9. Kapitel
9. Kapitel
Eine unerwartete Hochzeit
In lockerem Trab folgten die Reiter dem Karrenweg am östlichen Darpatufer stromabwärts. Dort vermutete Hesindian die Flusshexe. Nicht zuletzt zeigten auch Glücksrad, Würfel und Karten in die angenommene Richtung. Jodokus führte die Reiterschar an und kontrollierte immer wieder die Richtung. Er schien das Gefühl zu haben, etwas gut machen zu müssen. Das Pferd, das er Haldana geliehen hatte, führte er an das seine gebunden mit.
Tuvok und Rovik ritten am Ende der Gruppe. In der Mitte, nebeneinander, trabten die Pferde der beiden Friedwanger nebeneinander. Fast den ganzen Tag waren die fünf geritten, nur mit einer kurzen Pause für eine Mittagsrast. Aber auch diese war nicht länger als nötig, um den Pferden ein wenig Erholung zu gönnen. Aber die Sorge um Haldana ließ vor allem Tuvok und Jodokus zur Eile mahnen.
„Wenn ich nur wieder mal richtig ausgeruht wäre… wenn ich Zeit gehabt hätte, mich zu erholen. Wir treten zwei hoch potenten Zauberkundigen gegenüber, und ich fühle mich, was das betrifft, noch erschöpft.“ sinnierte Hesindian vor sich hin.
„Na Phex wird uns schon wohlgesonnen sein“ antwortete Alrik. „Immerhin suchen wir eine schwimmende Spielhalle.“
„Du hast gut reden… Aber ich wünschte, ein kundiger Collegae würde mich begleiten. Wie Veneficus damals.“
„Der alte Gallyser, von dem man sagt, er wäre in den unheiligen Tagen geboren worden? Was ist los, Hesindian, wo bleibt dein Selbstvertrauen?“
„Sei unbesorgt, Alrik. Davon ist genug vorhanden. Aber als Magier bin ich zuallererst auch Wissenschaftler, also einer kritischen Analyse nicht abgeneigt. Und die sagt, dass man einen Schwarzmagier und eine Hexe nicht unterschätzen soll.“
„Ist ja gut, alter Freund… vergiss nicht, dass ich unter Phexens Schutz stehe. Und auch wenn Rovik und Tuvok keine Magier sind, mache nicht den Fehler, einen Bogenschützen und einen Axtkämpfer zu unterschätzen. Aber, wenn du schon von Veneficus redest...“ Alrik wollte bewusst den Magier davon ablenken, dass die Kampfesaussichten gegen Gerrich und Sisa ohne eine gute List nicht unbedingt vielversprechend waren. „Was ist eigentlich aus dem alten Graumagus geworden? Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, und seitdem Alrike Baronin in Gallys ist, fungiert er ja nicht mehr als Statthalter, oder?“
„Nein. Er hat sich zurückgezogen. Naja, Hofmagier und Historiker ist er noch, aber alles andere hat er abgegeben. Von heute auf morgen, nahezu. Lebt jetzt in Edorlys mit Rauline. Valyria hat getobt.“
„Du machst Witze. Veneficus reißt nicht mehr alles in Gallys an sich, was zu tun ist? Du wirst mir gleich noch erzählen, dass Rondra den Schwertgurt abgeschnallt hat.“
„Nein, ernsthaft. Veneficus hat einfach gekündigt. Hat gesagt, er habe jetzt eine Frau und Kinder, und das wäre wichtiger.“
„Das kann ich nicht glauben. Die allzeit pflichtbewusste graue Eminenz vom Artemaberg hat hingeschmissen? Gut, das erklärt, dass ich nicht mehr viel von ihm gehört habe. Und Veneficus hat geheiratet? Wen denn? Seine Freundin von den Artemareitern? Das hätte Valyria doch niemals zugelassen.“
„Das ist es ja, Alrik. Sie hat es nicht zugelassen. Hat gesagt, er könne als Angehöriger des Hauses Baernfarn, dem sie vorstehe, keine Gemeine heiraten. Er habe eine Verpflichtung gegenüber der Familie. Er solle sich mindestens eine Edle suchen und irgendein Gut für die Familie an Land ziehen, anstatt eine Besitzlose vor den Traviaaltar zu holen. Oder eine reiche Bürgerliche, die Geld mitbringt. Eine Geliebte könne er sich nebenher gerne halten, aber die Pflicht gehe vor.
Da hat Veneficus geantwortet, dass Valyria ja selbst wieder heiraten könne, wenn das wichtig wäre, und dass er noch am nächsten Tag mit Rauline in den Firuntempel gehen würde. Außerdem sei Valyria lange genug Witwe. Hat sich umgedreht, die Baroninmutter stehen gelassen und ist gegangen. Valyria habe ihm noch hinterher gerufen, dass sie die Hochzeit im Firuntempel verhindern werde. Dass sie der Geweihtenschaft untersagen werde, eine Heirat dort zuzulassen. Aber Veneficus hat nur gelacht und am nächsten Tag hat er seine Rauline geheiratet.“
„Aha. Kaum zu glauben. Nun, immerhin hat er dann ja das uneheliche Zusammensein vor den Göttern legitimiert. Dann hat immerhin die Traviakirche nichts mehr zu meckern. Die Firunkirche hat sich also nichts verbieten lassen.“
„Das weiß ich nicht, Veneficus und Rauline waren gar nicht im Firuntempel. Sie haben sich nach altem Ritus beim Druiden trauen lassen.“
Alrik war einen Augenblick sprachlos.
„Das hätte ich bei Venficus nicht erwartet. Erkennt die Traviakirche denn eine Hochzeit nach altem Ritus an?“ brachte er hervor. Hesindian zuckte mit den Schultern.
„Nun, Alrik, du kanntest ihn nicht so gut wie ich. Damals, in den Kämpfen in der Wildermark, haben wir ja manches Gefecht gemeinsam ausgestanden. Ich war mit Veneficus ja im besetzten Gallys und habe es miterlebt, wie er vom Hesindeglauben zu den alten Kulten konvertiert ist. Ich denke, Veneficus hat schon lange darunter gelitten, dass er immer in der Pflicht gefangen war und nie ein eigenes Leben hatte. Immer allein, immer nur an die Baronie und die Familie denken und nie an sich selbst… irgendwann musste das einfach zu viel sein. Und dann Rauline… die Söldnerin, die wir damals aus Maraskan mitgebracht hatten… ich meine, Veneficus war damals schon um die Vierzig. Rauline war… seine erste Freundin.
Ich glaube, unter dem langen allein sein hat er zuvor schon arg gelitten. Und er wird Rauline nicht aufgeben. Wenn Valyria ihn vor die Wahl stellt… nun, er hat sich entschieden. Für Rauline und für die Alten Kulte. Und gegen Valyria.“
Alrik nickte. „Aha. Dann hat er vermutlich auch sein Kind zu beim Druiden in die Lehre geschickt. So hatte es ja der Druide damals erbeten, wie du einmal erzählt hattest.“
Hesindian nickte.
„Stimmt. Ich war übrigens dabei, damals bei der Geburt. Auch zwei Jahre später beim zweiten Kind. Veneficus hat mich gebeten zu prüfen, ob seine Kinder die Kraft in sich tragen. Tun sie. Alle beide. Der kleine Answin Raffel Raulius von Baernfarn ebenso wie Mundula, die Erstgeborene.“
„Mit Verlaub, Baron Alrik, das ist Wahnsinn.“ sagte Rovik, der zu den beiden Friedwangen aufgeschlossen hatte. „Wir sind zu fünft. Ich will Haldana auch befreien, aber so sehe ich wenig Sinn darin, ein aussichtsloses Enterkommando zu führen. Auf ein Schiff. Ich kann noch nicht einmal schwimmen.“
„Wir werden Haldana nicht im Stich lassen, Rovik“ entgegnete Tuvok bestimmt.
„Natürlich nicht, Tuvok. Das sage ich auch nicht. Aber wir müssen uns deswegen ja nicht dumm anstellen. Wer eine von uns durch die Luft entführen kann, der kann uns auch aus der Luft ungesehen beobachten. Und wir reiten, offen sichtbar, einfach den Treidelpfad entlang. Das ist doch unsinnig.“
„Da hat er auch wieder recht“ stimmte Jodokus zu.
„Dass dir das egal ist, war mir klar“ ätzte Tuvok. „Du hattest deinen Spaß gehabt und würdest dich ja nur freuen, wenn niemand deswegen klagen kann.“
Ein strenger Blick Alriks brachte den Nivesen zum Verstummen. „Ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt hier gewesen bin. Praioswärts von Rommilys kenne ich mich nicht so gut aus. Wo könnte die die Flusshexe eigentlich vor Anker liegen?“ Der Baron erhoffte sich keine wirklich informative Antwort. Wichtiger war es ihm, einen erneut aufflammenden Streit des Nivesen mit Jodokus zu verhindern.
„Ich kenne den Weg, bin ja schließlich in den Beilunker Bergen aufgewachsen und oft genug hier entlang gezogen mit meinem Lehrmeister. Mit dem Schiff nach Perricum und dann Darpataufwärts zu den großen Märkten des Reiches. Da kann man gutes Gold bekommen für unsere Handwerkskunst. Vor uns liegt ein Moorgebiet. Hässliche, morastige Gegend. Etwa fünf Meilen lang erstreckt sich das hier am Darpatufer. Wenn dieser Gerrich von unserer Verfolgung weiß und uns in eine Falle stellt, dann ist es dort jedenfalls günstig. Mit den Pferden können wir den Knüppeldamm nicht verlassen, während das Moor für Heckenschützen eine gute Deckung bietet.“
Jodokus zog die Zügel und brachte seinen Braunen zum Stehen.
„Halten wir erst mal an.“ brummte er. „Uneinig und ohne Plan einfach aufs Geratewohl los zu reiten bringt uns ja auch nicht weiter. So sehr ich auch alles mir Mögliche dazu beitragen werde, Haldana zu befreien. Und diesem Bierpanscher Mores zu lehren.“
Die Gefährten brachten ebenfalls ihre Pferde zum Stehen. Tuvok stieg ab. „Folgt mir, wir führen die Pferde dort in das Wäldchen. Da kann uns jedenfalls aus der Ferne niemand beobachten, weder mit dem Fernglas noch aus der Luft. Und wenn sich jemand anschleicht, dann kriege ich das schon mit.“
Alrik stimmte dem Vorschlag zu. Er war als Soldgeber der Anführer der Truppe, aber er musste einsehen, seine Gefährten hatten Recht.
„Also was nun?“ fragte er in die Runde, als sie einen geeigneten Lagerplatz gefunden hatten.
„Kann man eigentlich diesen felsigen Hügel erklimmen?“ begann Hesindian und wies auf eine Anhöhe mit steil abfallender, aus weißem Kalk bestehender Felswand. „Er liegt hier in der Flussbiegung. Von dort oben könnte man das Darpattal einige Meilen weit einsehen.“
„Kann man“ brummte der Zwerg. „`s gibt einen Pfad auf den Rabenberg. Allerdings zu Fuß, nicht beritten. Mit dem Gaul kommst du da nicht rauf.“ Rovik beschirmte sich das Auge gegen die Sonne. „Dort, den Taleinschnitt hinein. Zwei Meilen später rechts hoch führt ein ausgetretener Steig. Du bist nicht der erste, der den Darpat von dort oben einsehen will. Empfehle ohnehin, das Moor zu umgehen.“
Alrik stopfte sich etwas Tabak in die Pfeife. Wenn schon gerastet wurde, dann wollte er ein paar Züge zur Entspannung nehmen. „Kommt man dort weiter? Kann man das Moor umgehen?“ Auch Hesindian blickte misstrauisch. „Wir können dort nicht durch die Berge reiten. Das Gelände geht mit Pferden überhaupt nicht.“ warf Jodokus ein. Die Aussicht, den schrofenartigen Abhang zu queren, lockte ihn wahrlich nicht. „Durch das Geröll können wir nicht, die Pferde finden keinen Halt auf den losen Steinen.“
„Reiten können wir nicht. Laufen schon. Wir müssen die Pferde führen.“ murmelte Rovik in seinen Bart. „Man kommt sechs Meilen später wieder an den Darpat, bei der Treidelstation an der Nattermündung. Nur am gegenüberliegenden Flussufer.“
„Soso, unser Zwerg ist unter die Flussschiffer gegangen.“ sagte Alrik, aber auch er verspürte keine große Neigung, sich in das Moor hinein zu wagen. Zumal bei Hochwasser, wenn die Mücken in myriadengroßen Schwärmen Reisende heimsuchten. „Aber gut, Überblick müssen wir uns ohnehin verschaffen, einer muss auf den Rabenberg. Nehmen wir halt den Gebirgspfad. „Ist immerhin gut, einen Ortskundigen bei uns zu haben. Tuvok, da du von uns allen die größte Ausdauer zu haben scheinst, ich schlage vor, du gehst voran und besteigst diesen Rabenberg. Verschaffe Dir einen Überblick. Vielleicht kannst du sogar die Flusshexe erspähen. Wir führen Dein Pferd mit, und treffen uns dann, wenn wir das Moor und den Rabenberg umgangen haben. Rovik, gibt es da einen geeigneten Lagerplatz? Bis wir dorthin gelangt sind, wird sich die Sonne ohnehin schon tief herab gesenkt haben“
„Lagerplatz, ja. Gibt es. An der Nattermündung sind mehrere Inseln im Darpat, der dort recht breit ist. Kaum Strömung. Eine halbe Meile, bevor der Steig wieder in den Treidelpfad mündet, befinden sich einige Findlinge. Dazwischen ist man vor Blicken ebenso wie vor Wind und Regen geschützt. Einige hängen über und darunter kann man auch gut lagern.“
„Dann treffen wir uns dort wieder“ bestimmte Alrik. Der Nivese nickte.
„Hier, Tuvok“ sagte Jodokus. „Mein Fernglas. Du wirst es gebrauchen können.“
Tuvok stapfte den schmalen Stieg hinauf, an einer schroffen Kalksteinwand entlang. Der Abhang unter seinen Füßen war von moosfarbenen Gras bedeckt.
Die Pfeile klackerten im Köcher, sein Atem ging schwer. Immer wieder wurde die "Bergwanderung" zur Klettertour, bei der er die Hände zu Hilfe nehmen musste.
Besonders schwierig war das Kraxeln nicht, aber schon anstrengend, ebenso wie die weniger steilen Passagen. Immer wieder hielt der Jäger an und schnaufte für einen Moment durch. Seine Gefährten hatte er zuletzt vor etwa einem Viertelmaß gesehen, auf einer Bergwiese. Seine Gefährten und den Schnösel…
Irgendwie war er sogar dankbar für die Mühsal, die ihn ein wenig von seinen Gefühlen ablenkte. Jodokus hatte ihn sein Fernrohr geliehen?! Tuvok wusste nicht recht, ob er die Leihgabe in den Abgrund schleudern oder als Zeichen der Versöhnung ansehen sollte. Besonders viel hielt er von diesen Dingern nicht. Er hatte gehört, dass sie manchmal in der Sonne blinkten und einen Späher verrieten. Die Vorstellung, das man damit über weite Entfernungen ein Reh oder ein Wildschwein sehen konnte, ganz so, als ob man nur ein paar Schritt entfernt stehen würde, war dem Nivesenblut unheimlich. Irgendein Hesindejünger hatte ihm einmal erklärt, dass es sich dabei nicht um Magie handele, sondern dass ein Glasauge darin wie ein echtes Auge funktioniere. Wie eine Art Berylle oder Augenglas. Nun, Tuvok war stolz auf seine Sehkraft. Irgendwie kam ihm Jodokus Wunderrohr schon wieder wie eine Beleidigung vor.
Egal, er tat sich das hier für Haldana an, für niemanden sonst. Auftraggeber hin oder her. Plötzlich rutschte er auf dem bröckeligen Gestein aus, das feucht war vom Regen der letzten Nacht. Tuvok hielt sich gerade noch an einem Strauch fest. Der Ausflug den Rabenberg hinauf war nicht nur mühselig, er war auch nicht ganz ungefährlich. Einige der Namensgeber kreisten über ihn, als warteten sie nur auf den Fehltritt eines leichtsinnigen Wanderers.
Irgendwann erreichte er den Gipfel - der hellgrau, nicht rabenschwarz und ziemlich flach war. Eine einsame Ziege nahm meckernd Reißaus. Tuvok gönnte sich einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche, genoss den warmen Wind und den Triumph über den Berg. Gen Rahja ragte hügeliges Waldland, dahinter erhoben sich die zerklüfteten Flanken der Trollzacken. Die Kerbe im Wald, das musste die Landstraße nach Neuborn sein. Vorsichtig trippelte er auf dem Felsen in Richtung Flussseite.
Der Ausblick war grandios und entlohnte ihn für seine Mühen. Unter seinen Füßen zeigte sich der Darpat in seiner ganzen Pracht. Von Rommilys her war sein Lauf noch eher gleichförmig. Stromabwärts erinnerte er mehr an eine sumpfige Seenlandschaft, mit zahlreichen Inseln und Sandbänken. Am Ufer grasten Kühe.
Das weiße Flirren da hinten, gen Firun, das mussten die Ochsenwasserfälle sein. Daneben ragten schon die höchsten Dächer von Rommilys auf, der Palast der Markgräfin vermutlich und der Friedenskaiser Yulag-Tempel. Das da drüben war die Natter, umsäumt von dichten Wald. Weit hinter der Nattermündung, tief im Westen, war eine große Burg oder Festung zu erahnen, wie hieß sie noch gleich? Ah, der Hohenstein. Hier und dort waren Dörfer und Gehöfte zu sehen.
Er arbeitete sich noch ein Stück weit über die Felsen Richtung Süden vor. Alles war uneben und schrundig, hie und da wuchs ein windschiefes Nadelbäumchen, oder ein Strauch. Irgendwo in der Nähe bimmelte eine Glocke, gefolgt von einem kräftigen "Määääh".
Ah, der Felsvorsprung dort vorne war als Aussichtsplattform noch besser geeignet. Nun sah er die Nattermündung in voller Pracht, daneben ein kleines Dorf, mit Stegen und Booten. Eine Barke kam den Darpat herunter, angetrieben von Rudern. War das die "Flusshexe"? Nein, die sollte ja ein Einmaster sein.
Ein großer Bergadler drehte seine Runden, oben im Reich der Wolken. Nun reizte es Tuvok doch, Jodokus Zauberglas auszuprobieren. Er nahm das zusammengeschobene Rohr aus der Schutzhülle, zog es auseinander und blickte blinzelnd hinein.
Einen Moment lang war er verwirrt, ob des dritten Auges.
Weiße Wölkchen wechselten sich ab mit Himmelblau. Kein Adler. Grell blendete ihn die Sonne. Er kniff die ohnehin schmalen Augen zusammen. Nein, dieses Ding war nicht firunsgefällig. Wahrscheinlich sogar unwaidmännisch. Oder stellte er sich einfach nur ungeschickt an? Er versuchte eine Landmarke zu finden, an der er sich orientieren konnte.
Er probierte es mit der Mündung der Natter. Ah, schon besser. Ein großer Baumstamm lag im Wasser, zwei Fischreiher stolzierten im seichten Uferwasser umher. Der König der Lüfte, wo war er? Dort oben. Tuvok blickte über das Rohr, versuchte den Abstand zu schätzen und das Fernglas entsprechend auszurichten. Statt dem Raubvogel sah er jetzt die Barke in voller Pracht. Sie steuerte geradewegs das kleine Dörfchen am anderen Flussufer an.
Er hielt das Fernrohr zu tief. Der Adler? Ah, da war er wieder. Ein herrliches dunkelbraunes Tier, mit hellen Flügelspitzen. Ein älteres Männchen. Sicher mehr als zwei Schritt Flügelspannweite. Tuvok erschauerte. Doch der stolze Aar duldete es nicht, beobachtet zu werden. Er flog tiefer, drehte ab und verschwand hinter einem Felsen.
Tuvok seufzte. Er wagte sich bis an den äußersten Rand der Klippe, setzte das Fernrohr aber lieber ab. Besser, er hielt sich mit einer Hand an einem der großen Felsbrocken fest, die hier locker herumlagen. Da unten war der Treidelpfad, der eng am Steilhang entlang führte. Einige bange Herzschläge lang befiel dem wackeren Jäger Schwindel und ein Hauch von Höhenangst. Kleine Steinchen klackerten und rieselten unter seinen Stiefeln nach unten. Tatsächlich waren fast genau unter seinen Füßen mehrere große Felsplatten herabgestürzt und hatten einen größeren Steinschlag ausgelöst. Der Treidelweg war völlig verschüttet. Gut, dass seine Gefährten den Umweg genommen hatten, spätestens hier wäre ihr Ritt zu Ende gewesen.
Der Hangrutsch sah ein wenig merkwürdig aus. Dort, wo er begonnen hatte, war vor kurzem noch ein Stein am Felsrand gelegen. Die Stelle dort war trocken, die Umgebung nass. Das Moos auf den Nachbarsteinen war teilweise weggekratzt. Irgendetwas hatte die grabsteingroße Platte den Abhang hinunter befördert. Irgendjemand? Sumus Kraft allein hatte ihn jedenfalls nicht bewegt.
Stromaufwärts näherte sich nun ein weiterer Kahn, diesmal mit stolzgeschwelltem Segel, mit blauem Banner. Das kleine Schiff schien gerade die Flussseite zu wechseln, von West nach Ost. Einen Augenblick lang glaubte er, es wäre sein Adler, der dem Einmaster voran flog, aber was da durch die Lüfte schwebte, war merkwürdiger.
Nun war Tuvok doch froh, das Fernrohr dabei zu haben. Der Jäger kam sich vor wie ein Besucher dieser merkwürdigen horasischen Erfindung, von der ihm Haldana einmal erzählt hatte. "Vinsalter Oper" nannte sich das Theater, wo ebenso gesungen wie geschauspielert wurden - und hochrangige Gäste sogar über kleine Ferngläser verfügten, mit dem sie das Geschehen hautnah verfolgen konnten.
Der Firunsgeselle versuchte den falschen Adler vors Glasauge zu bekommen. Im nächsten Moment sah er die bleiche Frau, die auf einem Besen reitend das Schiff durch die Strömung zog: Eine dunkelhaarige Frau mit Hörnerhaube, wehenden Haaren und schwarzen Gewändern. Sie war schön, aber auch schrecklich anzuschauen - wie eine Todesfee. Erschrocken prallte Tuvok zurück und ging hinter einer Krüppelkiefer in Deckung. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Weißer Jäger, steh mir bei!
Es dauerte eine Weile, bis Tuvok sich klar gemacht hatte, dass nur er die Hexe derart nah sehen konnte, und nicht etwa umgekehrt sie ihn. Zumindest hoffte er das. Die Zauberin zog das Schiff an einer Leine durch den Fluss, eindeutig. In diesem Moment ließ sie das Seil los und schwirrte auf das Trollzacker Ufer zu. Was für ein widernatürlicher Anblick.
Tuvok verbarg sich im Schatten einer Krüppelkiefer. Das musste Sisa Brundel sein, ihre Gegenspielerin. Sie steuerte geradewegs den Bergwald an, drehte einige Kreise und war irgendwann verschwunden.
Mit zitternden Händen nahm der Jäger wieder das Schiff unter Beobachtung. Zwei Männer standen an Deck, ein älterer Herr und ein junger Geck, mit merkwürdig schiefem Hals, beide in vornehmer Gewandung. Adelige? Gut möglich. Der Jüngere, ein schwarzgelockter, irgendwie elfisch aussehender Bursche trug ein Rapier.
Eine dritte Person wurde gerade gepackt, offenbar von den Flussschiffern und unter Deck gezerrt. Eine junge Frau? Tuvok sah die Szene nur verwackelt, aber die Frisur war irgendwie merkwürdig gewesen. Auf der einen Seite war das blonde Haar lang und lockig, auf der anderen Seite kurz geschoren. Haldana?! Tuvoks Schrecken wich freudiger Überraschung. Sie lebte also noch, dem Heiligen Alwin sei Dank.
Auf dem Schiff tat sich allerdings nicht mehr allzu viel. Die Matrosen griffen zu Stakstangen, um ihren Kahn auf dem Weg zum Ostufer zu helfen, durch seichteres Wasser hindurch. Einer drückte einen herantreibenden Baumstamm beiseite.
Die beiden Adeligen nahmen auf Stühlen am Bug Platz und ließen sich auftischen, unter einem Sonnensegel. Das musste die Flusshexe sei.
Tuvoks "Auge" irrte umher. Das Fernglas streifte einen Fischer, der in Ufernähe aus seinem Boot gefallen war, sich an der Bordwand festklammerte und langsam abgetrieben wurde. Offenbar hatte dem Augenzeugen der Anblick der "Zughexe" kaum weniger erschrocken als Tuvok, verständlicherweise. Der Jäger hätte ihm gerne geholfen, war aber eindeutig zu weit weg. Wo wollte die Flusshexe hin? Da vorne, an der Nattermündung, ragte ein Fachwerkhaus auf, und mehrere Nebengebäude. Die Treidelstation. Es würde sicher noch eine Weile dauern, bis zum Festmachen, schätzungsweise ein halbes Wassermaß. Trotz günstigem Wind kam das Schiff kaum voran. Am Ufer erstreckte sich der sumpfige Auenwald, vor dem Rovik gewarnt hatte.
Tuvok huschte auf die andere Seite des Gipfels und nahm die Stelle noch einmal genauer ins Visier, wo Sisa Brundel verschwunden war. Das war nahe der Landstraße. Womöglich hatten seine Gefährten die Spukgestalt ebenfalls gesehen. Wenn sie den Rabenberg umgehen wollten, mussten sie ungefähr dort vorbeikommen. Was war das? Über den Bäumen stieg eine zarte Rauchfahne auf.
Ein Lager im Wald?
***
"Gleich der Gänseschar - ziehen wir zu Dir
Groß ist die Gemeinschaft - Güte bist Du.
Wir sind friedfertig - bescheiden und fromm.
Große Barmherzigkeit - Treue bist Du.
Fürsorge nehmen - Mitleid geben wir.
Warm ist dein Herdfeuer - Heimat bist du.
Schau auf die Unsren - sie bleiben daheim.
Schenk ihnen Zuversicht - Freundschaft bist du."
Bevor Gerrich Haldana wieder nach unten in die Kabine brachte, blickte Haldana auf die singenden Traviapilger, die im Gänsemarsch nahten, von einem großen Lagerfeuer her, dass sie vor dem Treidelhof entfacht hatten. Ein jeder hielt eine kleine Kerze in Händen, die er (oder sie) sorgfältig mit der Hand abschirmte. Auch die "Flusshexe" war festlich beleuchtet, und hatte fast jede Laterne gesetzt, die sich an Bord befand. So kam es der jungen Adeligen wenigstens vor. Sie musste zugeben, dass an Deck eine feierliche Atmosphäre herrschte. Im kleinen Hafenort an der Natternmündung blinkten ebenfalls Lampen. Der Lichterschein spiegelte sich geheimnisvoll im Darpatwasser. Haldana seufzte. Die Stimmung hätte sogar gepasst, nur ihr Bräutigam behagte ihr nicht im Mindesten.
Die Pilger - vier Männer und drei Frauen verschiedenen Alters - kamen an Bord. Der Tracht nach waren es einfache Bauern, die ihre Festtagsgewandung angelegt hatten. Die tiefe Frömmigkeit dieser Menschen rührte Haldana. Ebenso wie es sie erboste, dass ihre Gutgläubigkeit an diesem Abend schamlos hinters Licht geführt werden sollte.
Ihr Anführer war ein Mann mittleren Alters, mit Topffrisur und einem Viertage-Bart, der eine gelborange Kutte und darüber einen einfachen, erdfarbenen Mantel trug. Seine Kappe mit Gänsefeder wirkte bäuerlich, fast schon ein klein wenig lächerlich. In der Rechten hielt er einen einfachen Wanderstab.
Haldana bemerkte, dass der etwas streng riechende Bursche kein echter Geweihter war: Seinen Mantel zierte eine einfache Spange in Gänseform, aus Bronze. Bei einem echten Priester hätte die Spange aus Silber sein müssen. "Travienlieb" nannte man die vielen darpatischen Laienbrüder und - Schwestern, die nur die minderen Weihen empfangen hatten. Die Braut fragte sich, ob dieser Umstand nun gut oder schlecht für sie war. Einen Geweihten hätte Gerrich sicherlich nicht so leicht getäuscht. Andererseits, nach ihrem Rechtsverständnis musste ein Kleriker schon die höheren Weihen empfangen haben, um einen Traviabund stiften zu dürfen.
Der Mann sah gütig und freundlich aus - aber nicht unbedingt wie jemand, der mit Adelsränken und Magierintrigen vertraut war. Sein Lächeln war derart echt, herzensgut und wahrhaftig, dass es Haldana schon wieder beunruhigte.
Der Travienlieb verneigte sich in Richtung der Adeligen und des Kapitäns. "Mein Name ist Travienlieb Dormarian vom Glaukenfall", sagte er und senkte bescheiden den Blick. "Möge Mutter Travia Euch auf all Euren Wegen behüten. Seit dem letzten Götterlauf darf ich der Familie der Gläubigen dienen, als Akoluth. Es freut mich, dass Ihr Euch einig geworden seid, was den Ehevertrag betrifft." Dormarian wirkte ein wenig verlegen, und lüpfte seinen Hut. Nun merkte er, dass er beide Hände voll hatte. Er stellte seinen Stab an die Bordwand, wo mehrere Stakstangen lagen.
Gerrich bot Haldana den Arm an, als wäre er der glückliche Schwiegervater, und geleitete sie unter Deck. "Bitte keine weiteren Dummheiten mehr, meine Liebe, irgendwelche Fluchtversuche und dergleichen. Übrigens, Sisa hat diese Trollzacker längst entdeckt. Sie lagern im Wald, am Rand der Straße nach Neuborn. Der zerstörte Knüppeldamm, das ist Sisas Werk. Eure Gefährten werden den Barbaren geradewegs in die Arme laufen, sollten sie den Umweg zur Treidelstation nehmen. Ach ja, übrigens, die Wilden stehen in meinen Diensten. Sisa kann sehr überzeugend sein, als große Schamanin, die durch die Lüfte fliegt. Die Bande war leicht zu kaufen. Es sind gewöhnliche Räuber, Totschläger und Mordbrenner, selbst für die Verhältnisse dieser blutrünstigen Trollmenschen. Nun liegt es an Euch. Eure Gefährten könnten erschlagen oder grausam zu Tode gemartert werden. Ich meine, wirklich grausam zu Tode gemartert. Vielleicht werden sie aber auch nur gefangen genommen. Und erhalten von mir ein Angebot, dass sie nicht ablehnen können. Irgendjemand muss schließlich ein paar Fässer in die Brauerei schaffen, während der Rest nach Perricum gebracht wird. Wo Tlalucs Brodem seinen Siegeszug um halb Aventurien antreten wird. Wie gefällt Euch mein Plan? Ein wenig improvisiert, aber ich finde, dafür ist er gar nicht so schlecht."
Die Bardin wollte sich wehklagend losreißen, aber Gerrichs Griff wurde fester. Er zückte ein Stilett und packte sie grob am Haarschopf.
"Nicht so zappelig, liebste Schwiegerenkelin. Ich denke, eine Haarsträhne wird genügen, damit Jodokus weiß, was ich mit dir mache, wenn er mir nicht endlich gehorcht. Du wiederum wirst nachher bei der Hochzeitszeremonie mitspielen, ohne viel Gestammel und Herumgezicke – oder du bekommst von mir die abgehackten Köpfe deiner Freunde als Aussteuer! Zwing mich nicht dazu, dir Gehorsam beizubringen. Morgen werden wir dann gemeinsam in Kurgansberg feiern. Es liegt an dir, in welcher Stimmung das sein wird."
Gerrich schob Haldana in die kleine Kammer, schloss die Tür und legte den Riegel vor. Haldana seufzte. Sofern man den Laut, der ihrer Kehle entrang, als Seufzen erkennen konnte. Bei Firun, dem Herrn der Sichelberge, sie musste ihre Stimme wieder bekommen. Hatte Gerrich geblufft, dass der Fluch, der sie erstummen ließ, eigens aufgehoben werden musste? Oder wurde der Fluch nur heimlich immer wieder erneuert? Würde die Sprachlosigkeit, sofern eine Flucht gelänge, von selbst nachlassen? Haldana wusste es nicht. Aber eines wusste sie. Eine Eheschließung zu widerrufen wäre später ein Leichtes. Jedenfalls rein rechtlich betrachtet. Nicht allein, dass jeder Vertrag, der unter Zwang zustande kam, nichtig war. So gut kannte sich Haldana in der Rechtskunde aus, auch wenn sie die Juristerei nicht studiert hatte. Schwierig mochte hierbei natürlich die Beweisführung sein. Auch Gerrichs Einschätzung, dass ein Kapitän eines Flussschiffes eine rechtsgültige Trauung durchführen konnte, war mehr als anzuzweifeln. Dieses Kapitänsprivileg galt auf See, wenn kein Geweihter der Traviakirche oder ein anderer Geweihter zugegen war. Aber auf dem Darpat, eine halbe Tagesreise von Rommilys entfernt sich auf die Nichterreichbarkeit eines Priesters zu berufen… mit gewagt konnte man das schon gar nicht mehr bezeichnen. Rein rechtlich betrachtet jedenfalls wäre die Ehe nicht mehr wert als der Fetzen Pergament, auf dem dieser Gerrich den Ehevertrag aufsetzen wollte. Und nicht zuletzt, wie bei manchen Adelshäusern üblich, galt es hierbei auch noch familienrechtliche Vorschriften zu beachten. Dinge, von denen Gerrich offenbar nichts wusste. Und das war auch besser so. Sie würde Gerrich jedenfalls nicht sagen, warum jeder Ehevertrag, so wie der unheimliche Magus ihn aufsetzte, mit einer echten Binsböckel nichtig war. Nein, vor der Rechtsgültigkeit einer Ehe brauchte Sie nichts zu fürchten. Mehr Sorgen sollte sie sich darum machen, ob sie Gelegenheit bekäme, die Eheschließung anzufechten. Das größere Problem war, frei zu kommen. Auch eine Anfechtung der Ehe gelänge ja nur, wenn sie frei das Wort führen könnte. Und so wie Haldana das einschätzte war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass sie nach der Ehe keine Gefangene mehr wäre.
Nun, jetzt, am helllichten Tag zu fliehen, da Gerrich vorgewarnt war und die Flusshexe sicher bewacht wurde, wäre aussichtslos. Die Fluchtpläne musste sie wohl oder übel aufschieben. Wichtiger war es, ihre Stimme wieder zu erlangen. Und ihren Rapier. Und in den Ehevertrag würde sie, trotz ihrer Gefangenschaft, die für sie bestmöglichen Bedingungen hinein verhandeln. So würde sie darauf bestehen, dass sie das Baronsamt von Schlotz (ebenso wie von Friedwang, dessen Erbe Golo ja beanspruchte) ausüben sollte. Eines war ihr klar: Sie konnte nur vor Setzung ihrer Unterschrift Bedingungen stellen. Und damit auch Zeit zu gewinnen, um eine Flucht vorzubereiten oder auch auf Befreiung durch ihre Gefährten zu hoffen. Nein, letzteres wagte sie nicht zu hoffen, Woher sollten sie denn wissen, wohin Haldana verschleppt wurde.
***
Die Tür öffnete sich wieder, und eine dicke, blonde, kurzgeschorene Matrosin brachte ein Kleiderbündel herein. Achtlos warf sie dieses auf die Pritsche. „Ausziehen!“ kommandierte sie und stemmte die Arme in die Hüften, um die ein Gürtel geschlungen war, in dem sich ein halbes Dutzend Messer befanden.
Mit einem herablassenden Blick würdigte Haldana die Matrosin und machte eine wegwerfende Geste. Es war schlimm genug, Gerrichs Gefangene zu sein. Aber gegenüber den Matrosen hatte sie nicht vor, zur unterwürfigen Befehlsempfängerin zu enden. Als Verlobte des Enkel des Schiffseigners, die sie ja wohl war, musste sie sich das vom Personal der Schwiegerleute nicht gefallen lassen.
