. Ein blauer Wandelstern. Das Geschoss sauste lautlos heran…Schlug ein, mitten in ihr wunderschönes, sinnlich verzerrtes Gesicht, mit den immer weicher werdenden, lustverschleierten Augen, dem wolllüstig keuchenden Mund. Ein blauer Brocken splitterte ab, trudelte in die unendliche, sternengesprenkelte Schwärze davon. Der Levthanssaft begann warm zu fließen.
Sterne, überall Sterne. Musik. Die ewige, endlose Musik der Sphären. Ein freundliches Licht.
Ein Taghimmel. Die Sonne schien über einem endlosen Urwald. Im kobaltfarbenen Blau, zwischen weißen Wölkchen, leuchtete eine zweite Sonne auf. Wurde heller und heller. GRELL. Die Wolken begannen zu verdampfen. Dann nur noch blaues, gleißendes Licht. Staub und Asche türmte sich zum Firmament. Bebender Boden. Hitze. Praiodîn begriff. Er schrie. Der Einschlag eines Schweifsterns. Genau hier.
JETZT.
ES war der Stern. ES war der Einschlag. ES war zugleich das Getroffene und wurde mit Urgewalt aus der schützenden Erde gerissen. Feuerbälle regneten links und rechts von ihm herab gleich brennendem Schnee, überall wirbelten Staub und Flammen. ES starb und wurde zugleich neu geboren. Flog viele Meilen über den umknickenden Wald hinweg, trudelte um die eigene Achse, stürzte schwer in die Tiefe, eine Rauchfahne hinter sich herziehend. Krachte durch die Wipfel der Bäume, zerstörerisch wie das Geschoss eines Zyklopen. Ein großer, schwarz verbrannter Stein, der sich tief in grünes Dickicht, in modrige, sumpfige Erde bohrte. Eine ungeheure Luftwelle sauste im nächsten Augenblick dumpf grollend über alles hinweg. Die Bäume beugten sich im infernalischen Feuersturm, wurden weggefegt wie Spreu oder stürzten einfach reihenweise um. Die Stämme brannten lichterloh, wie Zunder…verbrannten in wenigen Herzschlägen. Als sich der Weltuntergang beruhigte, blieb ein qualmendes Aschenfeld zurück, darin glimmende Stümpfe und verkohlte Kadaver. Der Himmel war verdunkelt, fahles Zwielicht sickerte hindurch und ließ die vollkommene Verwüstung nur erahnen.
Inmitten des Chaos ragte ein schwarzer Stein auf. Nein, nicht ganz schwarz. Da war dieser blau leuchtende Einschluss auf der Seite…
Erst nach Tagen wurde es wieder heller. Neues Leben grünte im Wald, der wieder in alter Pracht zu gedeihen begann.
Moos, Moos, überall Moos, das sich auf seinen steinernen Körper, nein, um sein Gefängnis legte, das langsam einsank, zur Seite kippte und das blaue Leuchten verbarg.
Stein, Stein, Es war nun ein Stein. Im Stein. Der Atem der Jahrhunderte, nein, der Jahrtausende glitt darüber weg. Firunshirsch und Einhorn grasten einträchtig auf der Lichtung, am Waldesrand, beide mit silbrig schimmerndem, schneereinem Fell. Golden blitzte und funkelte das gewundene Horn des Einhorns. Hell glänzte die Sonne zwischen dem zwölfendigen Geweih des Einhorns.
Ein Geräusch ließ die Köpfe der Zaubertiere hochrucken. Das Einhorn schnaubte unruhig, scharrte mit den Hufen. Der Hirsch hielt mit dem Äsen inne.
Dann brach die schwarze Schar der Orks aus dem Wald hervor. Ein kurzer Befehl, und die Meute der Kriegshunde preschte los. Das Pack begann seine Beute zu umkreisen. Die Schwarzen schleuderten Netze, warfen Speere, hoben Hörnerbogen und schossen grausam gezackte Pfeile. Was half es, dass der Hirsch mit seinem Geweih noch einen vorwitzigen Hund aufspießte und durch die Lüfte schleuderte. Verfluchte Geschosse voller Haß und Bosheit durchbohrten ihn, ein schweres Netz senkte sich über ihn herab. Wehklagend stürzte er zu Boden, verstrickt in die Taue. Krummsäbel und Stoßspeere zuckten wieder und wieder hernieder. Edles Blut tränkte dunkelrot das Gras. Keuchend röchelte der Firunshirsch sein Leben aus, mit herausgereckter Zunge.
Das Einhorn kämpfte ausdauernder. Zertrat hier den Schädel eines Orkenhunds, durchbohrte dort einen unvorsichtigen Schwarzpelz. Stieg auf die Hinterhufe, wieherte und durchbrach zornschnaubend die Umzingelung. Eilte mit wehender Silbermähne in den Wald, wo ihn ein gewaltiger, nachtschwarzer Auerochse erwartete. Der hünenhafte Orkschamane auf dem Rücken des Stiers trieb sein Reittier mit wilden Peitschenhieben zum Angriff . Ein gleißender Lichtstrahl aus dem Horn fegte ihn ins Dickicht, ein wütender Hörnerstoß ließ den Stier mit Schaum vor dem Maul in die Knie gehen und dröhnend zu Boden sacken. Im nächsten Moment traf das goldene Horn das Herz des Auerochsen und durchbohrte es. Brüllend verendete das Urtier. Schwarzes Blut sprühte aus der Wunde hervor.
Aber auch das Einhorn war schwer getroffen worden, sein eigenes und fremdes Blut bedeckte die Flanke. Es lahmte, dort wo ein letzter Angriff seines Erzfeinds das Bein getroffen hatte. Nun eilte die heulende Schar der Hunde herbei, verbiss sich in ihren zusehends geschwächten Gegner. Hier traf ein Pfeil einen der vierbeinigen Hetzer, dort schlug er in den reinweißen Leib des Hengsts ein. Feige huschten die Orkschützen heran, immer noch zwei Dutzend an der Zahl. Erst als alle Pfeile verschossen waren, griffen sie an. Fast die Hälfte der Jäger fiel, unter leuchtenden Zaubern, den blitzenden Hufen und dem Horn, aber der Rest blieb im erbarmungslosen Gemetzel siegreich. Das Einhorn brach in die Knie.
Die grausam gezackte Axt zuckte herab, schlug dem Zauberpferd das blutige, goldene Horn von der Stirn. Mit einem letzten Stück hing die Trophäe noch am Schädel, brutal wurde sie abgebrochen, herausgedreht und weg gerissen. Ein Messer und das eigene Horn bohrten sich in den Hals des sterbenden Einhorns, nicht um es zu erlösen, sondern um seine qualvollen hellen Schreie zu ersticken. Die klugen Augen brachen, vom Todeskampf getrübt. Der Kopf sank zur Seite, auch die Hufe zuckten nicht mehr. Kehliges Triumphgebrüll hallte über der Lichtung, gelbbraune Orkhauer bleckten. Höhnisch grunzend hielt sich einer Schwarzöcke den einst silbrigen, nunmehr blutgetränkten Bart des Einhorns ans eigene Kinn. Einige fingen an, das Fell des erlegten Wilds abzuziehen und rohes Fleisch zu fressen, die anderen schichteten ein Lagerfeuer auf, um ihre gewaltige Beute zu braten.
Dunkelheit. Ein Gefühl von Kümmernis in Ihm. Etwas wie Trauer um Hirsch und Einhorn. Fackelschein flackerte am Stein auf, Runen wurden geritzt, blutige Opfer dargebracht. Gesänge und Gebete in einer Sprache, die weitaus freundlicher war und klangvoller als Orkisch.
Der Gehörnte trat mit schneeweißem Hirschfell und zwölfendigem Geweih aus dem Wald, um sich zu holen, was sein Teil war. Und Es schlief, tief im Inneren des Steins, schlief und dämmerte für Äonen.
Endlich weckten sie Es. Stimmen in der vertrauten Sprache erklangen, aber sie waren unfreundlich. Das erste, was Es sah, auf seine Art wahrnahm, war der Erzböse, das Gesicht bis auf tote Augen verdeckt hinter einer goldenen Maske, den Säugling in Klauenhänden. Ein kläglich weinendes Kind mit viel zu großem, rundem Kopf und spitzen Ohren. Männer und Frauen in Kapuzenmänteln standen im Kreis, erhellt von unstetem Fackelschein.
Schauriger Singsang, frevlerische Worte: „Was ist deine Weisheit wert, närrischer Nandus? SEIN Wahnsinn ist aller Weisheit letzter Schluss. Was zählt all dein Wissen, Sohn des diebischen Phex und der schlangenzüngigen Hesinde, unter dem purpurnen Auge des All-Einen? SEINE Macht weiß um die Schwachheit aller Sterblichen. Was gebiert deine Klugheit, Vater des Borbarad? SEIN Leid besiegt jeden noch so hochfliegenden Gedanken“. Ein goldenes, vielfach gewundenes Horn zuckte herab. Mitten in den knackenden Brustkorb und das Herz des kleinen Feilschers, dessen Wimmern in sprudelndem Rot erstarb. Warmes Blut floss in die Ritzen und Risse des Steins, weckten Es und seinen Zorn endgültig. Die blutbesudelte Waffe klirrte gegen den Stein, versuchte den Fels zu spalten. Es spürte den Schmerz, vielleicht seinen eigenen, vielleicht den des Opfers. Ungeheuerlicher Frevel. Die Erde bebte erneut.
„Höre, Nandus! Ich fordere dich heraus, schwacher Geist, Gott ohne Leib, gefallener Bastard Alverans! Stirb! Vergehe für immer!“ Das Horn drang ein, in einem grellen, purpurnen Lichtblitz. Eine Abfolge schriller Schreie. Es spürte erneut Schmerz. War es sein eigener? „Ich verfluche dich, Nandus! Hörst du? Ich hasse dich! Verrecke! Ich verfluche diesen Stein, ich verfluche deine Heimstatt!“ Das irrsinnige Kreischen eines Einzelnen übertönte das panische Blöken der Anderen.
Eine Art von Kälte kroch in den Stein, die anders war als der wärmende Schnee oder der grimmige Frost im Winter, der neue Risse brachte und zarten Raureif. Grausamer, abgründiger. Der Tod alles Lebendigen. Kälte und Hass, eine unbekannte, drängende Macht, vor der Es fliehen musste, sich irgendwo verstecken. Es stieg langsam nach oben, mehr verwundert als verwundet. Das Moos auf dem Fels verbrannte in purpurnem Feuer zu Asche. Die Lichtung war längst verlassen, das sterbende, durchbohrte Grolmenkind hatten sie achtlos in die Büsche geworfen, den Wölfen und Füchsen zum Fraß. Nebel wallte zwischen den Bäumen, die Morgendämmerung brach an. Irgendetwas, eine leise Ahnung, ein zarter Ruf wies ihm plötzlich den Weg.
Es schlüpfte in den kleinen Leib, seinen ersten Körper außerhalb des Felsens. Aber das Leben schwand schnell aus dem Säugling. Also kroch, krabbelte Es los. Ein weiterer Kinderschrei ließ Es aufhorchen. Licht, dort oben war Licht, unruhig flackerndes Fackellicht. Sein Wirtskörper starb. Es verließ ihn und schwebte hinauf, mit letzter Kraft, prallte ab von den starken Seelen der Erwachsenen. Sah die schöne, aber zu Tode erschöpfte Frau im Kindsbett, den Geweihten mit beschmutzter, abweisender Seele und die Mägde. Es spürte Schwäche und neue Lebenskraft, folgte bereitwillig deren Ruf, glitt hinein in den wimmernden, blutverschmierten Menschensäugling.
Schlummerte, dämmerte viele Götterläufe. Bis zu dem Tag, als seine Macht erneut herausgefordert wurde. Zeigte den Sterblichen sein wahres Gesicht. Ahnte, dass Es nicht länger im Verborgen verweilen konnte. Dass es Zeit wurde, in einen dritten Leib zu schlüpfen.
Schwimmend im Blut.
Letzter Tag: Sphärenspalter
„Die Heilige Inquisition ist wie eine geladene und gespannte Armbrust. Bedrohe ich damit den einen, kann ich nicht zugleich den anderen im Auge behalten. Bewache ich den anderen, entkommt mir der erste. Gewiss, einmal kann ich schießen. Aber dann habe ich auf jeden Fall einen Fehler gemacht. “
Inquisitionsrat Amando Laconda da Vanya
Lautlos ringelte sich die feiste, geflügelte Schlange aus den Wolken. Ihre gewaltigen, schmutzgrauen Fledermausflügel zuckten, wie in einem fiebrigen Alptraum, durch die Nacht.
Verdunkelten das Madamal im Rad ebenso wie die Handvoll Sterne, die noch am Firmament zu sehen waren. Einem häßlichen, giftgrünen Wurm gleich, fegte ihr geschuppter Schwanz durch die Luft.
Unstet und ruhelos glitt der Dämon über den Himmel. Seine Umrisse wirkten unscharf im Licht des Vollmonds, der Leib war unstofflich, fast schon durchscheinend. Auf frevlerische Weise war ein Fremdkörper über dem schweigenden, dampfenden Bergwald der Schwarzen Sichel erschienen. Schwefliger Pesthauch fuhr heiß aus dem Schlangenmaul, über die gespaltene Zunge hinweg. Eiterfarbener Speichel tropfte zwischen giftigglänzenden Hauern herab, verdampfte noch im Fallen. Mit flammenden, lidlosen Echsenaugen blickte die Kreatur um sich. Sie zischte, knurrte ebenso wütend wie triumphal auf, als sie das Ziel erspäht hatte. Leise knisternd stellten sich ihre Nackenschuppen auf, wie die Haare einer wütenden Katze.
Auch der Schatten auf dem Rücken der Schlange bewegte sich nun. Die kalten Augen des Mannes folgten dem Blick seines grausigen Reittieres. Ein zufriedenes Nicken, ein kurzes Rucken am Zügel, ein herrischer Schlag mit dem Stab auf den feisten Schuppenleib des Ungeheuers genügten als Befehle. Dann sank das Monstrum hinab zu den schweigenden Baumreihen, rund um einen kleinen, glitzernden See. Eine einsame Krähe, die in einem der Wipfel durch den Flügelschlag aufgeschreckt worden war, flatterte erschrocken hoch, kam schlaftrunken der Aura des Monstrums zu nahe – und stürzte tot, wie ein Stein, zu Boden.
Der See wurde größer. Der Reiter verzog plötzlich das blasse, verschattete Gesicht, wie unter einem jähen Schmerz. Unwirsch murmelte er Worte in einer alten Sprache. Beinahe sofort löste er sich mitsamt der Schlange auf, in den Schatten und im Rauch niedergebrannter Lagerfeuer, der wie zerrissener Nebel aus dem Tal empor stieg. Die Festgäste schliefen berauscht, erschöpft oder beides, ruhten im Gras oder Zelt. Niemand hörte das Rauschen der unheiligen Schwingen, spürte die jähe Kälte, roch den beißenden Gestank nach Schwefel. Nur hie und da wälzte sich ein Feinsinniger im unruhigen Halbschlaf, blinzelte eine Eule scheu, peitschte ein fauler Kater mit dem Schwanz oder quakte eine feiste Kröte. Dennoch, ein dunkler Schutz verbarg den Eindringling in dieser Nacht vor den scharfen, überderischen Sinnen der Vertrautentiere.
Die Menschen aber waren gefangen in ihren Träumen oder Alpträumen. Erneut ein Rucken am Zügel. Der Karakil, den darum handelte es sich bei dem dämonischen Reittier, verharrte turmhoch und unsichtbar über den Schlafenden. Schwebte gleich einem Falke über seiner Beute. Der Dunkle schlug ein weiteres Mal mit dem Zauberstab zu, diesmal in die Luft. Ein Seil ringelte sich aus seiner schwarzbehandschuhten Hand herab. Der Mann schlang ein Tau um das verdrehte Horn auf der Stirn des Schlangenwesens, das allein er noch sah. Eisig lächelnd ließ er das freie Ende hinab zum hölzernen Käfig ringeln. Es schlang sich um eine Stelle, wo an der Decke vier Gitterstäbe zusammen trafen.
Der Kapuzenmann schnalzte mit der Zunge, die Schlange schlug mit den Flügeln, der Käfig hob sich mit einem Ruck an und....der Knoten und das Zauberseil löste sich wieder, pendelte schlaff hin und. Die Last rumpelte mitsamt Inhalt zu Boden. Der unerwünschte Besucher fluchte lautlos. Dann sah er, mehr noch spürte und roch er das geweihräucherte, mehrfach gesegnete Bosparanienholz des Hexenkäfigs. Offenbar waren seine Gitter antimagisch. Nicht unbedingt das, was man an einem Ort wie diesen erwartete. Mit einem finsteren Fluch, zugleich ein Stoßgebet Richtung Sternenbresche, befahl er dem Seil erneut, sich zu verknoten. Diesmal gelang es. Die Schlange schwebte nach oben, hinaus in die dunkle Nacht.
Praidoîn blinzelte. Sein Mund schmeckte trocken und bitter, der Kopf dröhnte. Alles schwankte, wankte, in ihm, um ihn herum, unter seinen Füßen. Irgendwo zwitscherte ein früher Vogel. Mühsam schlug er die Augen auf. Es herrschte bereits graue Morgendämmerung. Schemenhaft nahm er ein Gitter war, tastete nach den hölzernen Gitterstäben. Sah dahinter Bäume, Felsen, Wald. Was für ein wirrer Rauschtraum hatte ihn ereilt?
Der Geweihte merkte, dass er noch immer nackt war, spürte zitternd die Kühle der Nacht, die langsam in die frühen Morgenstunden überging, die Zeit der Dämmerung. Ebenso, dass er neben Ysilda lag, die ebenfalls so nackt war, wie ihre Junge Göttin sie geschaffen hatte. Es war erregend, sie halb neben sich, halb unter sich zu spüren. In seinem benommenen Schädel regten sich wollüstige Gedanken. Hatten Sie am Ende etwa zusammen der Göttin Rahja gehuldigt? Nein, er konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Vielleicht wollte er es einfach nicht. Er fühlte sich schläfrig, müde. Schwefelgeruch drang an seine Nase.
Ein Prasseln und Knacken im Gebüsch. Im nächsten Moment brach ein gewaltiger, grüner Drachenkopf durch das Dickicht. Nein, eine große Schlange walzte sich heran, die riesigen Fledermausflügel drohend aufgestellt. Mit schleifendem Geräusch schlängelte sich die Kreatur durch das Unterholz, der schuppige Leib grub sich tief in den Erdboden, riss ihn regelrecht auf. Ruckartig hob sich der Kopf der Schlange, auf deren platten Stirn ein krummes Horn prangte. Das “Einhorn” bleckte die Zähne, zischte haßerfüllt in seine Richtung. Gelblicher Odem drang aus seine Maul. Mit underischem Geräusch und angelegten Flügeln walzte der Wurm weiter. Dann war es auch schon wieder im Dunkeln verschwunden, hinterließ nichts weiter als Schwefelhauch. Dîn verspürte nur einen leichten Anflug von Furcht. Schon wieder ein Rauschtraum, dachte er – im nächsten Augenblick schwanden ihm erneut die Sinne.
Ysilda schlug die Augen auf. Sie konnte sich an kaum eines der wunderbaren Trugbilder erinnern, wie sie zu ihrer Enttäuschung bemerkte. Es waren wohl rahjagefällige Bilder, Gerüche, Gefühle gewesen, die sich aber irgendwann in Nichts aufgelöst hatten. Haften geblieben war nur die Vision eines geflügelten Grauens, das irgendwann aus eben diesen schwarzen Nichts zu ihr herabgeglitten war. Ansonsten war da nur ein unruhiger Schlaf gewesen, das Gefühl des Schwebens und Fliegens, aber auch des Schwankens. Wie auf einem Segelschiff bei schwerem Wellengang, weit draußen auf hoher See. Gut möglich, dass sie sich erbrochen hatte, durch eine Lücke im Boden hindurch ins Leere.
Und noch etwas Anderes war da gewesen. Der Gestank nach Schwefel. Ein schriller Schrei. Angst. Aufgestellte Nackenhaare. Ein schwer zu fassendes, kaltes Grauen. Als würde der Sensenmann, der Tod selbst nach ihr greifen, mit starrer, kalter Knochenhand. Nein, etwas schlimmeres als Borons Schatten.
Die bloße Erinnerung daran ließ sich hochrucken. Mit einem keuchenden Laut rutschte sie nach unten. Prallte zwischen den nackten Oberschenkeln auf etwas ungemein Hartes. Das Schwanken wurde stärker. Ein Gitter, sie war durch ein Holzgitter nach unten gerutscht. Sie saß in einem Käfig, wie sie nun realisierte. Neben dem reglosen Dîn. Splitterfasernackt, wie auf einem Hexenbesen. Langsam wurde es hell. Morgennebel lag zwischen den Bäumen, aber vielleicht war es auch nur der Dunst in ihrem Kopf. Vögel zwitscherten. Dann brach das muntere Lied jäh und unvermittelt ab. Eine drückende Stille breitete sich aus.
Sie blickte sich genauer um, die Hand um einen der Gitterstäbe gelegt. Der Käfig hing an einem festen Tau, das wiederum um den dicksten Ast einer Buche, nein, einer Eiche geschlungen worden war. Bevor es von dort zu einem krummen Pflock im Waldboden führte. Erst jetzt begriff sie, dass der Käfig in Mannshöhe über der Erde schwankte. Irgendetwas hatte eine tiefe Furche in den Boden gegraben. In ein paar Schritt Entfernung entdeckte sie einen bemoosten, von allerhand Ranken und Moos überzogenen, dunklen Felsblock. Ein tischgroßer Findling, der halb im Morast eingesunken war.
Ein Schatten löste sich aus dem Nebel. Formte sich zu einem breitschultrigen Kapuzenmann, der ein große Beil in Händen hielt. Eine blutrote, samtene Kapuze verdeckte größtenteils das Gesicht des Neuankömmlings, ebenso wie eine schwarze Augenmaske.
Sowohl Kapuze wie Maske wirkten durchaus elegant, wie bei einem Grangorer Maskenball. Das übrige Gesicht war blass, beinahe elfenbeinfarben, und glattrasiert. Ein Henker.
Schaudernd wich Ysilda zurück, wollte ihre Beine aus dem Gitter ziehen. Hart und unnachgiebig umfasste etwas ihre Wade. Ein keckerndes Lachen. Erst jetzt merkte sie, dass ein weiterer Fremder unter den Käfig getreten war – und brutal ihren Fuß umklammerte. Seine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Haut. Das Gesicht war mit einer der hölzernen, bunten Gaukler- Masken verlarvt, wie sie jetzt, bei den Festen im Rahjamond, in vielen Dörfern der Sichel getragen wurden. Im kehligen, dumpfen Schwarzsichlerisch drangen Worte unter der Larve hervor, die sich nicht verstand. Es klang wie eine wüste Beleidigung. Das obszöne Zeichen der Levthanshörner, das daraufhin folgte, war eindeutig.
Mit scharfem Zischen wirbelte die schwere Axt durch die Morgenluft, als wäre sie federleicht, und blieb dröhnend im Baumstamm stecken. Erschrocken, aber auch respektvoll wichen die bäurischen Gestalten unter dem Käfig zurück. Die Lichtung war voller Maskenträger, stellte Ysilda nun fest.
Der “Henker” stand plötzlich unter ihr, seine schwarzbehandschuhte Rechte hob sacht, fast schon galant, aber ungemein kraftvoll ihren Fuß an, bis sie wieder einigermaßen sicher in ihrem schwebenden, schwankenden Gefängnis kauerte. Wie ein Vöglein in der Voliere.
“Verzeiht den ungebührlichen Empfang, Euer Gnaden.”
Eine leise, staubtrockene Stimme drang unter der Kapuze hervor, kühl, klar und verschattet wie die frühe Morgenstunde. Aber keinesfalls unfreundlich. Etwas darin bat um Verständnis. Dennoch fühlte Ysilda Unruhe in sich aufsteigen. Ihr fröstelte, wie unter einem jähen Fieberschauer. Der Mann trug eine vornehme, brokatbestickte Weste unter dem Umhang, mit Rüschenkragen, die seinem eleganten Aussehen einen leicht horasischen Glanz verliehen.
“Die schwarzen Sokramorier sind grobe Gesellen”, wisperte der Fremde. “Zumal jetzt, in den Tagen, in denen das Vergangene zusammen mit dem alten Götterlauf stirbt. Ihr müsst entschuldigen. Sie sind es gewohnt, in den Grauen Nächten von einem Festplatz zum nächsten zu wandern. Mal feiern sie in einem Dorf, am Weiher oder auf dem Markplatz mal auf einem Berggipfel, mal mitten im Wald. Oder in einer lichtlosen Grotte. Ihre Augen aber sind überall. Unlängst haben sie mir Bericht erstattet, dass ungebetene Gäste zu Besuch im Eulenkuhl weilen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Euch zu meinem Waldfest einzuladen. Gerne hätte ich Euch zuvor um Erlaubnis gefragt, aber Ihr erschient mir ein wenig...geistesabwesend.”
“Wir haben ebensowenig freiwillig an jenem Ort verweilt, wie an diesem hier. Ihr Satuariasjünger habt eigenartige Sitten.” Ysilda versuchte ihre Blöße mit den Händen und im Schatten des Käfigs zu verbergen. Irgendwie klang ihre eigene Stimme entrückt, wie in einem Traum. Die Wirkung der Beeren hatte offenbar noch nicht ganz nachgelassen.
“Ihr missversteht diesen uralten Kult. Die schwarzen Sokramorier huldigen keinesfalls der Satuaria. Sondern, wie der Name schon sagt, der Schwarzen Bergmutter.”
“Dass Sokramor schwarz ist, wusste ich wohl. Aber dass es seit neuestem auch ihre Diener sind?”
“Gewiss. Sie glauben, dass unsere Welt, die Welt der Alten Götter, den Niederhöllen so nahe liegt wie den Zwölfgöttlichen Paradiesen. Dass sich Alveran und die Niederhöllen kaum mehr voneinander unterscheiden wie Wölfe von Hunden. Hier die wilde Natur - dort die gezähmte Natur. Zwei Welten, sich gegenseitig unendlich fern und doch erstaunlich nah. Ein überaus interessanter Gedanke. Was meint Ihr dazu? Von Eurer...höheren Warte aus gesehen?” Ein atemloses Lachen entblösste schneeweiße Zähne. Die Zähne. Irgendetwas stimmte mit den Zähnen nicht. Klackend schloss der Henker seinen Mund wieder.
Ysilda stockte. Sie war nicht darauf gefasst, solche Fragen zu beantworten. So früh am Morgen. Eingezwängt in diesem schwankenden Käfig. An einem unbekannten Ort, an den sie auf unerklärliche Weise gelangt war. War die geflügelte Schlange am Ende doch keine Einbildung gewesen? Wenn sie nur etwas klarer hätte denken können...
Ein starker, süßlichherber Kräutergeruch trat an ihre Nase. Was war das für ein Kraut, das hier offenbar ganz in der Nähe wuchs? Lavendel?
