4. Kapitel - Eine Sommernacht auf Burg Schlotz

4. Kapitel

Eine Sommernacht auf Burg Schlotz




Burg Schlotz, 2. Praios 1043
Haldana vermochte nicht zu sagen, warum sie aus dem Schlaf aufgeschreckt war. Wieder einmal. Völlig unvermittelt hatte sie die Augen aufgeschlagen und in die Finsternis geblickt. Nichts war zu sehen. Natürlich. Und dennoch. Wieder beschlich Haldana das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie bekam eine Gänsehaut. Ein Hauch Kälte war zu spüren. Ein Gefühl, das Haldana inzwischen kannte, das ihr aber dennoch jedes Mal wieder Angst einflößte. Haldana griff nach ihrem Bienenamulett, das sie auch nachts nicht abnahm.
“Püppchen, du weißt selbst, dass das Amulett nichts hilft” vernahm Haldana die ihr bekannte körperlose Stimme.
“Verschwinde!” dachte Haldana zurück.
“Hast du gedacht, ich würde dich nur an den Tagen des Güldenen Herrn besuchen, mein Liebes? Weit gefehlt. Du bist meine Frau, meine Gemahlin. Daher ist Burg Schlotz meine Burg. Vergiss das nicht. Komm her, Kind, gib deinem Gemahl einen Kuss.” Ein eisiger Lufthauch umspielte Haldanas Lippen. Haldana würgte und hustete.
“Verschwinde, Golo, du willst doch nichts von Frauen. Kümmere Dich um die Lustknaben in Rommilys, aber lass mich in Frieden.”
Ein kaltes, tonloses Lachen war die Antwort. “Stimmt, dein Körper interessiert mich nicht.. Nein, nicht ganz. Nützlich ist er mir dennoch, kluges Kind. Du hast übrigens Recht. Mit deinem Vater. Er konnte nicht in den Wutzenwald, weil die Wutzen ihn nicht herein gelassen haben. Sie mögen niemanden, der zum Sonnengott betet. Nengarion hingegen hat die Zwölf abgelehnt. Der Wald spürt das. Du dürftest übrigens auch gefahrlos den Wutzenwald betreten, denn du gehörst schon lange zu mir. Deine Seele gehört schon lange IHM.”
Haldana wollte schreien, doch der Schreib blieb ihr tonlos in der Kehle stecken.
“Du lügst” dachte Haldana schließlich zu Golo, als sie sich gefasst hatte. Wenigstens halbwegs gefasst. Die Schlotzerin spürte das Blut in ihrem Hals pulsieren, kalter Schweiß war auf ihre Stirn getreten.
“Ich habe es nicht nötig zu lügen. Und du weißt das. Wenn du also einmal in den Wald musst… ruf mich einfach, ich werde den Wutzen sagen, dass du auf der richtigen Seite stehst.”
Haldana warf einen Kerzenleuchter in die Richtung, aus der Golos tonlose Stimme kam. Wieder lachte Golo auf. Ein metallisches Klirren schallte durch die Burg, als der Kerzenleuchter auf dem Boden aufschlug.
“Ach, hör auf, Kind. Du weißt inzwischen, dass ich nicht mehr körperlich bin. Ich dachte wirklich, du hättest das zwischenzeitlich verstanden. Vielleicht bist du doch nicht so klug, wie ich dachte. Aber das ist egal. Du wirst den Dir zugedachten Platz in meinem Plan erfüllen.”
Haldana sprang aus dem Bett und eilte zur Tür.
“Wohin willst du, Eheweib?” herrschte Golo sie an. Der hölzerne Riegel rutschte in die dafür vorgesehene Halterung, ehe Haldana die Tür öffnen konnte. Wieder wollte Haldana schreien, aber nur ein raues Krächzen entrang ihrer Kehle. Erschrocken wich Haldana einen Schritt zurück. “Du bist mein, Eheweib, hast du das vergessen? Du tust, was ich Dir sage. Ob du es willst oder nicht. Du hast ohnehin keine andere Wahl. Also bleib stehen und hör zu, was ich Dir auftrage, Püppchen.”
“Hochgeboren heißt das, nicht Püppchen.” Die Baronin begehrte auf, wollte keine Angst zeigen. Angst, die sie dennoch empfand und kaum unter Kontrolle halten konnte.
“Hochgeborenes Püppchen, sicherlich.” höhnte Golo. “Natürlich ein Hochgeborenes Püppchen, mit einer Gemeinen könnte ich meine Pläne ja nicht umsetzen. Diese Burg braucht einen Herrscher, der dem Güldenen dient. Was nützte mir da eine Bauernschlampe. Also… Hochgeborenes Püppchen, du wirst die dir zugedachte Aufgabe erfüllen.” spottete Golo.
“Niemals”
“Du tust es doch schon. Seit sechs Wochen schon.” Golo lachte kalt.
Haldana stürzte an Golo vorbei - nein, vielmehr durch ihn hindurch - zur Tür, zog den Riegel heraus und riss die Tür auf. Wieder rannte sie die Wendeltreppe mit den viel zu großen Stufen hinunter, den Weg zum Burghof.
“Was denn” stellte sich ihr Golo in den Weg. “Wieder zu der Statue von der Löwinnenschlampe?” höhnte er.
Haldana hielt inne, sprang zur Seite, hastete zurück. Plötzlich prallte sie gegen  jemanden, stolperte und stürzte zu Boden. Das unheimliche Lachen Golos verklang.
“Haldana…” hörte die Baronin die vertraute Stimme Alborans. “Was ist los? Ich habe ein Klirren gehört...” Der Junker, der ebenfalls zu Boden gestürzt war, rappelte sich auf.
Haldana starrte Alboran an und richtete sich am Treppengeländer auf. Nervös blickte sie sich um, und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Von Golo war weit und breit nichts mehr zu sehen. Irgendwo in der Vorburg, vielleicht auch unten im Dorf, bellte ein Hund. Dann herrschte wieder Stille. In den Weiten der Burg schien niemand sonst etwas von dem Lärm mitbekommen zu haben.
Die junge Adelige atmete erstmal tief durch. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie sich wirklich über Albos Gegenwart freute. Warum schlich er nachts in der Burg herum und niemand sonst? War es die Macht Rahjas, die ihn die Gefahr hatte spüren lassen, in der seine Geliebte schwebte, das Scheppern des Kerzenleuchters...oder etwas anderes? So ganz war die Möglichkeit nicht aus der Welt, dass er doch der Nachkomme dieses...dieses Alptraumwesens war, das sie gerade heimgesucht hatte. Mehr als einen Moment lang war die Schlotzerin völlig durcheinander. Alles kam ihr plötzlich wie ein wirrer Traum vor, selbst ihre Hochzeitsvorbereitungen.
Alboran suchte mit dem Fuß nach der linken Pantoffel, die er gerade verloren hatte, und erspürte etwas anderes: “Was ist denn das?”
Im Schummerlicht hob er eine Handvoll Moos auf.
“Das gehört mir”, sagte Haldana einsilbig, nahm das Grünzeug an sich, hob ihr Nachthemd und brachte das Moos wieder an den Platz, an den es gehörte. Vorsorglich hatte sie seit einigen Tagen wieder Moos verwendet, eigentlich wäre es bald wieder an der Zeit dafür. Alboran bekam trotz der Dunkelheit sichtbar große Augen.
“Ich habe dich laut sprechen hören, Halda...und Lärm gehört...was ist passiert?” Der Junker wirkte völlig verwirrt. Über sein Nachtgewand hatte er seinen Mantel gelegt, in der Linken hielt er eine breitklingige Ochsenzunge. Irritiert rieb er die Finger der rechten Hand gegeneinander, mit denen er gerade das Moos angefasst hatte. “Schlafwandelst du?”
“Du hast gute Ohren”, sagte Haldana, und klang durchaus etwas misstrauisch.
“Ich war auf dem Weg zum Latrinenerker”, sagte Alboran halblaut.
“Für sowas brauchst du doch keine Hauswehr mitnehmen. Jedenfalls nicht in unserer Burg”. Haldana runzelte die Augenbrauen und deutete auf den Dolch. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles. War ihr vermeintlicher “Traviabund” nur eine abgründige Intrige, um namenlose Mächte an die Macht zu bringen, zuhause in Schlotz? Finstere Machenschaften, in die womöglich auch Alboran verwickelt war?
Albo nickte und drehte die die Dolchspitze nach innen. “Melian...also einer meiner Gießenborner Bauern hat mir mal eingeschärft, immer eine Klinge bei mir zu führen... und der hat viel erlebt im Krieg...nirgendwo wäre es im Feld so gefährlich wie nachts auf dem Donnerbalken...”
“In der Wildnis vielleicht...aber doch nicht auf Burg Schlotz.”
“Die Latrine ist ein Schwachpunkt in jeder Festung. Haben sie uns in Rommilys gesagt.” Alboran war nicht anzumerken, ob seine Worte ernst oder scherzhaft gemeint waren. Er fasste Haldana an den Oberarm.
“Was ist los?”
Die Binsböckel schüttelte unwirsch den Kopf und wich etwas zurück. “Zum Abtritt gehts da rauf. Nein, halt. Die Tür ist verschlossen, weil das Holz morsch ist. Auch nicht ganz ungefährlich, so ein Sturz in den Burggraben.”
“Ich sags ja, der Latrinenerker ist der Schwachpunkt jeder Festung. Das habe ich gerade gemerkt, deswegen bin ich jetzt auf dem Weg zum Misthaufen. Ich muss zum Glück nur klein. “ Albo grinste.
“Der Nachttopf ist unter dem Bett”, sagte Haldana, noch immer kurz angebunden.
“Ich hass die Dinger. Außerdem, dann bist du aber auch in der falschen Richtung unterwegs. Falls du nur mal kurz raus wolltest...
“Ach...”
Haldana merkte, dass sie barfuß herumlief. Kälte kroch von unten herauf. Auch wenn es Hochsommer war, der Boden war kühl, und der stete Luftzug in dem alten Gemäuer tat sein Übriges, um sie frösteln zu lassen. Sie eilte nach draußen, auf den Burghof. Tatsächlich, neben dem eisernen Schuhabkratzer standen zwei Paar klobige Holzschuhe, die dem Gesinde gehörten. Ihre Mutter verabscheute Schmutz im Haupthaus, mochte die innere Burg auch noch so trollig-urtümlich aussehen. Ebenso war ihr das Geklapper der “Zoggeli” auf dem Steinboden verhasst. Haldana schlüpfte in die Holzschuhe, die weich mit Stroh gepolstert waren. Alboran schien den Gedanken spaßig zu finden, wie ein Bauer herumzulaufen, und tat es ihr nach.
“Meine Schuhe drücken”, stellte er mit verkniffenem Gesicht fest.
“Meine sind etwas zu groß.”
“Dann sollten wir tauschen.” So geschah es auch. Alboran legte ihr galant seinen Umhang um die Schultern. Auch wenn es draußen angenehm mild war, wusste Haldana die ritterliche Geste zu schätzen. Mit einer Geste beruhigte sie eine Wache oben auf der Burgmauer, die in ihre Richtung spähte. Offenbar hatte die besorgte Gardistin den Krach ebenfalls gehört.
“Gehen wir jetzt gemeinsam zum Misthaufen?”
“Der ist in der Vorburg. Außerdem wäre so ein Verhalten unschicklich, für das künftige Baronsehepaar von Schlotz. Vor den Augen der Nachtwache. Lass uns in die Rondrakapelle gehen, für ein kurzes Gebet. Solange hältst du es wohl noch aus… Ansonsten gibts für euch Jungs den Burggarten.”
“In die Kapelle? Für ein Gebet? Um diese Zeit?”
“Ich hab schlecht geträumt, das ist alles.“
Alboran nickte. Sie betraten den kleinen Schrein, in dem eine einsame Kerze auf einem Kandelaber brannte.
Haldana kniete vor dem Altar nieder, die Hände aufeinander gelegt, und betete.
“Herrin Rondra, dein ist die Herrlichkeit des Kampfes… nach deinen Geboten überwand ich den Gegner… doch dir allein gebührt die Ehre des Sieges.”
Alboran blickte erstaunt, während er den Dolch vor sich ablegte und ebenfalls die Gebetshaltung einnahm.
“War eine Maus bei dir in der Kammer?”
Haldanas Miene war tadelnd. “Wir sind auf heiligem Grund und Boden.”
“Ich meine es ernst. In den verfluchten Tagen ist mir eine übers Bett gelaufen. Wenn es nicht sogar eine Ratte war. ” Alboran murmelte etwas, was inbrünstig klang, und schlug das Zeichen des Schwertes.
“Ich habe keine Angst vor Mäusen. Vor Ratten allerdings schon...manchmal.” Haldana beschwertete sich mehrfach und blickte hinauf, in das edle Antlitz der Löwin. Wenn Alboran nicht mit offenen Karten spielte. Dann würde die Herrin ihr doch ein Zeichen senden, oder etwa nicht?
Zumindest spürte sie, wie unter Rondras Blick die eisige Furcht verschwand, die gerade noch ihre Glieder gelähmt hatte.
“Umgürte mich mit deinem rechten Glauben, bewehre mich mit deinem Mut...”
“Du scheinst wirklich schlecht geträumt zu haben?” Alboran wirkte ehrlich besorgt.
“Dein Vater ist mir erschienen”, antwortete die Schlotzerin doppeldeutig.
“Alrik? Schleicht er nachts wieder in fremde Schlafzimmer? Ich dachte das hätte er sich abgewöhnt.” Der Junker lächelte, wenn auch etwas bemüht.
“Nein...” Haldana räusperte sich den Hals frei. “Dein anderer Vater. Golo von Gießenborn.”
“Mein anderer Vater? Davon hatten wir es heute erst. Du solltest den Schiefhals am besten vergessen. Sowas gibt wirklich nur böse Träume. Wenn man vom Namenlosen spricht, und so weiter... du weißt schon.”
“Immerhin. Es könnte gut sein, dass ich ihn erschlagen habe. Auf dem Darpat, mit meiner Laute.”
“Hmm... was soll ich dazu sagen? Hoffentlich ist deiner Laute nichts passiert?!” Alborans Stimme klang ein wenig zu rau. Dumpf polterte einer der Holzschuhe von seinem Fuß. “Ein derart unrondrianisches Ende, das würde wahrlich zu diesem Schurken passen... diesem verrückten Selemiten.”
“Hättest du denn überhaupt keine Probleme damit... also... wenn ich deinen Vater... also dass ich deinen offiziellen Vater getötet habe... haben könnte?”
Das Würgen in Haldanas Kehle wurde stärker. Einen Moment lang sah sie ein anderes Gesicht vor ihrem geistigen Auge, ein Gesicht, das nicht dem Schiefhals gehörte. Ein bartloses, kantiges Antlitz, braune Haare, dunkle, milde, fast schon gütige Augen...im nächsten Moment flog das Haupt ihres eigenen Vaters in die Dunkelheit davon, mit bleichen, blutbespritzten Lippen. Als wäre es durch einen unsichtbaren Hieb vom Körper getrennt worden.
Baron Tsafried von Schnayttach zu Schlotz. Haldana schauderte und kam sich gleich im doppelten Sinn wie eine Vatermörderin vor. War es Zufall, dass sich namenlose Gespenster bis in ihr Schlafgemach schleichen konnten? Oder war ihre Seele selbst schon auf dem Weg in die Verderbnis? Hatte sich das Böse längst auf Burg Schlotz ausgebreitet? Mit einem Mal blickte die Göttin drohend und unnahbar. Oder abweisend?
Alboran antwortete nicht, sondern starrte düster geradeaus. Sein Nachthemd sah ein wenig aus wie ein Büßergewand.
“Ich meine...kannst du dich wirklich daran erinnern, dass dein Ohr magisch geheilt worden ist, Albo? Deine Mutter Ismena hätte schon auch Grund, es zu verheimlichen, falls Golo dein wahrer Vater wäre.”
Haldana wunderte sich, wie offen sie darüber sprach. Aber Rondra war nun einmal die Feindin jedweder Hinterlist, nicht nur auf dem Schlachtfeld oder im Zweikampf.
Der Junker schüttelte unwillig den Kopf. “Mein Ohr wurde nicht...geheilt. Es war ja vorher nicht verstümmelt. Und nein, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es passiert ist. Wahrscheinlich Onkel Redenhardts Zauberer. Ich muss noch ganz klein gewesen sein, als er nach Gießenborn gekommen ist. Meine Mutter hat mal gemeint, es wäre wegen der Gerüchte gewesen, wonach mir ein Schwein ein Stück vom Ohr abgebissen hat. Während sie wieder mal betrunken war, oder mit ihren Säbeltanzern zusammen gewesen sein soll. Säbeltänzer, Kavaliere, und so weiter...Dieser ganze Klatsch und Tratsch halt. Mehr weiß ich eigentlich nicht.”
Nach und nach wurde es in der Kapelle heller. Der Geruch von Bienenwachs erfüllt das kleine Gemäuer. Haldana spürte, wie Zuversicht in ihre Seele zurückkehrte. Die Gebetshaltung wurde dennoch unangenehm, also stand sie auf. Dann runzelte sie die Stirn. Es wurde heller?
Tatsächlich, statt einer Kerze brannten auf dem Halter jetzt vier. Verwirrt sah sie sich um. Alboran kniete auf seinem Schemel, er konnte es nicht gewesen sein. Hatte ihr “Gemahl” seine Drohung wahr gemacht und sie bis in den Schrein verfolgt?
Die Tempelkerzen bestanden aus gelbbraunem, feinem Wachs von langer Brenndauer, waren aber schon ziemlich zusammengeschmolzen (nachdem sie die Namenlosen Tage mit ihrem rötlichen Licht erfüllt hatten). Haldana konnte sich nicht daran erinnern, dass man sie auf der Burg auch noch den gesamten Praiosmond brennen ließ, geschweige denn bei Nacht. Die Kosten, aber auch die Feuergefahr waren einfach zu hoch. Der Kandelaber brauchte nur aus irgendeinem Grund umzustürzen und noch ein Stückchen weit zu rollen, und der Wandteppich dort würde lichterloh brennen.
Der Geruch nach Wachs ließ dennoch eine gehobene Stimmung in ihr aufkommen. Fast schon glaubte sie, kleine, lustige Gesichter in den Stumpen wahrnehmen zu können.
Haldana schnupperte. Außer dem Kerzenduft lag noch eine andere, zarte Geruchsnote in der Luft, die etwas unangenehmer war. Es roch irgendwie, ja, sie täuschte sich nicht. Es roch leicht nach Schwefel.
“Du kannst jetzt von meinem Schwanz wieder runter, mit deinen blöden Holzlatschen!”
Erschrocken wich Haldana zurück. Hörte sie schon wieder Gespenster? Immerhin, Alboran schien es auch mitbekommen zu haben, denn er warf ihr einen verdutzten Blick zu.
Allerdings merkte der Junker rasch, dass es nicht Haldanas Stimme gewesen war, die gesprochen hatte. Die Stimme war irgendwie kratzig, knisternd und rauchig gewesen, eine Art Mischung aus Papagei, fauchender Katze und Lagerfeuer. Haldana merkte einen Widerstand unter dem Fuß und zog ihn zurück. Sie starrte auf den dunklen Boden, der merkwürdig verschwommen wirkte. Im nächsten Moment färbte er sich grünbraungrau, bekam echsenähnliche Konturen, vier klauenbewehrte Beine und große, durchscheinende Fledermausschwingen.
Alboran zückte seine Klinge und stellte sich etwas theatralisch vor Haldana. Wich allerdings erschrocken zurück, als “Es” aufflatterte und im nächsten Moment im Dachgebälk saß: Ein kleiner Drache von vielleicht zwei bis drei Spann Größe, mit goldenen Katzenaugen, schnabelähnlichem Maul, lindgrünem Kamm und einem sich schlangenähnlich ringelnden Pfeilschwanz. Die Echse schnaubte aufgeregt kleine Rauchwölkchen aus und schaute derart böse, dass es fast schon wieder drollig aussah.
“Was seid ihr denn für welche?” fauchte es von oben. “Kann man hier nicht mal in Ruhe schlafen, ohne dass ihr Blindschleichen einem auf den Schwanz tappt? Und dann dieses ständige Gequassel! Hast du was dagegen, dass ich deinen Vater getötet habe? Eine Maus, huch, eine Maus ist durch mein Schlafzimmer gehuscht! Oder war es doch eine Ratte? Beim großen Famerlor, könnt ihr das nicht alles morgen bequatschen, wie normale Zweibeiner? Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist? Außerdem, ich mag einen Schuppenpanzer haben, aber deswegen bin ich noch lange nicht schmerzfrei. Ich glaube, da ist eine klitzekleine Entschuldigung fällig, junge Dame. Du bist nämlich ganz schön schwer für dein Alter, Fräulein.”
Haldana schüttelte den Kopf. Auch wenn sich das Maul des Drachen bewegte und er aufgeregt züngelte, schienen sich die Worte mehr in ihrem eigenen Kopf zu formen. Oder?
“Entschuldige” sagte die junge Baronin, völlig überrumpelt. “Aber ich habe dich wirklich nicht gesehen...und auch nicht erwartet. Hast du die Kerzen angezündet?”
“Nein, die Kerzen haben sich selber angezündet, wie immer. Ja, natürlich habe ich sie angespuckt, wer denn sonst? Ich wollte wissen, wer mich da in der schönsten Nachtruhe stört.”
“Nun mach mal langsam. Noch bin ich hier die Hausherrin!” Haldana stemmte die Arme in ihre Seite.
Der kleine Drache rümpfte die Echsennase. Oder breitete er einen größeren Feuerstrahl vor? Die beiden jungen Adeligen wichen vorsichtshalber ein wenig zurück.
“Ich warne dich, das hier ist ein Haus der Rondra.” Alboran versuchte tapfer zu klingen, merkte aber, wie seine Knie schlotterten. Vor ein paar Wochen hatte er seinen ersten Gegner (endgültig) in das Reich des Boron befördert. Nun stand er bereits einem leibhaftigen Drachen gegenüber. Mit nichts weiter als einem Dolch.
“Was jetzt, deine Freundin heißt Rondra?” Mit goldenen Augen musterte die Echse die Schlotzerin.
“Mein Name ist Eure Hochgeboren Haldana von Schnayttach zu Schlotz. Mir gehört diese Burg!” Das Burgfräulein versuchte streng zu klingen.
Der Drache schnaubte erneut, was sich wie ein Blasebalg anhörte. Tatsächlich verströmte er Hitze, wie ein kleiner Ofen. Und roch nach Schwefel.
 Er schien jetzt allerdings eher verblüfft als mürrisch zu sein.
“Haldana? Haldana von Schnayttach zu Schlotz? Dann ist der andere - Alboran? Bei Pyrdacors Hort, ich habe mich euch beide irgendwie...beeindruckender vorgestellt! Aber jetzt wo dus sagst. Die verunglückte Frisur passt schon mal auf die Beschreibung.”
 “Vielleicht solltest du dich auch mal vorstellen?”
Der Besucher deutete eine Verbeugung an, unter gespreizten Schwingen: “Knister. Knister vom Drachenwald. Ich möchte ja nicht unbescheiden sein. Aber der Wald wurde nach mir und meiner Sippe benannt. Nicht nach irgendwelchen Baumdrachen, Kaiserdrachen oder Riesenlindwürmern. Auch nicht nach dem großen, furchterregenden Arlopir. Nicht mal fliegen konnte der. Hat sich von so einer dahergelaufenen Zweibeinerin knechten lassen, dieser Kriecher! Von wegen Drache. Unfassbar!”
“Der Drachenwald bei Rübenscholl...” nickte Alboran wissend. “Dort soll es Taschendrachen geben, manche sagen auch...Meckerdrachen.”
Knister schnaubte erneut, und brodelte jetzt wie ein Westentaschenvulkan. “Hausdrache! Ich bin ein Hausdrache! Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied! Verstanden?”
“Ein Hausdrache? Ich dachte, den lernt man erst kennen, sobald man verheiratet ist”, witzelte der Junker und erntete einen Rippenstoß seiner Geliebten.
“Die eine Kerze hat schon gebrannt, als wir hereingekommen sind”, stellte Haldana fest. “Was eigentlich nicht sein darf, wegen der Feuergefahr. Ohne Aufsicht. Hast du nicht gesagt, du hättest schon geschlafen?”
Erneut senkte Knister sein Drachenhaupt. “Ich kann schlecht einschlafen, wenns zappenduster ist. Im Feurigen Lindwurm glüht das Kaminfeuer auch immer so schön nach.”
“Im ältesten Wirtshaus von Rübenscholl” sagte Alboran. “So stimmt es also doch, dass dort ein Drache haust, der mit Torben dem Wirt im Bunde sein sein soll. Was machst du in Schlotz, so weit westlich?”
“Deine Urgroßmutter lässt dich grüßen. Ludwina, die Hexe vom Drachenwald. Eigentlich wollte sie Answin schicken, ihren Raben, aber der kann nur ein paar Wörter krächzen, der Dummkopf.” Knister grinste verächtlich. “Stinkfaul ist er auch, der feine Herr Hexenrabe. Und lässt sich von jedem Stück Aas ablenken...”
“Ludwina ist nicht meine Urgroßmutter”, sagte Alboran.
“Das kannst du ihr gerne selber erzählen.” Knister klang schon wieder schnippisch. “Ich habe einen Brief von ihr, ach, wo ist er denn hin gerollt.” Der Meckerdrache flatterte aufgeregt herum, spähte mal hierhin, mal dorthin.
“Was machst du hier im Rondraschrein?” wollte Haldana wissen, um die Zeit zu überbrücken. Irgendwie kam ihr der Drache nicht allzu gefährlich vor. Eher possierlich, wie ein Eichhörnchen, dass eine vergrabene Nuss suchte.
“Das Gleiche könnte ich euch fragen. Eigentlich wollte ich mir nur eine leckere Schwalbe fangen, zum Abendessen. Der blöde Vogel ist rein in den Schrein und dort durch das kleine Fensterchen wieder raus. Dann macht auch noch irgendein Trottel die Tür hinter mir zu. Sicher, ich hätte mich jederzeit befreien können.” Der Meckerdrache, der jetzt auf dem Altar saß, reckte stolz sein gehörntes Haupt. “Aber da der Flug lang war und ich sowieso nicht wusste, wo ich euch finde, habe ich erst einmal beschlossen, zu rasten. Morgen ist auch noch ein Tag.”
“Fürwahr.” Alboran gähnte. “Also ich hätte jetzt die richtige Bettschwere. Aahhh...Alrik wird sich über diesen fliegenden Pfeifenanzünder freuen.”
“Wie meinen?” fragte der kleine Drache, mit bedrohlichem Schlinger-Blick.
“Schon recht, werter Herr Riesenlindwurm. Nach allem, was mir neulich in den Trollzacken passiert ist, wundert mich gar nichts mehr.”
Haldana hatte derweil die Schriftrolle entdeckt, die unter einem der Betschemel lag. Vermutlich hatte sie der kleine Drache auf der Vogeljagd fallen gelassen.
“Ist das der Brief?”
Knister nickte, also hob Haldana ihn auf. Sie zerbrach das weinrote, leicht angeschmolzene Siegel, das aus irgendeinem Grund das Steinbockwappen der Familie Friedwang-Glimmerdieck zeigte. Dann fiel es ihr wieder ein: Ludwina, die Hexe, war ja die Gemahlin des älteren Junkers Golo gewesen, somit ein Mitglied des Hauses.
“Möchtest du ihn lesen? Er scheint an dich adressiert zu sein.”
Alboran winkte ab. “Mit dem Lesen und Schreiben hab ichs nicht so.” Der Friedwang klang, als wäre er sogar stolz darauf. “Außerdem, mit diesem praiosverfluchten, buckligen und warzigen Hexenweib möchte ich eigentlich nichts zu tun haben.”
Knister blies erneut Rauch durch die Nasenlöcher. Dann zuckte er mit den Schwingen. Scheinbar gleichmütig begann er seine Schuppen aufzustellen und sich wie eine Katze zu putzen.
Haldana trat in den Kerzenschein und entrollte das Papier.



Im Eulenkuhl, am ersten Tag der Sonnwendfeier

Mein lieber Alboran!
Wundere Dich nicht, dass ich mich auf derart ungewöhnliche Weise bei Dir melde. Oder dass ich mich überhaupt an Dich wende. Aber ich bin nun einmal Deine Urgroßmutter, vielleicht nicht der Stimme des Blutes, aber doch der Stimme meines Herzens nach. Lass es Dir von einer Tochter Satuarias gesagt sein: Das Herz allein zählt bei unseren Entscheidungen. Unser gemeinsamer Name “von Friedwang” ist jedenfalls mehr als nur Schall und Rauch. Ich schicke Dir und Deiner Geliebten den Taschendrachen Knister: einen treuen Diener unserer eingeschworenen Gemeinschaft, die man die Hexen vom Eulenkuhl oder einfach nur die Diener Sokramors in der Baronie Friedwang nennen könnte.

Knister vermag seine Schuppenfarbe jedwedem Hintergrund anzupassen, so dass er bisweilen als unsere Augen und Ohren dient. Du brauchst es Deinem Vater – ich rede von Baron Alrik – nicht gleich auf die Nase zu binden. Aber manchmal besucht der kleine Drache Deine Stiefmutter, Baronin Serwa, auf Burg Friedstein, wo es immer ein paar Leckereien und Neuigkeiten zu ergattern gibt. Er mag ein wenig mürrisch und streitsüchtig sein – nennt ihn auf keinen Fall Meckerdrache! Aber glaub mir, er hat seinen Karfunkel am rechten Fleck und könnte euch noch manch wertvollen Dienst erweisen! Ich habe ihn gebeten, bis zu dem Tag über euch beide zu wachen, an dem ihr die Herrschaft über sein Heimatdorf Rübenscholl antreten werdet (wo er schon seit dreißig Götterläufen oder mehr im Kamin des Dorfwirtshauses residiert).

Knister hat mir versichert, dass er rein zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen Serwa, Alrik und Deiner Mutter geworden ist, als er einen Räucherschinken im Kamin der Burg angeknabbert hat. In der Unterhaltung ging es um eure Abenteuer in den Trollzacken, in der verfluchten Mine von Kurgasberg. Wie es scheint, hat Sisa Brundel, meine alte Feindin, ihre gerechte Strafe erhalten. Dafür möchte ich Dir und Haldana inständig danlen! Zwar betrübt mich die Nachricht von Gerrichs Ableben, in Gedanken an frühere Zeiten. Aber Gernots Vater hat sein Schicksal selbst gewählt und leider mehr als verdient. Allerdings war es leichtsinnig von euch, das Riesenfass von Rommilys gänzlich unbewacht in Kurgasberg zurückzulassen. Als ich mit meinem Hexenbesen dorthin aufgebrochen bin, war das Fass schon im heiligen Feuer des Praios verbrannt: Entfacht von einer Lanze Bannstrahler, die sich zuvor vergeblich abgemüht haben, es zu öffnen.