„Aufs Maul, oder?“ entgegnete die üppige Matrone. „Na wirds bald, runter mit den schmutzigen Fetzen. Golo will eine hübsche Braut und keine Gassenhure.“ Sie sah Haldana abschätzend an. Fast doppelt so schwer wie die Adelsdame, der sie gegenüberstand, schätzte sie sich dieser als überlegen ein. Mit einem Mal verspürte sie Lust, eine Prügelei zu beginnen. Haldana deutete den Gesichtsausdruck der Dicken richtig. Daraus mochte sich wohl ein Vorteil schlagen lassen. Ihrerseits hielt sich Haldana für schneller und gewandter, als die doppelt so alte und schwere Flussschifferin. Und wenn diese wütend war, war sie sicher unvorsichtig. Jedenfalls machte Haldana keine Anstalten, dem Befehl der Dicken nachzukommen. Mit einem herablassenden Winken komplimentierte sie die Matrosin nach draußen. Natürlich blieb diese. „Nu mach schon. Oder könnt ihr Adelsdamen Euch noch nicht einmal alleine Ausziehen? Na da wird dir Golo schon noch helfen und dein fettes Hinterteil freilegen.“
`Möchte mal wissen, wer hier einen fetten Hintern hat` schien Haldanas Blick zu sagen. Was gäbe sie darum, die Matrosin mit wohlgesetzten Worten weiter provozieren zu können. Leider war ihr das nicht möglich. Da blieb wohl nur, der Dicken ins Gesicht zu spucken.
Die erwünschte Reaktion blieb nicht aus. Mit einem wütenden Schrei stürzte sich die Dicke nach vorne. Die Schlotzerin sprang zur Seite, auf das Bett, und ließ den Angriff ins Leere laufen. Haldana sprang wieder runter vom Bett und trat ihrer Gegnerin in den Hintern. Das tat dieser zwar nicht weh, reizte sie aber umso mehr. Wütend drehte sie sich um und teilte einen mächtigen rechten Schwinger aus.
Haldana, die genau darauf gewartet hatte, tauchte unter dem Fausthieb weg und stieß die Matrosin, ihren Schwung ausnutzend, vorwärts. Nicht ohne dieser zugleich ein Bein zu stellen und zu Fall zu bringen. Verdutzt fand sich die Matrosin mit dem Gesicht nach unten auf den Dielenbrettern liegend wieder. Ein schmerzerfüllter Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie merkte, wie ihr der Arm verdreht und nach oben gebogen wurde. Verdammt, aus dieser Position hatte sie keine Kraft und konnte dem Druck dieses Adelspüppchens nichts entgegen setzen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Schulter. Erneut schrie sie auf. Haldana nutzte die Gunst des Augenblicks, um ein Messer aus dem Gürtel der Dicken zu ziehen, und unter das Bett zu schleudern.
Von draußen her hörte Haldana Schritte. Der Kampfeslärm hatte weitere Matrosen angelockt. Haldana stand rasch auf, als der vorderste die Kammer betrat. Rasch wechselte Haldana von der eben noch aggressiven Kämpferin zur beherrschten Adeligen. Sie setzte ein unschuldiges Lächeln auf und deutete den Matrosen, dass sie sich allein umziehen wolle.
Mühsam rappelte die Dicke sich auf, sich nur auf den linken Arm stützend. Der rechte Arm hing schlaff und mit ausgekugelter Schulter herab.
Etwas verwirrt blickte der vorderste Matrose auf sie Szenerie, wohl unschlüssig, ob er der verletzten Kameradin helfen sollte oder es besser nicht wagen durfte, die Adelige anzufassen. Immerhin war sie die Braut Golos, mithin niemand, an der er sich vergreifen sollte. Also halfen die Matrosen ihrer gestürzten Kameradin und verriegelten die Tür von außen.
Haldana schnürte das Kleiderbündel auf um nachzusehen, was man ihr da gebracht hatte. Schuhe. Schöne, schwarze, halbhohe Lederstiefeletten. Keine zu hohen Absätze. Schuhe, mit denen man laufen konnte. Auch wegrennen. Aber auf ihre Weise sehr hübsch. Also zog sie sich um. Als erstes zog sie die Schuhe an. Die Schuhe passten wirklich gut, ein freudiger Zufall. Langsam band sie die Schnürsenkel fest und zog sie stramm. Das Messer in der Lederscheide, das sie im Kampf der Dicken vom Gürtel genommen und mit rascher Bewegung unter das Bett geschleudert hatte, bevor die anderen Matrosen gekommen waren, band sie auf die Innenseite des rechten Stiefels in die Schnürung ein. Haldana lächelte. Nur wegen des Messers hatte sie sich auf die Schlägerei mit der schmutzigen Dicken eingelassen. Nun hatte sie einen Trumpf in der Hand. Keinen, den sie wieder leichtfertig ausspielen würde, sondern den sie für den geeigneten Moment verborgen halten würde.
Das Mieder war auch in etwa ihre Größe. Etwas zu tief ausgeschnitten für ihren Geschmack. In der Sichel würde man mit einem solchen Ausschnitt nicht vor den Traviaaltar treten. Nun, dort würde man auch eher in Sichler Tracht heiraten und nicht in städtischer Klöppelkunst. Sonst aber nicht schlecht. Allerdings schnürte Haldana das Mieder nicht so eng, wie es möglich gewesen wäre. Sie musste nicht so schlank aussehen, dass Golo ihre Taille mit den Händen umfassen konnte. Sie musste atmen können. Außerdem, wie sie gehört hatte, stand Golo ohnehin eigentlich auf Männer. Kein Wunder, dass er in Friedwang nicht zum Thronerben geworden war. Derart elfische Sitten hätte das Volk auf dem Thron einer Schwarzsichler Baronie kaum geduldet. Ihr immerhin war das nur Recht. Dann würde dieser hagere Schiefhals, vor dem sie sich ein gutes Stück ekelte, ihr wenigstens nicht zu oft zu nahe kommen wollen.
Dann das Kleid. Knöchellang, wie Haldana zufrieden feststellte. Nicht nur, dass das Mieder schon freizügig genug war und die Blicke der ungehobelten Matrosen auf sich zog, was sie ohnehin störte. So war jedenfalls auch sicher, dass das Messer in ihrer Stiefelette nicht auffiel, sondern schön unter dem Kleid verborgen war. Diese Überraschung wollte sie unbedingt für sich behalten. Nun… ein eleganter, leichter Stoff. Bei einer Flucht durch schweres Gelände würde sicher nicht viel vom Kleid übrig bleiben, das war klar. Aber immerhin war es leicht und Haldana blieb beweglich.
Fertig gekleidet klopfte Haldana an die Zellentür.
Ein Matrose öffnete der Bardin die Tür. Dem einfachen Mann blieb der Mund offen stehen, als er die eben noch schmutzig und zerrissen gekleidete Sichlerin in herrlichem blütenweißen Kleid vor sich stehen sah. Haldana lächelte den Mann freundlich an und hakte sich bei ihm unter. Wenn sie schon die Rolle der Braut spielen sollte, dann richtig. Nebenher konnte es nicht schaden, wenn der eine oder andere Matrose sie als Braut des Erben des Schiffseigners, ihres adeligen Standes oder aufgrund ihres Charmes einer Vorgesetzten gleich achtete. Ein wenig zu sehr den Arm des Matrosen als Stütze gebrauchend ließ sie sich an Deck geleiten. Dankbar lächelte Haldana den jungen Flussschiffer an.
„Ah, die Braut“ lächelte Gerrich, ebenso würdevoll und erhob sich von dem an Deck bereit gestellten Tisch, der mit Schnitzereien und Intarsien verziert war. Wohl der Schreibtisch aus der Kapitänskajüte, dachte Haldana. Zwei Ausfertigungen eines aufgesetzten Vertragsdokumentes lagen auf dem Tisch bereit, zwei Polsterstühle standen davor. Der alte Friedwange erhob sich und wies mit der Hand, Haldana möge sich auf den bereit gestellten Stuhl setzen. Stuhl. Nicht Holzschemel, wie zuvor.
Kurz sah Haldana sich um. Kapitan Flarion Silbertaler stand in seiner adretten Seemannsuniform an Deck, Mehrere Matrosen ebenso. Und eine Gruppe Traviapilger mit einem Geweihten. Also keine Kapitänsehe, die ohne weiteres anfechtbar gewesen wäre auf diesem Flusskahn. So leicht würde es also nicht sein, diesen Ehevertrag später anzufechten. Nicht unmöglich, aufgrund der Zwangslage und des Familienrechts, aber ein offensichtlicher Formfehler, der auch ohne großen Gerichtsprozess eindeutig gewesen wäre, läge dann nicht vor.
Schade.
Andererseits, dachte Haldana. Vor dem Traviageweihten und den Pilgern würde Gerrich die Form wahren müssen. Er konnte nicht einfach so über sie hinweg gehen oder ihre Wünsche missachten, solange die Geweihtenschaft an Bord war. Und, so hatte sie erfahren, kostete es Gerrich viel seiner magischen Kraft, sein durch Pakt verunstaltetes Aussehen menschlich aussehen zu lassen. Je länger das Ganze also dauerte, umso besser.
Wenn sie nur reden könnte. Haldana holte tief Luft. Einen leise brummenden Ton stieß die Bardin aus. Sie konnte reden. Haldana war überrascht. Aber nur kurz. Eine stumme Braut in Gegenwart von Traviapredigern, das hätte vermutlich Schwierigkeiten gegeben. Gerrich baute darauf, dass die Drohung, ihre Kampfgefährten zu erschlagen, sowie die waffenstarrenden Matrosen an Bord, die auf den Befehl des Friedwangen hörten, ihren Eindruck machten.
Haldana machte sich da keine Illusionen. Klar, sie könnte jetzt die Wanderpriester um Hilfe anflehen. Aber dann würde Gerrich den Priester und seine Gefolgsleute einfach erschlagen lassen und es später so aussehen lassen, als wären sie unter die Räuber gefallen. An Bord gab es keine Zeugen außer den Matrosen, und so schnell würde auch niemand einen Wanderprediger vermissen. Nein, sie musste es schlauer anstellen.
„Huh, Gerrich, mein lieber Schwiegergroßvater. Das tut gut, wieder richtig reden zu können. Bei der Herrin Travia, warum die Eile. Du hattest eine Hochzeit in Rommilys versprochen. Mit einem Ball und Musikanten und Tanz, und mit einem Hochzeitskuchen feinster Vinsalter Art. Und nun einfach auf dem Schiffsdeck? Was ist los, Gerrich?“ Bewusst ließ Haldana ihre Stimme schwärmerisch und verträumt klingen. Wie die eines kleinen Mädchens, das sich auf die Hochzeit mit einem Prinzen freute. Hätte Gerrich es nicht anders gewusst, er hätte glauben können, die Sichlerin freue sich auf die Hochzeit und wäre nur über die Umstände enttäuscht. Aber als Bardin verstand es Haldana natürlich, ihrer Stimme den gewünschten Tonfall zu verleihen. Bewusst redete sich auch Garethi und nicht im Dialekt. Es war wichtig, dass sowohl Kapitän wie Geweihter sie verstanden. Wenn Gerrich die Form wahren wollte, musste er auf sie eingehen, soweit sie keine völlig absurden Anliegen äußern würde. Haldana baute darauf, dass ein Traviageweihter keine Hochzeit durchführen würde, wenn es zu einem offenen Streit käme. Und sie wusste, dass Gerrich es nicht darauf ankommen lassen würde. Jedenfalls nicht, wenn es nicht notwendig war.
„Nun, liebes Kind… natürlich. Das Fest holen wir nach. In Rommilys. Leider, du weißt, dieser eifersüchtige Verfolger von Dir. Ich fürchte, er wird erst dann ablassen von seinem Streben, wenn die Hochzeit vollendet ist. Es tut mir selber leid, dass wir das nicht zusammen mit dem Fest machen können. Aber es ist zu Deinem Schutz, mein liebes Kind. Nun unterschreib den Ehevertrag, Haldana. Damit nichts Schlimmes mehr passiert. Denk an diesen Jodokus und seine Leute.“
Nun, so leicht war Gerrich nicht zu provozieren. Gut pariert, dachte Haldana. Unauffällige Erinnerung an das, was ihren Gefährten drohen könnte. Dennoch, Gerrich, dachte die Sichlerin. Du magst mir in der Magie und der Anzahl Deiner bewaffneten überlegen sein. In Wortgewandtheit aber bin ich Dir über.
Laut seufzte Haldana wie ein trauriges, unreifes Mädchen. Dann griff sie nach dem Ehevertrag, mit gespieltem Interesse. Rasch überflog sie die Zeilen. Ein Knebelvertrag, der alle Rechte Golo zugestand und die Pflichten nur ihr aufband. Das war ja auch nicht anders zu erwarten gewesen. Schon griff Haldana in Richtung der Feder, zog dann aber die Hand zurück. „Lieber Schwiegervater. Ich darf doch Schwiegervater sagen, Schwiegergroßvater hört sich so seltsam an.“ Eine Pause.
„Natürlich, mein Kind. Schwiegervater hört sich gut an. Nun unterschreib.“ Ein Anflug von Ungeduld offenbarte sich dem aufmerksamen Zuhörer.
„Natürlich. Aber...“ begann Haldana mit kindlich-naiver Stimme. „fehlt da nicht eine Abschrift? Eine für mich und meine Familie und eine für Golo. Aber die Durchschrift für den Tempel fehlt doch, oder?“
Da hatte Haldana unzweifelhaft Recht. Bei Eheverträgen wurde eine Abschrift dem Tempel übergeben. Das hatte Gerrich in seinem rasch improvisierten Plan nach Haldanas Gefangennahme übersehen. Es war auch nicht Gerrichs Angewohnheit, an die Belange der Traviakirche zu denken.
„Natürlich. Wie nachlässig von mir. Flarion, sei so gut, schreib das Ganze noch einmal ab. Pergament findest du in der Schublade. Und lass es, wie die anderen, gleich von Golo unterschreiben.“
Flarion war sicher des Lesens und Schreibens mächtig. Aber er war nicht der Gewandteste. So dauerte es gut einen Viertel Stundenschlag, bis das dritte Pergament bereit lag. Zeit, die Haldana nutzte, um emsig darauf los zu schwätzen und ein paar freundliche und traviagläubige Worte mit dem Geweihten zu wechseln. Auch das konnte Gerrich nicht unterbinden, wenn er in seiner Rolle als gütiger Schwiegervater bleiben wollte. Der finstere Friedwange blieb äußerlich ruhig und gelassen sitzen. Nur seine Augen bewegten sich unruhig und verrieten Haldana sein Unbehagen.
Wieder griff Haldana nach der Feder. Dann hielt sie jedoch inne. „Ach, Gerrich, lieber Schwiegervater“ begann sie und legte die Feder wieder weg. „Das solltest du noch wissen. Deine Matrosen scheinen Dich nicht ernst zu nehmen. Sie missachten Deine Befehle. Diese Dicke, die mir das Kleid bringen sollte… Was auch immer in sie gefahren sein mag, sie nutzte meine Stimmlosigkeit, mir übelste Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Sie nannte mich… ich mag das vulgäre Wort gar nicht wiederholen...“
„Jaja. Die Matrosen sind einfaches Volk. Aber ich habe ja erfahren, dass Du Mimm gezüchtigt hast. Hast ihr die Schulter ausgerenkt. Gestraft ist sie dann ja wohl. Sie wird es verdient haben“ wollte Gerrich die Angelegenheit abbügeln.
„Du sollst aber wissen, was sie, nun, sie hieß mich einer dieser käuflichen Damen gleich, die am Straßenrand stehen. Nun genieße ich deine Gastfreundschaft und diese Mimm, so heißt sie wohl, entehrt Dich, in dem sie deine Gäste beleidigt. Das kannst du nicht auf dir sitzen lassen. Du musst ihr kündigen.“
Gerrich ließ sich seine Verärgerung über die erneute Verzögerung nicht anmerken. Kurz dachte er nach. Mimm war nicht wichtig. Eine ersetzbare Matrosin. Flarion würde eine andere anwerben, und wenn Mimm jetzt von Bord ging, dann hätte er zudem fast einen halben Monat keine Matrosenheuer zu bezahlen. Es kostete ihn nichts, hier dem Begehren Haldanas nachzugeben. Natürlich hatte er den Eindruck, dass es Haldana wohl am meisten darum ging, Zeit zu schinden. Die Sichlerin gab sich wohl der frommen Hoffnung auf Rettung durch ihre Gefährten hin. Nun, dieser Einwand ließ sich jedenfalls am einfachsten abwenden, indem Mimm einfach tatsächlich entlassen wurde. Eine halbe Monatsheuer sparen konnte man ja auch nicht jeden Tag.
Gerrich gab Flarion einen Wink. „Sag Mimm, dass sie entlassen ist. Sie soll ihren Seesack packen und gehen.“ brummte Gerrich mit einem erkennbaren Anflug von Missmut. Flarion nickte und salutierte.
„Jetzt ist aber genug geredet. Wir wollen nachher noch feiern. Der Schiffskoch hat ein erlesenes Mahl vorbereitet. Lass uns den Schriftkram jetzt nicht unnötig ausdehnen.“ ließ sich Gerrich mit sanfter Bestimmtheit vernehmen. Haldana frohlockte innerlich. Jetzt lief sie nicht mehr Gefahr, dass Mimm den Verlust ihres Messers bemerkte. Außerdem würde keiner der Matrosen ihr noch aus einer Laune heraus blöd kommen, da jeder wusste, dass sein Broterwerb auf dem Spiel stehen könnte.
„Ja, natürlich“ sagte Haldana und griff wieder nach der Feder. Mit ausgiebig gezeigter Verspieltheit fuhr sie sich mit der Feder über die Wange, was herrlich kitzelte. „Wo sind eigentlich die Ringe?“ fragte sie, einer Eingebung folgend. Wieder eine kleine Verzögerung. „Golo hat mir einen 20karätigen Goldring versprochen. Mit einem Rubin, der Farbe der Herrin Travia.“ Ganz bewusst mimte Haldana in Gegenwart des Geweihten das traviafromme Mädchen.
Gerrich seufzte. „Ist beim Juwelier in Rommilys. Du bekommst ihn, wenn wir das Fest nachholen. Es ist schließlich nicht unsere Schuld, dass dieser di Barnfani hinter dir her ist. Hättest Du früher ein deutlicheres Nein gesagt, hätten wir jetzt nicht den Ärger.“
Gut, dachte Haldana. Gerrich wird langsam ungeduldig. „Ach so. Und ich dachte schon, das wäre ein leeres Versprechen von Deinem Enkel gewesen. Er hat einfach nicht die gleichen Manieren wie Du, Schwiegervater. Na dann. Dann bekomme ich ihn halt in Rommilys. Aber du hast sicher nichts dagegen, wenn ich das mit dem Ring noch in den Ehevertrag aufnehme.“ Haldana wartete keine Antwort ab, sondern schrieb mit der Feder als zusätzliche Bedingung in den Ehevertrag, dass der Bräutigam der Braut einen 20karätigen Goldring mit Rubin zu übereignen habe. In alle drei Eheverträge. Dabei ließ Haldana sich länger Zeit als nötig, als müsse sie über die Buchstaben und die Schreibweise nachdenken und wäre der Schriftkunst nicht vollends fließend kundig.
„Eine Kette habe ich auch nicht. Was ist denn das für eine Hochzeit.“ maulte Haldana mit kindlicher Stimme.
„Eine Kette hat Golo auch nicht versprochen“ beschied Gerrich, damit Haldana sich nicht noch länger mit Zusatzbedingungen auf dem Vertrag aufhalten konnte.
„Aber wenigstens einen Blumenkranz möchte ich haben. Es wachsen genug Blumen am Ufer. Du, Matrosin, wie heißt Du?“ sprach sie eine schlanke Schifferin mittleren Alters an. „Geh Blumen pflücken.“ beauftragte Haldana sie. Fragend sah diese Kapitän Flarion an.
„Na geh schon“ bestätigte dieser, ehe Gerrich eine Erwiderung einfiel
„Man heiratet schließlich nur einmal, lieber Schwiegervater. Ich möchte, dass das ein unvergesslicher Tag wird.“ Dem konnte Gerrich wenig entgegen setzen. Die Anwesenheit der Travia-Akoluthen verhinderte das. Und, anders als Gerrich, konnte dieser ein Lächeln nicht verbergen und schien gut gelaunt zu sein. So fühlte Haldana sich bestätigt, das Ganze noch ein Weilchen weiter zu betreiben.
„Du solltest Deine Stimme nicht überstrapazieren, nach der Erkältung. Nicht dass sie wieder versagt.“ warf Sisa Brundel mit gespielter Fürsorglichkeit eine Drohung ein.
Einen Moment war Haldana aus dem Konzept gekommen. Das war natürlich nicht gut. So wie sie angefangen hatte, würde der Geweihte von der Ernsthaftigkeit der Ehe ausgehen müssen. Zumindest für den Augenblick. Sie musste unbedingt verhindern, dass der Hexenfluch sie erneut traf. Ohne ihre Stimme war sie noch waffenloser als ohne ihr Rapier. Die Bardin schluckte und nickte.
„Hmm.“ antwortete sie kurz. Dann fasste sie sich wieder. „Aber wir wollen hoffen, dass meine Stimme hält. Sonst kann ich vor dem Altar ja nicht antworten“ gab Haldana zurück. Eine wenig wirksame Drohung, das wusste sie selbst. Ein Nicken und eine Unterschrift wären ihr schließlich auch ohne Stimme möglich gewesen.
„Aber eines fehlt noch. Auch das war besprochen gewesen. Der Ehename heißt Binsböckel. Nicht Friedwang. Es sticht der Name des stärkeren Hauses.“ Wieder nahm Haldana die Feder in die Hand und ergänzte die entsprechende Passage. Dann fuhr die Feder in ihrer Hand nach unten, auf das Unterschriftsfeld.
Gerrichs Gesicht zitterte. Es stimmte wohl was er zu Golo gesagt hatte. Es kostete ihn viel Kraft, seine Gestalt längere Zeit zu halten.
Die hagere Matrosin eilte zurück auf das Schiff mit einem von selbst gepflückten Blumen gewundenen Kranz. Dankbar lächelte Haldana die Matrosin an und legte die Feder wieder weg. Mit beiden Händen nahm sie den Blumenkranz entgegen und schmückte sich ihre Haare, die die rechte Kopfhälfte zierten. Wieder ließ sie ein paar Minuten verstreichen, in denen sie sich im Spiegel betrachtete. Dann griff sie wieder zur Feder.
„Diese Ortographie“ murmelte Haldana vor sich hin. „Schade, dass es hier keinen richtigen Schreiber gibt. Aber ich bessere das eben aus.“ Mit eiligen Schwüngen korrigierte sie einige Buchstaben, wieder auf allen drei Ausgaben. „Die Monatsnamen schreiben sich mit einer Majuskel beginnend. Nicht mit einem Minuskel.“ kommentierte Haldana erklärend, was sie beanstandete. „Und hier… es heißt Trauung, nicht Drauung.“ Zwischen den Ausbesserungen der einzelnen Buchstaben – Gerrich kontrollierte es nicht, zu sehr war er mit sich und seiner Gestalt beschäftigt – strich sie bei Ehefrau das -frau durch und schrieb -mann, und umgekehrt schrieb sie statt Ehemann Ehefrau. So hatte sie die Rechte und Pflichten der Eheleute glatt vertauscht. Flarion, dem Kapitän, der sich beim Schreiben zuvor arg gemüht hatte würde das nicht auffallen. Gerrich auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt, da er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Sisa Brundel… nun, vermutlich konnte die Hexe gar nicht lesen. Jedenfalls schaute sie auch nicht zu, was Haldana schrieb. Und dem Geweihten wäre das egal, da er den Inhalt des Ehevertrages nicht prüfen sondern nur zu den Akten legen würde. Zuletzt unterschrieb sie die drei Exemplare des inzwischen mit Bemerkungen und Korrekturen versehenen Vertrages, so dass unter den Ausbesserungen der Austausch der Bezeichnungen Ehefrau und Ehemann nicht ins Auge sprang. Auch hier war beim ersten Anblick nicht zu sehen, dass Haldana die im Geschriebenen ähnlich aussehenden Buchstaben -a und -o vertauschte, und den Namen Haldano von Schlatz als Unterschrift unter das Pergament setzte.
„Na dann, bringen wir es hinter uns“ seufzte Haldana, rollte die Pergamente zusammen, und träufelte Siegelwachs auf die drei Rollen – wäre Gerrich ob des langen Prozedere nicht erschöpft gewesen, er hätte es wohl selbst gemacht. Eine Abschrift gab Haldana dann dem Geweihten. Die zweite steckte sie sich in ihr Mieder. Die dritte Rolle – die für Golo – schob sie in die Schublade. Den Inhalt des – abgeänderten – Ehevertrags würde Golo also erst dann erfahren, wenn er sein Exemplar entsiegelt und geöffnet hatte. Vermutlich also nicht so bald.
Efferdwärts neigte sich die Praiosscheibe schon tief über den Horizont.
Dormarian steckte die Kappe an den Gürtel, hob beide Hände und blickte in die Runde. Offenbar sollte das würdevoller aussehen.
"Ich habe lange gebetet und die Gütige Mutter um eine Antwort gebeten, ob sie diesen Traviabund gutheißt." Ein verlegenes Räuspern.
Gerrich, der am Tisch stand, blickt ungeduldig. Es war ihm anzumerken, dass er am liebsten irgendeine gehässige Antwort gegeben hätte, aber er verkniff sie sich. Stattdessen nickte er knapp. Sein freundliches Lächeln war nun wirklich scheinheilig. Golo grinste ebenso schief wie gereizt. Auch bei ihm gab es keinen Zweifel, was er von diesem Bauerntölpel hielt, der von seiner bescheidenen Würde eher überfordert als angespornt wirkte.
"Eigentlich gebührt es einem Geweihten, diesen Heiligen Bund zu schließen" fuhr Dormarian fort, "nach eingehender Prüfung, ob die Braut und der Bräutigam wirklich willens sind, vor den Altar der Travia zu treten."
"Das sind wir, das sind wir durchaus" knurrte Golo, der nun doch die Beherrschung verlor. "Und das schon seit einigen Stunden." Der wütende, fast schon hasserfüllte Blick des Schiefhals galt Haldana.
Der herzensgute Dormarian runzelte nun doch die Stirn.
"Vergesst nicht, dass wir uns hier de jure in einer schweren sittlichen Notlage befinden" sagte Gerrich. "Immerhin werden wir von einer Bande götterloser Schurken verfolgt, die die Braut entführen möchte. Angeführt von einem Lüstling, der, da bin ich mir sicher, vor keiner Schandtat zurückschrecken würde, um die Ehe zu verhindern. Nicht einmal vor einer Entehrung der Braut. Ihr versteht, was ich meine?"
Dormarian nickte, etwas pikiert ob dieser Vorstellung.
"Es handelt sich also gewissermaßen um eine Nottrauung", fügte der Magier mit Advokatenmiene hinzu. "Unser Perricumer Kapitän kann die Zeremonie leiten, gemäß Efferdsrecht, das im Niemandsland zwischen dem Königreich Garetien und der Rommilyser Mark ohnehin zwingend anzuwenden ist. Eure Aufgabe wird es sein, ein paar nette...ich meine, einige traviagefällige Worte zu sprechen.“
Flarion Silbertaler nickte eifrig, den Dreispitz unterm Arm. Sein Gesichtsausdruck bewies, dass er selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was es mit diesem "Efferdsrecht" auf sich hatte. "So ist es", sagte er mit wichtiger Miene. "Da gibt es gar keinen Zweifel daran. Zumal die Flusshexe unter Perricumer Flagge fährt." Er deutete zum blauen Banner am Mast, auf dem der silberne Delphin und der goldene Säbel nur zu erahnen war. "Unser Stadtgott ist der Tobende und Sanfte."
"Travia allein ist die Schützerin der Schwüre" sagte Dormarian, der nun ein wenig bockig wirkte. "Umso wichtiger ist es, dass der Eheschwur reinen Herzens geleistet wird, aus freien Stücken, im Einklang mit den guten Sitten und Gebräuchen der Heiligen Mutter. Darum sind wir, als ihre Diener, verpflichtet, vor einem solchen Gelöbnis die traviagefällige Abstammung der Eheleute zu prüfen und festzuhalten. Hättet Ihr vielleicht auch für mich Papier, Tinte und einen Federkiel?" Der Travienlieb trat an den Tisch.
Golo wollte ausrasten, aber eine herrische Geste Gerrichs hieß ihn schweigen.
"Was heißt da traviagefällig?" sagte Golo, mühsam beherrscht. "Wir sind von Stand, wie ja wohl allgemein bekannt sein dürfte."
"Gerade deswegen bedarf es eines Eintrags in die Chroniken der traviagefälligen Abstammung."
Haldana feixte. Ihre Verzögerungstaktik funktionierte besser, als sie gedacht hatte.
Gerrich nickte.
Ein knapper Befehl des Kapitäns, und die Schreibutensilien wurden herbeigeschafft. Dormarian setzte sich und griff zur Feder.
"Es ist letztlich nur eine Formalität. Ich werde den Stammbaum nur bis zu den Urgroßeltern festhalten und dann dem Archiv des Tempels zu Rommily übergeben, zwecks Abgleich..."
"Zwecks Abgleich?" fragte Golo dumpf. "Ihr zweifelt doch nicht ernsthaft an unserer vornehmen Blutslinie?"
"Gewiss nicht, Euer, äh, Wohlgeboren. Nur könnte es sehr gut sein, dass die Archivare nicht sämtliche Namen verzeichnet haben. Das kommt leider häufiger vor, als man denkt...Und ja, es gibt natürlich Kriterien, durch die ein Traviabund im Nachhinein annulliert werden könnte…"
Haldana lächelte spitz. Die "Chroniken", daran hatte sie gar nicht gedacht. Ein Erzverräter namens Gernot von Friedwang als Erzeuger...so etwas stand im Friedenskaiser-Yulag-Tempel sicherlich nicht unter der Rubrik "traviagefällig". Ganz zu schweigen von einer bereits vorhandene Gemahlin, wie hieß sie noch gleich, Irmegunde, nein, Ismena, Ismena von Oppstein?"
Dieser Dormarian gefiel ihr. Bis gerade eben hätte sie es nicht einmal für möglich gehalten, dass der Akoluth überhaupt lesen und schreiben konnte.
"Die Tempelmatrikel, natürlich" Gerrich lächelte sanft. "Ihr habt völlig Recht. Allerdings - in diesem Fall sind sie leider verschwunden. Vermutlich verbrannt. Die Kriegswirren, Ihr versteht? Die Friedensstadt war eine Zeitlang schwer umkämpft."
Dormarian blickte hoch, eher verständnislos.
Haldanas Lächeln erstarb. Die Kriegswirren? Oder reichte der Einfluss des Hexers von Rommilys bis in die Archive der Traviakirche?
"Ich habe mir daher erlaubt, einen Stammbaum vorzubereiten." Gerrich zauberte eine Pergamentrolle hervor, vielleicht sogar im Wortsinn. "Ihr könnt ihn gerne dem Tempel übergeben."
Dormarian warf einen Blick auf die sorgfältig gemalte darpatische Eiche, an der bunte Wappenschilder und Namenstafeln prangten.
Nach kurzem Studium hob er erstaunt die Augenbrauen: "Ich dachte, Junker Golo wäre Euer Enkel?"
"Nein, ich bin nur ein entfernter Vetter seines Vaters. Aber irgendwie nennt mich jeder Golos Großvater. Sein wahrer Großvater, Golo Praiowulf Eckbert von Gießenborn der Ältere, ist leider in der Tausend Oger-Schlacht geblieben. Ich war dann wirklich lange Zeit so etwas wie ein Ersatzvater für dessen unglücklichen Sohn, Gernot…"
"Baron Gernot Blasius von Friedwang..." Dormarian war nicht anzumerken, ob er mit diesem Namen etwas anzufangen wusste. "Dessen Gemahlin hieß Cecilia Rahjastasia von Bregelsaum-Schnattermoor." Haldana schaffte es, einen Blick auf den Namen "Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck zu Gießenborn" zu erhaschen, geboren 1003 nach Bosparans Fall. Diesem Stammbaum zu Folge war er tatsächlich nicht verheiratet. Das war dreist. Aber nach all den Wirren der letzten Jahre mochte Gerrich mit einer solchen Fälschung sogar Erfolg haben. Wenn selbst der Name "Darpatien" schon begann, in Vergessenheit zu geraten...
Dieser Mann war ein Frevler, der nicht einmal die Macht der Kirche der Heiligen Mutter Travia fürchtete! Sünde, Sünde, Sünde, hämmerte es in Haldanas Kopf.
Am liebsten hätte sie lautstark protestiert, aber dort drüben stand noch immer Sisa Brundel, legte sich scheinbar zufällig den Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
"Nun zu Euch, Frau Haldana. Wie sieht es mit Euren werten Vorfahren aus?"
„Ja… Sicher. Meine Mutter trägt den gleichen Namen wie ich. Haldana von Binsböckel. Ihrerseits Schwester der Valyria von Binsböckel. Ihr seid mit dem Stammbaum des Hauses Binsböckel vertraut?“
„Nein, nicht in Gänze. Das Haus Binsböckel ist weit verzweigt. Jedenfalls hat es einen tadellosen Ruf.“
„Das will ich meinen, Ehrwürden Dormarian. Nun, mein Großvater wiederum ist der ehrenwerte Tannfried von Binsböckel“
„Das Oberhaupt des Hauses Binsböckel, der Stadtmeister von Trallop. Ja, ich kenne den Namen. Ich hatte noch nie persönlich die Ehre. Ich war ja auch noch nie in Trallop. Aber mütterlicherseits sollte mir das als Auskunft genügen. Wir müssen nicht weiter zurück in der Ahnenlinie. Wer war Euer Vater?“
„Baron Tsafried von Schnayttach zu Schlotz.“
„Hmm… Tsafried von Schnayttach? War da nicht etwas? War er nicht angeklagt worden? Wegen Defätismus?“
Haldana überlegte kurz, bevor sie antwortete.
„Wir haben das in der Familie geregelt. Mein Halbbruder, Traviahold von Schnayttach, hat sich der Sache angenommen. Im Haus Binsböckel lässt man es nicht zu, wenn jemand Schande über die Familie bringt. Ihr kennt meinen Halbbruder? Er ist jetzt Vogt von Rammholz. Er und seine Ritterschaft, die schwarze Lanze, sind weithin gerühmt für ihre Schlagkraft. Wer irgendjemanden in meiner Familie etwas antut, der darf sich auf einen Besuch von Traviahold einstellen. Ich versichere, das wird dann kein Vergnügen werden.“ Haldana warf einen Seitenblick auf Gerrich.
„Ja ja, ist gut.“ Beschwichtigte Dormarian, bevor sich Haldana noch mehr Familiengeschichten zum Besten geben konnte.
„Ein gewaltiger Ritter, dieser Traviahold“ fuhr Haldana jedoch fort. Sie hatte sich nach der unerwarteten Frage zwar weitgehend wieder gefasst, war jedoch zugleich auf den Gedanken verfallen, völlig unauffällig noch mehr Zeit schinden zu können. Je länger es dauerte, umso mehr von seiner Sternenkraft oder wie dieses Astralzeugs hieß, würde Gerrich für seine Maskerade aufwenden müssen. Umso leichter könnte sie entfliehen.
„Ich kann mir gar nicht ausmalen, was Traviahold mit jemandem macht, der Hand an mich legen will. Der täte mir jetzt schon Leid. Traviahold zum Feind haben, das wünschte ich meinem ärgsten Gegner nicht.“ Haldana steigerte sich sichtlich in eine Rede hinein, so dass Dormarian der Mund offen stehen blieb und er kaum wagte, die aufbrausende Adelige zu unterbrechen.“
„Ähm, nun, euer Vater. Wer war Euer Großvater? Wer die Großmutter?“ wagte der Prediger zu fragen, als Haldana nach längerem Schimpfen Atem holte.