“Wollt Ihr mich foppen?” Sie sog ungehalten die Luft ein. “Wer seid Ihr? Lasst uns heraus. Oder gebt uns zumindest etwas zum Anziehen. Wenn Ihr wider Erwarten doch ein Ehrenmann sein solltet. Wo sind wir hier überhaupt?”
Anstelle einer Antwort zeichnete der behandschuhte Finger des Fremden merkwürdige Zeichen in die Luft.
“Da, zwischen Euren Bein und auf euren Brüsten...”
“Ich verstehe nicht?!”
Galant zog der Maskierte ein Seidentüchlein aus dem Ärmel, in das eine Art Wappen eingestickt war.
“Bevor Ihr Euch bekleidet, solltet Ihr Euch ersteinmal...nun, ihr wisst schon. Ich selbst habe nicht gewagt, Hand an eine tiefschlummernde Frau zu legen.”
Ysilda schwieg perplex. Tatsächlich fühlte sich ihr Körper...klebrig an. Ihr Blick fiel auf Praiodîn. Hatten Sie etwa...wirklich zusammen der Göttin Rahja gehuldigt? Hastig nahm sie das Tüchlein an sich und wischte sich ab. Ihr Blick fiel auf das Wappen – ein Steinbock, mehr konnte sie auf die Schnelle nicht wahrnehmen. Der Geruch nach Lavendel wurde stärker. Sie begann zu zittern. Im nächsten Moment fiel das Tuch nach unten, durch die Gitterstäbe, schwebte Richtung Boden – nein, geradewegs auf die Hand ihrers Kerkermeisters zu. Obwohl eigentlich kein Lufthauch wehte.
Mit spöttischem Lächeln fing er das Tüchlein auf.
“Unhold! Selemitischer Unhold!” zischte die Geweihte. “Seid ihr ein Lustmolch - oder ein Lustmörder?”
“Schon lange nicht mehr.”
Er steckte das Tuch wieder in den Ärmeln.
“Mit Verlaub. Für meine Ohren klingt ihr ein wenig undankbar. Immerhin habe ich Euch erst vor wenigen Stunden aus der Gefangenschaft der Töchter Satuarias gerettet. Diese Hexen sind völlig unberechenbar. Wie mir meine Augen berichtet haben, habt Ihr Euch freiwillig in diese überaus zweifelhafte Gesellschaft begeben. Mutig...für eine Geweihte der Tsa. Noch dazu in Begleitung eines Praiosdieners. Ihr scheint es ebenfalls mehr mit der wilden, ungezähmten Seite von Mutter Natur zu halten, wenn ich mich euch so betrachte?”
“Seht gefälligst woanders hin, wenn Ihr noch einen Rest an Ehre in Euch tragt.” Ysilda drehte sich weg. Wieder dieser eigentümliche Lavendelgeruch. Er stieg geradwegs aus dem Mantel des Fremden auf, wie sie nun merkte. Vermischt mit der Ahnung eines zweiten Geruchs. Eine Ahnung von etwas leicht Modrigem, Faulendem.
“Wie gesagt, ich bin an derartigen fleischlichen Gelüsten nicht interessiert. Aber Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet. Worin genau liegt für Euch der Unterschied zwischen den Wölfen der Niederhöllen - und den Hunden Alverans?”
“Ein wenig früh für...für... für verrückte Philosophie, findet Ihr nicht?”
“Mag sein. Aber zumindest noch nicht zu spät. Seht es als Versuch, unsere Konversation....ein wenig aufzulockern.”
“Es macht einen Unterschied, ob ich meine Herde von Wölfen oder von Hunden hüten lasse”, sagte Ysila und wunderte sich selbst über das Gesagte.
“Ich bitte Euch. Da spricht die übliche Schönfärberei einer Geweihten. Einer durch die blinde Ehrfurcht ihrer Schäflein verwöhnten und irregeleiteten Frau. Um nicht zu sagen: der übliche Hochmut. Ihr wisst so gut wie ich, dass der schlimmste Feind einer jeden Herde - der Hirte selbst ist. Der selbstsüchtige Mensch, der anderen Kreaturen die Freiheit nimmt. Um seine Schützlinge ausgiebig zu scheren und den Muttertieren die Milch zu stehlen. Bevor er ihnen dann am Ende gnadenlos die Kehle aufschlitzt. Manchmal sogar den Lämmchen. Zuvor füttert er sie, streichelt sie, tränkt sie – wiegt sie bis zum letzten Augenblick in trügerischer Sicherheit. ”
“So wie Ihr?” hörte sich Ysilda fragen.
Vielsagendes Schweigen.
“Trinkt Ihr niemals Milch?”
“Ich trinke nicht einmal mehr Wein.”
“Wer seid Ihr?”
Ein freudloses Lachen. “Wer gibt sich für Jedermann zu erkennen, indem er sein Gesicht verhüllt? Wer ist der Verachtete, Außgestoßene und Erniedrigte, vor dem selbst Fürsten ihr Haupt beugen müssen? Und wer erhält Dank, wenn er den schnellen Tod bringt? ”
Ysilda schluckte. Wieder spürte sie das Grauen, diesmal aber bei einigermaßem klaren Bewusstsein. Nun wusste sie auch, was ihr an den Zähnen mißfiel. Die oberen Eckzähne waren merkwürdig spitz.
“Der Henker...” Sie drängte sich in die hinterste Ecke des Käfig. Tsaungefällig. Das Wort hämmerte in ihrem Kopf. Dieser Mann dort war tsaungefällig. Ein schrecklicher Feind der Jungen Göttin. Dem Leben selbst feind.
“Ihr seid der Henker”, wiederholte sie mit heiserer Stimme. Es klang wie eine Abwehrformel. “Möge Tsa Euch verzeihen.” Helle Atemwölkchen drangen bei jeder Worte aus ihrem Mund hervor. Es war kalt, sie schlotterte.
Irgendwie war alles völlig unwirklich. Konnte es sein, dass die Wirkung der Ogerschelle bei ihr gerade erst richtig einsetzte? Die Alptraumgestalt vor ihr gar nicht Wirklichkeit war? Dass sie sich selbst den betörenden Lavendelduft, vermischt mit Grabgeruch, nur einbildete? Lavendel? Lavendel. Irgendetwas sagte ihr das Wort gerade, etwas, was sie schon längst wieder vergessen hatte, hatte vergessen wollen. Es verhieß nichts Gutes.
Der Scharfrichter umschlich den grünen Stein unter ihrem Füßen, wie ein Raubtier, das einen Weg in den Stall suchte. Oder nach dem aufgehängten Fasan oben am Ast schnupperte.
“Werdet nicht albern”, sagte er dann. “Das Leben verzeiht uns nichts. Keine Fehler und keine Schwäche. Vor allem keine Schwäche. Ihr scheint sie schlecht zu kennen, Eure grundgütige Tsa. Sonst würdet Ihr Euch nicht derart frohgemut vor ihr im Staub wälzen.”
“Versündigt Euch nicht vor der Herrin Eures Lebens...”
Erneut ein leises Lachen. “Ich fürchte, dazu ist es ein wenig zu spät.” Schwarze Locken ringelten sich unter der Kapuze hervor, ein scharf geschwungene Nase wölbte sich in der Mitte. Die Augen. Irgendetwas stimmte mit den Augen nicht. Sie waren grausam und hasserfüllt, gefühllos und leer zugleich. Gläsern, wie bei einem ausgestopften Wolf.
“Kord. Ihr seid Meister Kord, nicht wahr? Der Henker von Friedwang.”
“Henker von Friedwang...So könnte man mich tatsächlich nennen, ja. ” Im fahlen Morgenlicht warf der Käfig ein Schattenmuster auf sein verlarvtes Gesicht. Es sah aus wie unheilvolle Zeichen in einer verfluchten Sprache. “Ihr wolltet Antworten, Ysilda von Schlotz. Zu Solalin und dem Karnstein. Die werdet Ihr erhalten. Aber ich fürchte, sie werden Euch nicht sonderlich gefallen.”
Kord begann, neben dem Stein auf und ab zu schreiten, als wolle er das Gras niedertrampeln, in großen, rasch enger werdenden Kreisen. Ein merkwürdiger Schreittanz.
“Es gefällt mir ebensowenig, hier nackt vor Euch in einem Käfig zu sitzen.” Ysildas Stimme zitterte leicht. Das stimmte nicht ganz. Im Grunde war sie sogar froh, dass sich noch ein Gitter zwischen ihr...und diesem zweibeinigen Raubtier befand. “Was soll das werden? Eine Gerichtsverhandlung? Mit Euch als Kläger, Richter und Henker in einer Person? Wessen habe ich mich schuldig gemacht, in Euren Augen? Wie komme ich überhaupt hierher?”
“Endlich fangt Ihr an, die richtigen Fragen zu stellen”. Der Scharfrichter deutete Applaus an. “Nun, das erste, was Ihr begreifen müsst, ist: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Geschweige denn Unschuld. Auf dieser Welt wird man bereits für die Sünden der Anderen bestraft. Für die Sünden Eurer Eltern, zum Beispiel. Oder die Vergehen Eures Vorgängers. Angefangen hat es bei Euch wie bei Eurem gefallenen Mitbruder. Mit Eurer beider Vorliebe für Purpurmohn...”
Ysilda atmete scharf ein. Woher wusste dieser Unhold das?
“Ich hatte, wenn ich ehrlich bin, selbst nicht mehr damit gerechnet. Dass das unsichtbare Siegel auf dem Kistlein noch wirken würde. Nach all den Jahren. Ein Zeichen, das mich benachrichtigen sollte, falls Bruder Lacio, wider allem Erwarten und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, doch noch einmal zurückkehren würde. Zu meinem Erstaunen hat dann doch noch jemand Hand an die vermoderten Trümmerstücke gelegt. Erstaunlich, ja. Meine Zauber werden irgendwie stärker, sobald Fäulnis und Verwesung um sie herum zu herrschen beginnt. Mein Interesse war geweckt, und so habe ich beschlossen, die Vorbereitungen für mein Meisterwerk zu unterbrechen. Eigentlich wollte ich schon den Wechselbalg hierherbringen lassen...aber meine Intuition hat mich auch in diesem Fall nicht getrogen.”
“Zauber?”
Kord schritt weiterhin seine Kreise ab, als wäre er selbst in einem, wenn auch unsichtbaren Käfig gefangen. “Ein kleiner APPLICATUS auf die Kiste, nichts Besonderes. Der gleiche, der mein Bett vor unbefugten Öffnen beschützt. In den Stunden meiner nächtlichen Abwesenheit.”
Nun begriff die Geweihte, was sie die ganze Zeit über beunruhigt hatte. Der Henker sprach in einem fort – doch anders als bei ihr hachte er dabei keine Dunstwölkchen aus. Der Mann sprach...ohne Atem.
Ysilda standen die Haare endgültig zu Berge. Dieser Mann brachte nicht nur den Tod, er selbst war...
“Tot”, sagte Kord, völlig gleichmütig.
Unvermittelt blieb er stehen und sah hinauf. “Ganz recht, ich bin tot, und das schon seit langer, langer Zeit. In meiner Brust schlägt kein Herz mehr, in meiner Lunge ist kein Odem. Erschreckt Euch das?”
Beiläufig zog er seinen Handschuh aus, enthüllte leicht aufgedunsene, bläulichweise Finger, mit wohlgepflegten, aber spitzen Nägeln, und bewegte sie leicht. Der Grabgeruch wurde stärker.
“Manchmal habe ich den Eindruck, dass mein...Zustand auf manche Frauen... wie ein Rahjaikum wirkt. Warum nicht auch auf eine Dienerin des Lebens wie Euch? Heißt es nicht, Gegensätze ziehen sich an? Der Tod und das Leben...was könnte ein größerer Gegensatz sein?” Ein halb spöttisches, halb hohles Lachen. Sein Mund wirkte nun wie eine geöffnete Gruft, die nach ihr rief.
Da war noch etwas. Oder besser gesagt, da fehlte etwas. Der Henker warf keinen Schatten. Weder er noch seine wurmartig zuckenden Leichenfinger.
Ysilda schrie auf. Die Erkenntnis traf sie wie ein jäher, scharfer Peitschenhieb. Ihr Körper bebte. Der durchdringende Geruch nach Lavendel und unmerklicher Verwesung. Die gnadenlosen Wolfsaugen, ohne Licht und Leben. Natürlich...
“Merwan. Ihr seid...der Schwarze? Der Blutsauger, nicht wahr? Das Kind der Finsternis, das Lacertinus ins Verderben geführt hat.”
Der Scharfrichter zog seinen Handschuh sorgfältig wieder an.
“Kind der Finsternis. Ins Verderben geführt. Nicht doch. Das sterbliche Volk hat manchmal arg romantische Vorstellungen von unserer Existenz. Nennt es, wie Ihr wollt. Ich gebe zu, meine derzeitige Verkleidung ist nicht sehr originell. Eine kleine Huldigung an einen entfernten Seelenverwandten, im Orkenkrieg, im Greifenfurtschen. Eine Hommage. Verzeiht, ich halte Euch zum Narren. Eine Seele hatte der böse alte Zerwas natürlich keine mehr. Ebensowenig, wie ich noch eine habe...”
Die Hände des Vampirs griffen urplötzlich nach den Käfigstangen, ohne dass er auch nur einen einzigen Schritt darauf zu geschritten wäre. Er war lautlos herangeglitten, ein dunkler, böser Geist, nun stand er einfach da, unter ihr. Langsam und bedächtig begann Merwan den Galgenkäfig zu drehen, starrte sein Opfer an wie ein Heshtoth, ein Dämon aus dem Abgrund der Niederhöllen. Sein kalter Leib schien einen regelrechten Eishauch zu verströmen. Grabeskälte. Ysilda erstarrte, wie das Kaninchen vor der Schlange. Mit einem mal empfand sie nicht einmal mehr Furcht.
“Die Maskerade hält tagsüber die Sonnenstrahlen ab, die ich, immer noch, als überaus unangenehm empfinde und in manchen Mittagsstunden sogar fürchten muss. Zumal jetzt, im Sommer. Nach all den Jahren. Das Entscheidende aber ist: Man gelangt in dieser Zunft sehr leicht und diskret an Blut. Blut von Euresgleichen. Was will Unseresgleichen mehr?” Die trockene, graue Zunge des Vampirs leckte aufgeregt über seine fahlen Lippen. Sein starrer Raubtier-Blick fiel auf Ysildas Hals. Bohrte sich hinein.
Die Geweihte spürte, wie sie ihre Kehle schicksalsergeben entblöste, das Kinn hob und den Kopf zur Seite drehte. Einen Moment lang hoffte sie regelrecht darauf, das Merwan einfach durch das Gitter dringen und seine nadelspitzen Zähne in ihre Halsschlagader schlagen würde, heiß und schmerzhaft. Dass er das warm herausspritzende Blut aufsaugen würde, sie leeren, ausschlürfen würde wie einen Weinschlauch. Sie schloss die Augen, stöhnte leise. Es klang beinahe wollüstig. Ihr Atem ging schneller, ihre Brüste hoben und senkten sich. Merkwürdigerweise formten sich ihre eigenen Lippen zu einer Art unterwürfigen, nein, hingebungsvollen Lächeln.
“Blut” hörte sie wie aus weiter Ferne Merwans tonlose Stimme. Sie hallte wie ein raubtierhaftes, dämonisches Knurren zwischen ihren Schläfen nach. “Blut. Unser ganzes Sinnen und Trachten gilt diesem pulsierenden Lebenssaft. Blut...Blut...Bluuut....”
Als der Biss ausblieb, blinzelte sie verstört. Öffnete ihre Augen wieder. Merwan stand nun im roten Licht der Morgendämmerung vor ihr – und warf noch immer keinen einzigen Schatten. Er selbst schien ein einziger, lichtloser Schatten zu sein. Wie ein toter, kahler, abgestorbener Baum stand er da, auf der kleinen Lichtung im dunklen Wald.
Ysilda schüttelte verwirrt den Kopf, irritiert über ihre eigene Empfindungen. Es war wie damals, im Garten, als die Wirkung des Purpurmohns nachgelassen hatte. Was dachte sie da? Merwan würde nicht zu ihr in den Käfig gleiten, durch das Gitter hindurch, auch wenn er das vielleicht sogar konnte: Durch Wände gehen. Er ließ den Käfig los, auch seine Alptraum-Präsenz wich zurück. Fast schon schien er ein wenig verlegen zu sein. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte: Er hatte gerade Schwäche gezeigt, vor ihr, seiner Gefangenen und merkte es nun selbst. Ysilda fasste neuen Mut, ruckte an die Stäbe heran. Sie tastete an ihren Hals, spürte dort Blut durch die Ader pochen. Sie war lebendig, ihr Gegenüber nicht. Er versteckt sich hinter einer Maske, weil er ebenfalls Furcht empfindet. Eine andere Art von Furcht. Aber es ist Furcht. Und sie ist unsterblich.
“Nein, Ihr seid nicht tot. Ihr seid...etwas Schlimmeres”, stieß die Geweihte hervor. Auch wenn ihre Zähne klapperten, war der Bann engültig gebrochen. “Ein Untoter...ein tsaverfluchter Untoter seid Ihr, nichts weiter...erzählt mir also nichts vom Tod. Schon gar nicht vom Leben. Hört Ihr? Für Euch gibt es in Tsas Schöpfung keinen Platz mehr. ”
Merwans Zeigefinger tippte einen Moment gegen seinen eigenen, schneeweißen, leicht faltigen Hals. “Ein wenig spitzfindig, Eure Worte. Aber ich fürchte, Ihr habt damit sogar Recht. Mit Eurem letzten Satz. So werdet Ihr mir nachsehen, dass ich mich meinerseits genötigt sehe, keinerlei Rücksicht aufs Tsas Schöpfung mehr nehmen zu können. Aus Gründen der reinen, elementaren Selbsterhaltung. “
“Elendes, blutsaufendes Monster...” Ysilda spürte, wie heißer Zorn ihre Angst zu überlagern begann.
“Wunderschön, wie Eure Halsschlagader pocht, wenn Ihr Euch aufregt...” flüsterte Merwan. Seine Präsenz wurde wieder stärker. Beide Hände des Henkers schlossen sich vor ihm in der Luft, zart und doch zupackend. Es war, als griffe er nach ihrem Innersten. Hatte sie ihn unterschätzt?
Die junge Frau atmete stoßartig aus.
“Und nun? Werdet Ihr mich und Praiodîn ebenfalls ausschlürfen, wie...wie eine Auster?”
“Ich bitte Euch. Der salzige Geschmack von Austern und der von Blut ähneln sich zwar ein wenig. Wenn ih mich recht erinnere. Aber ein blutsaufendes Monstrum bin ich deshalb noch lange nicht. Haltet Ihr mich für eine Art... Blutegel auf zwei Beinen? Ich bin ein zivilisierter Vampir. Ihr habt wunderschöne Augen, wusstet Ihr das?”
“Ihr nicht. Wisst Ihr das?”
“Ich habe mein Spiegelbild leider seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen.” Die Hände des Blutsaugers öffneten sich wieder. “Das heißt, ein paar mindere Dämonen übernehmen seit einiger Zeit diese Rolle, um die Welt der Lebenden zu täuschen. Aber das ist nicht das Gleiche. Das letzte Mal, das ich wirklich mein eigenes, ureigenstes Antlitz gesehen habe. Nun, das war gar nicht so weit von hier entfernt, im Wasser des Waldensees.”
“Und?”
“Ich sah fürchterlich blass aus. Diese vollkommene Leere im Wasser, nach meiner Rückkehr, war eine Art von Erlösung. Ich habe meine Hände darin gewaschen, nach dem Ritual...so sehr ich auch leckte, ich bekam sie einfach nicht mehr sauber...In diesem Moment war mir zumute, als wiche sogar der See vor meinen Fingern zurück.”
“Ihr seid ein Mörder.”
“Ihr missversteht mich. Es ist keinesfalls nur der schnöde Blutdurst, der mich antreibt. Das heißt. Anfangs schon. Man fällt über alles her, was man bekommen kann, verhält sich vollkommen gierig. Maßlos. Zügellos. Bis man anspruchsvoller wird. Ruhiger und überlegter. Um Praios Allmacht zu trotzen, habe ich mich zuletzt eine Zeitlang im Tiefen Süden aufgehalten, wo sich der Götterfürst seit jeher besonders hoch über die Köpfe der Sterblichen erhebt. Die Wilden des Regenwaldes haben mir endgültig die Augen geöffnet. Inwiefern? Nun, die Mohaha glauben, dass, wann immer sie einen anderen Menschen verspeisen, ein Teil seiner Kraft und Macht auf ihn übergeht. Sie sehen Kannibalismus sogar als ein Zeichen höchster Wertschätzung und Ehrerbietung. Übrigens würden Ihnen die Gefressenen darin jederzeit zustimmen. Du bist, was du isst. Wir, die wir uns mit ein paar lächerlichen Schank eures Blutes begnügen: Wir hingegen ernten nichts als Abscheu und Verachtung.”
“Oh ja, ich verabscheue Euch. Selbst wenn Euch Praios Sonnenstrahlen nichts anzuhaben vermögen, dann wird Euch bald schon die Allesgebärende vernichten.” Ysilda rieb sich erneut über den Hals.
“Die Allesgebärende, die Allesvernichtende. Ihr sprecht schon fast wie eine ketzerische Tsajüngerin der Käferinsel, wenn ich das einmal so sagen darf. Ich muss Euch leider enttäuschen. Ich habe im Leben keinen einzigen Tag lang an die Macht der Unsterblichen Zwölfe geglaubt. Geschweige denn zu ihnen gebetet. In weiser Vorraussicht. Nun können mir die neidischen, grausamen Herren der Welt selbst nach dem Tod nichts anhaben.”
Merwan wies um sich. “Es ist...die Erde, die mich seit meiner Erhebung verdammt und zurückstößt. Jeden Tag aufs Neue. Einst war ich ein Diener der Sumu. Euch gar nicht einmal so unähnlich. Ein Hüter des Lebens. Ein Duridya, wie die Elfen sagen. Ja. Ich war ein Weiser des Waldes, ein junger Druide, der nichts weiter als im Einklang mit der Natur und ihren ewigen Gesetzen leben wollte. Was war der Dank der gütigen Sumu? Sie hat mich ausgespieen, wie ein prassender Baron irgendein abgenagtes Knöchlein ausspuckt. Vor allem ihretwegen muss ich diesen lächerlichen Mummenschanz hier tragen, die Kapuze, Handschuhe, und...seht her...”
Der Henker hob seine Stiefel, deren Sohlen mit spitzen Nägeln gespickt war. “In den Schuhen befindet sich Staub aus der Weidener Wüstenei. Keine Erde Aventuriens könnte lebloser, unfruchtbarer sein. Und dennoch spüre ich den grausamen Humus, spüre ich Sumus Leib unter meinen Tritten, als würde ich über glühende Kohlen laufen. Dieses Verzehren, und innere Verbrennen, diese quälende Leere und Hohlheit angesichts der fruchtbaren, furchtbaren Natur um mich herum: Ihr könnt sie mit eurem endlichen, kümmerlichen Verstand gar nicht ermessen. Und doch zieht es mich immer wieder hierher zurück. In den Schratenwald. Meinen Schratenwald. ”
Der Vampir glitt wieder heran: “ Nun fragt Ihr Euch sicherlich, warum ich Euch von all dem erzähle: Von meiner wahren Verwundbarkeit? Ganz einfach: Weil Ihr beide mir helfen werdet, sie endgültig zu überwinden. Indem Ihr mir Eure Kraft schenkt. Eure ganz besondere Gabe. Die Macht über das Leben selbst. Macht über die Erde. Die Macht, die Fesseln meines einstigen Daseins zu sprengen. Mich am Ende selbst noch über die Grausamkeit des Waldes zu erheben. Denn die Natur ist überaus grausam, erbarmungslos und unbarmherzig, wie das Leben selbst. Das wahre Leben. Nicht das aufgehübschte Zerrbild, vor dem ihr in eurem bunten Tempelchen auf zerschundenen Knien rutscht. Dieser herzige Kinderglaube, das einem schon nichts Böses passieren kann, wenn man die Augen nur fest genug zukneift, vor der unerbittlichen Wirklichkeit Deres. Vor dem ewigen tobenden Chaos der Niederhöllen da draußen, um uns herum, das längst alles zerfrisst, durchdringt, verseucht...und ihr merkt es nicht einmal. Ihr guten Menschen. Merkt Ihr nicht, dass Ihr schon längst – verloren seid?”
“Ich werde Euch gewiss nicht helfen, Frevler. Eure Seele ist für alle Zeiten verloren. Ihr seid wahnsinnig, nichts weiter. Gewiss diene ich dem Leben. Praiodîn aber ist eurem Wald so fern wie Ihr es der Ewigjungen Göttin seid. ”
“Ihr wisst nichts, nichts, gar nichts. Über all die Jahrzehnte, die ich meinen letzten Schritt schon plane. Den Schritt zur Vollkommenheit. Ja, ich habe Euren Amtsvorgänger dazu gebracht, vor der Finsternis zu kriechen. Mit Hilfe einer sanft streichelnden Peitsche namens Purpurmohn. Er sollte dafür sorgen, dass Solalin, sein eigenen Enkel, zwischen den Jahren zur Welt kommt, mit Hilfe einer gewissen Tinktur, die ein unwissendes Hexlein mir gebraut hat, in der Stunde des Blutmonds...”
Merwan schlug mit der Faust auf den Stein, strich im nächsten Moment andächtig darüber. Prallte zurück, von zwiespältigen Gefühle erfüllt.
“Der Pfaffe Praiodîn trägt etwas bei sich, was mir gehört. Denn ich war damals dabei. Hier am Karnstein im Schratenwald. Als die Anhänger der Alten Kulte den Geist im Stein beschworen haben, in dem ein winziges Splitterchen der Macht des Nandus schlummert, dem Gott der Weisheit. Vor Äonen als Schweifstern herabgestürzt aus der Sechsten Sphäre. Dem Ort vollendeter Kraft. Seit Jahrtausenden schlummert dieser Funken im Fels und Stein. Ein Funken nur in der Welt der Götter, aber für unsereins...Aus diesem Quell zu trinken...Ihr könnt Euch nicht vorstellen, welch Macht dies bedeutet. Die Weisheit des Nandus, verbunden mit der Urkraft der Sumu. Die manifestierte und zugleich ungebändigte Weisheit des Waldes selbst. Was hier liegt, ist wahrhaft ein Stein des Weisen. Seht Ihr die Runen hier? Uralte alhanische, vielleicht auch barnfarnische Zeichen, bei den Ritualen nachgefärbt mit frischem Blut.”
Merwans Finger fuhr versonnen über den Stein, wo tatsächlich undeutliche Einkerbungen zu erahnen waren, an einigen blanken Stellen. “Der Magus, dessen Stab und Robe ich nun führe, hat mir damals den entscheidenden Hinweis gegeben. Durch seine Worte, ebenso wie seinen Tod. Wie all die anderen auch. Denn sie alle leben in mir weiter. Ich verschaffe ihnen das ewige Leben. Wahre Unsterblichkeit, bereits hier unten auf Dere. Etwas, was ihr euren Gläubigen niemals werdet bieten können.”