Ich könnte damit leben, wenn mir die Bergbauern nicht von einer finsteren Kapuzengestalt berichtet hätten, die wenige Stunden vor mir im Tal eingetroffen ist. Die Beschreibung der Fremden war überaus vage, aber auffallend war doch, dass ihr ein Finger der rechten Hand gefehlt hat. Sie soll aus den verkohlten Überresten des Hexenhauses einen Spiegel mitgenommen haben: Der das Feuer des Scheiterhaufens vollkommen unbeschadet überstanden hat, und hernach von einem törichten Köhler an sich genommen worden ist. Die Neunfingrige hat ihm dafür gutes Gold bezahlt, so dachte der Einfaltspinsel zumindest – bis er merkte, dass er von Ihr nur ein paar Tannenzapfen erhalten hat, anstelle von Dukaten. Ich roch an dem Wein, den er zusammen mit der Betrügerin getrunken hatte, und bemerkte sofort den süßen, allzu süßen Duft des Dunklen Trosts. So nennt Yasinthe Dengstein ihr namenloses Gebräu: Ein purpurfarbenes Gift, das die Sinne verwirrt und jeden aufrechten Diener der Zwölfgötter in ein willenloses Werkzeug des Namenlosen zu verwandeln vermag. Ja, ich fürchte, eure wahre Gegnerin in dieser Geschichte war Yasinthe die Falknerin, wie sie genannt wurde, als sie noch einen schwarzen Falken als Gefährten hatte. Die Ysilierin ist eine machtvolle Dienerin des Dreizehnten, die schon seit vielen Jahren ihr Unwesen diesseits der Berge treibt.

Sie war es wohl, die damals, kurz nach deiner Geburt, die armseligen Horden der Gleißer zum wahnwitzigen Hungeraufstand angestachelt hat, unter dem Namen Nerdane von Nordenheim. Vor einigen Jahren hat sie versucht, die Familie Gernatsborn ins Verderben zu stürzen: ein Plan, der auf der Insel Fischermanns Freund am Eingreifen der Schatzgarde und des Junkers Storko gescheitert ist. Lange dachten wir, sie wäre auf der Flucht in der Orkensauffe ertrunken, aber das Böse lässt sich niemals auf Dauer besiegen. Immerhin meidet sie nun Friedwang, wo der Praiostempel ihr Antlitz bereits kennt. Sie scheint Ysildas Ring zu suchen, ein machtvolles Artefakt, das in den unseligen Tagen gestohlen wurde, als die Drachenmeisterin Varena unsere Baronie verwüstet hat – die Herrin Arlopirs des Mordbrenners. Zuletzt befand der Ring sich im Besitz der Tsageweihten von Zaberg, Ysilda mit Namen, die aus Schlotz stammt. Man kann damit Wege in die Anderwelt finden, und Tore in das Reich der Feen öffnen. Manche sagen, dass der Ring auch dämonisches Wirken anzeigt.

Auch ich habe ihn einmal in Händen gehalten. Dieses beseelte Artefakt ist gefährlicher, als es den Anschein haben mag. Wie so oft, ist seine Macht in den vergangenen Jahrhunderten gewachsen. Der Ring hat mittlerweile ein Eigenleben entwickelt. Ich fürchte, er spürt Feenwesen und niederhöllische Kreaturen nicht nur auf, sondern lockt sie regelrecht an. In der Hand eines Wissenden mag es mit ihm sogar gelingen, jenseitige Wesen herbei zu rufen, zu binden und zu beherrschen. Es ist nur das Gefühl einer alten Hexe aus dem Drachenwald, die in solchen Dingen aber nicht ganz unerfahren ist. Yasinthe könnte früher oder später auch in Schlotz auftauchen, wo Du demnächst an den Altar der Travia treten möchtest - nach allem, was man so hört? Dafür wünsche ich Dir und Haldana von ganzem Herzen Satuarias Segen. Den Segen der zwölf Götter werden Dir gewiss andere spenden.

Aber sei gewarnt. Die Feenwesen und Biestinger des Wutzenwaldes sind mächtiger und zahlreicher als in Friedwang, Gallys oder Oppstein – wer sie beherrscht, mag sich leicht die gesamte Baronie Schlotz und deren Nachbarn unterwerfen. Ich hege den Verdacht, dass die Neunfingrige auf Rache sinnt, nicht nur gegenüber Storko und Glyrana von Gernatsborn-Mersingen, die damals ihre Pläne in Efferding vereitelt haben. Auch ihr könntet ihren Zorn geweckt haben.

Als Bettlerin verkleidet, ist es mir gelungen, in Rommilys noch ein paar Erkundigungen einzuholen. Die Straßenräuber, die dich verschleppt haben, haben dazu Dunklen Trost verwendet – ein Rauschkraut, das in der Metropole am Darpat bislang noch nicht allzu oft aufgetaucht ist. Der finstere Plan, die Hauptstadt in Angst und Schrecken zu versetzen, trägt irgendwie Yasinthes neunfingrige Handschrift, auch wenn ich meine Vermutung nicht zu beweisen vermag. Selbst wenn sie mehrfach gescheitert zu sein scheint, darf man sie keinesfalls unterschätzen: Das Chaos allein ist ihr Ziel. Es scheint in Rommilys einen mächtigen Geheimbund des Dreizehnten zu geben, in dessen Dunstkreis sich Yasinthe jetzt bewegt. Der Anführer soll längst im Palast der Markgräfin ein- und ausgehen und auch sonst manch vermeintlicher Ehrenmann dem Zirkel angehören.

Gewiss, die Kultisten in Kurgasberg waren Anhänger der erzdämonischen Feindin der Göttin Peraine und unserer Herrin Satuaria. Aber spricht man von den Zorganpocken nicht als der Seuche des Namenlosen? Es kann kein Zufall sein, dass Yasinthe derart schnell im Kurgastal aufgetaucht ist. Vor allem aber kennt sie Golo aus den dunklen Tagen, als der Vampirmagier Merwan Friedwang heimgesucht hat - ein Kind der Finsternis, das zum Glück für uns alle nicht mehr auf Dere weilt. Vernichtet wurde er durch eben jene Tsageweihte Ysilda, deren Tempel im Krieg überfallen und ausgeraubt worden ist. Seitdem hat man nichts mehr vom Feenring gehört, den ein Onyxstein und eine kleine Blütenfee ziert.

Ich rate Dir, diesbezüglich auf der Hut zu sein, und auf alles Ungewöhnliche in Deiner Umgebung zu achten. Für euren gemeinsamen Lebensweg wünsche ich Dir und Deiner Haldana von Herzen Alles Gute.. Du wirst verstehen, dass ich nicht persönlich bei deiner Hochzeit anwesend sein kann. Aber in Gießenborn oder Rübenscholl werden wir uns sicherlich einmal begegnen.

Es grüßt und küßt Dich

Deine “Urgroßmutter der Herzen”

Ludwina die Oberhexe

Postscriptum: Du solltest diesen Brief nach Erhalt vernichten, auch die Goldröcke haben ihre Augen und Ohren überall !
Postspostscriptum: Auch wenn es mich schmerzt, so bist Du doch der Sohn Alriks, nicht der Sproß meines missratenen Enkels Golo. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat Deine Mutter Grolmensalbe verwendet, um Deine “Alboranskerbe” zu kaschieren. Ich bin mir deshalb so sicher, weil ich diese Täuschung selbst in die Wege geleitet habe. Bedenke, dass du dieses Zeichen Deinem wahren Großvater, Lacertinus von Zaberg, verdankst, der Ysildas Amtsvorgänger im dortigen Tsatempel war. Ebenso war er ein Abkämmling des Hauses derer von Eppelein zu beider Prähnskaten, die wahrhaftig von Sanct Alboran abstammen. Es ist in der heutigen Zeit gefährlich, Nachkomme eines Heiligen oder gar selbst heilig zu sein! Wisse, dass es nicht nur Adelsränke waren, die deine Mutter dazu bewogen haben, den markanten Erbfehler zu beseitigen. Sondern auch und vor allem die Sorge um Dein künftiges Wohlergehen!
Postpostpostscriptum: Du solltest Deine Hochzeit besser nicht auf Burg Schlotz feiern. Die Verliese dort sind kaum weniger tief als die Abgründe unter der Mine von Kurgasberg

Ludwina



“Seltsam… etwas wirr, was meine, ähm, Urgroßmutter da schreibt. Noch seltsamer als der Bote, den sie geschickt hat.” sagte Alboran, als Haldana das Schreiben zu Ende vorgelesen hat. “Die Verwandtschaft kann man sich halt nicht aussuchen, vor allem die Verwandtschaft, die es eigentlich gar nicht ist.” Der Friedwang maß der erhaltenen Nachricht wenig Bedeutung zu. “Lass uns gehen, mit diesen wirren Phantasien kann ich nichts anfangen.”
“He, Stutzer.” krächzte Knister. “Ich bin nicht so weit geflogen, um mir anzuhören, dass du kein Interesse am Brief deiner Urgroßmutter hast. Du solltest das ernst nehmen. Ludwina macht sich nicht umsonst Sorgen.”
“Ach was. Eine vermummte Gestalt, die einen Spiegel aus den verbrannten Resten eines Fasses holt. Das ist doch Humbug. Dann soll sich diese Dengstein halt im Spiegel begaffen. Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die dümmste im ganzen Land. Ach, hör mir auf damit.”
“Alboran, das ergibt schon Sinn” warf Haldana ein. “Ich… kann das schlecht erklären. Aber diese Sisa Brundel ist zwar tot, so tot wie Gerrich. Aber ihre Seele ist noch nicht über das Nirgendmeer. Irgendwie hat sie es geschafft, sich in den Spiegel zu flüchten. Den Spiegel in ihrem Schlafraum im Riesenfass. Ihre Seele ist an den Spiegel gebunden. Ich habe das gesehen, damals in der Fasshütte. Wenn diese Dengstein davon Wind bekommen hat und den Spiegel deshalb mitgenommen hat… Nicht ausdenken, was sie damit bezweckt. Aber das beweist, dass Ludwinas Sorge echt ist und dass dem keine Phantasterei zugrunde liegt. Albo, kommt eigentlich Hesindian? Da wäre es jetzt ratsam, einen Magier um Rat zu fragen. Oder Magister Veneficus, der weilt meines Wissens gerade in Gernatsquell bei Valyria… Kein Magier da, wenn man einen braucht. Ich werde mir einen Hofmagier einstellen, gleich nach der Hochzeit.”
“Schlaues Kind, deine Gespielin!” keckerte Knister. “Du solltest auf sie hören, Muttersöhnchen.”
“Liebes, nun mal langsam” lenkte Alboran ein und ignorierte das Lästern des Meckerdrachens. Zwar hielt er nichts von der Mahnung Ludwinas, aber er wollte die Geliebte auch nicht verärgern. Stattdessen versuchte er, die Sache mit der humorvollen Seite anzugehen. “Sisa Brundel im Spiegel im Fass… dann hätte die Schwarzhexe uns ja zugesehen.” Alboran versuchte ein Lachen.
“Nein, hat sie nicht. Deshalb habe ich ja ein Tuch über den Spiegel gehängt.” antwortete Haldana ernst. “Ich… mag keine Zuschauer dabei, wir sind ja hier nicht im Rahjatempel von Belhanka.” In ihrer Stimme lag Sorge. “Nein, wir sollten das ganze Ernst nehmen. Dein… Vater erscheint mir nachts, und deine  Urgroßmutter schreibt dir eine Warnung vor einer Anhängerin des Nicht zu nennenden. Das sollten wir nicht leicht nehmen. Wer war eigentlich diese Yasinthe Dengstein?”
“Das fragst du besser meinen Vater. Meinen richtigen Vater.” antwortete Alboran. “Ich weiß da nichts drüber. Aber… he… du siehst blass aus. Du machst dir wirklich sorgen, oder? Was ist los, Halda? So kenne ich dich gar nicht. Wo ist die Zuversicht, mit der du mich durch den Kurgasberg geleitet hast?” Sanft drückte der Junker die Baronin an sich. Diese ließ sich das gerne gefallen. Langsam wurde sie wieder ruhiger, ließ die Furcht, die Golo ihr gemacht hatte, wieder nach.
“Was ist los… Ich… kann es dir nicht sagen. Aber ich habe kein gutes Gefühl. Und mein Gefühl trügt mich da selten.” Haldana konnte ihrem Albo ja schlecht sagen, dass sie Geister sah und dass Golo ihr nicht nur im Traum erschienen war. “Aber wenn es stimmt, was diese Ludwina uns schreibt, dann könnten die Ränke der Anhänger des Dreizehnten uns noch zu schaffen machen. Aber gut… Morgen ist auch noch ein Tag. Dort drüben ist der Misthaufen… und dann lass uns schlafen gehen.”
Alboran verschwand in der Dunkelheit, während Haldana am Rondraschrein wartete und dem Junker verträumt nachsah. Irgendwie war das alles sehr schnell gegangen. Ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte? Immerhin, anders als ihre Mutter und ihre Tante hatte sie selbst die Wahl getroffen und nicht die Familie. Was ihr aber die Unsicherheit nicht nahm, bei all ihren Gefühlen.
Ein jähes Keckern und Meckern riss die Baronin aus ihren Gedanken. “Was denn, Kind, warum lügst du Deinen Liebsten an? Das fängt ja gut an mit Euch zwei.”
“Was weißt denn du schon… und was erdreistest du dich? Ludwina sagte, du bist ein Taschendrache und kein Meckerdrache, aber deinen Worten nach bin ich mir da nicht so sicher. Und ich habe ihn nicht angelogen.” widersprach Haldana trotzig.
“Teckerdrache, Maschendrache, Kindchen. Ich muss mich nicht erdreisten. Ich mag ein kleiner Drache sein, aber ich habe um einiges an Jahren mehr gesehen als du, Prinzesschen. Lügen, Verschweigen, wo ist da der Unterschied? Und dass du deinem Prinzgemahl nicht alles erzählst, das habe ich gemerkt. Pah. Im Traum erschienen ist dir Albos Vater. Dass ich nicht lache.” Knister keckerte schrill. “Dein Albo mag dir das glauben, der frisst dir aus der Hand. Aber das lass dir gesagt sein. Wenn du ihn liebst, dann vertraust du ihm und sagst ihm auch alles. Wie willst du mit jemandem ein Gelege ausbrüten, wenn du nicht einmal darüber redest, was dich im Inneren bewegt.”
“Ausbrüten…” Haldana stammelte eine Erwiderung. “Was weißt du denn schon von Menschen, wenn du noch von ausbrüten redest.” Aber irgendwo hatte der kleine Drache Recht. Irgendwann würde sie Alboran erzählen müssen, was sie mit Golo erlebt hatte. Nur… noch nicht jetzt.
“Mehr als du meinst, Kindchen… zum Beispiel weiß ich, dass es keine Rolle spielt, ob unsere Kinder nur aus dem Ei schlüpfen oder danach noch geboren werden. Das tut alles nichts zur Sache. Ich würde jedenfalls kein Drachenweibchen aussuchen, mir ein Gelege auszubrüten, die mir nicht vertraut. Denk mal darüber nach, Trollkindchen. Ludwinas Urenkel hat ein gutes Herz. Wäre das nicht so, hätte Ludwina mich nicht mit diesem Brief geschickt. Spiel nicht mit ihm, das hat er nicht verdient.”
Haldana fühlte sich ein wenig ertappt. “Ach was, seit wann wandeln Drachen unter den Eheberatern? Ist das nicht eher die Aufgabe für die Geweihten der Travia?” wiegelte Haldana ab.
“Trollkind, ich bin hier der Meckerdrache und nicht du. Also spotte nicht.” parierte der kleine Drache. “Aber Ludwina liegt jedenfalls Alboran am Herzen. Dir offenbar nicht.”
“He!” protestierte Haldana. “Jetzt wirst du aber beleidigend! Ich heirate ihn! Natürlich liegt mir Alboran am Herzen, wie kannst du es wagen?”
“Wirklich, Sichelmatrone? Wenn dem so ist, warum warnst Du ihn dann nicht davor, dass sein Vater hier herum geistert? Dann ist er doch genauso in Gefahr wie du!”
Haldana blieb der Mund offen stehen. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte nur Angst gehabt, Albo würde sie für verrückt halten.
“Woher weißt du eigentlich von Golo…?” Haldana lenkte zugleich von dem ihr unangenehmen Thema ab, wollte aber auch tatsächlich wissen, woher der Drache sein Wissen bezog. Der kleine Drache lachte meckernd und schlug mit den Flügeln. “Ich bin ein Drache, vergiss das nicht, ein Tier Hesindes. Anders als du bin ich mit Hesindes Gaben gesegnet.” Knister lachte und erhob sich in die Luft. “Ich fliege dann mal heim. Werde du mal allein fertig mit deinen Problemen, wenn du niemand vertraust. Aber ich komme wieder, in ein paar Tagen. Sag deinem Galan, dass er bis dahin einen Brief an seine Urgroßmutter schreiben soll. Das gehört sich so!” Knister lachte noch ein paar Mal laut, ein wenig hämisch klingend, dann schraubte er sich in die Höhe und verschwand im Nachthimmel. Die junge Baronin schaute, immer noch ein wenig verwirrt von dem schrillen Auftritt des Drachen, diesem nach. Bis Alboran zurückkehrte. “Ist er schon wieder weg… das ging aber schnell.” Die Baronin nickte.
“Komm mit. Lass uns reingehen. Auch wenn es eine laue Sommernacht ist, so romantisch ist mir auch nicht zumute gerade.” Alboran folgte, legte den Arm um die Schulter der Geliebten.

Auf dem Weg zum Haupthaus rang Haldana mit sich selbst, während sie Arm in Arm mit Alboran dahin schlenderte. Sollte sie ihn wirklich in alles einweihen? Wie würde ihr Liebster darauf reagieren, wenn er erfuhr, dass sie nicht nur den Geist des Schiefhals sah – sondern auch noch andere Gespenster? Eine Einladung zum Kuscheln und Küssen war das nicht gerade. Alboran war praiosgläubig, in dieser Kirche war man nicht allzu tolerant Menschen mit “besonderen Gaben” gegenüber. Wenn es Golos Ansinnen gewesen war, sie auf pervalische Weise in Seelennot zu stürzen, so hatte er sein Ziel erreicht.
“Ich glaube, ich lege mich jetzt besser ins Bett”, sagte Alboran und umarmte Haldana. Er fühlte sich warm an, sanft und kraftvoll. Der Karzerkönig roch gut, nach irgendeinem feinen Rommilyser Rasierschaum (gemischt mit einem zarten Hauch Misthaufen). Sein Herz pochte aufgeregt, oder war es ihr eigener Herzschlag? In diesem Moment verflogen Haldanas Zweifel. Sie küssten sich innig, im Schatten des Eingangs. Eng umschlungen vergaß das Pärchen die Zeit, der Ankündigung des Junkers zum Trotz. Eine gefühlte Ewigkeit befanden sich beide in Rahjas Obhut, streichelten sich, liebkosten sich, wuschelten sich durch die Haare, genossen das gemeinsame Glück, die Liebe und die Lebensfreude einer Mittsommernacht - wie zwei halberwachsene Bauernkinder, für die es kein standesgemäßes Benehmen und keine gesellschaftliche Verpflichtung gab.
Irgendwo in der Nähe zwitscherte es.
“Ich glaube, bis zum Sonnenaufgang is ets nicht mehr weit.” Haldana schmiegte sich in Alborans Arme.
“Dann können wir gerne auch drinnen weiter machen.”
“Wie meinst du das.... weiter machen?”
“Hm. Nach was hört sich es an?”
“Nach einer Nachtigall und nicht der Lerche.” Die Baronin wich etwas zurück. “Meine Mutter bringt mich um, wenn.... ach vergiss es...”
“Hm... ach so. Dann gehe ich jetzt wohl besser schlafen.” Alboran klang ein wenig enttäuscht, aber auch müde. “Wo ist eigentlich dieser verrückte Ziegendrache gelandet?”
“Davon geflattert. Er möchte aber in ein paar Tagen zurückkehren. Hat gemeint, du sollst in der Zwischenzeit eine höfliche Antwort an deine Urgroßmutter schreiben.”
“Also erstens...ich hab es, glaube ich, schon gesagt. Aber sie ist nicht meine Urgroßmutter. Da sei Frau Travia vor! Selbst wenn sie´s wäre. Mein Bedarf an Hexen ist für die nächsten zwanzig Jahre gedeckt, bei der Heiligen Lechmin von Weiseprein. Mindestens. Was sag ich, für die nächsten hundert Jahre. Außerdem, zweitens, mit dem Gänsekiel hab ich es nicht so. Schließlich sind wir in Darpatien, da darf man keine Gänse quälen.”
Haldana schaute verständnislos.
“Naja, ne Feder gehört an die Gans, nicht in die Hand eines traviagefälligen Edelmannes.” Alboran lächelte, leicht überheblich.
“Rommilyser Mark heißt das jetzt...Wenn du möchtest, kann ich ein paar Zeilen für dich schreiben. Ach ja, der Brief gehört ja eigentlich auch dir.” Haldana tastete über die Ärmel von Alborans schaubenähnlichen Mantel, wo sie ihn vermutete. “Wo hab ich ihn denn?”
“Hat dieses Luder von Ludwina nicht gesagt, ich soll den Brief verbrennen? Ja, das sollte man mit diesem satuarischen Geschreibsel als erstes tun. Am besten, bevor man es liest, und sich die Sinne verwirren lässt. Oder sich einen Fluch einfängt?! Es gibt genug Leute, die sagen, die Oberhexe hätte ebenfalls den Scheiterhaufen verdient. Jahrelang steckt sie mit Gernot und Golo unter einer Decke, und jetzt, wo beide in die Niederhöllen gestürzt sind, spielt sie die Verteidigerin des Guten...” Alboran schlüpfte wieder aus den Holzschuhen, rein in seine Pantoffeln. “Dieser geschuppte Spion von Hausdrache kann mir auch gestohlen bleiben.”
Die junge Binsböckel verzog ihr Gesicht. “Mist, ich glaube, ich habe den Brief in der Kapelle liegen lassen...Und die Kerzen brennen auch noch. Wo hab ich nur meinen Kopf? Ich werde ihn schnell holen.”
“Wie gesagt, du kannst den Fetzen gerne verbrennen...und mir den Mantel gerne nachher vorbei bringen.” Einen Augenblick lang sah Alboran wirklich aus wie sein Vater Alrik, der Schwerenöter, mit seinem frivolen “Liebfelder Lächeln”.
“Alboran?”
“Haldana?”
“Pass auf dich auf, ja? Ich muss dich warnen.... Golos böser Geist geht noch immer um, auch auf dieser Burg.”
“Falls du dich fürchtest - wir können den Rest der Nacht gerne gemeinsam verbringen...”
“Ich meins ernst. Das Böse besiegt man niemals so ganz. Da hat deine Urgroßmutter...”
“Meine Stiefurgroßmutter vielleicht...”
“Wie auch immer...aber da hat sie Recht. Es gibt finstere Geister, die nicht allein in unseren Träumen existieren. Die versuchen, auch im wirklichen Leben Macht über uns zu erlangen. Dein Stiefvater ist lebendiger, als du vielleicht glaubst...”
Alboran musterte sie von oben nach unten. Täuschte Haldana sich, oder spürte sie auch bei ihm einen leichten Anflug von Zweifel?
“Du bist ein wenig überreizt. Was ich ja verstehen kann. Nach allem, was in Kurgasberg geschehen ist. Aber sei unbesorgt. Ich spüre die Macht des Praios an diesem Ort, der lange Zeit sogar dem Heiligen Alboran geweiht war.”
“Es ist gefährlich, Nachkomme eines Heiligen oder gar selbst heilig zu sein...” murmelte Haldana. “Auch das stand in dem Brief.”
“Der jetzt auch nicht gerade das Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisung ist. Meine Mutter wollte mich also beschützen, in dem sie meine Abstammung von Sankt Alboran verleugnet? Mit Hilfe einer Hexe? Da danke ich aber schön dafür. Ich kann dir sagen, was der Sinn dieser ganzen Intrige ist. Ludwina möchte mich auf die Seite der Alten Kulte ziehen, weg von der Gemeinschaft des Lichts und den wahren Göttern Alverans. Oder sich wenigstens Liebkind machen. Wohl wissend, dass wir bald schon die Herren über Rübenscholl und Gießenborn sein werden, in der Nachbarschaft des Drachenwaldes. Alte Götter, was für ein frevlerischer Unsinn. Dieser Wilde Mann vom Schratenwald, die Goblingötzin Sokramur oder die Steinfee Solala – wie kann man ernsthaft zu solchen Märchengestalten beten? Aber ich möchte jetzt nicht mehr über sowas Verrücktes nachdenken. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich wünsche dir eine gute Nacht..."
Alboran drückte Haldana einen Kuss auf die Stirn.
"Gute Nacht, mein Schatz."

Haldana ging zurück in Richtung Rondraschrein. Irgendwie vermisste sie in diesem Moment Nasdja, ihren Schutzgeist. Ihre eigene, mehr oder weniger leibliche Ururur...großmutter. Die verstand wenigstens, wie es war, Dinge zu sehen, die andere (noch) nicht sehen konnten. In welcher Zwischenwelt steckte die Zibilja gerade? Irgendwie hatte Haldana das Gefühl, dass die ganzen Schutzzeichen in der Großen Halle ihre Urahnin abschreckten. Zeichen, die wirklich dafür gedacht waren, Geister abzuwehren. War da eine Bewegung im Halbdunkel? Neben dem Schrein, da war doch was. Irgendein Schatten, der davon huschte. Nasdja? Nein, sie hatte sich wohl getäuscht.
An der Tür zur Kapelle stutzte Haldana erneut. Sie war nur angelehnt, obwohl die Baronin sich sicher war, sie fest geschlossen zu haben – und das Schloss einwandfrei funktionierte.
Sie trat mit misstrauischen Blick ein, und sah den Brief auf dem Altar liegen. Haldana war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn wirklich dorthin gelegt hatte. Andererseits, wo sonst hätte sie ihn hinlegen sollen, wenn sie ihn schon nicht eingesteckt hatte? Die Baronin schalt sich eine zerstreute (oder übermüdete) Närrin, rollte den Brief zusammen und hielt ihn an eine der Kerzenflammen. Das Papier brannte sofort lichterloh, wie eine Fackel. Sie hielt es über die leere Opferschale und wartete, bis es restlos zu Asche verbrannt und auch das Wachs zerschmolzen war.
Leere Opferschale? Auch in diesem Fall war sich Haldana nicht ganz sicher. Aber hatten vorhin nicht ein paar Münzen darin geblinkt (soweit die Freifrau wusste, kamen die kleinen Spenden den Invaliden und Kriegsveteranen unten im Dorf zu Gute)? Hatte sich ein Dieb in das kleine Heiligtum geschlichen, während sie gerade mit Albo geturtelt hatte? Vielleicht sogar...eine neunfingrige Diebin? Aber die paar wenigen Taler und Heller waren nun wirklich keinen nächtlichen Einbruch wert, geschweige denn einen Frevel in einem Haus der Göttin. Es sei denn, man hasste die Himmlische Leuin wirklich von ganzem Herzen, und wollte ihr schaden, wo immer man es konnte.
Nein, ihr Freund hatte Recht. Sie war gerade vollkommen überreizt. Kein Wunder, nach all dem, was geschehen war. Einige glimmende Aschestücke schwirrten zu Boden. Sorgfältig trat Haldana sie aus und sammelte sie ein.
Ein paar Schlammbröckchen lagen neben dem Opferstock, die bereits getrocknet waren, ebenso eine braungefärbte Tannenadel. Haldana hob sie auf und vermisste Tuvok, den Barönlichen Hofjäger. Es war nicht gerade eine firunsgefällige Fährte, aber schon ungewöhnlich. Ihre Mutter hasste dreckige Schuhe, auch wenn diese auf einer Burg wie Schlotz gar nicht zu vermeiden waren. Aber im Rondraschrein war eine Schmutzspur jenseits allen Vorstellbaren. Haldana leuchtete den Boden aus: zwischen Tür und Altar hatte der “Maulwurf” (wie sie den Unbekannten oder die Unbekannte? - nannte) eine feine, gerade noch wahrnehmbare Spur aus winzigen Erdhäufchen hinterlassen, offenbar mit seinen Stiefeln. Sogar eine zweite, schmutzige Tannenadel war zu sehen, sowie ein kleiner Strohhalm. Es half alles nichts: In diesem Schummerlicht, mit ihren überanstrengten Augen, würde sie beim besten Willen nicht mehr herausfinden. Sie blies nach und nach die Kerzen aus. Einen bangen Moment lang glaubte sie Golos Fratze in der Finsternis zu sehen, aber es war nur ein matter Nachhall des erlittenen Schreckens. In der restlichen Nacht würde sie unter Rondras Schutz stehen.