„Mein Vater… ja, ach so. Das Haus Schnayttach zu Schlotz. Eines der ältesten Adelshäuser in der Sichel. Wir führen uns auf den Ersten Jäger zurück, der der Sage nach den Pfeil auf die Vielleibige Bestie abgeschossen hat.“ Wieder begann Haldana zu erzählen. Als Bardin verstand sie es, mit Erzählungen Leute zu unterhalten und in ihren Bann zu ziehen. Also unterbrach Dormarian nicht und auch die Matrosen hörten gespannt zu, als Haldana die Legende vom Sieg über die Vielleibige Bestie wiedergab. Mit zahlreichen Ausschmückungen und Formulierungen gestaltete sie die Legende kurzweilig und unterhaltsam. Gerrich musste hier einfach Geduld aufbringen. Haldana wusste, dass Gerrich sich den Unmut der Traviapilger wie auch der Matrosen zuziehen würde, wenn man ihnen die Freude des Zuhörens jetzt nahm. Es gelang Gerrich, ruhig zu wirken. Aber wer genau hinsah merkte, dass er mit seiner Ungeduld kämpfen musste. `Wie lange wohl ein Magier eine solche Maskerade aufrecht erhalten konnte` fragte sich Haldana. Sie hatte keine Ahnung davon. Die Magie war ihr immer etwas Unheimliches gewesen. Auch gab es auf Schlotz keinen Hofmagier, so dass ihr Wissen über die Arkane Kunst sich auf das Hörensagen beschränkte. Aber als Geschichtenerzählerin war sie in ihrem Element und erzählte von der Reise des Ersten Jägers an das Ufer des Neunaugensees, um sich dort von den Elfen besonders durchschlagkräftige Pfeile zu erbitten, die die schuppige Haut der Vielleibigen durchdringen vermochten. Von der Aufgabe, die die gleichermaßen alte und ewig jung gebliebene Elfe dem Jäger stellte als Gegenleistung für die Pfeile. Und dann von dem Gefecht, in dem der Erste Jäger an der Seite der Unsterblichen focht und mit ihnen den Sieg errang, und zum Lohn eine von Trollen erbaute Burg erhielt.
Gerrich hakte ein, als Haldana an das Ende der Geschichte kam. „Ich denke das genügt. An der ehrbaren Abstammung der Braut dürfte kein Zweifel bestehen.“ Beschied er knapp in Richtung des Laienpredigers, bevor dieser erneut nach Haldanas Großeltern fragen konnte. Dormarian nickte. Er wagte es nicht, dem Adeligen zu widersprechen. Stattdessen schrieb er schlicht auf, dass die Ahnenreihe der Braut bis in die Tage des Alten Reiches belegt sei und ließ es damit bewenden.
"Ein Einwand hätte ich allerdings", sagte Dormarian. "Als Akoluth der Heiligen Familie der Travia habe ich die Pflicht, einem Geweihten bei einer Liturgie zu assistieren. Die Pflicht, aber in diesem Fall auch das Recht. Ein Kapitän ist kein Priester der Unsterblichen Zwölfe."
Flarion deutete hinauf zum Mast, wo sich das blaue Banner in der Abendbrise entfaltete. "Die Flusshexe fährt unter Flagge der Stadt Perricum und steht damit unter besonderem Schutz der Efferdskirche. Entsprechend ist ein Kapitän berechtigt, den Bund der Ehe zu schließen. Falls kein Geweihter in der Nähe ist. Ein alter Seemannnsbrauch....Und da ihr ja nur die minderen Weihen habt, Travienlieb Dormarian..."
"Werter Herr Silbertaler" Der Akoluth streute etwas Löschsand über die Tinte, ließ sie eintrocknen und blies die Körner dann fort. "Mit Verlaub, aber bunte Lichter an Bord schaffen noch kein Perricumer Efferdsrecht. Ich habe davon gehört, dass auf hoher See Kapitäne manchmal Ehen stiften...irgendwo an fernen Küsten, wo ein Kapitän der Erste nach Efferd sein mag. Der Heiligen Mutter gefällig ist das nicht. Wir sind hier in unserer Heimat und der Darpat ist nicht das Perlenmeer. Außerdem habt Ihr ja gerade selbst gehört, welch edler Abkunft unsere Eheleute sind.... Bedenkt, dass auch die Kinder, die mit Travias Güte aus diesem Bund hervorgehen werden, legitim sein müssen." Dormarian rollte das Papier zusammen. "Nun denn, ein dreifach geprüfter Kapitän mit Patent mag ein traviagefälliger Trauzeuge sein, neben den frommen Pilgern dort. Ihr verfügt doch sicher über den Kapitänsbrief, so dass ich auch das für den Rommilyser Tempel vermerken kann?"
Der "Erste" an Bord erbleichte und rieb sich nervös die Hände über die prachtvolle Uniformjacke. Offenbar hatte Bruder Dormarian gerade seinen wunden Punkt getroffen. "Ich, also...nun ja…" Hilfesuchend wandte er sich an Gerrich. "Also im Falle der efferdgefälligen Darpattreidelflussschifffahrt..."
"Genug. Wir müssen doch nicht alles dreifach prüfen", sagte der Friedwanger hastig. "Ich verbürge mich für Kapitän Silbertaler. Er besitzt mein vollstes Vertrauen. Aber das Wichtigste ist, dass diese Ehe vor den Göttern und derischen Richtern Bestand hat. Das Problem ist ja gerade, dass wir uns nicht weit draußen auf hoher See befinden. Wir müssen stündlich mit einem tückischen Überfall unserer Feinde rechnen. Werter Dormarian von Glaukenfall" Der Magus klang nun schmeichelnd, fast flehentlich. "Ich habe Euch wirklich lange zugehört und festgestellt, dass Ihr mit den Gebräuchen der Großen Mutter überaus bewandert seid. Sogar des Lesens und Schreibens seid Ihr mächtig. Ihr hättet das Zeug zum Hofkaplan, doch doch. Vielleicht sogar selbst zum Geweihten. Umso mehr bin ich überzeugt, dass zumindest Ihr eine Nottrauung durchführen dürft. Ich meine, was wäre denn sonst der Sinn von minderen Weihen? Wenn der Kapitän nicht an Bord ist, hat ja auch sein Navigator das Sagen..."
Dormarian war anzumerken, dass er sich für einen Moment durchaus geschmeichelt fühlte. Bieder blickte er in die Runde.
"Gewiss, gewiss. Allerdings werde ich darauf verzichten, die Hände von Braut und Bräutigam mit dem Traviaband zu verbinden. Diese Handlung gebührt nun wirklich allein einem Priester."
„Gut, dann können wir ja jetzt zu den Jaworten kommen“ drängte Gerrich.
„Mein lieber Großvater“ warf Haldana ein. „Wann kommen eigentlich die Musikanten?“
„Liebes Kind“ erwiderte Gerrich mit angestrengter Freundlichkeit. „Leider war es so kurzfristig nicht möglich, auch noch Musikanten an Bord zu bekommen. Das holen wir alles später in Rommilys nach. Aber du kannst ja selbst nachher etwas aufspielen, das tust du ohnehin gerne.“ Gerrich würde ja bei einem späteren Konzert der Bardin nicht mehr anwesend sein müssen, sondern könnte sich in Ruhe in seine Kajüte zurückziehen und sich von der anstrengenden Maskerade erholen. „Also dann. Golo, Haldana, stellt Euch auf. Ich werde als Großvater, naja, Ziehgroßvater Golo an den Altar führen und Haldana übergeben. Euer großer Moment ist gekommen, Kinder! Haldana, du musst hier stehen. Ich hole jetzt Golo“
Jetzt wird es ernst, dachte Haldana. Ob ich das noch lange aufschieben kann? „Ja, gut…“ nickte sie. Herr Flarion, habt ihr die Güte, die Laute aus der Kajüte zu holen? Für nachher. Auch wenn die oberste Saite schon gerissen ist“ was nicht stimmte, die Saite war immer noch in Haldanas Zopf geflochten „kann ich mit Lagenwechseln schon noch etwas Musik herbei zaubern.“
„Natürlich, Hochgeboren!“ Flarion Silbertaler verneigte sich. „Bitte erfüllt mir den Wunsch, Ihr müsst nachher unbedingt den `Alrik` spielen.“
Den Alrik spielen. Klar, konnte sie. Meinte Flarion die Ballade von Alrik dem Schmied, oder den im Dialekt gesungenen Alrik von Gallys? Egal. Sie konnte beide spielen und singen. Aber vermutlich meinte Flarion eher den Alrik von Gallys, der ja in den Schänken und Tavernen recht gerne gesungen wurde, wenn genügend Bier oder Wein getrunken worden ist. Allerdings… da sie ja hier einen Friedwanger heiraten sollte, würde sie das Lied ein wenig umdichten. Auf einer Friedwanger Hochzeit den Gallyser Alrik singen wäre ja unpassend. Haldana lächelte. So machte ihr die Hochzeit fast schon Spaß - jedenfalls wenn sie dabei für einen Augenblick den Bräutigam vergessen konnte.
Fast gleichzeitig kamen Flarion und Gerrich zurück. Der Kapitän mit der Laute, die Haldana sich umhängte, und der alte Friedwange mit Golo am Arm, den er mit festlichem Schritt der Braut zuführte. Dormarion straffte sich.
„Gut“ murmelte er. Es war die erste Trauung, die er als Laienprediger vollziehen sollte. Und dann gleich bei so hochgestellten Personen aus dem Adel der Schwarzen Sichel. Aber wo die Herrin Travia ihn rief, da würde er gehorchen.
„Nun, wir haben uns hier versammelt“ begann Dormarion die üblichen Worte, mit denen der Traviabund geschlossen wurde, „um Zeuge zu sein, wie zwei junge Menschen den Bund für das Leben besiegeln. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, dass gerade mir das Schicksal es zugedacht hat, hier so kurzfristig und ungeplant dem Willen der Herrin Travia zu entsprechen.“ Dormarion, ob nun angespornt von der Beredsamkeit Haldanas oder der gefühlten Verpflichtung, eine Adelshochzeit würdevoll zu gestalten, geriet seinerseits ins Fabulieren. Sicher mehr als ein halbes Stundenmaß rezitierte der Prediger die Verpflichtungen, die dem Traviabund entsprangen, um dann über die Hoffnung zu reden, die der Bund den Menschen der Mark nach den langen schweren Kriegsjahren bringen mochte. Dann glitt er ab, um über den Kindersegen, den er dem Paar wünschte, zu reden, um dann gleich noch Hinweise für die Traviagefällige Erziehung des Nachwuchses an das Paar zu richten.
Golo gähnte mehrfach während der langen Rede Dormarians. Ob er tatsächlich müde war oder absichtlich aus Desinteresse an den langen Worten gähnte, vermochte Haldana nicht einzuschätzen. Jedenfalls hatte Golos Gähnen keinen Einfluss auf den Redefluss des Travia-Akoluthen, wie Haldana freudig feststellte. Mit interessiertem Lächeln sah sie Dormarian an, in der Hoffnung, ihn damit weiter zum Reden zu animieren. Und so zog sich die langatmige Rede hin, bis endlich die Herrin Travia zur Zeugin angerufen wurde für den Heiligen Bund.
„Und so frage ich Euch, Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck, seid ihr gewillt, die Euch hier zur Seite stehende Baronin Haldana von Binsböckel zu Schlotz als Eure rechtmäßige und vor den Göttern angetraute Ehefrau anzunehmen. sie zu lieben und zu ehren, ihr treu zu sein, bis dass der Herr Boron Euch scheidet?“
„Ja, natürlich. Deswegen sind wir ja hier“ knurrte Golo ungeduldig.
Dormarian wandte sich Haldana zu.
„Nun frage ich Euch, Baronin Adginna Haldana von Binsböckel zu Schlotz, seid ihr gewillt, den Euch hier zur Seite stehenden Junker Golo Cecilius von Friedwang-Glimmerdieck als Euren rechtmäßigen und vor den Göttern angetrauten Ehemann anzunehmen, ihn zu lieben und zu ehren, ihm treu zu sein, bis dass der Herr Boron Euch scheidet?“
Haldana schluckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wo waren ihre Gefährten? Warum war niemand gekommen, sie zu befreien?
Dormarian sah Haldana an.
„Natürlich will sie“ rief Golo. „Ihr bleibt nur der Atem weg, kein Wunder nach dem ganzen Gelabere. Lasst uns jetzt endlich zum Kuss kommen, damit die Feier beginnen kann.“
Dormarian warf Golo einen strafenden Blick zu. „Mag sein, aber das muss Eure Braut schon selber sagen. Nun, Hochgeboren?“
Ein leises Flüstern.
„Was sagt Ihr?“ fragte Dormarian nach
„Das war ein ja“ warf Golo ein. Schreib es einfach auf, Prediger.
Dormarian war nicht bereit, sich seine festliche Stimmung auf seiner ersten Hochzeit von einem ungeduldigen Junker, war dieser nun von Stand oder nicht, trüben zu lassen. Er überhörte Golos Einwurf einfach.
„Verzeiht, Hochgeboren, ich konnte Euch nicht verstehen. Natürlich mögt Ihr überwältigt sein. Man heiratet ja nur einmal im Leben. Aber Ihr müsst laut und für jeden klar vernehmlich antworten.“
Gerrich trat auf die Seite und warf der Schlotzerin einen warnenden Blick zu. Wie zufällig legte er die Hand auf seinen Degen.
„Na wenn es denn sein muss… ich habe ja keine Wahl“ brummte Haldana.
Dormarian war verwirrt. Die eben noch so fröhlich und ausgelassen wirkende Braut war auf einmal augenscheinlich nicht mehr so begeistert. Er zögerte.
„Na dann wäre das ja geklärt“ drängte Gerrich. „Also, kommen wir zum Ende.“
„Nun, gleich“ stammelte Dormarian, fing sich aber rasch wieder. „Wenn hier Irgendjemand ist, der etwas gegen die Verbindung der Brautleute einzuwenden hat, der spreche jetzt… oder schweige für immer.
Eine einzelne Träne kullerte Haldana über die Wange.
Niemand sagte etwas.
„Nun, in Travias Namen, so erkläre ich Euch hiermit vor dem Angesicht der Heiligen und Unteilbaren Zwölf“…
Gerrichs Gesicht schien zu flimmern. Er hustete - oder täuschte ein Husten vor - und eilte rasch zur Leiter, die unter Deck führte. Gerrichs astrale Kraft war fast aufgebraucht. Er konnte das falsche Gesicht nicht länger aufrechterhalten. Die restliche Hochzeit musste jetzt ohne ihn stattfinden. Sisa und Golo hatten die Lage sicher im Griff.
„… zu Mann und Frau. Junker Golo, ihr dürft die Braut nun küssen“
Warum war kein Ritter gekommen, um sie zu retten, wie in all den Märchen, die sie kannte? Wie in all den Liedern, sie sie sang und gerne hörte?
Der schiefhalsige Junker machte einen Schritt auf Haldana zu, drückte seine Lippen auf die ihren. Zum Glück nur kurz. Golo verspürte offenbar genau so wenig Lust auf einen Kuss wie Haldana.
Die Matrosen applaudierten.
Haldana ließ ihren frisch angetrauten Ehemann unbeachtet stehen. Üblicherweise kämen jetzt die Glückwünsche, dann der Brauttanz.
Diese Zeremonie würde sie jetzt aber ändern. Mit einem Lied, das den Matrosen sicher gefallen würde, Gerrich und Golo jedoch garantiert nicht. Und Musik war das Beste, das jetzt geschehen konnte. Wie anders hätte sie ihre Stimmung, ihre Hoffnungslosigkeit auffangen können wenn nicht mit der Laute in ihrer Hand?
„Also, Kapitän Flarion, ich habe es versprochen. Mit meiner besonderen Anerkennung für einen besonderen Kapitän und Seemann.“ Haldana zupfte ein paar Akkorde. Ein eiskaltes Lächeln hatte die Träne auf Haldanas Gesicht abgelöst. Rache wird am besten kalt serviert, Herr Golo, dachte sie sich. Bis jetzt hattest du das sagen, Gerrich. Jetzt bin ich dran, dachte sie. Zeit, dem Friedwanger Schurken klar zu machen, wer der wahre Herr im Friedwanger Land war. Das würde dem Schwarzmagier sicher nicht gefallen. Weiter schlug sie auf der Laute die Akkorde.
„Ihr müsst alle mitsingen“ rief sie in die Reihen der umstehenden Matrosen und zu den Laienpredigern. Und die Matrosen sangen und johlten zu den Klängen der Laute.
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik!“
Dann erklang Haldanas Stimme. Etwas unpassend vielleicht, denn eigentlich benötigte man für das Lied einen männlichen Sänger. Aber darauf nahm sie jetzt keine Rücksicht. Sie hatte keinen anderen Gedanken, als Gerrich für das, was er ihr angetan hatte, auf die hintersinnige Weise eines Musikers zu beleidigen und zu provozieren. Und wie konnte das besser geschehen, als Gerrichs Matrosen den wahren Baron von Friedwang hochleben zu lassen? Haldana sang.
„I bin so sche, i bin so schlanckh.
I bin der Alrik aus Friedwang.
Meine gigaschlanckhen Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda da Natur.“
Anders als Golo hatte Gerrich ja Interesse an Frauen, dachte Haldana. Da durfte man ihm schon sagen, dass Baron Alrik der Attraktivere war. Nicht zuletzt hatte Alrik ja Kinder mit mehreren Frauen und auch, gewissermaßen, Gerrichs Sohn Gernot die schöne Serwa ausgespannt. Ob das Gerrich verletzte? Vielleicht. Aber dass seine Matrosen den Alrik von Friedwang so besangen, das würde ihn sicher wurmen.
„I bin so stoak und a so wüd.
I treib es heiß und firunskühl
Wippe i mit `em Gesäß,
schrein die Stoaböck` SOS und woin an Alrik aus Friedwang“
Haldana mochte sich kaum vorstellen, wie Gerrich mit seinem insektoiden Körper, wenn er ihn gerade nicht verwandelt oder getarnt hatte, sich seiner Sisa Brundel nähern konnte. Schauerlicher Gedanke. Aber die nächste Strophe war rasch umgedichtet.
Rahjaikum und Magie - des braucht so a Alrik net.
Koan Liebestranckh, koan Minnesang, a koan Schmuck und a koa Geld.
Bin koa Städta, bin koa Kriega.
Madln, so an wie mi, den gibt`s nie wieda
Ein Blick auf Golo zeigte ihr, dass dieser an dem Lied auch keine Freude empfand. Er, der potentielle Thronerbe, der nach der Blutnacht von Friedwang von Alrik abserviert wurde und zusehen musste, wie das verhasste, verkaufte Kind Kalmanderias zurück kehrte und den Thron bestieg. Dass Golo zornrot anlief, war für Haldana eine besondere Befriedigung.
„I bin so sche, ich bin so schlanckh.
I bin da Alrik aus Friedwang
Meine gigaschlanken Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda dar Natur.“
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen. Dann begann Haldana wieder mit dem Refrain.
„I bin so stoak und au so wüld.
I treib es heiss und firunskühl.
Wippe i mit ´em Gesäß,
schrein die Stoaböck SOS und woill`n an Alrik aus Friedwang.
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen wieder.
„Abends dann am Lagafeia zoag i mi
Mit 15 Madl, denn g`winna ko nur i.
Ui, so sche woa i no nie.
Lass Golo glatt im Reg`n steh`n.“
Die letzte Spitze auf Golo konnte Haldana sich nicht verkneifen. Die Matrosen waren in guter Stimmung und achteten nicht darauf, Deswegen hörten sie nicht auf, mitzusingen. Bei Golo und Gerrich kam das sicher an. Wo war eigentlich Gerrich? Unter Deck? Egal. Golo war da, ihr ungewollter Bräutigam. Sollte er ruhig mitbekommen, dass Haldana sich nicht im Geringsten etwas aus dem Gatten machte. „Sing mit, Golo!“ rief sie dem Gatten übermütig zu. „Auf, nimm Dir ein Bier!“ Zufrieden bemerkte sie, wie jemand ihrem Ehemann einen Krug reichte. Golo nahm den Krug und trank. Was hätte er auch sonst tun sollen auf seiner Hochzeit. Wenigstens musste er seine Alte jetzt nicht küssen, so lange diese sang, auch wenn er dem Lied nichts abgewinnen konnte.
„Koana is so urig sche.
Ahhh, bin i sche. Ahhhh,
Is der sche, stoaka Bua, von dia kriag i net gnua.
Komm her und mochs mit mia, mei Friedwanger Stier.“
„Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik“ gröhlten die Matrosen wieder.
„I bin so sche, i bin so schlanckh.
I bin der Alrik aus Friedwang.
Meine gigaschlanken Wadln san da Wahnsinn für die Madln.
Mei Figur a Wunda dar Natur.“
Haldana winkte aufmunternd mit den Armen. Die Matrosen sangen lauter. „Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik, Alrik.“
„I bin so stoak und auch so wüld.
I treib es heiss und firunsgekühl.
Wippe i mit dem Gesäß,
schrein die Gemsen SOS und woill`n den Alrik aus Friedwang“
Haldana zupfte noch ein Weilchen mit der Laute die Schlussakkorde. Sie überlegte kurz. So lange sie weiter spielte, würde sie vor Golo und Gerrich ihre Ruhe haben. Und zumindest die Matrosen würden noch eine Menge trinken heute Abend, so dass irgendwann, später, jedenfalls keiner von ihnen im Weg sein würde auf der Flucht.
Haldana rieb sich die schmerzenden Fingerkuppen, stellte die Laute beiseite und trat an die Bordwand, um ein wenig zu verschnaufen. Sie blickte hinüber zum gegenüberliegenden Ufer des Darpat, das dunkel über dem glitzernden Wasser aufragte. Leichter Nebel kam dort zwischen den Bäumen auf. Ihr fröstelte. Flarion Silbertaler trat hinter sie, und legte ihr galant den Mantel über die Schultern.
Dankbar nickend hüllte sie sich in den blauen Stoff. Dieser Silbertaler schien kein schlechter Mensch zu sein. Er wirkte ein wenig verlegen. Ein Hochstapler, und womöglich auch ein Herumtreiber, der es mit Recht und Gesetz nicht so genau nahm. Aber kein götterloser Schurke, wie Golo, Gerrich, oder dieses Biest von Hexe, dass sie vermutlich noch immer nicht aus den Augen ließ.
Flarion seufzte. Offenbar ahnte er, dass die Ehe nicht ganz freiwillig war - andererseits war er offenbar Adelseskapaden gewohnt.
"Ich hätte Euch wirklich liebend gerne getraut."
"Das glaube ich gerne", sagte die Schlotzerin höflich. Sie überlegte, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, setzte an und verstummte dann lieber. "Verheiratet" war sie schon, und selbst wenn der Kapitän kein Erzfrevler sein mochte, kannte sie ihn nicht wirklich gut genug, um ihn in ihre Gedanken mit einzubeziehen. Geschweige denn in ihre Fluchtpläne. Oder misstraute sie ihm zu sehr?
"Es ist nur..." fing sie zaghaft an. Der Kapitän blickte irgendwie angespannt, fast schon lauernd.
Ihr "Probepfeil" würde fehl gehen, dass spürte sie sofort. Dieser Mann war letztlich nur auf seinen Vorteil aus. Göttergläubig, aber auch geschäftstüchtig. Glatt und blenderisch. Silbertaler, der Name passte. Ein Gratenfelser Gießmünzen-Silbertaler, um genau zu sein. Dieser "Käpt´n" und seine Anteilnahme war so echt wie diese närrische Hochzeitsfeier.
"Ja?"
"Ach nichts".
"Eine wunderbare Nacht, nicht wahr, meine Teuerste?" Flarions Stimme triefte jetzt vor falschem Pathos, an das er vermutlich selbst glaubte.
"Ich wünschte, sie würde nie zu Ende gehen" antwortete Haldana. Kühles Licht flammte auf dem Darpat auf.
Von der garetischen Seite her drang pflatschender Ruderschlag an ihr Ohr. Ein Boot glitt heran, gerudert von einem jungen Burschen in Fischertracht. Am Bug stand ein schlanker Mann in meerblauer, geschuppter Kutte, mit langgestrecktem Gesicht. In der Linken hielt er eine Laterne, die Haldana irgendwie merkwürdig vorkam. Statt einer Kerze leuchtete darin ein grünlich schimmernder Pilz, in einem kleinen Topf. Der Neuankömmling wirkte auf den ersten Blick wie ein Fischmensch. Schildpatt und Perlmutt schimmerte an seinem Kragen und seinem Gürtel, der aussah, als hätte er viele Monde unter Wasser gelegen und wäre nun völlig verkrustet.
Der Mann trug eine Art Kopftuch, an dem eine Muschel als Schmuck baumelte. Fast hätte es wie ein Piratenkopftuch gewirkt, wenn da nicht der aufgestickte Delphin gewesen wäre. Statt einem Entermesser hielt der Neuankömmling rechterhand einen kleinen Dreizack: ein Efferddiener.
"Efferd zum Gruße!" hob der Mann an, den Haldana auf Mitte oder Ende 30 schätzte: "Mein Name ist Efferdi Falswegen, Geweihter der Bruderschaft von Wind und Wogen, aus Hausnerhaven. Darf ich längsseits gehen?"
"Hochwürden!" Flarions trübes Gesicht hellte sich auf. "An Euch habe ich gar nicht mehr gedacht! Ja, sehr gerne.... Ihr dürft sogar an Bord kommen. Silbertaler, Flarion Silbertaler, Kapitän der Flusshexe."
Efferdi Falswegen nickte, ohne besondere Regung im Gesicht. Der Kahn ging längsseits und wurde festgemacht.
"Habt Dank", sagte der Geweihte. "Eigentlich wollte ich Euch einladen, zu uns nach Hausnerhaven zu kommen, auf die andere Seite des Darpat. Wie mir scheint, feiert Ihr an Bord ein Fest? Sogar eine Hochzeit?"
"Ja, das edle Fräulein Haldana" - Flarion deutete auf die Braut - "hat den Junker Golo von Gießenborn geehelicht. Zwei Edelleute aus der Rommilyser Mark. Eine etwas komplizierte Geschichte...aber überaus romantisch."
"Meinen Glückwunsch!" Der Geweihte deutete eine Verbeugung an. "Möge Euch der Hafen der Ehe allzeit eine sichere Zuflucht sein, vor den Stürmen und Untiefen des Lebens."
"Danke", sagte die Braut, etwas einsilbig. "Hochwürden..."
"Es freut mich, Euch nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen, Kapitän Silbertaler...Meine Familie und das Haus Warrlinger sind ja gute Geschäftspartner.
"Die Reederei Falswegen, ja, die Flusshexe ist eine Zeitlang für sie gefahren. Wenn der furchtbare Krieg nicht gewesen wäre." In Flarions Gesicht zuckte es kurz.
Der Efferdgeweihte nickte, leicht betrübt. "Wir haben alle Opfer bringen müssen, auch Trautmann Falswegen & Nachfahren. Die Blutige See ist einfach nicht mehr das gute alte Perlenmeer. Efferd seis geklagt. Selbst Vater Darpat fließt nicht mehr durch die gleichen Lande wie noch vor einigen Götterläufen."
"Ihr sagt es". Flachwasser-Flarion seufzte erneut, etwas theatralisch. "Ach, wie dumm von mir...ich habe wirklich nicht mehr daran gedacht. Aber ich lege auch wirklich selten in Markt Hausen an. Ihr hättet das Brautpaar trauen können, Hochwürden...nicht dieser...Travienlieb Dormarian, der ständiges Herumkratzen mit der Gänsefeder für besonders traviagefällig hält. Vielleicht hättet Ihr ja die Güte, noch einen Segen sprechen? Haldana die Sängerin ist eine berühmte Bardin aus der Sichel, müsst Ihr wissen, und hat ein würdiges Hochzeitsfest verdient.
Haldana verdrehte innerlich die Augen. Das fehlte noch - eine "zweite Hochzeit" an diesem Abend… die womöglich sogar Gültigkeit haben würde.
"Meinen Segen gebe ich gerne. Aber für einen Travienbund sind nun wahrlich Berufenere zuständig" Der Geweihte runzelte ein wenig die Stirn. Spürte er, dass mit dieser "Hochzeitsfeier" etwas nicht stimmte? Im nächsten Moment huschte wieder ein Lächeln über seine Lippen.
"Eigentlich wollte ich dem Brautpaar nur gratulieren, und ein Geschenk überreichen. Das habe ich allerdings drüben im Tempel. Es wäre uns wirklich eine Ehre und große Freude, wenn ihr bei uns feiern könntet. Es geschieht so selten, dass die große weite Welt im Hausner Hafen zu Gast ist. Ich bin sicher, Basil der Wirt wird der Hochzeitsgesellschaft gerne etwas von seinem Trunk spendieren. Vielleicht sogar ein Fässchen oder zwei. Hier auf der Trollzacker Seite des Darpat ist es noch einsamer, findet Ihr nicht?"
Flarion blickte zum Banner, das am Mast nur zaghaft flatterte. "Ich weiß Eure Einladung wirklich zu schätzen. Aber so spät noch einmal Segel setzen? Der Wind weht recht schwach und da draußen gibt es Untiefen..."
"Der Darpat führt momentan sehr wenig Wasser, dem Launenhaften seis geklagt. Gestern hats zum ersten Mal wieder etwas geregnet. Der Vorteil ist, dass ihr in Windeseile über den Fluss staken könnt. Und die Flusshexe heißt ja so, weil ihr Rumpf so flach ist. Eine besengerade Linie, auf der man über jede Untiefe hinwegreiten kann. Habt Ihr selbst mal gesagt."
"Gewiss...Das muss ich aber alles erst mit meinen Adeligen besprechen. Sie sind ziemlich eigen, die Herren Eigner. Ich glaube nicht, dass... Äh, Herr Golo...könntet Ihr einmal...entschuldigt. Herr Golo?"
"Nun, ich möchte Eure Feierlaune ja nicht trüben, aber da ist noch etwas...vor einigen Tagen hat Burgvögtin Idra Trollzacker gesehen, die auf eurer Flussseite herumgestreunt sind. Gegenüber der Feste Oberkreuth."
"Trollzacker?"
"Ja, die Bande hat wohl eine Furt gesucht, wo sie mit ihren Ponys durchreiten können. Womöglich, um die Feidewaldstraße unsicher zu machen. Ich denke nicht, dass der Darpat schon so seicht ist...Aber eure Lichter könnten sie anlocken. Wenn Ihr bei uns anlegt, auf der sicheren Seite, dann ließe sich die Vorsicht mit dem Angenehmen verbinden, sozusagen..."
Flarion wollte etwas sagen, aber die Braut kam ihm zuvor. "Das ist eine wunderbare Idee, Hochwürden. Oh bitte, Golo, lass uns beim Dorf feiern."
Letztere Worte galten dem Bräutigam, der schiefhalsig herbei schlurchte, einen Becher Wein in der Hand. Artig begrüßte der Junker den Geweihten, der die Höflichkeitsfloskel erwiderte, und seine Einladung wiederholte.
"Welch traviaungefällige Unruhe am schönsten Tag meines Lebens" sagte Golo tonlos und verbarg seinen Gesichtsausdruck hinter dem Kelch. Der Junker trank einen Schluck und blickte dann wenig begeistert zum anderen Ufer. "Dir fallen wirklich ständig neue und immer ausgefallenere Wünsche ein, Liebling."
"Oh bitte, tu den Dörflern den Gefallen. Hier ist es doch sooo einsam...und nicht ganz ungefährlich, wie Hochwürden, äh, Falswegen gerade gesagt hat. Ich habe fast ein wenig Angst..."
"Lass Golo glatt im Regen stehen, oder wie war das? Schlanke Wadln, zwanzig Madeln am Lagerfeuer?"
"Ach Schatz, das war doch nur ein Scherz. Außerdem sind es nur 15 Madeln..."
"Natürlich." Der Schiefhals zog die Braut zu sich heran, um sie auf die Stirn zu küssen. Es war, als würde sie von einem Untoten umarmt werden, oder einem Gespenst. Sein Atem roch nach Wein. Aber da war noch anderes an ihm, in ihm, was Haldana schauern ließ. Eisige Leere. Finsternis. Ein Abgrund...
Scheinbar liebevoll strich Golo ihr durch die Locken. "Sisa hat jetzt eine ganze Haarsträhne von dir" flüsterte er ihr ins Ohr, wobei er es sogar schaffte, zart und sanft zu klingen. "Du hast keine Vorstellung, was eine Tochter Satuarias damit anzustellen vermag, mein Täubchen. Nun gut, fahren wir auf die garetische Seite. Dort ist es vermutlich wirklich sicherer. Falls deine Freunde doch noch hier auftauchen sollten. Solltest du allerdings wieder Dummheiten machen, werde ich die Mengbillaner Scheidung einreichen müssen, noch heute Nacht...."
Laut sagte er: "Ihr habt Recht, Hochwürden. Sicherheit geht vor, in diesen wirren Zeiten. Warum nicht, wenn man sie mit dem Vergnügen verbinden kann? Wir werden in Kürze ablegen."
Efferdi Falswegen nickte ernst und hob seinen Efferdbart. Flarion Silbertaler machte die Leine wieder los. Der Fischer legte sich in die Riemen und wendete. Verschwörerisch zwinkerte er Haldana zu.
Die Sichlerin blickte verdutzt. Täuschte sie sich, oder war das der Fischer, der heute Morgen in den Fluss gefallen war, beim Anblick der Besenreiterin? Zumindest der Gewandung nach kam das hin. Der Efferdgeweihte blickte derweil forschend über das Schiff, ganz so, als suche er etwas. Oder jemanden.
"Efferd und die übrigen guten Götter zum Gruße!" Der Geweihte ließ die "Flusshexe" nicht aus den Augen, bis das Boot wieder im Dunklen verschwunden war. Noch lange flackerte das geisterhaft kalte Licht seiner Laterne auf dem Darpat.
Haldana freute sich auf die Dörfler. Je mehr Personen an Bord waren, umso weniger hatte sie von ihren Peinigern zu befürchten. Sie traute Gerrich jede Bosheit zu. Aber er handelte rational. Er würde es nicht schaffen, ein ganzes Dorf auszulöschen, ohne dass Zeugen am Leben blieben und ihn verraten würden. Solange also Dörfler an Bord waren, konnte sie frei singen. Und mit ihren Liedern konnte sie den Efferdgeweihten über ihre Lage informieren, sobald dieser auch an Bord war. Sie dachte nach… Ein Liebeslied aus Gareth fiel ihr hierzu ein. Nun, sie würde es singen, sobald Falswegen es hören würde. Bis dahin gab sie weiter Gesänge und Lieder zum Besten, von denen sie wusste, dass sie als Stimmungsmacher die Mannschaft bei Laune halten würde. Nicht die melancholischen Lieder, die sie sonst bevorzugte. Fröhliche und zum Feiern animierende Lieder mussten es sein. Sie dachte an Flarion. Klar, Hilfe hatte sie von ihm nicht zu erwarten. Aber dass er an den Gesänge der berümten Bardin aus der Sichel, wie er sagte, Gefallen fand, ließe sich doch nutzen. Solange es nicht gegen den offenen Willen des Schiffseigners ging, würde er sie sicher gewähren lassen. Wer lässt sich schon ein kostenfreies Konzert entgehen?
Also sang sie weiter, nachdem die Gäste aus Hausnerhaven an Bord gegangen waren auch hin und wieder mit einer rhetorischen Spitze gegen Gerich, Golo und Sisa, die vielleicht bei den meisten untergehen würden, aber von Efferdi Falswegen oder Dormarion vermutlich doch wahrgenommen wurden. Erst als das Schiff wirklich gut besucht war, mit Matrosen, Handwerkern und Bauern aus Hausnerhaven, dem Wirt Basil - der tatsächlich ein Fass Bier beigesteuert hatte, und den Geweihten, und als ein großer Teil der Matrosen bereits erheblich alkoholisiert - und damit kaum mehr kampfbereit im Ernstfall war, wurde sie deutlicher mit ihrem Liedtext.
***
"Das ist ja eine Beleuchtung. Und ´ne wirklich ausgelassene Stimmung. Wie in em Puff in Romlysh"
Katz spuckte in das trübe, dreckige Sumpfwasser und ließ den Weidenzweig wieder vors Gesicht fallen. Der grüne Vorhang am Fluss schloss sich. Ein Wink, und Trolling drückte das schwankende Floss zurück ins Dunkel des Auwalds, mit seiner Stakstange. Schratmoos strich ihnen über die Köpfe, hinweg über die Federhüte und matt blinkenden Helme. Es roch modrig. Irgendwo quakten Enten.