“Wir saufen gewiss nicht das Blut der Rechtgläubigen, rauben ihnen die Seele und...”
Eine gebieterische Handbewegung, vielleicht eine Zaubergeste Merwans hieß sie schweigen.
“Die Unwissenden hätten nur selbst das Moos abkratzen müssen. Die Ogerbeerenranken entfernen und den Dreck, wie ich damals mit meiner Klinge. Sie hätten alles gesehen. Nach einer Weile hätten sie es gesehen. Den herabstürzenden Stern. Die bannenden Zeichen der Satu, der Sumu und des Levthan. Den Hirsch und das Einhorn. Das Alicornus, wie der Gelehrte sagt. Von ihm hat der Karnstein seinen ältesten Namen: Licornusstein. Das Einhorn aber ist das heilige Geschöpf des Nandus. Seine vollkommen verkopfte und vergeistigte Kirche, mit ihren steifen, lächerlichen Weihegraden, kann sich Weisheit nur als vollgeschriebenes Buch vorstellen, als das Liber Enigmarum Nandi. Aber schon der Umstand, dass Nandus den Menschen als Erster die Schrift und das Orakel gebracht hat, beweist mir, dass er älter sein muss als jede Schrift und jedes Orakel. Älter vermutlich als der menschliche Geist selbst. Ein Wandelstern voller astraler, vielleicht sogar göttlicher Kraft. Vollkommene Weisheit aber bringt vollendetes Wissen – und vollendetes Wissen bedeutet unendliche Macht.”
Mit hässlichen Kratzen fuhren Merwans Finger über den Stein, rissen regelrechte Wunden in das Moos.
“Aber nicht ich, der Verfluchte und Gebannte, vermochte diese Macht aus Fels und Erde herauf zu beschwören. Die Unwissenden nennen diese Kreatur: den Steinbold. Ich nenne dieses Wesen das Sternenkind. Durch eine Kraftlinie ist es mit dem Eulenkuhl und dem Spiegel der Satu verbunden. Daraus bezieht es seine Kraft. Nur hier, im Karnstein, wo sich die derische Astralenergie seit Urzeiten ansammelt und verwirbelt, konnte das Sternenkind entstehen und zugleich die Jahrtausende überstehen. Für das Ritual seiner Erweckung benötigte ich dann nur noch diese Narren von Sokramoriern. Außerdem einen lebenden Wirtskörper sowie einen Astralkörper, unstofflich und dennoch bereits manifest genug in der Dritten Sphäre, um ein flüchtiges Etwas aus der Sechsten Sphäre bannen zu können. Ein Wesen aus lauterer Sternenkraft, die flüchtiger, unstofflicher, unfassbarer ist alles alles andere im Kosmos, von der Kraft der Götter selbst einmal abgesehen. Ich habe mich für den Geist eines geopferten Kindes als erstes Gefäß entschieden – eine vollkommen unschuldige Seele erschien mir dem flüchtigen Wesen dieses Etwas am ähnlichsten zu sein.”
“Ihr seid ein Scheusal. Welcher Mutter habt Ihr für diesen Wahnsinn ihr unschuldiges Kind geraubt?”
“Seid unbesorgt, es war kein Menschenkind. Die Grolme haben keine Verwendung für neugeborene Bälger, deren Magie ihnen als zuwenig ausgeprägt erscheint. Mir kam das kleine Ziegenohr gerade Recht. Auch wenn sein Fleisch nicht ganz billig war. Einerseits magisch genug, um einen Astralgeist von weit jenseits unserer Sphäre aufnehmen zu können. Andererseits schwach genug, um das Ritual nicht durch eigenes, zu stark ausgeprägtes astrales Muster zu stören. Gerade recht, um als willenloser Überträger des Sternenkinds zu dienen. Bereit für dessen Transmission in einen lebenden Menschen außerhalb des Steins. Eine kleine Puppe in einer größen Puppe in einer Puppe. Wie bei einer norbardischen Hesindrjoschka. Oder eine Ingredienz, die in einem kleinen Gefäß steckt, das in einem größeren Gefäß steckt. Wie bei einer tulamidischen Schachtel.”
Ein keckerndes Lachen entrang sich der Kehle des Vampirs. “Ihr versteht? Das Prinzip der Transmission? Nein? Zumindest werdet Ihr begreifen, wie hesindial das Alles war. Zunächst verlief das Ritual nach Plan. Das Menschenkind wurde zu gleicher Stunde geboren, nebenan im Turm, nur zu einem einzigen Zweck: Ein würdiges Gefäß für das erwachende Sternenkind zu sein. Ein Wesen, das ganz von unbändiger Sumukraft durchdrungen - und ihr als Abkömmling der sechsten Sphäre doch nicht unterworfen ist. In gleicher Stunde habe ich das grolmische Kind mit einem Seelenfänger durchbohrt. Sein Geist wanderte, vom Sternenkind durchdrungen und gelenkt, zum Schlossturm. In dieser Nacht wurden so ein lebendes Menschenkind, ein totes Grolmenkind und das unsterbliche Kind der Sterne eins. Ich wusste, dass Es von frischem, warmen, süßem Blut angelockt werden würde. Denn es ist gierig nach Blut, wie alle unruhigen Geister, denen die Kraft unentwegt entrinnt - und es kann nur durch Blutfluß von Leib zu Leib wandeln. Oh ja, es ging überaus blutig zu in dieser Nacht, auf dem Karnstein ebenso wie im Wochenbett der Baronin. Gleich einem aufgepropften Weinstock habe ich hernach den kleinen Solalin und den Geist in ihm zu voller Pracht gedeihen lassen, über all die Götterläufe hinweg. Habe geduldig auf den Tag der Ernte gewartet, wenn sich das wahrhaft überderische Sikaryan dieses Wesens zu voller Blüte entfalten muss. Um den Saft dieser Reben wie einen kostbaren Wein zu schlürfen. Um seine unermessliche sphärische Kraft in mich aufzunehmen.”
Merwan hatte die Augen geschlossen und sich über den Stein gebeugt, als würde ihm dort dieser Trunk bereits kredenzt.
“Alles war bereit für das Große Werk, ich hätte die Trauben nurmehr pflücken müssen. Was ist stattdessen geschehen? Irgendein Narr verdirbt alles, wie es so oft geschieht. Vor einigen Tagen ist dieser unselige Answin auf die Bühne gestolpert. Schon damals hat der Novize geglaubt, mir Widerstand leisten zu können. Ich hätte ihn rechtzeitig beseitigen sollen, als lästigen Zeugen. Statt mich über Gebühr an seinen Seelenqualen zu ergötzen. Nun ist ausgerechnet er als Goldrock zurück gekehrt, um das wahre Wesen des kleinen Solalin zu erforschen. Was blieb Ihm anderes übrig, als...das Wirtstier zu wechseln? Wenn es nicht erkannt werden wollte. Auch das habe ich deutlich gespürt, denn unsere Geister sind seit dieser Nacht untrennbar verbunden. Das Sternenkind ist mein Geschöpf, seine Kraft gehört mir. Mir allein. Vielleicht hat es auch gehofft, mir auf diesen Weg zu entkommen. Indem es sein Gefäß wechselte. Wenn, dann war seine Flucht leider vergebens.”
Ysilda sah entsetzt zu Praiodîn, der neben ihr im traumlosen Schlaf lag. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten sein ausdrucksloses, versteinertes Gesicht.
“Ganz Recht. Es ruht nun in Praiodîn, schlummert tief in ihm. Wie hat Rohal so schön gesagt: Die Fliege, die nicht geklappt sein will, setzt sich am besten auf die Klappe selbst. Oder was glaubt Ihr, warum dem Pfaffen plötzlich das Bein nachgewachsen ist? Die Wesenheit, die Ihr hier in der armseligen Gestalt eines Praiospfaffen seht, erneuert seit vielen Jahrtausenden ihre Kraft aus Erde und Fels. Der triefende, stinkende Dreck aus diesem Tümpel, den diese habgierigen Grolme für sehr viel Gold an arglose Heiler verkaufen: Er bewirkt bei Sterblichen in Wahrheit kaum mehr als ein angenehmes Prickeln. Das heißt. In den Namenlosen Tagen, wenn die Macht der Feenorte am größten ist, hilft der Schlamm vielleicht schon mal gegen den einen oder anderen Kratzer mehr. Ebenso wie im See selbst überaus merkwürdige Dinge geschehen. Der Zeitfluss in unserer Welt und der Zeitfluss in der Feenwelt beginnt wohl sich zu vermengen, und manchmal, nur einen winzigen Herzschlag lang, gegenseitig aufzuheben. Habt Ihr Euch nie gefragt, warum eine Forelle inmitten eines reißenden Wildbachs, gegen die Strömung selbst, zu stehen vermag? Und dabei sogar Wasserfälle überwindet? Weil sie mit Hilfe ihrer Kiemen das Wasser um sich herum verwirbelt: zur vollkommenen Leere.”
Merwan hielt für einem Moment andachtsvoll inne. “Die Leere... die größte Macht auf Dere. Nur sind die meisten Menschen nicht fähig oder bereit, das zu sehen. Geschweige denn zu begreifen. Das vollkommene Nichts zwischen den Dingen. Was sonst sollte sich dahinter verbergen, als die allgegenwärtige Macht des Namenlosen? Wie ein unsichtbarer, wispernder Mahlstrom, der uns alle geradewegs zu Seiner Herrlichkeit führen wird. Früher oder später.” Bei diesen Worten beschrieb er mit seinem Finger einen wirbelnden Kreis.
“Ähnlich verhält es sich mit dem Zeitfluss, sobald sich zwei unterschiedliche Strömungen gegenseitig verwirbeln. Die Kraft der Leere besiegt alles. Einen Moment lang wird in diesem Zeitwirbel Satinavs Macht aufgehoben, und das Rad der Zeit lässt sich ein klein wenig zurückdrehen. Die verlorene Lebenskraft, die verstrichene Zeit selbst, kehrt in unsere Körper zurück. Wenn auch nicht auf Dauer. So ungefähr hat es mir jedenfalls der Magister erklärt, dessen Stab ich nun trage. Ich war überrascht von dieser hesindialen Erklärung, fast schon verblüfft. Fast so verblüfft wie der Zauberer, als ich ihm meine Zähne in seinen Hals geschlagen habe.”
Ein schwarzer Schatten flatterte lautlos heran. Urplötzlich schnappte Merwan nach der kleinen Fledermaus, biss herzhaft hinein, ohne auf das hektische Geflatter und das hervorspritzende Blut zu achten. Knurrend schlürfte er das Tier leer, riss mit den Zähnen einen großen Fetzen Fleisch heraus und warf den Körper achtlos in den Wald: ein matt zuckender, pelziger, fiepender Klumpen. Ysilda schrie vor Grauen und Ekel.
“Aah.” Merwan spuckte das Stückchen Fell aus. Genießerisch leckte er sich die rotgesprenkelten Lippen. “Fledermausblut ist eine Delikatesse. Man sagt, es stärke die nächtliche Sehkraft. Überaus erfrischend, wie dieser endlos dozierende Feenforscher damals. Zumindest am Ende seiner Ausführungen war er es. Langweile ich Euch?”
Der Vampir lutschte auch noch seine blutverschmierten, lackfarben glänzenden Finger. “Nein?! Fahren wir fort. Alles was Ihr zum Verständnis des Geschehenen wissen müsst, ist: Grolmensalbe bewirkt bei Normalsterblichen wenig bis gar nichts. Für das Sternenkind aber ist Schlamm aus einem Heiligtum der Sumutochter ein Kraftquell wie für unsereins nur Blut. Wie durch eine Nabelschnur war es seit Urzeiten mit dem See verbunden, durch die Ader Sumus, die sich genau unter diesem Stein hindurch windet und schlängelt. Der Grund, warum ich den Praioten noch ein klein wenig höher hängen muss...weg von Sumus Leib. Ah...es wird langsam hell...verfluchte Sommersonne...”
Praios Schild begann sich tatsächlich zu heben. Gleißendes, hellgoldenes Licht drang durch die Wipfel der Bäume. Merwan duckte sich, wie unter einem jähen Schlag.
“Die gelbe Fratze”, keuchte er und drehte sein Gesicht weg, die Hand schützend erhoben. “Der Älteste der Äonen möge sie auf ewig verfluchen.” Kleine Rauchfähnchen stiegen von seinen Fingern auf, womöglich war es aber einfach nur das in der Morgenluft dampfende Fledermausblut. Hastig verhüllte er sie wieder mit dem Handschuh.
Der Karnstein sah im frühen Morgenlicht für einen Moment aus wie ein verwitterter Altar in einer verfallenen Tempelruine.
“Warum erzählt Ihr mir das alles?” fragte Ysilda.
“Ich...Ihr wisst, dass der Bösewicht seine Pläne immer jemandem erzählen muss...aaah...und weil ich Euch...ein Angebot.... Ihr entschuldigt mich, ich fühle mich...hier auf der Lichtung...ein klein wenig unpässlich. Bis heute abend.”
Mit wehendem Mantel drehte sich der Henker von Friedwang auf dem Absatz um und entschwand in den Wald. Erst jetzt sah Ysilda, dass dort, wo er das Gras und die Blumen niedergetrampelt hatte, alles Grün verwelkt war. Verwelkt und zu Staub verweht.
Der Boden war nun in einem großen Kreis vollkommen kahl. Von trauriger, namenloser Leere und Trübsal erfüllt.
Im verdorrten Dornbusch daneben zuckte noch immer das Flügelchen einer kleinen, sterbenden Fledermaus.
Im Schratenwald bei Schneiß, Shihayazad
Erdstag
Es hätte ein wunderbarer Sommertag werden können. Der sattgrüne, uralte Eichenwald, mit seinen bemoosten Stämmen und majestätischen Wipfeln. Das hellgoldene Sonnenlicht, das wie herabtropfender Honig zwischen den wippenden Zweiglein klebte. Das ausgedehnte Hügelland, mit seinen schroffen, zerklüfteten Schieferfelsen. In der Ferne, an den Bergen, türmten sich die Gewitterwolken. Ein unheilvolles Grollen war zu hören. Es war ein wunderbarer Sommertag, eigentlich. Dennoch lag ein Mißton in der Luft, ein kleiner, unscheinbarer Fehler im Werk der Unsterblichen Zwölfe. Ein feiner Riss in der Welt, der sich bald offenbaren, vergrößern würde. Ein Verhängnis. Eine Ahnung von Unheil, das buchstäblich mit Händen greifbar war.
Hängt ihn höher. Merwan hatte seine Ankündigung wahr gemacht, und den armen Dîn noch weiter nach oben gehievt, zusammen mit seiner Schicksalgefährtin. Da hingen sie nun, haushoch am dicken Ast einer knorrigen, windschiefen Eiche, und hatten dabei einen durchaus beeindruckenden Rundumblick. Auf die Waldlichtung hinab ebenso wie die durch die Baumwipfel nur teilweise verdeckte Umgebung. Am Ende des Sichtfelds war ein schwarzgraues Gemäuer zu erahnen, das wie ein Kamin aus den grünen Dachschindeln des Walddachs ragte. Ganz in der Nähe stiegen Rauchfahnen auf. Schneiß, das da hinten musste das Dorf Schneiß sein, mit dem Turm. Wenn der große, moosbedeckte Felsblock dort unten wirklich der Karnstein war, der wie ein Altar aus dem dunklen Boden aufragte, mit Wurzeln, Ranken und Gras überzogen, anstelle eines Altartuchs.
Man hatte ihnen derbe Bauernkittel gegeben, um ihre Blößen zu verdecken: eher ärmliche Opfergewänder. Sogar zu essen und zu trinken hatten sie bekommen, zumindest sie, die sie einigermaßen bei Sinnen war. Ihr Blut sollte dem Finsteren Herrn wohl nicht allzu dünn und wäßrig in die Kehle rinnen. Ihr Reisegefährte war noch immer weggetreten, döste, gegen den Käfig gelehnt, in den Tag hinein.
Steinbold, Sternenkind…
Kopfschüttelnd ließ sie sich all die merkwürdigen Namen durch den Kopf gehen. Sie konnte eigentlich nichts Ungewöhnliches in Praiodîns blassen, schmutzigen Gesicht entdecken, nur ein kurzes Zucken, wann immer ihr Blick ihn traf. Da hingen sie nun, buchstäblich in der Luft, wie zwei gefangene Vöglein in einer übergroßen Voliere. Die Bäume des Waldes knarrten leise, erinnerten an ryhthmisch knarzende Schiffsplanken bei Seegang. Ebenso das Holz ihres Käfigs. Sie sah nach unten, wo ihre neuen Bewacher bereits fleißig zu Gange waren. Wie hatte Merwan sie genannt?
Schwarze Sokramorier. Der Name passte, mit ihren dunklen Tuniken, Fellmänteln, Lederwämsern, Kappen oder Gugelmützen. Ihre Masken hatten sie nun abgelegt. Irgendwie erinnerten sie jetzt mehr an eine finstere, verruchte Jagdgesellschaft.
Es war mindestens ein Dutzend, eher mehr, Männlein und Weiblein, bewaffnet mit langen Dolchen, Schwertern, Morgensternen. Orks und Goblins waren auch dabei, aber kaum von den Menschen zu unterscheiden. Ein paar Schritte im Wald hatten sie einen prachtvoll besticktes Zelt-Pavillon aufgebaut. Merwan war nirgendwo zu sehen. Sie konnte nicht behaupten, dass sie ihn vermisste.
Eine der Sokramorierinnen, eine aschblonde Frau mit Hakennase und kornblumenblauen Augen schien die Meute in seiner Abwesenheit zu leiten. Sie trug eine erdbraune Robe, am Gürtel baumelten allerhand Täschchen, Fläschchen, Knochen, Kräuterbüschel, Glitzersteine sowie eine große, schwarzgefärbte Sichel. Erst jetzt merkte Ysilda, dass fast alle Klingen der Sokramorier dunkel mit Ruß oder Erde eingefärbt waren. Vermutlich aus irgendeinem Aberglauben heraus. Oder aber, weil die Klingen nachts nicht im Mondlicht aufblitzen sollten? Oder im Gebüsch blinken? Je länger sie die “Jäger” beobachtete, desto mehr kamen sie ihr wie eine gewöhnliche Räuberbande vor. Zwischen den Bäumen hatten sie Aarmaris angebunden, kleine, drahtige Schwarzsichelponys. Sie waren den ganzen Morgen unruhig gewesen, hatten gescheut und ausgeschlagen. Vermutlich spürten sie die Nähe von etwas Grauenhaftem. Von Merwan. Ihre Reiter hatten sie mittlerweile ein ganzes Stück von der Lichtung entfernt.
Es war beinahe schon wieder interessant, dem Treiben fünf, sechs Schritt unter ihren Füßen zuzusehen. Mit einem knorrigen Stock, dessen Spitze ein Bockskopf zierte, hatte die Ziegenfrau, wie Ysilda sie genannt hatte, grob einen Siebenstern gezeichnet: Dort, wo die schiere Anwesenheit des Finsterlings den Boden verbrannt hatte. Nun spannte sie einen silbrig glänzenden Metallfaden aus, den sie an den Spitzen des Heptagramms um kleine Pflöcke im Boden legte. Auf dem “Altar” des Karnsteins lag ein halbgeöffneter Sack, aus dem zwei, drei feiste, nachtschwarze Kerzen herausgerollt waren.
Ebenso befanden sich dort eine rapierähnliche Klinge, in schmuckloser Scheide, schwarze Federn, ein gehörnter (Tier?-) Schädel und eine silbriggoldene Schale. Zarter, süßlicher Weihrauchgerauch stieg in ihre Nase.
Ysilda schluckte. Die Ahnung kroch in ihr hoch, dass das Gefäß dazu bestimmt war, am Ende ihr Blut aufzufangen.
“ZUUUUU HILFEEEEEEEE!”
Ysildas Ruf hallte grell durch den Wald, kam als dumpf verzerrtes Echo von den Bäumen und den Felswänden zurück. “IlFEEE! FEE! FE! FE!”
In der Nähe schnaubten die gestressten Ponys. Irgendwo flatterte ein Schwarm Krähen auf, mit häßlichem Krächen. Sie hatte heute schon mehrfach geschrien, das Dorf schien nicht allzu weit weg zu sein. Nicht etwa, weil sie ernsthaft auf Hilfe hoffte, jetzt, am letzten und schrecklichsten der Namenlosen Tage. Sondern einfach, weil sie das götterverfluchte Treiben unter ihr nicht völlig widerstandslos und ungestört hinnehmen wollte. Aus Selbstachtung.
Das Klacken eines Armbrustmechanismus lenkte sie ab. Unten stand Fladrik, ihr neuer “Freund”, und legte einen Bolzen auf die Schußaffe, deren Sehne er soeben, den Fuß im Spannbügel, mit beiden Armen den Schaft entlang nach oben gezogen hatte. Breitbeinig baute die Ritualwache sich unter ihr auf, hob die Armbrust locker an und tastete mit den Fingern nervös über den Drücker. Ysilda war sich nicht ganz sicher, aber es schien derselbe Bosjäckel zu sein, der im Käfig nach ihrem Fuß gegriffen hatte. Bosjäckel, so nannte man in der Baronie Räuber, Freischärler oder Anhänger der Alten Kulte – vor allem all jene, bei denen kaum ein Unterschied festzustellen war.
“Ich habe dich gewarnt, Pfäffin! Ich stopf dir den Schnabel. Dein ständiges Gegilfe geht mir genauso auf den Sack wie das der Kracken im Wald.”
“Das wirst du nicht wagen! Mein Blut gehört allein deinem Meister.” Ysilda spuckte das letzte Wort geradezu aus, voller Verachtung.
Keine Antwort.
“Du fürchtest ihn, nicht wahr? Ich fürchte nur die Macht der guten Götter. Die Herrscher Alverans, von denen du dich schon von langer Zeit abgewandt hast, Abschaum.”
Ein dumpfes, hartes, mechanisches Krachen.
Ysilda schrie auf, als der Bolzen an ihr vorbei durch den Käfig fegte und zwischen den Zweigen des Baums verschwand. Ein paar abgerissene Blätter schwebten herab.
Einen Moment Stille. Seltsamerweise empfand sie erst einmal nichts, obwohl das Geschoss ihr leicht den Schädel hätte durchbohren können.
Irgendwo in der Ferne war ein dumpfes Jaulen und Japsen zu hören, dass sie nicht recht zu deuten verstand. Es klang nach dem Heulen eines Wolfs. Ebenso wie nach dem Quieken einer abgestochenen Wildsau, vermischt mit einem heiseren Brüllen. Nun kam der Schreck. Sie zitterte und tastete nach der kleinen Schramme in ihrem Unterarm, den der Streifpfeil hinterlassen hat. Brennender Schmerz erwachte in der aufgeschlitzten Haut.
“Oh, da haben doch jetzt glatt meine Fingerchen gezuckt”, knurrte Fladrik und schub sein zerfleddertes Lederbarett zurück. Er deutete in den Wald. “Hörst du das, Metze? Hörst du das?!” Es klang vorwurfsvoll.
Erneut war der tierhafte, und doch vollkommen widernatürliche Laut aus den Tiefen des Waldes zu hören.
Der Sokramorier, dessen übler, säuerlicher Schweißgeruch selbst hier oben noch zu erahnen war, rieb sich unruhig über den schmutzigen Viertagesbart. Eine häßliche Narbe zierte die Wange. Ein kleiner Fliegenschwarm umschwirrte seinen “Zwergendurft.” Nervös schüttelte er den Zeigefinger, zum Zeichen des Verbots.
“Halt-einfach-die-Klappe. Von den Scheißern da drüben, o verzeih, den Schneißern, wird dir keine Sau zu Hilfe eilen. Verstehst? Wenns dein Geschrei überhaupt hören. Hören wollen. Der Schratenwald gehört uns. Du solltest froh sein, wenn du mit deinem Geblecke nicht….” Er blickte hinaus in den Wald. “Irgend was anderes anlockst. Hast du das verstanden?”
Die übrigen Kultisten sahen hoch und schienen tatsächlich für einen Moment beunruhigt zu sein. Als der tierhafte Laut nicht wiederkehrte, gingen sie an ihr Tagwerk zurück. Das schien aus dem Sammeln von Feuerholz ebenso zu bestehen wie aus dem Polieren und Nachschwärzen von allerhand Klingen. An der Felswand, im Schatten des Waldes, nahm Ysilda nun ein besonders düsteres Loch wahr. Der Eingang in eine Höhle? Ob Merwan dort hauste? Das sah einem Blutsauger ähnlich: Sich wie eine Ratte vor dem Licht des Praios zu verkriechen.
“Bei der Großen Bergmutter.” Die Aschblonde blickte kurz auf. “Du machst aber auch ein ganz schönes Geschrei, Flad. Wirst noch das Vielgestaltige Kindlein wecken, unter den Bergen. Hast du nichts besseres zu tun? Du weißt, dass der Gesandte der Bergmutter es nicht leiden kann, wenn man mit den Blutbringern spricht. Also mach unsere Opfertiere nicht unnötig nervös.” Die Stimme der Kultistin klang merkwürdig sanft. Auf noionitische Art und Weise milde.
“Der Gesandte der Herrin? Er ist böse!” rief Ysilda, mit heiserer Stimme. Erschrocken zuckte sie zusammen, als mit heiserem Krah, Krah eine einzelne Krähe an ihr vorüber flatterte.
“Siehst du, Flad. Nun regt sich das Opfertier nur wieder auf. Dann schmeckt ihr Blut womöglich schal. Such Kräuter, für die Suppe…Bärlauch, oder Rondrazahn. Auch wir müssen heute noch irgendwas schlürfen.”
“Nenn mich nicht ständig Flad, Befelenia. Ich heiße Fladrik.”
“Unflad” höhnte es irgendwo von der Seite. Der Sokramorier warf die Armbrust in einen Strauch und griff nach seinem Schwert. “Noch ein Wort, Bastard, und ich spalt dir den Schädel.”
Eine obszöne Geste antwortete ihm: die Levthanshörner. “Du kannst mich mal am Allerwertesten lecken” lachte der Mann. “Sieh nach den Ponys, nicht dass sie noch vom Wolf geholt werden.”
“Von dir nehme ich keine Befehle entgegen, Wutzenwalder Halsabschneider.” Fladrik trat einen einzelnen Stein beiseite.
“Schluss jetzt”, fauchte die Frau. “Seid still. Ihr alle. Auch du, Bastan. Wenn Du den Blutpropheten aufweckst, in seinem Sarg, mit deinem zänkischen Gebrüll, Flad, haben wir alle ein Problem. Du ganz besonders. Verstanden, Flad?”
“Verdammt, wer hat ihn denn über all die Meilen hinweg hierher geschleppt, in seines Toten Mannes Kiste? Als das Fuhrwerk im Sumpf stecken geblieben ist. Wir sind freie Leute. Er schuldet uns auch ein klein wenig Dankbarkeit.”
“Nein, das schuldet er euch nicht. Du solltest froh sein, wenn ich IHM nichts von deiner kleinen Schießübung gerade eben berichte. Die Blutbringerin da oben hat Recht. Der heilige Trunk aus ihrem Leib gebührt allein dem Unsterblichen Meister.”