Leise atmete Rimhilde auf. Wer hatte schon ahnen können, dass Haldana zurück zum Rondraschrein kam. Gerade noch rechtzeitig hatte die Magd das Herannahen der jungen Baronin bemerkt. Rimhilde hatte vermutet, dass Haldana mit diesem Praiosgeck auf ihre Kammer ging. Jedenfalls hätte sie das getan, hätte sie einen Edelmann an der Angel. Sie hatte nicht angenommen, dass das Pflichtbewusstsein der Baronin größer war als der Wunsch, sich dem Edelmann hinzugeben. Nun gut, man merkte einfach die Erziehung der Altbaronin… Dabei hatte es ganz gut angefangen. Mit einem kleinen Schabernackzauber hatte sie dafür gesorgt, dass der Brief der Baronin aus dem Ärmel gerutscht war. Nachdem sie zuvor, unbemerkt und getarnt im Schatten hinter dem gemauerten Schrein, leise ausgeharrt und die Baronin und ihren Verlobten belauscht hatte. Was sie hörte, machte der Eigeborenen Sorgen. War es nur die städtische Erziehung, die der künftige Baron zu Schlotz genossen hatte? Dann mochte sich das geben mit den Erfahrungen, die dieser Alboran in Schlotz machen würde. Oder war er tatsächlich ein Stück weit praiosfrommer, als es gut war für einen Herrn auf Burg Schlotz? Würde sich das Verhängnis Tsafrieds wiederholen? Rimhilde hatte gehört, wie sich Alboran über Hexen geäußert hatte, und mit welch verächtlichen Worten er von Sokramur - wie kam er dazu, die Gigantin als Goblingötzin zu verunglimpfen? - bedacht hatte. Und wie wenig er von den alten Geschichten wie der Fee Solaninde oder anderen Sagen der Vergangenheit hielt?
Wie immer, wenn sich eine Übergabe des Throns, der Amtsgeschäfte auf dem Schlotz anbahnte, war Vorsicht und Umsicht angebracht. Das fragile Gleichgewicht geriet nur zu leicht in Gefahr. Bei Tsafried war es nicht gelungen, ihn sanft darauf vorzubereiten, dass die Alten einfach zum Land gehörten, hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. Die letzten Jahre, seit Tsafrieds Tod, hatte sich das Land langsam wieder erholt. Manche Wunden, die geschlagen wurden, waren inzwischen verheilt. Doch es galt aufzupassen, dass sie nicht wieder aufgerissen wurden. Das, was Tsafried von der rechten Bahn abgebracht hatte, war immer noch präsent, war nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit.
Rimhilde hatte nicht alles gehört, was Haldana aus dem Brief vorgelesen hatte. Sie war zu weit weg gewesen, um jedes Wort vernehmen zu können. Nun, sie wollte ja auch nicht von der jungen Baronin ertappt werden. Aber sie musste wissen, was in dem Brief stand - nicht zuletzt, um den neuen Baron besser einschätzen zu können. Und um Gerbold berichten zu können. Haldana, da war Gerbold sich sicher gewesen, würde lernen, die Alten Kulte zu verstehen, würde sie gewähren lassen. Aber nun, da unvermutet ein Praiosfürchtiger Junker sich anschickte, dem Thron zu Schlotz nahe zu kommen? Was würde das für eine Eigeborene wie sie bedeuten? Nun, besser, Alboran würde nie erfahren, dass sie etwas anderes war als nur eine Magd. Und besser, Haldana würde es auch nicht bemerken. Rimhilde würde weiterhin vorsichtig sein müssen. So hatte sie den Brief genommen und gelesen. Und dabei nicht ausreichend auf die Umgebung geachtet.
Rimhilde wäre beinahe von Haldana überrascht worden. Sie war noch in Gedanken versunken, als die Baronin zum Schrein der Rondra zurück kehrte. Rasch legte sie den Brief auf dem Altar ab. Waren da nicht eben vorhin noch Münzen in der Opferschale gewesen? Egal. Rimhilde huschte  rasch wieder in ihr Versteck zurück. Dass sie in der Eile Erde und Schlamm von ihren Stiefeln verlor, konnte sie nicht verhindern. Rimhilde eilte zurück zu den Stallungen, wo sich ihre Kammer befand. Sie würde dem alten Zwölfengrund berichten müssen. Gleich am nächsten Tag. Wenn die Herrschaft nach Gernatsborn aufbrach, würde sich dazu Gelegenheit ergeben.

3. Kapitel - Ein festlicher Abend

Drittes Kapitel

Ein festlicher Abend

 

Burg Schlotz, Abend des 2. Praios
Schwer hallten Alriks Schritte durch den Thronsaal von Burg Schlotz, gefolgt von Ismena, die ihren Rock etwas lüpfte. Auf dem Fuße folgten die Gardisten Franka und Parik, von denen Franka einen Korb mit Weinflaschen, Parik einen sorgfältig umhüllten, rundlichen Stein transportierte. Beide Leibwachen trugen Schaller, Gambesons und Waffenröcke mit dem Steinbock-Kopf des Hauses Friedwang. Am Schwertgehänge baumelten Schwerter, im Gürtel selbst steckten Hirtenschleudern. Alrik bereute es, seiner Rondrageweihten erlaubt zu haben, den einstigen “Gebirgsschützen” ihre Armbrüste wegzunehmen und in den hintersten Winkel der Waffenkammer zu sperren, mit ausgebauter Mechanik. Nun behalfen sich seine Büttel eben mit Schleudern. Zum Glück wurden in Marktfriedwang äußerst hochwertige Bleigeschosse hergestellt, die in den Gürteltaschen klackerten.
Beide hatten über ihren schlammbespritzten Mänteln Schilde auf den Rücken geschnallt, die ebenfalls das friedwanger Wappen zeigten. Der Bauernbursche musterte scheu seine Umgebung. Parik war zum ersten Mal außerhalb seiner Heimatbaronie unterwegs, und spähte misstrauisch um sich, als könnte jederzeit ein leibhaftiger Troll aus einer der riesigen Seitentüren oder den Gängen stürmen: die tatsächlich kaum kleiner waren als das Haupttor von Burg Friedstein. Die Wände, die mehr an eine riesige Kaverne als einen Burgsaal erinnerten, waren mit archaischen Gobelins bedeckt, ebenso mit Sonnenzeichen, Bronzerüstungen und urtümlichen Waffen. Der hintere Teil der “Trollhöhle” war ein wenig erhöht, Treppen führten hinauf zu einem eisernen Thron, unter einem großen Praiosauge, das allerdings von einem Riss verunstaltet war. Ganz so, als hätte einmal Ingerimms Hammerschlag die gewaltige Burg erzittern lassen und ihre zyklopischen Mauern verschoben. Kandelaber und Fackeln hüllten die Halle in ein unstet flackerndes, rotgoldenes Licht.
Der Thron war leer. Die Burgwache, die Alrik und Ismena begleitet hatte, verschwand in einem der übergroßen Nebenräume. Wenig später eilte Adginna herbei und begrüßte ihre Gäste.
“Die Zwölfe zum Gruße, Euer Hochgeboren!” Alrik lüpfte sein Federbarett. “Wenn ich vorstellen darf: Ihre Wohlgeboren Ismena von Oppstein-Glimmerdieck. Meine Wenigkeit kennt Ihr bereits. Alrik Tsalind von Friedwang, zu Euren Diensten.”
Der Mondschatten huschte an die Vögtin heran und deutete formvollendet einen Handkuss an.
Ismena verbeugte sich mit Boltansgesicht: “Rahja zum Gruße, Euer Hochgeboren. Sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen.”
“Die Freude ist ganz meinerseits” Die Vögtin zeigte ein höfliches Lächeln, das sich ebenfalls noch alle Möglichkeiten offen hielt. “Willkommen auf Burg Schlotz. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise? Allerdings habe ich gehört, Ihr seid in ein Gewitter geraten?”
“Nicht der Rede Wert, nur eine kleine Abkühlung, nach einem heißen Praiostag.”
Eine Dienstmagd eilte herbei, mit einem Tablett und drei gefüllten Zinnbechern. “Ich nehme an, Ihr habt nichts gegen eine angenehmere Erfrischung. Ogermeth aus Gernatsquell, wo, wie Ihr wisst, die Familie Eurer Gemahlin Serwa von Baernfarn Zuflucht gefunden hat.” Trotz Adginnas honigsüßer Stimme entging Alrik die kleine Spitze nicht.
Der Baron von Friedwang reichte Ismena den Becher und prostete der Burgherrin zu.
“Es freut mich, Euch endlich in persona auf Burg Schlotz begrüßen zu dürfen”, fuhr die Vögtin fort.
“Uns geht es ebenso... und dann noch unter derart erfreulichen Umständen.”
Adginna war nicht anzumerken, ob sie die Umstände wirklich als derart erfreulich empfand.
Das Trio nippte formvollendet.
“Ah...verzeiht.” Alrik spielte den Vergesslichen. “Ich habe mir erlaubt, ein kleines Präsent mitzubringen. Friedwanger Wein...” Wie besprochen, hob Franka eine der Bockensack-Flaschen hoch, die mehrfach mit Stroh gepolstert im Korb lagen. Es grenzte an ein Wunder der Rahja, das auf der Fahrt durch den Wutzenwald nur eine der Flaschen zerbrochen war, wovon feinherber Weingeruch kündete. Ein Wink in Richtung Parik, der sein Mitbringsel enthüllte: Eine großes, steinernes, geripptes “Riesenschneckenhaus”, das an ein Levthanshorn erinnerte.
“Ein Kuriosum aus dem Marktfriedwanger Steinbruch, wo wir eigentlich Schiefer für Dachschindeln oder Schreibtafeln brechen. Gelegentlich finden wir aber auch merkwürdige Versteinerungen, in Form von Muscheln, Farnen, Sonnen oder auch Hörnern, so wie hier. Sogar einen kleinen Drachen haben wir vor einigen Götterläufen mal entdeckt. Zumindest etwas sehr Ähnliches.”
Alrik deutete auf das Fundstück. Von diesen Dingern wurden in seiner Baronie immer wieder mal welche gefunden, vor allem, aber nicht nur im Steinbruch. Das merkwürdige Echsenwesen, sicherlich eine Rarität, war damals sofort von Walerian Karrer zertrümmert worden, dem herbeigeeilten Hofkaplan und Bannstrahler. Gerne hätte der Friedwang damit geprahlt, dass er diese Ware eine Zeitlang bis nach Grangorien geliefert hatte. Aber seinen Handelspartner dort, Signore Horasio della Pena, hatten die Liebfelder mittlerweile gevierteilt, als Verlierer in irgendeinem hässlichen Grenz- und Erbfolgestreit. Mit dem kultivierten Horasreich war es offenbar auch nicht mehr so weit her.
Adginna blickte etwas unschlüssig auf das “Levthansgehörn”. So richtig anzumerken war ihr nicht, ob ihr die Versteinerung gefiel. “Seid bedankt für Euer außergewöhnliches Geschenk”, sagte sie artig. “Ich nehme an, es ist schwer? Stellt es am besten dort in Ecke.”
“Ich habe doch gesagt, wir fahren nach Dornstyn und besorgen Rosen,” raunte Ismena in Alriks Ohr.
“Ach was, ich bin ja nicht hierhergekommen, um die Vögtin zu freien.” Alrik schnupperte verzückt am Rosenduft der Oppstein.
Dann wandte er sich wieder Adginna zu. “Viele dieser...Tiere sehen aus wie kleine Praiosräder, so dass man diese Funde auch Sonnensteine nennt. Wir haben sie früher bis ins Horasreich geliefert, vor den unseligen Kriegen, als der Handel noch floriert hat. Aber wie ich sehe, herrscht in Eurer Halle an Praios Sonne kein Mangel.” Der Baron deutete auf die Zeichen an der Wand.
“Versteinerte Tiere, ah ja” Adginna ließ offen, ob sie nun amüsiert, indigniert oder interessiert war. “Wie kommt es, dass sie in diesem Schieferberg gefangen worden sind? Mächtige Magie, oder gar ein Wunder Ingerimms?”
“Wer das wüsste. Meine friedwanger Bauern erzählen sich vom Wirken der Steinfee, die über die Höhlen, Grotten und Bergwerke im Lande Sokramors wacht. Manchmal auch die Salzfee genannt. Was immer ihr kalt glitzernder Mantel umhüllt, verwandelt sich in Stein. Sagen die Leute. Diese Steingeschöpfe sollen aber Glück bringen, Glück und Beständigkeit” beeilte sich der Baron hinzu zu fügen. “Vor allem zukünftigen Brautleuten.”
Ismena schob sich etwas nach vorne. “Alboran… Ich habe gehört, mein Sohn ist ebenfalls auf der Burg anwesend?” Die Stimme der Oppsteinerin zitterte vor Ungeduld.
Adginna musterte die Rahjajungfer von oben nach unten. “Natürlich. Rimhilde, hole doch den Junker herbei. Und Haldana, meine Tochter.”
Die Dienstmagd vollführte einen Knicks. Aus irgendeinem Grund wirkte sie beim Namen “Alboran” enttäuscht. Ein hübsches, dralles Ding, dachte Alrik und patschte ihr in Gedanken auf das wohlgeformte Gesäß. Versonnen lächelnd hob er wieder den Becher, und sah der Kleinen zu, wie sie nach draußen eilte.
“Euer Sohn scheint ernsthafte Absicht zu hegen, was meine Tochter und Erbin betrifft. Vortrefflich, dass ich nun seine Eltern vor mir sehe.” Adginna klang eher fragend. “Seine leiblichen Eltern, meine ich.”
“So ist es”, sagte Ismena. “Der Bethanierkrieg war eine Zeit der Wirren, in jeder Hinsicht. Wirren und Betrübnisse, von denen wohl keine Familie des ehemaligen Darpatien verschont geblieben ist. Um so glücklicher bin ich, dass sich Alrik als damaliger Traviaritter zu seiner Vaterschaft bekannt und seinen filius illegitimus adoptiert hat.”
“Ich habe davon gehört, dass Euer Gemahl, dieser Golo von Gießenborn, ein besonders unerfreuliches Ende gefunden hat. Sehr bedauerlich. Manch götterfürchtiges Mitglied des Hauses Binsböckel ist in diesen schrecklichen Zeiten ebenfalls umgekommen, Praios seis geklagt.”
“Der Spuk ist ja nun zum Glück vorbei.” Alrik beeilte sich, Zuversicht und Herzlichkeit zu verströmen. “Vorzüglich, Euer Ogermeth, vorzüglich. Wenn man bedenkt, die Schlacht der Tausend Oger war ebenfalls grausam. Aber was soll ich sagen, dieser Honigwein beweist, dass es manchmal einfach nur Zeit braucht, damit ein übel beleumundeter Name seinen Schrecken verliert - und am Ende sogar für etwas Gutes und Gedeihliches steht, wie dieser Ogermeth. Nun, mir war wichtig, meinen Sohn beizeiten auf den Pfad der Rechtschaffenheit und Praiosfürchtigkeit zu führen. Mir und seinem Onkel, Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein, der leider in der Schlacht von Wehrheim geblieben ist. Das Praiosamulett, das mein Sohn trägt, wurde noch von Parinor selbst geweiht. Es hat Albo wohl auch in Kurgasberg von allen Anfeindungen des Bösen beschützt. Ich habe gehört, in dieser Halle war einmal ein Tempel des Heiligen Alboran von Friedwang untergebracht. Zweifelsohne ein gutes Omen für das künftige Bündnis unserer Baronien und Familien. Damit meine ich nicht nur Schlotz und Friedwang. Sondern den gesamten Sichelbund, der mit Praios und Travias Hilfe bald schon neu erstehen wird. Eine Hochzeit zwischen unseren Häusern könnte diese fruchtbare Zusammenarbeit weiter festigen und vertiefen.”
“Vertieft wurden die beiderseitigen Beziehungen bereits, nach allem, was ich gehört habe”. Adginnas Gesicht zeigte immer noch kaum mehr Regung als das steinerne Levthansgehörn an der Wand. “Wie fruchtbar, wird sich zeigen.”
“Gewiss.” Alrik hatte die Andeutung verstanden, beschloss aber, sie zu überspielen. “Die Freundschaft zwischen Friedwang und Schlotz hat fürwahr eine lange Vorgeschichte. Damals, im Bethanierkrieg, haben Euer Schwiegervater Nengarion und ich Seite an Seite gekämpft, zusammen mit dem Blutbanner, als es um die Rückeroberung des Arvepasses ging. Drüben, auf der anderen Seite der Trollzacken...” Bei diesen Worten zuckte ein Nerv in Alriks Gesicht. Seine Stimme klang belegt. “Mehr als zwanzig Jahre ist es nun her, aber ich habe unseren gemeinsamen Kampf nie vergessen. Nengarion war ein guter, tapferer Gefährte, in der Freischar der Rächer Rondras, ein wahrer Held. Möge seine Seele in einem der Zwölfgöttlichen Paradiese Einzug gehalten haben.”
Nun eilte Alboran herbei. “Mutt...Mutter?” Um ein Haar wäre er der Oppsteinerin um den Hals gefallen, aber ein dezentes Räuspern Ismenas hielt ihn davon ab.
Freudestrahlend drückte Alboran ihr die Hand. “Ich freu mich so, dich zu sehen, gesund und munter. Wo warst du all die Jahre? Warum hast du nie geschrieben?”
“Das ist eine längere Geschichte.” Ismena hüstelte verlegen. “Ich habe dich nicht vergessen, glaub mir. Gut schaust du aus. Bist ein richtiger Mann geworden. Ein echter Krieger. Kann mich noch erinnern, wie du so ein kleiner Zwerg warst, in unserem schönen Gießenborn. Mit dem Holzschwert auf dem Schaukelpferdchen, und jetzt...” Ismenas Stimme zitterte schon wieder. Sie nestelte ein Seidentüchlein hervor und tupfte sich damit eine Träne aus dem Auge. “Da ist mir doch glatt etwas Ogermeth...verzeiht...”
“Jaja, sehr spritzig, der Met.” Alrik war die Szene etwas peinlich. “Früher oder später müssen die Kinder aus dem Haus, das ist völlig normal. Irgendwann kehren sie dann wieder. Alboran ist der Junker von Rübenscholl und Gießenborn, ich denke, er wird baldmöglichst auf seinen Gütern nach dem Rechten sehen wollen. Nach seiner Schwertleite, die wohl im Rondra stattfinden wird. Große Güter, viel Verantwortung, so ist es nun mal im Leben eines Edelmanns. Ich habe gehört, du wandelst bereits auf Freiersfüßen, Albo? Sehr schön, ich bin sicher, wir werden uns bald einig werden. Sowohl was deine Anteile an der Silbermine als auch deine künftigen Titel angeht, die du mit in die Ehe nehmen wirst.”
“Nun, ich bin erst einmal gespannt, Haldana kennenzulernen”, unterbrach ihn Ismena. “Die junge Dame, die dich, äh, interessiert…”
“Das wirst du, Mutter”, antwortete Alboran. “Du wirst sie mögen.” Haldana war Alboran gefolgt. Die junge Baronin wirkte einen kurzen Moment verunsichert, angesichts der Erwartungen an die Etikette, die ihre Mutter immer sehr ernst genommen hatte. Wie sollte sie Ismena begrüßen? Von Stand her war sie als Baronin über der werdenden Schwiegermutter, zugleich gebührte ihr aber der Respekt einer Tochter gegenüber den Eltern, denen die Schwiegereltern ja gleich gestellt waren. Dann aber entschied sich Haldana, die Form ein wenig lockerer zu gestalten. Mit drei Schritten ging sie auf Alrik zu. “Alrik!” rief sie aus. Mit dem Baron war sie auf der Queste zum Kurgasberg ja schon per du gewesen, da konnte ihre Mutter jetzt schwerlich anderes verlangen. Freundschaftlich umarmte sie den Friedwanger, was dieser, zwar überrascht, aber dennoch freundlich, erwiderte. “Es ist ja nur eine Woche vergangen, seit unserem Abschied. Aber es wirkt wie eine Ewigkeit her. Schön, dass du so rasch gekommen bist!”
Dann wandte sie sich Ismena zu und reichte ihr mit einem freundlichen und fröhlichem Lächeln die Hand. “Ihr müsst Ismena sein. Ein wenig habe ich schon über Euch gehört, von Alrik und Alboran. Ich freue mich sehr.” Sie drückte die Hand von Alborans Mutter mit einem festen, zupackenden Händedruck. Ganz bewusst wollte Haldana die etwas steife Atmosphäre, die ihre Mutter nur zu leicht verbreitete, aufheitern und fröhlich gestalten. Auch die Verhandlungen, die sicher noch geführt werden mussten, ließen sich fröhlich sicher leichter gestalten. Mit einem interessierten Blick musterte sie die Versteinerung aus dem Friedwangschen Steinbruch. “Ein überaus interessantes Geschenk, meinst du nicht auch, Mutter? Du erinnerst dich an die Sage der Fee Solaline von Mandelhöhen? Weißt du, dass die Versteinerung beweist, dass diese Sage vielleicht wahr ist und nicht nur ein Märchen, eine alte Erzählung?” Haldana sah ihre Mutter und die werdenden Schwiegereltern kurz an und entnahm den Gesichtsausdrücken, dass sie den Zusammenhang noch nicht sahen. “Nun, die Sage berichtet von einem See, der sich in grauer Vorzeit in Aarmarien befand. Ein See. Und diese Schnecke hier, die wir hier in Stein sehen, ist ein Wassertier. Schnecken dieser Art leben in Seen und im Meer. Nicht aber an Land. Wenn also die Steinschnecke in einem Friedwanger Steinbruch gefunden wurde, dann beweist das, dass vor langer Zeit Friedwang von einem See bedeckt war. Auf der Knappenschule hat Magister Veneficus mehrmals Gastvorträge zur Geschichte und Vorgeschichte unseres Landes gehalten, das war alles sehr interessant.”
“Interessant” bestätigte Alrik, ohne jedoch genauer nachzufragen, wie ein lebendes Tier zu einem Stein geworden sein sollte. Ohnehin kannte er viele dieser Theorien von Magister Veneficus, die auf einer detaillierten Beobachtung der Natur fußten, die teils zu Schlüssen führten, die zwar zumindest nicht beweisbar waren, aber allemal ein interessanter Erklärungsansatz für viele Phänomene waren. “Es freut mich, dass dir der Stein gefällt.”
“Wir werden einen Ehrenplatz dafür finden” mischte sich die Vögtin wieder ein.
Ismena sah sich die künftige Schwiegertochter an. Klein, kräftig, durchaus hübsch. Sie konnte verstehen, dass ihr Sohn Gefallen an der Schlotzerin gefunden hatte. Anders als Adginna fand Ismena die ungewöhnliche Frisur der Baronin eher interessant als unpassend. Sie hatte, als sie zum ersten Mal von der Schlotzerin als künftiger Schwiegertochter gehört hatte, befürchtet, dem Klischee der Schlotzer folgend, eine Halbtrollin in die Verwandtschaft zu bekommen. Jedenfalls hatte man in Oppstein eine eher hinterwäldlersiche Meinung vom unwegsamen Schlotzer Land gehabt mit seinem verwunschenen Wutzenwald und der bekannten Trollburg.
“Mutter, Haldana ist übrigens in der Musik überaus bewandert.” hob Alboran die Vorzüge seiner Verlobten hervor. “Anders vielleicht, als wir das früher in Rübenscholl hatten, aber auf alle Fälle ein Kunstgenuss.”
Ismena nickte. Ein wenig schwankte sie, welchem Gefühl sie nachgeben sollte. Die Burg Schlotz war geneigt, einen schier zu erschlagen mit ihrer Größe und Schlichtheit. Dem Gemäuer fehlte jede Leichtigkeit, jeder Charme, jeder Ausdruck von Lebensfreude. Das künstlerische Element, das sie auf ihrem Gut zuvor genossen hatte, vermisste sie vollkommen. Aber, immerhin, ihre Schwiegertochter schien eine künstlerische Ader zu haben. Und sie war, anders als ihre Mutter, vielleicht nicht so sehr auf Traviafrömmigkeit bedacht. Vielleicht hatte sie sich hierbei geirrt, hatte zu sehr auf alte Märchen und Vorurteile gehört. Nüchtern betrachtet, sie mochte angesichts der Karriere ihres Bruders bis zum Stadtvogt von Rommilys anderes erwartet und erhofft haben für ihren Sohn. Aber dass der Name Binsböckel für eine großes, überregionales und durchaus einflussreiches Haus stand, war nicht zu bestreiten. Da mochte Burg Schlotz nun düster wirken oder nicht.
Haldanas Fröhlichkeit und Natürlichkeit trugen ein gutes Stück dazu bei, die anfangs etwas steife Atmosphäre aufzulockern. Mit der Zeit wurde auch ihre doch sehr förmliche Mutter offener und herzlicher. Sie zeigte den Besuchern die Burg - und auch die Gästezimmer, die für sie bereit standen (allerdings bekamen die nicht verheirateten Eltern des Bräutigams zwei Zimmer und nicht eines, die aber immerhin durch eine Tür miteinander verbunden waren).