"Verdammt viel los auf dem Pott. Oder wie siehst du das, Than?" Katz ruckte seinen buntkarierten Telt und das Schwertgehänge zurecht, an dem ein - gar nicht mal so kurzes- Kurzschwert baumelte.
Than Kaelldor kratzte sich am Bart und zwirbelte seine Zöpfe Ansonsten stützte er sich auf die große, schwere Axt, die er vor einigen Tagen dem Holzfäller abgenommen hatte. Im fahlen Mondlicht war sogar noch dessen Blut zu erahnen, neben dem Ruder, an dem Jobdarn stand, den Zweihänder auf den Rücken geschnallt.
"Wann warst du denn das letzte Mal in nem Freudenhaus in Romlysh?" Der Häuptling der Räuberbande lächelte wölfisch und überblickte sein dreckiges Dutzend. Es war eine gut bewaffnete Schar, die da auf dem geräumigen Holzfällerfloss in der kleinen Bucht kauerte.
"Muss vor den traurigen Tagen der Traviamark gewesen sein", kicherte Katz.
Kaelldor fragte sich, wie sein Ai´Than zu dem Spitznamen gekommen war. Am Aussehen lag es wohl nicht. Seine rechte Hand erinnerte eher an eine verschlagene, spitznasige Ratte auf zwei Beinen. Nur die struppigen roten Haare unter dem federgeschmückten Barett hätten einem Dorfkater alle Ehre bereitet.
Der Than vermutete, dass der Name mit dem Schwert zusammenhing, dem "Katzbalger", wie die Landsknechtswaffe genannt wurde. In einem Nebenfach der lederumwickelten Holzscheide steckten Messer, Gabel und ein kleines Stechwerkzeug, nach Söldnerart. Dem Muster auf seinem Wollumhang, dem Telt, nach, entstammte Katz dem Klan Macheln, der Mundart nach aus der Gorbinger Gegend. War wohl desertiert, nach der Schlacht am Arvepass. Spießer mochte der Schwertkämpfer immer noch nicht. Mit seinem runden, nietenbeschlagenen Lederschild wehrte der ehemalige Söldling einen weiteren Zweig ab. "Genug, Trolling. Wir laufen gleich auf Grund."
Der Riese grunzte, stemmte sich gegen die Stakstange und brachte das Floss so zum Stehen.
"Das da drüben, das gefällt mir nicht", sagte Katz. "Einfach zuviel Trubel an der Reichsstraße."
"Ein Trollberger, ein Wort", sagte Kaelldor. "Wir werden den Auftrag ausführen - und dabei unsere Beutel füllen."
"Wäre vielleicht mal ganz gut zu erfahren, was denn unser Auftrag ist", maulte Selmia, die Pfeiferin, die gerade ihre Armbrust spannte. Ihre Brüste ragten weit aus dem dreckigen Mieder heraus und ließen sie eher wie eine abgehalfterte Hafenhure aussehen.
Dir würde ich gerne mal meine Sackpfeife ins Maul stecken, dachte Kaelldor. Aber Trolling, der buntbemalte Riese, hatte sie als sein Weib auserkoren. Sie zu stoßen, würde, gelinde gesagt, Unfrieden stiften. Der Bergthanner, mochte er auch noch so plump wirken, war verdammt schnell mit Krummdolch und Streitaxt. Von der ganzen Bande sah der schwarzgelockte Kerl einem Trollzacker am ähnlichsten.
Than Kaelldor hatte schon gehört, dass die Flachländer sie für "Kurgas" hielten, wie sich die Barbaren selbst nannten. Geplant war das nicht gewesen. Die kleinen drahtigen Trollzacker-Ponys seiner Handlanger waren halt gebirgstauglich, und die Kriegsbemalung sollte dumme Bauern und Handwerker einschüchtern. Diese arroganten Stadtmenschen. Selbst hier, auf der wilden Seite des Darpat, vermochten sie kaum einen Trollberger von einem Trollzacker zu unterscheiden. Dabei waren die Vorfahren der Hochländer selbst mal Siedler aus dem Flachland gewesen, vor vielen Jahrhunderten. Nun züchteten sie Schafe und Ziegen oder bauten Wein an, in den Schluchten und Tälern, die nicht von Trollen und den Blutsäufern im Hochgebirge beansprucht wurden.
"Räuber", so wurden seine Jungs und Mädels genannt, auch oben in den Bergen. Als ob die Ladburch, Lentirak oder Meadronach ihren kargen Lebensunterhalt nicht selbst durch "Wegzoll" und "Sippenfehden" aufbessern würden. Selbst die feinen, verweichlichten Erlgrimman nahmen es mit fremdem Eigentum nicht sehr genau - und wenn es nur Weideland war, das sie den anderen Klans stahlen.
Ja, er und seine Gefolgsleute mochten Ausgestoßene sein, aber sie hatten ihren Stolz. "Kaelldors Klan", von dem Spitznamen hatte er schon gehört. Das passte: Sie waren so etwas wie Klansluit, eine große Familie, in ihrer neuen Zuflucht, dem Geisterdorf Kurgandschar oder Kurgasberg. Nachdem die verdammten Erlgrimman sie von der Ostseite der Trollzacker vertrieben hatten, diese Arschkriecher und Handlanger der Firunslichts. Auf dieser Seite der "Königin der Berge" also hielt man sie für Trollzacker. Kaelldor sollte es Recht sein, auch wenn sie bei ihren Überfällen schon Wert auf trollbergische Sitten legten, mit durchdringendem, dröhnendem Hörnerklang und dem wehmütigen Schlachtruf der Sackpfeife. Für den Selmia sorgte, Trollings Liebchen.
"Die Waegga hats uns gesagt. Wir sollten die Flachländer gefangennehmen, nach Kurgasberg bringen und die Belohnung kassieren. Das habt ihr leider völlig verbockt." Kaelldor hieb seine Axt in das Holz des Flosses, das zitterte und schwankte. Dann griff er in den Topf mit Schminke, der gerade herumging, und legte die rote Kriegsbemalung an.
"Verbockt?" Der stämmige, spitzbärtige Roburn, der an der Landstraße Wache gehalten hatte, fühlte sich persönlich angesprochen: "Konnte doch keiner ahnen, dass die Romlysher geradewegs durchs dichteste Dickicht reiten. Statt bequem die Straße entlang, wie es die verhätschelten Flachländer sonst immer machen."
"Hättest du früher Bescheid gegeben, dass sie nicht kommen, hätten wir sie einfangen können, vorm Darpat." Katz klang streng, offenbar versuchte er sich bei seinem Häuptling einzuschmeicheln.
"Woher sollte ich wissen, dass die zum Darpat wollten. Überhaupt. Seit wann muss ´ne Wache Bescheid geben, wenn niemand kommt? Das ergibt keinen Sinn, Katz" Roburn baute sich breitbeinig vor seinem Kontrahenten auf.
Kaelldor grinste in sich hinein. Er hatte schon lange den Eindruck, dass Roburn auf die Stellung des Ai´Than schielte, des Unterhäuptlings. Häuptling, Unterhäuptling - im Grunde lächerliche Titel, für eine kleine Schar Marodeure wie die ihre. Kaelldor sollte die Großsprecherei Recht sein, solange die Anderen seinen Rang ernst nahmen.
"Außerdem hab ich ihre Spur als erstes gefunden", fuhr der Spitzbart fort, der wie ein Theaterschauspieler aussah, unter der Schminke.
"Du hast den Gaul wiehern hören" sagte Selmia. "Angeblich. Die Hexe hat gesehen, dass sie mitten durch den Wald reiten, von ihrem Baum aus. Die Fährte gefunden hat dann ja wohl Trolling. Was nichts dran ändert, dass uns die Romlysher längst durch die Lappen gegangen sind. Und damit ja wohl auch unsere Belohnung...auf und davon. Wobei mir das Hexenweib ohnehin nicht geheuer ist. Ihr Silber ist sicherlich verflucht."
"Alles für die Katz", spottete Roburn. "Statt alles für den Katz, wie sonst immer."
"Halt die Orkfresse, Flachlandbart", zischte der Ai´Than. "Oder du fliegst in den Sumpf."
Roburns Hand verirrte sich zur Ochsenzunge, die in seinem Stiefel steckte. Glenda, seine Freundin, ließ bereits einen Stein in die Tasche ihrer Schleuder gleiten.
"Schluss mit dem ständigen Gegampfe." Kaelldor hatte leise gesprochen. Aber schon der Unterton genügte, um die Streithähne zur Räson zu bringen.
"Wir sind für uns wie ein Klan, vergesst das nicht. Egal was die feinen Pinkel sagen. Unsere eigenen Herren. Auch ohne Schafherden, Schweineställe, Gepirgsküh, Steinhäuser oder Weinberge. Aber ein Leben in Freiheit, in echter Freiheit, können wir nur führen, wenn wir zusammenhalten. Wenn wir uns respektieren...Und ein paar Kompromisse eingehen, das auch. Wir brauchen Sisa, um da oben zu überleben. "
"Und sie braucht uns, damit die Pechsieder kuschen", stellte Selmia fest. "Während sie wieder mal durch die Gegend schwirrt. Auch wenn sich die Pecher jetzt schon vor Angst in die Hosen scheißen. Was ich sehr gut verstehen kann. Für was braut das Satursweib dieses Dreckzeug nochma? Ich raff den ganzen Plan nicht. Soll sie das Bier uns geben, damit wirs wegsaufen. Bevor diese Romlysher es versauen."
"Tiefländer Ränke. Das geht uns alles nichts an. Hauptsache es springt was dabei raus. Und das wird es. Kein Klan ohne Waegga, ohne eine mächtige Zauberin. Und es braucht jemanden, der mitdenkt. Für euch alle mitdenkt. Das bin nun mal ich. Also. Die Romlysher wollen diese Haldana befreien. Soviel steht fest. Und das sollten wir tunlichst verhindern, wenn wir noch Kröten sehen wollen. Ihr habt gehört, was die Waegga gesagt hat. Die Bardin muss ohnehin sterben, damit dieser Schiefhals sich ihr Erbe unter den Nagel reißen kann. Die Flachländer sind nun mal so. Also fahren wir jetzt rüber und retten Golo vor den Romlyshern. Wer soll´s auch sonst machen? Diese Darpatpisser, pardon, Darpatschiffer, und die Traviadiener sicherlich nicht. Seine Braut nehmen wir mit, als Faustpfand für Than Gerrich. Selmia, lass deinen verdammten Dudelsack da, und nimmt lieber einen Kanthaken, zum Entern...wir brauchen Platz auf dem Floss."
Selmia blickte empört: "Die Sackpfeife ist mein Talisman. Darauf hat mein Großvater schon die geächteten Melodien gespielt, im Kampf gegen Fürst Helmbrechts Häscher. Kein Pfeil hat ihn getroffen und kein Schwerthieb, in einem Dutzend Scharmützeln."
"Wenn er in einem Dutzend Scharmützeln nur Sackpfeife gespielt hat, kein Wunder." Roburn war schon wieder auf neuen Streit aus. Die Pfeiferin antwortete nicht mal, sondern schnaubte nur verächtlich.
"Also gut. Ein bisschen Glück können wir alle gebrauchen." Kaelldor wollte Roburn nicht das Gefühl geben, er stünde auf seiner Seite. Der Than tastete verstohlen nach seinem eigenen Talisman, einer Kette aus Bärenklauen. Ebenso nach der gestohlenen Fibel in Form eines Herdfeuers, die seinen Telt zusammenhielt.
"Ich warne dich, wenn das Ding Ärger macht, schmeiße ich es persönlich über Bord..."
„Ich kann nicht schwimmen“ monierte Rovik.
„Du hast doch selbst gesagt, dass der Darpat hier flach ist“ gab Tuvok zurück. „Nun los, wir müssen Haldana befreien! Du hast gesehen, dass die Flusshexe die Seite gewechselt hat. Wer weiß, was die noch vorhaben. Aber wenn sie ablegen, dann holen wir sie nie wieder ein.“
„Flach, ja… hier an der Furt kann man auf Pferden durch den Darpat reiten. Aber wenn ich vom Gaul falle… Reiten kann ich nicht viel besser als Schwimmen, das weißt du. Und Haldana scheint es ja gut zu gehen. Seit zwei Stunden singt und klampft sie. Scheint eine Feier zu geben an Bord der Flusshexe.“ Das Schiff ist beleuchtet, und die Matrosen gröhlen. Jodokus hat durch das Fernglas gesehen, dass auch Dörfler aus Hausnerhaven an Bord gegangen sind. Das wirkt mir nicht so wie eine Gefangennahme. Wer lässt schon ein Konzert geben und die Gefangene auftreten, das macht doch niemand.“
„Wir wissen nicht, was da los ist, auch wenn uns manches seltsam vorkommt“ stimmte Jodokus zu. „Aber wenn wir nicht nachsehen, werden wir weiter im Unklaren bleiben. Und, nicht zu vergessen… wenn dort viel los ist, können wir vielleicht unerkannt etwas erreichen.“
Inzwischen war auch das letzte Licht der Praiosscheibe hinter den Bergen verschwunden. Die fünf Gefährten waren aus ihrem Lager zwischen den Steinblöcken am Ufer des Darpat aufgebrochen.
„Was willst du damit sagen?“ raunzte Tuvok Rovik an, Jodokus´ Einwurf ignorierend. „Meinst du, Haldana wurde als Sängerin engagiert und singt hier freiwillig?“
„Nein, keinesfalls“ warf Alrik ein. Allein das Lied, mit dem sie angefangen hat. Mit dem herrlichen Text… den muss ich mir echt merken. Das singt sie doch sicher nicht zu Ehren ihres Gastgebers, das ist doch reinster Schmähgesang auf Gerrich. Und auf Golo, warum immer dieser Schiefhals auch besungen wird. Nein, ich weiß zwar nicht, warum da an Bord gefeiert wird, aber immerhin hat es Haldana geschafft, ihre Wärter dazu zu bringen, sie singen zu lassen. So wissen wir, wo sie ist. Und Haldana ist nicht gefesselt, nicht eingesperrt. Und an Bord sind alle abgelenkt und vermutlich früher oder später doch arg dem Trunk zugetan. Wenn wir eine Chance haben, an Bord zu gelangen und etwas auszurichten, dann heute.“
„Schiefhals?“ hakte Tuvok nach. „Ich habe durch das Fernglas einen schiefhalsigen Edelmann an Bord gesehen. Neben Haldana, die man in einem weißen Kleid ausstaffiert hat. Wer ist dieser Schiefhals?“
„Golo von Friedwang-Glimmerdieck. Ein entfernter Verwandter… Eigentlich dachte ich, der wäre tot. Oder zumindest nicht mehr lebendig“ antwortete Alrik.
„Wieso eigentlich haben die Haldana herausgeputzt mit Kleidchen und so? Will Gerrich sie erst schmücken, bevor er über sie herfällt? Warum dann das Konzert an Bord? Was geht da eigentlich vor?“ wollte Jodokus wissen.
„Das würde ich auch gerne wissen“ murmelte Hesindian. „Wir werden es wohl erst herausfinden, wenn wir dort sind.“
Tuvok hatte eine vage Vermutung, was das weiße Kleid und das übrige, was er an Bord gesehen hatte, bedeuten konnte. Aber er sagte nichts. Den Gefährten seine Vermutung mitzuteilen hieße, Haldanas Identität zu lüften. Das konnte er nicht tun. Er hatte Haldana Stillschweigen versprochen.
„Ich könnte mir vorstellen, dass er Haldana als Druckmittel, als Geisel, gefangen gesetzt hat. Um uns davon abzuhalten, seine Pläne mit der Vergiftung zu durchkreuzen“ orakelte Jodokus. „Aber das erklärt die Feier nicht. Bei Travia, wenn ich jemanden gefangen nehme, dann doch nicht, um dessen Musik zu lauschen. Gerrich ist doch kein Musikliebhaber, der seinen Lieblingsbarden gefangen nimmt? Kein schwärmerisches Kind, das von unerfüllter Liebe zu einem Künstler im Bühnenlicht entbrannt ist? Ich meine, so etwas kam schon vor, dass jemand einen Gaukler oder Sänger aus Liebe entführt hat. Aber das ist doch bei Gerrich nicht anzunehmen. Oder? Naja, das würde jedenfalls das Ausstaffieren mit schöner Kleidung erklären. Aber irgendwie ist das nicht überzeugend.“
„Gerrich… oder Golo…“ murmelte Tuvok gedankenschweifend.
„Tuvok, sagtest du nicht, du hättest auch einige Traviabrüder an Bord gesehen?“ wollte Hesindian wissen.
„Ja. Fünf. Der Kleidung nach Laienprediger.“
„Kann das eine Hochzeit sein? Und das weiße Kleid ein Brautkleid?“ rätselte Hesindian, nichts ahnend, dass er sehr nahe bei der Wahrheit war.
„Nun mal halblang, Hesindian. Ich weiß genug über Gerrich. Wenn er eine Gefangene zu seinem Vergnügen nimmt, dann wird er sie vorher nicht heiraten. Außerdem soll diese Sisa Brundel sehr eifersüchtig sein.“ warf Alrik ein.
„Und Golo?“ Fragte Tuvok nach. „Was ist mit diesem Golo? Kann der ein Interesse an Haldana haben?“
„Golo? Nein. Der steht auf Knaben. Vor den Nachstellungen Golos ist Haldana absolut sicher“ beruhigte Alrik den Jäger. „Da müssen wir eher Dich beschützen, mein Freund. Er steht auf schlanke, athletische, groß gewachsene…“
Ein finsterer Blick des Jägers ließ Alrik verstummen. „Auf schlanke Friedwanger Alriks vermutlich“ giftete Tuvok zurück. „Beim Heiraten geht es übrigens nicht immer um Liebe, aber als Baron solltest du das wissen, Alrik.“ Einen Augenblick lang dachte Tuvok nach, ob er die Gefährten über seine Vermutung informieren sollte. Aber er unterließ es. Er hätte länger erklären müssen, wenn er Haldanas Geheimnis um ihre Herkunft offenbaren wollte. Dafür war jetzt ohnehin keine Zeit. Die Furt war ein wenig flussabwärts unterhalb der Nattermündung gelegen. Wie Rovik schon berichtet hatte, waren dort mehrere Inseln im Darpat, der sonst breit, träge und flach dahin floss. Zwischen den ersten Inseln war das Wasser nicht mehr als hüfthoch. Nur der Hauptarm war etwas tiefer, aber dennoch für Pferde hier vermutlich zu durchqueren. Auf der anderen Seite würde man sich von Rahja erst dem Dorf Hausen und dann der dort ankernden Flusshexe nähern.
„Also ich reite voran. Heute oder nie haben wir die Chance, Haldana da raus zu holen“ sagte Jodokus bestimmt. Er baute darauf, dass der Zwerg nicht allein zurück bleiben würde, und dass er, in seltener Einigkeit mit Tuvok, alles daran setzen würde, Haldana zu befreien. Langsam lenkte er sein Pferd in den Fluss, das Pferd Haldanas zog er immer noch am Zügel hinterher.
Rovik brummte kurz und leise, dann gab er seinem Pferd die Schenkel. Es war gut, dass das Pferd auch Jodokus gehörte und es gewöhnt war, den anderen Pferden einfach hinter her zu laufen. So musste Rovik eigentlich nicht viel machen als sich auf dem Rücken des Tieres festzuhalten und versuchen, das Wasser rings um ihn zu vergessen.
Nach dem Zwerg folgte Tuvok. Zuletzt Hesindian und Alrik. Die Strömung war wirklich schwach. Über die ersten drei Inseln zu gelangen war nicht schwer. Jetzt, in der Dunkelheit, waren sie auch außer Sichtweite der Flusshexe. Kein noch so guter Späher hätte sie erblicken können. Das Madamal war hinter eine Wolke verschwunden. Die Dunkelheit verbarg die kleine Schar vor den Augen möglicher feindlicher Wächter auf der Flusshexe.
Keiner der Gefährten sprach ein Wort. Zu sehen waren sie nicht, aber zu hören wären sie sonst für ein geschultes Ohr gewesen. In der Windstillen Nacht hätte ein Lauscher ihre Stimmen hören können. Das leise Plätschern, das ihre Pferde beim Durchreiten des Flusses verursachten, würde im Rauschen des Flusses unter gehen.
Nun übernahm Alrik die Führung, als sie die dritte Insel überquert hatten. Nur noch der schiffbare Hauptarm lag vor Ihnen. Die Lastkähne, die vom Treidelpfad aus stromaufwärts gezogen werden, hatten nicht so viel Tiefgang. Dennoch würde das Wasser höher reichen als nur bis zu den Steigbügeln. Vorsichtig lenkte Alrik sein Pferd vorwärts. Die Hufe tasteten über den Flusskies, tastend nach Halt und guten Tritten. Doch es ging alles glatt. Keine verborgen liegenden Felsblöcke, keine Löcher im Grund. Dass Alrik bis zum Gürtel nass wurde und sein Pferd nur mit Hals und Kopf aus dem Wasser schaute, war nicht schwierig in dem gemächlich hinfließenden Darpat. Das Wasser war auch gar nicht sehr kalt. Ganz anders als der Dergel oberhalb des Ochsenwassers oder die Bäche der Sichelberge. Alrik wunderte das nicht. Immerhin stammte das Wasser aus dem weitesteils flachen und von Praios aufgewärmten See.
Endlich war der Fluss durchquert. Alrik merkte sich die Stelle, aus der er aus dem Darpat auf den Treidelpfad ritt, anhand einer hier stehenden auffälligen Pappel. Bei einer Flucht müsste man nur exakt hier den Rückweg über den Fluss wählen und käme dann schnell zurück auf das rahjawärtige Ufer.
Tuvok, der als nächster aus dem Fluss ritt, zog seine vorsichtshalber wasserfest verpackte Bogensehne auf den Bogen und nickte dem Baron zu. Leise beratschlagten beide und kamen überein, dass man es nicht riskieren konnte, beritten und mit nassen Hosen in das Dorf zu gehen. Das wäre zu auffällig, und man wusste nicht, wie rasch Gerrich dann von Ihnen erfahren mochte, auch wenn er durch die Feier auf seinem Schiff abgelenkt war. Besser war es, am bewaldeten Ufer, durch die Bäume zwischen dem Treidelpfad und den ersten Häusern, hindurch zum Hafen zu gelangen, wo auch die Treidelstation lag und die Flusshexe vor Anker lag. Es mochte die neunte Stunde am Abend sein. Es würde also nicht grundsätzlich auffallen, wenn Personen zwischen Dorf und Hafen unterwegs wären. Aber ebenso musste man damit rechnen, Fremden zu begegnen. Nun, auch die nassen Hosen mussten nicht unbedingt auffallen, so nah an der Furt. Aber man musste nichts riskieren. Es war genug Verkehr entlang des Darpat unterwegs, dass nicht jeder Wanderer gleich mit Fragen bedrängt wurde. Aber… rechnete Gerrich damit, dass sie kamen? Vielleicht nicht, denn sonst würde vielleicht nicht so ein Fest stattfinden? Wollte man sich aber darauf verlassen? Besser nicht. Alrik schob die Gedanken an alle denkbaren Unwägbarkeiten beiseite. Sie standen kurz davor, diesen gefährlichen Giftmischer endlich zu fassen, der Rommilys vergiften wollte. Und wie es aussah waren die Möglichkeiten denkbar gut, an Bord der Flusshexe zu gelangen. Immerhin war Gerrich und seine Mannschaft abgelenkt. Hatte Haldana ihr Nahen bemerkt? Sorgte sie deswegen für eine Feier an Bord?
Rovik und Jodokus waren die letzten der Schar, die aus dem Fluss geritten kamen. Die Gefährten banden die Pferde in einem nahen Wäldchen fest und schlichen dann zum nahe gelegenen Dorf. In der lauen frühsommerlichen Nacht begegnete ihnen niemand auf dem Weg. Das Rauschen des Darpat übertönte jedes Geräusch, so dass sie unbemerkt bis zum Hafen gelangten. Noch immer klang die Musik und der Gesang Haldanas über das Wasser, nunmehr waren die Gefährten auch nahe genug, den Text zu hören. Gerade hatte Haldana mit einem neuen Lied angefangen. Offenbar hatte sie sich jetzt an den Liederschatz des Barden Matthias der Reimende heran gewagt. Hesindian seufzte leise. Naja, nicht gerade sein Lieblingslied. Aber dann hörte er doch zu. Offenbar hatte Haldana den Text abgewandelt.
„Sie raubten mich gegen Mitternacht
Ich hab das hier nicht gern gemacht
Ich will das, will das nicht.“
klang Haldanas Stimme klar zu vernehmen. Unmissverständlich, die Sichlerin sang nicht zu ihrem reinen Vergnügen auf dem Schiff. Aber immerhin ließ man sie gewähren, frei über ihre Lage zu singen. Vielleicht fühlte Gerrich sich sicher und überlegen und störte sich nicht daran. Vom Ufer aus war nicht zu sehen, was an Bord vor sich ging. Dafür lag das Deck zu hoch. Die Brücke, die vom Schiff ans Ufer ragte, war schmal und führte steil nach oben. Man würde im Gänsemarsch laufen müssen, um nach oben zu gelangen. Die Reling lag gut zwei Schritt über ihnen.
„Ich sitz aufm Hocker, spiele noch ein Lied
Damit die Hochzeitsnacht noch nicht geschieht
Ich will das, will das nicht.“
„Also doch eine Hochzeit“ murmelte Alrik leise. „Warum? Was bezweckt Gerrich damit? Oder singt sie das nur in künstlerischer Freiheit…“
„Nein. Das ist eine Hochzeit. Es waren Traviaprediger an Bord. Sie trug ein Brautkleid. Ich kann mir das auch nicht erklären, was Gerrich für einen verrückten Plan verfolgt. Oder was für einen perversen Plan. Jedenfalls, wenn das Lied kein Hilferuf ist, was dann?“ äußerte sich Jodokus. „Wir müssen sie retten“
„Langsam, Baernfarn, langsam“ bremste Alrik. „Überhastete Aktionen helfen Deiner Liebsten nicht. Willst du einfach den Laufsteg hoch und alle an Bord niedermachen? So leicht wird es nicht werden.“
„Gegenüber sitzt einer mit schiefem Hals
Ganz und gar nichts eines Prinzgemahls
Ich will das, will das nicht.“
Also doch Golo, dachte Alrik. „Warum in Travias Namen will Golo Haldana heiraten? Er steht nicht auf Frauen, was will er von einer Sängerin?“
Tuvok brummte und schwieg.
„Wir können auch über die Taue nach oben klettern“ Jodokus zeigte auf die langen Seile, mit denen das Schiff am Ufer an den Pollern vertäut war. „Einer vorne, einer hinten, einer über den Laufsteg. So können wir an drei Stellen aufs Schiff.“
„Auf einmal packte man mich, Riss mich fort im nu,
Er sagte, meine Frau bist jetzt du
Ich will das, will das nicht.“
Klang Haldanas Stimme eher traurig oder eher verzweifelt? Oder bildete sich Jodokus das ein? Eigentlich war der Stimme der Bardin doch nichts anzumerken. Eigentlich war das doch ein schönes Lied, mit mitreißendem Refrain. Der Rommilyser ertappte sich, wie er am liebsten mitgesungen hätte.
„Und ich frag` mich, wie komm` ich jetzt hier raus“
„Wir müssen da rauf“ drängte Tuvok.
Alrik nickte. „Gut. Hesindian klettert am vorderen Seil hoch. Ich am hinteren. Rovik und Jodokus folgen über den Laufsteg. Du gibst uns mit dem Bogen Deckung und ziehst nach. Aber keiner schlägt los, ehe ich das Zeichen gebe. Wir müssen uns erst orientieren an Deck. Es sind auch Dorfbewohner an Bord. Viele, die nicht unsere Feinde sind, und die wir uns auch nicht zu Gegnern machen sollten. Keine überhasteten Aktionen also. “
Verdammt du küsst mich… ich küss dich nicht.
Verdammt das stört mich… das stört dich nicht.
Verdammt ich will nicht… ich will dich nicht
Ich bin nicht Deine Braut.
Die Gefährten gingen auf ihre Positionen, die Alrik festgelegt hatte. Der Friedwanger sah sich unauffällig von seiner Position aus an Deck um.
Verdammt du küsst mich… ich küss dich nicht.
Verdammt das stört mich… das stört dich nicht.
Verdammt ich will nicht… ich will dich nicht
Ich bin nicht Deine Braut.
Leise verklangen die Akkorde.
7. Kapitel
7. Kapitel
Haldanas Geheimnis
Das wütende Summen des Bienenvolkes beruhigte sich etwas. Fast erschien es Haldana, als wären die Immen zufrieden über den Ausgang des Gefechts.
Sie selbst war es auf jeden Fall. Elegant zog sie das Rapier, und musterte ihren verbliebenen Kontrahenten.
Das Gesicht des Schwarzbarts war völlig zerstochen. Der Preis bestand aus vielen gelbschwarzen Bienenkörpern, die zuckend auf dem Boden lagen, wo sie, ihres Stachels beraubt, starben.
Ihr Gegner merkte, dass er entwaffnet worden war, und hob, mit schmerzverzerrten Gesicht, die Hände. Nun, so wie es aussah, konnten sie einen Gefangenen gebrauchen, der, anders als der kläglich wimmernde Ogerbarne, noch reden konnte. Verständlich reden.
"Ergibscht dich?" fragte Haldana, und ließ das Rapier locker ums Handgelenk kreisen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
Das sah sicherlich beeindruckend aus, war aber nichtsdestotrotz ein Fehler. Eine der Bienenkriegerinnen, die noch um sie herum schwirrten, nahm die schnelle Bewegung als erneuten Angriff war. Sie stach zu, genau auf die Waffenhand, tief und schmerzhaft.
Haldana schrie auf, was wenig lustvoll klang, und ließ das Rapier fallen. Entwaffnet von einer Biene, schoss es noch durch ihren verdutzten Kopf, dann warf sich Schwarzbart auch schon auf sie, mit bloßen Händen: Der Bursche war zäher, als sie gedacht hatte.
Durch die schiere Wucht des Aufpralls wurde die Sichlerin umgeworfen, prallte hart mit dem Kopf ins Gras: ausgerechnet auf die rasierte, wenig geschützte Seite. Einen Moment lang zwinkerte sie benommen. Der Bärtige schloss seine zerstochenen Pranken um ihren Hals und drückte zu, wie ein Lustmörder. Vielleicht war er das sogar.
Haldana röchelte verzweifelt und presste ihre eigenen Finger in Richtung Nase und Auge des Mannes. Luft, sie bekam keine...Luft...sie...brauchte Luft.
Die schiere Panik setzte ungeheure Kräfte in ihr frei. Kratzend und um sich schlagend gelang es ihr, sich aus dem Würgegriff freizukämpfen. Eine Biene kam ihr zu Hilfe, die Schwarzbarts Nase attackierte.
"Verdammtes Miststück" brüllte er, als hätte Haldana ihn gestochen, und drosch ihr seine Faust ins Gesicht. Die Sichlerin merkte den Schlag kaum, sondern schlug zurück. Tastete nach ihrer Klinge. Spürte die vertraute Pommel an ihren Fingern.
"Du rasierte Schlampe, ich schick dich zu Boron, wo du hingehörst!" schimpfte ihr Gegner, buchstäblich angestochen, und warf sich auf sie, einen spitzen Stein in der Hand. "Ich schlag deinen hässlichen Schädel zu Brei!" Zumindest versuchte er es.
Eigentlich hatte Haldana ihr Rapier nur gehoben, um Schwarzbart von einem erneuten Angriff abzuhalten. Allerdings hatte der Narr sich geradewegs in die Klinge geworfen, wie ein maraskanischer Selbstmordattentäter. Verblüfft starrte er auf die Waffe, die tief zwischen seinen Rippen steckte. Er verspritzte reichlich Blut, ließ den Steinbrocken fallen und rollte zur Seite.
Wäre Haldana ein Medicus gewesen, hätte ihr das matte Zucken der Beine überhaupt nicht gefallen. So aber konnte sie zufrieden sein mit ihrem Werk.
Bienen brummten umher, verwirrt vom Blutgeruch.
Haldana fühlte sich schummrig. Ihre Nase blutete. Das Dröhnen in ihrem Hinterkopf wurde eher stärker als schwächer, die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Diese große Biene, warum schwirrte sie ständig um ihre Nase? Erst jetzt merkte sie, dass es eine Art Senkblei war, das vor ihrem Gesichtsfeld kreiste. Ein Pendel?! Nein. Ein kleiner, rötlicher Stein, der an einer Lederschnur festgebunden war.
Süßer, schwerer Duft drang an ihre Nase, der kein Blutgeruch war. Der betörende Duft nach Parfüm? Nein, eher nach Wachs.
Haldana runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. Eine himmelblauer Robenärmel, gesäumt mit goldfarbenen Ornamenten.
Ein zeitlos schönes, ockerbraunes, etwas pummeliges Gesicht. Dunkle, schmale Augen. Tiefschwarze Zöpfe, deren Flechtart Haldana ein wenig an die Bienenkörbe erinnerte. Dazwischen ein kahlrasierter Schädel.
Wie aus weiter Ferne erklang eine Stimme, murmelte etwas in einer Sprache, die fremdartig klang und doch vertraut. Der kehlige, leise Singsang erinnerte tatsächlich an Schwarzsychlerisch.
Die Szenerie war...unwirklich. Haldana fröstelte. Irgendwie war ihr kalt.
Tatsächlich, als sie austatmete, hauchte sie ein kühles Dampfwölkchen in die Frühlingsluft über Helbers Hof.
Die kniende Frau lehnte sich etwas zurück, im Schneidersitz, sprach weiter in ihrer merkwürdigen Zunge, die südländisch klang. Irgendwie glänzte sie merkwürdig, der ganze Körper, Haut wie Haare. Wachs, das war Wachs. Die Unbekannte sah aus, als wäre sie aus dem Wachsfigurenkabinett in Havena ausgebrochen (auch wenn Haldana diese Kuriosität nur vom Hörensagen kannte). Vor allem roch sie nach Bienenwachs. Nicht unangenehm, aber doch...ungewöhnlich. "Gewachst" - so hatte Haldanas Großmutter die Mädchen in ihrem Dorf bezeichnet, die sich allzu sehr schminkten und herausputzten. Diese Frau sah aus, als hätte sie geradezu in Wachs gebadet.
Haldana setzte sich auf. Sie atmete jetzt stoßweise, wobei immer wieder kühler Dampf zwischen ihren Lippen hervordrang. Ihre Zähne klapperten.
Hatte sie Fieber? War das hier gerade eine Halluzination? Nein, dort stand noch immer das Bauernhaus, die Bienen schwirrten lautstark umher. Dort drüben lag der niedergeschlagene Tuvok, und der zerstochene Ogerbarne. Auch der tote Schwarzbart lag, fein säuberlich durchbohrt, auf seinem Platz.
"Mir ist kalt, mir ist kalt" flüsterte eine Frauenstimme. Einen Moment lang dachte sie, sie selbst hätte das gesagt.
Dann sah sie die brünette Frau in erdfarbener Tunika, die die Kapuze ihrer Gugel in den Nacken geschoben hatte. Ihr Gesicht war totenbleich. Auf ihrer Stirn prangte eine blutverkrustete Wunde.
"Hallo, Hallo." Ihre Augen irrten umher. "Ich muss zurück zur Baustelle. Wo geht es hier zur Mauer? Ich bin nicht verletzt, ich kann weiterarbeiten. Is nur ein Kratzer..."
Nun sah sie in Haldanas Richtung. Zitterte und schlang sich die Arme um den Körper.
"Mir ischd auch kaald" nickte Haldana. "Wer bischd du? Ainä Patientinn vom Doctorr?"
Die zweite Unbekannte stutzte für einen Moment. Sie schien freudig erstaunt zu sein.
"Du verstehst mich? Du kannst mich hören? Na endlich... Das ist ja wunderbar..."
Die Frau in der Tunika machte einen Schritt auf Haldana zu. Es war, als wehte ein kühler Lufthauch heran. War die Fremde es, die diesen Eishauch verbreitete? Fast kam es ihr so vor.