Mit merkwürdig glänzenden Augen blickte Befelenia in Richtung der Höhle. Dann sah sie zu dem hageren, verschlagen blickenden Mann mit rötlichen Haaren, der Bastan genannt wurde.
“Nun zu dir. Die Wölfe werden heute nicht kommen, Bastan Galindor. Sie fürchten den Meister und den unsichtbaren Bannkreis, den er um sich, um uns alle gezogen hat. Gelobt sei die Schwarze Bergmutter. Aber du kannst mit Tilde ruhig nachsehen, ob die Ponys richtig angebunden sind. Auch sie fürchten sich vor seiner dunklen Macht. Ihr alle solltet sie fürchten!”
Dann deutete sie mit dem Stock auf Fladrik. “Ebenso solltest Du mir als Hüterin des Schlafs der Sokramor mehr Respekt entgegen bringen. Respekt, wie er den Wahrern der Ältesten Sitte gebührt. Uns alle eint das große Ziel. Der Tag rückt näher, wo Sie, die liegt, sich erheben und ihr Vielgestaltiges Kindlein gebären wird, um uns für immer aus der Alveranischen Knechtschaft zu erlösen. ”
“Das Vielgestaltige Kind” echote es dumpf aus einem halben Dutzend Kehlen. Selbst “Unfladrik” hatte das Schwert in die Scheide zurückgeschoben, demütig mitgemurmelt und den Bauernschädel gesenkt.
“Unter Eis begraben, durch die verfluchten Zwölfe gefangen und doch unbesiegbar” verkündete die “Priesterin” feierlich. “Der Tag des Großen Sieges ist nicht mehr fern. Das ist gewiss.”
Es fehlte nicht viel, und Ysilda hätte trotz ihres mulmigen Gefühls (und der qualvoll verrenkten Körperhaltung) aufgelacht. Blutprophet. Hüterin des Schlafs der Sokramor. Sternenkind. In was für eine seltsame Sekte von Wirrköpfen war sie hier geraten? Buchstäblich über Nacht.
“Und du da oben, hör auf, blöde in dich reinzugrinsen, Eidechslein” zischte Befelenia. Ihre Stimme klang überhaupt nicht mehr sanft. “Schade, dass du den Tag der Rache nicht mehr erleben wirst, Opfertier. Wenn die herrliche Heerschar aus dem Osten heranrücken wird, um uns von der Tyrannei von Deinesgleichen zu befreien: Pfaffen, Barone, Pfeffersäcke.” Die “Hüterin” kam näher, spuckte aus.
“Du weißt also schon, welches Schicksal Merwan dir zugedacht hast. Bist ein schlaues Opfertier. Es ist eine große Ehre, die Macht und die Kraft des Blutpropheten mehren zu dürfen. Weißt Du das? Auf das er von Neuem über dieses Land herrschen wird, in Ihrem Namen.”
“Ja, wir haben uns gestern nacht ausgiebig darüber unterhalten. Das Wort `Narren´ ist dabei auch gefallen. Damit hat er, glaube ich, eure Rolle in diesem Schmierenstück hier gemeint. Die Rolle der nützlichen Idioten, nehme ich an.”
“Schweig, Sokramurlästerin!” Befelenia stieß mit ihrem Stab drohend nach oben. “Schau dich an: Jetzt schaukelst du da oben wie ein Moosaffe in seinem Käfig. Weit nach oben hast du es gebracht, in deiner Hochmut. Aber die kommt bekanntlich immer vor dem Fall.”
Ysilda schwieg tatsächlich.
Befelenia starrte sie herausfordernd an. Es schien ihr nicht zu behagen, dass die Gefangene nicht antwortete.
“Befelenia?”
“Ja?”
“Ich müsste ganz dringend einmal für kleine Mädchen. Lasst ihr mich herunter oder soll ich dir auf deinen Kopf pinkeln? Wie ein Moosaffe?”
Blitze flogen aus den blauen Augen der Hüterin. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich ihre Augenbrauen abrasiert, was ihrem Blick etwas Starres gab – vielleicht wollte sie damit Merwans abgründiges Charisma imitieren. “Dir wird dein törichter Spott noch vergehen, Blutbringerin. Was glaubst du, was ich hier gerade mache?”
Sie deutete auf das Heptagramm aus Silberfäden. “Ich diene der Alten Sitte und den Ältesten Göttern, Mächten, die du längst vergessen hast”, antworte sie selbst. “Aber glaub mir, die alten Mächte haben dich nicht vergessen. Schon bald wird der Karnstein von neuer Kraft beseelt sein”.
“Sag mir bloß nicht, dass du zaubern kannst. Wie eine Gildenmagierin siehst du mir nicht gerade aus.”
“Und ich, ich habe bereits würdigere Geweihte gesehen als Dich. Ich helfe dem Blutpropheten, so gut ich kann.”
“Einem Diener des vollkommenen Bösen...”
“Das behauptet Ihr von unsereins auch. Die Alten Kulte sind böse, der Wald hier ist böse, die Geister um uns herum sind böse...Alles, was Eurer Herrschaft im mindesten gefährlich werden könnte, nennt ihr verdorben und finster. Ich nenne es Macht. Macht und Freiheit.”
“Euer Treiben erscheint mir eher wie ein lächerlicher Hokuspokus. Vielleicht langt es bei dir noch zur Jahrmarktszauberin, mehr aber auch nicht, bei der Jungen Göttin.” Ysilda versuchte Befelenia zu provozieren, um mehr über das Ritual herauszufinden.
“Hokuspokus? Nein.” Die Augen der Hüterin leuchteten verzückt. “Merwan selbst wird heute nacht die Kraft von Sokramurak Methai herbeirufen, von den ewigen Bergen herab. Der Geist einer Goblinschamanin und überaus machtvollen Dienerin der Bergmutter. Euer Blut wird als erstes über den Heiligen Altar strömen!”
“Heilig? Beseelt? Das sind vielleicht nicht ganz die richtigen Ausdrücke für das götterlose Treiben dieses Blutsäufers…” Ysilda runzelte die Stirn. Sokramurak Methai? Irgendetwas sagte ihr das. Goblinisch war es nicht, als Schlotzerin kannte sie die Rotpelzsprache ganz gut. Es klang eher dämonisch. Natürlich, Maruk-Methai, diesen Namen hatte sie schon gehört, oder besser gesagt, eine Warnung davor erhalten. Ein Dämon, die abgeschlagene rechte Hand des Namenlosen. Der Wille zur Macht. Darum ging es Merwan: Macht, Macht, und immer wieder Macht. Macht um ihrer selbst willen. Sie ahnte, was der Vampirzauberer in Wahrheit beabsichtigte.
“Er will Euer Heiligtum zerstören, Befelenia. Versteht ihr nicht: In Stücke wird er es zerschlagen! Ich kenne diesen Dämon. Er heißt in Wahrheit Maruk-Methai, Tsa steh uns bei.” Sie schlug hastig das Zeichen der Eidechse und schrie auf, als ein kalter Wind durch ihre Haare strich, nicht heftig, eher prüfend, fast zart. Wie...wie eine unsichtbare Hand. Sie fröstelte. Erst jetzt merkte sie, dass sich eine feiste schwarze Wolke vor die Sonne gelegt hatte und nur langsam weiterzog. Träge, fast schon widerwillig.
Leiser, mit heiserer Stimme fuhr sie fort.
“Die rechte Hand des Namenlosen verleiht einem Schergen des Rattenkinds übermenschliche Kräfte. Was Merwan nach der Zerstörung des Karnsteins dann mit euch vorhat, überlasse ich eurer Phantasie. Genug davon scheint ihr ja zu haben, mit eurem Kinderaberglauben. Er ist ein Verfluchter der Sumu, wusstet Ihr das? Die Mutter der Sokramor hat ihn zurückgestossen. Ihr, die ihr euch Sokramors Diener nennt, duldet das Böse in euren Reihen. Nein, ihr dient in Wahrheit den Feinden der Alten Götter!”
Der eine oder andere in der Meute schien bei diesen Worten doch nachdenklich zu werden. Offenbar schien die Bande nicht nur aus Frevlern und Dämonenbündlern zu bestehen. Sie mussten doch spüren, dass nicht nur die Tiere Grund hatten, das Kind der Finsternis zu fürchten.
“Das werden wir ja sehen!” sagte Befelenia.
Die Blonde ging in die Knie, spuckte in ihre linke Hand und griff damit in eine große Seitentasche. Sie verbarg etwas in der Faust, schüttelte es mit lautlos gesprochenen Worten durch. Aus dem Handgelenk warf sie ein halbes Dutzend Steine (Holzstücke? Knöchlein?) auf den Boden. Schlichte Zeichen waren darin eingeritzt. Die Ziegenfrau heftete eine Weile ihren Blick auf das Ergebnis, nickte und sammelte ihr “Taschen-Orakel” klappernd wieder ein.
“Die Runen haben mir eine eindeutige Antwort gegeben” Befelenia stand wieder auf. “Sokramor sagt: Was die Dienerin der Neuen Götter behauptet, ist eine Falle. Eine Lüge, die einen wahren Diener der Sumu ins Verderben locken soll. Ich habe es gerade deutlich gesehen. Ganz deutlich.”
Dann blickte sie mit verkniffenem Gesicht nach oben. “Netter Versuch. Du sprichst mit gespaltener Zunge, Eidechslein. Möchtest wohl Zwietracht und Hader in unsere Reihen tragen? Aber das wird dir nicht gelingen. Abgeschlagene Hand, das ich nicht lache. Noch so eine dreiste Lüge, und ich werde dir die Zunge herausschneiden und an die Eiche nageln.”
Herrischen Schritt gings sie zurück und nahm buchstäblich den Faden wieder auf.
Ysilda starrte nach unten. Solange sie ihre Angst mit wütenden Worten hatte herausknurren dürfen, war ihr dieses Gefühl noch als beherrschbar erschienen. Nun zitterten ihr die Knie. Dîns Geist weilte immer noch in entfernten Sphären. Sie glaubte nicht, dass es allein an den Giftbeeren lag. Offenbar schien die Erdferne ihm tatsächlich Kraft zu rauben. Ihm, oder dem, was in seinem Leib verborgen war. Sie rüttelte vorsichtig an seinen Schultern, erntete aber nur ein mattes Seufzen. Die Augenlider flatterten unruhig. Sie schüttelte ihn heftiger. Er öffnete die Augen, mit schweren Lidern, und sah sie durchdringend an. “Ysi?” seufzte er. Die Pupillen waren merkwürdig leer - und seltsam nachtschwarz.
“Ja, ja. Ich bin bei dir.”
“Ysi. Ich möchte glauben.” Der Lichtgeber sprach matt, als habe er die ganze Nacht durchgezecht. Im gewissen Sinn hatte er das auch. Sie wollte noch einmal an ihm schütteln, prallte dann aber zurück. Es war vielleicht nicht klug, einen Besessenen anzufassen. Etwas war in seinen Augen, das konnte sie spüren. Etwas...vollkommen Fremdartiges beobachtete sie, mit einem Blick, der nicht von dieser Welt war.
Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Sie selbst sah etwas in diesen endlos tiefen Augen, etwas, das für einen kümmerlichen Menschenverstand keinen Grund und Boden mehr hatte. Es war, als starrte sie in einen Abgrund, spürte ihn mehr, als das sie ihn sah. Ein bläuliches Leuchten flackerte in der Schwärze auf. Ysilda schrie leise auf. Sie war froh, als sich die Lider des Praioten wieder schlossen. Mit der Hand umkrampfte der Geweihte ihren Oberarm. Mit einiger Gewalt musste sie seinen Griff lösen.
“Den Stein verrückt. Zurück gedrückt. Besser nicht – verrückt”, murmelte Praiodîn. Dann sackte sein Kopf wieder zur Seite.
Nein, auf die Hilfe des Praiosgeweihten konnte sie nicht mehr zählen. Andererseits, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hatte... Oder gar den Karnstein berühren würde... Vielleicht würde der Geist dann wieder zurückkehren, in den Fels, der seit Jahrtausenden seine Heimstatt gewesen sein war. Oder ihnen sogar beistehen gegen all diese Wahnsinnigen da unten auf der Lichtung.
Sie musste hier endlich raus, der niedrige, enge Käfig wurde immer ungemütlicher. Ihr Blick wanderte wieder nach unten. Die Meute zerstreute sich langsam, im Palaver. Befelenia war ganz darauf konzentriert, den Beschwörungskreis zu vollenden. Sie sah sich ihr Gefängnis genauer an: Holzstäbe führten in Querbalken und waren damit verzahnt. Bosparanienholz, in das praiosgefällige Zeichen eingebrannt waren, Sonnen, Greifen, fromme Rezitationen und Bannflüche. Ein Hexenkäfig – die Töchter Satuarias hatten einen eigenwilligen Humor. Die Rückseite, Richtung Baum, war zugleich die Gittertür, vor deren Riegel wiederum ein schweresVorhängeschloss hing. Ysilda war sich sicher, dass das Schloss erst durch die Schwarzsokramorier angebracht worden war – woher hätten sie sonst den Schlüssel haben sollen? Wenn sie richtig sah, glänzte er sogar an Befelenias Gürtel.
Wenn es ihr gelang, das Schloss zu knacken, konnten sie vielleicht über die Eiche (mit Hilfe des Seils) entkommen, flink wie ein Eichhörnchen. Später, wenn es dunkel wurde. Stellte sich nur die Frage: Wie sollte ihr diese Kunststück gelingen? Mit derart phexischen Dingen kannte sie sich nicht all zu gut aus.
Ihr Blick ging nach oben, zum Ast, an dem der Käfig hing. Hier würde kein Durchkommen sein. Sie rüttelte halbherzig an den Gitterstäben. Doch halt, was war das? Eine schmutzigweiße Feder lächelte sie an. Ein Vogelnest? Ysilda tastete danach, lächelte erfreut: Im Ast steckte doch tatsächlich der Armbrustbolzen. Dieses unverhoffte Geschenk von Fladrik konnte sie wahrlich gut gebrauchen. Erneut blinzelte sie nach unten, zu den Kultisten. Niemand schien sie zu beachten. Sie schob, zwängte die Hand durch das Käfigdach, kam tatsächlich gerade so an den hell gefiederten, dicken Bolzen heran. Ysilda zog, zerrte. Verflucht, das Geschoss stak so fest im Holz wie ein übergroßer Nagel. Vorsichtig ruckte, ruckelte sie an ihrem kostbaren Fund, versuchte ihn irgendwie zu lockern. Nichts regte sich. Dafür schaukelte der Käfig unangenehm.
Einige Zeit musste sie innehalten, weil unter ihr Bewegung einsetzte, offenbar wurde das Lagerfeuer angeschürt und ein Kessel darauf gestellt. Die Sokramorier begannen zu tafeln, beachteten ihre hilflosen “Opfertiere” aber kaum. Nach einer Weile wagte sie wieder, nach dem Bolzen zu tasten. Erst jetzt merkte sie, warum der sich kaum bewegte. Der Pfeil war seitlich durch die borkige Rinde gedrungen, die Spitze starrte am anderen Ende aus dem Holz. Etwas Harz war hervorgetropft wie Blut. Sie versuchte das Geschoss herauszubrechen, vergeblich. Stattdessen drückte und schob sie nun den Bolzen durch den Ast, bis die Spitze endgültig freilag. Wieder ein Blick nach unten. Niemand schien sich jetzt mehr um sie zu kümmern, der Rauch des Lagerfeuers stieg nach oben. Auch wenn der Qualm in den Augen brannte und sie mit Hustenreiz kämpfte, war sie dennoch dankbar: einen besseren Tarnschleier durfte sie sich im Moment nicht wünschen.
Sie verrenkte sich mit verkniffenen Lippen, bis sie mit den Fingern an die Pfeilspitze herankam. Erneut hatte sie Glück. Die eiserne Tülle schien sich beim Einschlag gelockert zu haben. In mühsamer Feinarbeit, die Augen im Rauch geschlossen, drehte sie das Metallstück nach und nach vom Schaft ab. Schließlich lag es kühl und scharfkantig in ihren Händen. Sie zitterte, diesmal vor freudiger Aufregung. “Tsa, O Allesgebärende, ich danke dir! Was für ein Geschenk.”
Ysilda verlagerte ihr Gewicht, tastete nach dem schweren Vorhängeschloss. Erneut begann ein mühseliges Handwerk. Irgendwie passte die Spitze nicht richtig ins Schlüsselloch, geschweige denn, dass sie damit dem Schließmechanismus Herr werden würde. Das Schloss zu knacken, wäre schon schwierig gewesen, wenn sie es von außen verursacht hätte, am Boden. Hier versuchte sie es aus einem schwankenden, engen Käfig heraus, hoch oben an einem Baum.
Nein, so wurde das nichts. Die Zeit, ihre Zeit verrann, es musste bereits früher Nachmittag sein, dem Sonnenstand nach. Noch immer regte sich Praiodîn kaum. Sie musste etwas anderes probieren, aber was? Ihr Blick fiel auf das Seil, dass den Käfig hielt. Mit Hilfe der Eisenspitze würde es möglich sein, es langsam, aber sicher durchzuschneiden. Gewiss, der Sturz würde höchst unangenehm werden. Aber mit etwas Glück und der Zwölfe Segen würde der Käfig beim Aufschlag zerbrechen und sie konnten irgendwie entkommen. Kein allzu hesindialer Plan, nur fiel ihr im Moment nichts Besseres ein.
Geduldig begann sie mit der Spitze am Strick zu sägen, die einzelnen Hanffasern aufzuspleißen, die Verdrillung zu lockern. Es war eine Verzweiflungstat, gewiss, aber was blieb ihr noch anderes übrig? Unter ihren waren viele Büsche, Farn und weicher, feuchter und moosbedeckter Waldboden, vielleicht würde ein kleines Wunder geschehen. Sie kam gut mit ihrer Arbeit voran, das Seil zeigte nach einiger Zeit schon deutliche Schäden.
“Du blöde Schlampe! Glaubst eigentlich, wir haben da unten keine Augen im Kopf?!”
Erschrocken starrte sie auf Fladrik, der ihr gegenüber auf einem Ast stand, mit einer Hand am Seil abgestützt und aussah wie ein wütender Moosaffe. Sein Stiefel zuckte hoch – der Tritt traf Ysildas Hand, noch ehe sie ihre Finger durchs Gitter zurückziehen konnte. Die Pfeilspitze segelte viele Schritt durch die Luft davon, verschwand in der Rauchfahne des Feuers. Um ein Haar wäre auch der Kletterer in die Tiefe gefallen, wüst schimpfend hangelte sich nach unten. Unsanft landete er in einer Dornenhecke und befreite sich nur mühselig daraus, zerkratzt und zerschunden.
“Bei der Schwarzen Mutter, dafür werde ich heute Nacht einen Becher deines Blutes saufen, das schwöre ich dir.”
Ysilda schloss die Augen und lehnte sich im unruhig baumelnden Käfg zurück. Aus. Vorbei. Kälte breitete sich in ihr aus, kalte, jämmerliche Angst vor den Stunden, die nun noch vor ihr lagen. Vielleicht ihre letzten auf Dere.
Schuhuhu.
Die Dienerin des Lebens ruckte hoch, und verzog sofort den Mundwinkel ob der Schmerzen.
Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein, auch wenn sie kaum Halt mit den Füßen fand, um in diesem Foltergerät hier auch nur einigermaßen bequem zu sitzen. Jähe Raumangst breitete sich in ihr aus. Sie presste ihr Gesicht an die Gitterstäbe, schnappte nach Luft. Ysilda fühlte sich, als kauerte sie bereits in einem Grab.
Schuhuhu.
Zwei leuchtende Augen starrten sie vom Nachbarbaum her an. Eine kleine, braungesprenkelte Eule mit großen, goldgelben Augen. Ysilda brachte soetwas wie ein Lächeln zustande. Ein Gruß vom Regenbogensee? Fast war sie froh ob dieser Gesellschaft. Im nächsten Moment flatterte der Nachtvogel davon, ein schwarzer, lautloser Schatten. Vielleicht hatte er eine Maus erspäht, oder ein Eichhörnchen. Der Wind frischte auf, unangenehme Kühle breitete sich aus. Leichter Nieselregen fiel herab. Praiodîn schlummerte in tiefem, traumlosen Schlaf. Oder? Erschrocken ob dieses Gedankens legte sie ihre Finger an seinen Hals, tastete nach seinem Puls, wie sie es als Heilerin gewohnt war. Tsa sei Dank, es pochte noch Leben in in seinen Adern.
Die Dämmerung wich nachtschwarzer Dunkelheit, die ersten Sterne leuchteten in den Lücken am wolkenverhangenen Firmament. Die grauenvolle Leere, die Bresche des Namenlosen war über dem Wolkengebirge nur allzu gut zu sehen: Dieses schwarze Loch schien geradewegs ins Verderben zu führen. Eine wahrhaft unheilige Nacht war angebrochen. Unten flackerte, zuckte das Lagerfeuer im matten Regen, mit rostroten Flammen. Die Wachen brieten sich irgendein Wildbret, eine Flasche kreiste. Etwas abseits, am Karnstein, stand Befelenia und unterhielt sich – mit einem Kind?
Erst auf den zweiten Blick sah Ysilda, dass der Kopf des Neuankömmlings viel zu groß war, gelblich verknittert und kahl, bis auf rötliche, grotesk abstehende Haarbüschel. Ein Grolm? Tatsächlich, dort unten stand der diebische Feilscher, mit dem alles erst angefangen hatte, wie hieß er noch gleich: Bohk? Die Verhandlung schien sich um ein Messer, ein blinkendes Amulett, und eine güldene Waffe zu drehen, die kalt blinkend auf dem Stein lagen: Ihre heilige Klinge, Praiodîns Talisman und das Sonnenszepter? Schließlich wechselte ein großer, schwerer Lederbeutel den Besitzer. Bohk nahm ihn mit der linken Hand entgegen, seine Rechte war dick bandagiert. Ysilda öffnete den Mund, um zu protestieren, schwieg dann aber lieber. Ihr Blick ging hinauf zum Nachthimmel. Zwischen den Wolken war ein blutigroter Vollmond aufgegangen.
“Euer Herz schlägt wieder einmal sehr laut, Ysilda.”
Die sanfte, aber kühle und staubtrockene Stimme drang ohne jede Vorwarnung an ihr Ohr. Wie ein Eishauch spürte sie seine Präsenz, noch ehe sie ihn sah. Dort stand er, auf dem selben Ast wie zuvor Fladrik, in qualvoller Nähe. Ysildas Nackenhaare stellen sich auf, sie bekam eine Gänsehaut. Irgendetwas stimmte nicht. Eigentlich hätte Merwan, wie er da freihändig stand, das Gleichgewicht verlieren, unter Sumus Griff in die Tiefe stürzen müssen. Nichts dergleichen geschah. Er schien vollkommen gegen die Macht der Naturgesetze gefeit zu sein.
“Nach was haltet Ihr Ausschau? Hofft Ihr wirklich noch auf wundersame Rettung durch die Hexen? Würdet Ihr nicht soweit oben hängen, müsste man sagen: Ihr seid tief gesunken, für eine einstmals so stolze Dienerin der Unsterblichen Zwölfe.”
Merwan zog seine Kapuze vom Kopf, und schüttelte seine ebenholzfarbenen Locken aus der hohen Stirn. Sein aristokratisch (oder leichenhaft?) bleiches Antlitz war keinesfalls so häßlich, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sondern vollkommen ebenmäßig und zeitlos jung. Allerdings wirkte das Gesicht maskenhaft starr und abweisend. Vollkommen unnahbar. Wäre auch nur ein Funken Leben in seinen eiskalten, glanzlosen und dennoch stechenden Augen gewesen, man hätte den alterslosen Vampir fast als rahjagefällig bezeichnen müssen. Ein ebenso spöttischer wie raubtierhafter grausamer Ausdruck umspielte seine blutleeren, leicht bläulichen Lippen. Er sieht aus wie ein Elf, dachte Ysilda. Nein. Wie ein toter Elf. Der Regen schien regelrecht an der schwarzbemantelten Gestalt abzuprallen, als fürchte selbst das Wasser die Präsenz des Untoten.
“Vergesst es. Die eine Hälfte Eurer Freundinnen hält Euer mysteriöses Verschwinden für ein Zeichen der Satuaria. Das sind die Dummen. Die andere Hälfte glaubt, dass euch die Grolme irgendwie weggeschafft hätten, um sich zu rächen. Das sind die Überschlauen. Ganz gewiss werden die Hexenweiber wegen eines solchen belanglosen Zwischenfalls nicht ihr Fest voll Dunkler Wonne unterbrechen. Oder ihren letzten Vorrat an Flugsalbe verschwenden. Von ihrem Jahresvorrat, der jetzt mit dem Götterlauf endgültig zu Neige geht. Nur um zwei vorwitzige Geweihte in der Wildnis zu suchen. Geschweige denn, um sie zu retten. Warum sollten Töchter Satuarias soetwas tun? Zum Dank dafür, dass ihr ihre Katze vergiftet habt? Selbst wenn sie derart töricht wären. Es wirkt ein machtvoller Zauber über dieser Lichtung, der die Aufmerksamkeit ungebetener Gäste ablenkt. Ebenso wie das Gegaffe der Unberufenen, dort drüben in Schneiß.”
Merwan wies mit elfenbeinweißer, schlanker Hand auf den Grolm. Man hätte sie ebenfalls fast als schön bezeichnen müssen, wäre sie nicht von klauenhaft langen (und spitzen) Fingernägeln verunstaltet gewesen. “Bohk dient mir schon seit vielen Jahren als Spion bei den Grolmen. Bereits für das erste Ritual hat er mir ein überaus wertvolles Opfer beschafft. Das Grolmenkind, dessen Magie zu schwach für die Gemeinschaft der Feilscher war. Jetzt verdanke ich ihm drei kaum weniger kostbare Donarien.”
“Es sind geweihte Artefakte der Zwölfgötter” stieß Ysilda hervor. Es fiel ihr erneut schwer, gegen die Präsenz des Schwarzen anzukämpfen. Oder auch nur unbeschwert zu atmen. Ein Mühlstein schien auf ihren Brustkorb zu drücken. Sie zitterte. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Soviel Pech, soviel grauenhaftes Pech konnte einem einzelnen Menschen doch gar nicht anhaften. Warum geschah all das ausgerechnet ihr?
“Bitte, bitte. Wir wollen nicht schon wieder sinnlos streiten. Nicht um Worte. Nicht an diesem wunderschönen Sommerabend.” Merwan zog einen silbernen Ring von seinem Finger, dessen Edelstein in einem lindgrünen Feuer leuchtete. Ysilda bemerkte ihn, vor Aufregung und im Flackern des Lagerfeuers, erst jetzt.
“Ich glaube, dieses Artefakt hier gehört Euch. Ein weiteres Mitbringsel des kleinen Langfingers. Ich schenke Euch den Ring...oder gebe ihn Euch zurück, ganz wie es Euch beliebt.” Er warf den kleinen Reif in die Luft und wies ihm befehlend den Weg.