Mit am beeindruckendsten war aber für die Gäste der Blick vom Bergfried, dem höchsten Turm der Burg, über das Umland. Bei gutem Wetter konnte man durchaus über die Schlotzkuppen und den Wutzenwald in das dahinter liegende, offene Land blicken. Gen Rahja, in Richtung Rosenbusch, war der Blick jedoch durch einen höheren Hügelzug versperrt. Der Wutzenwald selbst, der sich um die Burg vor allem in Richtung Efferd hin ausbreiten, erschien wie ein großes, dunkelgrünes Meer von unergründlicher Tiefe. Die wellige Oberfläche des Waldgebietes ließ darauf schließen, dass auch der Boden hügelig sein musste. Ein Weg jedoch, der von Schnayttach nach Efferd zu den wichtigen Gütern Gernatsborn und Gernatsquell und den weiteren Dörfern der Baronie führte, den konnte man nicht erblicken. Es war wohl, wie Alrik und Ismena verwundert feststellen, erforderlich, entweder durch Rosenbusch oder durch Hallingen zu ziehen, wollte man die Dörfer des Schlotzerlandes auf einem befestigten Weg und nicht durch die Wildnis erreichen.
An einem klaren, sonnigen Tag wie an diesem hochsommerlichen Tag im Praios war die Fernsicht wirklich beeindruckend. Fern im Rahja, hinter den Rosenbuscher Kuppen, ragte die Schwarze Sichel stolz empor. Sogar das ewige Eis von Firuns heiligem Gletscher war noch zu erkennen. Auch die näher gelegenen, über dem Land empor ragenden Burgen wie die Burg Oppstein und auch der Friedstein waren noch als kleine Punkte in der Entfernung auszumachen. Praioswärts war die Stammburg des Hauses Rabenmund zu erkennen. Im Efferd verlief das blau schillernde Band des Gernat, an dessen Ufer sich verschiedene Ansiedlungen ausmachten. Auch Burg Hallingen, Pfalz Brücksgau  und weiter die Burgen am Galben- und Meidenstein waren noch zu erkennen, und ebenso der neue Bau der Gernatsborner Burg. Und am Horizont, weit im Praios, war noch das leichte Glitzern des Ochsenwassers zu erahnen, zumindest der kleinere, westliche Arm des großen Sees, der nicht, ebenso wie der Burgberg von Gallys, hinter den Ausläufern der Schwarzen Sichel verborgen war. Von den Türmen der jeweiligen Burgen aus war es möglich, und nach diesen Gesichtspunkten waren sich einige Standorte ausgewählt worden, nicht nur das Umland zu überblicken, sondern sich auch über Lichtsignale mit benachbarten Baronen oder Burgherren zu verständigen.
Das war die Ferne… aber auch die Nahe Umgebung bot ihren Reiz. Vom Treiben in Markt Schnayttach bekam man von hier oben auch fast alles mit - nur die nah am Berg Schlotz gebauten Häuser und Straßenzüge befanden sich nicht im Sichtfeld. Da zumindest die nähere Umgebung des Burgberges Waldfrei war, war diese auch einsichtig - bis zum Beginn des dunkel aufragenden Wutzenwaldes eben. Aber mit am beeindruckendsten waren die zahlreichen Vögel, die die Aufwinde um den Berg Schlotz und die Burg nutzten, oder die in den Felswänden ihre Nistgelegenheiten hatten.
Während Adginna Ismena und Alboran die Burg und das Umland von oben erklärte, nahm Haldana Alrik unmerklich zur Seite. Leise sprach sie mit ihm, den Blick dabei auf die Schlotzkuppen gerichtet, als würde sie dem Baron Landeskundliches über Schlotz erzählen. “Alrik, ich bitte Dich. erzähle mir mehr über… Ismenas Ehemann.”
Alrik hörte aus Haldanas Stimme eine leichte Besorgnis heraus. “Warum willst du das wissen? Er ist tot. Du hast ihn doch selbst… erschlagen. Und er mag der Ehemann von Ismena gewesen sein, aber das hat nicht zu bedeuten. Eine rein politische Ehe, damals hat niemand gewusst, dass er dem Dreizehnten anhängt.”
“Jaja… ich weiß. Nein, kein Vorwurf, nichts wegen der Ahnenreihe Alborans. Ich muss es einfach wissen. Eines habe ich mit deiner lieben Ismena ja gemeinsam. Ich war mit Golo verheiratet. Nein, nicht wirklich. Aber Golo… egal. Eigentlich hätte er doch schon längst tot sein müssen, oder?”
“Nun, ja.” antwortete Alrik nachdenklich. “Schon. Nachdem man ihn entlarvt hatte als Anhänger… du weißt schon… hat er sich reumütig gezeigt. Als Buße hat er eine Pilgerreise zum Praios-Orakel auf Balträa, auf den Zyklopeninseln  unternommen. Von dieser Reise kam er nie zurück. Es heißt, er wäre auf der Reise verstorben. Jedenfalls gilt er als geläutert. Offiziell, auch wenn wir jetzt nach allem wissen, dass er wohl überlebt hat und allenfalls formal dem Dreizehnten abgeschworen hat. Aber… viel mehr kann ich nicht erzählen.”
“Doch, Alrik. Du kannst. Und du musst mir mehr erzählen. Glaub mir einfach, dass es wichtig ist. Von Tante Valyria habe ich gehört, dass seine ruhelose Seele umher wandern soll. Sie hat mal erzählt, dass er Baronin Serwa heimgesucht haben soll, damals, als der Friedstein besetzt war und diese Darbonia Gallys okkupiert hatte. Das hat Valyria von Serwas Bruder erfahren, wie sie sagte. Bitte, Alrik. Alles ist wichtig. Erzähl es mir.”
“Golo”, sagte Alrik, und begann seine Fuchskopf-Pfeife zu stopfen, mit einem durchaus wohlriechenden Kraut. Eine Schwalbe schwirrte vorbei, mit einer Schnake im Schnabel. Das Wetter würde schön werden, die nächsten Tage, zumindest wenn man der alten Bauernregel glaubte.
Der Baron von Friedwang bedeute Haldana mit einer Geste, nach unten zu gehen, einen Stockwerk tiefer. Vor einer der Schießscharten im Bergfried blieb er stehen und blickte die abgetretenen Treppenstufen nach oben.
“Du solltest mit Ismena besser nicht über dieses Thema sprechen. Sie möchte die Wahrheit einfach nicht sehen. Die ganze Wahrheit. Nicht nur, was Golo anbelangt. Sondern auch die unrühmliche Rolle von Redenhardt, ihrem Bruder. Dem einstigen Stadtherren von Rommilys. Nun, es war vielleicht doch mehr als nur eine arrangierte Ehe damals. Sie haben sich wirklich geliebt, glaube ich, Golo und Ismena. Eine Zeitlang haben sie das. Allerdings war der Honigmond ziemlich rasch vorüber.”
Alrik lauschte nach oben, wo halblautes Stimmengewirr zu hören waren. Ismena und Alboran unterhielten sich angeregt mit der Vögtin, die etwas aufzutauen schien. Der Friedwanger nickte zufrieden, und musterte ein Steinmetzzeichen. Der wuchtige Turm schien jünger zu sein als die übrige Burg. Trolle verfügten wohl schon dank ihrer Körpergröße über ausreichend Überblick. Auch wenn “jünger” eine Frage des Standpunkts war, in diesem grauen Klotz aus einem vergangenen Zeitalter.
“Aber du hast diese Oppsteinerin doch auch mal geliebt, oder? Ich meine, sonst gäbe es Alboran nicht...” Haldanas Augen leuchteten allein beim Namen.
“Die große Liebe, Haldana...” Alrik setzte sich auf die Fensternische. “In deinem Alter hat man noch das Privileg, an so etwas Schönes und Gutes zu glauben. Bewahre es dir in deinem Herzen” Der Baron von Friedwang öffnete ein Kästchen, und zog einen glitzernden Feuerstein sowie einen kleinen Stahlring hervor. Der ein wenig wie ein gut getarnter Totschläger aussah.
“Du möchtest also mehr über Golo wissen? Nun gut. Wo fange ich an, beim verkommenen Sohn meines missratenen Vetters Gernot. Manche haben es bereits für ein böses Vorzeichen gehalten, dass sein Ältester kurz nach Ogerschlacht zur Welt gekommen ist, auf Gut Gießenborn. Dem Namen hat er von seinem Großvater, meinem Onkel, der in der Schlacht gegen die Menschenfresser gefallen ist. Wie so viele. Geboren wurde er mit einem schiefen Hals. Der Hals eines geborenen Galgenvogels, beim heiligen Assaf… Seine Mutter, Cecilia Rahjastasia von Schnattermoor-Bregelsaum, stammte aus Warunk und war bei der Geburt gerade mal 17 Götterläufe alt. Später wurde sie vom Wahnsinn ergriffen, wie es heißt, als sie in den Stallungen dem Geist ihrer Vorgängerin Andra begegnet ist. Andra von Bohlenburg. Manche sagen, die Kaufmannstochter wäre in Wahrheit ein Rabenmundbankert gewesen, eine Hexe, oder beides. Gernot hat seine erste Gemahlin unter irgendeinem Vorwand in Wehrheim hinrichten lassen, als sie ihm keine Kinder gebären konnte.”
Beim Wort Geist erschauerte Haldana, als würde Golo erneut nach ihr greifen. Der Abendwind, der um den Turm wehte, war bereits frisch.
“Cecilia muss eine überaus schöne Frau gewesen sein, womöglich lebt sie sogar noch. Angeblich hat man sie ins Noionitenspital nach Perricum gebracht, in der Selemer Jacke. Danach hat sich das Verhältnis Gernots zu seinem Erstgeborenen rapide verschlechtert. Bei der Erziehung hat der alte Finsterbart schon mal mit der Hundepeitsche nachgeholfen. Golo wurde dann in jungen Jahren nach Neetha in Knappschaft gegeben. Die Cavalliera Lorietta ya Stragazza soll eine Jugendliebe Gernots gewesen sein, die er auf seiner Kavalierstour kennengelernt hat. Di Stragazza oder ya Stragazza, kenn sich einer mit den horasischen Titeln auf. Golo hat sich sogar für kurze Zeit am Hof Erzherzog Timor Firdayons herumgetrieben. Den er später nachgeäfft hat. Man könnte auch sagen, irgendwann wollte Jung-Golo horasischer als die Horasier sein. Vielleicht auch freigeistiger als Timor. Angeblich hatte er sogar eine Affäre mit dem Erzherzog. Womöglich war die Liason aber auch nur eine frühe, kranke und düstere Phantasie des Schiefhals. Der unter seiner Verkrüppelung schon gelitten haben muss, gerade weil er sonst ein hübscher Knabe war. Ein wenig zu hübsch, für das dekadente Haus Firdayon, womöglich...”
Ratschend zog Alrik den Stahlring über den Feuerstein und ließ Funken auf den Zunderschwamm sprühen. “Mit der Horaskaiserlichen Expedition ist Golo dann vorzeitig nach Darpatien zurückgekehrt, im Krieg gegen den Dämonenmeister. Seine Dienstherrin Lorietta wurde schon im ersten Gefecht von einem vergifteten Pfeil getroffen, ich glaube, das war sogar in der Nähe der Ogermauer. Also wurde unser tapferer Golo Knappe Baron Redenhardts von Oppstein, ein paar Wegstunden von Gießenborn entfernt. Die nächste Demütigung für einen weltoffenen, hochkultivierten Jüngling wie Golo di Glimmerdicco. Gernot hat ihn dann bald mit Ismena von Oppstein verschmust, Redenhardts Schwester. Da war er gerade mal 17 Götterläufe alt. Eigentlich sollten beide Barone von Friedwang werden. Stattdessen hat Papa Gernot die Ehe mit Golos Mutter, der schnatternden Schnattermoor, annulliert und lieber meine heutige Gemahlin Serwa geehelicht. Danach war das Band zwischen Vater und Sohn endgültig zerschnitten, der mit dem Junkertitel, Gießenborn und noch ein paar anderen Gütern abgespeist worden ist. Zumindest aus Golos Sicht. Ah, geht doch...”
Der Zunder flammte auf. Der Mondschatten hielt ihn in den Pfeifenkopf. Die Tabakskrümel begannen zu glimmen. Alrik paffte schweifend einige Züge, und wedelte den bläulichen Rauch durch die Schießscharte.
“Was danach geschehen ist, weiß niemand so genau. Es gab wohl mal eine praiosgefällige Akte über die Geschehnisse im Bethanierkrieg, aber die ist seit dem Jahr des Feuers verschollen. Du weißt ja, was mit Gernot passiert ist, dem borbaradianischen Verräter. Nach dem Sturz des Abtrünnigen wurde auch Golo stillschweigend entmachtet. Die Oppsteins haben ihn auf ihrer Burg kaltgestellt. Dort ist er von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sein Bett war blutgetränkt, also wurde er für tot erklärt. Totgesagte leben aber bekanntlich länger. Später ist Golo nochmal aufgetaucht. Hat ein Attentat auf Parinor verübt, den Inquisitor, als der ihn im Praiostempel über seinen Verbleib verhören wollte. Redenhardts Bruder. Das Verbrechen wurde aber recht milde geahndet. Erstaunlich milde. Angeblich war Golos Geist von Rattenpilzen vernebelt gewesen, der unheiligen Pflanze des Namenlosen. Wo immer er davon genascht hat. Golo wurde lediglich zu einer Bußwallfahrt nach Balträa verurteilt, auf den fernen Zyklopeninseln. Begleitet wurde er von einem Aufpasser, Gurvanio Harnischer, einem gebürtigen Kusliker und eifrigen Ritter des Bannstrahlordens. Das muss so `24 rum gewesen sein. Seitdem gilt er offiziell als verschollen. Endgültig verschollen. Glaubt man Ismena, ist es sogar überaus praiosgefällig, auf dem Weg zum Orakel von Balträa umzukommen. Wie bei den Novadis halt, wenn die Heiden bei einer Pilgerreise nach Keft verschwinden, in der Wüste. Wie gesagt, es gab wohl genauere Unterlagen dazu. Aber entweder wurden die in der Stadt des Lichts gebracht, sind im Krieg verschollen…oder beides. ”
Alrik lächelte vielsagend und blickte hinaus in die Abendröte. “Schön habt ihr's hier. Wer hätte gedacht, dass das Wetter nochmal aufklart. Ich wünsche dir jedenfalls eine glücklichere Ehe mit Alboran, als seine Mutter sie mit Golo dem Elfchen hatte.”
“Aber Alrik...Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das bereits die ganze Geschichte war? Ich mag jung an Jahren sein, aber glaub mir, wir haben hier in Schlotz auch allerhand erlebt, in der Wildermark. Niemand verschwindet einfach so. Ohne Grund.”
“Natürlich war das noch nicht die ganze Geschichte. Ich vermute Oppsteiner Intrigen dahinter, und irgendwelche Umtriebe von Gernots Kanzler, Herdmund Weißenkohl. Der wohl seinen Sohn und Nachfolger Berschin, einem Gelieben Golos, mit Ismena verheiraten wollte. Was man weiß ist, dass Golo nach Balträa noch einmal gesehen worden sein soll, im Gasthaus Zum Scharrenden Stier, an der garetisch-darpatischen Grenze. Angeblich haben ihn Soldaten weggeführt, mit Fuchswappen. Ritter Gurvanio hat sofort die Suche aufgenommen, allerdings vergeblich. Hieß es zumindest. Die Garether haben damals abgestritten, hinter der Entführung zu stecken. Aber das muss ja nichts heißen. Ich vermute, dass irgendjemand herausfinden wollte, warum die Oppsteiner ihre schützenden Hände über das schwarz-purpurne Schaf unserer Familie gehalten haben.”
“Hatten sie denn Grund, etwas zu verheimlichen?”
“Es gibt Gerüchte, wonach die Verbindungen zwischen Gernot und Redenhardt enger waren, als es dessen späteren Karriere zuträglich gewesen wäre. Schon vor der Blutnacht auf dem Friedstein. Ein geheimnisvolles Notizbüchlein Kanzler Herdmunds soll da ebenfalls eine Rolle gespielt haben, mit kompromittierendem Material. Aber damals war es leichter, den Todeswall zu durchbrechen, als die Mauer des Schweigens, die die Geschichte bis heute umgibt. Herdmund ist an einer Sieche gestorben, Berschin in der Wildermark verschwunden. Mittlerweile weiß man immerhin, dass Gurvanio Harnischer selbst ein Diener des Rattenkinds war. Ein Handlanger von Merwan, dem Vampirmagier, der Friedwang im Peraine 1027 unterjocht hat, als der Endlose Heerwurm marschiert ist. Leider ist Harnischer bei der Befreiung der Baronie umgekommen. Bevor wir ihn eingehender befragen konnten”.
“Haben ihn vielleicht die Oppsteins beseitigt?” Irgendwie hatte Haldana das bange Gefühl, dass sie den Spross eines ziemlich umtriebigen Adelshauses heiraten würde.
“Eher nicht. Laut Serwa und meinem Bruder wurde Gurvanio von einem Riesengrottenolm gefressen, bei einem finsteren Ritual in unserem Burgkeller. Sowas gabs damals öfters, in der Wildermark.”
“Von was wurde er gefressen? Einem Olm?”
“Du bist doch Bardin. Kennst Du nicht das Elfische Sagenbrevier? Oder das Lied von der Schwarzen Sichel und den Grotten des Schweigens?”
“Ach so. Stimmt. Fran der Pfeifer hat diese Uraltballade noch im Repertoir. Irgendwas mit einem zahmen Maulwurf, Waldelfen mit komischen Namen, einem Rätsel, dem entlaufenen Schwein Rosa und...jetzt wo du es sagst...einem Riesengrottenolm...naja...ich weiß nicht...Heutzutage verlangen die Kunden feinsinnigeres Liedgut. Fran Pfeifers Rätsel kann ohnehin niemand lösen.”
“Immerhin hat dein Zunftgenosse das Märchen von der Fee Solaline für die Nachwelt bewahrt.”
“Mag sein. Der Grottenolm ist also mal bei euch in der Burg aufgetaucht?” Haldana lächelte ungläubig.
“Ja....im tiefsten Brunnenschacht des Friedstein, um genau zu sein. Waren andere Zeiten damals. Obs wirklich ein...Riesengrottenolm war, wage ich zu bezweifeln. Hesindian meinte, die Beschreibung deutet eher auf einen Großen Alchimisten hin.”
“Doch nicht dieser Rimperdingsbums, der im Bauch des Grottenolms gefangen gewesen sein soll? Ich bitte dich, dass sind doch Kindergeschichten. Das Elfische Sagenbrevier ist eine Erfindung der Rohalszeit. Damals war eben alles, was spitze Ohren hat, groß in Mode. Fran war in seiner Glanzzeit ein verdammt guter Dudelsackspieler, aber seine Moritaten und Geschichten....naja.”
“Ich weiß. Ein paar Mal war er bei uns im Springenden Steinbock zu Gast, mit Sackpfeife und Drehleier. So schlecht fand ich ihn gar nicht. Für Frohsinn und gute Laune hat er jedenfalls gesorgt. Großer Alchimist ist laut meinem Hofmagier der Name eines Dämonen, der zur magischen Verhüttung von Erz eingesetzt wird. Auch Weißer Wurm genannt.” Alrik schlug in den Nebel seiner Pfeife das Zeichen des Fuchskopfs. “Mögen die guten Götter uns gegen die Mächte der Finsternis beistehen.”
Haldana, die gerade noch erheitert gewesen war, wurde nun wieder einsilbig. “Ja. Alveran steh uns bei, gegen die Niederhöllen und ihre Abgesandten...”
“Merwan der Schreckliche soll den Wurm schon zur Zeit der Priesterkaiser beschworen haben, um nach Schätzen tief unter den Bergen zu schürfen. Gut möglich, dass das Ungetüm sich damals selbstständig gemacht hat. Ich bin jedenfalls froh, dass es noch die Zisterne auf dem Burghof gibt. Und wir nicht auf das trübe Wasser des alten Brunnens angewiesen sind, das noch immer nach Säure und Schwefel stinkt. Immerhin hat der Wurm damals die Schwarze Sonne verschlungen, ein Artefakt des Nicht zu Nennenden, das geweihten Orten die Kraft der Götter stiehlt. Langsam, aber unaufhörlich alles Göttliche aus ihnen heraus saugt. Gurvanio ist mitsamt dem unheiligen Artefakt in den Rachen des Dämons gefallen. Mein Bruder hat ein bisschen nachgeholfen, gut. Woraufhin der Große Alchimist mit Getöse und einer Schwefelwolke verschwunden ist. Regelrecht geplatzt. Gurvanio und Merwan wollten mit der Dreizehnstrahligen Sonne die Sankt-Alborans-Siegesbasilika entweihen...unter ihr befand sich wiederum ein uralter Kultraum des Namenlosen. Aus der Zeit des ersten Praiostempels, den Merwan in der Priesterkaiserzeit errichtet hat. Mit einem Sarkophag aus purpurnen Stein, in dem das Kind der Finsternis geschlummert haben soll. Die Praioten haben den Zugang mittlerweile versiegelt und die Wiege des Bösen zerstört, wie sie den Steinsarg nennen. Selbst war ich allerdings nie dort unten. Wenn ich nicht zufällig Baron von Friedwang wäre, hätte ich von all dem kein Sterbenswörtchen erfahren.”
Haldana hatte große Augen bekommen. “Erinnert ein bisschen an die Geschichten über die Katakomben, unter unserer Burg. In den Tiefen des Berges soll sich ebenfalls etwas... Altes verbergen. Ich weiß noch, wie sie uns als Kinder immer gewarnt haben, in die Keller hinabzusteigen...Deswegen bin ich immer ganz gern hier oben auf dem Bergfried.”
“Mag sogar sein, dass da ein Zusammenhang besteht. Der Alboranstempel soll während der Priesterkaiserzeit von friedwanger Geweihten gegründet worden sein, auf Burg Schlotz.”
Haldana nickte. “Es soll sogar mal einen Schlotzer Priesterbaron namens Gurvanio gegeben haben.”
“Ja, gut möglich, dass der schwarze Bannstrahler seinen Amtsnamen von dem Kerl übernommen hat. Ursprünglich hieß Gurvanio Elfis. Elfis Harnischer. Vermutlich war ihm der Name aber zu elfisch.” Alrik grinste. “Dann hätte er sich aber andere Freunde aussuchen sollen, in Markt Friedwang. Seit dem Zwischenfall mit dem Viergehörnten haben wir zumindest eine Theorie, was mit Golo geschehen sein könnte. Merwan, der zurückgekehrte Blutsauger, besaß plötzlich die elfengleiche Gestalt Golos. Aber immer noch ziemlich spitze Zähne und einen geraden Hals. Serwa wiederum war während der Herrschaft der Thronräuberin Oleana nicht sie selbst. Gernots Tochter, die als Kriegsherrin die Macht in Friedwang ergriffen hat. Serwa war damals von etwas Überderischem besessen. Vermutlich vom Geist Golos, der als Nachtmahr von ihr Besitz ergriffen hat...sie kann sich aber an wenig von dem erinnern, was in diesem Jahr passiert ist. Vermutlich sind es nicht einmal ihre eigenen Erinnerungen. Die Zeit der Wirrnis muss für meine arme Gemahlin wie ein einziger Rauschtraum gewesen sein. Voller Zerrbilder aus dem Leben des Junkers von Gießenborn. Golo scheint eine Zeitlang in einem Kerker verbracht zu haben, mit einer Eisernen Maske vor dem Gesicht. Bis irgendwann ein Rattenpilz im Verlies gewachsen ist, und er davon gekostet hat. Dann stand plötzlich Merwan in seiner Zelle – der Jahrhunderte alte Peiniger des Hauses Friedwang. Erst als Ratte, dann als schwarzbärtiger Mann. In Gestalt von Gernots Hofmagier Ilkor Brasgar, der Serwa schon während der Bluthochzeit auf dem Friedstein opfern wollte. An dieses Bild kann sich meine Gemahlin noch erinnern, ebenso, dass Golo sich seinen Zeh abgeschnitten hat, um ihm den Namenlosen zu opfern, als Preis für seine Freiheit. “
Der Friedwanger schaute besorgt in Haldanas Richtung. Zuhause, in Friedwang konnte er nicht frei über so etwas berichten, bestenfalls im engsten Kreis der Vertrauten. Manchmal hatte Hesindian auch Seelenheilkunde eingesetzt, um Golos Erinnerungen zu wecken, die Serwa in “Fleisch und Blut” übergegangen zu sein schienen. Hypnose nannte er das Verfahren, das angeblich nicht einmal magisch sein sollte. Die Praioten durften dennoch nichts von alldem wissen. Es war nur gut, dass sich Prätor Garafanion nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, in seinem Bemühen, sich die Herrschaft Oleanas als praiosgefällig einzureden. Wie hatte Ismena so schön gesagt, in der Kutsche: Wer im Gewächshaus sitzt...
Zu seiner Erleichterung sah ihn Haldana verständnisvoll an. Fast schon schien sie Mitleid mit Alriks Gemahlin zu empfinden. Tatsächlich wusste die junge Binsböckel nur zu gut, was es bedeutete, Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnehmen konnten.
Alrik seufzte. “Der Ewige Widersacher lebt von der Verzweiflung und dem Unglück der Sterblichen. Deswegen ist Er auch so eifrig darauf bedacht, das Leid in dieser Welt zu vermehren, statt es zu mildern. Wie es die guten Zwölfe versuchen. Merwan hat sich Golos an Vaters statt angenommen, und mehr als das. Irgendwann muss der Bleiche ihm seinen schönen Körper gestohlen haben, als Ersatz für seinen eigenen, untoten, bleichen, nach Verwesung riechenden, seit 700 Jahren langsam verrottenden Leib. Seither war Golo wohl ein körperloses Geschöpf, eine Art Incubus, der sich von der Lebenskraft anderer Menschen ernährt.”
“Aber...auf dem Darpat. Da schien Golo wieder ganz er selbst zu sein, mit eigenem Körper?”
“Ja, das verstehe ich ehrlich gesagt auch nicht so ganz. Hesindian ist es gelungen, ein Trümmerstückchen von dem Sarkophag zu untersuchen, magisch meine ich. Aber psst.” Alrik legte den Finger auf die Lippen. “Wenn das meine Diener des Lichts herausfinden... Dank Serwas Visionen ist es uns gelungen, zu rekonstruieren, was damals passiert ist. So einigermaßen. Die Wiege des Bösen war von niederhöllischer Leichtigkeit, dafür, dass sie aus massivem, quaderschweren Porphyr bestand. Sie muss also transportabel gewesen sein. Offenbar gab es irgendwo in Transysilien oder der Warunkei ein unterirdisches Ritual, bei dem Merwan in seinem Sarkophag lag und in einem zweiten Steinsarg Golo. Vermutlich nicht ganz freiwillig. Aber die Bilder waren da sehr undeutlich. Der untote, modernde Leib des Vampirs sollte wohl Golos jugendfrische Gestalt erhalten, mit Hilfe von Blutmagie und verbotenem Wissen. Auf den schiefen Hals hat Merwan bei seiner Neuerschaffung wohlweislich verzichtet. Irgendetwas muss aber dennoch schief gegangen sein. Golos Geist wurde von seinem eigenen Körper getrennt. Aber nun gut, in so einem Sarkophag wird einem Sterblichen schon mal die Luft knapp. Auch Merwans gestohlener Körper wurde mittlerweile vernichtet, durch einen Geweihten der St. Alborans-Siegesbasilika, im Schratenwald.”
Alboran paffte geistesabwesend. Draußen flatterte ein Taube vorbei, landete in der Fensternische und flog erschrocken wieder auf, als sie die Menschen erblickte, mit schwerem Flügelschlag.
Munteres Geplauder von oben lenkte die beiden ab.
Adginna kam mit Alboran die Treppe herab, gefolgt von Ismena.
“Glaubt mir, werter Junker, ein Wald kann eine wahre Schatzkammer sein, wenn man ihn zu nutzen versteht. Phexens Fuchs wohnt am liebsten in Firuns Wald. Noch so ein Sprichwort...wenn ich allein an unsere Waldweide für die Schweine denke, im Herbst. In guten Jahren, wenn es viele Bucheckern und Eicheln gibt, stehen wir den Wutzenwaldern beim Ertrag in nichts nach.”
Alboran nickte eifrig. Sein ganzes Augenmerk galt aber schon wieder Haldana.
“Holzschädlinge sind natürlich ein ständiges Ärgernis. Dieses Jahr treibt es der Orkenkäfer wieder besonders wild. Ah, sieh an, meine Tochter möchte unseren Bergfried in Brand stecken, zusammen mit dem Baron von Friedwang?”
Die Vögtin lächelte bei diesen scherzhaft gemeinten Worten. Sie schien deutlich entspannter zu sein als noch vor einer Stunde.
Alrik nahm die Pfeife aus dem Mund. “Es war oben doch etwas windig, so dass wir uns ein wenig zurückgezogen haben. Bitte verzeiht. Unter einem Dach fängt der Zunder besser Feuer.” Ein Blick zu Haldana, die merkwürdig blass und verstört wirkte.
Ein wenig wunderte sich der Friedwanger schon. Golo-Geschichten waren sicher schauderhaft, aber die junge Binsböckel hatte in den Trollzacken gerade Schlimmeres erlebt.
“Der Zunder fängt unterm Dach besser Feuer”, wiederholte Adginna beschwingt. “Ein gutes Stichwort. Das Kaminfeuer brennt sicher schon. Zeit für das Abendessen.”
Alrik deutete auf seine Pfeife. “Seid bedankt. Wenn Ihr gestattet, werde ich noch schnell zu Ende rauchen. Eine üble Angewohnheit, das mit dem Rauchen. Hab im Bethanierkrieg damit angefangen. Gut gegen das Zittern nach der Schlacht...und vor der Schlacht...”
“Natürlich. Ihr findet den Weg zum Thronsaal? Dort wird euch ein Diener in den Speisesaal führen. Man kann sich bei uns schnell verlaufen, auf Burg Schlotz.”
“Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.”

Alboran, dessen Flamme und Schwiegermutter gingen plaudernd nach unten, während Ismena und ihr Verflossener zurück blieben.
“Immer noch das gleiche Kraut wie damals.” Ismena hatte wieder ihren Fächer gezückt und vertrieb damit die Tabakschwaden.
“Nicht ganz. Hab die Mischung in Rommilys ein bisschen verfeinert. Und, wie gefällt es dir so, in der künftigen Heimat unseres Sohnes?”
“Zumindest ist Schlotz keine Trollburg, wie man sie sich bei uns vorstellt. Mehr als nur ein paar Steinbrocken in der Wildnis...Ich muss schon sagen, manch kaiserliche Pfalzburg ist nicht so gewaltig wie dieser Baronssitz. Man könnte hier leicht den Palast Rahjas auf Deren unterbringen...” Ismena blickte durch die Schießscharte. Draußen begann es zu dämmern. “Wir dürfen unsere Gastgeber nicht zu lange warten lassen. Du solltest ein bisschen schneller qualmen. Sei höflich, auch wenn Du deine Knappschaft in den Gassen von Brabak absolviert hast.”
“War nur ein Vorwand. Das mit dem Weiterrauchen. Du hast deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Über das, was nach dem Einfall Varenas in Gießenborn geschehen ist.”
“Meine Geschichte ist nicht ganz so spannend wie deine gerade eben.”
Alrik runzelte die Stirn. “Du hast gelauscht?!”
“Dazu musste ich mich nur an die Brüstung über der Schießscharte stellen. Du warst auch schon mal diskreter. Aber Du kannst unbesorgt sein, ich habe eigentlich nur mitbekommen, dass es um Golo ging.”
“Natürlich, wenn es um den geht, hörst du immer schlecht.”
“Was habt ihr beide besprochen?”
“Erst deine Geschichte...das Leben ist ein Geben und Nehmen, sagt Phex.”
“Was erwartest du für Abenteuer von einer schwachen Dienerin der Liebholden? Irgendwann bin ich aus Alweranskuppen geflohen, verfolgt von Varenas Söldnern. In der Wildnis habe ich mich ziemlich schnell verirrt, beim Versuch, sie abzuschütteln. In meiner Verzweiflung bin ich einfach dem grünen Leuchten des Rings gefolgt. Wollte mich irgendwie zur Burg meiner Familie durchschlagen. Irgendwann, auf dem Weg gen Firun, kam ich an die Quelle des Gießen. Was soll ich sagen. Ein halb verfallenes Quellenhäuschen, mit einer kleinen Statue von Yalsicor, dem Alveraniar und Schutzherr von Freundschaft und Hoffnung. Mitten in den Bergen. Wusstest du, dass der Ziegenkopf in Eurem Wappen wahrscheinlich auf den Hohen Drachen zurückgeht, der seit alters her in Travias Diensten steht?”
 “Wenn du es sagst.” Alrik paffte einige Rauchkringel. Das Halbdunkel hier oben gefiel ihm. Er wollte noch nicht runter, in den Thronsaal.
 “Meine Wunden waren alles andere als verheilt, als mir Elmert dieses Maultier beschafft hat, und ich einfach losgeritten bin, durchs schwach bewachte Tor. War schon ein bisschen älter, aber mit einem Reiterangriff aus dem Kloster haben die verdammten Mietlinge nicht gerechnet. Meinen Trick, dem alten Wisshard ein paar Steine in die Satteltaschen zu stecken, ihn in den Wald zu schicken und eine falsche Fährte zu legen...den fand ich gar nicht so schlecht.”
“Sieh an, an dir ist ja eine Baernfarn verloren gegangen”, spöttelte Alrik. “Eine echte Waldläuferin.”
“Die Wunden hätten dennoch ein wenig mehr Zeit zum Heilen gebraucht, unter den Verbänden. In meiner Verzweiflung wollte ich eine heilende Feenquelle finden. Tatsächlich, hinter dem Schrein ging es noch weiter, tiefer hinein in den Berg. In eine Grotte, mit einem kleinen, runden, tintenblauen See. Das musste der Blautopf sein.”
“Ist von Ziegenart, macht doch nicht Meck, ist krumm und zart, wächst wie ne Heck...wie gehts weiter?”
 “Wir sollten uns die Märchen und Sagen besser fürs Abendessen aufheben. Nein, den Kobold Ziegenbart hab ich nicht getroffen. Wie war das? Ach ja, der hat die Quelle des Gießen in einen Krug gesperrt... Den er vor lauter Zorn zerbrochen hat, als die Gießenborner das Rätsel gelöst haben und auf seinen Namen gekommen sind. Weswegen der Gießenborn jetzt einige Meilen außerhalb des Dorfes entspringt. Nun, der Blautopf hat geleuchtet, und mein Ring auch...aber von einem Moment zum nächsten nicht mehr grün, sondern rot. Dann hat sich irgendetwas genähert, unter Wasser. Ich habe es nicht gesehen... aber gespürt. Dann bin ich gerannt wie nie zuvor, sicherlich eine halbe Meile, ohne mich umzudrehen. Was sage ich, mehr gestolpert und gestürzt. Bei Gießenborn kam ich wieder aus dem Bergwald. Dort habe ich die Flasche des Ersten Bosparanjers geholt, die Reliquie des Tempels.”
“Ich dachte, die Dreckigen hätten sie zertrümmert.”
“Ich mag vielleicht nur eine zarte Rahjadienerin sein. Aber es war nicht mein erster Krieg in der Sichel. Kaum ist die Nachricht eingetroffen, dass sich der Feind Gießenborn nähert, hatte ich eine einfache Tonflasche ins Reliquar gelegt und den echten Schatz an einem sicheren Ort versteckt. Mit der Reliquie bin ich dann nach Belhanka gepilgert und habe um KHABLAS MAKELLOSEN LEIB gebeten. Ich habe mich für einen Moment im Blautopf gespiegelt, glaub mir, diese Entscheidung war keine Eitelkeit.”
“Moment, Verständnisfrage. Eine Schaumweinflasche war dir wichtiger als... deine Familie? Dein eigen Fleisch und Blut?”
“Die mehr als 200 Jahre alte Flasche, in der die Geliebte der Göttin Rahjalina Stellona zum ersten Mal das Kultgetränk unserer Kirche angesetzt hat, gewiss. Vorhin hieß es noch, wir Oppsteiner würden es mit der Götterfurcht nicht ganz so genau nehmen wie unsere Nachbarn. Nun habe ich Sancta Rahjalina einen Dienst erwiesen, der wahrlich aus tiefstem Herzen kam - und dir ist es auch wieder nicht Recht...”
“Du hättest diese Pulle in Rommilys abliefern können oder in Gareth...”
“Bei den stocknüchternen Traviagänsen? Oder doch lieber in der sicheren Hauptstadt des Raulschen Kaiserreichs - wo nur ab und zu mal eine Fliegende Festung runterfällt? Wenn nicht einmal Wehrheim sicher war? Nein Danke. Ich war in Rommilys, gewiss, im Stadthaus unserer Familie. Aber nur, um meine Reisekasse etwas aufzubessern. Danach habe ich mich auf schnellsten Weg gen Belhanka begeben. Zur Lehrerin des Rausches Atroklea, die sich ganz dem Dienst an der Heiligen Rahjalina verschrieben hat. Eine geborene Berlînghan und somit eine Verwandte meines Bruders, dessen Empfehlungsschreiben ich in der Tasche hatte.”
“Du warst also doch nicht in der Feenwelt?! Aber selbst das Horaskaiserreich ist nicht soweit weg, dass man vier Jahre hin und zurück braucht.”
“Ich sagte es ja schon, die Mysterien der Rahja sind für Euch Außenstehende nur schwer zu verstehen. Die Schöne Tochter war gnädig und hat mir wieder ein Gesicht gegeben, nach Wochen der Einkehr. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Leib wurde makellos wie das Antlitz Khablas, aber dafür habe ich ein Gelübde geleistet, das den Belhankanern überaus gefiel. Ich bin in die Fußstapfen der Heiligen Xaviera getreten, der Schutzheiligen der Stadt.”
“Oha, die Patronin der Kurtisanen.” Alrik verdeckte ein hämisches Lachen.
 “Ja, durch ihre Fürsprache in Alveran wurde mir mein Gesicht zurückgegeben. Alles andere werde ich dir nun wirklich nicht auf die Nase binden. Sieben Götterläufe sind eine überaus lange Zeit.”
“Sieh an. Anderen verzeihst du nicht mal, wenn sie ihr Lager für eine Nacht aufstellen, in deinem Garten.”
“Manchen verzeihe ich nicht, dass sie ihr Lager nur für eine Nacht bei mir errichtet haben, mein Liebster...denk ja nicht, dass ich in Belhanka unter der roten Laterne gestanden habe, wie eine Hafenkokotte. Oder dass ich all die Jahre nur mit der Erfüllung meines Gelübdes befasst war. In der Ponterra gibt es eine rege darpatische Diaspora, dank der Darpatengarde und meinem guten Onkel Gernbrecht, mit seiner Rommilyser Reiterei...”
“Natürlich, die Rommilyser Reiterei. Man sagt, diese Condottiere hätten den Schatz unserer guten Fürstin Irmegunde gestohlen.”
“Wenn, dann war das dieser Ilsandor von Hauerndes, der in der Wildermark in Diensten Ucurians...ach, ersparen wir uns auch das. Vor diesen Wirren bin ich  geflüchtet, ins Land an Sikram und Yaquir...”
“Während ich derweil unseren Sohn standesgemäß untergebracht habe, als Knappe, in seiner geschundenen Heimat...was gar nicht so einfach war. Bei Golos Reputation. Vom Ansehen seines Großvaters ganz zu schweigen.”
“Meinen Gemahl hab ich nicht vergessen, ob dus glaubst oder nicht. Nachdem ich nun schon mal im Horasreich war, habe ich mich zuletzt noch auf den Weg nach Baltrea begeben, zum Orakel des Praios...Einen netten Capitano der horaskaiserlichen Handelsmarine habe ich in der Zeit übrigens auch kennengelernt. Adrett, zuvorkommend und gut aussehend. ”
“Daran zweifele ich nicht. Sein Name war nicht zufällig Flarion Silbertaler?”
“Wer?”
“Ach, vergiss es.”
“Da ist wohl einer eifersüchtig? Du hattest neben Serwa und mir auch noch deine Liebschaften. Wenn ich allein an diese Duridanya denke, Nichte dieses schurkischen Schwertes der Schwerter Dragosch von Sichelhofen. Du brauchst Golo gar nicht so schlecht zu machen, vor Haldana.”
“Das brauche ich wirklich nicht mehr. Was wolltest du denn auf Baltrea? Ziegen hüten? Das einfache Landleben genießen, nach deinem Vergnügen mit der Rommilyser Reiterei und der Darpatengarde?”
“Ich wollte wissen, ob Golo wirklich auf der Vulkaninsel angekommen ist.”
“Und - ist er das? Haben sie ihn dort heilig gesprochen ob seiner frommen Buße?”
“In Tyrakos konnte sich einer sogar wirklich noch an seinen schiefen Hals erinnern.”
“Die Zyklopen haben sicher ein Auge für so etwas.”
“Sehr witzig. Er war mein Ehemann, Alrik. Wir haben uns ein Versprechen gegeben.” Ismena reckte trotzig das Kinn vor.
“Einen Versprecher vielleicht. Golo soll in einem Gasthaus nahe der garetischen Grenze verschwunden sein...Stand sogar im Darpatischen Landboten. Auf der Rückkehr aus Balträa.”
“Ich wollte Antworten, Alrik. Die ganze Wahrheit, die nur die Götter kennen. Balträa ist nun mal ein Orakelort. Seltsamerweise erinnert mich diese Burg wieder an damals. An die Zyklopeninseln. Die Bauten der Einaugen dort sind ebenfalls gigantisch. Ich bin den Vulkan von Baltrea hinauf gewandert, wie eine gewöhnliche Pilgerin. Auch das wirst du vermutlich nicht verstehen. Die Sonne, das blaue Meer, das schwarze Gestein des Feuerbergs. Der säuselnde, nach Kräutern duftende Wind, das Grillenzirpen in der Hitze des Tages. Der Blick auf die umliegenden Inseln. Man ist den Göttern unglaublich nahe, an diesem Ort, vielleicht näher als anderswo in Aventurien. Schon zu Beginn erhielt ich Zeichen. Den Klang der Levthansflöte, das Meckern einer Ziege, die Flugechse, die sich einen Fisch gefangen hat, unten in der silbrig glänzenden Bucht...”
“Das müssen ja nicht unbedingt göttliche Zeichen sein.”
“Die Ziege, der kleine Drache? Das Instrument des Rahjasohns? ER wollte mir zeigen, dass ich damit gemeint war. Dass ER wusste, was mir widerfahren war, und mir Antworten geben würde. Man spürt in diesem Moment SEIN goldenes Auge auf sich ruhen, im klaren, reinen Licht des Mittags. Als ich vorhin das Sonnenauge gesehen habe, im Thronsaal, da ist mir all das wieder eingefallen. Ich habe IHM geopfert, oben im neuen Tempel, und gebetet, zu Praios und seinen Alveraniaren. Auf dem Rückweg habe ich die Antwort dann gesehen. Auf einer Tonscherbe, im Vulkanschutt zwischen den Ruinen...”
“Du machsts aber spannend.” Alrik klopfte die Asche aus dem Pfeifenkopf, hinaus ins Dunkle.
“Ein Triskal. Umgeben von verschlungenen Zauberrunen.”
“Ein Auge der Macht, wie die Thorwaler sagen? Sicher, dass es nicht irgendein Kratzer war?”
“Die Thorwaler waren öfters auf den Zyklopeninseln, in den Dunklen Zeiten.”
“Moment, damit ichs verstehe. Der Götterfürst hat dir nicht nur ein Zeichen geschickt? Es war auch noch ein magisches Zeichen der Barbaren aus dem Norden? In einer alten Tonscherbe?”
“Ein Schutzzeichen vor böser Zauberei. Ich habe die Scherbe mitgenommen, und später einer rothaarigen Olporterin gezeigt, im Hafen von Belhanka. Wir hatten auch sonst viel Spaß miteinander, Alfhildur und ich. Nein, nicht so wie du denkst. Alfhildur Swafnirdrasdottir. Sie meinte, es wäre ein Vitkari-Zeichen. Eine Zauberrune, wie sie schon die Hjaldinger nach Aventurien gebracht haben. Du weißt schon, die Vorfahren der Thorwalpiraten aus dem Güldenland. Nur wenige der Nordleute beherrschen die Runenmagie noch. In diesem Fall wäre es eine Geisterbannrune gewesen...eine...ich habe mir das Wort sogar gemerkt...eine Draughbaniruna. Man zeichnet sie auf menschliche Haut, ritzt sie in Holz, Schiffe oder Wände. Andere Runen und Walknoten besänftigen das Wüten des Meeres, halten Kobolde oder Meeresungeheuer fern, bringen Glück oder verstärken den Rausch. Es bedarf eines magischen Skaldengesangs, des Galdr, um die Macht der Vitkari zu wecken. Ein Gesang, der von der gesamten Schiffsbesatzung angestimmt wird und dem Runenzauberer Kraft verleiht. Hat Alfhildur gemeint. In der Runajasko, der Halle des Windes zu Olport, wird diese Kunst noch gelehrt.”
“Was man in einem Praiosheiligtum nicht alles lernt, heutzutage. Du scheinst wirklich in Golos Fußstapfen getreten zu sein, auf Baltrea. Oder einfach nur auf eine alte Scherbe.” Alrik verstaute die Pfeife wieder. “Wie man einen Knoten in einen Wal bekommt, das würde ich gerne mal sehen...War das die Geschichte? So langsam bekomme ich Hunger...”
“Ist dir denn gar nichts heilig? Die alten Alhanizauberinnen sollen ganz ähnliche Rituale gekannt haben, habe ich gehört. Mit denen sie die Kraft einer Gemeinschaft auf Runen übertragen konnten. Verstehst du nicht, Yalsicor, der Hüter der Freundschaft. Praios, der Schutzherr vor finsterer Magie, und dann diese Vitkari? Es muss etwas mit Golos Verschwinden zu tun haben, das spüre ich.”
“Jetzt müssen wir nur noch die Heilige Xaviera in dem Ganzen unterbringen.” Alrik grinste schief. “Fang bitte nicht bei Adginna mit Zauberzeugs und irgendeinem...Runenfiasko an. Nicht jetzt, wo ich das Eis schon ein wenig gebrochen habe...wir müssen noch den Ehevertrag aushandeln, vergiss das nicht.”