"Ich muss zurück nach Rommilys. So ein saudummer Unfall. Ich sag noch zum Polier, das Gerüst ist aber arg wacklig. Dann bricht schon alles zusammen. Und dann kommt auch noch der Hammer hinterher. Wenn der mich getroffen hätte. Tot könnte ich sein...hab wirklich Glück gehabt."
"Wie heisisch du?", fragte Haldana. Als sie merkte, dass sie nicht verstanden wurde, wechselte sie auf Hochgarethi:
"Wie ist dein Name?"
"Mia. Mia Herdlieb. Und du? Bist du aus Rommilys?"
"Aus der Sichel...Min Nama isch...Mein Name ist Haldana...Gehört sie zu dir?"
Die Sichlerin wies auf die "Wachspuppe", die sie beide neugierig zu mustern schien, mit freundlichem Lächeln und wachsglänzendem Gesicht.
Sie sagte wieder etwas, in ihrer Sprache.
"Das ist Nasdja. Oder Sybilla. Weiß nicht, wie sie genau heißt...Ich glaub, die ist nicht ganz richtig im Kopf."
Die Frau namens "Nasdja" sagte wieder etwas, leicht ungehalten.
"Moment, du verstehst kein Sichlerisch, Mia? Aber das Kauderwelsch da schon?"
Mia Herdlieb nickte: "Komm aus Aranierberg. Bin quasi auf dem Tulamiden-Basar aufgewachsen..."
"Das ist...Tulamidensprache?"
"Naja, sowas ähnliches, glaube ich. Ein paar Brocken verstehe ich. Ich glaube, sie sagt, sie ist deine Großmutter..."
"Meine Großmutter?!" Einen Moment lang war Haldana völlig verwirrt. Natürlich, der Sturz auf den Hinterkopf...der Fausthieb...vielleicht sogar die Bienenstiche...offenbar war ihr Gehirn völlig durcheinander.
"Ich kenne meine Großmutter...sie hätte sich niemals so...gewachst...alle beide hätten das nicht."
Mia tippte sich an ihren Haarschopf, über der blutigen Wunde: "Vielleicht liegt es ja an deiner Frisur?"
Die stämmige, blasse Maurerin versuchte ein Lächeln, das irgendwie frostig wirkte. Zumindest unterkühlt.
"Du bist verletzt...?" Haldana stand mit wackeligen Beinen auf, schwankte. Das hätte sie sich genauso selbst fragen können. Sie tastete nach der kahlen Hälfte ihres Schädels. Tatsächlich, dort wölbte sich eine ordentliche Beule. Sie musste sich auch um Tuvok kümmern.
"Lass gut sein. Ich hatte Glück im Unglück, dem Heiligen Timorn sei Dank. Dem Krach nach ist das ganze Gerüst ist auf mich drauf gefallen. Muss regelrecht verschüttet gewesen sein...konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Es war schon dunkel, als sie mich ausgegraben haben."
"Ausgegraben?" Irgendwie gefiel Haldana dieses Wort nicht. Ihre vermeintliche "Großmutter" sagte wieder etwas.
"Was sagt sie?"
"Ich verstehe sie nicht" sagte Mia Herdlieb, mit bebenden Lippen. "Kalt, mir ist so fürchterlich kalt...ich muss zurück zur Mauer. Die anderen warten sicher schon. Ist ja nur ein Kratzer. Hab wirklich unglaubliches Glück gehabt...All die Götterläufe keinen Unfall, und dann das...und ich sag noch zu Perainfried, das Gerüst steht irgendwie schief..."
Wieder der kehlige Singsang von Sibylla, Nasdja, oder wie die Kahlschädelige hieß.
"Was sagt sie?" wiederholte Haldana.
"Ich verstehe auch nicht so ganz, was sie meint. Oder wen von uns beiden..."
"Frag sie doch mal, wo sie herkommt"
In holprigen Worten versuchte Mia einen Satz zu bilden...oder besser gesagt einzelne Brocken aneinanderzureihen, die Tulamidisch klangen.
"Sie sagt wieder, sie wäre deine...ich glaube, das Wort heißt Großmutter, aber ich bin mir nicht sicher...irgendwas von vielen Jahren...etwas in der vergangenen Zeit?"
Nasjda nickte, deute erst auf sich und dann auf Haldana: "Mischpacha"
Mia zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit. Irgendeine alte Frau, die ihren Verstand schon lange an Hesinde abgegeben hat. Vielleicht ist sie ja eine von diesen Zahoris? Wir sollten aufpassen, dass sie uns nicht beklaut. Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit...sonst kürzt mir Perainfried den Lohn."
Nasdja-Sybilla schüttelte den Kopf. Wieder "tulamidische" Worte.
"Marb, Marb" Mia wiederholte eines der Worte und schien noch etwas mehr zu erbleichen. "Sie ist wirklich völlig verrückt... marb... nein sowas."
"Was heißt das - marb?"
"Ach, nur Unsinn. Sie behauptet, die ganze Zeit, ich wäre tot...Völlig verrückt, die Alte... richtig unheimlich. Komm, wir verschwinden."
Haldana erstarrte, was nicht an Mias Worten lag. Jedenfalls nicht nur. Vor ihr stand der Schwarzbärtige, ebenfalls totenbleich...mit einer großen roten Einstichwunde im Wanst. Das hätte die Sichlerin noch nicht einmal besonders erschreckt (ein verdammt zäher Bursche war der Kerl schon).
Was sie wirklich beunruhigte, dass seine Leiche noch immer einige Schritt neben ihm lag, in einer großen, roten Blutlache.
"Verdammtes Miststück!" brüllte der Schwarzbart, mit merkwürdig verzerrter, hallender Stimme. "Ich bring dich um!"
Mit zombiehaft erhobenen Händen stürmte der Würger auf sie zu, als hätte er nicht gerade mehrere Spann besten Klingenstahls geschluckt.
"Lass sie in Ruhe!" rief Mia.
Haldana empfing den Angreifer mit einem kräftigen Hieb. Das Rapier flirrte einfach durch ihn hindurch, wie durch dünnen Nebel.
Er selbst huschte durch sie hindurch, als eiskalter Nachtwind.
Die Sichlerin begriff, in einem einzigen Moment des Grauens. Marb.
Ich sehe tote Menschen.
Mit einem Seufzen fiel sie in gnädige Ohnmacht.
Alriks Rapier zuckte vor und glitt genau in den Schlüsselring. Das Frettchengesicht wollte danach grapschen, aber der Friedwanger verbot es ihm mit einer Fingerbewegung. Dann nahm er den Schlüsselbund an sich, der an der Klingenspitze klimperte.
"Soso, Meister Alfengrund hat euch also erlaubt, sich während seiner Abwesenheit um sein Haus zu kümmern?" Alrik rümpfte die Nase, was auch an dem leicht süßlichen Geruch lag, denn das "Frettchen" verströmte. Dessen Schuhe waren völlig verdreckt, wie er nun bemerkte. "Sehr vertrauensvoll von ihm..."
"Irgendjemand muss doch nach den Hunden sehen", sagte sein Gefangener, unterwürfig und falschzüngig zugleich, mit der ständigen "Unschuldsmiene" eines typischen kleinen Gauners.
Alrik hielt mit der Linken den Schlüssel hoch: "Das sieht mir eher nach einem Satz Dietriche aus. Und noch nicht einmal nach einem besonders Guten."
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jodokus und Rovik den vierten Gegner überwältigten und an einen der Deckenbalken fesselten.
Die gute Stube des Bauernhauses war bei der kleinen, aber lautstarken Rauferei ziemlich in Unordnung geraten. Stühle und Tische waren umgefallen, auch eine Flasche Branntwein zersplittert. An den Wänden hingen Kräuterbündel. Hesindian hatte einen weiteren Hund im Sprung erstarren lassen und stellte ihn nun beiläufig auf eine Kommode. Dank einer brennenden Laterne an einem Wandhaken und der halboffenen Tür war es einigermaßen hell. Münzen glänzten auf dem Boden.
"Ich hab ja nicht gesagt, dass das die Hausschlüssel sind": Das Frettchen zuckte mit den Schultern.
Draußen vor der Tür schien es hoch her zu gehen, mit Hundegebell und Geschrei. Zum Glück waren es nicht Tuvok und Haldana, die da schrien.
Nun ja, zumindest hoffte Alrik das. Das wütende Gesumme klang nach Bienen. Natürlich, Haldana, die Imkerin, hatte zu einer Geheimwaffe gegriffen?!
"Soll ich mal rausschauen?" fragte Jodokus besorgt.
"Schau dich erst mal hier drinnen um - sicher ist sicher."
Der Baernfarn nahm die Laterne und ging in die Nebenzimmer.
"Was soll das?" schimpfte der Andere, ein lockenköpfiger Mann, den der Zwerg nun auch noch die Füße an den Balken band (Schnüre waren dank der Kräuterbüschel reichlich vorhanden). Das Auffallendste an seinem Gesicht war die spitze Nase. "Das ist Traviafrevel, den ihr da begeht. Einbruch und Traviafriedensbruch. Wer seid Ihr?"
"Sagen wir, wir wollten auch nur mal kurz nach dem Rechten sehen." Mit dem Fuß schob der Friedwanger die Ochsenzunge zur Seite, die er dem Frettchen gerade abgenommen hatte. "Ich darf die Frage also zurückgeben. Wer seid I h r ?"
"Mein...mein Name ist Willbur Herk. Ich bin der Gehilfe von Doctor Alfengrund. Der Herr Medicus wird wahrlich nicht erfreut sein, wenn er zurückkehrt. Das wird Konsequenzen haben, Herr, äh...?"
Alrik ignorierte die Frage. "Ganz sicher wird das Konsequenzen haben. Fragt sich nur für wen. Ist sonst noch jemand im Haus?"
Jodokus übernahm die Antwort. "Scheint sauber zu sein."
"Sagt an, werter Herr, äh, Herk?" Alrik linste zur Seite. "Wie kann es sein, dass ich vor kurzem schon mal hier war, Ihr aber nicht?"
"Ich wüsste nicht, warum ich diese Frage irgendwelchen... dahergelaufenen... Strolchen beantworten müsste..."
"Ihr sollt sie ja auch nicht Euren Schlagetots beantworten, sondern uns."
"Glaubt mir, wir handeln im offiziellen Auftrag" Jodokus baute sich etwas auf, um die "Spitzmaus" einzuschüchtern. "Von ganz oben..."
Hesindian, der Magus, ließ seinen Zauberstab aufflammen und hielt die brausende Flamme direkt vors Gesicht des Gefangenen. Dann zeigte er ihm das Gildensiegel auf seiner Handfläche und kniff ein Auge zu. "Sagt Euch der Name Informationsinstitut etwas?"
"Informationsinstitut?" Neben dem Fackellicht spiegelte sich Furcht in den Augen Wilburs.
"Ganz Recht."
"Was wollt Ihr von mir?"
"Wie wärs mit - Informationen??! Und erzählt mir nicht, dass Eure Putztruppe zum Staubwischen und Blumengießen vorbeigekommen ist..."
"Nun, wie Roderick, ein weiterer Gehilfe des Herrn Alfengrund, schon sagte." Wilbur Herk reckte das Kinn vor und blickte zum Frettchen. "Sie sind jeden Tag hier, um nach dem Rechten zu sehen, und die Wehrheimer Doggen zu versorgen, die das Haus bewachen. Ich selber wohne im Dachboden, bin tagsüber aber meist im Spital oder bei Patienten...jedenfalls in der Stadt unterwegs. Das Haus liegt nun einmal außerhalb der Stadt, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Zumal in diesen Zeiten."
Jodokus ging auch noch die Treppe nach oben hinauf, mit erhobener Lampe, die rechte Hand an der Klinge. Sicher war sicher.
"Hier oben ist auch niemand" hörte Alrik seine gedämpfte Stimme. "Glaube ich. Ah, ist das dunkel hier". Den Geräuschen nach wurde ein Fensterladen entriegelt.
"Auf der anderen Seite steht ein Fuhrwerk, mit angeschirrten Pferden. Vor der Scheune...
Hesindian schob mit den Füßen die Münzen auf dem Boden zusammen. "Soll das die Entlohnung für Eure Hausmädchen sein?"
Rovik sammelte die Dukaten und Silbertaler zusammen, durchaus etwas gierig: "Mal nachzählen", brummte er. Eine der Taler glitt ihm aus der Hand, blieb in einer Spalte zwischen den Holzbohlen auf dem Boden stecken. Der Hügelzwerg fischte ihn wieder heraus und rümpfte für einen Moment die große Zwergennase. Mit der Axt klopfte er auf den Boden. Es klang hohl. Rovik zückte ein Messer und hob das Brett etwas an. Im Nu stellte sich heraus, dass es wirklich nur dünne Bretter waren, die auf einer Holzluke lagen und sie verdeckten. Der Tisch hatte offenbar darüber gestanden.
Gute Handwerksarbeit, musste der Sohn des Vulkanus zugeben. Die exakt eingepassten, gleichfarbigen Bretter waren von den umliegenden Bohlen kaum zu unterscheiden: Außer wenn man sie "bodennah" untersuchte, so wie er es gerade tat. Das Schummerlicht störte ihn nicht, seine Augen waren Halbdunkel gewohnt. An der Luke war eine kräftige Schnur befestigt, an der er nun zog. Ächzend öffnete sich die Falltür - und gab den Blick auf eine Holztreppe frei.
Der Gehilfe seufzte: "Entweder Ihr sagt mir jetzt, wer Ihr seid, und wer Euch geschickt hat. Wer euch wirklich geschickt hat. Oder ich sage kein Wort mehr."
"Alrik, mein Name ist Alrik". Der Baron packte das Frettchen und schob ihn in Richtung Balken. "Wo ist eigentlich Doktor Alfengrund?"
"Das geht Euch nichts an" schimpfte Wilbur Herk.
"Haben wir noch Seil?" Erst jetzt sah Alrik, dass der Zwerg etwas entdeckt hatte. "Ein Geheimversteck?"
Der Zwerg nickte und war nun ganz in seinem Element.
"Ich werd hier oben auf die Gefangenen aufpassen" sagte Jodokus, der vom Dachboden zurückgekehrt war.
Hesindian ging nach unten, mit Flammenstab. Nach einigen wenigen Stufen standen er, der Zwerg und Alrik in einem Gewölbekeller. Es roch muffig, nach Branntwein - und unangenehm süßlich. Auf einem Kandelaber staken einige Kerzen. Der Magus zündete sie an. Langsam kam Licht ins Dunkel.
Ein großer Tisch. Ein Eimer. Ein kleiner Tisch, auf dem allerhand Klingen, Sägen und dergleichen standen. Regale mit einer Art von Einmachgläsern. Es waren Präparate, die darin in gelblicher Flüssigkeit schwammen: Herzen, Leber, Lungen, Hände, eine Art Riesenwalnuss (ah, ein Gehirn) und sogar ein winziger Säugling - sogar mit Nabelschnur. Hesindian verzog angewidert das Gesicht. "Allweise Herrin, steh uns bei"
"Bei Angrosch" brummte Rovik. "Wer tut so was?"
Alrik nickte: "Ein Anatom. Ganz nette Sammlung, die Alfengrund hier angelegt hat."
"Das...das ist Frevel..." Der Magier blickte kopfschüttelnd in ein einzelnes Auge, das ihm aus einem der "Einmachgläser" anstarrte. "Geradezu niederhöllisch."
"Du bist der wissensdurstige Hesindejünger, nicht ich", sagte Alrik und sah auf den Tisch. Er wollte gar nicht wissen, wie die dunklen Flecken auf der Steinplatte (oder auf dem gestampften Lehmboden) zustande gekommen war. "Jedenfalls gut, dass hier ab und zu jemand zum Saubermachen vorbeikommt."
"Was ist denn das?" Rovik hob seine Axt.
Der Baron zuckte kurz zusammen, als er das Skelett sah, das in der Ecke stand. Und zum Glück stehen blieb. Den Spinnweben nach zu urteilen hatte es sich schon länger nicht mehr bewegt.
Da hatte er schon ganz andere Klappergestalten kennen gelernt...Alriks Knie zitterten dennoch. Trotz seiner kaltschnäuzigen Worte waren auch seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Zeichnungen hingen an der Wand, die keinen Zweifel daran ließen, woran Alfengrund hier unten forschte: Der menschliche Körper, ausgeweidet, gehäutet, durchschnitten, in sämtlichen denkbaren und undenkbaren Variationen. An einem Haken hing die lederne Storchenmaske, die der Baron bereits kannte, sowie eine große, fleckige Lederschürze.
Im Regal daneben fanden sich Schriftrollen und allerhand Büchlein, in die der Anatom Notizen eingetragen oder einzelne Zettel eingefügt hatte: Es ging um Kräuter- und Heilkunde, ein wenig Alchimie und wieder anatomische Zeichnungen, natürlich...ganz hübsch gezeichnet, aber boronsgefällig wirkte das alles nicht. Bishdarielon, sein dunkler Bruder, wäre hier unten durchgedreht, zwischen all der düsteren Pracht, die eines Nekromanten würdig gewesen wäre.
Drei echte Bücher fanden sich auch, neben Schriftrollen: "Wider Boron und Satinav" eines gewissen Hagen von Gunnar, der sich mit der Kunst der Präparation, Mumifizierung und Sezierung beschäftigte, ein tulamidisches Buch über die Heilkunst (mit vielen bunten Bildern), sowie ein Folianth der Kräuterkunde, in einer weniger wertvollen Abschrift.
Hesindian ging fassungslos in der Gruft umher (wie Alrik das sinistre Gewölbe für sich bereits nannte).
Rovik hatte schon wieder etwas entdeckt. Deutliche sichtbare Fußspuren führten in einen Seitengang, mit Fackelhaltern an der Wand. Mit einer Kerze folgte der Angroscho dem Tunnel.
Dem Friedwanger interessierte mehr der Verlauf der Fährte in der anderen Richtung. Tatsächlich, die Fußstapfen befanden sich im gesamten Gewölbekeller. Von dort aus ging die Fährte zu einem weiteren Durchgang, der lediglich mit einem Vorhang verdeckt war. Alrik nahm sich eine einzelne Kerze (sein Hofmagier war gerade an einem großen Schrank zugange) und trat ein.
Eine große Holzkiste stand auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, sondern auf großen Eisblöcken, die den etwas tiefer gelegten Kellerboden bedeckten. Um ein Haar wäre Alrik ausgerutscht. Auch an den Wänden stapelte sich Firuns Element - und glitzerte überderisch im Kerzenlicht. Oder gespenstisch. Mit einem Stoßgebet an den "Unfassbaren Schleicher" schlitterte der Friedwanger auf die Kiste zu. Unter seinen Füßen war das Eis ziemlich schmutzig, und auch der Sarg dreckverschmiert (dass es sich um einen solchen handelte, daran zweifelte der Mondschatten nicht mehr, schon allein aufgrund des zartsüßlichen, modrigen, erdigen Geruchs).
Einen Moment lang kämpfte Alrik mit seiner Totenangst und schlichtem Ekel. Schemenhafte Bilder flackerten vor seinem inneren Augen. Klauenhände, die sich durchs Erdreich wühlten. Von unten. Wandelnde, schlurfende Tote. Menschliche Leiber, in jeder Phase der Zersetzung, stöhnend, ächzend, wankend.
Der Baron schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerungen. Wahrlich, er hatte schon in Schlachten gekämpft, in denen Dutzende halb verwester Leichen auf ihn zu gestapft waren. Gerade deswegen wusste er normale Verstorbene zu schätzen. Wer einen Toten auf Eis legte, war vermutlich kein Totenbeschwörer.
Dennoch stellte er die Kerze ab und hielt sein Rapier griffbereit, als er den Sarg öffnete (immerhin stand da draußen das Unheiligtum einer Erzdämonin). Der schien aufgebrochen worden zu sein: von außen, was schon mal gegen einen allzu lebendigen Inhalt sprach.
Der Friedwanger klappte die Kiste auf. Der zarte Verwesungsgeruch war erträglich, ebenso der Anblick. Eine brünette, totenblasse Frau mit blutverkrusteter Stirnwunde, Allerweltstunika und Gugel. Kräftig, etwas untersetzt. Weder hübsch, noch hässlich. Einfach nur tot, und schon ziemlich steif und aufgedunsen. Die Augen hatte sie geschlossen, der Mund war nur leicht geöffnet. Die Tote wirkte irgendwie überrascht, das war alles. Lange war sie noch nicht verblichen, höchstens ein paar Tage. Die paar welken Blumen, die man ihr in die geschwollenen Hände gedrückt hatte, waren noch als Gänseblümchen zu erkennen.
Der Abscheu, den er empfunden hatte, wich Mitleid. Alrik war alles andere als ein Moralist - aber die Störung der Totenruhe war nun wahrlich kein Kavaliersdelikt. Der Geweihte schlug das Boronsrad. Natürlich, dass da oben waren Leichendiebe, die Doctor Alfengrund Nachschub geliefert hatten.
"Alrik, das solltest du dir ansehen" hörte er Hesindians Stimme aus der Gruft. Der Baron war froh, den Sargdeckel wieder schließen zu dürfen. Vorsichtig verließ er die eisige, rutschige Grabkammer.
Rovik kam gerade aus dem Tunnel zurück. "Führt rüber in die Scheune" sagte der Zwerg und klang etwas enttäuscht
"Schaut euch das an!"
Der Magier hatte den großen Bauernschrank geöffnet und gab den Blick auf den Inhalt frei. Eine Gestalt kauerte im Schrankinneren, nicht unähnlich den Präparaten in den Regalen. Allerdings schwamm sie nicht in Gebrannten, sondern duftete zart nach Honig. Nein, eigentlich nach Wachs.
Die Frauenmumie mit den Überresten schwarzer Zöpfe saß in einer Art Meditationshaltung da, im Schneidersitz, und war schon ziemlich verschrumpelt. Der Kopf war kahl, das gelbliche Gesicht eingefallen, ihr Gewand zerschlissen und verwittert. Es schien mal eine bläuliche Färbung gehabt zu haben. In den Händen hielt sie ein rötliches Steinchen, dass an einer grauen Lederschnur hing, die um die klauenähnlichen, verdorrten Finger gewickelt war. Ein Stück der Nase war abgebrochen.
"Bei der Süßen scheint der Honigmond schon etwas länger vorüber zu sein", hörte Alrik sich sagen. Vorsichtshalber legte er die Hand auf das Rapier. Aber auch diese Verstorbene wirkte völlig friedlich - abgesehen davon, dass sie schon weitaus länger das Zeitliche gesegnet zu haben schien als ihre Nachbarin in der Kiste.
"Eine norbardische Zibilja", flüsterte Hesindian, durchaus fasziniert. "Vielleicht sogar eine alte Alhanierin. Die haben in der Zeit vor Bosparans Fall auch am Ochsenwasser gelebt. Erstaunlich gut erhalten...nur die Nase ist ein bisschen lädiert."
"Das Leichengeschnibbel verstehe ich ja noch irgendwie. Aber was will ein Medicus mit einer...einer kandierten Norbardin im Schrank?" Alrik schüttelte den Kopf, während Rovik große Augen machte.
"Eine Wachsmumie...die Norbarden konservieren so ihre Toten, wenn die Sippe auf Wanderschaft ist. Und keine Möglichkeit hat, sie in einem Hügelgrab beizusetzen. Wir sollten ein bisschen aufpassen: Al´Hani-Mumien haben manchmal ein Eigenleben. Bislang war der Schrank abgesperrt."
"Die soll nur mal zucken" brummte der Zwerg und klopfte auf seine Axt.
"Drüben liegt noch eine Tote. Aber die sieht etwas frischer aus. Sicher, dass die Norbarden die gute Frau hier in Honig eingelegt haben...und nicht unser feiner Doctor mit seiner Vorliebe für Bienen?"
"Wie du schon sagtest. Diese Mumie muss Jahrhunderte alt sein, oder noch älter. Vielleicht wollte Korwid an ihr alhanische Konservierungstechniken studieren. Oder sie zu Mumia Vera pulverisieren...In seinem Peraineeifer ist er zuletzt jedenfalls ziemlich weit gegangen. Gelehrte wie er sind die klassischen Kandidaten für erzdämonische Einflüsterungen..."
"Mumia Vera?"
"Mumienpulver...hilft angeblich gegen alles Mögliche. Wegen den magischen Ingredienzen, mit denen die alten Tulamiden ihre Mumien...naja...haltbar gemacht haben. Was Satinavs Hörnern widersteht, verzögert auch die Alterung der Lebenden."
"Da bevorzuge ich doch lieber Gallyser Ogermeth."
Ein greller Aufschrei von oben ließ das Trio zusammenzucken: "Haldana! Um Firuns Willen!"
Das war Jodokus.
"Ah, endlich bist Du wach"
Haldana zwinkerte und erahnte eine schemenhafte Gestalt neben sich. Natürlich, der Schwarzbart hatte sie niedergeschlagen, und sie erwachte erst jetzt aus ihrer Ohnmacht. Sie hatte wirklich seltsame Halluzinationen gehabt.
Merkwürdig nur, dass sie stand. Neben Nasdja oder Sybilla, die ziemlich klein und untersetzt war, wie sie nun bemerkte.
Entsetzt starrte sie auf ihren Körper, der bleich und regungslos auf dem Boden lag, wie schlafend. Oder tot.
Marb. Das klang schon nach Marbo.
Sie starrte auf ihre Hände, die irgendwie...unstofflich wirkten. Zart und durchscheinend.
"Entschuldige, Kindchen, aber das erleichtert unsere Verständigung ungemein", plauderte die "Wachsfrau" los, mit angenehmer, aber irgendwie seltsamer Stimme. Sprach sie wirklich? Auf merkwürdige Weise konnte Haldana keine Worte, geschweige denn Sprache, wahrnehmen - und verstand doch, was "ihre Großmutter" von ihr wollte.
Sie fühlte sich leicht und luftig, während die Welt um sie herum merkwürdig entrückt wirkte.
Das Summen und Brummen der Bienen war intensiver als zuletzt, fast schon eine Brücke in die Welt der Lebenden. Alles um sie herum wirkte grau, fahl, schemenhaft, unfassbar, in eine Art ewiges Zwielicht getaucht.
"Bin ich tot?" fragte sie in Richtung ihrer Begleiterin. Ihr momentanes Dasein fühlte sich unwirklich an, aber keinesfalls unangenehm. Sie war wie berauscht, schlafwandelnd oder in einem Traum gefangen. Sumus Schwere war vollkommen von ihr abgefallen. Da war nur eine Ahnung, dass es irgendwo um sie herum noch etwas Anderes gab. Eine noch leichtere, hellere, unbeschwertere Welt, die ihr einstweilen verwehrt war.
"Bin ich tot?" wiederholte sie ihre Frage, mit irritiertem Blick auf die leere Hülle, die ihr Körper sein sollte.
Da war noch etwas in der Nähe. Etwas ungemein Beunruhigendes, Alptraumhaftes, was sie nicht wahrhaben wollte. Geschweige denn sehen.
"Tot? Nein. Jedenfalls nicht besonders". Die Frau winkte ab. "Im Vergleich zu den beiden da."
Tatsächlich, dort drüben standen Schwarzbart und Mia, und gestikulierten wild herum.
"Tot, ich bin tot" rief der Gassenstrolch und raufte sich die immateriellen Haare, mit Blick auf seine Leiche.
"Das Miststück hat mich umgebracht. Einfach abgestochen..wie ein Tier. Das war kein rondrianischer Kampf. Stein gegen Schwert...pfui, wie unfair."
"Ich muss wieder an die Stadtmauer" sagte Mia, die kräftigen Arme in die Seite gestemmt. "Ich bin ja wohl nicht gestorben. Keine Leiche. Also nicht tot. Ganz einfach."
"Moment, moment", sagte Haldana. "Da komme ich jetzt nicht so ganz mit. Warum hat sich Mia vorhin mit dir auf Tulamidisch unterhalten, wenn sie doch...marb ist? Während wir uns auch so verstehen..."
"Alhanisch. Das war Alhanisch" sagte Nasdja. "Nun. Der Grund warst Du. Für einen Geist ist es ein bisschen schwer, sich gleichzeitig mit einer Geisterseherin und einem anderen Geist zu unterhalten. Das stört den Einklang der Seelen. Deswegen musste ich dich zu uns auf die andere Seite holen. Um ehrlich zu sein: Ich habe einst auch eure Sprache gesprochen. Nur wollte ich erst einmal zuhören."
"Moment. Ich verstehe gerade nur Beilunker Reiter-Station. Bin ich gerade gestorben? Ich meine...warum sollte ich gestorben sein? Vor Schreck ganz bestimmt nicht."
In diesem Moment hatte der Schwarzbärtige sie entdeckt. "Hervorragend, ich habe mich gerächt...wenn ich schon in die Niederhöllen fahre, dann wenigstens nicht allein...Haha...das Miststück habe ich wenigstens noch mitgenommen."
"Halt einfach den Mund!" Nasdja hob ihr Pendel und ließ es kreiseln. Das schien den Wüterich irgendwie zu beeindrucken. Zumindest war er nun wirklich still.
"Das heißt, wir beide sind gar nicht tot, Haldana und ich?" Mia begann freudig zu lächeln. "Wusste ich es doch."
Nasdja seufzte. "Ich weiß nicht, was dein Eindruck von Geistern ist, Haldana… aber auf dieser Seite sind sie noch schrecklicher."
"Wer bist du?"
"Nasdja Persanzeff. Eine norbardische Wissende. Bei meinem Volk nennt man unsereins Zibiljas."
"Ah" sagte Haldana, ohne wirklich zu verstehen.
"Eine Zauberin. Ich bin es gewohnt, mich ohne diesen lästigen Ballast da fortzubewegen" Sie wies auf die toten Körper. "Das war ich schon zu Lebzeiten. Ich muss sagen, du bist erstaunlich gefasst. Andere reagieren auf die... Trennung anders. Wahrlich, du bist eine würdige Enkelin. Naja, Urenkelin...Ururur...ach, vergiss es...Zeit wird gemeinhin überschätzt." Die Norbardin winkte ab. "Der Fluss der Zeit ist ein ewiger Kreis, weißt Du, keine Linie, die irgendwann abbricht. Die meisten Sterblichen verstehen das nicht."
"Ich bin...Moment... ich verstehe schon das andere nicht. Das mit der Ururur… Ich soll eine Nachkommin von dir sein?"
Die Zibilja tippte auf ihren kahlen Schädel. "Höre in der Welt der Lebenden ruhig auf die Stimme deines Verstandes. Aber niemals zu sehr. Wenn du auf das Flüstern deines Blutes lauscht, was hörst du da? Du hast ein Gespür für Bienen, die heiligen Tiere der Mokoscha. Du trägst dein Haar wie ich. Naja, fast. Und du liebst Musik, so wie wir den Klang der Tamburka lieben, der Darabutschka und des Scharanko. Und du reist mit einem Jäger umher, in dessen Adern nivesisches Blut fließt. Wahrlich, dir hätte ein Platz in unserem Seffer Manech gebührt."
"Pfefferwas?"
"Unser Sippenbuch."
"Warum sehe ich plötzlich Gespenster?"
"Die Herrin Hesinde möge mir verzeihen. Aber manchmal hindert uns ein Übermaß an Klugheit und Vernunft daran, all die Dinge um uns herum so zu sehen, wie sie wirklich sind. Zumindest mehr zu sehen als andere. Manchmal braucht es einen kleinen Schlag auf den Kopf, um hinter den Vorhang des Verstandes zu blicken. Oder ein paar kleine Bienenstiche, je nachdem..."
"Irgendwie ist das für mich alles ein bisschen zu viel. Ich würde gerne wieder in meinen Körper zurückkehren, bevor mich die anderen für tot halten."
"Ach, halb so wild. Ich war damals auch völlig durcheinander, als sich meine Vorfahrin offenbart hat. Unsere gemeinsame Ahnin. Im Traum war das, als wir im Sommerlager am Ysli-See schliefen. Eine Barnfarnja, die in einem Hügelgrab zu Füßen der Berge beigesetzt ist, die du deine Heimat nennst. Ihr letzte Ruhestätte wurde geschändet, von Grabräubern. Sie haben eine Schriftrolle gestohlen, mit uraltem Wissen, das keinem Unberufenen in die Hände fallen darf. Mokoscha, unsere Göttin der Bienen, hat eine dunkle Schwester, die Angst, Sieche und Plage über die Menschen bringt. Du hast ihre Macht bereits kennengelernt."
Nasdja deutete in Richtung der Felder, dort, wo der unheilige Schrein stand. Nun wusste sie, dass von dort das Gefühl ständiger Beunruhigung ausging, dessen Quelle sie beharrlich ignoriert hatte.
Tatsächlich schien in dem Häuschen etwas Abgründiges zu lauern. Ein finsterer, giftiger, fauliger Schatten, den nur die Seele wahrnehmen konnte, nicht das Auge. Ein kaltheißer Mahlstrom, der endgültig aus der Welt führte. Dahinter war nur noch Wispern, Flüstern, Rascheln. Das Scharren Myriaden zarter Füßchen.
Haldana fürchtete sich - eine körperlose, aber umso tiefere Furcht. Irgendeine unsichtbare Kraft schien an ihr zu ziehen, zu zerren, sie einsaugen zu wollen, hinein in ein wimmelndes, beißendes, stechendes Nest.
Tatsächlich, Schwarzbart war schon dabei, langsam, aber stetig auf das Unheiligtum zuzutreiben, mit wehenden Geisterhaaren.
"Was, zum Namenlosen...? He, aufhören..."
"Seine Seele ist verderbter, als ich dachte" sagte Nasdja und klang traurig.
Der Bärtige begann zu schreien, zu heulen und zu kreischen. Dann verwirbelte er zu einer Art grauem Rauch - und wehte auf den Mahlstrom zu. Wenig später war er im Schlund verschwunden. Wurde einfach vom Nest verschluckt. Von einem unsichtbaren Schwarm eingehüllt und zerfressen.
Mia blickte entsetzt, und stemmte sich dem Grauen entgegen.
"Merkst du nun, dass es schlimmere Dinge gibt als den Tod, Mia? Weitaus schlimmere Dinge?" Nasdja winkte den anderen Geist zu sich heran. "Komm näher. In meiner Nähe bist du sicherer. Aber dein Leichnam sollte endlich beerdigt werden."
Die Maurerin huschte verstört näher. "Was ist das?"
"Der Weg in den Abgrund. Mokoschas Schwester hat uns entdeckt. Noch ist ihre Macht gering, selbst hier, in dieser Zwischenwelt, aber sie wächst stetig. Ja, ich glaube, ich sollte dich jetzt wirklich in deinen Körper zurückschicken, Haldana." Die Zibilja stellte sich zwischen die Sichlerin, Mia und dem Unheiligtum. Sofort ließ der unheilvolle Sog nach.
"Lange Zeit bin ich umhergewandert, auf der Suche nach der Schriftrolle. Eine andere Zeit, eine andere Welt und doch bleibt sie immer die gleiche. Denn die Zeit ist ein großer Kreis. Viele Winter ist das nun her, mehr als ich zählen kann. Irgendwann habe ich das verborgene Wissen gefunden und gehütet. Ich hätte das Pergament sofort verbrennen sollen. Damals erschien es mir fast schon heilig. Viele Jahre habe ich in der Sichel gelebt, mit Gemahl, Kindern - und Bienen.
Aber dann kam es, wie es immer geschieht, wenn große Furcht auf noch größere Dummheit trifft. Dein Volk hat mich vergiftet, weil es meine Zaubermacht gefürchtet hat. Vergiftet mit Honig. Hexe, so haben sie mich genannt. Kahle Hexe und Praiosfrevlerin aus dem finsteren Ysilien. Als ob nicht auch die Schwarzsichler Alhanier unter ihren Vorfahren gehabt hätten. Und doch gab es im Sichelvolk Menschen, die ihr Herz nicht verschlossen haben. Dazu gehörte auch Brûn, dein...nun ja, nennen wir ihn ruhig Großvater. Auch er war ein überaus gelehriger Schüler. Ein Mann muss eine Frau wohl von ganzen Herzen lieben, um ihre starre Leiche in Wachs zu hüllen, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Er hat das Ritual genauso ausgeführt, wie ich es ihm gelehrt habe. Nur meinen Körper zurück zu bringen, zu meiner Sippe, das vermochte er nicht. Es war die Zeit, als die letzten Norbarden aus den Wäldern Taubriens vertrieben worden sind, von den Eiferern des Praios, die damals in Gareth herrschten. Vertrieben worden sind, erschlagen oder verbrannt. "
Haldana schluckte. Diese Frau war ihre direkte Vorfahrin? Nun, eine gewisse Ähnlichkeit war da, auch ohne rasierte Haare. Zumindest das Gefühl von Vertrautheit. Sonst hätte sie dieses wahrliche gespenstische Zusammentreffen nicht so gelassen hingenommen. Wann hatte...Nasdja gelebt? Sie wusste wenig von Geschichte, aber von den Priesterkaisern hatte sie bereits gehört. Die Ereignisse mussten schon viele Hundert Jahre her sein.