Wie von Geisterhand bewegt, schwebte das “Geschenk” auf Ysilda zu. Deutlich vermochte sie die verschlungenen Runen auf dem Silber zu erkennen, die kleine Blütenfee und den Onyxstein, der so smaragdgrün wie der Schratenwald bei Tage leuchtete. Ein Stern, der um so heller aufschien, je mehr er sich dem Käfig näherte. Ysilda ertappte sich dabei, wie sie nach dem Schmuckstück griff. Als sie Merwans freudloses Lächeln bemerkte, hielt sie inne. Nein, sie war nicht käuflich. In einem halben Schritt Entfernung verharrte der Ring in der Luft, schimmerte überderisch und drehte sich verlockend im Kreis.
“Warum so schüchtern? Der Ring war doch der Grund für Eure Reise. Oder etwa nicht? Er gehört Euch. Nehmt Ihn! ”
Der Blutsauger wies auf das Artefakt, einladend, aber auch fordernd.
“Ich mache mir nichts aus Schmuck und Tand. Schon gar nicht aus den Händen eines Kinds der Finsternis. Oder soll das so eine Art...Verlobungsgeschenk sein?” Ysilda reckte trotzig das Kinn vor.
“Glaubt mir, billig war der Ring nicht. Und dennoch: ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, was manch ein Magier für ein derart machtvolles Artefakt geben würde.”
“Dann hat es erst recht nichts an meiner Hand zu suchen. Ich bin keine Zauberin, und Praiodîn verabscheut Hesinderei.”
“Nun nehmt ihn schon. Ihr würdet hübsch aussehen damit!” Die Stimme des Vampirs hallte wie aus einer anderen Sphäre durch das glänzende Rund des Rings hindurch. So erschien es Ysilda wenigstens, die auf das Silber starrte wie in Trance. “Vor allem werdet Ihr sehen! Wenigstens einen winzigen Teil von all den Dingen, die ich gerade sehe. Sehen heißt verstehen.”
“Ein Grund mehr, Euer `Geschenk´ nicht anzunehmen. Euer Treiben werde ich niemals verstehen, und will es auch gar nicht.”
“Was ist daran so schwer verständlich? Man sucht etwas, und wenn man es findet, nimmt man es sich. Genauso ist es mit dem Ring. Zumindest hat er einmal Lacertinus gehört, meinem Diener. Eurem Amtsvorgänger. Macht damit, was Ihr wollt! Meine Kräfte behindert er nur. Ein uraltes feeisches Artefakt. Wann immer sich ein feeisches Wesen in der Nähe befindet, oder Feenmagie wirksam ist, leuchtet es grün. Rötlich schimmert der Ring, sobald er die dunklen Kräfte einer Kreatur der Niederhöllen spürt.” Merwan wies auf die smaragdfarbene Aureole, die den Ring umspielte. “Wie Ihr seht, bin ich schon einmal kein Dämon, wie Ihr zu glauben scheint.”
“Ja, aber gewiss auch keine Blütenfee. Es ist die Anwesenheit des....des Sternenkinds, das den Onyxstein leuchten lässt.”
“Nun nehmt schon!”
Ysilda schüttelte den Kopf. “Wie könnte mir Euer Geschenk einen Funken Gutes bringen, wenn Ihr ohnehin schon meinen Untergang beschlossen habt? Ihr möchtet den Ring nur loswerden, damit Eure Schergen nicht merken, was für Kräfte Ihr herauf zu beschwören gedenkt, nicht wahr?”
“Ihr missversteht meine Absichten.” Der Vampier machte eine unwirsche Handbewegung. Der Ring streifte sich über ein Zweiglein der Eiche, in Griffweite der Geweihte. “Hier ist er.”
Dann wies Merwan mit beiden Händen nach oben.
“Kennt Ihr Euch ein wenig mit Sternbildern aus? Heute nacht sehen wir eine überaus interessante Konstellation. Mit Satinav, Hammer und Ucuri vereint werde ich über den harten Stein und damit alle derischen Zwänge triumphieren. Die wenigen Hemmnisse, die noch zwischen mir und vollkommener Unsterblichkeit stehen, werden beseitigt. Über den Erdstag herrscht Simia, der bekanntlich den Neuanfang bringt. Das von Marbo geführte Schwert sorgt für den gewaltsamen Tod des Alten und zugleich das Ende eines lange andauernden Kampfes. Mada steht im Rad, im Sternbild des Helden – Magie vermag in diesen Stunden große Taten zu vollbringen, unter der lichtlosen Herrschaft der Sternenleere. Aber weitaus wichtiger ist, was diese Nacht in der Mythologie der Orken bedeutet. Heute haben wir den 13. Tag des 77. Monats im Großen Jahr 2001. Die namenlose 13 und die Zahl der Magie sind vereint. Dies alles in einem tairachgefälligen Augenblick, in dem ein neuer kosmischer Zyklus beginnt. Tairach, der Grausamste aller Orkengötter. Er ist der Erste aller Blutsäufer und Herr über die Geisterwelt. Heute nacht muss es gelingen. Jetzt muss es gelingen”. Sein Blick heftete sich auf die Lebensdienerin. “Habt Ihr Angst?”
Ysilda schluckte. “Ja. Gewiss habe ich das.”
“Angst vor Eurem nahenden Tod?”
“Wer hätte die nicht...ja.”
“Beneidenswert. Wenn ich heute nacht alle meine Verwundbarkeiten ablegen werde, wie ein altes, zerschlissenes Gewand, werde ich eigentlich nur noch eines vermissen: Das Empfinden echter Gefühle. Freude, Glück, Schmerz, Leid. Aber ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen. Für grenzenlose Macht.”
“Ihr müsst dennoch sehr einsam sein”, sagte die Geweihte leise.
Merwan musterte sie von der Seite. Prüfend, so schien es.
“Zu Mitleid mit Euren Todfeinden seid Ihr also auch in der Lage. Überaus faszinierend. Aber leider vollkommen unlogisch. Um nicht zu sagen - dumm. Wisst Ihr, nach etwa hundert, spätestens 150 Jahren gibt sich das mit der Einsamkeit. Dieses Dasein hier, das euch eine derartige Furcht einzujagen scheint, war von Anfang an meine Bestimmung. Ich wurde heute geboren, müsst Ihr wissen. Am letzten der Namenlosen Tage. Wenn Ihr so wollt, feiere ich heute nacht mit Euch... ein Tsafest. Mein Tsafest.”
“Ihr ward nicht immer so, nicht wahr? Ihr müsst auch einmal...menschlich gewesen sein. Lebendig. Mit einer Seele.”
“Oh ja. Gewiss doch. Glaubt mir, ich war sogar regelrecht gutherzig. Ein Freund aller Menschen und Tiere. So wie Ihr. Ich konnte viele Jahre lang keiner Fliege etwas zuleide tun. Bis ich den Grund erfuhr, aus dem mich meine Eltern hier in dieser Wildnis ausgesetzt haben. Ich sollte sterben. Sie waren Eltern aus überaus vornehmen Haus, die geborenen Herrscher dieses Landes. Dennoch empfanden sie keinerlei Funken Mitleid, mit ihrem eigenen Fleisch und Blut. Ich musste schmerzhaft lernen, dass ich in den Augen all der Götterfürchtigen und Rechtgläubigen kaum mehr als eine Fliege galt, die jedermann ungeschlagen erschlagen durfte. Nein, sogar erschlagen musste. Damals, in der Zeit der Pfaffenkaiser, wurde man für weitaus weniger verbrannt als für das Vergehen, dessen ich mich schuldlos schuldig gemacht hatte. Ich existierte. Ein Kind der Namenlosen Tage. Verflucht auf ewig.”
Ysilda schluckte, voll ungläubigem Staunen. “Ihr lebt schon...ich meine, euch gibt es schon, seit der Zeit der Priesterkaiser? Seit über 600 Jahren?”
“Konservativ gerechnet, ja. Nicht doch. Ihr braucht keine Ehrfurcht zu heucheln. Man wird bescheidener, je älter man wird. Der Baum, an dem Ihr gerade hängt, wie an einem seidenen Faden. Nun, er scheint mir nur wenig jünger zu sein als ich es bin. Ich weiß, was Ihr nun denkt: Seit fast 700 Jahren saugt dieses Kind der Finsternis nun schon die Lebenskraft anderer Wesen, und weilt dadurch länger auf Dere, als es nach dem Willen der guten Götter jemals hätte existieren dürfen. Aber was glaubt Ihr eigentlich, von was sich die Wurzeln dieser Eiche in all dieser Zeit genährt haben? Von all dem, was durch den unermesslichen Ratschluss eurer guten Götter auf die Erde gefallen, dort verreckt, verwelkt und verrottet ist. Nehmt die Zunderschwämme an ihrem Stamm, oder die Misteln dort oben, im Wipfel: alles Schmarotzer, die sich selbstsüchtig vom Lebenssaft dieses Baumes nähren. Aber nur in meinem Fall empfindet Ihr eine Grundtatsache des Daseins als grausam und widernatürlich. Warum eigentlich? Weil ich machtvoller bin als ein Baum, ein Pilz, ein Mistelzweig? Weil ich euch...gefährlich werden kann? Wieviele Fliegen habt Ihr in Eurem Leben schon erschlagen – einfach, weil Ihr die Macht dazu hattet?”
“Keine einzige. Seitdem ich eine Dienerin der Tsa bin.”
“Ich hoffe, meine Lieblinge haben hernach reichlich von eurem Blut getrunken und Krankheiten unter den Menschen verbreitet. Ja, auch ich war einmal wie eine kleine Fliege. Eine Stechmücke, die nach dem ersten Schrecken gelernt hat, zurück zu stechen. Sich vom Blut ihrer Häscher zu nähren.”
Merwan leckte sich nervös mit seiner grauen Zunge über die Lippen – und einen auffallend großen, spitzen Eckzahn. Hastig verbarg er ihn hinter der Hand und hustete lautlos hinein. “Ein kleine Fliege, die in unzähligen Götterläufen gewachsen ist, wie ihr seht. Die einfach nicht sterben wollte, aus Furcht vor dem, was sie nach dem Tod erwartet. Hinter der großen schwarzen Leere da oben. Die offenbar der Ort meiner wahren Herkunft und Bestimmung ist. Wer kein Grauen mehr empfinden will, muss selbst zum Grauen werden. Muss ein Grauen und grauenerregend sein. Ich hatte nie eine Wahl, versteht Ihr? Niemals. Es ist wie...wie eine...Pest. Eine angeborene, unheilbare Sieche. Aber auch bin ein Heiler, wie Ihr es seid, nur auf andere Weise. Ein Heiler in eigener Sache.”
“Ich kenne eure Heilmethoden. Ebenso wie die Tränklein, mit denen Ihr Euer bedauernswertes Leiden zu kurieren pflegt.”
“Ich kann Euer Leiden ebenfalls heilen, wenn Ihr es wünscht...”
Ysilda schwieg erstaunt.
“Diesem verbohrten Praioten neben Euch vermag ich nicht mehr zu helfen. Aber ich kann dafür sorgen, dass Ihr so werdet wie Ich. Unsterblich. Machtvoll. Von grenzenlosem Lebensdurst erfüllt.”
“Seid Ihr etwa deswegen hier herauf gestiegen, um mich am Ende noch vom rechten Glauben abzubringen? Um mich in Versuchung zu führen, der Herrin Tsa abzuschwören? Das mag Euch niemals gelingen.”
“Wir beide haben einen gemeinsamen Feind, dünkt mir. Den Tod selbst. Ich weiß, das Ihr heute Nacht nicht vor Boron treten wollt, so wenig wie ich es will und kann. Die ewige Jugend ist das Ziel, das wir beide anstreben, dem wir in Wahrheit dienen und für das wir jedes Opfer zu bringen bereit sind.”
“Darin mag sogar ein winziger Funken Wahrheit stecken. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen uns. Ihr bringt anderen den Tod, in dem Ihr Euer Dasein über das rechte Maß hinaus verlängert. Ich diene dem ewigen Leben, selbst wenn ich damit auf mein eigenes, vorzeitiges Ende zugehe. Schlimmer als der Tod ist nur noch der Untod. Genau dass seid Ihr aber. Untot. Ein untotes Scheusal, ein eiskaltes Ungeheuer. Ein Grauen für alle Lebenden und alles Lebendige. Die Leere, die Ihr so sehr fürchtet, sie ist längst in Euch und um Euch herum. Ihr verbreitet sie. Weicht von mir, Verdammter der Sumu!”
Ysilda prallte erschrocken zurück, als Merwan seine Lefzen hochzog und jetzt zwei ungemein spitze Zähne entblösste. Es waren die Fangzähne eines erregten Raubtiers. Hastig schlug sie das Zeichen der Tsa.
Merwan knurrte, eher ungehalten als beeindruckt.
“Interessaaant. Ist das Euer... letztes Wort?”
Die Geweihte richtete ein Stoßgebet an die Ewig Junge und nickte.
“Närrin. Wer nicht töten will, der soll auch nicht leben. Ihr werdet noch an mein überaus großzügiges Angebot denken. Niemand stößt Merwan vom Schratenwald ungestraft zurück.”
Ohne Vorwarnung sprang der Vampir in die Tiefe, mit wehendem, raschelnden Mantel, wie eine riesige Fledermaus. Landete leichtfüßig zwischen seinen Schergen, die erschrocken zurück wichen. Verwelkte Blätter regneten herab, einige verwehten noch in der Luft zu einem traurigem, grauen Staub. Der Ast, auf dem Merwan gestanden hatte, war abgestorben, gleich einem fahlen Knochen ragte das tote Holz in die Nacht.
Ein leiser Schrei entrang sich Ysildas Kehle.
Die Wolken wurden dichter. Erneut grollte Donner. Kaltes, kobaltfarbenes Wetterleuchten flackerte in der Nachtschwärze auf.
Nun kam Bewegung auf die verdüsterte Lichtung. Die Sokramorier hatten ihr Lagerfeuer herunterbrennen lassen. Mit der dampfenden Asche zeichneten sie sich große Drudenfüße auf die Stirn, erhofften sich dadurch wohl eine Art Schutz. Dann entzündeten sie Kerzen, am Beschwörungskreis, auf dem Stein, ebenso wie um die Lichtung herum. Auch wenn der Wind heftig zwischen die Zweige fuhr und es noch immer nieselte, verlosch keine einzige der unheiligen Flammen.
Eine eigentümlich feierliche Stimmung breitete sich aus, fast schon eine sakrale Atmosphäre, wie bei einem Götterdienst. Erwartungsvolle Spannung lag in der Luft. Die Ritualwachen nahmen am Waldrand Aufstellung. Alles war nun in das flackernde, rötliche Zwielicht der Kerzen getaucht.
Angst lähmte Ysildas Leib. Dennoch. Sie durfte sich, sie durfte Praiodîn nicht aufgeben. Noch war Leben in ihr...vor allem Lebenswille.
Ihr Blick fiel auf den grün leuchtenden Ring und die Blütenfee, die den Edelstein hielt. Irgendwie wirkte das Artefakt auf sie nicht böse. Wenn es feeischen Ursprungs war, und ein machtvolles Feenwesen Besitz von dem Geweihten ergriffen hatte, worauf das grüne Leuchten hinwies... Nun, vielleicht konnte sie dem “Steinbold” auf diese Weise ein wenig Kraft verschaffen.
Kurz entschlossen griff sie nach dem Ring, und streifte ihn über Praiodîns Finger. Mit krampfartigen Keuchen riss er die Augen auf, die plötzlich milchigblau glänzten.
Praiodîn glotzte sie eine Weile durchdringend an. Dann verschwand der blaue Glanz wieder, ein Moment lang kehrte menschliche Klarheit in seine Augen zurück. Regen fiel durch die nassglänzenden Gitterstäbe herab.
“Ysilda. Hilf mir” wimmerte der Lichtgeber und starrte sie entsetzt an. “Ich muss hier herraus.”
Mit matten Gesten schlug er um sich, es waren kaum mehr als schwache Zuckungen. Oder war es der Steinbold, der dazwischen wimmerte?
“Hier heraus...ich muss...hier heraus”, keuchte Praiodîn, wie ein Fieberkranker. “Ysilda, du musst mir helfen.”
“Das will ich. Ich will auch heraus, aus diesem Käfig. Merwan möchte den Karnstein zerstören. Das musst du verhindern. Kannst du uns beide irgendwie herausbringen? Uns...drei?”
Der Besessene schlug um sich wie ein ungezogenes, jähzorniges Kind, überraschend heftig. Der Käfig schaukelte wild.
Er wird tatsächlich stärker.
Regen schauerte vom Nachthimmel. Natürlich, der Planet Nandus wurde in der Alchimie gemeinhin mit Wasser in Verbindung gebracht. Dass dem Element Fels zudem so nahe war wie der Humus. Gut möglich, dass auch der Efferdsgruß die Kräfte des Sternenkinds wieder anwachsen ließ. Dumm nur, dass dieser Elementar hier keinesfalls mit sonderlich viel Erkenntnis und Klugheit gesegnet zu sein schien. Sein Verstand war kaum ausgeprägter als bei einem Golem, Gargyl oder Kleinkind. Oder bei Selemer Sauerbrot. Aber was wollte man von belebtem Gestein auch anderes erwarten. Oder vom Geist eines Säuglings.
Tatsächlich wirkten Dîns Gesichtszüge jetzt merkwürdig glatt, hart, rissig und grau. Als würde er versteinern. Er schien jetzt von innen heraus bläulich zu schimmern. Die Ohren wirkten mit einem mal merkwürdig spitz, wie bei einem Kobold oder Elf. Oder Grolmenkind.
“Nach Hause...” wimmerte Praiodîn plötzlich kläglich.
“Das will ich auch. Aber zuerst müssen wir hier aus diesem verfluchten Gefängnis heraus. Verstehst Du? ”
Ein schwerfälliges Grunzen antwortete ihr. Der klobige Kopf des grau gewordenen Geweihten nickte. Eine Weile geschah nichts, der “Golem” vor ihr erstarrte in seinen Bewegungen.
Das Seil, an dem der Käfig hing, begann zu ächzen und sich weiter aufzudröseln. Einzelne Seilstränge sprangen auf, wie bei einem heillos überladenen Hafenkran. Der Gitterboden knarrte, auch der Ast, an dem sie hingen, bog sich durch. Ysilda verstand: Der Steinbold wurde mit jedem Herzschlag schwerer und schwerer. Irgendwann würden sie mit Karacho nach unten rauschen, dank der steten Gewichtszunahme des Elementargeists.
Dann ließ der Regenguss ließ nach, so schnell wie er gekommen war. Mit einem matten Seufzen sank Praiodin gegen das Gitter, jetzt wieder ein blasser, erschöpfter Mensch. Das Seil entspannte sich. Irgendwo rollte der Donner. Ysilda rüttelte an der Schulter ihres Käfiggefährten, der rührte sich aber nicht mehr.
Sie sah nach unten, wo Merwan an den Karnstein trat, das Gesicht von einer Kapuze verlarvt. Wie bei einem Jahrmarktszauberer tauchte plötzlich eine verstörte, vor Furcht erstarrte, nur noch matt mit den Schwingen flatternde Taube in seinen Händen auf. Mit schrillem Singsang zückte der Vampir ein krummes Messer und hielt das matt zuckende Opfertier über die silbrig funkelnde Schale. Die roten Kerzenflammen tanzten wild.
Die Blitze und der Donnerhall wurden stärker, so dass sie kaum ein Wort von der lästerlichen Beschwörungsformel verstand. Es klang wie Orkisch.
Die Pfeile kamen ohne jegliche Vorwarnung. Sie schwirrten wie ein Schwarm wütender Vögel über die Lichtung, schlugen mit häßlichem Klatschen, in rasend schneller Folge, in ihre Opfer ein. Die Wachen wurden in absurder Geschwindigkeit zu Boden geschleudert: Zwei, drei, nein, vier Sokramorier lagen plötzlich durchbohrt in Blut und Dreck, mit zuckenden Armen und Beinen. Es war, als hätte Uthar selbst auf die Kultisten gezielt.
Ein kleiner, struppiger Goblin lief schreiend davon. Der Pfeil folgte ihm wie ein hetzender Spürhund, bohrte sich tief zwischen die Schulterblätter und warf den Rotpelz in die Farne. Zwei Orks und Befelenia stürmten mit wütend gebleckten Zähnen auf die Schützen zu, die Ysilda noch nicht sehen konnte, die Waffen drohend erhoben. Sie zweifelte nicht daran, dass es mehrere Bogner waren, die hier ein Massaker verübten. Nein, kein Massaker. Eine Befreiung! Barönliche Büttel, oder Bannstrahler mussten es sein, die hier eingriffen. Ja, vermutlich waren es Praiosdiener, denn die Befiederung der Pfeile war schneeweiß, wie Lichtstrahlen. Ein Jubelschrei entrang sich ihrer Kehle: “Hier, hier oben...”
Die Ritualwachen blickten verwirrt in Richtung Käfig – ihr letzter Fehler. Als lebende Zielscheiben wurden sie von drei weiteren heransirrenden “Lichtstrahlen” getroffen. Ein Ork flog in eine schwarze, feiste Kerze, die sofort verlosch. Wachs (oder Blut) spritzte umher. Der zweite Schwarzpelz hielt sich den getroffenen Bauch, umklammerte einen blutgetränkten Pfeilschaft und brach röchelnd zusammen. Befelenia stand am längsten. Die “Wissende der Alten Kulte” starrte entsetzt auf die Federn des Geschosses, das aus ihrem Hals ragte. Tastete nach den Runen in ihrem Umhängebeutel, die ihr aber nun nicht mehr halfen. Sie purzelten heraus, als die Frau in die Knie brach und zur Seite kippte. Ysilda hätte gerne gewusst, welches Schicksal die Orakelsteine ihrer Trägerin in diesem Moment noch prophezeiten.
Der Rest der Sokramorier duckte sich verwirrt, ging hinter toten Gefährten oder Büschen in Deckung – ein schwacher Schutz, wie eine Schwertkämpferin feststellen musste, die mit Geschoss im Mund nach hinten flog, in den Schlamm. Die Spitze ragte am Hinterkopf wieder heraus. Mit zuckenden Beinen blieb sie liegen, als hätte die Schüttelsieche sie gepackt. Metallischer Blutgeruch stieg in Richtung Käfig, das Blut dampfte regelrecht aus den erkaltenden Körpern.
Dann wurde es wieder still, bis auf das unheilvolle Grollen und Schnauben des Gewitters. Scheinbar völlig ungerührt hob Merwan das Messer und setzte es der Taube an den Hals. Steckte am Ende der Schwarze selbst hinter dem heimtückischen Meuchlerangriff? Die Antwort gaben weitere drei Lichtpfeile, die nacheinander seinen schwarzen Umhang durchschlugen. Der Vampir fiel einfach auseinander, in eine Silhouette aus grauflirrendem Staub, der im feuchten Regenwind zerstob.
Die Taube löste sich ebenfalls in Luft auf.
Nun hatte Ysilda den Schützen erspäht. Dort stand er. Kein Büttel, kein Bannstrahler. Es war, so unglaublich es ob der schnellen Schussfolge schien, nur ein einzelner Jäger, in speckiger Ledergewandung. Ein Waldläufer, der sich das schneeweiße Fell eines Hirschen über Kopf und Schulter gelegt hatte, mit zwölfendigem Geweih. Klein und gedrungen wirkte der Angreifer, wie er dort hinter einem umgestürzten, bemoosten Baumstamm lauerte, halb geduckt, die rechte Hand noch immer hinter dem Ohr, wo sie gerade die Sehne losgelassen und den letzten Pfeil ins Ziel geschickte hatte. Es war wirklich das letzte Geschoss gewesen, der Köcher auf dem Rücken des Hirschköpfigen war leer. Einen Moment lang hatte die Gestalt spürbar triumphiert. Nun, als sich der Gegner einfach zu Nichts, in Luft und Leere aufgelöst hatte, schien der Träger des Hirschfells verwirrt zu sein.
Hämisches Gelächter erklang aus dem Wald. Oder über dem Wald?
“Ihr Niveslein seid wie Wölfe. Maßlos, in eurer Gier nach Beute. Die Gier macht euch berechenbar. Ich weiß sehr gut, dass der Karnmann nur über zwölf unfehlbare Pfeile verfügt. Du Narr von einem Waldgeist hast sie gerade eben alle verschossen.”
Lautlos, bleich und mit gebleckten Zähnen schwebte der echte Merwan zwischen den Bäumen heran, merkwürdig ruckartig, wie eine Rauschkrautvision. Auf seinen Zauberstab gestützt, dessen Spitze ein Drachen zierte, kniete er neben dem Beschwörungskreis nieder. Beiläufig stieß er einem schwer verwundeten Sokramorier den Pfeil tiefer in die Brust. Dann riss er das Geschoss dem schreienden Mann ruckartig heraus, mit behandschuhter Rechter.
Voller Abscheu musterte der Schattenlose die blutverschmierte, dreieckige Pfeilspitze ebenso wie deren Widerhaken und die rotgesprenkelte Befiederung. Stöhnend und röchelnd hauchte der Kultist unter ihm sein Leben aus.
“Mutter....Mutter...Neinnein...ich...”, wimmerte er, oder versuchte zu wimmern.
Völlig teilnahmslos hielt der Vampir dem Todgeweihten Mund und Nase zu, bis er verblutet (oder erstickt?) war. In seinen Augen herrschte nichts weiter als Kälte.
Merwan deutete mit dem Pfeil auf den Jäger.
“Ich wusste, dass du heute Nacht erscheinen würdest, Karnmann. Auch Du hast in diesem Wald deine Augen und Ohren überall. Man könnte auch sagen: Du bist der Wald. Applaus. Nein, wirklich. Ich applaudiere. Deine Schießkünste sind noch immer bemerkenswert. Für einen bloßen Schatten deiner selbst. Aber das Zählen war noch nie die Stärke von euch Waldläufern. Sonst hättest du gemerkt, dass diesen Beschwörungskreis hier kein Heptagramm ziert, wie bei einer Beschwörung. Sondern ein Drudenfuß. Das ist der Vorteil, wenn man Silberdraht verwendet. Die Anzahl der Spitzen lässt sich jederzeit nach Belieben verändern.”
Beiläufig wies er mit dem Zauberstab auf das Heptagramm, das auf der Lichtung glänzte.
“Ein Drudenfuß, wie er gemeinhin zur Austreibung von Gespenstern verwendet wird. Spukgestalten, zu denen du längst gehörst, Einsiedler. Keine Sorge, Ysilda. Der Steingeist ist einstweilen sicher, in seinem Hexenkäfig aus geweihtem Bosparanienholz. Das Gitter ist nahezu undurchdringlich für Magie und Geistwesen. Leider auch überaus schwächend für unseren kleinen Steinbold, dessen Sikaryan ich hernach mit Vergnügen schlürfen werde. Auf diese Weise zwinge ich selbst noch den Götterfürsten in meine Dienste. Folglich schlage ich Praios mit seinen eigenen Waffen.”
Kalt lächelnd warf Merwan den Pfeil in Richtung Waldrand, auf den Jäger zu. Lässig wie ein Svelltaler Viehtreiber, der einen Gegner zum Duell forderte. Ein Duell, auf Leben und Tod. Mit ungleichen Waffen.