“Ihr habt Euch über Golo unterhalten?” wurden Ismena und Alrik von Haldana unterbrochen. “Nein, ich habe nicht gelauscht, ich kam gerade die Stiege wieder herauf. Meine Mutter bat mich, nach Euch zu sehen.
“Stimmt, Haldana. Mein Gemahl. Ich darf doch Du sagen, schließlich sind wir jetzt fast eine Familie?” Ismena erwartete nicht wirklich eine Antwort auf die letzte Frage. Vielmehr beschäftigte sie eine andere Sache. “Ich habe vorhin auch nicht gelauscht. Aber dennoch habe ich gehört, dass du Alrik nach meinem Ehemann gefragt hast. Warum? Er ist nicht der Vater Alborans. Warum sollte er für Dich von Interesse sein? Er ist tot. Und er ist geläutert, nach der Bußwallfahrt nach Balträa. Die Toten sollte man ruhen lassen, meinst du nicht?”
“Hmm, ja. Das glaube ich gerne. Also dass Alrik Alborans Vater ist. Auch ohne weiteres Nachfragen. Es gibt doch viele Ähnlichkeiten zwischen Alrik und Alboran. Sicherlich. Nein, deswegen interessierte ich mich nicht für Golo. Nun, die Toten, es ist die manchmal die Frage, ob die Toten uns ruhen lassen… Hier in der Wildermark kann man mehr als ein Lied darüber singen. Aber lass uns nach dem Abendessen darüber reden. Nicht, dass meine Mutter ungeduldig wird… Aber so wie ich meine Mutter kenne, wird sie nach dem Abendessen mit Alrik sich um so nüchterne Themen wie einen Ehevertrag bereden wollen. Während dessen erzähle ich gerne mehr, warum ich nach Deinen Ehemann gefragt habe. Wir haben da sicher einiges auszutauschen, und das hat nichts mit Deinem Sohn zu tun.”
Nach dem opulenten Mahl - es hatte Entenbraten mit einer leckeren Füllung gebeten, dazu war Meth gereicht worden und zum Nachtisch Früchte - schien das Eis endgültig gebrochen zu sein. Zwar wirkte die Vögtin weiterhin überaus korrekt und sehr auf die Form bedacht, konnte aber zugleich auch eine Herzlichkeit entwickeln, die Alrik und Ismena noch bei ihrer Ankunft nicht für möglich gehalten hätten. Im Lauf des Gesprächs - erst auf dem Turm und nun beim Abendmahl - hatte Alrik mehr und mehr Ähnlichkeiten zwischen der Vögtin und ihrer Schwester Valyria, die er ja noch aus deren Zeit in Gallys kannte - festgestellt. Nicht nur äußerlich, die gleiche schlanke und ausdauernde Gestalt, ähnlich lockige Haare, auch die Gesichtszüge wiesen Parallelen auf. Wie ihre Schwester war Adginna in klassischer Bildung unterrichtet worden. Was die jüngere Schwester zur Ausrichtung von Veranstaltungen wie seinerzeit dem Gallyser Culturspectaculum einfließen ließ, hatte die ältere Schwester in die Gestaltung des Lebens auf Burg Schlotz gesteckt.
Vögtin Adginna hatte Alrik nach dem Mahl noch zu einem Glas Wein und zu weiteren Gesprächen in die Bibliothek gebeten, so dass Haldana, Alboran und Ismena im Speisesaal zurück blieben, sich aber vom Tisch zur Sitzgruppe vor dem Kamin begaben. Haldana hatte eine Magd angewiesen, den Tisch abzuräumen, aber noch Gläser und eine Karaffe Wein bereit zu stellen. Die Schlotzerin reichte ihrer Schwiegermutter und Alboran die Weingläser - Gläser, aus einer Rommilyser Manufaktur, wie Ismena anhand einer Gravur erkannte - und setzte sich dann ebenfalls.
“Alboran hat es ja schon erfahren und erlebt. Ich liebe die Musik und auch Geschichten, Fabeln, Erzählungen. Ismena, du hast Alrik ja erst vor einigen Tagen wieder gesehen. Ich nehme an, er hat bei all den Neuigkeiten noch keine Gelegenheit gefunden, alles von unseren Erlebnissen erzählt zu haben?” begann Haldana schließlich.
“Nun, er hat mir viel erzählt. Aber ob das schon alles wahr ist, oder ob er das eine oder andere noch nachreicht, ich werde es wohl abwarten müssen. Wir haben uns immerhin schon lange nicht mehr gesehen. Am meisten hat er mir natürlich davon erzählt, wie unser Sohn sich entwickelt hat. Nun, ich wüsste jedenfalls nicht, was er mir noch erzählen sollte.”
“Von unserer Begegnung mit Golo hat er vermutlich noch nicht erzählt?”
Ismena erblasste. “Golo ist tot.” stellte sie nüchtern und mit fast zu schnellen Worten fest. Haldana beschlich der Eindruck, dass Ismena sich dabei nicht sicher war.
“Möglich, ja. Allerdings ist er nicht auf der Reise nach Baltrea gestorben. Er… war auf dem Treidelkahn auf dem Darpat, wohin man mich entführt hatte. Davon hat Alrik, nehme ich an, schon erzählt? Wir hatten in Rommilys die Spur dieses Gerrich von Friedwang, dieses Schwarzmagiers, aufgenommen. Bei der Verfolgung hat man mich in einen Hinterhalt gelockt und entführt… Üble Intrigen und Machtspielchen hatte er geplant. Golo war nicht tot, er war es wirklich. Er… hat auch niemals dem Dreizehnten abgeschworen. Ismena, das solltest du wissen. Gerrich und Golo hatten den Plan, mich mit Golo zu verheiraten und sich damit die Herrschaft über Schlotz zu ergaunern. Und auch über Friedwang, mit der dann stärkeren Hausmacht Golos.”
Die Gießenbornerin fasste sich schnell. Wenn sie überrascht war, ließ sie sich jedenfalls nicht aus der Ruhe bringen. “Liebes Kind, es liegt in meinem wie in deinem Interesse, dass daraus kein Klatsch und Tratsch wird.” stellte sie fest.
“Wir sind hier zu dritt, und das Gesinde ist gerade nicht da. Aber es stimmt, wir sollten all das unter uns belassen. Aber Du musst es wissen. Golo ist nicht auf der Bußwallfahrt gestorben, so viel steht fest. Ich… kann nicht sagen, ob Golo tot ist oder lebt. Auf meiner Flucht damals habe ich ihm eine Laute über den Schädel gezogen. Aber er hängt dem Dreizehnten an, und er hat sicher nichts Gutes im Sinn. Ich bin nicht überzeugt davon, dass er ein für alle Mal unschädlich gemacht wurde. Als seine Ehefrau… oder Witwe, als sein... wenn auch nicht leiblicher... Sohn… muss ich Euch das sagen. Und… noch eines, was Golo gesagt hat, damals. Natürlich weiß ich nicht, ob er das tatsächlich glaubt, oder ob er nur Zwietracht säen wollte. Golo sagte mir, er sei der leibliche Vater Alborans…”
“Niemals. Auf gar keinen Fall!” protestierte Ismena heftig. “Golo hat sich nie für Frauen interessiert. Er hatte…. Was das anbelangt… nur Knaben im Sinn. Ich habe… nur damals nie offiziell anderes gesagt. Du weißt, Haldana, wie groß der Einfluss der Traviakirche formals in Darpatien war und immer noch ist. Erst später, nach dem Jahr des Feuers, hat Alrik Alboran formal anerkannt und adoptiert. In dieser schweren Zeit war es nicht mehr so streng, nicht mehr in der Form schwierig wie früher, unehelich geboren zu sein. Sei unbesorgt, Haldana, in Alboran steckt nichts, aber auch gar nichts von Golo. Er war mein Ehemann, als Alboran geboren wurde. Das ist aber auch alles. Dein Schwiegervater ist Alrik, nicht Golo.”
Haldana nickte. “Das glaube ich gerne. Immerhin, ich weiß, dass Golo sich nicht für Frauen interessiert, allenfalls für den Titel und das Erbe, das sie mitbringen. Aber er ist wahrhaft ein Meister darin, andere einzuschüchtern, Angst einzujagen oder Unfrieden und Misstrauen zu säen. Und… ich bin, wie gesagt, nicht sicher, dass das überstanden ist, mit Golo.”  
“Ach, Haldana, Liebes. Heute hast du aber auch ein Talent, einem die Stimmung einzutrüben” warf Alboran ein. “Dabei bist du doch sonst ein so fröhliches Naturell. Und… Alrik ist mein Vater, das beweist nicht zuletzt mein Ohr, das wir nur verborgen hatten in schwierigen Zeiten. Ich weiß, was Golo Dir angetan hat, aber lass jetzt die Vergangenheit ruhen. Zeige Mutter lieber, wie gut du mit der Laute umzugehen vermagst.”

Indes hatten Alrik und Adginna sich in die Bibliothek zurückgezogen.
Der Friedwanger prostete der Vögtin zu, und nickte anerkennend, was nicht nur am Rotwein lag. Vermutlich ein Trollzacker. Der Becher bestand aus schönem, grünlichem Nuppenglas.
“Vortrefflicher Wein. Ganz superb, wie der Entenbraten.”
“Mit einem Bleigeschoss aus Friedwang erlegt, habe ich mir sagen lassen.” Adginna ging die Reihen der Bücher durch, deren Rücken im Kerzenlicht glänzten.
“Wie es aussieht, steht einem Traviabund unserer Familie also nichts mehr im Wege?” Alrik beschloss, ohne weitere Umschweife zur Sache zu kommen.
“Nun, nachdem der Rahjabund zwischen Haldana und Alboran bereits derart weit gediehen ist...bietet es sich an, nun auch an den zweiten Schritt zu denken.” Adginna war anzumerken, dass sie es für schicklicher gehalten hätte, mit dem “zweiten Schritt” zu beginnen.
Alrik nickte, ganz altdarpatischer Edelmann. Das leidige Thema “Gänsestechen”. Gerne hätte er Adginna erzählt, dass ihr Küken durch das Zutun eines Baernfarn-Verwandten zur “Gans” geworden und Alboran buchstäblich unschuldig gewesen war.
Ein wenig hatte er das Gefühl, dass in den Augen der Binsböckel Golos schlimmste Untat die “elfische Unzucht” gewesen war. Gerüchte, wonach dessen Vater Gernot sich ganz gerne einmal mit Goblin-Weibchen vergnügt haben sollte, waren sicherlich ebenfalls bis nach Schlotz gedrungen.
Alrik war da tolerant. Fand er. Immerhin war seine Kusine Darida in einer Amazonenehe mit Franka von Oppstein verbunden. Lebte allerdings auf den weit entfernten Efferdstränen. Rahjas Liebe war wahrlich ein Mysterium...Das mit Ismenas “Diensten an der Heiligen Xaviera” nagte immer noch an ihm. Sieben Jahre. Verrückt. Aber er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Nicht von den Eskapaden seiner einstigen Geliebten.
“Ich werde meinem Oberschreiber den Entwurf eines Ehevertrags aufsetzen lassen, sobald ich zurück in Friedwang bin. Außerdem werde ich mit Mutter Chasine sprechen, der Äbtissin unseres Klosters, damit sie das mit der Chronik der Traviagefälligen Abstammung klärt...als angesehenes Mitglied des Badilakanerordens.” Alrik räusperte sich. “Ein gutes Wort im Friedenskaiser-Yulag-Tempel einlegen”, diese Formulierung wollte er doch nicht gebrauchen.
Beim Stichwort “Badilakaner” blickte Adginna etwas pikiert. Alrik ahnte, warum. Der Heilige Badilak hatte seinerzeit sämtliche Lustknaben und Dirnen von Mendena auf den Pfad der Tugend zurückgebracht.
“Ich meine, um Alborans Stammbaum...etwas genauer zu erläutern. Bevor es heißt, die Birne fällt nicht weit vom Stamm. Die übliche Formalität vor dem Traviabund. Natürlich müssten wir in groben Zügen klären, wie wir uns die gemeinsame Zukunft unserer Kinder vorstellen. Da wäre schon einmal der Baronstitel zu Schlotz...” Alriks Fuchsnase schnupperte, nicht nur am Wein.
“Selbstverständlich steht Alboran der Freiherrentitel zu” Adginna nickte, was auch an dem schweren, in schwartiges Schweinsleder gebundenen Buch lag, das sie gerade entdeckt hatte. “Allerdings sage ich es unverhohlen: Ich bin kein Freund dieses Namenswirrwars, das in letzter Zeit im Raulschen Kaiserreich Einzug gehalten hat. Diese furchtbaren horasischen Endlos-Bindestrichnamen, mit Verlaub. Ich weiß nicht, es sollte nur eine Familie sein, zu der man sich bekennt, da sei Frau Travia vor.” Adginna zog den Folianten heraus. “Natürlich, ich weiß, dass auch Ihr einen Doppelnamen führt, mein lieber Baron von Friedwang-Glimmerdieck. Wie auch wir gelegentlich das Schnayttach im Namen tragen. Bei großen Familien ist es sicherlich ratsam, durch den Verweis auf das Hauptlehen für ein wenig Orientierung zu sorgen. Was ich meine, ist ein völliges Durcheinander aus altehrwürdigen Familiennamen.”
“Du, ich glaube, wir haben uns schon aufs Du geeinigt”, sagte Alrik und ließ erneut das Glas klirren. “Wenn wir schon bei Titeln und Etikette sind.” Der Friedwanger lächelte charmant. Streng genommen war er bereits ein Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, was Adginna entweder nicht wusste oder elegant überging.
“Ja, lieber Alrik. Ich mische mich selbstverständlich nicht in fremde Familienangelegenheiten ein. Aber ich finde, dass wir es in der Verbindung unserer beiden Häuser einfach halten sollten. Im Kosch haben sie, glaube ich, die schöne Tradition des Namenswiegens. Wer am meisten Erbe in eine Ehe mit einbringt, darf über den künftigen Namen des Brautpaars bestimmen.”
Alrik schmunzelte. Adginna hatte recht geschickt darauf hingewiesen, dass sie sich den Familiennamen Binsböckel für ihren Schwiegersohn wünschte. Oder? Nun, ein solcher Namenswechsel würde Ismena keinesfalls gefallen. Auch ihm versetzte der Gedanke einen leichten Stich. Andererseits war ihm der respektierte Name Binsböckel lieber als dieses furchtbare Alboran Praiosin Raul von Oppstein-Glimmerdieck, genannt von Friedwang, wie sein “Adoptivsohn” bei den Herolden engstirnig hieß. Ganz zu schweigen davon, dass Albos offiziellem Großvater Gernot landauf, landab noch immer der Mord an Bannvogt Travin von Binsböckel anhing. Der Name würde ein Gewinn sein, an Einfluss ebenso wie an Prestige, und sich womöglich auch in Dukaten auszahlen.
“Alboran von Binsböckel zu Schlotz klingt gut.” Alrik fischte etwas Weinstein aus dem Glas. “Baron zu Schlotz, Junker zu Gießenborn. Warum nicht?”
“Befindet sich im Gießenbornschen nicht eine Silbermine?”
“Nun, die Markgräfin hält dort die Mehrheit der Anteilsscheine. Allerdings ist ein Drittel der Kuxe friedwängisch. Gemäß den Friedwanger Hausgesetzen würden Alboran zwar keine barönlichen Ländereien, aber ein voller Erbteil aus meinem Privatvermögen zustehen. Ein Erbe, das auch schon bei der Hochzeit ausgezahlt werden kann. Demnächst werde ich noch mit dem Handelshaus Warrlinger in Perricum verhandeln, was den Anteil an einem gewissen Treidelschiff betrifft...”
“Ich denke, mit den Details können wir uns später befassen”. Adginna schlug ihr Buch dort auf, wo ein Lesebändchen eingelegt war. “Laut dieser Abschrift des Irmegundschen Lehensbuchs war Golo Herr dreier großer Güter in Friedwang...Gießenborn, Rübenscholl und – Perainesgarten?” Die Vögtin zwinkerte im Kerzenlicht.
“Prähnskaten, gewiss. Wobei ihm streng genommen nur Unterprähnskaten gehört hat, und da auch nur der Gutshof und einige Grundholde. Nun, ich habe seinen Ehevertrag mit Ismena von Oppstein noch einmal prüfen lassen. Gernot hätte Golo rechtmäßig nur Gießenborn und den Eppeleinshof als Junkergut übereignen dürfen. Alles andere war eigentlich Baronsbesitz, womit die Übertragung zumindest der Zustimmung des Grafen bedurft hätte. Nun, ich wäre bereit, meinem Sohn den Hof abzukaufen. Ein Gut, das meiner Gemahlin Serwa sehr am Herzen liegt, die dort eine Zeitlang Unterschlupf gefunden hat. Es wäre aber auch eine Erleichterung für die Unfreien. Wo es viel Wirrwarr wegen Abgaben, Gerichtsbarkeit oder Frondiensten gegeben hat. Von Weide- und Holzrechten ganz zu schweigen. Im Gegenzug würde ich Haldana und Alboran zu Edlen von Rübenscholl ernennen. Junker von Gießenborn ist er ja ohnehin.”
Die Vögtin klappte das Buch zu. “Ich denke, darüber wird sich reden lassen. Diese Kuxe...wie rentabel ist denn das Gießenborner Silberbergwerk? Ich habe von Problemen mit Grundwasser gehört.”
“Du bist wirklich gut informiert. Nun, vor vielen Jahren gab es mal das Gerücht, dort gäbe es eine ergiebige Arkanium-Ader...dieses magische Erz, auch Marboblei genannt.”
Adginna hob die Augenbrauen.
“Nun, das waren nur geringe Mengen, die allesamt der Fürstin zu Gute kamen. Wahrscheinlich eher der Magierakademie in Rommilys. Selbst in den Glanzzeiten waren das nur ein paar Unzen im Jahr. Heutzutage sind die Klümpchen reine Zufallsfunde. Aber das Zauberwort Arkanium hat genügt, um an das nötige Geld für Investitionen zu gelangen. Das Bergwerk befindet sich in einem ganz guten Zustand, gerade was die Bulgenkünste angeht. Mittlerweile sind es schon zwei Räder, die das Wasser aus den Stollen befördern. Die steigende Ausbeute der letzten Jahre ist fast schon das Problem. Das Silber muss ja irgendwo gelagert werden, bevor es in die Markgräfliche Münze abtransportiert wird. Derzeit wird es einfach im Keller von Gut Gießenborn verwahrt, sobald es aus dem Hüttenwerk kommt. Hinter Schloss und Riegel, ja, aber wir leben leider nicht mehr in Hildelinds Zeiten. So ein Schatz weckt natürlich Begehrlichkeiten...Zuletzt wurde das Silber von Varenas Horden gestohlen, damals, im Roten Rondra 1035. Ich habe bereits an die Errichtung einer Burg in Gießenborn gedacht. Ein paar feste Mauern, um den Bergbau zu schützen und den Pass nach Oppstein zu sichern. Gegen die Transysilier, versteht sich, nicht gegen die Oppsteiner. Aber sowas kostet natürlich Dukaten, Dukaten, Dukaten...Wahrscheinlich wird sich mein Sohn mit einer Klause begnügen müssen, um die Klamm zu sperren, im Notfall. ”
Adginna stellte das Lehensbuch wieder zurück, dessen Einband das Ochsenwappen des alten Fürstentums schmückte. “Da müsstest du dich mal mit Storko unterhalten, dem Landjunker von Gernatsborn. Der baut seinen Wehrhof gerade zur Burg um. Die fördern drüben am Gernat Kupfererz. Ihr kennt euch ja?”
“Sogar schon sehr lange. Die Gernatsborn-Mersingen haben auch ein paar Landgüter bei uns. Mein Bruder ist mit Glyranas Schwester verheiratet. Fähiger Mann.”
“Ja, und einflussreich. Genießt die besondere Gunst der Markgräfin, als Wehrvogt. Eigentlich wollte ich Storko und Glyrana einen Besuch abstatten, Anfang Praios. Hm, es würde vielleicht nicht schaden, wenn Alboran Schlotz einmal kennenlernt?! Gernatsquell liegt ebenfalls nicht weit weg”.
“Nun, in der Knappenschule ist mein Ältester noch beurlaubt. Ich halte es für eine gute Idee, wenn er sich beizeiten ein Bild von Land und Leuten macht. Außerdem würde ich gerne mal mit Valyria sprechen, was die Wiederbelebung des Schwarzsichler Trutzbundes angeht. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich euch begleiten...?”
Adginna nickte. “Das ist eine gute Idee. Die Fahrt können wir gerne gemeinsam unternehmen. Auch mit dem Trutzbund… nun, ich wollte das ohnehin noch ansprechen, mit Dir und auch mit meiner Schwester Valyria. Nachdem meine gesamte Edlenschar nunmehr dem Bund angehört, sollte Schlotz da nicht außen vor bleiben.”