"Erst wollten sie meine Mumie ins Feuer werfen. Aber dann hatten sie Angst, dass meine Zauberkräfte zurückkehren würden, sobald das Wachs schmelzen würde. Diese Narren. Also haben sie mich in irgendeinem Verlies eingemauert, mitsamt der Schriftrolle, deren Siegel und Zauberzeichen sie fast noch mehr gefürchtet haben als mich. Ich kann mich kaum noch an die Zeit in der endlosen Finsternis erinnern. Nur manchmal vermochte ich ein bisschen umher zu wandeln. Irgendwann fiel wieder Licht herein. Es war Sisa, die das Mauerwerk durchbrochen hat, mit ihren Helfern."
"Sisa die Schwarzhexe?"
"Ja, Sisa Brundel. Ich glaube, sie ist ebenfalls eine Nachfahrin von mir. Für dich ist wäre sie dann eine Art Schwester." Die Zibilja lächelte und kratzte sich die Nase. "Ich weiß nicht, warum Sisa mich gesucht hat, noch weniger, wie sie mich gefunden hat. Aber nun gut, wir Norbarden haben Sinn für Familiengeschichte. Unsere Nachkommen dann wohl auch. Einen Sinn für norbardische Traditionen hat Sisa nicht. Ich kann mich nur schemenhaft erinnern, was danach passiert ist. Die Schriftrolle hat sie an sich genommen, und mich wohl verkauft, an diesen verrückten Schamanen mit der Storchenmaske. Ich glaube, das ist alles noch gar nicht so lange her. Aber Zeit..."
"Ist ein Kreis, keine Linie, ich verstehe" sagte Haldana. "Was steht in dieser Schriftrolle?"
Sie blickte irritiert um sich. Irgendwie schien die Welt gerade noch dunkler zu werden. Immer neue Schatten krochen heran. Als würden Gewitterwolken aufziehen und sich vor die Sonne schieben (die Sonne, wo war sie überhaupt? Da war nur dieses ewige, matte Zwielicht. Langsam bekam sie Angst. Irgendwie hatte sie auch keinen Boden unter den Füßen mehr).
"Du solltest nun rasch in deinen Leib zurückkehren. Sonst verlierst du dich bei uns. Bring meine Überreste in ein würdiges Norbardengrab. Vor allem: Finde und vernichte diese Schriftrolle. Ich habe verstanden, dass sich nicht machtvolles Wissen darin verbirgt, und keine höhere Erkenntnis. Sondern nur Wahnsinn, Elend und Schrecken. Die beiden Schwestern sind ungleich. Leider."
"Was steht darin geschrieben?"
Nasdja seufzte. Sie schien sich von ihr zu entfernen, immer weiter hinein in die Schattenwelt, ebenso wie die völlig eingeschüchterte Mia.
"Die Grüne Wolke" hauchte die Zibilja.
Irgendeine Urgewalt packte Haldana, ohne jede Vorwarnung. Sie schrie, voller Furcht, sie könne ebenfalls in das sieche Nest gezogen werden, hinab in den wimmelnden Abgrund.
HALDAAANAAAA! UM FIRUUUNS WILLEN!
Es war die Stimme von Jodokus. Eine Biene summte an ihr vorbei. Eine Biene?
Noch ein wenig verschwommen sah Haldana, was sich rings um Sie abspielte. Einige Bienen schwirrten noch umher, beruhigten sich aber nach und nach wieder.
„Firun gedankt, Haldana“ stammelte Jodokus. „Ich dachte schon du seist tot. Du bist voller Blut“ Erst jetzt blickte die Bardin an sich herab. Tatsächlich war ihre Bluse und Hose mit Blut regelrecht vollgesogen.
„Das isch vom Schwarzbart…“ hauchte Haldana matt. „Ich hab nichts abb´kommen… oder doch?“ Stöhnend fasste sie sich mit der Linken an die blutverschorfte Beule an ihrem Kopf. Fühlte sich seltsam an. So dick, als wäre ein Geschwür aus dem Schädel gewachsen.
„Du musst einen mächtigen Schlag abbekommen haben“ erläuterte Jodokus.
„Wie lang` lieg` ich hier?“
„Oh, sicher zwei Stunden. Ich habe Rovik losgeschickt mit einer Nachricht nach Rommilys. Die Büttel sollen die Gefangenen abholen und weiter verhören… ach, das weißt du noch gar nicht. Dieser angebliche Heiler hat sich hier als Leichenfledderer betätigt. Dieser Schwarzbart und seine Kumpane haben ihm sein, ähm, Anschauungsmaterial vom Boronanger beschafft. Im Keller hat Doktor Korwid sein Labor… gespenstisch, wie es da aussieht. Eingewachste Leichen. Ekelhaft.“
Eingewachste Leichen… dachte Haldana und erinnerte sich an Nasdjas Worte. Seltsam, was diese geisterhafte Norbardin zu ihr gesagt hatte, erinnerte sie an die Abschiedsworte ihrer Mutter, als sie sie auf die Reise geschickt hatte. „Du musst in die Fremde ziehen, um die Heimat zu finden“ hatte ihre Mutter, nach der sie auch ihren Namen Haldana bekommen hatte, gesagt. Begann sich hier, das Schicksal zu erfüllen?
„Mutt`r…“ begann Haldana, stockte aber plötzlich. Das war nichts, worüber sie mit dem Stadtadeligen reden konnte. „Tuvok?“ fragte Haldana stattdessen.
„Der Jäger, ja. Der ist wieder wohlauf. Hat ein paar Bisswunden von den Hunden davongetragen, aber ich schätze der Bursche ist zäh. Alrik hat ihn verbunden. Mach Dir mal keine Sorgen, das wird schon.“
Haldana fühlte sich eher beunruhigt, sie hatte das Gefühl, man wolle ihr einen vielleicht tatsächlich kritischeren Zustand des Gefährten verschweigen. Haldana seufzte. Jodokus reichte ihr hilfsbereit seinen Wasserschlauch. Ohne wirklich Durst zu haben, trank Haldana.
„Was ist mit Deiner Mutter?“ Jodokus versuchte, sich einfühlsam zu zeigen.
„Hmm“ brummte die Bardin. Jodokus wusste nicht, ob Haldana erschöpft oder schlicht einsilbig war, und ob er vielleicht doch besser nicht nach der Mutter gefragt hätte. „Als ich weg`gang`n bi vo daheim, ich hab´ `s G´fühl, meine Mutt`r het gwisst, was uf mi zukomm`n werd… Hier mit diesem Unheiligtum und… du würdest es nicht verstehen. Du bist nicht aus der Sichel.“ Haldana mühte sich, wieder Hochgarethi zu sprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass der Stadtadelige den Dialekt nicht ganz verstand.
„Ich mag in Rommilys wohnen, aber ich komme aus Gallys“ warf Jodokus ein. „Mein Onkel Veneficus wird nicht umsonst das lebende Geschichtsbuch der Schwarzen Sichel genannt.“
Haldana nickte. Von dem alten Gallyser Magus und seinem profunden Wissen über die Geschichten und Mythen aus längst vergangenen Zeiten hatte sie gehört.
„Na gut“ begann Haldana. „Hat dein Oheim dir die Geschichte der norbardischen Seherin Nasdja erzählt?“ fragte sie, mit einer Mischung aus der Erwartung, Jodokus seine Unwissenheit vorzuführen und der vagen Hoffnung, doch etwas zu erfahren.
„Nein… Die Seherin Nasdja sagt mir jetzt nichts. Was nicht heißen muss, dass Veneficus nichts darüber wüsste.“
„Dann kannst du es auch nicht verstehen.“ Haldana begann, das Erlebte als Geschichte zu erzählen. Dem nüchternen Städter zu erzählen, sie habe mit Toten gesprochen käme dem Versuch gleich, sich selbst als reif für das Noionitenkloster darzustellen.
„Nasdja war eine Seherin der Norbarden, ich weiß nicht vor wie vielen Jahrhunderten. Vielleicht in der Zeit der Priesterkaiser, vielleicht noch früher. Vielleicht ist es auch eine Vorfahrin meiner Familie, aber das ist nicht gewiss. Manche sagen es, aber das mag auch nur eine Geschichte sein. Wie vieles, was nur aus Überlieferung beruht. Jedenfalls… man sagt, dass Nasdja zwei Töchter hatte. Die zweite, von der sagt man, dass sie sich finsteren Mächten verschrieben hatte. Auch diese hatte Nachfahren, die, so sagt man, noch bis heute. Nun… irgendwie hat mich die Schwarze Hexe, diese Sisa Brundel, von der Baron Alrik erzählt hat, daran erinnert. Ich musste an die Geschichte denken, als ich von Sisa Brundel gehört hatte. Kann aber auch Einbildung sein. Es klang halt nur ähnlich wie diese alte Geschichte. Nun… entweder spielt mir die Fantasie einen Streich, oder die Schwarze Hexe und ich sind tatsächlich beide Nachfahren der alten Seherin Nasdja. Dann wäre es kein Zufall, sondern Schicksal.“
Jodokus nickte. „Nun ja, die Wege der Götter sind unergründlich, wie man so schön sagt. Die Wege der Zwölf ebenso wie die Wege der Alten, wie mein Großonkel hinzufügen würde.“ Der Stadtadelige fügte den letzten Satz bewusst hinzu, da er nicht wusste, ob Haldana insgeheim - wie wohl auch sein Onkel Veneficus - den alten Göttern anhing. Er wusste, dass die Sichler vielerorts nur an der Oberfläche den Zwölfen anhingen, dies aber mit vielen alten rituellen und kultischen Glaubensinhalten verknüpften, was aber niemand offen sagte, und vielleicht auch nicht jeder wusste, der nur aus Tradition an derlei kultischen Handlungen teilnahm. Nicht jedenfalls seit der Herrschaft der Priesterkaiser.
„Aber eine schöne Geschichte. Nun, ob es tatsächlich eine solche Verbindung zwischen Dir und der Schwarzen Hexe gibt, werden wir vielleicht nie erfahren.“
„Was sagtest du vorhin? Eingewachste Leichen?“
„Ja. Zwei Frauenleichen. Eine davon mumifiziert. Die andere offenbar erst jüngst gestorben. “
„Wie sah sie aus?“
Jodokus verstand nicht recht, was Haldana an den Verstorbenen so interessierte. „Irgendwie norbardisch…“ stammelte er. Warum gerade jetzt Haldana die Geschichte von einer norbardischen Seherin erzählte, wenn zeitgleich eine norbardische mumifizierte Leiche gefunden wurde. Jodokus verstand nicht, was vor sich ging. Aber es schien wichtig zu sein. Auch wenn er sich keinen Reim darauf machen konnte, wieso Haldana gerade jetzt von dieser Geschichte sprach. Die Leiche der Norbardin hatte sie ja nicht gesehen. Das ganze kam ihm seltsam vor.
Das Klappern von Hufen auf dem steinigen Karrenweg ließ Haldana aufhorchen. Auch Jodokus sah auf. Offenbar kamen die Büttel aus Rommilys, die Rovik verständigt hatte.
Erst jetzt bemerkte Haldana, dass Jodokus die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte. Hastig zog sie sie zurück und stand auf.
***
Mit elegantem Schwung beförderte der Büttel die Fackel durch die Tür des Bauernhauses. Einen Moment lang tat sich nichts. Nur ein einzelnes, rötliches Feuerauge blinzelte hinaus in die blauschwarze Nacht, die mittlerweile über Helbers Hof hereingebrochen war. Zarter Rauch stieg auf und verwehte.
Alrik glaubte für einen Moment, der Brand im Inneren wäre wieder erloschen, trotz des Reisigs, der Holzscheite, des Strohs und des Lampenöls aus den Vorräten von Doctor Korwid Alfengrund. Dann begann es wieder zu flackern und zu qualmen.
Zwei weitere, hell lodernde Fackeln folgten, die durch die geöffneten Fensterläden geworfen wurden. Rasch wuchs das Glimmen im Inneren an, zu einem machtvollen Glosen. Die ersten Feuerzungen loderten empor. Es rauchte und qualmte. Nach kurzer Zeit stand das Haupthaus in Vollbrand. Schnatternd und zeternd flatterten Amseln auf, die in der Nähe geschlafen hatten. Irgendwo in der Ferne belferten Hofhunde.
Langsam wurde es heiß, und fast schon taghell. Funken schwirrten umher, wie Glühwürmchen. Hesindian wich zurück, hob die Hand, um seine Augen vor dem Feuerschein zu beschützen und hustete nervös. Die Szene kam ihm allzu zu bekannt vor: mit dem Unterschied, dass er vor kurzem noch im Inneren eines solchen Glutofens gestanden hate.
Alrik paffte scheinbar unbewegt seine Fuchskopf-Pfeife. "Scheint, der Feuerteufel geht wieder um, in Rommilys"
"In Rommilys und um Rommilys und rund um Rommilys herum". Stockend murmelte der weißhaarige Magier den alten Zungenbrecher.
Der Baron verwedelte den Tabakrauch, und blickte wieder zu den Brandstiftern. Die Stadtwache, so hatte er das Dutzend Frauen und Männer für sich selbst genannt. Aber eigentlich sahen sie aus, wie sich Klein-Alrik Spione von KGIA oder FDEA vorstellte. In ihren schlichten, graubraunen Kapuzenmänteln erinnerten sie fast ein wenig an einen Mönchsorden. Eine strengblickende, schlanke, schon etwas ältere Frau in Räuberzivil schien ihre Anführerin zu sein. Ihre Haare hatte sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, die Körperhaltung war kerzengerade. Sie unterhielt sich leise mit Jodokus.
Die berittene Truppe, die aus der Stadt herbeigeeilt war, durfte man mit Fug und Recht als Putztruppe bezeichnen. Ein Teil von ihnen hatte die Gefangenen und die Beweismittel mitgenommen, außerdem die beiden Toten auf dem Pferdefuhrwerk fortgeschafft. Nun war "Thorwalsches Aufräumen" angesagt.
Nur die Wachsmumie war ihnen entgangen: Haldana hatte partout darauf bestanden, sie in einer Truhe zu verstecken - Phex wusste, wohin sie die Kiste geschleppt hatte, zusammen mit Rovik. Wahrscheinlich in den Geheimgang unter der Scheune. Auch die Bienenstöcke durfte niemand antasten.
Nach ihrem Schlag auf den Kopf war die Sichlerin immer noch völlig durcheinander. Die Wachsmumie habe ein norbardisches Begräbnis verdient, behauptete sie steif und fest. Wie auch immer sie diese Trauerfeier bewerkstelligen wollte.
Der Mondschatten wies mit der Pfeife auf den jungen Patrizier und die fremde Frau: "Jodokus scheint unsere geheimnisvolle Unbekannte zu kennen." Der Friedwanger wich nun ebenfalls vor dem Hitzeschwall zurück. "Vielleicht seine Zofe oder Kindermädchen" sagte er, mit schiefem Grinsen. "So respektvoll, wie er mit ihr spricht."
"Das ist Halike Rattel", antworte der Graumagier. "Die stellvertretende Spektabilität des Informations-Instituts."
"Oha. Du kennst sie auch?"
"Vom Namen her. Ich habe sie kurz auf dem Flur getroffen, in der Akademie. "
"Und nun taucht sie hier auf, zu nachtschlafener Zeit? Ohne Stab, ohne Robe, wie eine Borbaradianerin? Widerspricht das nicht sämtlichen Magiergesetzen?"
"Pssst, nicht so laut" Der Hofmagier schien ernsthaft eingeschüchtert zu sein. "Die Informationsmagier sind nunmal ...diskret unterwegs, im Dienst des Reiches".
"Ich dachte, die gehören zu den rundherum Guten...den Weißen...den praiosgefälligen Magiern." Leichter Spott schwang in der Stimme des Friedwangers mit, während er paffte und einen einzelnen Funken von seinem Mantel wischte, der vom brennenden Haus heran geweht war
"Selbst Praios verbirgt sich vor unwürdigen Blicken, hinter Wolken oder blendendem Licht"
"Sagt Hesindian von Orweiler?"
"Ist ein Zitat von Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod. Glaube ich..."
"Mein ehemaliger Wehrheimer Graf. Manchmal vermisse ich ihn. Ebenso wie das schöne Wehrheim selbst. Das waren noch Zeiten… Der Götterfürst war für Dexter also nur ein Blender? Soso..."
Eifrig verwedelte Alrik die lästerlichen Worte vor seinem Mund, wie es der Aberglaube verlangte. Bevor sie gen Alveran aufzusteigen vermochten.
Dabei hatte er nichts gegen Blender und Hochstapler, rein gar nichts.
Halike Rattel betrachtete ihr Zerstörungswerk, die Hände hinter dem Rücken, wie eine Feldherrin auf dem Kommandantenhügel.
"Helbers Hof wird von einer Räuberbande niedergebrannt, heute Nacht, schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre...wie überaus bedauerlich..." sagte sie.
"Vermutlich wird Doctor Alfengrund nach dieser Schreckensnacht verschwunden bleiben. Für immer. Womöglich ist er im Feuer verbrannt, vielleicht einfach nur weitergezogen. Wenn Ihr versteht, was ich meine?"
Die Weißmagierin wandte sich wieder dem jungen Baernfarn zu.
"Ich dachte eigentlich, Ihr wolltet Euch geradewegs auf die Suche begeben, nach ihm und dem Hexer von Rommilys? Ich hätte mich derweil schon um Korwids Rattennest gekümmert..."
"Nun, wie es scheint, sind wir gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen" Jodokus versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. "Immerhin haben wir eine ganze Bande von Leichendieben dingfest gemacht."
"Wir sind das Informations-Institut, nicht die Informations-Agentur", sagte die Magistra Magna. "In den letzten Götterläufen sind unsere Möglichkeiten leider begrenzt. In der Stadt sind wir dabei, die Storchenschwingen zu überprüfen. Ein paar übereifrige Spitalknechte und -Mägde, Feldscher und Peraine-Akoluthen, mehr nicht. Fanatische Peraineanhänger, die sich regelmäßig zur Leichenschau getroffen haben, an geheimen Orten, wie diesem hier. Nicht gerade göttergefällig, aber auch kein Kapitalverbrechen. Hinweise auf Dämonenbündelei oder Verrat an Alveran gibt es bislang keine. Mir wurde schon nahegelegt, meine Untersuchung nicht über Gebühr auszudehnen. Vor allem nicht über die Stadtgrenzen hinaus. Bei Hofe scheinen sie zu glauben, dass wir vom Institut nur Vorwände suchen, um uns in die Geschicke der Mark einzumischen oder gleich eine neue KGIA aufzubauen." Halike verkniff den Mund. Zumindest letzteres hätte sie vermutlich gerne in die Wege geleitet.
"Am Greifenplatz würden sie am liebsten die Bannstrahler von der Leine lassen. Das Wort Inquisition ist auch schon gefallen. Sie fragen bereits nach Raberto und dieser Maraske, oben im Palastkerker. Das kann gefährlich werden, sobald der Name Eures Braumeisters fällt. Wenn sich Geißler auf Hexenjagd begeben, bleibt es meist nicht bei einer Anklage. So wie es jetzt aussieht, wird die Auslieferung noch ein paar Tage aufgeschoben. Immerhin wurde der Andergaster bei seiner Verhaftung verwundet. Allerdings legt unser Institut Wert auf ein gutes Verhältnis zum Orden vom Bannstrahl..."
"Wolltet Ihr das Diebespärchen nicht in Hôt-Alem loswerden?" Jodokus schluckte. "Das hört sich eher nach dem Feuer eines Scheiterhaufens an, als nach der Hitze des Tiefen Südens..."
"Wenn es nur das wäre. Mein Gesprächspartner im Orden hat schon Andeutungen gemacht. Nun, wie seltsam es doch ist, wenn..." Halike hüstelte verlegen, was nicht nur am Rauch des brennenden Bauernhauses lag. "Wie merkwürdig es doch ist, wenn eine, öhött, ältere Dame wie Eure Frau Gemahlin mit einem derart jungen Ehemann verheiratet ist, wie Ihr es seid. Warum Euch Eure Gemahlin derart verzaubern würde.... verzaubern, das war exakt das Wort."
Einen Moment lang war Jodokus ehrlich empört. "Was soll das jetzt wieder heißen? Ich liebe Irmelinde von Herzen. Wir wurden vor Travias Altar getraut und sind rechtmäßig Mann und Frau... überhaupt, wir beide sind in dieser Angelegenheit ja wohl Opfer, nicht Täter..."
"Gemach, Gemach" Halike hob die Hand. "Gehen wir ein Stück? Am besten dort entlang."
Die Magierin wies den Weg, und Jodokus trottete schicksalsergeben hinterher.
"Seid unbesorgt", fuhr die Magierin fort. "Wir leben nicht mehr in der Zeit der Priesterkaiser. Wo ein bloßes Gerücht genügt hat, um rechtschaffene Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen."
Und ihr Vermögen in die Kasse des Praiostempels, fügte der Händler in Gedanken hinzu.
"Seid gewiss, dass ich zu Eurem Gunsten gesprochen habe. Und einige Informationen noch zurückhalten werde. Schon meine `Drohung´ Raberto magisch heilen zu lassen, hat die Situation entspannt." Halike schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst. "Dennoch. Euer Ruf in Rommilys würde sicher Schaden nehmen, falls die Sache hochkocht. Das Beste wird sein, wenn Ihr selbst die wahren Übeltäter dingfest macht, mit Euren Gefährten. Oder gleich unschädlich. Damit hätten wir zwei Heshtots mit einem IGNISPHAERO ausgetrieben, wie man bei uns an der Akademie so schön sagt. Das Informationsinstitut setzt sich nicht den Verdacht aus, draußen in der Mark Reichsgroßgeheimrat spielen zu wollen. Ihr wiederum könnt den Praiosdienern beweisen, dass Ihr nichts mit den schwarzmagischen Umtrieben zu tun habt, im Gegenteil. So ist Thron und Altar in gleicher Weise gedient."
Jodokus nickte. Aus irgendeinem Grund schien er bei der gestrengen Halike ein Stein im Brett zu haben. Das konnte er spüren. Vielleicht lag es daran, dass die Magierin den Marsch der Tausend Oger hautnah miterlebt hatte. Es war kein Geheimnis, dass Baron Odilon Wildgrimm von Gallys, sein Großvater, heldenhaft gegen die Menschenfresser gekämpft hatte, an der Trollpforte. Womöglich hatte er sogar den Fährhof der Rattels vor den keulenschwingenden Ungeheuern gerettet. Irgendwie kam ihm die Geschichte bekannt vor.
Schon der Gedanke, Meister Krummbacher an die Inquisition auszuliefern, war ihm unangenehm. Der Rommilyser war in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen. Sicher. Aber Krummbacher war selbst erpresst worden, seine Familie befand sich immer noch in Gewalt des Medicus, und damit vermutlich auch des Hexers und dieser Sisa Brundel. Es würde ihm, seinem Dienstherren, nichts anderes übrig bleiben, als die Flucht nach vorne anzutreten. Und die Sache aufzuklären.
Sie gingen den Feldweg entlang auf das Unheiligtum zu, in das die "Gugelmänner" eifrig Reisig, Stroh und Brennholz schichteten, im Schein einiger Lampen, zu einem regelrechten Scheiterhaufen. Die Szene erinnerte tatsächlich an eine nächtliche Hexenverbrennung. Nur dass die Statue der Bienenkönigin in Flammen aufgehen sollte, keine Schadenszauberin aus Fleisch und Blut. In der Nähe schnaubten und stampften die Pferde. Es war ein gespenstisches, unwirkliches Schauspiel. Die Hitze des Feuers im Rücken und die Kühle der Nacht im Gesicht waren ein merkwürdiger Kontrast. Der junge Baernfarn schauerte.
"Ein paar Tage Vorsprung wird man Euch gewähren" sagte Halike. "Ach ja. Ich habe erfahren, dass vor kurzem die Flusshexe gesichtet worden ist, in Rommilys. Diese schwimmende Spielhölle. Offenbar ist sie doch nicht im Krieg verbrannt. Jedenfalls nicht vollständig. Sie hat vor ein paar Tagen im Hafen angelegt, mit einer Ladung maraskanischem Rum, Getreide und Gewürze. Wie es heißt, hat sie im Gegenzug ein paar Dutzend Fässer an Bord genommen."
"Kennt man den Inhalt?"
"Pechfässer. Aber sie waren allesamt leer. Das Schiff hat nach ein paar Stunden wieder abgelegt."
"Um demnächst Nachschub an Tlalucs Brodem in die Stadt zu bringen?"
"Nun, laut Hafenmeister ist sie mittlerweile in Perricum registriert. Papiere wären in Ordnung gewesen. Die Besatzung hätte aber schon sehr verwegen ausgesehen...Es gab Ärger in ner Hafenkneipe, wo sie Kaiser Valpos Entzücken gespielt haben."
"Valpos Entzücken?"
"Ihr seid Besitzer einer Brauerei, und kennt das Trinkspiel nicht?" Halike griff nach einer Fackel. "Man folgt dem Trinker auf seiner Rundreise durch die 13 alten Provinzen des Reiches, nach der Thronbesteigung. Von Albernia bis Maraskan. Für jede Provinz steht reihum ein Glas Schnaps auf dem Tablett. Jedesmal eine landestypische Spirituose. In Darpatien trinkt man Traviagünstchen."
Jodokus verzog das Gesicht. Traviagünstchen, das trüborange Zeug. Schmeckte mild, verursachte aber einen niederhöllischen Kater. Zumindest bei ihm war das der Fall gewesen. "Ihr seid wieder mal bestens informiert, für eine Magierin der Weißen Gilde..."
"Wie ich schon sagte, wir sind das Informationsinstitut - und mit sämtlichen Ränken des Bösen vertraut. Außerdem, ich war auch mal Elevin...Bei unseren Trinkspielen ging es aber doch etwas friedlicher zu. In der Kaschemme wurde ein Messer gezückt, gleich hinter den Nordmarken. Es war wohl die billige Variante des Spiels. Wie es heißt, gab es nur Trollzacker Birnengeist, in allen Provinzen. " Die Magierin warf die Fackel in den Schrein.
"Die Rauferei kommt uns aber gelegen. Der Messerstecher saß noch in der Arrestzelle, oben in der Hauptwache, und konnte befragt werden. Die Flusshexe gehört mittlerweile dem Handelshaus Warrlinger. Hat aber noch einen stillen Eigner, der sich in Rommilys um das Geschäft kümmert. Sie wird jetzt als Treidelschiff eingesetzt - darpatabwärts wird gesegelt, mit Mast. Flussaufwärts wird sie von Darpatbullen gezogen, den Leinpfad auf der Trollzacker Seite entlang. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches."
Jodokus nickte. Warrlinger, das war ein reiches, vor allem einflussreiches Perricumer Handelshaus, das in Khunchom am mächtigen Maraskankontor beteiligt war, zusammen mit Stoerrebrandt, Dhachmani und Gerbelstein. Das Handelshaus Romerzi machte ab und an Geschäfte mit ihnen. Die Warrlingers, oder besser gesagt ihre Mittelsmänner, wirkten auf ihn schon etwas hochnäsig, durchtrieben und rücksichtslos. "Wenn man mit Warrlinger verhandelt, stürzt am Ende der Rechenschieber um", hieß es bei seinen Kontoristen. So ein Flussschiff auf dem Darpat zählte im Maraskankontor sicher nur als kleiner Fisch, bei dem am Ende nur die Bilanzen interessierten.
"Nun, mit leeren Fässer den Darpat hinab zu fahren, das ist schon etwas ungewöhnlich", meinte Jodokus.
"Sie soll Pech aus den Trollzacken übernehmen, ein paar Meilen darpatabwärts. An der ersten Treidelstation hinter der Einmündung der Natter. Und die Ware dann nach Perricum bringen, für die Werften. Zum Kalfatern der Schiffe."
"Moment. Die Flusshexe will runter ans Meer?" Der Rommilyser wurde hellhörig. "In eine Hafenstadt? Mit den Pechfässern? Das heißt, womöglich wollen die Paktierer Tlalucs Brodem über ganz Aventurien verbreiten… und damit den Schrecken der Seuche?!!"
Halike sah versonnen zu, wie die Flammen des "Scheiterhaufens" züngelten und das Feuer langsam hochbrannte. "Nun, ein Handelsherr wie Baldo Warrlinger dürfte über jeden Verdacht erhaben sein. Ein echter Mäzen und Wohltäter, nach allem, was man so hört. Sicherlich kein Dämonenpaktierer, der halb Dere ins Chaos stürzen möchte. "
"Er muss davon ja nichts mitbekommen, in seiner noblen Villa am fernen Perlenmeer. Es genügt, wenn sein Miteigner in Rommilys die Entscheidungen trifft. An Bord einer Schivone oder Trireme würde Tlalucs Brodem eine unglaubliche Panik auslösen. Damit könnte man die halbe Perlenmeerflotte lahmlegen. Sagtet Ihr nicht, die Flusshexe hatte Rum an Bord? In einem Fass Offenbarung der Zwillinge würde das Zeug ebenfalls nicht auffallen."
"Sagt das mal einem stolzen Maraskaner des freien Shikanydad. Nun denn. Bislang ist das nichts weiter als Spekulation. Aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie Praiodane Werckenfels zu sagen pflegt. Man sollte der Sache nachgehen."
Jäh brüllten die Flammen auf, mit giftgrünem Glanz. Selbst die Magierin hob erschrocken den Arm, als das Innere des Unheiligtums entflammte. Eine Art Schreien und Kreischen war zu hören. Jodokus schlug hastig den Firunspfeil. Schwarzer Rauch stieg auf, verwirbelte, bildete bizarre Schatten. Dem Baernfarn standen die Haare zu Berge. Welche Mächte hatten sie hier geweckt?
Alrik und Hesindian waren der Magierin und dem Patrizier in einigen Schritt Abstand gefolgt.
Der Mondschatten hatte dennoch fast alles mit angehört, dank seines füchsischen Gehörs. Jedenfalls genug, um sich aus dem Rest einen Reim machen zu können. Auf den letzten Schritten lenkten ihn Rovik, Tuvok und Haldana ab. Die Sichlerin stand totenbleich vor ihm, wie ein Geist.
"Wie gehts es dir?" fragte Alrik, ehrlich besorgt. Zwei Stunden in Borons Dämmerland, das war durchaus nicht normal. Aber ernsthaft verletzt schien die junge Frau nicht zu sein.
"Desch letzti was i brauch, isch där Medicus" Die Sichlerin versuchte einen Scherz und lächelte tapfer. Dann hatte sie den mit Brennmaterial vollgestopften Schrein entdeckt. Furcht breitete sich in ihrem Gesicht aus - eine Angst, die nicht von dieser Welt war.
"Wasch hat Jodokus voor? Kännt är die Frau?"
"Er scheint viele einflussreiche Leute zu kennen, in Rommilys", sagte der Friedwanger ausweichend. Irrte Alrik sich, oder hörte er Eifersucht aus Haldanas Stimme heraus? Immerhin, der junge Edelmann schien auf ältere Damen zu stehen. Oder vielleicht auch nur auf das Vermögen alter Damen, aber wer wollte schon danach fragen.
Eine strahlende Schönheit war die stellvertretende Akademieleiterin nicht mehr, aber sie besaß durchaus Charisma.
Halike Rattel hatte eine Fackel ergriffen, warf sie beiläufig ins Holz und plauderte ungerührt weiter. Alrik langte sich mit der linken Hand nervös an den Kragen und "sprach" mit den Fingern der Rechten ein stummes Gebet zu Phex, in der Zeichensprache Atak.
Er wollte noch eingreifen, aber es war schon zu spät. Die Vize-Spektabilität hatte nicht das gesehen, was er gesehen hatte, mit den Augen eines Geweihten. Was er gespürt hatte. Vermutlich war die "Zartfüßige" mit den Insektenaugen für die Magistra einfach nur ein Götzenbild. Er wusste, dass dahinter mehr lauerte. Ein Abgrund, der geradewegs in die Niederhöllen führte. Die Macht einer gefallenen Unsterblichen.
Diese Kraft ist nicht von dieser Welt.
Im nächsten Herzschlag fauchten giftgrüne Flammen empor. Haldana schrie auf, stopfte sich die Faust in den Mund. Rovik und Tuvok blickten einfach nur erschrocken. Wenn die Kapuzenmänner verstört waren, ließen sie es sich nicht anmerken.
Es stank zum Peraineerbarmen. Schwarzer Rauch quoll aus dem Scheiterhaufen. Die Menschen husteten und keuchten. In der Mitte thronte die Königin, Herrscherin des Untergangs, und lächelte huldvoll. Einige bange Momente lang glaubte der Mondschatten, die Statue wäre auf widernatürliche Weise gefeit. Aber dann griff das Feuer doch auf das Holz über. Die Farbe begann abzublättern und zu verwehen. Die Facettenaugen glühten, in fiebrigem, schwefelfarbene Glanz. Wispern, Rascheln, Nagen, Summen. Hörte Alrik die Geräusche wirklich, oder gab es sie wieder nur in seinem Kopf? Die Figur, die gerade noch menschenähnlich gewesen war, verformte sich. Wurde zu einem grotesken Etwas, das seine Gestalt mit jedem Herzschlag zu verändern schien, in der flirrenden, hitzegeschwängerten Luft. Der Tiegel zerbrach, wie eine faule Frucht, entließ eine Art von Hornissenschwarm. Die meisten der Insekten verbrannten. Drei oder vier der Plagegeister stürzten sich wutsummend auf Alrik, den Geweihten, bohrten ihre Stachel in seine Haut und verschwanden, wie eine Halluzination. Auch Rovik und Jodokus wurden gestochen. Sie schlugen um sich, schrien und schimpften.
Das… das ganze Ding brannte jetzt lichterloh, wie eine Fackel. Mit einem ekligen, matschigen Geräusch platzte das Götzenbild auseinander, brach in sich zusammen. Schleimige, gelbe Maden, wuselnde Kakerlaken, fahlgraue Asseln, feiste Gruftkäfer quollen heraus, ein einziges, wimmelndes Knäuel, das zischend, knackend, zappelnd in der Feuersbrunst verschwand. Alrik war sich keineswegs sicher, ob das Geziefer aus derischer Substanz bestand. Der Gestank nach Fäulnis, Schwefel und Verwesung, der sich mit dem finsteren Rauch verbreitete, war nicht von dieser Welt. Ascheflocken wirbelten umher, oder war es schwirrendes Kroppzeug?
Haldana war wie gelähmt und spürte nichts. Die Hornissen schwirrten an ihr vorbei, ohne sie auch nur zu berühren. Einen Moment lang glaubte sie den Schwarzbart im Qualm zu erblicken, der noch einmal nach ihrem Innersten griff, wie ein Ertrinkender nach der rettenden Planke. Jäher Wind kam auf, zerriss die fetten Schwaden zu kleinen Fetzen und trieb sie auseinander.
Der Pesthauch ließ nach.
Rumpelnd brach das Dach ein. Nach einiger Zeit war es fast ein normales Feuer, das in der Ruine brannte.
"Was hast du dir dabei gedacht?" Jodokus rieb sich seinen Hals, wo ihn eines der Biester gestochen hatte. Sie waren in den Keller unter der Scheune gegangen, ein paar krumme Stufen hinab. Aus dem Gang, der zum Bauernhof hinüberführte, roch es nach Rauch, aber das kleine, muffige Gewölbe war nur wenig verqualmt. Mitten im Keller, im Schein der Laterne, stand die Truhe. "Du willst die Mumie mitnehmen?"
"Wir brauche a Saumpferd", stellte Haldana fest. "Un festi Tragrieme..."