“Ich mag ein Untoter sein. Aber ich bin deshalb noch lange kein Unmensch, Nivese. Geister sollten zusammenhalten, in der Welt der Lebenden. Ich gebe dir Gelegenheit, noch diesen einen Pfeil auf mich ab zu schießen. Wenn du schnell genug bist, mag es dir sogar gelingen. Worauf wartest du? Nimm ihn!”
Der Hirschköpfige verharrte halb geduckt am Waldrand. Nur das Geräusch des von den Blättern herabtropfenden Wasser und die matten Schmerzenslaute der Verwundeten waren zu hören.
“Du zögerst? Ahnst wohl, dass du dadurch dem Drudenfuß gefährlich nahe kommst? Ich weiß, was du nun denkst. Schlau wäre es, sich in die Büsche zu schlagen, und den Kampf in einer besseren Stunde fortzusetzen. Aber du hast mit deinen geschlitzten kleinen Augen schon wieder etwas übersehen, Barbar aus den Nordlanden. Das Geweih deines Hirschfells wird lediglich von zwölf Enden geziert. Nicht sonderlich beeindruckend für einen König des Waldes, findest du nicht? Manch Kronenhirsch erreicht leicht die doppelte Anzahl. Du hast die Macht des Karnsteins, die doch angeblich die deinige ist, nie wirklich begriffen, fürchte ich. In ihm herrscht die Seele des Waldes, wie in dir. Ebenso wie der Geist des Nandus. Wie in dieser Waffe hier.”
Merwan schlug breitbeinig seinen Mantel zurück. An seinem Gürtel steckte, in einem Schwertgehänge ohne Scheide, eine runde, goldene, in sich verdrehte Klinge. “Schade, dass du dich mit der Hohen Alchimie nicht gar so gut auskennst wie mit dem Erlegen und Häuten von Tieren. In corpore est animus et spiritus. In jedem Körper befinden sich Seele und Geist, in der Alchimie symbolisiert von Hirsch und Einhorn. Hirsch und Einhorn, wie sie beide vor Urzeiten, in Eintracht am Karnstein gegrast haben, angelockt von der Macht des Göttersohnes . Die Orken haben ihnen aufgelauert und sie beide erlegt, mit Hilfe des Ältesten der Äonen. Geblieben sind Horn und Hirschgewand. Ein machtvolles Schwert und eine armselige Hülle. Mit dem alles durchbohrenden Alicornus werde ich jetzt den Karnstein vernichten, für immer. Denn es ist der Geist des Berufenen, der in Wahrheit über die Welt herrscht, nicht das jämmerliche Seelchen, wie ihr Göttergläubigen es euch einzureden versucht. Nun denn. Du hast die Wahl: Fliehe jetzt. Fliehe weit und schnell. Oder verhindere, dass ich mit dem Karnstein und dem Sternenkind die wahren Quellen deiner Kraft vernichte. Es ist schon fast die zwölfte Stunde. Mitternacht. Bald bricht die Geisterstunde an. Ich warte. ”
“Verfluchter Frevler!” Zwei Sokramorier, ein Mann und eine Frau, die sich bislang hinter dem Zelt versteckt hatten, stürmten mit ihren blanken Klingen auf den Vampir zu. Merwan schlug mit den Zauberstab in die Luft – das schwarze Schwert der Kultistin wurde wie von Geisterhand beiseite geschlagen. Die linke Faust des Vampirmagiers deutete auf die Stirn der rotschopfigen Angreiferin. Ihr Kopf flog nach hinten, schreiend taumelte sie in Richtung Pavillon, riss ihn im Fallen ein. Sie verhederte sich im buntgestreiften Stoff und rührte sich nicht mehr. Ihr Gefährte stieß mit dem Rapier zu, Merwan parierte durchbohrte den Mann beiläufig mit dem goldenen Horn. Er sank ächzend zu Boden wie ein nasser Sack.
Im nächsten Moment klatschte ein Armbrustbolzen in die Brust des Vampirs: Fladrik, der hinter einem gegabelten Baum kauerte, hatte ihn abgeschossen. Dann griff der Sokramorier mit dem Schwert an. Im nächsten Moment schrie “Flad” auf, als ein kleiner Dolch in seinem Unterschenkel steckte. Entsetzt starrte er auf den Grolm, der die Waffe geschleudert hatte. Keuchend ging er in die Knie.
Merwan zog den Bolzen beiläufig aus seiner Robe. Dann wandte er sich wieder dem Karnmann zu, der auf den weißen Pfeil zugeeilt war und dabei ein kleines Wurfbeil gezogen hatte. Nun, im unsteteten Mondlicht, war ein Teil seines Gesichts besser zu erkennen. Ein bronzefarbenes Nivesengesicht, darin zwei mandelförmige, funkelnde Augen. Der Karnmann griff eilig nach dem Geschoss. Es löste sich unter seinen Fingern einfach in Luft auf. Der Karmann murmelte etwas in der Singsang-Sprache der Nivesen. Es klang erschrocken.
Angewidert zog Merwan den echten Pfeil hervor, scheinbar aus dem Nichts. “Oh verzeih, Heiliger Alboran von Baliho. Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich hier eitle, hochmütige, rondrianische Spielchen mit dir spiele?” Der Schaft ging in Flammen auf, das Geschoss fiel brennend zu Boden. “Mein Körper stammt von Gernots schiefhalsigem Sohn, dieser Stab hier von einem kleinen Jahrmarktszauberer. Erwartest du da wirklich Ehrenhaftigkeit? Glaubst du wirklich, ich überlasse meinem Erzfeind eine derart machtvolle Waffe?” Der Vampir lachte höhnisch. “Sankt Alboran, das ich nicht lache. Wenn die Friedwangen wüssten, wen sie da als Stammvater der Baronie verehren. Einen schmutzigen, einfältigen Bärenhäuter aus der Taiga. Das einzige, was mir an den Eislanden gefällt, ist, dass dort oft mondenlang die Sonne nicht scheint.”
Das Beil des Karnmann wirbelte los. Auf das Seil zu, dass den Käfig mit den beiden Gefangenen in der Luft hielt. Merwans schleuderte seinen Stab wie ein Speer. Mit irrwitziger Geschwindigkeit eilte das verzauberte Holz dem Geschoss entgegen, flog wie eine Lanze durch die Luft. Mit dumpfen Klonk traf der Drache auf das Axtblatt, schleuderte die Wurfwaffe aus der Bahn.
Der Jäger lief geduckt auf Merwan zu, warf eine Handvoll Erde auf den Vampirmagier und bückte sich. Aus dem Erdwölkchen wurde in Windeseile ein regelrechte Regen, nein, ein Hagelsturm aus Sumus Element. Merwan schrie auf, als ihn der Humushagel traf, an den Händen vorbei die er schützend vor das Gesicht gehalten hatte. Seine totenblasses Gesicht begann zu dampfen. Hektisch wischte der Finstere es sauber, oder versuchte zumindest, das feindliche Element loszuwerden.
Eine befehlende Handbewegung des Karnmanns. Der noch immer brennende Pfeil flog, eine Handbreit über den Boden, auf ihn zu. Im nächsten Augenblick lag das flammende Geschoss auf der Bogensehne. Der Karnmann zog sie fein lächelnd zurück, bis zu der Stelle, wo seine schwarzglänzenden Haare unter dem weißem Hirschfell hervorragten. Seltsam unstofflich wirkte der Waidmann, er schien mit dem fahlen Mondlicht und dem Nebeldunst auf der Lichtung eher zu verschwimmen, statt darin aufzuragen. “Stirb, für immer!” sagte der Jäger mit heller, singender Stimme.
Das rauchende, feurige Pfeil schwirrte wie ein Schweifstern auf Merwan zu, erneut mit einer Urgewalt, als hätte Uthar selbst ihn abgeschossen. Eine herrische Geste des Vampirs – und der Körper des Sokramoriers, aus dem er den Pfeil gerissen hatte, ruckte nach oben, wie eine Mirhamionette, die an unsichtbaren Fäden gezogen wurde. Der Tote warf sich regelrecht ins Geschoss, beide Hände hoch erhoben. Mit dem lodernden Brandpfeil zwischen den Augen kippte der Leichnam um.
“Mutig, aber überaus dumm. Der Pfeil wäre ohnehin niemals durch den ARMATRUTZ gedrungen.”
Einen Augenblick lang klang die Stimme des Erzvampir unsicher, und noch immer schmerzerfüllt.
Der Stab flog zurück in Merwans Hand und wies in Richtung Drudenfuß. “Beim Wahren Namen des Namenlosen! Verschwinde von Dere, schwacher Geist des Alboran Haldorin, der du noch immer als Karnmann durch den Schratenwald irrlichterst! Deine Zeit ist um. Hinfort mit Dir! Für immer!”
Der Nivese, der einen Hirschfänger gezogen hatte, um einen weiteren Pfeil aus einem der Leichname zu schneiden, zuckte zusammen, als habe ihn ein jäher Peitschenhieb getroffen. Wütend schleuderte er die Klinge auf Merwan, die aber tatsächlich von einem unsichtbaren Schutzschild abprallte.
Mit lautlosem Schrei begann er sich zu winden, die Hände in die Luft gekrallt, als stünde er auf einem Scheiterhaufen, in unsichtbaren, eiskalten Flammen. Seine Gestalt wurde blässer und blässer, fast durchscheinend, ein leuchtender Schemen – und von einer Urgewalt angezogen, die aus dem Pentagramm heraus an ihm zu zerren schien. Ein hohler Schrei, dann wurden die schimmernden, flirrenden Schwaden in Richtung des Zauberzeichens gesogen, wie Nebel, den der Sturmwind verwirbelte. Das hellweiße Hirschfell fiel zu Boden, ebenso Köcher und Bogen. Wenige Herzschläge später, und der Karnmann war spurlos im Fünfstern verschwunden, als hätte er niemals im Wald gestanden.
Merwan genoss für mehr als einen Augenblick seinen Sieg. Kostete den Triumph aus. Ein hämisches Grinsen umspielte die blutleeren Lippen, während er sich einen letzten Rest Erde von der Schulter klopfte. Elegant ließ er seinen Zauberstab um die Finger wirbeln, als wäre es das Stöckchen eines Garether Stutzers. Ohne auf das Stöhnen Fladriks zu achten, der jammernd auf dem Boden lag und den Dolch aus seinem blutttriefenden Unterschenkel zu ziehen versuchte, blickte er zum Käfig hinauf, und deutete eine theaterhafte Verneigung an:”Hat Euch das Schauspiel soweit gefallen, Ysilda? Im Schratenwald ist einfach kein Platz mehr für Gespenster aus der Vergangenheit, findet Ihr nicht? Fortan wird er ein weitaus sicherer Ort für Wilderer sein, wie ich einer bin.”
Sein Blick fiel auf Bohk, der, ein Kurzschwert in der unbandagierten Hand, auf den jammernden Fladrik zuwatschelte, eindeutig, um ihm den Garaus zu machen. “Lass das, sein erbärmliches Gewinsel ist dem Namenlosen und seinen Dienern sogar überaus gefällig. Ebenso wie frisches Blut Maruk-Methai am besten schmeckt. Beeile dich lieber, den Drudenfuss in ein Heptagramm zu verwandeln. Wir erwarten heute nacht noch einen edleren Gast. Mit weniger Hörnern, aber weitaus mehr Macht.”
Achselzuckend stieß der Grolm seine Waffe in den Boden und eilte auf das Signum im Boden zu. Kurz zuckte er zurück, als er den Silberdraht berührte.
“Heiß?”
“Nein. Eiskalt, Herr.”
“Natürlich. Da ist ja gerade eben auch ein Firunsgeselle durchgeschlüpft. Eile dich, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.”
Mit flinken Fingern spannte der knittergesichtige Zwerg den Metallfaden an den Pflöcken um, bis tatsächlich ein großer Siebenstern enstanden war. Hastig arrangierte er die Paraphernalien und Donarien neu, darunter auch das Amulett, das Sonnenszepter sowie die Eidechsenklinge. Der Vampir legte weitere Ritualgegenstände hinzu, von denen Ysilda nur einen Spiegel und einen Pferdefuß eindeutig erkannte. Ein weiteres, unförmiges Ding war womöglich ein Ziegenschädel. Derweil entzündete der Grolm die Kerzen an den Spitzen des Pentagramms neu.
“Gut so. Nun stirb.”
Bohk keuchte erschrocken auf, als Merwan hinter ihn trat, und ihm die Hand auf die Schulter legte – und erstarrte. Seine rötlichen Haare standen ihm noch mehr zur Berge als sie es ohnehin von Natur aus taten. Der Vampir hielt plötzlich einen Krummdolch in den Klauen und zog beiläufig die Schneide dem Grolm über den kurzen Hals. “Herr, ich....AAAAH”. Ein dunkler Schwall Blut spritzte aus der Bohks Kehle und erstickte den schrillen Todesschrei . Zuckend fiel der Feilscher zu Boden, die Zunge herausgebleckt, beide Hände am Hals, ohne den Blutstrom wirklich aufhalten zu können.
Genießerisch leckte der Vampir die Klinge sauber und verstaute sie wieder am Gürtel. Der Grolm zuckte röchelnd, während sich Fladrik deutlich sichtbar benässte, weinte, schluchzte und wie am Spieß schrie. Merwan stieß seinen Stab in den Boden. Der dunkle Zauberer verfiel erneut in einen altertümlichen Singsang, und hob feierlich die Hände, wie bei einem finsteren Tempeldienst.
Blut begann aus den Leibern der Erschlagenen und des Sterbenden auf das Heptagramm zu zu fließen, selbst aus dem Bein des immer schriller wimmernden und klagenden Fladrik. Erst waren es Rinnsale und dünne Fäden, dann regelrechte Bäche, die auf die Spitzen des Siebensterns, die Kerzen und die Ritualgegenstände zukrochen. Der Singsang des Finsteren wurde zum Triumphgeheul, von dem Ysilda nur die Worte “Maruk-Methai” verstand: “Maruk-Methai, Maruk-Methai, Maruk-Methai.” Geschüttelt von Angst und Grauen wandt sie sich ab, schmiegte sich an Praiodîn. Die Präsenz des Blutsaugers war abscheulich gewesen, aber sie erschien erträglich im Vergleich zu dem, was nun nach ihrer Seele griff.
Es fühlte sich an wie...wie...wie eine riesige, eiskalte Hand, aus dem Nichts. Eine Faust, die sich aus der Mitte des Heptagramms herauszuschieben schien, aus der Leere, sich reckte, öffnete, ins Unermessliche anwuchs. Die roten Kerzenflammen loderten hoch, als wären sie mit Lampenöl übergossen worden, fauchten, brüllten, züngelte, stanken nach Schwefel und Verwesung.
Die Dämonenklaue wühlte in ihrem Innersten, tastete mit klammen Krallenfingern nach ihrem wild pochenden Herz, um es zu zerkratzen, zu durchbohren, zu zerbrechen und zerquetschen. Es herauszureißen und zerfetzen. Eine wispernde Stimme stellte Fragen, die nie gehört hätten werden dürfen. Deren Antworten einem Sterblichen den Verstand kosteten. Irgendwo wieherte ein Pferd, in höchster Furcht. Ysilda geriet in Panik, wie ein eingesperrtes Tier, was sie im Grunde auch war. Verzweifelt warf sie sich gegen das Gitter, tastete ins Leere, in die Nacht hinaus. Rüttelte an den Stäben – und schwang doch nur hilflos im Käfig hin und her.
Die unsichtbare Hand wurde größer und größer. Sie war nun in ihr und um ihr, umklammerte alles wie die Faust eines finsteren, mitleidlosen, kaltherzigen Giganten, um ihr auch noch das Innerste, die Seele, aus dem Leib zu pressen. Ysilda schrie, keuchte, betete zu Tsa und spürte nichts, außer der vollkommenen Abwesenheit der Jungen Göttin. Sie war einsam und verlassen, eingepfercht, vollkommen schutzlos und hilflos. Ein Opfertier.
Der Singsang steigerte sich zu einem irren Crescendo. Die Präsenz floss wieder zurück, strömte, erst unwillig, dann immer machtvoller auf den Beschwörer zu. Merwan schien ins Ogerhafte zu wachsen, seine Augen glühten purpurn. Fladrik versuchte davon zu robben, kriechend zu entkommen. Der Vampir beachtete ihn kaum, steif wie ein Golem schritt er in Richtung Karnstein. Die Schwarze Hand schien sich zurückzuziehen, der schattenhaften Gestalt des Vampir zu folgen, sich um ihn, durch ihn, in ihm auf Dere und Feste zu verdichten. Als habe er ein Kraftelixier getrunken, quoll der Leib des Verfluchten immer mehr auf, eine groteske Puppe. Seine Gewänder platzten auf.
Der muskelbepackte Vampir griff mit blutverschmierten Händen nach dem güldenen Horn und hob es mit beiden Händen zum Keilstoß. Sein Mantel flatterte im Nachtwind.
“Zerbrich, Stein des Nandus!” orgelte, wimmerte, brüllte es mit tausenden Stimmen aus dem Mund Merwans, die geradewegs aus den tiefsten Abgründen der Niederhöllen aufzusteigen schienen. Oder aber aus dem tiefsten Schlund der Sternenbresche. Frauenstimmen, Männerstimmen, Kindergewinsel, Tiergeblöke, Dämonengeheul, alles schwang in diesem infernalischen Getöse mit. Ysilda begann hysterisch zu weinen, wie ein kleines, hilfloses Mädchen. Sie hatte sie noch nie derart schwach und wehrlos gefühlt. Vor allem kraftlos. Ihr Herz schlug wie verrückt, im Gleichtakt mit dem Grauen um sie herum. Ihre Nase blutete. Mit beiden Händen versuchte sie den Blutstrom zu hemmen.
“Vergehe, toter Fels. Ich bin die Rechte Hand des Güldenen. Der, dessen Namen man nicht nennt.”
Auch auf der Lichtung wurde es nun kalt, eisig kalt. Eine Art Raureif legte sich wie ein schneefarbenes Leichentuch über alles. Selbst die grell lodernden Kerzenflammen begannen zu schrumpfen. Ein Knacken über ihrem Kopf.
Ohne Vorwarnung riss das heillos überstrapazierte, blitzgefrorene Seil über dem Käfig und Ysildas Gefängnis rauschte nach unten. Die Tsageweihte schrie, schrill, als sie nun Sumus Griff spürte, mit voller Kraft.
Wuchtig schlug der Kasten in einen Saturiensbusch und kippte, mit kaum gebremster Wucht, auf Fladrik, der gerade, auf allen Vieren, in den Wald davonzukriechen versuchte. Knackend zerbarsten die Knochen des Sokramoriers, als der Käfig auf ihm landete. Ysilda und Praiodin wurden wild durcheinander geschleudert. Benommen blieb die Dienerin des Lebens liegen, die Füße über dem Kopf. Oder waren es Praiodîns Füße?
Der Sokramorier unter ihr, auf der anderen Seite des Gitters, rührte sich nicht mehr. Die Geweihte zog ihm das Messer aus dem Gürtel, steckte, klemmte die Klinge in den Bügel des Vorhängeschlosses. Nach einigen Fehlversuchen hatte sie einen guten Hebelpunkt gefunden. Erstaunlich schnell gab das frostüberzogene Metall nach, sprang klirrend auf. Ysilda drückte, trat die Käfigtür auf, und kroch nach draußen. Erst jetzt bemerkte sie die Platzwunde an ihrem Kopf. Blut tropfte warm und klebrig herab, über die Nase, in den Mundwinkel, aufs Kinn. Und begann durch die niederhöllische Kälte sofort zu gefrieren.
Wie betrunken torkelte sie auf den schwarzen Schatten vor sich zu, den sie doppelt und dreifach vor sich flimmern sah. Merwan lachte höhnisch auf, es klang wie das Brüllen eines Drachen.
“Du-willst-mich-jetzt-noch-aufhalten-Tsaschlampe? Dein Blut saufe ich auf den Trümmern des Karnsteins.”
Die Hände des Vampirs ruckten nach oben, Blut tropfte das Horn hinab, gefror noch im Fallen, zersprang auf dem eisverkrusteten Stein. Unbezwingbar, mächtig und kraftvoll stand der Diener des Rattenkinds am Findling, schrecklich und schön zugleich in seiner unbezwingbaren Macht. Allein der Anblick ließ Ysilda in die Knie gehen, wie eine schwache Novizin vor der Statue einer allmächtigen Gottheit. Der Geruch nach Lavendel trat in ihre Nase, ebenso wie der nach Weihrauch. Ihr gequältes Herz schlug wie eine Trommel, die Erde vibrierte, schwankte, so schien es zumindest.
Ein einzelner Nachtfalter tanzte plötzlich vor dem Blutsauger auf und ab, dann ein zweiter und dritter.
Verdutzt sah Merwan auf den frechen Eindringling herab. Sofort schien der Vampirmagier um mehrere Fingerbreit zu schrumpfen.
Weitere Schmetterlinge eilten herbei, auch bunte Vertreter ihrer Art, Pfauenaugen, Schwalbenschwänze und ein Tsafalter. Ysilda traute ihren Augen kaum: Ein Wunder der Jungen Göttin? Dann brach aus dem Wald ein wahrer, kaleidoskopartiger Sturm aus Schmetterlingsflügeln hervor, ein Rauschen und Rascheln, ein Flattern und Flirren, über den reifbedeckten, grauweißen Boden hinweg. Der Flügelschlag eines einzigen Schmetterlings in Maraskan vermag einen Orkan in Gareth auslösen, dieser Spruch kam ihr in den Sinn.
Aber hier waren bereits die Flatterlinge der Sturm. Sie brausten heran, erst Dutzende, dann Hunderte, Tausende, wenn nicht noch mehr. Umschwirrten den Magier, erst in dünnen Schleiern, dann in einer regelrechten Gewitterwolke. Angstvoll kauerte sich Ysilda in Blut und Dreck, während Legion auf Legion der Schmetterlinge über sie hinwegbrauste. Binnen weniger Herzschläge war Merwan eingehüllt. Er ließ das Alicornus fallen und wehrte sich mit ebenso heftigen wie vergeblichen Schlägen.
Ysilda kroch unter den unzähligen Leibern hindurch auf einen Baumstamm zu und rollte sich ins Unterholz. Der Schmetterlingssturm ließ etwas nach. Ein gewaltiger, kunterbunter Kokon hatte den Vampirmagus eingehüllt, Flügelchen schlug scharrend gegen Flügelchen, die Luft knisterte, als würde Samt gegen Samt gerieben. Eine kleine Nachtmotte kam einer der blakenden Kerzen zu nahe und ging in Flammen auf. Wie eine kleines Irrlicht taumelte sie auf den großen Schwarm zu. Das Feuer sprang in Windeseile über, brandete durch die winzigen Leiber der Angreifer, von Flügel zu Flügel.
Als wären sie aus Zunder, begann die Masse der Schmetterlinge zu brennen, in einem einzigen, grellen Feuerball. Ysilda bedeckte die Augen. Wie Glühwürmchen taumelten brennende Schmetterlinge vor ihr auf und ab, verbrannten zu Funken und Asche. Es stank ranzig nach Horn und Fliegen, die in die Öllampe geflogen waren. Aber auch Merwan brannte lichterloh, wie ein Feuergeist taumelte er hin und her, schlug kraftlos nach den Schmetterlingen, ebenso wie nach den lodernden Flammen auf seiner Robe. Dann stürzte er zu Boden. Seine Schreie wurden greller, panischer. Wild um sich schlagend, wälzte er sich über den Boden. Das Feuer ließ nach, dafür begann Merwan zu rauchen und zu qualmen wie ein Kohlenmeiler.
Ysilda begriff. Es war nicht die brennende Gewandung, die ihren Träger in Flammen aufgehen ließ. In dem seine Hülle verbrannte, schützte sie ihn nicht mehr vor der Erde, dem Humus. Der unerbittlichen Macht der Sumu. Kreischend versuchte der Unhold wieder aufzustehen, tastete nach dem Karnstein, fiel zurück .
Die Tsageweihte taumelte los, griff nach dem Einhornschwert – und bohrte das Alicornus mit einem Stoßgebet zur Allesgebärenden in den Leib des Untoten. Erstaunlich leicht drang die Zauberklinge in das tote Fleisch des Blutsäufers. Nagelte ihn regelrecht am Boden fest. “Das ist für Bruder Lacertinus! Weiche aus dem Unleben, im Namen der Herrin Tsa, die über das wahre Leben herrscht!”
“NEEEEEIIIIIIIIIIIINNNNNN!”
Ysilda achtete nicht mehr auf das zunehmend jammervolle Brüllen. Mit beiden Händen schaufelte sie Erde auf den stinkenden, schwarzverbrannten Leib. Es wirkte, als würde sie Brandöl mit Wasser zu löschen versuchen. Der Vampir selbst brannte nun lichterloh.
Merwan zuckte und zappelte, gleich einem aufgespießten Käfer. Ysilda bedeckte ihn mit Erde, stopfte sie ihm in den spitzzahnigen Mund, warf sie ihm auf Gesicht und Oberkörper, ohne auf die Klauen zu achten, die sich verzweifelt in ihren Oberarm bohrten. Dort, wo der Humus ihn berührte, schlugen erneut Flammen empor, wie kleine Vulkane, die unter seiner rissigen, verkohlten Haut ausbrachen.
“YSIIIIILDAAAAAA!”
Feuerlohe schlug dem Vampir aus Mund und Augen, wo gerade noch eine menschenähnliche Gestalt gewesen war, zuckte nur noch eine gelborangefarben glühende Puppe. Die Flammen wurden schwächer. Nur schwärzliche, qualmende, glimmende Umrisse blieben von ihrem Feind zurück. Ein verzerrtes Grinsen war das Einzige, was von den Gesichtszügen noch zu erahnen war, nein, eher ein Lächeln, fast schon friedvoll. Nach all dem Brüllen, Hass, Kampf und der Furcht lag etwas Versöhnliches darin.
In Windeseile zerfiel Merwan zu grauer Asche, ein Schemen seiner selbst. Wurde Teil der Schmetterlingsasche, die alles bedeckte. Dann war es vorbei, als hätte das Grauen niemals auf der Karnstein-Lichtung Einzug gehalten. Die schwarzgrauen Überreste begannen bereits zu verwehen. Nur das Alicornus, ein Kurzschwert und der Zauberstab staken noch im Waldboden.
Ysilda wälzte sich erschöpft zur Seite. Sie konnte es nicht fassen, was gerade eben geschehen war. Was sie getan hatte. Einen Vampir vernichtet. Nein. Einen Erzvampir...
Mehr als einen Augenblick lang schwanden ihr die Sinne. Blut rann ihr in die Augen, alles schien sich um sie zu drehen. Mit halbgeöffneten Augen sah sie, wie Dîn auf sie zugewankt kam. Es war, als würde er über ihr den Nachthimmel entlang schreiten. Sie streckte ihre Hand aus, und sah (und spürte) erst jetzt, wie versengt ihre Finger waren. Gleißende Schmerzen breiteten sich von den Brandwunden her aus.