Haldana, Alboran und Ismena hatten sich noch bis spät in die Nacht unterhalten und auch ein wenig musiziert. Ismena, die als Rahjajungfer sich zu den Künsten durchaus hingezogen fühlte, kam zu dem Schluss, dass sie nicht unzufrieden war mit der Wahl ihres Sohnes. Natürlich war Schlotz nicht unerschlossener und wildnisgeprägter als Friedwang und Oppstein. Ein wenig mochten die Vorurteile über “Trollschlotz” sie beeinflusst haben. Dennoch würde es ihrem Sohn in Schnayttach und auf der Burg Schlotz sicher an nichts fehlen. Jedenfalls war ihre Schwiegertochter tatsächlich eine gute Musikantin und Sängerin, davon konnte sie sich überzeugen. Sie hatten eine ganze Weile geplaudert, gesungen und gelacht, bis Alrik und Adginna aus der Bibliothek kamen.
“Es ist spät geworden, liebes.” sagte Adginna zu ihrer Tochter. “Morgen reisen wir nach Gernatsborn, dorthin müssen wir ohnehin. Ich habe das Gesinde schon angewiesen, alles für den Ritt vorzubereiten.”
“Gernatsborn? Ja, gut.” antwortete Haldana. “Alboran, dann werden wir die neue Burg sehen, da bin ich schon gespannt darauf. Die Burg soll ja richtig prachtvoll geworden sein.” schwärmte die junge Baronin. “Ein neues Bollwerk für Aarmarien.”
“Ich bin schon gespannt, den Wutzenwald aus der Nähe zu sehen.” sagte Alboran. “Man hört soviel über dieses Waldgebiet.”
“Nun, ja… aber ich denke, wir werden den Weg über Hallingen nehmen. Der direkte Weg durch den Wald” Adginna zögerte “ist etwas unwegsam. Und schon lange nicht mehr begangen worden. Eigentlich schon sehr lange nicht mehr. Schon vor dem ganzen Krieg, Tsafried hat den Wald immer gemieden, hat immer gesagt, es wäre besser, außen herum zu reiten um den Wutzenwald statt mittendurch. Die Wutzen lassen es allzu oft nicht zu, dass Menschen ihren Wald betreten.”
“Gibt es denn überhaupt einen Weg durch den Wutzenwald?” fragte Alrik nach. “Bei meinem letzten Besuch in Gernatsquell, vor einigen Jahren, sind Bishdarielon und ich ja auch um den Wald herum gereist. Und was wir damals mit den Wutzen erlebt haben, erinnert mich an so manche Geschichte vom Schratenwald, daheim in Friedwang. Nur dass das mit den Wutzen ja mehr als nur eine Geschichte zu sein scheint.”
“Es gibt einen Weg durch den Wutzenwald… nein, es gab ihn früher.” begann Haldana. “Vater hat ihn nie benutzt, hat den ganzen Wald gemieden. Du weißt ja, Mutter, er hat den dichten und finsteren Wald, in den der Praiosschein kaum hinein langte, immer argwöhnisch betrachtet. Aber zuvor… Alrik, du kanntest doch Nengarion, meinen Großvater. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Aber viele der Älteren unter den Mägden und Knechten erinnern sich noch gut an ihn. Nengarion soll oft im Wutzenwald gewesen sein, sollte sich dort recht gut ausgekannt haben.”
“Nengarion war ein Halbelf.” antwortete Alrik. Vielleicht haben die Wutzen ihn deshalb gewähren lassen, vielleicht hat er deswegen einen Zugang zu ihnen und zum Wald gefunden?” mutmaßte er. “Aber gut, Adginna wird wissen, welches der beste Weg ist. Morgen werden wir zeitig aufbrechen.”
“Du magst recht haben… vielleicht liegt es daran, dass Großvater… dem Wald anders gegenüber stand, als Vater.” murmelte Haldana halblaut.

1. Kapitel - Die Rückkehr von der Knappenschule

Erstes Kapitel

Haldanas Heimkehr




Burg Schlotz, 30. Rahja 1042 BF

Das Klappern der Hufe hallte auf dem gepflasterten Weg, der sich in engen Windungen von Schnayttach aus am Südhang des Burgberges nach oben schlängelte. Ein heißer Südwind strich von Praios her über den Wutzenwald, durch die Gassen von Schnayttach und den Schlotzberg hinauf zur Burg. In der nachmittäglichen Stunde war es warm, fast schon heiß. Haldana schwitzte und war froh, dass der lange Ritt von Rommilys her endlich ein Ende nahm. Eine gute Woche waren sie unterwegs gewesen nach ihrem Aufbruch. Sie und Alboran, Alrik und Hesindian. Rovik, der Sohn des Vulkanus und Tuvok, der treue Jäger. Über Zwerch und Gallys waren sie zuerst nach dem Friedstein geritten, wo Alrik und Hesindian sich verabschiedet hatten – der Friedwanger Baron hatte seiner Gemahlin Serwa tatsächlich viel zu erzählen. Haldana war neugierig gewesen, den Friedstein zu sehen und auch die Dörfer Gießenborn und Rübenscholl, in denen Alboran aufgewachsen war. Aber die Sehnsucht, ihre Heimat Schlotz wieder zu sehen, nach über einem Jahr, überwog. Und wenn sie rechtzeitig vor Beginn der Namenlosen Tage heimkehren wollte, wenn sie mit den Gefährten die unheilige Zeit nicht in der Wildnis verbringen wollte, sondern lieber den Schutz starker Burgmauern genießen wollte, dann blieb nicht viel Zeit.
Haldana wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte. Vor der Vorstellung, die Zeit zwischen den Jahren in der Wildnis des Vorsichellandes zu verbringen, oder vor der Schelte ihrer Mutter, die sicher einiges anzumerken hatte, wenn sie erfuhr, was sich in den letzten zwei Monden ereignet hatte. Nun, eigentlich fürchtete sie den zu erwartenden Zornausbruch ihrer Mutter mehr als die Namenlosen Tage. Aber da sie diesen nicht vermeiden, allenfalls aufschieben konnte, wollte sie es einfach nur hinter sich bringen. Immerhin war Alboran mit ihr gekommen, anstatt auf der väterlichen Burg zu bleiben. Das würde manches sicher einfacher machen. Und ebenso freute sie sich, dass Rovik, der stets fröhliche Angroschim, bei ihr geblieben war.
„Bist du nervös, Haldana?“ fragte Rovik, der mit seinem Pferd zu dem jungen Friedwang aufschloss. Nach all den Ereignissen am Kurgasberg waren Tuvok und Rovik mit den jungen Adeligen einfach per Du geblieben. So wie während des ganzen letzten Jahres, da er nicht gewusst hatte, dass die mit ihm reisende Bardin ihm verschwiegen hatte, die Tochter der Baronin von Schlotz zu sein. Auch mit Alboran waren beide verblieben, es mit den förmlichen Etiketten nicht so genau zu nehmen. Sie waren alle gemeinsam im Kurgasberg dem Herrn Boron nur knapp von der Schaufel gesprungen. Es war eine Art Vertrauen zwischen ihnen allen entstanden, dass Form und Etikette dahinter einfach nicht mehr so wichtig erschienen. Nur wenn Fremde anwesend waren und die Form eingehalten musste, mühten der Zwerg und der Jäger sich um die Einhaltung der Etikette. Aber auf dem Ritt zum Friedstein war es wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt durch die Raulschen Lande.
Die junge Baronin nickte. „Bei Travia, ja. Aber da haben sie schon recht auf der Knappenschule. Stelle dich der Gefahr, anstatt vor ihr davon zu laufen. Wer flieht, hat schon verloren. Das stimmt sicherlich, auch wenn die Gefahr eine liebende Mutter ist. Also… bringe ich es einfach hinter mich. Aber es ist gut, dass ihr alle dabei seid.“ Haldana lächelte ihre Gefährten an, wobei ihr Lächeln vor allem dem Junker aus Gießenborn galt.
„Was ist das für eine Flagge dort?“ wollte Alboran sein `Tanzgerät`, wie Haldana auf der Knappenschule mitunter genannt worden war, ablenken. Noch waren sie nicht auf der Burg. „Dort, neben der Schlotzer Fahne?“ Der Junker wies auf eine Fahne, die über dem Burgtor aufgezogen war.
„Wie würde ein Heraldiker das beschreiben?“ warf Rovik interessiert ein.
„Die Fahne dort… nun… horizontaler Wellenbalken in Blau über drei schwarzen vertikalen Balken auf Gold. Habe ich das jetzt richtig formuliert, oder würde mich der Heraldiklehrer der Knappenschule korrigieren? Ein Wappen der Mersingen. Das zeigt an, dass Besuch auf dem Schlotz weilt. Es muss der Gernatsborner sein, der ins Haus Mersingen eingeheiratet hat. Nun, vielleicht ein gutes Zeichen. Mutter wird nicht schimpfen können, wenn Gäste da sind. Jedenfalls nicht so sehr.“
„Nun, Haldana, wenn du auf mich gehört...“ begann Tuvok.
„Hat sie aber nicht“ bügelte Rovik gleich jeden Vorhalt des Jägers ab.
Der Jäger verstummte.
Haldana setzte sich mit einem kurzen Schenkeldruck an ihren Braunen an die Spitze der kleinen Schar. Hinter der nächsten Wegkurve würde schon das Burgtor erscheinen. Es war Zeit, wieder ein wenig auf die Form zu achten. An der Spitze der Truppe ließ sie ihr Pferd rhythmisch tänzeln, so wie sie es schon früh gelernt hatte. Lässig nahm sie die Zügel in die Linke und hob, als sie sich der Wache am Burgtor näherte, die rechte zum militärischen Gruß an die Stirn. Mit einem freundlichen und zugleich bestimmenden Blick musterte sie den Rekruten, der heute zum Tordienst eingeteilt war. Der Rekrut erwiderte den Gruß mechanisch, bevor er die junge Baronin, die seit einem Jahr nicht mehr auf der Burg gewesen war, wieder erkannte. Der Soldat strammte sich und verneigte sie in Richtung der Baronin, dann öffnete er das Burgtor.
Haldana gab ihrem Pferd die Schenkel und galoppierte auf den Burghof. Dabei gab sie die Zügel frei und streckte die Arme zu den Seiten. Sie war daheim. Daheim auf dem Schlotz, der trollischen Burg auf dem Berg neben dem Ort Schnayttach, wo sie aufgewachsen war. Die Burg, die sie aber seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Burg, die mit ihren riesenhaften Felsen, aus denen sie errichtet war, so anders aussah als die Galbenburg, auf der sie Pagin gewesen war. Und so gänzlich anders als alles, was sie in Rommilys gesehen hatte.
„Ja, Euer Hochgeboren, ich denke, die Burg am Gernat ist wohl geraten. Die richtige Mischung aus Verteidigungs- und Repräsentativbau. Jeder, der von Hallingen her in die Schlotzer Lande und weiter in die Mark reitet, wird unser Land wehrhaft vorfinden, so er übles im Schilde führt. Oder er wird sich beschützt und behütet fühlen, wenn er als Gast und Freund kommt.“ Der Landjunker lächelte, und sein gepflegter, bereits grau melierter Vollbart rahmte seine Mundwinkel dabei in einer freundlich und verbindlich wirkenden Art ein.
„Gut, Gernatsborn. Ich hatte neulich schon einmal das Vergnügen, den Bau aus der Ferne zu bewundern. Ich bin neugierig, Eure Burg bald auch einmal von Innen ansehen zu dürfen. Lasst uns aber erst einmal auf den fertigen Bau trinken. Ich habe einen Gluckenhanger von 1040 bereitstellen lassen. Der lange warme Herbst Vierzig hat den Trauben eine schwere Süße verliehen. Ihr werdet den Wein schätzen, Storko.“
Der Angesprochene nickte, während seine Gastgeberin, die ergraute, schlanke und stets ernst wirkende Burgherrin die tönernen Becher füllte. Storko war ein wenig geblendet – die Vögtin Adginna, die aufgestanden war um den angekündigten Wein zu holen, hatte die Sonne im Rücken, während er selbst im wohl kühlenden Schatten saß. Storko griff nach dem Becher und wollte der Vögtin zuprosten, als Hufgetrappel auf den sonnenüberströmten Burghof erklang.
„Noch mehr Besuch?“ erkundigte sich Storko.
„Nun, niemand, der angemeldet wäre.“ Die Vögtin drehte sich um. „Dennoch ein sehr willkommener Besuch. Nein, kein Besuch. Aber ich sehe, meine liebe Tochter ist zurückgekehrt. Sie hat die Knappenschule in Rommilys absolviert, müsst Ihr wissen, geschätzter Storko. Wie es scheint, ist sie heimgekehrt. Ahh. Ich sehe auch Tuvok, meinen Jagdmeister. Ich hatte ihn ausgeschickt, meine Tochter abzuholen.“ Der Blick der Vögtin und des Landjunkers fiel auf zwei weitere Reiter, die der heimgekehrten Tochter folgten.
„Offenbar haben sie weitere Begleiter mitgebracht.“ stellte Storko nüchtern fest.
Die Vögtin nickte. „Verzeiht, Junker. Aber ich muss meine Tochter begrüßen.“
„Natürlich.“ Oft konnten Mutter und Tochter sich in den letzten Jahren nicht gesehen haben, wenn sie die Knappenschule in Rommilys besucht hatte. Der Gernatsborner hatte Verständnis für den Wunsch der Vögtin, nach der Tochter zu sehen. Auch er erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
Haldana sprang von ihrem Pferd, kaum dass es zum Stehen gekommen war. „Mutter!“ rief sie und rannte auf die sich langsam und würdevoll bewegende Altbaronin zu. Hastig schlang sie die Arme um ihre Mutter und hob sie hoch.
Storko lächelte ob des ungewöhnlichen, aber impulsiven Wiedersehens der beiden Frauen.
„Haldana...“ Die Vögtin wollte sich ihre Überraschung angesichts der stürmischen Begrüßung ihrer Tochter nicht anmerken lassen. „Als du aufgebrochen bist nach Rommilys habe ich dich noch hochgehoben. Jetzt ist das also umgekehrt. Lass dich ansehen, Tochter! … Deine Frisur hat sich auch geändert. Als ich dich verabschiedet habe, hattest du einen Zopf auf jeder Seite.“
Storko meinte aus der Stimme der Vögtin heraus zu hören, dass sie keinen Gefallen an der Frisur ihrer Tochter fand. Zugegeben, diese war auch merkwürdig. Der Zopf aus den Haaren auf der rechten Hälfte des Kopfes war noch vorhanden. Nur die linke Kopfhälfte war gänzlich kahl rasiert. Der Junker hüstelte leicht. Wie würde er reagieren, wenn eines seiner Kinder sich eine so eigenwillige und sicher nicht höfische Haarpracht zulegen würde, die eher an einen Söldner denn an eine Adelige erinnerte – nun, ein Stück weit war er froh, sich darüber jetzt keine Gedanken machen zu müssen. Die Tochter der Vögtin, Storko dachte nach, müsste jetzt neunzehn oder zwanzig sein.
Als Haldana die Mutter wieder absetzte, umarmte diese ihre Tochter auf eher sittsam wirkende Weise. Die Vögtin war gut einen Kopf größer als Haldana, und auch ein wenig schlanker als ihre kräftig und ausdauernd wirkende Tochter.
„Aber sag, mein liebes Kind, du hast Gäste mitgebracht. Magst du sie uns nicht vorstellen? Ich  Loop habe ebenfalls gerade einen sehr geschätzten Gast hier. Den Landjunker Storko zu Gernatsborn. Du hast ihn auch schon mehrere Jahre nicht gesehen.“
Haldana ließ es sich nicht anmerken, dass sie von ihrer Mutter nicht gerne wie ein kleines Kind angeredet wurde, erst recht nicht vor Alboran.
„Ja, Mutter. Ich habe zwei Begleiter mitgebracht. Nun… wo fange ich an. Vielleicht erst einmal mit dem Angroschim an. Rovik, der Sohn des Vulkanus. Du hattest doch in deinen Briefen erwähnt, dass die Schmiede in der Burg verwaist ist. Nun, Rovik scheint sich auf sein Handwerk zu verstehen. Außerdem hat er sich in all den Ereignissen zuletzt als absolut zuverlässig erwiesen. Ich muss Dir das ohnehin noch erzählen. Ich bin noch gar nicht zum Briefschreiben gekommen. Da gibt es noch viel zu berichten, was ich alles erlebt habe. Mehr, als sich jetzt kurz schildern lässt. Nun… wie soll ich das berichten...“ Haldana stockte und war froh, dass eine aufmerksame Magd rasch noch weitere Gedecke für die vier Neuankömmlinge auftrug und Auch Wein und Brot, Speck, Schinken und Käse wurden aufgetischt.
„Sag ihr, dass es Du Dich um die Nachbarn im Sichelbund bemüht hast“ hörte Haldana Nasdjas Stimme. Die Stimme ihrer Ahnin, die sie seit zwei Götternamen immer wieder vernahm. Haldana hatte sich inzwischen daran gewöhnt, ein Medium zu sein und immer wieder Geister zu sehen und zu hören. Geister, die nur sie selbst sah, jedoch keiner ihrer Begleiter. Und Nasdja war ihr eine fast ständige Gesellschaft geworden, seit sie ihr damals auf Helbers Hof, in der Nähe von Rommilys, erstmals erschienen war. Fast wie eine gute Freundin, mit der sie über alles reden konnte. Nur dass sie niemandem von dieser Freundin erzählen durfte, wollte sie nicht als Fall für die Noioniten wahrgenommen werden. Wie viel hatte sich seit damals verändert. Aber die alte Seherin hatte vermutlich recht. Ihre Mutter hatte davon geschrieben, wie wichtig die Bande mit den Sichelbaronen für ihre Baronie geworden sind. Da war es sicher eine gute Idee, darauf abzuzielen bei der Vorstellung ihres Begleiters.
„Das ist Alboran. Der Sohn Baron Alriks von Friedwang. Er war mit mir auf der Knappenschule. Du weißt, Mutter. Friedwang ist eine der einflussreichsten Baronien im Trutzbund“ erläuterte Haldana.
Die Vögtin nickte. Dass ihre Tochter den Trutzbund so betonte, machte sie eher misstrauisch. Aber es stimmte, seit die Edlen ihrer Baronie zuerst den Schlotzer Schutzbund gegründet und sich dann dem Bund der Sichel angeschlossen hatten, war der Sichelbund zu einer einflussreichen Größe ihrer Baronie geworden. Und das, obwohl die Baronie selbst gar nicht Teil des Bundes war. Die Vögtin hatte ihrer Tochter in einem ihrer Briefe geschrieben, dass es sinnvoll für Schlotz wäre, die Nähe des Bundes zu suchen. Aber in einem war Adginna sich sicher. Sie wusste, dass ihre Tochter den Sohn des Friedwangs nicht aus politischem Kalkül mitgebracht hatte. Dafür kannte sie ihr impulsives Kind zu gut. Sie wusste auch, dass Alboran das uneheliche Lieblingskind des Friedwanger Barons war, ein möglicher Erbe des Friedwanger Steinbockthrons.
„Wohlgeboren Alboran, ich bin erfreut Euch kennen zu lernen.“ Die Altbaronin reichte dem jungen Adeligen die Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“ antwortete Alboran galant und versuchte, mit einem charmanten Lächeln einen guten Eindruck zu machen. Wie er es auf der Knappenschule gelernt hatte verbeugte er sich mit Bückling und Kratzfuß und bedachte die Altbaronin mit einem Handkuss. Ein wenig ungewohnt und linkisch, sicherlich. Aber Haldanas Mutter schien nicht unerfreut zu sein.
Die Altbaronin bedachte ihn mit einigen freundlichen Worten, und erkundigte sich nach seinem Befinden und seinen Erfahrungen in der Knappenschule, worüber er höflich und sachlich, aber mit einer Verunsicherung angesichts der Schwiegermutter, die noch nichts von Haldanas und seinen Plänen wusste, Auskunft gab.
Adginna wandte sich nach einigen höflichen Sätzen mit Alboran Tuvok zu, dem Hofjäger. „Tuvok, schön, Dich wieder hier auf der Burg zu sehen. Ich sehe, du hast mir meine Tochter wohlbehalten wieder gebracht.“
„Ich habe mein Bestes gegeben.“ antwortete der Jäger mit der ihm typischen kurz angebundenen Art. Dennoch, Adginna beschlich endgültig das Gefühl, dass die Schar der Ankömmlinge ihr etwas zu erzählen hatte. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt. Daher würde sie jetzt auch nicht nachfragen, solange sie einen Gast auf der Burg hatte. Adginna sah erst ihre Tochter an, dann den Junker von Gießenborn und blickte ihm tief in die Augen. Alboran wich dem Blick Adginnas aus.
„Ach so ist das. Na, dann setzt Euch doch zu Landjunker Storko und mir. Ich bin sicher, auch der Herr zu Gernatsborn hört gerne Neuigkeiten aus der Capitale Rommilys.“ Die Vögtin fasste mit einem kurzen Blick auf die beiden jungen Edelleute die Situation auf. Allein, dass der Friedwanger Junker ihrem Blick nicht standhalten konnte, hatte ihr alles verraten, was sie wissen wollte.
Storko nickte. Ihn befiel das Gefühl, dass er hier mehr über die hochgeborene Familie auf dem Schlotz erfahren würde, als er es sich hätte träumen lassen. Nun, er würde seine Rolle als Gast weiter spielen und sich einfach überraschen lassen. Die junge Haldana, die irgendwann die ihrer Mutter als Landesherrin und Baronin von Schlotz nachfolgen würde, näher kennen zu lernen, war ohnehin wichtig und wenn sich hier Gelegenheit bot, warum nicht?
„Nun… Also setzt Euch. Gäste, die gute Geschichten erzählen können, sind im Land der Travia immer willkommen!“ Die Vögtin lächelte. Was immer Haldana ihr noch beichten würde, dazu war später immer noch Zeit. Die Knappenschule hat Euch also frei gesprochen, Herr Alboran? Also seid ihr jetzt ein Ritter?“
„Nun, ja, fast. Ich habe die Freisprechung noch nicht erhalten, aber das dürfte dieses Jahr noch geschehen. Ich war… nun, ich war von Schurken entführt worden, die meinen Vater damit unter Druck setzen wollten. Schlimme Geschichte, die da passiert ist. Hätte übel ausgehen können. Aber dank Eurer Tochter… Nun, sie hat mich da raus gehauen. Sie und Euer Jäger und der tapfere Angroschim.“
„Vergiss Deinen Vater nicht. Ohne ihn wäre das ganz anders geendet.“ Haldana war es nicht gewohnt, gegenüber ihrer Mutter die unerschrockene Kämpferin heraus zu kehren. Die sie so auch gar nicht war.
„Ja, und Vaters Hofmagier Hesindian, und dieser Stadtadelige aus Rommilys, dieser di Barnfani… ich weiß.“
„Das hört sich nach einer guten Geschichte an“ warf Storko ein. „Nun, wenn ihr nichts dagegen habt, Vögtin, ich bin nicht in Eile. Von Gernatsborn habe ich berichtet, was wichtig ist. Ich höre gerne zu. Aber dann, Baronin, solltet Ihr von vorne anfangen.
Adginna nickte zu dem Vorschlag des Junkers. Es war vielleicht das Beste. Ihre Tochter anhören und den Gast alleine lassen verbot sich ohnehin. Wissbegierig, mehr zu erfahren, war sie dennoch. Was sprach also dagegen? Außerdem wusste sie, dass ihre Tochter Geschichten und Gesang über alles liebte. Vielleicht war es da tatsächlich das Beste, einfach Zeit zu haben und zuzuhören.
„Gut… warum nicht“ stimmte Haldana zu. „Einen Moment“. Die Baroness holte ihre Laute, die sie noch in der Hülle geschultert hatte. Kurz stimmte sie die Saiten und begann zu erzählen, während sie leise Akkorde griff. Diese Art, die eigene Erzählung mit Akkorden zu begleiten, hatte sie in Rommilys kennengelernt, von einem reisenden Skalden von der Westküste aufgeschnappt. Und so begann sie zu erzählen, wie sie mit Tuvok und Rovik im Gasthaus zum Flussschiffer in Rommilys saß, sie gemeinsam speisten, sangen und musizierten und dabei den Friedwanger Baron trafen, der sie um Hilfe bei einer verworrenen Sache bat.
Während Haldana die Ereignisse um den Hexer von Rommilys erzählte und dabei sachte die Saiten schlug, lauschten die am Tisch versammelten Zuhörer aufmerksam der Geschichte, die sie alle in ihren Bann schlug.  Nur einige Episoden ließ Haldana aus. Stellen, die nur sie selbst etwas angingen und nicht ihre Mutter oder sonst jemanden und die sie selbst Alboran nicht erzählt hatte.
Rovik griff beherzt zu und ließ sich den würzigen Sichler Ziegenkäse schmecken, der zu Früchten und Brot gereicht wurde. Auch Alboran rollte sich einen Schinkenstreifen auf und spießte ihn auf die Gabel. Ab und zu stellten Adginna oder Storko die eine oder andere Zwischenfrage, des besseren Verständnisses wegen oder um etwas genauer zu erfahren. Rovik und Tuvok lauschten, obgleich sie die Ereignisse ja miterlebt hatten, dennoch gebannt der Erzählung der Bardin. Mit dem Abstand von einigen Wochen zum Vorgefallenen ließ sich doch deutlich entspannter darüber reden und nachdenken. Die unheimlichen Ereignisse vom Kurgasberg lagen wie in einer entfernten Vergangenheit.
Storko lauschte ebenfalls interessiert. Es war schwer zu glauben, was sich da, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt, zugetragen hatte. Als neutraler Zuhörer hätte er nicht zu sagen vermocht, was Dichtung und was tatsächlich Geschehenes war. Aber dass zum Beispiel unlängst der Bruder von Ismena von Baernfarn, Jodokus von Baernfarn in Rommilys in den Magistrat berufen worden war, hatte er als Wehrvogt der Mark auch vernommen. Dennoch, er hatte keinen Grund, an der Geschichte zu zweifeln, auch wenn vielleicht manche Ausschmückung der Erzählkunst der jungen Baronin zuzurechnen war.


„Eine schöne Geschichte. Die hast du gut erzählt. Ich denke, deine Mutter hat nichts mehr vorzubringen.“
„Ja, das wird schon klappen.“ antwortete Haldana, ehe sie sich klar wurde, dass der Geist Nasdja zu ihr gesprochen hatte. Wieder einmal hatte sie Nasdja laut geantwortet und alle anderen Zuhörer mussten annehmen, dass sie mit sich selbst redete.
„Was wird klappen?“ Storko fragte überrascht nach. „Aber eine tolle Geschichte, die Ihr erzählt. Man könnte fast meinen, es handle sich um die Dichtung eines Barden und nicht um einen Erlebnisbericht.“
„Die G-Saite nachzuziehen.“ redete sich Haldanda heraus. „Die lässt immer wieder nach. Ihr habt Recht, ich habe das vorgetragen wie eine Geschichte, die ich selbst gehört habe. Nun, manchmal ist es leichter, die ganze Sache mit etwas mehr Abstand zu erzählen. Es war… nicht leicht, das alles.“
Storko nickte. „Das glaube ich gerne. Allein, dass nicht nur Alboran entführt wurde, dass auch Ihr zwischendurch in der Gewalt dieses Hexers wart. Auch dieser Golo… eine erschütternde Vorstellung.  Ich mag garnicht daran denken, was geschehen wäre, wenn Alrik von Friedwang Euch nicht befreit hätte.“
„Nun ja… am meisten Angst hatte ich im Dunklen in der Tiefe des Kurgasberges“ erzählte Haldana. „Als ich alleine und ohne eine Lichtquelle durch die Finsternis des Bergwerks irrte. Ich hatte Angst, dass ich da nie wieder raus komme. Und ohne Alboran wäre ich vielleicht immer dort unten geblieben.“
Haldana setzte sich etwas näher auf der Bank an Alboran heran, als es ihr von ihrer Mutter als schicklich beigebracht wurde. Aber sie hatte nicht noch einmal vor, sich zu verstecken. Ohne, dass sie etwas dazu sagen wollte, hatte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter gleich zu verdeutlichen, dass sie sich da nicht hineinreden lassen wollte.
„Sich das Leben gegenseitig gerettet zu haben, das schweißt Menschen zusammen. Das habe ich bei der Armee oft genug erfahren.“ Storko hatte die Situation ebenfalls erfasst, auch ohne dass Haldana oder Alboran das näher ausführen mussten. Nun gut. Seine Kinder waren noch jünger. Aber auch ihm würde es irgendwann vielleicht ähnlich geschehen. Wie würde er reagieren, wenn sein Spross ihm irgendwann eröffnen würde, die Liebe des Lebens gefunden zu haben? Und würde sich das dann in die dynastischen Verpflichtungen einfügen lassen? Dabei hatte er, und seine Gattin Glyrana von Mersingen erst, ganz besondere dynastische Überlegungen der eigenen Kinder in Sachen der Heiratspolitik. Er konnte nur zu gut nachvollziehen, was nun in seiner Gastgeberin vorging. Der junge Friedwang war, wie er wusste, ein uneheliches Kind. Anerkannt von seinem Vater zwar, und somit auf alle Fälle nicht unstandesgemäß. Aber vielleicht nicht das, was die Vögtin sich für das Haus Binsböckel erhofft hatte. Nun, er würde es erfahren. So würde er aufmerksam beobachten, wie die Vögtin sich unverhofft mit ihrer Tochter und ihren Wünschen auseinander setzen würde. Der Landjunker lehnte sich zurück hob seinen Becher. Hier, im Schatten hinter der Burgmauer, war es angenehm kühl. Nun, in einem Punkt immerhin musste er der Vögtin recht geben. Der Vierziger Gluckenhang war tatsächlich ein guter Tropfen. Er hob die Flasche, lächelte und schaute die jungen Edelleute an, um ihnen ebenfalls Wein einzuschenken. Alboran hielt dankbar seinen Becher hin. Haldana lehnte ebenfalls mit einem Lächeln ab. Was sie aber nicht daran hinderte, mit den anderen anzustoßen, auch wenn sie sich in ihren Becher frisches Brunnenwasser füllte. Auch Tuvok und Rovik bekamen einen Schluck Wein angeboten, den sie dankbar annahmen.
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Storko hatte das Gefühl, die Vögtin warte darauf, dass Haldana oder Alboran etwas sagten, wohingegen die beiden sich offenbar nicht getrauten. Aber vermutlich würden Mutter und Tochter nach dem Essen Zeit brauchen, sich auszutauschen. Eigentlich hätte er auch nichts anderes erwartet, als dass die Vögtin Familieninternes später mit ihrer Tochter besprach. Er hatte ohnehin genug mitbekommen. Also ergriff der Landjunker wieder das Wort. Er fragte interessiert nach zu den Ereignissen, die Haldana und Alboran widerfahren waren. Und nebenher erfuhr er auch viele Neuigkeiten aus Rommilys im Allgemeinen und vom Leben in der Knappenschule im Besonderen.