"Ein Packpferd?" Der junge Patrizier war vollkommen perplex. Waren mittlerweile eigentlich alle verrückt geworden? "Wir sollen mit... mit einem Sarg hinüber in die Trollzacken reiten?" Mit der freien Hand nestelte er eine alte Spinnwebe aus seinem Gesicht.
"Isch vielleichd die Mumi von de Nasdja" sagte die Schwarzsichlerin und klang trotzig wie ein kleines Kind. Irgendwo raschelte eine Maus.
"Warum sollte das die Mumie von deiner... deiner angeblichen Vorfahrin sein?" Irritiert sah der Baernfarn auf den halbrasierten Schädel seiner Angebeteten, wo noch immer die riesige Beule prangte.
Trug die Bardin deswegen so eine abscheuliche Frisur? Weil sie sich einbildete, von einer norbardischen Seherin abzustammen? Die vertrocknete Leiche in der Kiste war sogar kahlrasiert. Alles überaus beunruhigend. Bereits der Gedanke, heute Nacht in der Scheune schlafen zu müssen, über einer solchen Gruft, war mehr als unangenehm. Mit einer Mumie durch die zwölfgöttlichen Lande zu reisen, sprengte für ihn endgültig die Grenzen des Vorstellbaren.
"Du bist völlig durcheinander" stellte Jodokus nüchtern fest. "Wir sollten jetzt nach oben und noch ein paar Stunden schlafen. Ruh dich etwas aus, morgen schaut die Welt ganz anders aus."
Sie hatten kurz beraten und sich dann entschieden, in der Scheune zu übernachten, die recht geräumig und immer noch voller Heu und Stroh war.
Tuvoks Wunden schmerzten offenbar niederhöllisch, auch wenn Hesindian behauptete, dass sie nicht allzu schwer waren.
Reiten wäre für ihn eine Qual. Auch die Sängerin schien eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Es war besser, hier zu bleiben, bevor sie endgültig dem Delirium verfiel.
Beide hatten sich geweigert, einen Heilzauber auf sich sprechen zu lassen: Tuvok offenbar aus abergläubischer Furcht vor Magie, Haldana, weil sie störrisch und uneinsichtig war. Hesindian schien diese Weigerung keinesfalls unangenehm zu sein. Der machtvolle Zauber, den er vor kurzem auf Alrik gesprochen hatte, schien sehr viel von seinen Kräften aufgezehrt zu haben.
"Obe in de Schüür isch a kleins Wägeli" Haldana kratzte sich nachdenklich am Kopf, gleich neben der Beule. "Da könnt i desch Pferd vorspanne..."
"Der wackelige Karren? Damit kämen wir nicht mal nach Rommilys... Haldana, es ist gut… die Gardisten werden morgen noch einmal zurückkehren, und das Ding da entsorg... mitnehmen... du solltest dich jetzt wirklich etwas ausruhen."
"I fuel mich gued." Haldanas Augen funkelten empört. "Wirkli!"
Lag da plötzlich ein anderer Glanz in ihren Augen? Was für ein närrisches, wunderbares, dralles, pralles Bauernkind...
"Haldana!" Jodokus stellte die Laterne ab und fasste der Bardin an die Schultern.
"Lass mi! Mi gehts gued!" Die Sichlerin versuchte sich frei zu winden, weitaus weniger energisch, als es ihre Worte vermuten ließen.
Jodokus spürte ihren warmen, angespannten Körper unter seinen Händen. Eigentlich wollte er dieses... dieses verrückte Mädchen wieder loslassen.
Dann überkam es ihn einfach, als hätte die Göttin Rahja (oder ihr Sohn Levthan?) die Macht über seine Glieder übernommen. Über sämtliche Glieder.
Er zog sie an sich, presste seine Lippen auf ihren feuchten, sinnlichen Mund, versank vor Wonne stöhnend in einem tiefen Kuss. Seine Finger glitten die Schulter hinab, bis zu den Hüften und wieder hinauf, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten.
Nur kurz bäumte sich Haldana in seinem Griff auf, eher spielerisch als widerwillig. Sie wuschelte durch seine Haare.
Rötlich flackerte das Licht der Laterne. Hastig riss Jodokus Haldana die Kleider vom Leib, als befänden sie sich in einem lauschigen Schlafgemach in Rommilys. Glühend heiß überflutete sie die Wollust, raubte ihnen beiden den Verstand. Mit nacktem Hintern und barbusig prallte Haldana auf die Truhe, Jodokus suchte ihren Schatz der Rahja und riss Haldana mit seiner Leidenschaft einfach mit sich. Haldana fiel in einen Taumel von Leidenschaft und Neugier und öffnete seine Kleider.
Ich betrüge gerade meine Gemahlin, auf einer Truhe mit einer uralten vertrockneten Norbardin, dachte Jodokus. Nein… nicht Norbardin, und nicht uralt. Bardin und jung…
Das war der letzte klare Gedanke, den er fassen konnte.
Haldana schrie kurz auf. Es war, als würde eine Biene sie in den Unterleib stechen. Nur schmerzhafter. Und zugleich unendlich viel schöner. Sie vermochte nicht zu entscheiden, ob Schmerz oder Freude überwog. Vorsichtig bewegte sie ihr Becken im gleichen Rhythmus wie der Städter, so wie sie es hin und wieder bei der kessen Magd Rimhilde gesehen hatte, die sich des Öfteren mit den Knechten in der Scheune vergnügt hatte. Als Kind hatte Haldana Rimhilde öfters dabei überrascht und neugierig beobachtet. Ob sie es so richtig machte? Haldana war unsicher, ließ sich treiben im Strudel der Gefühle… Es tat weh. Haldana biss sich auf die Lippe. Zwischen dem Schmerz fuhren aber auch Wellen eines ungekannten Glücksgefühls durch ihren Körper.
Langsam, aber dennoch unvermeidlich ließ durch den nicht nachlassen wollenden Schmerz der Rausch nach, der sie eben noch erfasst hatte. Wie durch einen Nebel drangen soeben noch entfernt liegende Gedanken aus dem tiefsten verborgenen ihres Verstandes wieder in den Vordergrund.
Was tat sie da eigentlich? Und dann ausgerechnet mit Valyrias Ziehsohn! Ein Traviafrevel der besonderen Art. Wie konnte sie so ungehorsam sein? Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, auf sich acht zu geben. Was würde nun sein? Was war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden… Es muss am Bienengift liegen, dachte Haldana. Es war das gleiche Gefühl, das sie durchdrang, wenn sie bei der Imkerei von Bienen gestochen wurde. Durch den Schmerz wurde ihr bewusst, wie sie lebte, und daher liebte sie das Gefühl genauso wie sie es fürchtete. Und es versetzte sie immer wieder in einen Rausch. Vorhin in den Rausch des Tötens. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt. Auch wenn es im Kampf war und gegen einen unheiligen Feind, das erste Mal einen Menschen zu töten enthemmte einen Menschen, der Krieg und Kampf nicht gewohnt hatte, auf das Heftigste. Und die Begegnung mit der norbardischen Seherin… war das Wirklichkeit oder Traum gewesen… Das alles schien zu viel für sie gewesen zu sein, wie sonst hätte sie sich solcherart enthemmt gehen lassen können?
Nunmehr hatte der Zustand der Ekstase bei Haldana völlig nachgelassen. Sie erstarrte, machte die langsam stoßenden Bewegungen des Stadtadeligen nicht mehr mit.
Jodokus war offensichtlich verwirrt darüber, dass seine Gespielin die Lust verloren zu haben schien. Er verstand auch nicht, warum. Wie hätte er das auch? Aber er ließ nicht nach in seinem Tun. Sei es, dass er hoffte, sie erneut zum lustvollen Treiben zu motivieren, sei es, dass er selbst schon so sehr in Ekstase verfallen war, dass er nicht mehr inne halten konnte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht mehr, Haldana in lustvollen Rausch zu versetzen.
Leidenschaftlich küsste er die Bardin auf den Mund. Seine Lippen glitten weiter herab auf den Hals. Jodokus Atem ging schnell. Sanft streichelten seine Finger die Angebetete, so wie er wusste, dass es allen Mädchen, mit denen er bislang sein Lager geteilt hatte, gefallen hatte. Jodokus war keiner, der nur an sich dachte. Er genoss es, einem Mädchen Freude zu bereiten und er konnte es selbst nur halb so sehr genießen, wenn das nicht gelang, auch wenn er selbst, von seiner eigenen Erregung übermannt, schon seine Freude gehabt hatte. Allein, es gelang ihm nicht, in Haldana wieder Lust zu entfachen.
„Hör` uf“ murmelte Haldana leise.
Jodokus, der ohnehin zuvorderst mit dem Gedanken weiter machte, der Gespielin doch noch Freude und Gefallen zu bereiten, hielt in der Bewegung inne und sah der Bardin in das hübsche Gesicht. Es schien, als habe diese zu nahe am Wasser gebaut, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
„`S hett nit g`schehe derf`n. Ab´r die Bienenstich`, d`r Rausch des Tötens, i hen mi nit unt`r Kontrolle g`hebt.“
„Aber warum, Haldana? Meine Gefühle sind echt…“ fing Jodokus an.“ Jodokus vermutete, dass die Bardin störte, dass er verheiratet war. In der Sichel waren die Moralvorstellungen oft weit konservativer als in einer Großstadt wie Rommilys, mochte es hundertmal den Haupttempel der Travia beherbergen.
„Meine Ehe ist politischen Interessen geschuldet, das ist so, wenn man von Stand ist. Aber mein Herz ist bei…“ begann Jodokus. Dann bemerkte er das Blut auf dem Oberschenkel der Bardin. Er hatte in seiner Leidenschaft nicht gemerkt, dass es für die Bardin das erste Mal war. Er hätte auch nicht damit gerechnet. Haldana war sicher achtzehn oder neunzehn Lenze alt. „Verzeih… ich wusste nicht...“
Dann machte Jodokus einen Satz nach vorne und stolperte, da er sich mit seiner herunter gelassenen Hose nicht abfangen konnte. Er fiel über einige Strohballen. Sein Gesäß tat ihm weh, als hätte man ihn mit einem schweren Stiefel getreten.
„Hundsfott, liderlicher“ hörte Jodokus Tuvok rufen. „Dass du dich nicht schämst!“ herrschte der Jäger ihn an. „Ich hätte den Bogen nehmen sollen um dir in den Arsch zu schießen statt nur zu treten!“
Jodokus kroch, so gut das ging, tiefer in das Stroh hinein, um sich vor dem wütenden Nivesen in Sicherheit zu bringen. Erneut stolperte er über seine eigene Hose. Wieder trat Tuvok zu. Jodokus schrie und krümmte sich vor Schmerzen. Der Tritt hatte gesessen.
„Eifersüchtig?“ brachte Jodokus hervor, in einem kurzen Moment, in dem sein Stolz den Schmerz überwog.
„Halts Maul, Trottel.“
„Tuvok, nei, er kann nischt d`für“ unterbrach Haldana mit leiser Stimme. Aber der Jäger hörte sie und wandte sich Haldana zu. „Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich achtzugeben. Aber wie soll ich Dich vor Dir selbst schützen?“
Die Bardin schluchzte leise. „S`hett nit g`schehn dürf`n“
Jodokus verstand nicht recht, was der Nivese sagte. Ein Jäger, der eine entlaufene Leibeigene im Auftrag der Mutter beschützte? Rasch zog er seine Hose hoch und rappelte sich auf. Keinen Augenblick später fiel er, geschubst vom Tuvok, wieder ins Stroh.
„Hör auf, Steppenschleicher“ herrschte Jodokus den Nivesen an und rappelte sich wieder auf.
„Nein, du Gassencasanova. Du hörst auf. Und vor allem hörst du zu. Wenn bei Dir schon das Hirn aussetzt!“ Noch nie hatte ein Gemeiner es gewagt, so mit ihm zu reden. Jodokus lief zornweiß an im Gesicht.
„Du kennst die Sichel, Lustmolch. Du weißt, dass ein Mädchen besser heiraten kann, wenn es keusch bleibt. Aber rücksichtslos wie du bist ist dir das egal, Stadtmensch.“ Der Nivese schrie Jodokus nahezu ins Gesicht. „Und du weißt, dass ein Mädchen sich zum Gespött macht und sich der Übergriffe nicht erwehren kann, wenn sich herumspricht, dass sie… den Ehrbegriff nicht geachtet hat. Das hier ist Travias Land, und auch wenn man den Namen der Muttergöttin nicht so oft hört in der Sichel, so gelten ihre Regeln dort nicht minder!“
„Ach das hast du ihrer Mutter versprochen…“ stammelte Jodokus. „Das lässt sich regeln. Ich kann eine Morgengabe leisten, die eine entgangene Mitgift sicher mehr als ausgleicht, jedoch...“
Weiter kam er nicht. Tuvok versetzte dem verdutzten Jodokus eine schallende Ohrfeige. „Das war dafür weil du annimmst, Haldana wäre käuflich“ schalt der Jäger den Adeligen
Schritte waren auf der Leiter zum Tunnel zu hören. Alrik, ob des Lärms aufmerksam geworden, hatte sich aufgemacht, nachzusehen, was für ein Tumult im Stroh ausgebrochen war. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Er hatte Mühe, nicht lauthals aufzulachen.
„I würd` mi nu gern wied´r anzieh`n.“ hauchte Haldana mit tränenerstickter Stimme. Aber weder Tuvok noch Jodokus nahmen Notiz von ihr. Lediglich Baron Alrik hatte den Anstand, sich umzudrehen. Erneut schallte eine Ohrfeige laut auf.
„Ihr arroganten Stadtschnösel, bildet euch wohl ein, euch alles gegenüber dem Landvolk heraus nehmen zu dürfen. Du lebst schon zu lang in Rommilys, du wirst die Menschen der Sichel nie verstehen.“
Das hörte sich seltsam an aus dem Mund eines Nivesen, dachte Alrik. Tuvok war Nivese, nicht Schwarzsichler.
„Hör` uf, Tuvok“ wiederholte Haldana. „Er kan nischts d`fir. Wohär hätt er wiss`n soll`n...“
„Man muss nichts wissen, um sich ritterlich zu verhalten“ erwiderte der Nivese.
Haldana hob ihre Bruche auf. Blutverschmiert. Was hatte sie erwartet. Achtlos warf sie den Leinenstoff wieder zu Boden. Dann eben ohne Bruche. Das war jetzt doch ohnehin egal.
Danach griff sich nach dem Mieder, zog es zurecht und schob ihre Brüste wieder darunter. Langsam schnürte sie die Bändsel zu.
Verdammt, es war ein schönes Gefühl vorhin gewesen, ihre Brüste so prall und straff zu spüren, als der Stadtgeck seine flinken Finger mit sanften Bewegungen… Die Bardin kämpfte den Gedanken nieder.
Auch Jodokus kämpfte mit sich. Klar, woher hätte er wissen sollen, dass die Bardin noch Jungmaid war. Wäre dieser wütende Nivese nicht gewesen, er hätte sich um Haldana bemühen können, mit ihr reden können. Schließlich… Haldana war ihm ans Herz gewachsen mit ihrer kessen und direkten Art, ihrer herzlichen schwarzsichler Natur und nicht zuletzt mit ihrer klangvollen Stimme, die so gut singen konnte. Seine Ehe mit Irmelinde war ohnehin arrangiert. Von Respekt und Sympathie geprägt, aber dass er als junger Mann sich deswegen nie verlieben würde, das würde auch seine Frau nicht von ihm erwarten.
„Haldana…“ begann er. „Ich mag vieles von Dir nicht wissen, aber ich habe nicht mit dir gespielt. Ich habe dir nichts vorgemacht und ich stehe zu Dir.“ In dem Augenblick, da Jodokus das sagte, wusste er selbst nicht, ob er sich taktisch äußerte um die Wogen zu glätten oder ob er für die Bardin tatsächlich mehr empfand, als für eines seiner früheren Abenteuer, die er neben seiner Ehe gehabt hatte. Aber mit dieser Aussage hatte er für sich eine Entscheidung getroffen. Er würde Haldana nicht im Stich lassen. Wenn nur dieser wütende Jäger endlich gehen würde. „Und ich habe, da mag Tuvok denken, was er will, dich nie für käuflich gehalten. Sondern für einen wunderbaren Menschen.“
„Schleimer“ konstatierte der Jäger grimmig.
„Still, Tuvok.“ murmelte Haldana leise. „S´isch g`schehn. `S war mei Fähl`r. Jodokus het nit gwisst, wer i bi od`r was mei Mutt`r dir auftrag`n het. Nun brauchsch`d mi nimmer b`schützn. Jedenfalls nit meh v`r mi selb`r, desch is nu nimmer meh nöt`g.“
Alrik reichte Haldana seinen Umhang. Anders als die beiden jungen Streithähne wusste er, dass er besser nichts sagte, sondern einfach nur da war. Während Jodokus und Tuvok weiter stritten, deutete der Mondschatten ihr an, mitzukommen. Er half Haldana die Leiter herauf. Es war ohnehin schon spät geworden. Er wusste, dass Haldana lange kein Auge zubringen würde, aufgewühlt und durcheinander, wie sie war, auch wenn sie sonst nach dem Ritt und dem Gefecht und der Verletzung völlig übermüdet und ausgelaugt sein musste. Aber er wusste auch, dass Ruhe und Stille der Bardin gut tun würden.
Es war sicher auch noch nicht alles gesprochen, was noch zu sagen war in dieser Sache. Haldana ebenso wie Jodokus waren Opfer ihres eigenen jugendlichen Ungestüms geworden. Nur zu gut konnte er das nachvollziehen, wenn er sich an seine eigenen jungen Jahre erinnerte, oder auch an seine Kinder dachte. Und im Sittenstrengen Sichler Land war es allzu oft nicht leicht, den Ansprüchen der Familie und der Dorfgemeinschaft gerecht zu werden, ohne dabei selbst seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hätte er besser achtgeben sollen auf seine jungen Gefährten. Nicht umsonst achteten die Hauptleute einer jeden Truppe darauf, dass ihre jungen Soldaten und Soldatinnen sich nicht gehen ließen. Niemals die eigene Truppe, hieß es in der Armee, und das hatte seinen guten Grund, wenn man den Zusammenhalt in der Gemeinschaft junger Kämpfer nicht gefährden wollte. Vielleicht hätte er, wenn schon nicht Jodokus und Haldana, es besser wissen müssen. Er hatte den beiden Turteltäubchen bei ihrem Spiel ja schon eine Weile zugesehen. Er hatte es versäumt, rechtzeitig mit dem jungen Adeligen zu reden. Auch hatte er sich in der Bardin getäuscht, hatte er doch angenommen, sie würde nur mit dem eitlen Verehrer spielen und sich nicht darauf einlassen. Falsch gelegen. Aber auch sonst hätte er mit der Bardin früher reden können.
Nun, geschehen ist geschehen. In Marktfriedwang hätten erzürnte Eltern ihre ungehorsamen Kinder einfach vor den Traviaaltar geschleppt, damit alles der Form nach anständig bleiben würde. Ganz egal, ob die jungen Eheleute später miteinander glücklich werden oder nicht. Aber das war ja nun nicht möglich, auch wenn er dem jungen Rommilyser diese „Strafe“ sicher gegönnt hätte. Na sei es drum.
Er nahm die junge Sichlerin einfach nur väterlich in den Arm, ließ sie leicht schluchzend in seine Schulter weinen und hielt neben ihr aus bis sie, lange Zeit später, einschlief.
Behutsam ließ Alrik die schlafende Bardin ins Heu sinken. In diesem Moment war sie nichts weiter als ein schutzbedürftiges Mädchen, Abenteurerin hin oder her. Er deckte sie zu und schlich sich leise vor die Tür, um nach all der Aufregung des Tages seine Abendpfeife zu schmauchen. Draußen war es frisch geworden. Der Nachthimmel hatte sich bewölkt. Womöglich würde es in einigen Stunden regnen. Er fröstelte. Nur der brennende Bauernhof spendete unstetetes Licht. Das Unheiligtum draußen auf dem Acker war nur noch ein qualmender, glimmender Trümmerhaufen. Der Baron war froh, dass es im Inneren der Scheune dunkel geworden war.
Vermutlich hatte sich jeder in seine Ecke verzogen, schmollte, grollte oder schlief, je nachdem, wie es ihm gerade gefiel. Ab und an raschelte etwas Stroh, aber das konnten auch die Pferde an der Krippe sein. Oder Mäuse.
Alrik stopfte seine Fuchskopfpfeife mit der würzigen Tabaksmischung aus dem Beutel, der mit Mond und Sternen verziert war. Er hustete kehlig. Vermutlich rauchte er in letzter Zeit zu viel. Aber egal, er brauchte starken Stoff, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Flachmann mit Trollzacker, den er unter dem Wams trug, wollte er lieber nicht greifen, der war für echte Notfälle.
Behutsam, wie bei einer maraskanischen Tee-Zeremonie, holte er Feuerstein, Stahlring und Zunder aus dem Kästchen. Dann breitete er die Utensilien auf einer umgedrehten Tonne aus und schlug Feuer. Bläuliche Funken sprühten umher. Diesmal dauerte es eine Weile, bis der Zunder glomm. Ein paarmal schrammte er sich übel die Finger auf. Heiliger Assaf, er konnte es spüren, wenn sein phexisches Glück irgendwo da draußen herum streunerte. Statt ihm, wie gewohnt, still und heimlich zur Seite zu stehen. Eigentlich waren sie aus Rommilys aufgebrochen, um einem Zirkel schurkischer Dämonenpaktierer das Handwerk zu legen. Nicht um sich zu zanken und zu streiten wie aufgekratzte Zöglinge einer Kriegerschule beim Ausflug (in den erstbesten Heustadel vor der Stadt)
Endlich strömte der vertraute Tabakrauch durch seine Kehle. Wo hatte er eigentlich seinen Federhut gelassen? Ah, da drüben hing er, am Haken. Die rote Feder war ganz zerknickt. Der Baron schlug seinen Streunerdeckel aus, setzte ihn sich auf und überlegte, wo er Wache halten sollte. Die Tonne war gar nicht mal so schlecht. Er stellte sie noch ein Stückchen nach draußen, unter ein windschiefes Vordach. Von dort aus hatte er alles gut im Blick, soweit es die karge Beleuchtung zuließ, ohne selbst aufzufallen. Sehen und nicht gesehen werden. Etwas besseres gibt es nicht, falls die Lage unübersichtlich ist. Einer der "Kaisersprüche" des guten alten Kedio, Herrscher der Ruinen von Brabak. Vielleicht sollte er sie eines Tages mal aufschreiben.
Der Freiherr von Friedwang nahm auf seinem improvisierten Thron Platz, in seinen schweren Reisemantel gehüllt.
Sein Blick ging hinüber zum Haupthaus, das ein ganz passables Lagerfeuer abgab und sogar etwas Wärme abstrahlte. Der Wind stand noch immer günstig. Der Rauch wehte von der Scheune weg.
Womöglich war es doch keine gute Idee die gewesen, soweit draußen zu übernachten, außerhalb der Stadtmauer. Andererseits, eine Rückkehr nach Rommilys, zusammen mit Halike und ihren Handlangern, hätte sicher einigen Rummel verursacht - schon allein wegen den Waffengesetzen. Eine Lanze Stadtgardisten, die spätabends von einen niedergebrannten Bauernhof zurückkehrte, war sicherlich weniger auffallend als eine bunt zusammen gewürfelte Halbschwadron, inklusive Brauereibesitzer, Baron, Zwerg, Jäger, Graumagier und Bänkelsängerin.
Ein Geräusch von halblinks lenkte ihn ab. Nervös griff Alrik nach seinem Rapier, entspannte sich aber sofort wieder. Wie erwartet, war es Hesindian, der seine Abendtoilette am Brunnen beendet hatte, mit Zahnpulver und Putzhölzchen. Zarter Kräutergeruch lag in der Luft, und vermischte sich nun mit dem Duft von Pfeifenrauch.
"Ich übernehme dann die zweite Wache", sagte Hesindian und verstaute sein Krimskrams in der Gürteltasche. "Rovik die Hundswache. War sein Vorschlag. Ich glaube, unsere beiden Turteltäubchen und Haldanas Anstandsdame lassen wir erst mal schlafen... bevor sie morgen noch gereizter sind. Tuvok scheint ziemlich verletzt zu sein."
"Nicht nur er", sagte der Streunerbaron und schlug die gestiefelten Beine übereinander, wie ein Svelltländer Kuhtreiber.
"Was hältst eigentlich du von dem Ganzen?"
Hesindian blickte ins Halbdunkel, zu den Feldern, Hecken und Baumreihen, die schemenhaft am Rand des Feuerscheins zu erahnen waren. Der Edle von Orweiler trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch und strich die weißen Haare zurück: "Da fragst du den Falschen. Falls es um Fragen der Moral gehen sollte." Der Magus lächelte spöttisch. "Du weißt ja, meine Mutter ist gebürtige Liebfelderin. Im Horasreich bekäme eine junge Frau Ärger mit der Familie, wenn sie mit 19 oder 20 Götterläufen noch immer reinweiß ist wie eine Traviagans."
Alrik brummelte etwas. Das Fass war hart und kippelte. Aber vielleicht war es ganz gut, dass er nicht allzu bequem saß. Damit war die Gefahr, einzuschlafen, geringer. Das Ganze erinnerte ihn an damals, die Flucht aus dem brennenden Rommilys. An Golgariella, die junge Borongeweihte. Ihre Begegnung mit einem wandernden Wirtshaus und schwankenden Untoten. Am Ende hatten sie sich ebenfalls in eine Scheune geflüchtet. Die noch in der gleichen Nacht in Flammen aufgegangen war.
Golgariella… auch diese Liebelei war höchst unerfreulich ausgegangen. Der Tod ist das beste Rahjaikum. Hatte er das damals behauptet oder seine schwarzgewandete Gespielin? Wahrscheinlich war es wirklich nur die Furcht vor der eigenen Vergänglichkeit, die Männer und Frauen zusammenführte. Ein verzweifeltes, gegenseitiges Festklammern ans Leben, ans Hier und Jetzt. Manchmal mit dem Zweck, Kinder in die Welt zu setzen, um Boron ein Schnippchen zu schlagen. Weitaus öfter mit dem Ziel, Tsa ein Schnippchen zu schlagen. Der Preis bestand all zu oft in Schuldgefühlen, nach der Trennung. Alrik bewunderte Rahjajünger, die aus reinem Vergnügen der Göttin der Liebe huldigten. Und am nächsten Tag völlig unbeeindruckt ihres Weges gingen, ohne sich mit derart komplizierten Dingen wie Liebe, Ehe, Traviabünden, Sitte und Moral befassen zu müssen. Oder mit Elternschaft...
"Die Liebe und der Flinke Difar, bereiten beide Schmerzen. Das eine kommt vom Arscherl her, das andere kommt vom Herzen. Alte Schwarzsichler Bauernweisheit". Alrik hatte ein Hölzchen entdeckt und schob es unter die Tonne. Ah, schon besser. Oder?
Hesindian unterdrückte ein Lachen. "Gibt es im Sichelhag nicht das Jus primae noctis? Vielleicht sollte sich der edle Nachkomme des Hauses Baernfarn auf sein Recht der ersten Nacht berufen?"
Alrik drehte einen Weidenkorb als Fußstütze um und nahm wieder Platz. So langsam passte es. In seinem Alter sollte man sich das Leben so bequem machen wie möglich. "Nicht so laut, nicht so laut. Sonst macht der junge Herr da drinnen noch von seinem Duellrecht Gebrauch." Auch Alrik grinste und deutete mit der Pfeife auf das Scheunentor.
"Ich versteh das Problem nicht" Hesindian griff nach dem Zauberstab, den er an die Scheune gelehnt hatte. "Haldana hat diesen bärtigen Kerl heute abgestochen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da drüben am Weg, da klebt noch sein Blut. Eine riesige Blutlache. Nun macht sie wegen einem winzig kleinen Stich ein Geschrei wie eine entjungferte Badilakanerin? Versteh einer die Frauen. Oder die Darpaten..."
"So kann nur ein frivoler Halbhorasier reden" sagte Alrik flapsig. Nun merkte er, dass die Tonne in die andere Richtung kippelte. So wurde das nichts. Er versetzte sein Werk Richtung Wand, als Stütze. "Wir Schwarzsichler sind nun mal ein überaus traviafürchtiges Volk."
"Außer wenn gerade wieder mal Hexennacht ist."
"Die ist nur einmal im Jahr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Alten Kulte wären nur halb so beliebt, wenn meine Friedwangen jede Nacht nackt und berauscht ums Lagerfeuer tanzen müssten. Der Reiz des Verbotenen halt. Überhaupt, das Recht der Ersten Nacht ist doch nur eine adelsfeindliche Legende. Nichts als eine yesatanische Fantasie. Sowas gibts vielleicht im Bornischen, oder in Oron...aber ganz sicher nicht bei uns in der Rommilyser Mark."
"Gernot hat damals das Recht der Ersten Nacht wieder eingeführt, in Friedwang."
"Ja, weil er an den Stechtaler ran wollte, der alte Gierschlund"
"Den was?"
"Den Schürzenzins. Die Mitgiftsteuer bei jedem Traviabund. Die Traviageweihten sind damals auf die Barrikaden gegangen, nach allem, was man so hört."
Hesindian nickte. "Das Friedwanger Gänsestechen. Die Mädchen mussten oben im Schloss vorstellig werden - je nach Wert wurde dann die Steuer fällig. Ich kann mich aber nur an Naturalien erinnern, eine Kuh, eine Ziege oder eben Gänse und Hühner. Für die armen unfreien Bauernmädchen war das kaum weniger demütigend, als wenn sie wirklich zu diesem Lustmolch ins Bett hätten steigen müssen. Um ihm sein Herrenrecht zu gewähren."
"Kühe, Gänse, Ziegen...? Man muss kein Baron sein, bei uns in der Sichel, um so was ins Bett zu bekommen" Alrik hatte einen Scherz versucht, merkte aber, dass Hesindian eher zerknirscht als erheitert blickte.
"Du warst ja damals Gernots Hofmagier. Apropos - gibt es nicht magische Möglichkeiten… ich meine, einen Heilzauber, um Haldanas... kleines Missgeschick zu kurieren?"
"Dazu müsste ich ihr die Hand auflegen. Am besten noch in dieser Nacht. Könnte leicht missverstanden werden. Außerdem geht es in dem Fall wohl mehr um seelische Verletzungen."
"Natürlich." Alrik wurde wieder ernst. "Das ist ja gerade das, was mir Sorgen macht. Auchn Zug?"
Hesindian nickte, und Alrik reichte ihm die Pfeife. Hesindian paffte, hustete etwas. Immer, wenn Alrik das Gefühl hatte, er könnte gegenüber einem Rangniederen als arroganter Aristokrat rüberkommen, teilte er seinen Tabak. Dabei war der Magus eigentlich Nichtraucher (und selber von Stand).
"Ich meine, ein bisschen kann ich Jodokus ja verstehen", sagte der Baron. "Wegen der tollen Liebesnächte hat er diese Irmelinde sicherlich nicht geheiratet. Aber er ist ein Baernfarn. Die sind manchmal vielleicht ein wenig tappsig und zudringlich, wie ihr Wappentier. Aber ein Bär ist kein Bock, wie mein schurkischer Vetter einer war. Irgendwie passt das Verhalten nicht zu Rauls Sohn...diese Lüsterne...Rücksichtslose..."
"Worauf willst du hinaus?"
"Nun ja. Findest du nicht auch, dass das Abfackeln des unheiligen Schreins ein wenig zu leicht ging?"
Hesindian hustete wieder, und gab die "Friedenspfeife" wieder zurück. "Soll mir recht sein, wenn es mit einer Austreibung so einfach geht..."
"Was ist mit diesen Hornissen, die uns gestochen haben? Müssen wir jetzt mit irgendwelchen Krankheiten rechnen...?"
"Das waren doch nur Halluzinationen, um uns zu peinigen. Übertragen Hornissen Pestilenzen?"
"Vielleicht rauben sie jungen Männern den Verstand?"
"Hmmm. Gewagte Theorie. Ich dachte eigentlich, die Hornisse wäre die heilige Kreatur des Shinxir..."
"Shinxir...wer ist das jetzt gleich nochmal? Meinst du den Götzen aus den Dunklen Zeiten?"
"Ja. Im Horasreich soll es wieder Anhänger dieses Kriegsgottes geben, seit dem Sternenfall von Arivor. Den Geheimbund der Myrmidonen. Shinxir steht für absolute Disziplin, Kameradschaft und Pflichterfüllung, für Loyalität und Treue zur Gemeinschaft. Du bist nichts, dein Schwarm ist alles. Passt nicht so ganz zu Jodokus´ Verhalten."
"Da ist aber jemand gut informiert. Über finstere Götzen, die mal vor Urzeiten dem Silem-Horas-Edikt zum Opfer gefallen sind. Kein Wunder, dass du eine Vorladung ins Informations-Institut bekommen hast." Alrik war schon wieder zum Spotten aufgelegt.
"Es war Jel-Horas, der die Verehrung von Insektengöttern verboten hat, lange vor Silem...Götter wie Mokosha oder die Herrin des Siechtums, deren Namen ich nicht nennen möchte. Oder eben Shinxir. Die entscheidende Schlacht fand bei uns in Almada statt, gar nicht so weit weg von Brig-Lo, auf den Bluthügeln von Caldaia. Damals haben die Rondrianer die Shinxir-Anhänger besiegt und in den Untergrund gezwungen. Ich glaube, im 3. Jahrhundert vor Bosparans Fall. Seitdem verehren wir Rondra als Herrin des ehrenvollen Zweikampfes. Nicht Shinxir, der für den Kampf in der Gruppe steht...den Kampf bis zum Sieg, notfalls auch mit Gift und Dolch."
"Den guten Zwölfen von Alveran sei Dank. So eine Löwin ist ja auch prachtvoller anzuschauen als ein Schwarm kleiner hässlicher Hornissen" Alrik wedelte schon wieder mit der Hand, um mit dem Rauch seine Lästerung zu vertreiben. Der Sternenfall von Arivor. Natürlich hatte er davon gehört. Ganze Sternbilder sollten sich seither verändert haben. Manche behaupteten, das Phex gerade den Nachthimmel neu zusammen fügte. Da fiel schon mal was runter?!
Nein, der Mondschatten mochte nicht glauben, dass der Heimliche mal eben so tausende Menschen vom Antlitz Deres tilgte. Das wäre ziemlich, nun ja, unheimlich gewesen. Alrik wusste nicht viel vom Schicksal Arivors. Wehrheim war ebenfalls untergegangen, oder das alte Gareth...was zu Kaiser Hals Zeiten viele Jahre lang für Grauen und Entsetzen gesorgt hätte, war heutzutage kaum mehr als eine Meldung im Aventurischen Boten.
"Arivor wurde doch, glaube ich, durch einen fallenden Stern zerstört. Oder sind da riesige Hornissen vom Himmel geplumpst?"
"Nun, es gibt Gerüchte, wonach bei dem Erdbeben geheime Kulträume freigelegt worden sind. Uralte Kulträume des Shinxir...mit krabbelnden Dienern des Vielleibigen..."
"Die findest du in jeder zweiten Herberge zwischen hier und Arivor. Und was sollen nun Shinxirs Hornissen mit unserer angeblichen Bienenkönigin zu tun haben?"
"Nun, wie es heißt, sind alle insektenähnlichen Götzen ursprünglich in der Zeit der Vielbeinigen Völker angebetet worden. Dem Siebten Zeitalter. Sie sind sich also ziemlich ähnlich...Die Hornissen könnten auf eine Pervertierung der Prinzipien des Shinxir hinweisen. Wenn ich es richtig gesehen habe, waren sie pechschwarz..."
"Das klingt für mich wie eine typische Magierspekulation" Alrik reckte sich auf dem Fass. So richtig bequem war sein Sitzplatz immer noch nicht. "Nach Hesindian eben. Ziemlich weit hergeholt..."
"Denk dran, was damals in den Schwarzen Landen geschehen ist, auf unserer Schatzsuche. Diese ständigen dämonischen Einflüsterungen, die unsere Gemeinschaft zerstören wollten, durch Streit und Hader...heimlich, still und leise. Von innen heraus. Gut möglich, dass heute etwas ähnliches geschehen ist."