Der Geweihte beachtete Ysilda nicht, sondern schritt geradewegs auf den Karnstein zu. Eine Art schwachsinniges Lächeln umspielte seine Lippen, der Blick war vollkommen stier und ausdruckslos. Der Ring an der rechten Hand leuchtete in einem satten Grün. Dann wurde ihr endgültig schwarz vor Augen.
Plätschernder Regen und Gewittergrollen weckten sie. Es wurde nass, kalt, glitschig und feucht unter ihr. Das Wasser begann all die Asche wegzuspülen, ebenso das Blut und den Frost. Ysilda drehte sich auf den Bauch und versuchte aufzustehen. Sie lag genau neben dem Heptagramm, wie sie nun bemerkte. Eine davongerollte Kerze berührte ihre Finger.
Erst jetzt sah sie die kleine Pfeilspitze, die sich in die Mitte des unheiligen Zeichens gebohrt hatte, unaufällig, aber präsent. Sie brauchte eine Weile, bis die Erinnerung wiederkehrte. An alles. Der Armbrustbolzen. Die Spitze, die Fladrik ihr aus der Hand getreten hatte. Hatte das kleine Stückchen Eisen das Ritual am Ende durcheinander gebracht?
Schüttelfrost und Schmerzen peinigten ihren Körper. Nun sah sie das Eidechsenmesser, das an der Spitze des Siebensterns lag. Ysilda tastete mühselig danach, versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Verharrte zunächst schwankend auf den Knien, schaffte es irgendwie, sich aufzurichten.
Dann sah sie Praiodîn, breitbeinig auf der Lichtung stehen, neben dem noch immer makellos weißen Hirschfell und dem Zauberbogen, sein Praioszepter in der Hand. Hinter ihm der zerbrochene Käfig, darunter der reglose Fladrik. Überall lagen Tote, grotesk verdreht im blutgetränkten Dreck. Die schöne Waldlichtung war ein grausames Schlachtfeld geworden. Ysilda verzog das Gesicht, was nicht nur an ihren Schmerzen lag.
Der Geweihte bückte sich, griff nach dem Greifenamulett mit den Sonnenstrahlen und hängte es sich um den Hals. Erst jetzt sah er, dass es schwarz angelaufen war – hastig ließ er es hinter seinem aufgeschnürten Hemdkragen verschwinden.
“Dîn...wir haben es geschafft. Merwan ist vernichtet. Und du bist endlich wieder....du selbst. Du bist frei.”
Sie wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht. Praiodîn musterte sie, irgendwie merkwürdig, wie sie fand. Da war noch etwas: Der Ring an seiner Rechten leuchtete jetzt in einem kraftvollen Rot.
Ein Knurren entrang sich der Kehle des Geweihten. Merkwürdig verrenkt stand er da, als wären einige seiner Knochen gebrochen. Vermutlich war genau das der Fall.
Auch wenn er anatomisch eigentlich nicht mehr dazu in der Lage sein durfte, begann er mit der Ritualwaffe in seine linke Hand zu schlagen.
“Bravo, Ysilda. Du hast es tatsächlich geschafft.”
Die Tsageweihte wich zurück, fiel rücklings in eine Pfütze.
“Du...Du bist nicht Praiodîn.”
Der Geweihte lächelte und zwang damit sein übriges, bleiches, schlammbespritztes Gesicht in eine groteske Fratze.
“Ganz recht. Ich werde deine Dreckfotze in den tiefsten Abgründen der Sternenbresche lecken. Wie bei Hela-Horas. Von dieser Nacht an bis in alle Ewigkeit.” Wieder ein infernalisches Lachen. “Oh ja, du erinnerst mich an Hela, die größte aller Huren auf dem Kaiserthron.”
Schnalzend ringelte sich die Zunge vor, schleimig, wie...wie ein Blutegel, und sabberte. “So ein uraltes Gesetz kann unmöglich noch gelten”, keifte “Praiodin”, mit weibisch heller Stimme. “Wooohlgesprochen...woooohlgesprochen. Geradezu tsagefällig, die Worte Eurer wunderschönen Dämonenkaiserin, nicht waaahr? Verbrannt ist sie, mitsamt ihrem tausendtürmigen Bosparan. ER aber war DOOOORT und hat die Flammen ins Unermessliche geschürt.”
“Praiodîn...?!”
“Neiiiin....NEIIIN....Diesem Herrn diene ich nicht...!” Eine Abfolge dunkler Knurrtöne, die aus mehr denn einer Kehle zu stammen schienen, und aus verschiedenen Richtungen an Ysildas gemarterte Ohren drangen, mal lauter, mal leiser. Ihr Kopf dröhnte, erfüllt von Schmerz. Sie merkte, wie erneut Blut aus der Nase strömte und wohl auch aus den Ohren.
Der Ring begann zu flackern, erst in einem rötlichen, dann grünlichem Gelb. Der Geweihte warf nun mehr als einen Schatten – drei, vier waberten im unsteten Licht umher, schienen knurrend miteinander zu ringen, sich zu zerfleischen, zu zerfetzen, zu vernichten.
“Mir ist schlecht...Ysilda, hilf mir”. Der Geweihte wimmerte, mit fast wieder menschlicher Stimme. Um dann sofort geifernd, grollend loszubrüllen.
“Halts Maul. Sein Leib gehört mir, ebenso wie seine Seele.”
“Du dienst dem Namenlosen?”
Ein wütendes Kreischen antwortete ihm
“Neeeiiin. SEIN ist die Rache, spricht der Herr des Assuroth. Gepriesen sei der Gubernator von Kholak-Kai, der Sehende Sohn, der Schwarze Mann und Henker der Götter. Auf ewig verflucht sei der Dreizehnte und seine Schergen. Verdammt sei Praios, ebenso wie das Gesindel, das sich um seinen Altar schart. DENN ES GIBT KEINE GERECHTIGKEIT, TEMPELHURE!”
Plötzlich klang wieder die Stimme Praiodîns dazwischen. Der Ring flackerte grün. “Greif mich an, Ysilda. Tu etwas!”
Ysilda schüttelte den Kopf.
“Was redest du da? Komm zu dir. Du machst mir Angst, Dîn. Ich bin eine Dienerin des Lebens. Ich darf niemanden verletzen. Auch dich nicht. Ganz besonders dich nicht. Ich will es nicht, Praiodîn.”
“Du sollst ihn t ö t e n !”fauchte es wütend dazwischen. “D a s will es von dir, dein Goldröckchen! Assuroth aber will: RACHE!”
Der Onyx leuchtete nun wieder grellrot.
“Nein!”
“Wer nicht töten will, der soll auch nicht leben. Du hast gehört, was Merwan gesagt hat! Ich fürchte, du hast heute Nacht deine Lektion noch nicht gelernt, kleine, schwache Anbeterin der Eidechse!”
“Praiodîn” katzbuckelte, reckte dann seinen Hals und schüttelte den Kopf, wie ein Hund, der Wasser aus seinem Fell loswerden wollte. Das halbe Dutzend Schatten, das nun um den Dämon irrlichterte, schien sich ängstlich zu ducken.
Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck stapfte er auf die Geweihte zu. Rote Äderchen durchzogen sein fahles Gesicht. Die Augen waren gelblich verfärbt und starr. Der Dämon dahinter lachte und bleckte erneut seine Zunge, die herausringelte wie ein Wurm.
“Du WILLST nicht töten? Assuroth kann stattdessen DICH erschlagen, wenn dir das lieber ist.”
Das Sonnenszepter fauchte schwer und glitt mit goldenem Schimmer durch die Luft. Ysilda sprang auf, das geweihte Messer in der Linken. Nicht, dass sie vorhatte, es einzusetzen. Demonstrativ steckte sie die Klinge in den Gürtel und hob beschwörend die Hände.
“Ich werde...”
Ohne jede Vorwarnung griff der Besessene an. Ysilda duckte sich, der Hieb glitt über sie hinweg. Der Herr der Rache? Es musste ein Dämon aus dem Gefolge des Blakharaz sein, der irgendwie in diese Welt gelangt war. Womöglich durch den kleinen Spalt, den der Pfeil im Heptagramm hinterlassen hatte.
Praiodîn deutete einen weiteren Schlag an.
Die Geweihte wich instinktiv aus, trat dem Angreifer ins Bein. Packte seine Linke und schleuderte ihn, erstaunlich leicht, über die Schulter. Als Tsageweihte war sie eine geübte Ringkämpferin. Ihr Gegner fühlte sich merkwürdig kalt an, wie ausgeglüht.
Praiodîn landete keuchend und ungemein hart auf dem Rücken. Wartete einen Moment, und sprang dann aus dem Liegen wieder auf beide Beine, geradewegs in den Stand. Erneut stapfte er auf seine Gegnerin zu, über Befelenias Runensteine hinweg, die bei jedem Tritt knirschend in rötliche Flammen aufgingen.
Ein weiterer Hieb mit dem Sonnenzsepter. Sie duckte sich, einen winzigen Herzschlag zu spät. Einer der scharfkantigen Strahlen schrammte ihr durch das Gesicht. Es war, als würde ihr die die gesamte Wange aufgeschlitzt, zu einem “Thorwaler Lächeln.” Blut schwappte heraus.
“Tsametze! Wehr Dich endlich!”
Er spielte nur mit ihr. Sie schrie auf, als einer von Praiodîns Schatten (sie schienen mehr zu werden und mehr) nach ihrem nackten Fuß griff. Die Hand glitt hindurch, aber die Kühle und Leere, die sie dabei verspürte, war grausamer als jede derische Wunde. Die Schatten umtanzten den Geweihten wie lodernde Flammen, heulten, grollten, schnitten Grimassen und fletschten Zähne: ein groteskes Schattentheater.
“Du kannst mich nicht provozieren! Du bist nicht Praiodîn! Er ist besessen!”
“Sterbliches Gewürm nennt Dinge gerne Besessenheit, die in Wahrheit aus tiefstem Herzen stammen!”
“Du bist nur ein Dämon! Ein böser Geist! Der Ring beweist es!”
“Ein Grund mehr für dich, es ein für allemal zu beenden, Echsenfotze!”
Dîn schlug zu, traf mit der flachen Seite der Ritualwaffe ihre Schulter. Der Hieb schmerzte dennoch niederhöllisch. Im nächsten Moment traf sie das Schaftende in den Bauch. Sie krümmte sich keuchend zusammen, bekam keine Luft mehr. Schemenhaft sah sie den Lichtgeber über sich aufragen, der das Szepter langsam mit beiden Händen über den Kopf hob. Instinktiv spürte sie, dass der nächste Treffer ihr erbarmungslos den Schädel spalten würde. Wispernd umhuschten sie die Schatten, verhöhnten sie, knurrten, grollten wie im tiefsten Abgrund der Niederhölle.
Nein, das durfte nicht das Ende sein.
Mit einem Wutschrei zog blank. Der “Geweihte” grinste und breitete einladend beide Arme aus.
“Stoß zu! Oder soll ich dich stoßen, Liebesdienerin, Lebensdienerin oder wie immer du dich nennst? Hier und jetzt, auf dem Karnstein?”
Erneut ein obszönes Zungenblecken.
“Oder hast Du Angst vor dem Praiosszepter hier?” Dîn legte sich die Waffe neckisch in den Nacken und bog den goldenen Teil des Schafts beiläufig zu einem Hufeisen. Höhnisch lachend warf er es beiseite. “Macht sie fertig! Sie ist es nicht wert, dass ICH sie in die Seelenmühle schicke.”
Der Gestank nach Goblinfell drang an ihre Nase. Ein Schwert zischte neben ihr durch die Luft. Einer der tote Wächter war auf sie zugewankt, eine blutige Pfeilspitze ragte anklagend aus seinem Brustkorb. Das eine Auge war halb geschlossen, das andere gebrochen und stand weit offen. Blut sickerte aus dem hauerbewehrten Affenmaul des Goblins. Seine linke Hand schlenkerte kraftlos und schlammbespritzt herum.
Schwerfällig hob der untote Rotpelz die schwarzgefärbte Klinge, glotzte schief über die Schneide, gluckste. Schwarzes Blut ergoss sich dabei über sein klobiges, pelziges Kinn.
“Das passiert mir öfters”, kommentierte “Praiodîn” leidenschaftslos. “Schwache Seelen, du verstehst? Du solltest ihm deine Klinge ins Hirn stoßen.”
Ysilda wich den fauchenden Hieb aus, hob das Messer. Sie zögerte, kaum mehr fähig, auch nur Grauen zu empfinden. Das alles war vollkommen unwirklich. Auch der Zombie vor ihr warf nun mehrere Schatten, die sich zeternd auf die Schemen rund um Praiodîn zu stürzen schienen – und wimmernd zurückwichen.
“Ein laufender Toter. Ein wandelnder Leichnam. Worauf wartest Du? Den armen Merwan hast du mit mehr Eifer vernichtet. Nun gut, es wurde dir ein klein wenig dabei geholfen. Genau genommen warst Du nur ein Werkzeug des großen Blakharaz, dem Vertilger alles Namenlosen und Praiosgefälligen. Ein kleines, unbedeutendes Werkzeug Seiner Vergeltung. Aber immerhin, eine große Ehre für eine schwache, bedeutungslose Sterbliche wie dich.”
Der tote Goblin hob schwankend das Schwert über den Kopf. Sein Fell war nass, dreckig und abstehend wie bei einer Katze, die von einem Fuhrwerk überrollt worden war. Übler Geruch verriet, dass er sich im Augenblick des Todes entleert haben musste. Die Klinge sauste kraftlos durch die Luft. Ysilda wich aus. Mechanisch, wie eine Puppe oder ein Automat, ließ der Goblin seine Waffe erneut nach oben rucken, zum nächsten Schlag.
“Nun mach schon, stech den armseligen Stinker ab!”
Grelle, wiehernde Schreie drangen an ihr Ohr. Es waren die wild scheuenden Ponys, die sich losgerissen hatten.
Ein Blitz zuckte. Auch die überzähligen Goblinschatten schwirrten, wie in Panik, auseinander. Ysilda stieß die Klinge geradewegs in die behaarte, fliehende Stirn des Rotpelz. Es fühlte sich scheußlich an. Dunkle Hirnmasse schwabbelte hervor. Steif wie ein Brett fiel der Goblin zu Seite und rührte sich nicht mehr. Das Messer glitt durch die Bewegung wieder aus der Hirnschale heraus.
Im nächsten Augenblick schlossen sich zwei starre, blutverschmierte Hände von hinten um ihren Hals. Federn kitzelten sie spröde im Gesicht.
Ysilda riss sich mit einem Aufschrei los – und starrte in das totenbleiche Gesicht der Sokramorierin, die mit weit aufgerissenem Mund vor ihr stand. In das ein Pfeil geradewegs hineingeflogen war. Ihre leblosen, herausquellenden Augen starrten geradewegs auf die Befiederung. Zwei, drei Zähne waren durch das Geschoss ausgeschlagen worden – oder war die Frau bereits zu Lebzeiten von Zahnlücken verunstaltet gewesen? Ein Stück behaarter Schädeldecke war am Hinterkopf, an der Austrittswunde, weggesprengt worden, und schlug wild hin und her, wie ein schief hängendes Fensterchen im Sturmwind. Ysilda stieß angewidert erneut zu, einmal, zweimal, dreimal, unzählige Male. Zerlöchert und blutleer sank der Leichnam vor ihr in den Dreck, als wolle er sich vor seiner Bezwingerin verneigen.
“Da hat jemand den Mund wohl zu voll genommen”, höhnte der Dämon. “Sehr guuuut, Ysilda, sehr gut. Oder besser gesagt, böööse, sehr böse. Das Töten scheint dir langsam Spaß zu bereiten. Das endgültige Töten. Unser Eidechlsein häutet sich. Mal sehen, was unter der alten Haut heute nacht noch so alles zum Vorschein kommt.”
Erneut schrie die Dienerin des Lebens auf, als sie etwas biss: Es war der Grolm, der seine Zähne in ihren nackte Wade schlug, wie ein hungriges oder tollwütiges Tier. Der Schnitt in seinem Hals klaffte weit auf. Die Bandage an seiner Rechten hatte sich gelöst, ein dreckiger Tuchstreifen hing herab. Ysilda stürzte, das Messer glitt ihr aus der Hand. Bohk versuchte mit starren, ungelenken Bewegungen und schneeweißem Wasserkopf über sie zu kriechen. Seine Katzenaugen glotzten sie ausdruckslos an.
Einige Herzschläge lang rangen sie miteinander. Im nächsten Augenblick spürte Ysilda einen Schaft in ihren Händen. Das Wurfbeil des Karnmanns?! Sie schlug von der Seite her zu, kurz und hart. Die ausgeblutete Leiche kippte zur Seite, mit der Klinge tief in der Schläfe.
“Gleich drei Leichen nacheinander, in nur einer einzigen Nacht” grollte die Stimme, scheinbar aus allen Richtungen. “Nicht schlecht, für soeine friedliebende Tsametze. Ein wahres Rachefest.”
“Sie waren bereits tot”, keuchte Ysilda. Hastig griff sie nach dem Messer, wischte es am Mantel ihrer Gegnerin sauber und stand auf.
“Sie waren bereits tot” äffte der besessene Geweihte sie nach. “Zumindest beim Grolm bin ich mir da gar nicht mal so sicher. Praiodîn ist auch schon so gut wie tot. Wenn du ihn für immer erlösen möchtest, bitte sehr...Wir drei würden seinen schwachen Leib nämlich jetzt liebend gerne verlassen. Na komm, ich lasse dir sogar noch eine Chance. Eine allerletzte. Nutze sie gut.”
Der Dämon lachte höhnisch auf.
“Was ist? Du hältst eine geweihte Waffe in deinen zitternden Händen. Mach guten Gebrauch davon, Metze!”
Praiodîn beendete den Satz nicht, sondern musste sich ruckartig und würgend erbrechen. Der Schmutz verteilte sich über sein ganzes Gewand, triefte vom Kinn herab bis zum Boden. Dann begann er sich auch noch plätschernd zu benässen, bis er in einer gelblichen Pfütze stand.
“Oh verzeih. Auch das passiert mir öfters in euren Körpern. Ihr Menschen seid einfach zu schwach. Nun mach schon, Assuroth wartet nicht die ganze Nacht. Lass uns endlich zur Sache kommen, Tempelschätzchen!”
Benommen rappelte sie sich auf. Tastete nach dem Messer, das in einem Schritt Entfernung neben ihr lag.
Der Wirtskörper stand einfach da, mit wirren Haaren und purpurn verschorfter, totenbleicher, aufgedunsener Fratze. Mit geschlossenen Augen bot er sich selbst zum Ziel dar.
“Ich warte. Treib uns aus, mit einem Stoß, aus diesem armseligen, sterblichen Leib.” Der Dämon verfiel in wildes, irrsinniges Gelächter, spie erneut, im hohen, sprühenden Bogen.
Ysilda holte mit der Klinge aus. Es war keine Waffe, ganz im Gegenteil, sie diente zum rituellen Durchschneiden der Nabelschnur bei der Geburt. Sie ahnte, was das Scheusal von ihr wollte: Sie sollte das Heilige Messer entweihen – indem sie damit wider das heiligste Gebot der Tsa frevelte. In dem sie Praiodîn tötete.
Entsetzt über sich selbst, humpelte sie los, einfach in den nebligen Wald hinein. Schneiß war nicht fern, vielleicht würde sie dort Zuflucht finden.
Ein wütendes Knurren drang an ihr Ohr. Ysilda schrie auf: Gleich würde der Besessene über sie herfallen. Wie hatte sich der Dämon genannt? Assuroth. Sie drehte sich um, das Messer zur Abwehr erhoben. Doch da war nichts, außer wirbelnden Schatten. Sie schob die Klinge in den Gürtel, begann zu rennen.
“Du wirst zu mir zurückkehren, glaub mir!” höhnte die niederhöllische Stimme des Assuroth durch den Wald. “Schon bald.”
Ysilda stolperte, durch mannshohe Farne und Brombeer-Dickicht, über Steine und Wurzeln hinweg. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, zerkratzten ihr die Haut, immer wieder blieb sie im Geäst stecken, musste sich knisternd eine Gasse brechen. Brach pflatschend in ein Sumpfloch ein, befreite sich keuchend aus dem zähen, kräftezehrenden Schlamm. Dennoch war ihr verschlungener Weg gut erhellt, der Mond schien noch immer blutigrot herab. Der ganze Wald schien nun zum Leben zu erwachen, von Ihm, nein, seinem Geist durchdrungen zu sein. Zu atmen, sich zu bewegen, zu drehen, mit tausenden stachligen Fingern nach ihr zu greifen. Oder begann sie schon dem Wahnsinn der Niederhöllen zu verfallen?
Ein Traum...das alles hier war nur ein verrückter Traum. Ein weiterer Alptraum der verfluchten Zeit. Gleich würde sie aufwachen, in ihrem Bett in Zaberg, und sich den kalten Schweiß aus der Stirn wischen. Wie ein gehetztes Tier jagte sie durch den Wald, ertrug den Spießrutenlauf aus peitschenden, reißenden, sich verhakenden Zweigen und harten Baumstämmen, gegen die sie immer wieder halbbesinnungslos prallte.
Irgendwann verließen sie ihre Kräfte, sie blieb stehend, atmete stoßweise durch, hielt sich die schmerzende Seite, sog die kalte, feuchte Nachtluft ein, hustete. Graue Stunden, der Begriff passte. Die Zeit der Dämmerung war nicht mehr fern, ein helles Grau lag über allem. Das Madamal war untergegangen oder wieder hinter einer Wolkenwand verschwunden. Irgendwo rief ein Käuzchen. Ein gutes Zeichen? Offenbar war sie bereits außerhalb des Wirkungskreises dämonischer Kräfte.
Dieser Teil des Waldes war lichter, von kleinen, sumpfigen, nebeldampfenden Waldwiesenflecken durchzogen. Ysilda stolperte vorwärts, mühsam ihre Beine aus dem Morast ziehend, sich die wirren Haare aus dem verdreckten Gesicht streichend. Sie kicherte überdreht. Würde sie jetzt auf Menschen treffen, wäre sie in deren Augen sicherlich nur eine brabbelnde Verrückte, die orientierungslos durch die Wildnis irrte. Wahrscheinlich war sie genau das.
Ja, sie hatte sich eindeutig verirrt, von einem Dorf, Leben, Zivilisation keine Spur. Nur dieses alles durchdringende Grau. Grau. Nebliges Grau, dass sich mit dem Dunst vermischte. Ysilda bemerkte, dass sie diese Zeit nicht kannte: Den Übergang von der Herrrschaft des Namenlosen in den Monat Praios. Bislang hatte sie ihn immer verschlafen, aus gutem Grund. Sie fühlte sich verloren, verlassen, unendlich einsam. Fast schien es, als würde sie sich selbst in dieser Waldeinsamkeit hier auflösen, verlieren, davontreiben. Der Gesang einer Nachtigall drang an ihr Ohr.
Immerhin, von Praiodîn war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Wenn er sie überhaupt vefolgt hatte. Mit einem Mal breitete sich bleierne Müdigkeit in ihr aus, und Erschöpfung. Schlafen, sie würde jetzt gerne schlafen, irgendwo in Ruhe und Sicherheit.
Es war, als hätte die gütige Tsa ihr Gebet erhört. Vor ihr, Rand einer weiteren Lichtung, ragte eine Leiter auf, die eine hohe Buche hinauf führte. Ein Jägerhochsitz? Nicht das schlechteste Versteck in ihrer Lage. Dort oben, überdacht und zugleich verborgen von den Zweigen, schien sich eine Art Plattform aus Holzstämmen zu befinden.
Sie kletterte hinauf, vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend. Erst jetzt merkte sie, dass sie die ganze Zeit barfuß gewesen war. Ihre zerschrammten, dreckigen Füßen bluteten. Die hölzernen, regenfeuchten Sprossen ächzten, die Leiter schien schon seit längerem nicht mehr benutzt worden zu sein und wirkte ziemlich morsch. Irgendein pilziges, graugrünliches Etwas wucherte auf dem muffig riechenden Holz. Durch eine Art Luke hindurch gelangte sie nach oben. Einen Moment lang fühlte sie sich leidlich sicher.
Sie blickte nach unten, sah auf die kleine Freifläche hinab. Erspähte einen großen Findlingstein, sah den Siebenstern, den zerborstenen Käfig, die grotesk verrenkten Toten. Den rauchenden, flackernden Rest eines heruntergebrannten Lagerfeuers. Die Karnstein-Lichtung, wenn auch von der anderen Seite her. Sie war im Kreis gelaufen.
Ysilda schrie auf, als sich von hinten eine große, schwere, klobige Hand auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich um, sah in das blasse Gesicht Praiodîns, der vor ihr stand wie ein Gespenst, das Sonnenszepter erhoben. Noch ehe das Echo ihres Schreis im Wald verhallt war, hatte sie zugestossen, rein instinktiv.
Entsetzt starrte Praiodîn erst auf Ysilda, dann auf den Dolch in seiner Brust, dessen Knauf eine Eidechse zierte. Blut sprudelte über das heilige Tier der Göttin des Lebens. Ebenso wie über die Hand der Tsageweihten, als sie die Klinge tiefer in ihren Feind stieß. Der Onyxring leuchtete kraftvoll durch das Rot des Lebenssafts hindurch, pulsierte jetzt in einem satten, alles durchdringenden, echsenhaften Grün. „Verfluchte Tsahexe!“ Voller Schmerzen und Qual sah der Praiosdiener seine Gegenüber an. Dann wurde sein Blick plötzlich klar. „Was hast du getan?“ Kaum hatte er die Worte gekeucht, wurden Praiodîns Augen glasig, mit einem letzten, schrillen Schrei und kraftlos rudernden Armen fiel er hinab ins Bodenlose. „Verrecke, du Scheusal!“ zischte ihm Ysilda hinterher. Aus dem Waldesdunkel herauf drang ein dumpfer Aufschlag an ihr Ohr.
Ein großer, schwarzer Vogel glitt an ihr vorbei, mit heiserem Schrei. Eine Krähe? Nein, dafür waren die Flügel zu groß. Ein Rabe…Golgari selbst?
Dann sah sie die schwirrenden Schatten über der Lichtung, ein ganzer Schwarm von Schatten, die auf Besen durch den Madaschein glitten. „Dort, Schwestern, dort ist sie“, hörte sie einen aufgeregten Ruf.
Die Hexen und ihre Vision hatten sie gefunden.
Epilog
Der Tote glitt, mit den steinbeschwerten Füßen voran, in den sumpfigen Teich. Das faulige Brackwasser stank bestialisch. Eine feiste Schlange ringelte sich im Unterholz davon. Irgendwo quakte ein Frosch.
Elomina, die junge, drahtige Hexe mit den kurzen Haaren, stieß den steifen Leichnam sacht mit ihrem Besen an. Gluckernd verschwand er in der braunen Brühe, zwischen Schilf und Binsen. Nach wenigen Herzschlägen war der Körper versunken, nur einige träge Blubberblasen verkündeten von dem, was gerade eben geschehen war. Nicht einmal die Libellen schienen sich sonderlich an dem Vorfall zu stören. Es war ein schöner Sommertag, die Sonne stand hoch, hell und heiß am Himmel.