„Ihr müsst unbedingt noch einmal nach Gernatsborn kommen“ sagte Storko nach dem Mahl. „Die Burg, wie gesagt, ich würde sie Euch gerne zeigen, sobald sie fertig errichtet ist, Vögtin. Mit Ende dieses Sommers sollte sie vollendet sein, nachdem bereits zehn Götterläufe daran gearbeitet wird. Euch ebenso, Hochgeboren.“ Der Landjunker nickte der jungen Baronin zu. „Jedoch nun, wenn Ihr es erlaubt, dann würde ich mich heute noch zum Tempel der ewig jungen Göttin in Schnayttach aufmachen. Meine geliebte Gattin ist der jungen Göttin sehr zugetan und hat nicht nur einen Tempel in Zaberg im Friedwangschen gestiftet, sondern es ist ihr ausdrücklicher Wunsch auch einen Schrein bei uns in Gernatsborn weihen zu lassen. Eure Zustimmung vorausgesetz würde ich dies mit dem hiesigen Tempel gerne näher besprechen.“
Storko fühlte, dass es Zeit war sich als Gast zurück zu ziehen Nicht zuletzt, hatte er ja mitbekommen, dass die junge Baronin mit ihrer Mutter das eine oder andere besprechen musste. Das war nicht zu übersehen gewesen. Storko lächelte.
„Ich würde auch die Gelegenheit gerne nutzen, die Burg einzuweihen und da ist ein Segen Tsas wohl auch nicht verkehrt. Die neue Fähre über den Gernat wird auch nächsten Monat in Betrieb gehen, alle Materialien für den Seilzug sind eingetroffen, im Praios werden wir sie errichten, als erstes gleich im neuen Jahr. Nun, ein Fest zur Burgeinweihung, das würden wir wohl geben. Im Efferd oder Travia, nach der Ernte, dann muss die Burg errichtet sein, wenn es Euch Recht ist - auch wenn ich Genaueres mit meiner Gemahlin noch besprechen muss..“
„Das hört sich gut an“ bestätigte Vögtin Adginna. „Was haltet Ihr davon, Junker Storko, wenn ich Euch nach den unheiligen Tagen auf Eurer neuen Burg besuche, wie Ihr vorgeschlagen hat. Dabei können wir gerne einen Termin festsetzen und alles weitere bereden. Ihr werdet, nehme ich an, die Edlen des Schlotzer Bundes einladen wollen und auch die Sichler, mit denen der Bund inzwischen vereint ist.“ Adginna sah den Landjunker an, dieser nickte und bemerkte höflich “Ihr seid jederzeit auf Burg Gernatsborn willkommen”.
„Nun, ohnehin hatte ich daran gedacht, die Bande zwischen Schnayttach und ihren Edlen zu stärken und auch eine Annäherung an den Bund der Sichel zu suchen. Ich will nicht vorgreifen, aber ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn nicht nur die Edlen, sondern die Baronie als Ganzes sich dem Bund der Sichel anschließt. Was wäre da ein besserer Rahmen als ein Fest auf Eurer Burg? Lasst uns darüber über die kommenden Tage sinnieren und Anfang Praios darüber reden.“

Die Vögtin hatte das Gesinde angewiesen, das Gästezimmer für Alboran von Friedwang her zu richten. “Ich nehme nicht an, dass Ihr an den unheiligen Tagen zurück nach Friedwang reisen wollt” hatte Haldanas Mutter kurz und freundlich zu dem Gießenborner Edlen gesagt, aber eine Antwort gar nicht erst abgewartet. Haldana hatte genickt, noch bevor Alboran antworten konnte. Ohnehin war es ein Gebot der Travia, niemanden in der unheiligen Zeit die Gastung nicht zu gewähren. “Nun, lasst Euch von Rimhilde Euer Zimmer zeigen und seht es mir nach, wenn ich mich mit meiner Tochter ein wenig zurück ziehe” hatte sie gesagt. “Ihr habt sicher Verständnis dafür. Aber es soll Euch an nichts fehlen. Und du, mein guter Tuvok, zeige dem Herrn Rovik doch einmal die Schmiede, da er sich für eine Anstellung eben dort interessiert.”
Mit einem energischen Kopfnicken deutete sie ihrer Tochter, ihr zu folgen. Haldana lächelte Alboran, Tuvok und Rovik noch einmal kurz zu. Dann folgte sie der Mutter in das Haupthaus, führte sie durch den Thronsaal, in dem Schlotzer Axtwappen deutlich sichtbar über dem Kamin angebracht war, durch eine eisenbeschlagene Holztür in die Schreibstube.
„Sind ja gute Nachrichten, dass die Burg am Gernat fertig ist. Dieser Storko scheint mir ein tüchtiger Mann zu sein.“ begann Haldana, nach einem Thema suchend, um nicht gleich von der Mutter auf das genaueste befragt zu werden.
„Das ist er, zweifellos. Ein aufstrebender junger Mann, der nicht umsonst zum Wehrvogt der Mark ernannt wurde. Er hat sich zum einflussreichsten Edlen in Schlotz gemausert und wurde nach der Verteidigung von Rommilys von der Markgräfin zum Landjunker ernannt. Mit ihm als loyalem Vasall haben wir übrigens auch einen guten Kontakt zum Haus Mersingen. Er hat sein ehemals kleines Gut zum einflussreichsten Gut mit Burg in unserer Baronie gemacht. Mindestens dann, wenn der Schattenholzer mit seiner Schwarzen Lanze in Rammholz weilt. Aber das weißt du ohnehin, Tochter. Ich habe dir alles geschrieben, was sich hier ereignet hat während du in Rommilys weiltest. Ach ja… es wäre übrigens denkbar, mit seiner Hilfe für Dich eine Heirat mit dem Haus Mersingen zu arrangieren. Eine gute Partie wäre das.“ Adginna hatte nicht vor, lange um den heißen Brei herum zu reden.
„Ähm, ja, sicherlich, ein einflussreiches Haus. Aber wäre es nicht sinnvoller, den Blick in die Schwarze Sichel zu wenden? Wenn wir in den Sichelbund wollen, dann könnten wir unsere Position im Bund mit der richtigen Vermählung ebenfalls stärken. Der Bund der Sichel hat als Gesamtes sicher einen ähnlich großen Einfluss in der Region wie eine der großen Familien. Und das Haus Binsböckel könnte im Bund zu einem entscheidenden Faktor werden. Solange Tante Valyria dem Hause Baernfarn vorsteht und mit Gallys freundschaftlich verbunden ist und mein Halbbruder in Rammholz herrscht. Meinst du nicht, ich sollte versuchen, eine weitere Baronie der Schwarzen Sichel oder des Bundes der Sichel an unser Haus zu binden?“ Haldana zog es vor, erst einmal strategisch zu argumentieren, in der Hoffnung, dass die Mutter dem eher zugänglich war.
„So gefällst du mir schon besser, Tochter. Immer die Möglichkeiten im Blick haben und nüchtern abwägen. Ja, deine Gedanken haben etwas für sich. Hast du deswegen diesen jungen Friedwangen mit gebracht?“
Nüchtern abwägen, dachte Haldana. Naja, das konnte man nun nicht wirklich sagen. Eher war sie von den Ereignissen überrollt worden. Aber vollständig überrollt. Die Begegnung mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges hatte ihr Leben auf eine ihr völlig unbekannte Art und Weise auf den Kopf gestellt. Aber so direkt wollte sie ihrer Mutter das auch nicht sagen.
„Nun, ja. Was meinst du? Er steht kurz vor dem Ritterschlag, und ist immerhin der Älteste Sohn des Barons. Mit Gallys und Friedwang als Teil der Familie...“
„Ich gehe eher davon aus, dass sich in Friedwang diese Tsalinde durchsetzt. Sie ist ehelich geboren, und weiß das Haus Baernfarn in ihrem Rücken.“ Die Vögtin blieb nüchtern.
„Mag sein… Aber er hat… Talent.“ Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. „Er ist aus der Sichel, er kennt das Land. Ein Adeliger aus Garetien oder von anderswo wäre zeitlebens ein Hereingeschmeckter.“
„Du magst ihn, nicht wahr?“ Adginna fragte ganz direkt.
„Nein. Ich liebe ihn.“ Haldana hatte es gelernt, ebenso direkt zu antworten, und ihre Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass sie es ernst meinte.
„In Ordnung. Ich werde darüber nachdenken. Deine Gedanken mit der Anbindung an den Bund der Sichel haben etwas für sich, und dieser Alboran scheint mir kein schlechter Mensch zu sein. Also gut, ich werde ihn mir die nächsten Tage anschauen. Er wird ohnehin mindestens bis zum Neujahr bei uns bleiben. Aber, Haldana, dass mir nichts Unbotmäßiges zu Ohren kommt, meine Tochter. Die Gebote Travias werden in dieser Burg ernst genommen.“ In den freundlichen Worten von Haldanas Mutter lag eine bestimmende Strenge.
„Ja, sicher, aber für Deine Ermahnung ist es ohnehin zu spät.“
Adginna blickte ihre Tochter erneut streng an. Haldana, die ebenso unbeeindruckt zurück blickte, merkte, wiewohl ihre Mutter sich nichts anmerken ließ, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Die Altbaronin zögerte mit ihrer Antwort.
„Mutter, es ist mein Leben. Hattest du ein erfülltes Leben mit Tsafried?“
Adginna überhörte die Frage nach Haldanas Vater.
„Es ist nicht Dein Leben. Du bist die Baronin von Schlotz. Dein Leben gehört diesem Land und den Menschen, die hier leben. Diesen Platz haben die Götter Dir zugedacht. Also stehle Dich nicht aus der Verantwortung. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Rang und Titel zu erben. Das Märchen können die Barden dem einfachen Volk erzählen, die nur das tun müssen, was man Ihnen anschafft. Du bist Baronin, und damit bist du vom Aufstehen bis zum Schlafengehen sowohl Deiner Lehensherrin, der Markgräfin, verantwortlich wie ebenso deinen Lehnsleuten, für deren Wohlergehen du zu sorgen hast. Dafür haben die Götter die Welt so geschaffen, wie sie ist. Füge dich, wenn du eine gute Baronin sein willst.“
„Ja, Mutter. Mit Alboran an meiner Seite füge ich mich.“
Adginna sah ihrer Tochter lange in die Augen.
„Gut. Soll er um Deine Hand anhalten. Hören wir uns an, was das Haus Friedwang uns zu bieten hat. Dann sollte aber nicht nur Alboran hier vorstellig werden. Wer ist das Oberhaupt seiner Familie? Baron Alrik? Ich werde mit ihm reden müssen.“
„Das wirst Du, Mutter. Wir hatten vereinbart, dass er nach Schlotz reist, im neuen Jahr. Er wird sicher bald zu uns kommen.“

 …

In den frühen Morgenstunden betrat der Wehrvogt der Mark den Schlotzer Burghof. Frühes Aufstehen war er seit seinen Kadettenjahren immer gewöhnt und im Sommer war eine Reise in der Kühle des Morgens ohnehin vorzuziehen. Auf ihn warteten bereits vier berittene Soldknechte und ein schwerer abgedeckter Wagen samt Trossleute. Auch sein eigenes Ross war gesattelt und bereit zur Reise. Er nickte den kampferfahrenen Reitern zu, allesamt Veteranen aus Wildermarkzeiten, kaum wurde ein Wort gewechselt und die Gruppe reiste Firunwärts los. Trotz der unheiligen Tage, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Storko hatte nicht nur die Schlotzer Burg passiert um der Vögtin einen Besuch abzustatten sowie den hiesigen Tsatempel zu besuchen. Die schwere Fracht, die er mit sich führte musste nach Gernatsborn gebracht werden und der schwere Wagen würde an den Trampelpfaden südlich und westlich des Wutzenwaldes kaum weiter kommen. So blieb nur der Wutzenwalder und dann Hallinger Weg als Option übrig, um dann die verbliebenen Meilen bis zum Gernat mit schweren Ochsen auszukommen. Unter der märkischen Verpflichtung, die durch den Burgausbau von der Markgräfin ausgesprochen war, das obere Gernatstag und strategisch für die Mark wichtig den passierbaren Oberlauf auf Feinde und Schurken zu überwachen, erhielt er nicht nur das Privileg von der Markgräfin zum Landjunker ernannt zu werden. Als Wehrvogt hatte er sich auch eingesetzt, von den sicheren Burgmauern aus dies auch tatsächlich zu können und eine ausrangierte, schwere Feldballiste erhalten, die er nun an den Gernat brachte um sie auf den Gernatsborner Burgfried zu platzieren.
Der erste Reiter hielt das Banner seiner Familie hoch an einer Lanze. Der Gernatsborner blickte kurz hinauf. Drei schwarze Balken auf Gold, darüber horizontal ein blauer Wellenbalken. Nun, er war in den letzten Jahren weit gekommen und nun Teil eines der edelsten Adelshäuser des Reiches geworden. Gernatsborn? Die Adelsfamilie Gernatsborn ging in die Geschichte ein. Gernatsborn war die Burg, aber auch er selbst war ins Haus Mersingen aufgenommen worden und bildete mit Glyrana, seiner Gemahlin, einen neuen aufstrebenden Seitenast der Familie. Alle Reiter waren ebenso wie das Banner in Schwarz und Gold gewandet, nur um den Helmen war ein blaues Band geschnürt. Nun, er konnte sich nicht beklagen und war weit gekommen. Als ernannter Wehrvogt kommt er viel in der Mark herum, um sich um die märkischen Verteidigungsanlagen, Straßen und Brücken zu kümmern - und bei der Verteidigung von Rommilys vor wenigen Jahren konnte er sich unter den Augen des Bannerherrn und der Markgräfin beweisen. Zuletzt wurde er nun zum Landjunker ernannt, und damit aus seiner Sicht einer er höchstrangigen Landadeligen der Mark. Allein, dass er aufgrund der vielen Reisen nur hin und wieder Frau und vier Kinder besuchen kann, trübt ihn etwas. So war es auch Glyrana, die sich in den letzten Jahren um den Burgausbau und auch die Familiengeschäfte gekümmert hat. Als Vögtin von Meidenstein ist es nur ein kurzer Weg in die heimatliche Burg. Ihre zunehmenden Ambitionen für sich und ihre Nachkommen gefielen Storko und er lehnte sich auch etwas zurück, auf viel mehr als er bereits erreicht hatte, konnte er ohnehin nicht hoffen.
Nach kurzer Zeit hatte der Wagenzug den Schlotzer Berg hinter sich gebracht und hier öffnete sich das Land vom Wutzenwald heraus. Hier war auch das Stammland der Schlotzer Barone zu finden. Guter Ackerboden mit Gehöften zwischen den Ausläufern des Waldes gen Efferd und einer Hügelkette gen Rahja, die bereits in der Baronie Rosenbusch lag. Auch hatte man bei gutem Wetter Sicht auf See und Ort Firnsjön, der auch Firnsee genannt wird. Hier residierten mit der Familie Firnsjön alte Getreue der Schlotzer Barone. Geografisch war diese fruchtbare Gegend jedoch am äußersten Nordosten der Baronie, abgeschirmt von des restlichen Gütern und Dörfern durch den tiefen Wutzenwald. Storko musste immer schmunzeln, wenn er an die Worte seines Vaters, Boron habe ihn selig, dachte. “Die Macht der Schlotzer Barone reicht nur so weit, wie sie von Schlotzer Berg aus blicken können” hatte er immer gesagt. Die Burg Schlotz soll ja weitaus älter sein als Menschen hier ihren Fuß erstmals hinsetzten, er hatte selbst bereits die Tunnels unter den Berg einst gemeinsam mit Traviahold von Schnayttach genutzt, und so war sie eine der wehrhaftesten wenn auch rätselhaftesten Burgen der Region. Tatsächlich war die Lage des Hauptortes für die Schlotzer Baronieverwaltung jedoch nicht gut gelegen, so hatte sich auch eine starke Eigensinnigkeit des Schlotzer Landadels etabliert.
Die Gedanken des Gernatsborner, der nun eigentlich ein Mersingen war, wandten sich wieder dem Burgbau zu und dem bevorstehenden Einweihungsfest. Er würde gleich nach der Ankunft mit Glyrana die weiteren Pläne besprechen.

Burg Schlotz, Fünfter der Namenlosen Tage 1042
Es war noch stockfinster, als Haldana aufwachte. Das nur teilweise sichtbare, am Himmel stehende Madamal leuchtete nur matt durch das Fenster. Irgendetwas hatte sie hochschrecken lassen. Nur was? Die junge Baronin sah sich um. War irgendetwas anders als zuvor in ihrem Schlafzimmer? Ihr fiel nichts auf… und doch. Oder hatte sie nur ein ungutes Gefühl? Was nichts Ungewöhnliches wäre, in der Zeit zwischen den Jahren.
Haldana stand auf. Was hätte sie darum gegeben, nicht allein zu sein. Es war unheimlich, ohne sagen zu können, was sie verunsicherte. Natürlich hatten Alboran und sie ihre Mutter nicht heraus gefordert und hatten sich daran gehalten, Travias Gebote zu beachten. Hatte sie Angst deswegen? Wegen Alboran? Mutter hatte ihm die Magd Rimhilde zugegeteilt, sie sollte ihm das Zimmer einrichten und sich auch sonst um sein Wohl kümmern. Ausgerechnet Rimhilde. Die von keinem Stallburschen die Finger lassen konnte. Mit ein wenig Binsböckler Zorn hatte sie ihre Mutter gefragt, was das sollte. Mutter hatte einfach nur mit den Achseln gezuckt und lapidar gesagt, dass sie dann wenigstens gleich wisse, ob auf den jungen Friedwang Verlass sei oder nicht. Und das solle man doch besser vor einer Hochzeit wissen.
Gut, da hatte Mutter auch irgendwie recht. Aber vor Rimhilde musste sie doch sicher keine Angst haben. Außerdem, das seltsame, leicht beklemmende Gefühl, das sie befallen hatte, hatte mit Eifersucht nichts gemeinsam. Irgendetwas war anders. Etwas fehlte. Mit einem Mal wusste Haldana, was sie vermisste.
Nasdja. Ihre Urahnin, sie sie sonst ständig umschwärmte, hatte sie in den unheiligen Tagen noch gar nicht gesehen. Ob sich gute Geister auch versteckten? So wie sich die Menschen in dieser Zeit in ihren Häusern verkrochen?
`Aber was ist eigentlich gut und was ist böse?`fragte Haldana sich.
Dann wurde ihr gewahr, dass das nicht ihre eigenen Gedanken waren, sie sie durchfahren hatten. Wieder sah Haldana sich um, erblickte aber niemanden. Irgendwie war es einen Hauch kälter geworden. Oder bildete sie sich das nur ein?
`Vielleicht sind das die guten Tage, und nur der Rest des Jahres ist böse` durchzuckten wieder Gedanken, die nicht die ihren waren, die junge Baronin. Und mit einem mal wusste Haldana, wessen Gedanken sie vernehmen konnte. Wer immer noch nicht von ihr gegangen war, auch wenn sie die vergangenen Wochen nichts von ihm wahrgenommen hatte.
Haldana nahm sich ihren Umhang, der über dem Bettpfosten hing, und schlug ihn sich um, um die nächtliche Kälte zu vertreiben. Es half nichts.
`Du wirst mir nicht entkommen. Du bist immer noch mein. Sogar mit Travias Segen, auch wenn das völlig überflüssig ist.
`Verschwinde` dachte Haldana mit ungewohnter Schärfe.
`Du hast mir gar nichts zu sagen. Umgekehrt, du tust, was ich sage.` wieder diese kalten, körperlosen Gedanken. Haldana wusste nur zu gut, welche noch nicht zu Boron gefahrene Seele sie hier heimsuchte. Aber Angst… Angst durfte sie nicht haben. Angst war das Schlimmste, was man haben konnte, wenn einen Geister, die einem nichts Gutes wollten, aufsuchten. Aber wie konnte sie Angst verhindern? Das kalte, beklemmende Gefühl griff bereits nach ihr. Haldana schluckte.
`Du bist nicht mein Gemahl, Golo von Glimmerdieck. Ich werde jemand anderen heiraten.` widersprach Haldana.
`Ach, Püppchen. Du kannst doch gar nicht anders. Selbst wenn du dich mir widersetzt, machst du doch nur das, was ich will. Du wohnst meinem eigen Fleisch und Blut bei. Meinst du, du erfülltest damit nicht meinen Willen, wenn du mit Alboran den Traviabund eingehst? Formal zumindest, für die unwürdige Welt da draußen, die die Weisheit des Güldenen noch nicht erblickt, noch nicht erkennt. In Wahrheit vollendest du nur das, was wir begonnen haben. Damals, auf der Flusshexe. Wir sind uns versprochen, wir werden gemeinsam über Rübenscholl und Gießenborn und auch über Schlotz herrschen. Alboran mag mich derisch vertreten, mir seinen Körper zur Verfügung stellen. Mein Sohn ist mir treu und erfüllt meinen Willen. Ebenso wie du. Und ganz gleichgültig, ob er es freiwillig tut oder sich widersetzt. Du bist mein. Du entkommst mir nicht. Ebenso wenig wie mein Sohn.`
`Nein, du irrst`begehrte Haldana auf. `Nur weil du jetzt, in der unheiligen Zeit, Zweifel sähst, hast du dennoch keine Macht. Nicht über mich, nicht über Alboran. Noch nicht einmal über dich selbst. Vergiss nicht, ich habe dich erschlagen, auf der Flusshexe!` Haldana wusste nicht, ob sie selbst das glauben konnte, was sie zu Golo gedacht hatte. Nur eines wusste sie: Sie durfte keine Angst zeigen, wenn die Toten mit ihr redeten.
Ein stimmloses Lachen drang durch die Stille. `Das hättest du wohl gerne, Kindchen. Erschlagen… wie hättest du mich erschlagen können, bin ich doch schon seit vielen Jahren tot. Nein, wen du erschlagen hast, das war Jobdarn. Ich habe ihm die Ehre gewährt, mir seinen Körper auszuleihen. Einen unschuldigen jungen Mann hast du erschlagen. Mit der Schuld musst du jetzt wohl leben… Nein, musst du nicht. Der Güldene sieht keine Schuld darin. Wenn du dich zu ihm bekennst, musst du keine Schuld tragen. Es liegt an Dir.`
Haldana versuchte, mit einer wischenden Handbewegung den unheimlichen Geist zu vertreiben. Natürlich vergebens. Die junge Baronin zitterte.
`Alboran ist nicht dein Sohn. Er ist Alriks Sohn` widersprach Haldana in Gedanken. Es klang eher trotzig als überzeugt.
`Natürlich, natürlich, Kindchen. Wie lange bist du jetzt meine Frau? Sechs Wochen erst? Naja, nicht wirklich lange, aber du solltest inzwischen wissen, dass es eine scheinbare Realität gibt für die Unwissenden und die Wahrheit, die nur diejenigen erkennen, die den Güldenen erblickt haben. Und nun komm, meine Gemahlin.`
Eine schattenhafte Hand streichelte Haldana über die Wange. Der Binsböckel stellten sich die Haare zu Berge. Sie bekam eine Gänsehaut
Haldana schrie.
Sie rannte aus ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und rannte weiter. Durch die Gänge, durch den großen Saal und hinaus auf den Hof, wo sich die Rondrakapelle befand, die der Geweihte von Gernatsquell, Hochwürden Deggen, vor einigen Jahren eingeweiht hatte. Immerhin geweiht. Vielleicht der einzige Ort in der Burg, an den ihr dieser unheilige Geist Golo nicht folgen konnte.
Weinend kauerte sich Haldana unter die Statue der Herrin Rondra. Sie war froh, dass sie hier allein war und niemand sie sah.
Endlich, einige Stunden später, ging im Rahja über den Gipfeln der Schwarzen Sichel die Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres.

2. Kapitel - Kutschfahrt nach Schlotz

2. Kapitel

Kutschfahrt nach Schlotz



Burg Gernatsborn,  1. Praios 1043 BF
Die Mersinger Ritterin blickte durch die rauchige Luft als sie diesen schwülen Praiosnachmittag aus den kühlen Burgmauern heraus trat. Efferd sei Dank kommt der Wind hier nur ganz selten aus dem Gernatstal heraus aus östlicher Richtung, sodass der Rauch und Ruß von Hochofen und Schmiede sogar bis zur Terrasse weht. Auch war der Lärm fast ohrenbetäubend. Aus der Schmiede hämmerte und zischte es den ganzen Tag über, die Spitzhacken aus der Kupfergrube und die Sägen im Sägewerk klangen fast wie im Chor, wenn nicht auch noch das Hämmern und das Rufen der Bauarbeiter dazu kam. Und dann noch das Rauschen des Gernats vom Fuße des Hügels.
Jadvige ließ ihren Blick schweifen. Von der Terrasse der Burg aus hatte man eine ausgezeichnete Sicht, zumindest in den Norden ins Hallingsche und Osten ins Gernatstal und in den Wutzenwald. Im Westen wurde die Sicht durch den bereits errichteten Burgfried versperrt. Im heißen Sommer war dies jedoch ein Segen, denn der hohe Turm hielt auch die Praiosscheibe ab am Nachmittag ihre Hitzestrahlen hierher zu senden.
Ihr Blick richtete sich wieder gegen Firun, denn die Wacht am Gernat sollte gerade in diese Richtung gelten. Weiter nordwestlich flussabwärts ging es in die feuchten Gernatsauen über, welche mit dem Fluss nach der Schlotzer Baroniegrenze nach Südosten weiter gingen, und östlich ging es in das engere Gernatstal und den tiefen Wutzenwald. Direkt gegenüber des Flusses bis zu Hügelkamm und Wäldchen nach Hallingen hinein prägten die Gernatsauen eine weitgehend abgeholzte und aufgrund der aktuellen Trockenheit karge Landschaft. Schon länger hatte es nicht geregnet, dass der Pfad durch die Gernatsauen aus dieser Richtung nach Gernatsborn eine kaum zu erkennende Staubpiste war. Und siehe, sie musste ihre Augen zusammenkneifen, eine Staubwolke passierte die derzeit trockene Aulandschaft. Was zunächst fast wie eine Windhose aussah, entpuppte sich bald als ein Wagenzug samt Reitern. “Händler, die ihre Waren den Fluss abwärts flößen wollen, oder neues Baugerät sicher” grummelte die leidgeprüfte Ritterin vor sich hin. Doch wenig später sah sie ein Banner, das kaum zu einem einfachten Wagenzug passte. “Das ist der Herr” fuhr sie hoch und schoss mit einem lauten “Der Türmer muss wohl schlafen!” nach.