"Nun, eigentlich sind sich die beiden doch ziemlich nahe gekommen, Jodokus und sein Schwarm..." Der Mondschatten gähnte und überlegte, ob er sich nicht lieber auf den Boden setzen sollte. Verstohlen kratzte er sich an den kleinen Pusteln auf den Händen und am Hals, dort wo ihn die Hornissen gepiesackt hatten. Angeblich reichten sieben Hornissenbisse, um einen Tralloper Riesen zu töten, und drei, um einen Menschen in Borons Reich zu schicken. Aber der Unbill hielt sich in Grenzen, bis auf ein leichtes Jucken. Obwohl er mindestens vier Einstiche zählte. Man sollte wirklich nicht zu viel auf Gerüchte und Legenden hören.
"Ah, jetzt ist auch noch die Pfeife aus" Alrik verzog den Mund, als er auf den erkalteten Fuchskopf blickte.
Hesindian deutete eine Verbeugung an und ließ Nasrûlgin, seinen Zauberstab, aufflammen. Der Baron zuckte kurz zusammen: Er würde sich nie ganz an Hesinderei in seiner Nähe gewöhnen. Dennoch war es scheinbar normales Feuer, in das er nun seinen Zunder hielt. Nach wenigen Augenblicken brannte die Pfeife wieder. "Danke", nuschelte der Friedwanger zwischen dem Mundstück hervor.
Hesindian runzelte die Augenbrauen und linste zur Scheunentür. War da gerade eben ein Schatten gewesen? Hatte jemand ihr Gespräch belauscht? Oder litt er schon an Verfolgungswahn? Er sollte nicht zu viel von Dämonenwerk und halb vergessenen Göttern aus finsteren Zeiten reden, kurz vor dem Schlafengehen.
Irgendwie gefiel ihm das Nachtlager nicht. Man holte sich leicht Flöhe und Rattenbisse, auf Heu oder Stroh. Womöglich hatte wirklich die Einflüsterung der Erzdämonin sie dazu verlockt, in einer halbverfallenen Scheuer zu nächtigen. Statt traviagefällig und sicher in einem weichen, bequemen Rommilyser Federbett zu schlummern. Neben den marbiden Überresten von Helbers Hof stank es zudem nach Rauch und Tod. Jeder Schatten erinnerte den Magier an das Grauen, dass sie im Keller entdeckt hatten. Genauso gut hätten sie auf dem Boronanger der Litzelstadt übernachten können, mit seinen Ghulen und Spukgestalten.
Hesindian war wohl anzumerken, was er von der Umgebung hielt. "Na komm schon", versuchte ihn Alrik von Friedwang aufzumuntern. "Wie in den alten Zeiten...Wache schieben am Lagerfeuer, auf Heu schlafen...da fühlt man sich doch gleich zehn Jahre jünger...."
"Ich fürchte, ich werde mich morgen zehn Götterläufe älter fühlen", murrte der Magier. "Sollte mich jetzt schlafen legen. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Bettschwere." Er tastete nach seiner Gürteltasche. "Lust auf eine kleine Boltanpartie?"
"Natürlich, Boltan und Würfel spielen. Auch das zählt zum echten Abenteurerleben." Alrik stand auf und lüpfte seinen Hut. "Um welchen Einsatz soll es gehen, Taler oder Kreuzer und Heller?"
"So abgebrannt wie unser Schlafplatz ist, würde ich sagen, Kreuzer und Heller."
"Also gut. Wer gibt?"
"Immer der, der fragt."
Das muntere Zwitschern einer Feldlerche weckte Alrik aus seinen Träumen. Die Nacht war irgendwie unruhig gewesen, aber nicht unangenehm. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte es geregnet, daran konnte er sich erinnern, und an sein lautes Schnarchen. Ebenso, dass er beim Boltan gewonnen hatte. Am Ende hatte er Hesindian sogar mit einer Akademie besiegt, einem "Fünfling" aus Magiern, ausgerechnet. Wenn das kein gutes Omen war...
Er hatte wirklich gut geschlafen. Alrik schob den Hut nach oben, und blinzelte ins helle Morgenlicht. Ah, er hatte sich Flockes Sattel unter den Kopf geschoben, eine gute Idee. Aber das es dermaßen hell war, inmitten der Scheune?
Er ruckte erschrocken hoch, unter seiner Decke. Langsam kehrte die vollständige Erinnerung zurück. Neben ihm lag die Pfeife, und war längst erkaltet. Was hatte er getan? Der Sattel lag an der Scheunenwand, unter dem Vordach, aber ansonsten im Freien. Ver...dammt. Er musste es sich hier draußen gemütlich gemacht haben. Ein wenig zu gemütlich. Offenbar war er dann beim Pfeife rauchen eingeschlafen. Beim Wacheschieben. Nicht sehr shinxirgefällig.
Alrik kratzte sich am Kopf, setzte sich auf. Die qualmenden Trümmer des Bauernhofs hatten fast schon etwas Malerisches. Es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Das Wolkenspiel am Himmel war atemberaubend. Das Land sah wieder perainegefällig aus, mit seinen fruchtbaren Äckern und Wiesen. Es war, als wäre ein schlimmer Alpdruck von ihm gewichen. Bienen summten umher. Sie hatten nicht alles falsch gemacht, gestern. Alrik langte sich an den Hals. Der war unrasiert und stoppelig, aber nicht durchschnitten. Offenbar hatte ihm der kleine Schlummer nicht geschadet.
Plötzlich stand Tuvok vor ihm, der Jäger. Das personifizierte schlechte Gewissen der Gruppe.
"Morgen" brummte Alrik, und schlug die Decke zur Seite.
"Wo ist Haldana?" Der Waidmann war totenbleich.
"Was?"
"Haldana ist verschwunden", ächzte der Jäger und sah verstört um sich.
"Wird mal austreten gegangen sein". Alrik reckte die Arme und gähnte genießerisch. "Da drüben steht eine Latrine"
"Sie hat ihre Laute mitgenommen" sagte Tuvok tonlos. "Wer...wer hat Wache gehalten? Es sollte doch jemand Wache halten."
"Das war ich", sagte der Baron und musste zugeben, dass das nicht allzu heldenhaft klang. Er rieb sich die Augen. "Muss irgendwie eingeschlafen sein. Verstehe ich nicht."
Tuvok sagte nichts, sondern musterte nur kühl den barönlichen Schlafplatz.
"Was ist mit ihrem Pferd?" fragte der Friedwanger.
"Ist noch da...aber sie ist ja auch keine Pferdediebin..." Der Jäger machte eine hilflose, fast schon verzweifelte Handbewegung.
"Na komm, Tuvok. Du glaubst doch nicht wirklich...dass sie...also, dass sie einfach auf und davon ist. Nur wegen...also wegen..."
Zu allem Überfluss tauchte auch noch Jodokus auf. Oder zu Alriks Glück, den der Jäger wirkte auf ihn wie ein brodelnder Feuerberg kurz vor dem Ausbruch.
"Haldana ist weg" grollte er in Richtung des Edelmanns.
"Wie weg?" sagte Jodokus lahm und trottete verschlafen zum nächsten Gebüsch.
Tuvoks Hand verirrte sich zum Messer.
Alrik stand schwankend auf und spürte nun jeden einzelnen Knochen. Vielleicht auch die Gicht in den Fingern.
Auf der Tonne lagen noch immer die Boltankarten und sein Gewinn. Klirrend strich er die kleinen Münzen ein.
Erst jetzt realisierte er, was sich da gerade zwischen dem Jäger und dem Rommilyser anbahnte. Der junge Baernfarn drehte sich um.
"Wahrscheinlich ist sie hinterm Haus", sagte Jodokus.
"Ich habe überall nach ihr gesucht" sagte Tuvok. "Sie ist weg." Seine Stimme klang jetzt nach einem Schneesturm in der Nivesensteppe. Eiskalt und fauchend. Seine Finger umschlossen noch immer den Griff des Messers.
Jodokus merkte, dass er gerade unbewaffnet war, und runzelte die Augenbrauen.
"Es ist alles nur deine Schuld". Der Schneesturm in Tuvoks Stimme wurde heftiger. Seine Augen blitzten.
"Was soll das jetzt werden, Steppenschleicher? Willst du mich niederstechen und ausweiden?" Jodokus blickte zu Alrik, wobei er eher Bestätigung als Hilfe zu suchen schien. "Ich warne dich, Jäger. Du bist es, der sich vergisst. Ich war gestern bereit, über deine...deine Unbeherrschtheit hinwegzusehen. Ich muss leider zugeben, dass ich mich zu einer Dummheit habe verleiten lassen, durch dieses...dieses verrückte Mädchen..."
"Gibst du nun auch noch Haldana die Schuld ??!" Tuvok schrie auf, zog sein Messer und ging auf Jodokus zu.
"Du hast sie entehrt! Wenn sie sich etwas angetan hat, bringe ich dich um!"
"Gemach, gemach" Alrik schob sich zwischen die beiden Streithähne. "Vielleicht sollten wir wirklich erst einmal schauen, wo sie ist. Aufeinander losgehen können wir nachher immer noch."
Nun bemerkte er Hesindian, der in der Tür aufgetaucht war und offenbar alles mitverfolgt hatte.
"Shinxir" sagte der Magier. Es klang wie ein Zauberwort.
"Maraskan", nickte Alrik. Dann wandte er sich wieder dem Jäger zu, der noch immer das Jagdmesser in der Hand hielt, zitternd vor Zorn.
"Tuvok, ich verstehe deine Aufregung. Aber wir sollten jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und nichts tun, was wir nicht mehr rückgängig machen können..."
"Einen...ich soll...einen kühlen Kopf bewahren!? So wie dieser...dieser geile Hurenbock dort ?!"
"Ich verwahre mich gegen diesen impertinenten Ton" Jodokus Stimme klang schneidend, ganz nach arrogantem Aristokraten.
"Muss ich dich daran erinnern, dass ich von Stand bin? Und du nur ein dahergelaufener Gemeiner? Noch ein Wort, und ich werde mir Genugtuung verschaffen, für all die Schmähungen...das hätte ich gestern Abend schon tun sollen, du Flegel!"
"Deine Genugtuung...hast du doch bekommen, du...du hirnloser Ork...nur weil du Haldanas Eltern für unfreie Bauern hältst, hast du ...hast du noch lange kein Recht...ihr verdammten Pfeffersäcke denkt, ihr könnt auch alles erlauben, aber..." Der Nivese wollte sich endgültig auf Jodokus stürzen, aber Alrik hielt ihn auf.
Jetzt nicht auch noch einen Ständestreit, dachte er.
"Tuvok", sagte Alrik beschwörend, mit der Hand auf dem Arm des Jägers, der das Messer hielt. "Was auch immer das da gestern Abend war, Jodokus hat sie nicht vergewaltigt. Verführt, entehrt, das vielleicht... aber nicht geschändet. Ich möchte Haldana nicht erklären müssen, was geschehen ist, wenn sie im nächsten Moment um die Ecke kommt...und zwischen uns herrscht Mord und Totschlag..."
"Entehrt?" Jodokus Stimme klang schrill. "Zweifelt Ihr jetzt auch noch an meiner Ehre, Herr Alrik Tsalind von Friedwang? Lasst diesen Hundsfott ruhig los, damit ich ihn züchtigen kann, wie es ihm gebührt."
"Dann solltet Ihr Euch jetzt besser auf den Weg zu Eurer Klinge begeben."
Jodokus machte tatsächlich einen Schritt auf die Scheune zu - und wurde von Hesindian aufgehalten.
Alrik hielt derweil den Nivesen zurück.
"Lasst mich vorbei, Herr Magier" blaffte Jodokus seinen Gegenüber an.
"Sonst?" Hesindian klang aufreizend ruhig, während er lächelnd seine Arme verschränkte. "Ich dachte eigentlich, wir wären schon beim Du?"
"Haben sich eigentlich alle gegen mich verschworen? Vorbei, oder..."
"Nun beruhige dich erst mal, Jodokus. Du bist nicht bei Sinnen... wir alle sind ein bisschen durcheinander..."
"Ich...ich...bin GANZ RUHIIIG!"
"Offenbar nicht. Schon mal daran gedacht, dass hier auch schwarze Magie wirken könnte? Eine unheilige Beeinflussung durch den Schrein dort drüben? Es sollte dir doch klar sein, gegen welch finstere Macht wir hier kämpfen. Euch allen. Wir stehen hier gegen eine Macht, die Chaos und Zwietracht säen will...recht erfolgreich, wie mir scheint..."
"Der einzige, der ständig Streit und Zwietracht sät, ist dieser anmaßende Jägersbursche...aber das wird sich jetzt ändern...dafür sorge ich."
"Wir sollten jetzt besser nach Haldana suchen... du liebst sie doch, oder?"
Jodokus stutzte und sah verwirrt drein. Mit einem Mal war er kein herrischer Stadtadeliger mehr, sondern ein verstörter junger Mann, dessen Gefühle völlig durcheinander gewirbelt waren. Rot prangte der Hornissenstich an seinem Hals.
"Erinnere dich...der brennende Schrein...die schwarzen Hornissen, die uns gestochen haben...die Herrin der Fliegen, Würmer und Ratten ist listig. Sie steht gegen all das, was die gütige Peraine repräsentiert. Fruchtbares Handeln, Hilfsbereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft. Es war eine dämonische Einflüsterung, fürchte ich, und du bist dieser Versuchung erlegen, gestern Abend. Das ist keine Schande. Aber es ist gefährlich. Du solltest es jetzt nicht noch schlimmer machen. Durch noch mehr unbeherrschtes Handeln. Wenn du Haldana wirklich liebst, dann müssen wir uns jetzt auf die Suche nach ihr begeben. Das gilt auch für dich, Tuvok. Spar dir deinen Zorn für den richtigen Gegner auf...ihr seid doch beide Firunsgläubige. Jagt euch nicht gegenseitig bis in die Niederhöllen."
"Dieser Schnösel liebt Haldana?" Tuvok riss sich von Alrik frei. "Das ich nicht lache. Geschwätz, nicht als eitles Geschwätz. Jeder läufige Hund hat mehr Liebe im Leib als...als dieser...Fatzke!"
Jodokus schob den Magier beiseite. "Lasst mich durch. Das muss ich mir nicht länger bieten lassen..."
Irgendwie schaffte es der Baernfarn an dem Magus vorbei. Nach ein paar Schritten prallte er gegen Rovik.
"Hab ich was verpasst?" brummte der Zwerg. "Was ist denn das für ein Geschrei am Morgen? Bei euch dröhnt es ja lauter als in Angroschs Schmiede."
"Haldana ist verschwunden", sagte Hesindian.
"Oh. Hm. Das ist nicht gut. Hat sie ihre Laute dabei?"
"Ja."
"Dann meint sie es wirklich ernst. War ja völlig durcheinander, das arme Mädchen..."
"Jetzt fängt dieser Zwerg jetzt auch noch an" schimpfte Jodokus.
"Wenn deine Axt am Drachen zerbricht, gib dem Schmied die Schuld - und nicht dem Drachen. Nom rogulrun Barobarraba. So war es schon immer."
"Was?"
"Altes zwergisches Sprichwort. Wenn nichts als Ärger bei etwas herauskommt, nun...dann deutet es darauf hin, dass es schon von Vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Also, wie gehen wir jetzt vor? Noch eine Stunde rumschreien? Oder haben wir in der Zwischenzeit einen besseren Plan?"
"Rovik hat Recht", beeilte sich Alrik zu sagen, mit Blick auf den Jäger. "Wir sollten endlich was unternehmen. Etwas Vernünftiges. Tuvok, du bist doch ein hervorragender Fährtensucher. Sieh nach, ob du eine Spur von Haldana findest, ehe wir noch mehr Zeit verlieren. In der Zwischenzeit satteln wir die Pferde. Egal, wo sie hin möchte. Beritten holen wir sie wieder ein. Weit kann sie nicht gekommen sein."
Während der Jäger sich auf die Suche machte - er hatte eingesehen dass Rovik, Alrik und Hesindian recht hatten - fanden Alrik und Hesindian Zeit, durchzuatmen. Es war zu viel gewesen heute Vormittag. Das hatte der Gruppe nicht gut getan, dieser unnötige Streit.
So ganz hatte Hesindian das ohnehin nicht verstanden. Jedenfalls passte da einiges nicht ganz zusammen, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Oder hatte er es einfach nur nicht begriffen? Sein Blick fiel auf Rovik, den bärtigen und grimmig-entschlossen dreinblickenden Zwerg.
„Wie sagtest du gleich noch einmal hieß dein Vater?“ Hesindian vermochte selbst nicht genau zu sagen, was ihn dazu bewog, jetzt die vermeintlich unpassende Frage zu stellen. Es war wohl auch, um vom Streitthema abzulenken und Jodokus dazu zu bringen, sich mehr mit den drei angeheuerten Gefährten zu befassen. Aber die Frage hatte ihm auch sonst schon beschäftigt. Es war mehr als eine Ahnung.
„Vulkanus“ sagte der Zwerg. „Rovik, Sohn des Vulkanus“ wiederholte der kleine Mann seinen Namen.
„Sag mal, Rovik… die Schwarze Sichel ist ja nicht so dicht bevölkert und es gibt nicht so viele Zwerge in den Bergen, aber dein Vater, Vulkanus, war der nicht mal Schmied in Gallys? Der Sohn des Gladiat?“
„Du kanntest ihn?“ Rovik war verblüfft.
„Ich mag aus Almada kommen, aber ich lebe auch schon seit mehreren Jahrzehnten in Friedwang. Und in der Sichel kennt jeder jeden über zwei oder drei Ecken. Ja, ich kannte Vulkanus, den Sohn des Gladiat. Nicht gut, aber ein paar Mal habe ich ihn gesehen. Er war ein guter Axtkämpfer.“
„Dann kanntest du ihn besser als ich“ brummte Rovik einsilbig. „Mein Vater ging auf Wanderschaft, wie alle jungen Zwerge. Zog mit einem Menschenkrieger durch die Lande. Und dann übernahm er eine Schmiede in Gallys. Aber bevor er sein Gesellenstück fertigen konnte, starb er, ehe er wieder heimkehrte.“
„Im Krieg gegen den Bethanier, das war nicht lange vor der Dämonenschlacht an der Trollpforte“ ergänzte Hesindian, und Alrik fragte sich, woher sein Hofmagier das wusste. „Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“ fragte der Baron ihn? „Der Gallyser Schmied? Woher weißt du das, Hesindian“
„Na das solltest du aber auch wissen, Alrik.“
„Erzähl von meinem Vater…“ unterbrach der Zwerg. „Was weißt du von ihm?“
„Naja, ich habe ihn erst in seinen letzten Jahren kennen gelernt. Ihn und seinen Kampfgefährten der letzten Jahre. Die beiden gaben ein beeindruckendes Bild ab, meine ich. Also, das muss man sich bildlich vorstellen. Ein über zwei Schritt großer Thorwaler und ein Angroschim nebeneinander, beide mit schweren Äxten bewaffnet. Nannten sich Axtgespann, in Anlehnung an Spießgespann, was man ja auch bei den Angroschim kennt.“
Rovik nickte. „Ja, Axtgespann. So habe ich es auch gehört. Nur dass ich diesen Thorwaler nie gesehen habe…“
„Hjalf, so hieß er. Ich kannte ihn aber auch nur flüchtig. Er ist auch im Krieg gefallen.“
„Hjalf“ Alrik dachte nach. „Das war der Menschenkrieger, mit dem Roviks Vater durch die Lande zog?“
„Ja und nein… sag mal, Alrik, sitzt du gerade auf der Leitung, oder hat Dir Deine Gemahlin nie von den Geschichten erzählt? Von Odilons Reisen, bevor er damals das Gallyser Erbe antrat?“
So langsam sickerte es beim Streunerbaron durch. Er zog eine Augenbraue hoch. Die über dem unbedeckten Auge.
„Odilon und Vulkanus sind durch die Lande gezogen? Hatte ich das vergessen? Das muss während meiner Brabaker Zeit gewesen sein…“ stammelte Alrik.
„Oder noch davor. Damals muss Odilon ein junger Bursche gewesen sein. Noch bevor es ihn dann in den Norden zog und er bei den Elfen seine elfengleiche Schönheit fand“ ein wenig verklärte sich Hesindians Blick bei dem Gedanken an Jirka. „Also diese Waldelfe. Naja… jedenfalls als die beiden dann nach Gallys gekommen sind, ist Vulkanus mitgekommen und hat dort die Schmiede übernommen.“
Rovik nickte. „Du kanntest ihn wirklich. Ich habe ihn nie gesehen, meinen Vater. Ich war noch ein Säugling, als Vater fortziehen musste. Ich ging selbst gerade in die ersten Lehrjahre in eine Schmiede, als mein Vater in Gallys weilte. Ihr wisst, wie das bei uns ist. Man verlässt seine Schmiede nicht. Ich nicht die meines Lehrmeisters und er nicht die Seine, bevor er sein Meisterstück fertigen konnte und Meisterschmied werden konnte. Und dann kam der Krieg…“
Hesindian nickte. „Der Krieg, ja. Viele haben ihre Väter nie kennen gelernt in dieser furchtbaren Zeit.
„Das muss lange her sein…“ warf Jodokus ein, froh, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen.
„Ja…“ erklärte Hesindian. „Vulkanus muss ungefähr gefallen sein, als du geboren wurdest. Alrik, damals warst du noch irgendwo bei Brabak. Ich war ja damals schon Hofmagier bei Gernot. Auch das ist so eine Sache… das erinnert mich fast an letzte Nacht. Citia von Baernfarn, durchgebrannt mit dem Immankapitän Ruwi ter Jaffon. Ein Skandal, den man in Gallys gerne unter der Decke hielt. Baron Gernot hingegen hat es gefreut, den südlichen Nachbarn als Gespött zu sehen. Ich werde den Verdacht bis heute nicht los, dass Gernot da seine Finger im Spiel hatte… Klar, lebenslustig bis unkeusch war Citia sicherlich schon immer. Aber dass sie ihre Kräutlein vergessen hatte und schwanger wurde. Naja wenn da mal nicht jemand seine Finger im Spiel hatte. Und damit meine ich nicht diesen Immanspieler. Und kurz nach der Geburt ist Citia gestorben.“
„Meine Tante“ brachte Jodokus hervor.
„Ja. Andererseits… wenn das damals eine Intrige Gernots war, ging das nach hinten los. Den Baernfarns hat es nicht wirklich geschadet, aber mit Raul gab es einen anerkannten Nachfolger und Ziehsohn, als Deggen dann den Rabenmundschen Intrigen zum Opfer fiel.“
„Heißt, das Leben meines Onkels, und damit auch meines und das meiner Ziehschwester, der Baronin von Gallys, haben wir den Intrigen dieses Gernot zu verdanken?“ Jodokus fasste das ganze banal und stark verkürzt zusammen.
„Naja, wäre möglich. Ich weiß noch ganz genau, dass Gernot sich damals mit einem Gallyser Alchimisten getroffen hat. Wäre doch möglich, das Citia bei diesem ihre Kräutlein bezogen hat, und dass ihr auf diese Weise unwirksame Gewürze statt der richtigen Pflanzen zugespielt worden sind.“
„Mag sein“ grinste Alrik. „Es könnte Phex gefallen haben, auf diese Weise seine eigene Intrige gegen den Urheber zu nutzen. Die Wege der Götter sind unergründlich.“
Tuvok hatte seinen Bogen und den Köcher an sich genommen - und der Versuchung widerstanden, Jodokus einfach einen Pfeil zwischen die Rippen zu jagen. Er biss seine Zähne zusammen, was nicht nur an den Wunden lag. Das Gerede von magischen Einflüsterungen und dergleichen beeindruckte ihn wenig. Auch er war gestochen worden - und dennoch war er nicht über Haldana hergefallen. Dieser Alrik hatte leicht reden. Wenn ihr Auftraggeber nicht auf Wache eingeschlafen wäre...richtig gemütlich hatte er es sich gemacht, der feine Pinkel. Diese Städter waren alle gleich: Blaues Blut, ha! Keine Woche würden die verweichlichten Schlossbewohner und Stadtmenschen in der Wildnis überstehen, die angeblich göttergegebenen Herren der Welt. Dekadent waren sie, und hochnäsig. Egal, Tuvok musste seinen Schützling wiederfinden. Was sollte er sonst ihrer Mutter erzählen? Am Ende würde Haldana noch in der Gosse enden, oder an einem schlimmeren Ort, als gefallenes, beschmutztes Mädchen.
Ein wenig schmerzte es Tuvok allerdings schon, dass sie ohne ihn aufgebrochen war. Ohne ihn und Rovik. Sich einfach fortgeschlichen hatte. Nein, eine Schändung war das wahrlich nicht gewesen. Wie konnte ein anständiges Mädchen wie Haldana sich nur derart gehen lassen?
Wie auch immer, er war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn von seinem Zorn ablenkte. Firun war ihm gewogen. Es hatte geregnet, in den frühen Morgenstunden. Die vielen verwirrenden Spuren des Vortags waren weitgehend ausgelöscht worden, während er Haldanas zierliche Schritte gut sehen konnte, im nassen Gras. Das bedeutete, dass sie nach dem Regen aufgebrochen war, vermutlich schon im ersten, rötlichen Morgenlicht, kurz vor Praiosaufgang. Viel Vorsprung hatte sie noch nicht, vielleicht ein, zwei Stunden.
Sie war zum Brunnen gegangen, offenbar, um sich zu säubern, verständlicherweise. Was tat sie nun? Ging geradewegs auf den Feldweg zu. Selbst dort, zwischen tiefen Huf- und Wagenspuren, war ihre Fährte noch zu erahnen.
Ah, sie hatte sich auf den Weg zu den Bienenstöcken begeben. Dort aber nur kurze Zeit gestanden. Er kannte sich mit Immen nicht so gut aus wie mit den Tieren des Waldes. Aber vermutlich schwärmten sie erst bei Tagesanbruch.
Wahrscheinlich hatte sie sich als nächstes auf den Weg Richtung Landstraße begeben. Auf dem Feldweg schimmerten einige Pfützen. Die Blutlache des Schwarzbärtigen war bis auf einige Reste weggespült worden. Obwohl der schlammige Boden ideal war, um Spuren zu lesen, konnte er Haldanas "Trittsiegel" nicht mehr entdecken. Sein Blick fiel auf ein Getreidefeld, auf dem halbhoch und grünlich der Winterroggen stand. Eine deutliche Spur führte hinein, geradewegs auf den Acker. Haldanas Spur?
Was war denn das? Dort, am Apfelbaum, lehnte die Laute, nicht weit weg von den "Beuten", wie die Bienenstöcke in der Imkersprache hießen (das wusste er von Haldana). Nun war Tuvok ernsthaft besorgt. Egal, wohin die junge Schwarzsichlerin sich auf den Weg gemacht hatte, sie würde immer ihr geliebtes Instrument mitnehmen.
Der Waldläufer nahm die Laute an sich. Eine Saite fehlte. Tatsächlich, dort lagen die beiden Hälften, auf einem Steinmäuerchen am Wegesrand, wahrscheinlich gerissen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Der Jäger war sich nicht ganz sicher, aber als er Haldana das letzte Mal mit der Laute gesehen hatte, war tatsächlich eine Saite heruntergehangen. Ein beunruhigender Verdacht kam in ihm auf. Womöglich war Haldana gar nicht davongelaufen. Hatte sich die junge Frau in der Dämmerung nach draußen begeben, weil sie einfach nicht (mehr) schlafen konnte? Hatte sie sich ablenken wollen, in dem sie ihre geliebte Laute reparierte? War hier draußen etwas ganz anderes vorgefallen, als sie alle vermutet hatten?
Erneut blickte er zu der Schneise aus niedergetretenem Roggen, die dunkel ins Getreide führte.
Alrik hatte aufgesattelt und band Flocke am Vordach fest. Er schämte sich noch immer, wegen seines Versagens auf der Wache. Shinxir, der Götze der bosparanischen Legionen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass auf Wache einschlafen mit dem Tod bestraft worden war, bei den alten Bosparaniern. Verständlich. In Kriegszeiten, an vorderster Front, konnte das einem auch in der Reichsarmee passieren...Wenn man nicht gleich mit einem zweiten Mund aufwachte.
Hesindian kam mit zwei Pferden aus der Scheune.
"Immerhin haben wir jetzt ein Packpferd übrig, für unsere süße Honigmumie."
"Die Kiste hat Haldana also nicht mitgenommen?"
"Wäre ein bisschen schwer gewesen..."
"Keine Frauen, kein Geschrei" Alrik setzte sich den Hut auf, und schob sich ein Stück Hartwurst in den Mund, als Frühstück. "Eins sage ich dir. Das nächste Mal werde ich Soldfrauen anheuern, keine Soldmädchen."
Sein Blick fiel auf die aufgedeckten Boltankarten, die noch immer auf der Tonne lagen, neben einer Stapel mit den übrigen Karten. Fünf Magier, fein säuberlich aufgereiht, von jedem Element einer: Erz, Humus, Eis, Wasser, Feuer, Luft.
"Vergiss deine Boltankarten nicht", sagte Alrik beiläufig.
"Sind nicht meine."
Der Baron sah zu Hesindian, der gerade die Höhe der Steigbügel neu einstellte.
"Sind die Boltankarten des Zinkers", meine der Magier und öffnete die Satteltasche (wo tatsächlich das Chorhoper Glücksrad zu sehen war).
Alrik trat ans Fässchen. Hesindian war genau gegenüber gesessen, auf einem Hackklotz. Alrik hatte zuletzt seine Gewinner-Hand aufgedeckt: die Akademie. Die Karten hatten dabei genau andersherum gelegen, so das der Magier seine Kollegen hatte sehen können, im Fackellicht. Nun drängten sie sich regelrecht am anderen Tonnenrand. Sein Freund hatte die übrigen Karten danach wieder zu einem Stapel sortiert. Das war alles gewesen. Der Mondschatten hätte bei Phex schwören können, dass sie sich danach zum Schlafen begeben hatten, oder eben auf "Wache", aber nichts mehr geändert hatten.
Der Baron folgte der "Blickrichtung" der Magier. Sie deuteten geradewegs in Tuvoks Richtung. Der Jäger war den Weg hinunter gegangen und schlug sich nun, am Wegesrand, in ein Roggenfeld, mit einer Laute über der Schulter. Haldanas Laute?
"Hesindian...das heißt also, das da sind Gerrichs Karten?" hörte sich Alrik fragen. "Seine magischen Karten?"
Halb geduckt huschte Tuvoks durchs nasse Getreide. Auch wenn das Feld unangenehm feucht war, fühlte er sich wie zuhause. Wie in einer Steppe. Er trug die Laute über der Schulter, gleich neben dem Köcher. Einen Pfeil hatte er herausgezogen und auf die Sehne seines Bogens gelegt. War Haldana vor etwas geflohen? Aber die Halme waren kaum beschädigt, nur niedergetreten. Teilweise hatten sie sich schon wieder aufgerichtet. Die Bardin hatte sich vorsichtig angeschlichen, so ähnlich wie er gerade selbst.
In der Nähe flatterte ein Rebhuhn auf, aber Tuvok blieb ruhig. Er ließ seinen Blick über die grünen Halme schweifen, die gerade erst Ähren ausbildeten. Irgendein Käferchen krabbelte auf einer Ackerwicke herum. Haldanas Pfad führte ungefähr in Richtung Unheiligtum, zumindest kam ihm das so vor. Hatte sie dort irgendetwas entdeckt?
Der Jäger zuckte zusammen, als ein schwarzer Schatten vor ihm auftauchte, spannte den Bogen und legte an...Im nächsten Moment ließ er seine Waffe wieder sinken. Es war nur eine windschiefe Vogelscheuche, die dort stand, eine Strohpuppe mit zerschlissenem Bauernkittel und löchrigem Hut. War es das, was seine Gefährtin beunruhigt hatte? Nun, Haldana war ihm seit dem Kampf um Helbers Hof irgendwie verwirrt vorgekommen...aber derart närrisch war sie nun auch wieder nicht gewesen.
Er folgte dem Weg und trat nach einigen Schritten auf einer Art Lichtung im Kornfeld. Das Getreide war überall ringsherum niedergedrückt. Ein Kampf? Nein, das sah alles zu regelmäßig aus. Ein Kreis, ein vollkommener Kreis von der Größe eines Wehrturms in der Rommilyser Stadtmauer. Keine Fußspuren, nichts. Die nassen Halme schienen mit großer Kraft auf den Boden gepresst worden zu sein, aber beschädigt waren sie kaum.
"Hexenringe", so nannte man die Kornkreise in der Sichel. Manche behaupteten, sie wären ein Tanzplatz für die Töchter Satuarias oder Feenkreise. Die Alten raunten, es wären Windgeister, die im Getreide spielten. Er als Firunsgeselle wusste es besser: Brünftige Rehe hinterließen bei ihrem Liebeswerben solche Spuren (einen Augenblick lang kehrte beim Gedanken an Böcke und Ricken der alte Groll in sein Herz zurück).
Es war ein großer und gleichmäßig runder Kornkreis, sicher acht Schritt im Durchmesser. Gleichzeitig endeten hier Haldanas Spuren. Sie war einfach in den Hexenring hineingegangen - und nicht wieder hinaus. Als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden, durch die Halme hindurch in Sumus Reich hinabgesunken. Tuvok tastete nach seinem Amulett. Er war ein guter Fährtenleser. Aber diese Fährte ergab keinen Sinn. Zumindest keinen firungefälligen. So sehr er auch suchte und spähte, da war kein Hinweis mehr. Ein schmaler Pfad, und ein großer Kreis an seinem Ende. Ein Hase, der zwischen den Halmen davon hoppelte. Das war alles.
Tuvok hob den Bogen, als er vom Pfad her ein Geräusch hörte. Es war Hesindian. Auch wenn der Jäger überderische Kräfte verabscheute, konnte er den Rat des Zauberers jetzt gut gebrauchen. In einigen Schritt Abstand folgten Rovik und Alrik. Jodokus, der schurkische Mädchenschänder, traute sich nicht in seine Nähe. Gut so.
"Was hat das zu bedeuten?" fragte Hesindian.
"Das wollte ich dich gerade fragen" Tuvok reichte dem Magier die Laute. "Die stand am Apfelbaum, neben dem Weg zu Helbers Hof. Mir kommt es so vor, als wollte Haldana einfach nur eine Saite reparieren, die gerissen war. Als wäre sie gar nicht davon gelaufen."
Der Magier zupfte eine undeutliche Melodie. Es fehlte nicht viel, und die Erinnerung an Haldana hätte den Jäger übermannt.
Verzweifelt raufte er sich die Haare.
"Haldana! Wo bist du?"
Irgendwo in der Ferne antwortete ein mattes Echo.
Alrik öffnete seine Augenklappe und spähte ebenfalls um sich. "Moment...Haldana läuft mitten in der Nacht auf einen Acker...nur um dort ihre kaputte Laute zu flicken?"
"Nicht mitten in der Nacht. Es war wahrscheinlich schon dämmrig. Sie war aufgewühlt, durcheinander, konnte nicht mehr schlafen und wollte sich irgendwie ablenken...und hat vom Weg aus etwas entdeckt. Etwas im Kornfeld."
"Soll das heißen, sie wurde verschleppt?" Rovik stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Halme blicken.
"Von wem?"
"Es gibt keinerlei Kampfspuren" sagte Tuvok. "Das ist alles sehr merkwürdig."
"Fürwahr." Hesindian reichte die Laute an Alrik, der sie genauer in Augenschein nahm. Eine kleine Kerbe am Lautenhals schien schon etwas älter zu sein. "Womöglich ein TRANSVERSALIS, oder eine Art Feentor...Ich hoffe inständig, es hängt nicht mit dem Unheiligtum dort drüben zusammen..."
Tuvoks Augen weiteten sich vor Entsetzen, während er sich hilflos um die eigene Achse drehte: "Haldana??!"
Der Magier kniete in der Mitte des Kornkreises nieder, murmelte etwas und schien einen Zauber zu wirken.
Nach einer Weile erwachte er aus seiner tiefen Konzentration.
"Hier hat Madas Kraft gewirkt", nickte der Zauberer. "Aber die Residual-Spuren sind ganz schwach, kaum noch wahrnehmbar. Was immer sich in diesem Kreis befunden hat, jetzt ist es wieder verschwunden. Seit einigen Stunden schon."
Der Blick des Magiers ging versonnen nach oben, zum Himmel.