“Möchte jemand ein Gebet sprechen? Nein?” Ludwina, die bucklige, alte Oberhexe kicherte unter ihren schlohweißen Haaren und klopfte sich die Hände sauber. Trotz ihrer ungezählten Jahre hatte sie erstaunlich kraftvoll beim Verschwindenlassen der Leichen mit angepackt. Ihr Rabe saß mit blauglänzendem Gefieder auf ihrem Rücken und blickte ein wenig enttäuscht. Aus unergründlich schwarzglänzenden Augen musterte er die Szenerie im Urwald.
“Immerhin ist heute der höchste Feiertag des Götterfürsten” fügte sie verschmitzt hinzu. Die Töchter Satuarias lachten gehässig. Die Festkönigin griff nach ihrem großen, spitzen, speckigen und leicht zerschlissenen Hexenhut, der, mit einem Schnallenband geschmückt, über einem Zweig hing.
“Heiß heute”, krächzte sie mißmutig zwischen einigen Zahnstumpen hindurch, fächerte sich Luft zu und stülpte sich den Hut über. “Schscht. Answin” Mit verrunzelten Klauenfingern strich sie dem Raben über den Kopf. “Du bekommst heute noch Leckerchen. Die da nicht...Bevor es unserer Ysilda noch endgültig auf den Magen schlägt.”
Die Tsageweihte schluckte tatsächlich.
“Ein solches Ende hat Praiodîn nicht verdient”, sagte sie schließlich leise in die brütende Hitze hinein.
“Du musst es wissen”, feixte Sumudai, eine hübsche Junghexe mit wallendem Feuerhaar und hautengem Mieder. “Schließlich hast du ihn ja abgestochen.” Der Gedanke schien ihr zu gefallen.
“Wir sagen auch gerne bei den Goldröcken zu Deinem Gunsten aus”, feixte Oona und drückte dem sommersprossigen Rotschopf neben ihr einen Kuss auf die Wange. “Sogar noch auf der Streckbank.”
“Er ist trotz allem ein Geweihter der Unsterblichen Zwölfe.” Ysilda von Schlotz räusperte sich und blickte zum abgebrochenen Jägerzaun, auf dem der Lichtgeber lag, blass und reglos. “Mein Amtsbruder.”
Laut und trötend schnäuzte sich Ludwina die warzenverzierte Nase, mit einem Taschentuch, dass so aussah, als wäre es seit Menschengedenken nicht mehr gesäubert worden. “Jaja...sicherlich, sicherlich...Was glaubst du, was der Pfaffe noch vor ein paar Sonnenläufen mit solchen Leuten gemacht hätte? Wie er selbst nun ist, meine ich. Ein Besessener, dem mal eben ein neues Bein nachwächst wie einem Spinnchen. Dem man einen Dolch zwischen die Rippen jagen kann und der danach trotzdem noch schnauft...”
Ysilda trat an den jungen Priester heran und kniete nieder. Dîns Körper war mit getrocknetem Blut und Schlimmeren bespritzt, aber unter dem großen Loch in seiner schmutzigen Tunika war tatsächlich nicht die kleinste Schramme zu ertasten. Trotz der Praioshitze wurde ihr mit einem mal kühl zumute.
Der Onyx-Ring an seiner Hand leuchtete wieder in einem matten Grün, als würde er sich im hellen Sonnenlicht spiegeln. Wie eine Grabbeigabe lag das Sonnenszepter neben dem Donator Lumini.
“Was ist das, Ludwina? Was für ein Geist hat jetzt noch von ihm Besitz ergriffen? Der Dämon ist doch fort, oder?”
Ludwina, die kleine, krumme Hexe, watschelte näher und verstaute ihr Schnäuztuch. “Etwas, was nie hätte geweckt werden dürfen, Ysilda. Um genau zu sein: Ich weiß es selbst nicht. Es gibt Augenblicke, da fürchte ich die Grauen Stunden mehr als die Niederhöllen und die Macht des Namenlosen. Oder die ab heute wieder erbarmungslos auf uns herabblickende Fratze Seiner Durchlaucht dem Götterfürsten da oben. Geschöpfe des Zwiespalts, von denen man nimmer weiß, ob sie gut sind oder böse. Geschöpfe aus einer Zwischenwelt, die besser in den derischen Schatten verborgen bleiben sollten.”
Ysilda war wohl anzumerken, dass ihr diese Antwort nicht genügte. “Warum hat Merwan dieses Etwas dann geweckt? Wollte er es wirklich mit Praiodîns Blut ins sich... aufsaugen?”
“Wäre ich ein kluger, allweiser Magier, hätte ich sicher eine Antwort darauf, mein Kind. Womöglich ist Merwan der Schreckliche nach all den Jahrhunderten, die er nun schon Sumus Leib geschändet hat, einfach nur wahnsinnig geworden. Wie so viele Diener des Dreizehnten. Du hast den Untoten vernichtet, dafür sind wir dir zu Dank verpflichtet. Sogar zu großem Dank.”
Mit dünnen, grauen Füßen hoppste der Rabe auf ihren Arm und legte den Kopf an ihre Seite. Ludwina streichelte ihren Vertrauten, als wäre er ein verschmustes Kätzchen. Mehr als einen Augenblick lang schienen beide stumme Zwiesprache zu halten.
“Answin sagt mir, dass Es jetzt schwach ist, unter der von neuem beginnenden Herrschaft Alverans.” Ludwina schien vollkommen in sich gekehrt zu sein, ihre trüben Augen waren entrückt. “Es wird Zeit für das Sternenkind, in seine steinerne Heimstatt zurückzukehren. Und zu ruhen. Zu ruhen. Lange zu ruhen. Viele, viele Jahre lang.”
“Und was wird mit Praiodîn?”
“Praiodîn...” Ludwina lächelte in sich hinein. “Ich vermute, dass er sich hernach an wenig erinnern wird. Erinnern will. An das, was in den letzten sieben Tagen geschehen ist. Das Wenige mag ihm wie ein wirrer Rauschtraum erscheinen. Besessenheit ist etwas sehr Unangenehmes, ja. Doppelte und dreifache Besessenheit umso mehr.” Der Blick der Satuariastochter klärte sich. Unvermittelt sah sie Ysilda an. “Was auch immer zwischen euch beiden war. Es wird aus seinem Gedächtnis gelöscht sein. Verstehst Du? Sumudai wird ihn mit ihrem fliegenden Zaun nach Markt Friedwang bringen. Ein Töpflein Hexensalbe habe ich noch übrig. Mag dein Praiosdiener dort dem alten Nippert erklären, wo er gewesen ist. Und warum er plötzlich wieder auf beiden Beinen über Sumus Leib hinweg trampelt, predigt und pfafft...Sicherlich ein Praioswunder, ja, ein wahres Mirakel des Himmelskönigs wird es sein...” Ludwina gluckste. “Ein Geschenk, das geradwegs vom Himmel gefallen ist. Im gewissen Sinn ist es das ja auch.”
Der Rabe flatterte auf. Ludwina klatschte in die Hände. “Sputet Euch, meine Töchterchen. Wir haben schon sehr viel Zeit vergeudet, und sollten besser im Eulenkuhl feiern und tanzen. Auch wenn der Karnmann künftig nicht mehr unser Gast sein wird. Freunden wie ihm gedenkt man am besten mit einem rauschenden Fest. Eilt euch. Den Grolm schmeißen wir nachher in den Sumpf.” Dies galt einer Hexe, die gerade den toten Feilscher am Gürtel herbeischleifte.
Im nächsten Moment hielt sie wieder den Besen in Händen. Sumudai murmelte etwas – der Jägerzaun begann zu schweben und flog zwischen den Töchtern Satuarias voran. Ysilda staunte. In der Nacht hatte sie die fliegenden Besen, Zäune und Fässer nur schemenhaft wahrgenommen, wie einen Augentrug. Nun, im hellen Tageslicht, wirkte die Hexerei wie eine kecke Herausforderung des Allerhöchsten und seiner Gesetze. Schlaff pendelten die Arme seines Diener vom Rautenwerk der Bahre herab. Der Praiot murmelte etwas, wie im Halbschlaf. Es klang wie “Nicht....vergessen...”
Die merkwürdige Prozession kehrte über den verschlungenen Trampelpfad zurück zur Lichtung mit dem Karnstein. Dort war jetzt leidlich aufgeräumt, lediglich einige Waffen und der Silberdraht des Heptagramms lagen noch herum. Die Asche war beinahe vollkommen verweht. Gestern nacht schien sich nur ein dunkler Alptraum ereignet zu haben. Ysilda zuckte kurz zusammen, als sie auf ein halbzerbröseltes, angebranntes Schmetterlingsflügelchen trat. Ein Hexenkater schob knurrend einen Buckel, mit gesträubtem Fell, als er den großen, länglichen, schwarzgrauen Fleck witterte, der einmal Merwan gewesen war.
Das schneeweiße Hirschfell mit dem zwölfendigen Geweih, der Zauberbogen, Merwans verwittert wirkender Zauberstab und das in lauterem Gold glänzende Horn standen ebenfalls noch da, an einem umgestürzten Stamm.
“Einstweilen werde ich das alles an mich nehmen” sagte Ludwina feierlich und blickte versonnen gen Schneiß. “Eines Tages mag sich uns ein neuer Karnmann offenbaren, irgendwo da draußen. Merwans Drachenstab werden wir Praiodîn mitgeben, denke ich, soetwas ist in einer Goldenen Halle besser aufgehoben als in meinem bescheidenen Hüttlein. Dann kann er wenigstens ein bisschen was vorweisen und kehrt nicht mit völlig leeren Händen zurück.” Die Hexenmeisterin pflückte einige Rahjanisbeeren, stopfte sie sich in den Mund. “Mmmmh...” sabberte sie genießerisch. “Überhaupt nicht sauer. Auch welche?”
Ysilda wehrte ab. “Von Beeren habe ich ersteinmal genug.”
“Nun, Kinderchen, eilt euch doch. Ich freue mich schon auf ein kühles Bier, am Eulenteich. Und den Tanz um den licherloh brennenden Praiosmann. Nein, Elomina, auch wenn du noch so enttäuscht dreinschaust: Es wird nicht dieser Goldrock sein, der lichterloh brennt. Was auch immer er unsereins angetan haben mag, in seinen jungen Jahren. Er hat seine gebührende Strafe erhalten, bei der Schlummernden Sokramor. ”
Die Frauen hievten den scheinbar Besinnungslosen auf den Stein, dessen eingeritzten Runen nun, im Praiosschein, gut zu sehen waren.
Dort lag er nun, wie ein aufgebahrter Held aus längst vergangenen Tagen. Täuschte Ysilda sich oder begannen sich seine Gesichtszüge zu entspannen, wie bei einem sanft zur Ruhe gebetteten Kind?
“Und nun?”
“Es braucht wohl Blut, damit Es wieder aus seinem Gefäß herausfließen kann. Ah, hab jetzt gar kein Messer dabei.” Mit schwieliger, schmutziger Hand forderte sie die Eidechsenklinge. Noch ehe Ysilda zweimal geblinzelt hatte, hatte die Hexe dem Geweihten schon den Unterarm aufgeschnitten, wie bei einem Aderlass. Das Blut rann heraus, in bizarren Mustern über den dunkelbemoosten Stein hinweg, in die Ritzen, Spalten und Runen hinein. Es schien leicht bläulich zu leuchten, ansonsten konnte die Tsadienerin nichts Ungewöhnliches wahrnehmen.
Der Lebenssaft begann nach einigen Minuten bereits zu trocknen. Praiodîn lag nun völlig ruhig da. Hatte er die Ganze Zeit irgendwie hart, steif und schwer gewirkt, schien eine quaderschwere Last von ihm abzufallen. Irgendwie schien er befreit und erlöst, aber nicht in den Tod, sondern geradewegs in das Leben hinein. Irrte Ysilda sich, oder umspielte nicht ein Lächeln seine Lippen, wie bei einem schlafenden Kind?
Die Schlotzerin kämpfte mit der Rührung. Im nächsten Moment streichelte sie dem Besinnungslosen über die Stirn. Erinnerte sich an die Nacht im Käfig, als sie erst nebeneinander, dann übereinander...
Einige der Hexen erinnerten sich ebenfalls, wie ihr lüsternes Grinsen verriet. Eine vollführte eine unzweideutige Geste: Die Levthanshörner.
Der Brünstige, Widdergehörnte Gott. Hatte sie Praiodîn geliebt? Oder war alles nur Hexenwerk gewesen?
Ein merkwürdiger, tiefer Frieden schien mit einem Mal über der Waldlichtung zu liegen. Es war, als würde Sumu ausatmen, neue Kraft schöpfen, die Farben herrlicher leuchten, die Vögel atemlos jubilieren, die Bienen gleich Sackpfeifen und Drehleiern summen, die Pilze mit Urgewalt aus dem Boden schießen. Die Rahjanisbeeren dort vor Lebenskraft strotzen, das Moos und die Blumen herrlicher duften wie das köstlichste Liebfelder Parfüm. Kein Fingerbreit hatte sich an der Szenerie geändert, und doch war mit einem Mal alles anders. Versöhnt. Das Wort kam ihr in den Sinn. Die Natur war hier wieder mit sich im Reinen. War sie es auch?
Vorsichtig streifte sie ihm den grün leuchtenden Ring ab. Er war immerhin Eigentum des Zaberger Tempels. Vor allem war er ein Hinweis auf das dortige Haus der Jungen Göttin. Praiodîn brauchte ihn nicht mehr.
“Das ist alles? Ist er nun frei?”
“Was hast Du erwartet? Blitz und Donner?” Ludwina spetzte sich geräuschvoll in die Hand und rieb die Spucke auf den Schnitt, der sich fast im gleichen Moment schloss. Die Oberhexe musterte kurz das (völlig verbogene) Sonnenszepter, spuckte auch darauf, wischte das Gold sauber und spiegelte sich für einen Moment zufrieden darin. Dann schob sie es dem Lichtgeber in den Gürtel.
“So, nun ist es aber genug mit unverdienten Wohltaten, bevor ich von der Gemeinschaft des Lichts noch heilig gesprochen werde. Herunter mit dem Goldrock, das hier ist immer noch der Karnstein.”
Die Hexen warfen den Schlummernden auf den Zaun und banden ihn dort fest. Im nächsten Moment flog Sumudai auch schon los, mit wehenden Haaren, Merwans Zauberstab in Händen und breitbeinig, in durchaus frivoler Geste auf den Praiosmann hockend. Einen Momentlang spürte Ysilda so etwas wie Eifersucht in sich aufsteigen. “Vernasch ihn ja nicht”, kicherte Oona. Ein hämischer Jubelschrei, dann war die junge Frau auch schon über den Bäumen verschwunden.
Verwirrt blieb Ludwina zurück. Sah auf die Klinge, die ihr Ludwina entgegenhielt und an der noch immer etwas von Praiodîns Blut klebte.
“Jaja, die Grauen Stunden”, sagte die Festkönigin feierlich. “Wahrlich, es gibt viele Schattierungen von grau. Was ich nie verstanden habe ist, dass Kinder, die in der Unheiligen Zeit geboren werden, als verflucht gelten, Menschen, die in dieser Zeit gezeugt werden, aber nicht. Ein Beweis für die ganz besondere Macht des Widdergehörnten, findest du nicht?”
Ysilda legte das Messer auf den Stein, schweigend und aufgewühlt. Ihre Gedanken gingen zurück an die Nacht im Käfig. Bilder, die sie eigentlich aus ihrem Gedächtnis hatte verbannen wollen, kehrten zurück.
Dann spürte sie den Zeigefinger der Hexe in ihrem Unterleib, nicht drohend oder bohrend, sondern eher...segnend.
“Du hast Merwan vernichtet, dafür schulden wir Dir Dank. Sagte ich glaube schon. Ach ja. Wie willst du das Kind eigentlich nennen, das bald in deinem Leib heranwachsen wird? Answin sagt, Praiodîns Kind könnte ein Mädchen werden. Das Kind einer wilden, leidenschaftlichen Hexennacht. Immerhin...Nun, komm, es gibt viel zu feiern...”
Niemand achtete in diesem Moment auf das kleine, verbogene, rußschwarze Amulett , dass neben dem Karnstein am Boden lag, inmitten von halbgeronnenem Blut und Asche. Der herrliche Greif inmitten der Sonnenscheibe war längst zu einem häßlichen, zerkratzten Irrhalken verunstaltet worden. Dort, wo das Messer das verfluchte Metall getroffen hatte, unter dem Adlerkopf, war es eingedellt, fast durchbohrt. Das Blut der Opfer, dass es während des Rituals in sich aufgesogen hatte, tropfte, quoll noch immer reichlich aus der “Wunde” hervor, wie aus einem übervollen Schwamm. Versickerte, klebrig und glänzend, zwischen abgerissenen Efeuranken. Fette Schmeißfliegen summten umher.
Das geschändete Amulett verrottete, verfiel beim “Ausbluten” zu einem unansehnlichen schwarzen Klumpen. Irgendwann wurde es eins mit den letzten Überresten des finsteren Rachewerks. Mit Blut und Asche.
Was für schöne Schuhe.
Was für wunderschöne Schnabelschuhe.
Solalin musterte verzückt seine Füße, seine Beinkleider und sein prachtvolles, rot-blaues Wams. Wie prachtvoll er angezogen war! Es war ja auch sein Tag. Sein Tsafest! Soviel hatte verstanden. Dann blickte er wieder hinaus in den sattgrünen Schratenwald, am weit geöffneten Fenster aus Butzenglas vorbei. Vielleicht gab es dort ja noch mehr aufregende Dinge zu erspähen.
Ein Knarzen der Diele lenkte ihn ab. Der Baronssohn lächelte glücklich, als er seine Mutter eintreten sah, ein kleines Päckchen in Händen. Er wollte schon wieder freudig sabbern, schluckte den Speichel aber eilig hinunter.
“Alles Gute zum Tsafest, mein Prachtkerl”. Serwa drückte ihrem Erstgeborenen einen zarten Kuss auf die Stirn. Dann drehte sie sich zu Baron Alrik, der ebenfalls eingetreten war, mit Federbarett auf seinem schwarzgelockten Kopf. Seine Hochgeborenen brummte etwas, was ebenfalls wie eine Gratulation klang. Etwas kühl umarmte er seinen Sohn, räuperte sich. “Und ein schönes neues Jahr” fügte der Friedwanger verlegen hinzu.
“Liebling, es war eine wunderbare Idee, den Geburtstag unseres kleinen Prinzen hier im Schneißer Turm zu feiern. Der Ort, wo er geboren worden ist. Ach, der Jahreswechsel war wieder so fürchterlich langweilig, drüben auf Burg Friedstein.”
Die blonde, blasse Aristokratin blickte in den schweigenden Wald hinaus. Einen Moment lang runzelte sie die hohe Stirn. Dann musterte sie wieder ihren Sohn. “Zwölf Götterläufe bist du nun alt. Hast schon einen richtigen kleinen Flaum.” Neckisch stupste sie Solalin erst die Oberlippe, dann die Nase.
“Unsinn. Nun übertreib mal nicht.” Alrik räusperte sich, stopfte sich seine Pfeife und zog ratschend ein aufflammendes Schwefelholz über die Mauer. “Das sind wieder mal die Reste vom Frühstück, mehr nicht.”
“Mama, Papa...habhabhab...”
“Ja?”
“Hab gesehen...hab gesehen...da ist eine Frau...über den Wald geflogen...mit einem Zaun...und, und...da lag ein Mann....durch die Luft geflogen, wie ein Vogel....”
Alrik verdrehte “wissend” das Auge, das nicht von einer samtenen Klappe verdeckt war, und zündete den Tabak an. Dann ging er paffend ans Fenster und sah hinaus. Nichts, außer der in der Praioshitze brütende Schratenwald...natürlich. Er sah zu seiner Gemahlin, die mißbilligend die Rauchwolken in der Kammer vertrieb, mit wedelnder Hand. Serwa hatte die Hoffnung offenbar noch nicht aufgegeben, dass Solalin einmal Baronieerbe werden würde. Beim Heimlichen. Selbst wenn es da nicht noch das Balg seines geliebten Zwillingsbruders geben würde. Das Bishdarielon zusammen mit seiner Frau, einer Tochter aus dem machtvollen Hause der Mersingen, in die Welt gesetzt hatte...Oder wenn er nicht seinen eigenen Favoriten hätte, Alboran, mochte der leider auch unehelich sein. Selbst dann würde Solalin niemals im erbarmungslosen Spiel der Throne mithalten können. Wer sollte ihn schon ernst nehmen, geschweige denn respektieren? Bei seinem Geisteszustand.
“Ist schon gut, mein Schatz” sagte Serwa verlegen. “War sicher nur ein großer Vogel, der dich erschreckt hat...”
“Großer Vogel...” stieß Alrik zwischen einer Rauchwolke hervor, und schnippte das halbverbrannte Schwefelholz nach unten. Der Baron schüttelte unwirsch den Kopf.
Serwa schien seine Gedanken erraten zu haben. “Solalins Zustand hat sich in letzter Zeit erstaunlich gebessert, findest Du nicht? Der Segen dieses Praisosgeweihten scheint ihm gutgetan zu haben. Wie hieß er noch gleich? Praiosin, Praiodan? Ich würde zugerne wissen, was aus ihm geworden ist...”
“Ach, hast du jetzt wieder deinen Praiotischen?” Alrik blickte zu Solalin, der sich auf sein Geschenk gestürzt hatte und mit angestrengtem Blick so tat, als hörte er seine Eltern nicht.
“Das war kein Segen, sondern eine Seelenprüfung. Falls du den Unterschied nicht bemerkt hast. Nein. Dieser Goldrock hat eher so gewirkt, als wolle er deinen Sohn mit glühenden Zangen zwicken und hinterher noch auf die Streckbank legen. Um herauszufinden, was da auf dem Friedstein passiert ist. Bin froh, dass er weg ist. Hesindian auch...”
“Unser Sohn” sagte Serwa stolz und strich ihrem Erstgeborenen über das Haar. “Ich habe heute noch keinen einzigen Schmetterling gesehen. Er ist nicht behext oder sowas. Lass die Leute reden...”
“Gerne. Solange sie am Ende nicht wieder zu Schlamm zerfallen...”
“Das waren Schwarzländer. Dreckige. Die haben sowas verdient. Es wären nicht die ersten Frevler und Dämonenbündler, denen Seltsames widerfährt. Die Zwölfe stehen uns bei. Vermutlich war es einfach eine Strafe der Götter. Dafür, dass sie ihre Seele verkauft haben. Wunder gibt es immer wieder. Es ist, als ob seitdem eine schwere Last von Soli abgefallen ist. Das musst du doch merken?”
“Ja, die paar Schank Blut vielleicht, die du ihm seit neuestem abzapfst. Ich weiß nicht, ob diese ständigen Aderlässe wirklich gut für ihn sind.” Alrik lehnte sich an die Wand.
“Yaruth, mein alter Lehrmeister, hat gesagt...”
“Gewiss. Blutegel holen alle bösen Säfte aus dem Körper. Seit neuestem wirken sie auch noch wie Hesindes Trichter, oder was? Dieser Praiodan war auch hellauf begeistert, als ihn eines deiner neuen, nimmersatten Lieblingshaustierchen gebissen hat. Bei seiner kleinen Gebetsrunde mit Soli. Du solltest diese schleimigen Mistviecher nehmen und sie in den Sumpf zurückkippen, aus dem sie herausgekrochen sind. Oder sie verbrennen, wie der Geweihte es getan hat. Elendes Gewürm. Im Dschungel hatte ich wahrlich mehr als genug davon an den Backen kleben”. Der Friedwanger lachte freudlos auf. “Sogar im Gesicht...”
“Hesindes Trichter zerlegt alchimistische Substanzen in ihre Bestandteile, mein Schatz. Du meinst wohl den Strohsack des Heiligen Nandus. Nein. Es geht Solalin wirklich besser, seitdem ich mit der Application angefangen habe. Die Krämpfe, das Gespeichel, die ganz schlimme Verwirrtheit...alles weg. ”
“Heute ist 1. Praios, mein Liebling. Von uns allen ist eine große Last abgefallen.”
“Das meine ich nicht. Und Yaruth Corbel war immerhin Leibarzt des Königs von Albernia und Gildenoberster der Heiler.”
“Zu irgendwas muss der Sumpf rund um Havena ja gut sein. Ich finde Egel...einfach nur eklig, wie der Name schon sagt. Da bin ich mit diesem Praiosdiener ausnahmsweise einer Meinung.”
“Die Schröpfköpfe fandest du am Anfang ja auch erst abscheulich. Und jetzt...Deine Gicht...Wie weggeblasen.”
“Naja, fortgeblasen ist wohl der falsche Ausdruck. Und geschröpft werde ich als Freiherr des Raulschen Reiches nun wahrlich genug. Nicht nur von dir...”
“Etwas weniger Wein und Bier, etwas weniger Wildbret täte dir auch mal ganz gut.” Serwa klopfte ihrem Gemahl erst gegen das Bäuchlein, dann gegen den weichen Hals unter dem Spitzbart. “Da. Du hast da schon ein graues Haar. Ordentlich den Bart stutzen könntest du dir auch wieder einmal.”
“Müssen wir uns schon wieder streiten?” fauchte Alrik und wich der Berührung aus.
“Du fängst doch ständig an...”
Solalin lächelte, schüttelte den Kopf und hörte seinen zankenden Eltern nur noch mit halbem Ohr zu.
Er hatte sein Geschenk zum Tsafest nun ausgepackt. Schwer und glatt lag es in seinen Händen. Eine hölzerne, handgeschnitzte Figur.
Der Junge tastete ergriffen darüber, über die Stiefel, den Bogen und den Köcher, vor allem den Mantel: ein Hirschfell, mit richtigem Geweih obendrauf. Er zählte nach: Es waren wirklich zwölf Enden. Unglaublich. Der Karnmann. Der Hirschköpfige Jäger selbst war zu ihm gekommen. Seine Lieblingsfigur aus den Märchen, die ihm seine Amme Salvida jeden Abend erzählte. Es fehlte nicht viel, und er hätte vor Begeisterung wieder gespeichelt. Aber das sah sein Papa nicht gerne. Glücklich begann er zu wippen, vor und zurück, den Karnmann fest an seinen Körper gepresst, als sollte der ein Teil von ihm werden. Ein freudiges Lallen entrang sich dabei seiner Kehle.
“Nichts hat sich gebessert”, knurrte Alrik gerade.
“Der Junge macht große Fortschritte”, sagte die Baronin trotzig. “Sogar sehr große Fortschritte.” Die Baernfarn ging neben dem Jungen in die Knie. “Und, gefällt dir dein Geschenk? Lorenz hat es für dich geschnitzt.”
Solalin strahlte bis zu den Ohren. “Dan...Danke, Mama. Wenn ich groß bin...bin...werde ich ...ich der Karnmann.”
Alrik schüttelte den Kopf und starrte über die qualmende Pfeife hinweg hinaus ins Grüne.
“Da hörst du es”, sagte der Freiherr, mehr zu sich selbst als zu seiner Gemahlin. “Fortschritte, tsss.”
Irgendwo im Wald krächzte ein Rabe.