Die Mersingerin küsste ihren Gemahl innig auf die Lippen und umarmte ihn dabei. Seit frühem Ingerimm, als Storko sie am Meidenstein kurz besuchen konnte, hatten sie einander nicht getroffen. Danach hatte er weiter Richtung Rommilys reisen müssen, um als Wehrvogt Grenzbefestigungen im Südosten der Mark zu begutachten. Glyrana vermisste die sommerlichen Wochen, die sie mit ihrer Familie in den letzten Jahren immer auf ihrem Gut in Zaberg in Friedwang verbrachte. Zur Sommerfrische in den Bergen war dort die Luft kühler und angenehmer. Doch nicht dieses Jahr, denn vor dem Herbst musste der Stammsitz ihrer Familie fertig gebaut werden. Und eines der vier Kinder war bereits als Page an Adelshöfen entsandt und konnte nicht einfach wieder ein paar Wochen in die elterliche Obhut übergeben werden.
“Du bist spät, wir haben dich bereits seit mehreren Tagen erwartet” sagte sie fast vorwurfsvoll als sie nach dem Kuss seine Hand nahm. “Und du brauchst alsbald ein Bad” fügte sie in einem Befehlston hinzu. “Lass dir vor dem Abendmahl eines vorbereiten.”
“Wie so oft wurde ich aufgehalten, aber nicht umsonst” erwiderte Storko. “Ich blieb noch die letzten Namenlosen Tage in Hallingen, um zu sehen, ob unser Sohn als Page am Hofe zu Hallingen uns auch keine Schande bringt … aber Burggraf Gilborn Hal zu Hallingen hatte mir bereits zuletzt auf der Feste Hohenstein nur Bestes über unseren Sohn berichtet.”  
Langsam gewöhnten sich die Augen des Landjunkers an das gedämpfte Licht hier im Studierzimmer und er konnte seine Gattin erst richtig erblicken, auch wenn er ihren wohlig gewohnten Duft von Rosen- und Lavendelölen, die ihn auch immer in seinen Träumen über sie begleiteten, bereits vor der Türe gerochen hatte. Sie war in einer ritterlichen Tunika gewandet. Vom Schnitt her nichts außergewöhnliches, wären da nicht die verwendeten Stoffe, die in Goldbrokat, Schwarz und Blau schillerten und einer Baronin in der Darstellung kaum nachkamen. Ihre schwarzen, langen Haare waren kunstvoll zu einem Zopf geflochten, samt den Stirnfransen die kurz über ihren Augenbrauen geschnitten waren (zumindest etwas das sich seit ihren jüngsten Jungferjahren nicht geändert hatte). Seitdem die ehemalige Mersinger Jungfer zur Ritterin zu Barken geschlagen, ehrenhalber wohlgemerkt, und dann später bei den Stahlherzen aufgenommen wurde, gab sie sich recht ritterlich, zumindest sofern es der Situation angemessen war. Auch wenn sie sich meisterlich inszenieren konnte, war dies nicht gespielt. Die Kleidung war im Gegensatz zu Kleidern, Röcken und Miedern, die man an so manchem garetischen oder nordmärkischen Hofe trug, sehr bequem. Zumindest solange keine Rüstung darauf getragen wurde.
“Warum über Hallingen?” runzelte Glyrana die Stirn. “Ich bringe schwere Fracht mit.” sprach Storko, schlug sich in die Hände und nichte dabei. “Ich konnte es arrangieren, dass wir zur Wacht am Gernat eine Balliste erhalten haben. Sie soll auf unserem Turm montiert werden. Ich werde mich gleich morgen daran machen, wir müssen sie auch erst wieder zusammenbauen und dann adjustieren. Ich hoffe sie schließt bis über die Baroniegrenze hinaus…” Freudig lächelte er. Mit Belagerungsmaschinen und Verteidigungsgeräten konnte er schon seit seinen Kadettenjahren in Wehrheim recht gut umgehen.”
“Das hört sich gut an” merkte seine Gattin an und strich ihm sanft über die Schulter. “Da wird unserem Lehen und der Wacht am Gernat noch mehr Ausdruck und Macht verteilt. Ich freue mich die ersten Schießübungen zu sehen. Seit vorletztem Jahr haben wir ja auch Kürbisse angepflanzt. Die werden zwar hier nicht so groß wie in Garetien, aber wir könnten sie gut als Ziele nützen.”
Storko nickte und fuhr fort. “Und mit dem schweren Pferdewagen wäre ich kaum gut über die Schlotzer Pfade von Markt Wutzenwald bis hierher gekommen. Schon gar nicht, hätte es geregnet.” Tatsächlich war es in den letzten Wochen sehr trocken und auch nun auch schwül gewesen. “So reiste ich auch durch Schnayttach und bei der Burg Schlotz vorbei und stattete der Vögtin einen Besuch ab.”
“Hast du dort auch gleich das Haus der jungen Gö…” fragte sie rasch nach und wurde sogleich wieder unterbrochen. “Ja, habe ich. Die Tempelvorstehung freut sich, dass du deinem Glauben noch mehr Geltung verleihst und auch bei Gernatsborn einen Schrein stiftest. Sie werden gerne jemanden für die Weihe beim Einweihungsfest entsenden.”
“Die ewig Junge sei gepriesen” freute sie sich in ehrlichem Glaube. “Den Hain um den Schrein haben wir bereits im Frühling gepflanzt und die Statue für den Altar habe ich auch schon länger in Barken in Auftrag gegeben. Sie sollte auch bald einlagen.” Sie machte ein Tsagefällige Bewegung mit ihren Händen. “Überdies”, sie zeigte auf eine geschriebene Liste, die am Schreibtisch lag, “ich habe die Einladungsliste für die Burgeinweihung bereits fertig. Wir müssen und nur auf eine Zeit im Herbst einigen, zu der wir mit Sicherheit dafür bereit sind und sodann sollten die Reiter loseilen.”
Storko ignorierte das zunächst, da er noch etwas Wichtiges zu erzählen hatte. “Aber weißt du, Glyrana, als ich auf der Durchreise bei der Vögtin Gast war, da war ich ganz zufällig Zeuge wie die junge Baronin nach langer Zeit wieder nach Schlotz kam. Sie soll ihre Knappenzeit erst beendet haben und hat doch einiges erlebt. Und sie kam nicht alleine, sondern mit dem jungen Edelmann Alboran von Friedwang.”
“Der Junker von Gießenborn, vom Baron Alrik von Friedwang adoptiert” ergänze die Mersingern, die ja auch selbst Edle in Friedwang war und ihre Schwester Syrenia war die Erbvögtin der Baronie. “Was ist mit ihm?”
Storko fuhr etwas hastig fort. “Ich glaube die haben miteinander etwas der Rahja Zugetanes und wollen es auch der Travia gefällig machen. Zusammen haben sie viel erlebt und das schweißt zusammen. Er soll sie gar gerettet haben aus der Not.”
“Aha” die dunklen Augen der mittlerweile ambitionierten Ränkeschmiedin weiteten sich. “Wollen wir das aber? Ein Bund zwischen Friedwang und Schlotz.” Sie rieb sich die Wangen und überlegte. “Und dieser Junker Alboran hat einen Erbanspruch auf Friedwang, mit einer Hochzeit einer Baronin wäre er in einer noch besseren Position. Dabei wollen wir doch meinen Neffen Ravenhart am Steinbockthron sehen. Am besten dann gleich mit Morwyn, unserer Tochter, als Gemahlin, dann wäre Friedwang dem Hause Mersingen gesichert.”
Storko hatte die recht komplizierten Erbansprüche in Friedwang nie ganz verstanden. “Wie auch immer, ich denke nicht, dass wir da noch etwas werden machen können. Wenn ich an die Schlotzer Vögtin Agdinna denke, dann werden die beiden schneller einen Traviabund eingehen müssen, als ihnen selbst lieb ist.” Storko grinste etwas. “Adoptiert, gut, aber ansonsten doch für eine Baronin standesgemäß.”
“Ich muss diese Neuigkeit sogleich an meine Schwester schicken und sehen was sie sagt.” Glyrana setzte sich sofort an den Tisch und begann auf ein recht kleines Blatt Papier in filigranen Lettern zu schreiben.“ Nach wenigen Augenblicken fuhr sie mit dem Kopf hoch und rief in recht lautem Ton zur Tür “Holt mir eine Brieftaube!” Die schwere Holztür ging sogleich einen Spalt auf und einer ihrer Wachen erwiderte “Jawohl, Herrin.” “Und lasst nach meinem Pagen rufen, er sollte in den Stallungen sein.” Die Wache wiederholte wieder “Jawohl, Herrin” und schloss dann Tür. Glyrana neigte sich im Sitzen wieder ihrem Gatten zu, der gerade ihr zunickte, und kommentierte “Vielleicht kann uns auch gleich Ravenhart etwas näheres über diesen Alboran erzählen.”
Es dauerte nicht lange, und der junge Ravenhart von Suunkdal eilte herbei: Ein zierlicher Knabe, der gerade acht Götterläufe alt geworden war, und erst seit kurzem in Glyranas und Storkos Pagendienst stand. Er wirkte noch ein wenig scheu und verunsichert in der neuen Umgebung. Selbst für einen Edelknaben war er sehr blass und feingliedrig. Auf seiner schwarzen, etwas abstehenden Pagenfrisur trug er die Bundhaube, die ihn Syrenia mitgegeben hatte. Seine Gugel war dunkel, die Tunika weinrot gefärbt und ebenso wie die hellgraue Hose mit einzelnen Strohhalmen verziert. Der Junge blinzelte verlegen in Richtung der Herrschaften.
Das hohe, schmal geschnittene Gesicht verwies auf die Streitziger Abstammung seiner Großmutter, das dunkle Haar und der Blick waren eindeutig Mersingerisch. Dazu gesellten sich, wenn auch dezent, die Bocksnase und die Steinbock-Lippen des Hauses Friedwang, ebenso wie die markante Alboranskerbe: ein fehlendes Stück am Rand des rechten Ohres, die angeblich bereits auf Alboran Haldorin, den Gründer der Baronie Friedwang zurückging - den ein orkisches Krummschwert ein Stück vom Ohr abgesäbelt haben sollte. Die Verwundung des Heiligen war offenbar derart einschneidend gewesen, dass sie sich seit den Dunklen Zeiten von Generation zu Generation weitervererbt haben sollte, im Mannesstamm. So wollte es zumindest die Legende.
Der junge Senkenthaler war ein wenig aufgeregt. So ganz schien ihm noch nicht klar zu sein, was genau die Pflichten eines Pagen bedeuteten. Das Kind verneigte sich dienstbeflissen.
“Ihr habt mich rufen lassen, werte Tante, werter Onkel...ich meine, Herr Onkel...und Frau Tante.” Dunkle Rabenaugen musterten Storko und Glyrana. Glyrana lächelte begütigend, Storko nickte ernst, aber aufmunternd.
“Ich habe eine Neuigkeit erfahren, die dich sicher erfreuen wird, Ravenhart”, sagte die junge Mersingen. “Dein Vetter Alboran weilt derzeit auf Burg Schlotz. Er hält dort offenbar um die Hand Ihrer Hochgeboren Haldana an.”
Dem kleinen Räbling war nicht anzumerken, was er davon hielt. Er ist vorsichtig und abwartend, dachte Glyrana anerkennend.
Ravenhart nickte und kniff dabei seinen Mund etwas zusammen.
“Es ist ein heißer Tag heute”, sagte Storko, “du musst keine Kopfbedeckung tragen.”
Der Page nickte, öffnete gehorsam die Schnur unter dem Kinn und streifte die linnene Haube ab. Die Pagenfrisur, die ihm Glyrana hatte angedeihen lassen, kam nun voll zur Geltung. Ravenhart zupfte einen weiteren Strohhalm aus dem schönen, rabenschwarzen Haar (die Burgherrin vermutete, dass er gerade lieber mit anderen Kindern im Stroh gespielt hatte, statt seinen heutigen Pflichten als “Stallbursche” nachzukommen).
“Was heißt das -  um die Hand anhalten, Herrin?” fragte Ravenhart treuherzig.
 “Er möchte sie heiraten. Damit würde er Baron von Schlotz werden. So wie du, vielleicht, eines Tages Herr von Friedwang sein wirst. Natürlich erst, wenn du deine Knappenzeit hinter dich gebracht hast.”
 “Natürlich Herrin. Eines Tages...vielleicht...wenn es die Götter so fügen.” Das klang fast ein wenig altklug.
 “Nun, deinen Vetter Alboran kenne ich leider nur vom Hörensagen. Ich habe bislang gedacht, dass er auch Baron von Friedwang werden will. Versteht ihr beide euch denn?”
 “Er ist viel älter als ich”, sagte Ravenhart mit leicht “schwarzsichelnder” Knabenstimme. “Mutter hat mal gesagt, er hätte sich gleich ein paar Ohrfeigen verdient, nicht bloß eine.”
Glyrana und ihr Gemahl blickten erstaunt.
Der Junge lächelte verschmitzt. “Wer mal Baron von Friedwang werden soll, der kriegt eine Watsche, hat Vater gesagt. Wie beim Ritterschlag, vor allen Leuten. Damit er nie vergisst, wem er seinen Thron verdankt. Ich glaub nicht, dass ich sowas will...nicht, wenn alle zugucken.”
“Bist du denn auch der Meinung, dass dein Kousin Ohrfeigen verdient hat?”
“Ach, ich kenn den doch kaum. Ich glaub, Tsali, meine Kousine und er, die mögen sich nicht. Als sie mal bei uns auf dem Schloss waren, da haben sich ständig geknufft und gezwickt. Ich glaub, das war ernstlich gemeint. Obwohl sie keine kleinen Kinder mehr sind. Sie hat ihm die Zunge rausgestreckt, und da hat er sie ordentlich gezöbelt und gescholten. Jetzt ist er wohl schon Knappe, bei unserer guten Frau Markgräfin in Rommilys.” Ravenharts Stimme klang durchaus bewundernd. “Gesehen hab ich ihn seither nicht mehr.”

Ein paar Stunden später, bereits nach dem Abendmahl als Glyrana und Storko bereits in ihren Gemächern waren, kam eine Brieftaube zurück, mit einem zusammengerollten Zettelchen in der Lederkapsel am Fuß. Glyrana öffnete die Botschaft ihrer Schwester: Sehr gute Nachrichten. Er kann nicht Herr über zwei Baronien sein.  Sollten  Heiratspläne unterstützen.  Vielleicht bald Lösung in Friedwang. Es grüßt Dich und Storko, Deine Syri! P.S.  Sehen uns auf der Hochzeitsfeier. Daneben hatte Syri ein kleines lachendes “Praiosgesicht” gemalt.  
“Gut. Na dann sollen sie auch unseren Segen haben und wir wollen den zukünftigen Baronsgatten in den Schlotzer Landen willkommen heißen” kommentierte die Mersinger Schwester trocken und schob ihrem Gatten den Zettel hinüber. Der blicke darauf und nickte nur stumm.
Von draußen war ein Donnergrollen zu hören. Der Wind hatte gedreht und nach den trockenen und zunehmend schwülen Tagen einen Wetterumschwung zum Wutzenwald mitgebracht.


Im Wutzenwald, 2. Praios 1043
Schwer fiel grauer Landregen auf die Schlammpiste, die die Karte überaus großzügig den “Wutzenwalder Weg” genannt hatte. Wie eine Karracke in schwerer See kämpfte sich der Kobelwagen durch die wassergefüllten Schlaglöcher und den allgegenwärtigen Matsch, während der Vorreiter auf seinem Sattelpferd wieder mal einem besonders tief hängenden Ast auswich.
Baron Alrik von Friedwang blickte durch die Tür seiner Kutsche, die eigentlich nur aus einer geöffneten, triefenden Plane bestand. Der Mann mit dem Spitzbart lüpfte seine schwarzsamtene Augenklappe ein wenig, die er aus einer Marotte heraus über dem rechten Auge trug.
Im Regen waren die Steinbock-Gardisten nur dunkle Schemen, die jeweils zu zweit die Vorhut und die Nachhut bildeten. Alriks Waffenknechte und -Mägde hatten die Visiere ihrer Schallern geschlossen, um sich gegen die Unbilden des Wetters zu schützen, und sich verdrossen in ihre schlammbespritzten Mäntel gehüllt. Das Banner mit dem blau-rot-silbernen Steinbockwappen hing schlaff herab. Sattgrün leuchtete der Urwald durch die Regenfahnen, die Herr Efferd dem Rosenbuscher Land schickte. Oder fuhren sie noch immer durch die Baronie Wutzenwald? Den zerklüfteten, dicht bewaldeten Anhöhen zur Linken wie zur Rechten schienen von Menschenhand gezogene Grenzen vollkommen gleichgültig zu sein.  
Der Wagen ruckelte und schaukelte zum Göttererbarmen, über Wurzelwerk, Schiefersteine, Matschlöcher und morsche Äste hinweg. Um ein Haar wäre Alrik aus seinem Stuhl gefallen und auf Ismena gestürzt, die mit scheinbar Rohalscher Gelassenheit die Mühsal der Reise ertrug.
Der Gedanke, in den wohlgeformten Rahjahügeln der Oppsteinerin zu landen und zu versinken, ließ Alrik Tsalind schmunzeln, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Seine einstige Mätresse war immer noch von der Schönen Göttin gesegnet. Alrik ermahnte sich zur Contenance. Dennoch, an der Gießenbornerin war eine Rahjageweihte verloren gegangen – und Satinavs Gehörn vollkommen abgeprallt, all dem Unheil zum Trotz, dass die darpatischen Lande in den letzten Jahren und Jahrzehnten heimgesucht hatte. “Isi” duftete nach feinstem Rosenwasser, das sogar den Geruch nach feuchtem Waldboden und Regen überflügelte, der von draußen hereinwehte. Vermischt mit einem leichten, aber hartnäckigen Hauch von Stinkmorchel, einem Gestank, den Alrik irgendwie mit den Wäldern des Raulschen Kaiserreichs verband.
Der Regenwald des Tiefen Südens mochte gefährlicher sein, aber er duftete wenigstens honigsüß und leuchtete bunt wie das Gefieder eines Avesvogels. Francesco vermisste das muntere Schwatzen der Papageien, das Keckern der Affen, das muntere Schwirren der Kolibris. Es war ein schwüler Praiostag gewesen, und schon das Gewitter, das gerade am Vorgebirge der Schwarzen Sichel festhing, erinnerte ihn an einen prasselnden Efferdsgruß in der Wildnis Meridianas.
Alrik Tsalind Halreto von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck schüttelte unwirsch den Gedanken an seinen alten Namen und das frühere Leben ab. Der Dschungel hätte ihn, den Brabaker Streuner, um Haaresbreite umgebracht, auf der Flucht aus der Al´Anfanischen Sklaverei. Ihn und seinen Bruder Alrik, dessen Namen er damals sich ausgeliehen und bislang noch nicht wieder zurückgegeben hatte.
Alrik, der entführte Friedwanger Baronieerbe, nannte sich nun Bishdarielon und büßte als Golgarit für seine echten wie eingebildeten Untaten, im Dienste des Patriarchen zu Al´Anfa. Sein Bruder Francesco, der gleich nach der Geburt unter aberwitzigen Umständen in den Brabaker Elendsquartieren verschollen war, nannte sich jetzt Alrik. Ein gerechter Tausch, wie der Mondschatten fand. Ein Wechselhandel, wie ihn der Unfassbare Schleicher liebte.
Heimlichkeit, List und Täuschung waren für Alrik kein Selbstzweck, sondern religiöse Gebote seines Gottes.  Darauf hatte er Swantje Rahjandrael hingewiesen, als sie ihm die angekokelte Akte auf den Tisch gelegt hatte, die auf verschlungenen Wegen aus dem Archiv Dexter Nemrods in den Markgräflichen Palast zu Rommilys gelangt war. Graf Dexter Nemrod. Einige hatten den verblichenen Reichsgroßgeheimrat sogar mit “dem Mond” in Verbindung gebracht, dem obersten, wenn auch unbekannten Phexgeweihten Aventuriens. Mit gemischten Gefühlen hatte Alrik den Rotweinflecken entdeckt, den sein einstiger Lehnsherr auf Seite XII hinterlassen hatte. Ein wenig Wehmut, aber auch Besorgnis. Das leinengebundene Büchlein war an vielen Stellen angesengt und unleserlich gewesen, zum Glück. Der Grund dafür war vermutlich Galottas Magnum Opum des Weltuntergangs, das mit dem Jahr des Feuers über die Grafenstadt Wehrheim hereingebrochen war. Trotz allem war immer noch sehr viel von dem lesbar, was Hochwohlgeboren Dexter über das Doppel- und sonstige Leben seines Vasallen gesammelt hatte. Viel zu viel.
Erlaucht Swantje, die junge Markgräfin, hatte Alrik (dem Falschen) nahegelegt, den Friedwanger Thron baldmöglichst in weniger phexgefällige Hände zu legen. Ihm zugleich aber den Titel eines Geheimen Kammerherrn in Aussicht gestellt – ein Titel, der so nebulös war wie die Aufgaben, die sich der Mondschatten darunter vorstellte. Sein kleines Abenteuer in den Trollzacken, im Frühling, hatte ihm wohl zusätzliche Referenzen für ein solch diskretes Amt verschafft.  
“Wutzenwald, wer ist dort jetzt Baron?” wollte Ismena wissen, um das Gespräch am Laufen zu halten, das auf der holprigen Straße erlahmt war.  “Ein überaus perainefrommer Mann, nach allem, was man so hört...”
Ächzend versuchte Alrik die Abfolge von Stößen aufzufangen, die  an der Kutsche rüttelten. Ebenso wie sein Federbarett, das ihm von seinen ergrauten, schulterlangen Locken gerutscht war. Es half nichts, die Kopfbedeckung verschwand unter dem Sitz.
“Gewiss. Sogar seine Straßen gleichen einem frisch gepflügten Acker.” Der Baron klammerte sich regelrecht an den Stuhl. “Ich glaube, du verwechselst den Kerl mit dem Pfleger des Landes, der hier residiert. Mit dem Wutzenwalder Weg sollte er mal anfangen, bei der Landespflege.”
Ismena gewährte Alrik ein amüsiertes Lächeln. Wenn seine ehemalige Geliebte noch das Geringste für ihn empfand, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
“Hast du vorhin nicht gesagt, wir wären schon in Rosenbusch?”
“Ich sehe in diesem furchtbaren Wald keine Rosen”, ächzte Alrik. “Höchstens Dornen.”
Dumpf ratschte ein einzelner Ast über die Plane, die das halbrunde, stoffbedeckte Dach des Kobelwagens schützte. Zum Glück war sie aus bestem Schlotzer Wildleder zusammengenäht, vielleicht auch aus der Haut eines Darpatbullen. Wer in der ehemaligen Wildermark unterwegs war, der brauchte nach wie vor ein dickes Fell.

“Ein Abstecher nach Dornach, zum Schrein der Liebholden, das wärs. Der Duft der Rosen soll betörend sein.”
“Nicht bei einem solchen Wetter.”
“Du warst doch früher so spontan, Alrik. Da hättest du mir Rosen auf den Weg gestreut, und wäre er noch so holprig gewesen. Na komm, gib deinem Vorreiter den Befehl, wir machen einen kleinen Abstecher ?!”
Alrik musterte seine Gegenüber. Ismenas dunklen, feingelockten, wieder mal nach neuester Rommilyser Mode frisierten Haare. Das Grübchen auf ihrem Kinn. Ihre makellose, vornehm blasse Haut, die rosigen Wangen und hellwachen, grün leuchtenden Augen. Die Edeldame von O.... sah immer noch verdammt gut aus. Dafür, dass sie auch schon 50 Götterläufe oder mehr zählen musste, wie der Friedwanger selbst.
“Liebe Ismena von Oppstein-Glimmerdieck. Unser gemeinsamer Sohn ist gerade erwachsen geworden. Ich meine, endgültig erwachsen. Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel daran nehmen?”
Die Gießenbornerin klappte ihren Fächer auf und wedelte sich etwas frische Luft zu. Tatsächlich war es im Inneren der Kutsche ziemlich stickig, nach der Schwüle, die dem Sommergewitter vorangegangen war.
“Ach, ich vergaß, du bist ja nun Ritter des Travinianordens. Bruder Alrik, der fromme Ordensmann...”
“Den gibts nicht mehr.”
“Den Orden oder meinen frommen Alrik?”
“Den Traviniansorden. Fromm war dein Alrik nie.”
“Schade, ich hätte dich gerne einmal in voller Rüstung gesehen. So richtig mit, wie sagt man, Schamkapsel? So einem stahlharten Latz?” Ismena leckte sich neckisch über die weißen Zähne und spielte die lüsterne Landadelige. Mit der freien Hand deutete sie einen Griff an den Tiefenschutz einer Ritterrüstung an.
“Wir haben damals den züchtigen Gänsbauchharnisch getragen”, sagte Alrik, scheinbar gleichmütig. “Der Ritter, das war ein Titel ohne Mittel. Aber das Problem kennt ihr ja zur Genüge, im Hause Oppstein.”
Ismenas schönes Antlitz verdunkelte sich. Sie hatte die Anspielung auf ihren Bruder verstanden, den Titelsammler und Karrieristen Redenhardt. Der umtriebige Baron von Oppstein war zuletzt sogar zum Stadtvogt von Rommilys aufgestiegen. Träger des Goldenen Paddels hatte sein Nachbar sich ebenso genannt wie Ehrenbürger von Friedwang – ein zweifelhafter Titel, der ihm nach der Niederschlagung des sogenannten “Gleißeraufstands” angetragen worden war. Ein vortrefflicher Streich Serwas, für die Alrik seine Gemahlin insgeheim bewunderte. Redenhardt Cordovan Eugenius von Berlînghan-Oppstein, der Bürgerliche....

Kein Zweifel, Ismena hatte die Nachricht vom Tod ihres Bruders noch immer nicht überwunden, auch wenn der bereits mehrere Götterläufe zurück lag. Die Herrin von Gießenborn seufzte zart. Alrik überlegte gerade, welchen Titel sie eigentlich noch besaß. Altjungfer, das passte nun wirklich nicht. Er hatte gehört, dass Albo sie als Verwalterin eingesetzt hatte, über seine Güter in Rübenscholl ebenso wie im Gießental.
“Wir unternehmen besser keinen Abstecher nach Dornstyn”, fügte der Friedwanger hastig hinzu. “Ich glaube, die Vögtin würde eine solche Verzögerung gar nicht gutheißen. Eine überaus traviagefällige Frau, diese Adginna. Sie scheint sehr auf Formen und Konventionen bedacht zu sein.”
“Müssen wir Albo denn wirklich nach Schlotz verheiraten? Ich meine, ausgerechnet Schlotz? Allein der Name klingt doch fürchterlich. Wie Schlunz, Spatz – oder Latz. Diese Binsböckel heiraten jeden, der nicht laut und deutlich genug Nein sagt, auf dem Weg zum Haus der Travia. ”
“Lieber einen Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, meine teuerste Ismena. Ich muss zugeben, ich war all die Jahre ein wenig blauäugig, in Bezug auf Alborans Zukunft. In der Wildermark, da hätten ihn die Kriegsherren vielleicht als Baron geduldet. Wenn er stark genug aufgetreten wäre. Aber jetzt nicht mehr, wo sie die Schwerter und Streitkolben wieder mit ihren Siegelstempeln und Gänsefedern vertauscht haben. Ich kann ihm leider nicht die traditionelle Watsche geben und ihn damit zu meinem Nachfolger erheben. Nicht mit den Mersingens oder Baernfarns im Nacken. Glaub mir: In der Rommilyser Mark gilt jetzt wieder Praios Recht und Travias Ordnung. Sie dulden keine zweifelhafte Erbfolge mehr, nicht mal in Friedwang. Cui dolet, meminit. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Der Wahlspruch unseres Hauses. ”
“Hat der Name Oppstein denn schon einen derart schlechten Klang… in der Rommilyser Mark? Wir haben es doch so gedreht, dass er Golos legitimer Sohn ist. Ich meine, Alboran ist doch kein Bastard wie jeder andere. Du hast ihn adoptiert, als Halbwaise. Ist das nicht praios- und traviagefällig genug, in den Augen der Markgräfin?”
Alrik hielt sich an beiden Seiten fest, während sich die “Karracke” zur Seite neigte, erst nach Backbord, dann stark nach Steuerbord.
“Du solltest Adginna von Binsböckel besser nicht unterschätzen. Schlotz mag vielleicht nicht Zwerch sein, oder Gallys, geschweige denn Rommilys...aber...es ist auch nicht das Orkland. Sie weiß, dass dein verschollener Ehemann nicht Albos leiblicher Vater war. Dass er in Wahrheit mein Bastard ist. Was soll ich sagen. Sie sind die einzige Adelsfamilie, die ich kenne, die sogar Wert darauf legt.”
Ismena blickte erstaunt.  
“Eine alte Geschichte. Als das Haus Binsböckel damals seine Anklageschrift geschickt hat, gegen meinen schurkischen Vetter Gernot, aufgrund des Mordes an Bannvogt Travin von Binsböckel. Da standen die Namen von 25 Binsböckeln darunter. Die letzte Unterschrift unter dem Brief stammte von Tsafried von Schnayttach zu Schlotz, dem boronseligen Gemahl Adginnas. Ich muss Ihrer Hochgeboren Recht geben. Es käme in der übrigen Familie nicht sehr gut an, wenn ihre Tochter nun ausgerechnet den Enkel des Erzverräters und Meuchelmörders Gernot heiraten würde.”
Die Gießenbornerin lächelte schnippisch. “Du weißt, dass ich allen Grund hatte, Gernot zu verabscheuen. Möge er in den Niederhöllen schmoren. Aber diesem Tsafried hat sein eigener Bastard den Kopf abgehackt, nach allem was man so hört. Dieser Unhold, oder, nein, wie hieß er noch gleich, Traviahold vom Schattenholz. Da habe ich Alboran doch zu ein klein wenig mehr Familiensinn und Vaterliebe erzogen. Wir hätten allen Grund, uns gegen eine derartige Verbindung zu stellen. Mein Albo, der hätte eine Liebfelderin verdient, eine Rabenmund oder Bregelsaum. Von mir aus ein Edelfräulein aus Garetien. Aber diese Holzfällerbaronin, die nur über ihre eigene Burg herrscht? Ich weiß nicht. Dann lieber gleich eine Krautjunkerin aus dem Bornland ?!”
“Vor einer Woche wolltest du noch partout, dass Alboran Baron von Friedwang wird, nach seinem Ritterschlag. Ohne Rücksicht auf Tsalinde oder Ravenhart.”
“Als ich darauf bestanden habe, wäre Serwa beinahe an die Kemenatendecke gesprungen.”
“Ist sie aber nicht. Sie hat nur den Zinnbecher an die Wand geworfen, und dabei den schönen alten Wandteppich ruiniert.”
“Gleich darauf hat dann deine famose Schwägerin mit ihrem Sirenengesang angefangen. Dabei ist Syrenia nicht einmal Erbvögtin von Friedwang. Dieses Amt gebührt nur ihrem Mann.”
“Bisch treibt sich halt lieber bei den Golgariten herum, statt sich um seine Ländereien zu kümmern. Aber mein Bruderherz hat ausdrücklich beurkundet, dass Syri in seiner Abwesenheit Frau Erbvögtin sein soll.”
“Was ist sie denn schon, die kleine Mersingen? Eine bessere Lehensvögtin. Dieser ganze gierige Wespenschwarm besteht doch nur aus Vögten und Pfalzgrafen, die sich auf fremden Honig stürzen.”
“Ja, aber die Schwarzgoldenen sind nun mal nahe Verwandte unserer geliebten Kaiserin. Gegen Mersinger Meisterpläne seid selbst ihr Oppsteins machtlos, glaub es mir. Entschuldigung, ihr Oppstein-Berlînghan-Mersingens. Dank Adran habt ihr sie ja selbst schon im Haus. Syrenia und Bishdarielon können die Erbvogtei jederzeit an ihren Sohn Ravenhart weitervererben, und so weiter. So war es der ausdrückliche Wunsch der Markgräfin. Immerhin war Bishdarielon mal der Knappe Graf Answins und gilt noch immer als getreuer Anhänger der Rabenmünder. Getreuer als ich. Wenn ich mich jetzt nicht mit den Senkenthalern einige, werden sie bis in alle Ewigkeit am Steinbockthron sägen. Nichts ist schlimmer als ein Großwesir, der in einem fort Sultan anstelle des Sultans werden will.”
“Serwas Idee, Tsalinde mit dem eigenen Vetter Ravenhart zu verheiraten, ist auch nicht gerade traviagefällig. Das wäre doch reine Inzucht. Möchtest du, dass deine Enkel eines Tages herumschlurchen wie die Goblins? Für einen Ehebund unter derart nahen Blutsverwandten werdet ihr einen Dispens des Heiligen Paars brauchen. Aber selbst wenn die Traviakirche bei so etwas mitspielt. Ich frage mich, warum Serwa ihrer Tochter das antut. Vielleicht sind Tsali und Ravenhart ja gar nicht so nahe verwandt, wie du denkst? Manche behaupten ja, dass ein gewisser Baron Adran von Oppstein...aber ich will nichts gesagt haben...Nimmst du mir mein Kamel, nehm ich dir dein Kamel, so lautet die Regel beim Spiel mit Roten und Weißen Kamelen. Wenn du dich schon mit dem Sultan von Unau vergleichst. Der echte Beherrscher der Ungläubigen soll wenigstens so schlau sein, seinen Harem von Eunuchen bewachen zu lassen. ”
“Ich danke dir für deine ehrlichen Worte, Ismena. Doch wirklich, ich weiß deine unverblümte Art zu schätzen. Aber du solltest mit deinen Steinen besser auf dem Teppich bleiben. Beim Kamelspiel zählt bekanntlich nicht das Erobern der Lasttiere, sondern allein der Wert der Ware, den man am Ende erhält. Ich möchte mein Haus bestellt haben, wenn ich mich demnächst in mein Rommilyser Palais zurückziehen werde. Zwei Baronien für die Familie Friedwang sind besser als eine. Ebenso ist Frieden besser als endloser Zwist und Hader in unseren Reihen.”
Die Fahrt beruhigte sich ein wenig, und Alrik schaffte es, sein Barett unter dem Stuhl hervor zu klauben. “So eine schlechte Partie sind die Schlotzer auch wieder nicht. Die Holzpreise haben ganz schön angezogen, in letzter Zeit. Salz und Kupfer soll es auch geben, am Oberlauf des Gernat. Adginna  und ich, wir haben schon ein wenig Korrespondenz geführt. Die Binsböckel ist eine Frau der klaren Worte. Eigentlich müsstest du dich ganz gut mit ihr verstehen. Ich denke, sie stört sich nicht wirklich daran, dass Alboran ein außereheliches Kind ist. Die Schlotzer leben ja nicht hinter dem Madamal. Aber sie hätte schon etwas dagegen, sich einen Enkel Gernots ins Haus zu holen. Wenn nicht Schlimmeres...
“Ein Enkel Gernots? Oder Schlimmeres?” Ismena schnaubte und ruckte vor. “Was macht dich eigentlich so sicher, dass du sein leiblicher Vater bist, und nicht Golo?”
Alrik lächelte frostig. Nun fiel ihm wieder ein, warum aus ihrer beider Beziehung doch nichts geworden war. Im Vergleich zu Ismena, seiner großen Liebe von einst, war Serwa immer nur eine gute Freundin und Verbündete gewesen, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Ismena war ihrem ganzen Wesen nach eine von Oppstein. Wahrlich eine rahjabegnadete Frau. Aber auch die Schwester Redenhardts, für den selbst göttliches Wirken nur ein Stein auf dem Kamelspielbrett der Macht gewesen war.
“So etwas spürt man”, sagte Alrik schmallippig. “In Kurgasberg war ich ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Allerdings, ich gebe dir Recht. Wirklich beweisen kann ich es nicht. Und ich habe das Gefühl, die Vögtin wünscht erst einen Beweis, dass ich wirklich Albos Vater bin, bevor sie einem Traviabund zustimmt. Deswegen nehme ich dich mit zur Trollburg.”
“Um Albo vor aller Welt zum Bastard zu erklären? Das ist nicht dein Ernst!” Ismena spielte mit ihrem Amulett, das einen Rahjakelch zeigte.
“Nun, in Schlotz können es Bastarde weit bringen. Die Vögtin möchte nur sicher gehen, dass Alboran nicht insgeheim doch Golos Sohn ist.”
“Der Sohn eines reumütigen Praiospilgers, der von einer Wallfahrt nach Balträa nicht zurückgekehrt ist. Was sollte daran verwerflich sein?”
“Ismena, halte mich nicht zum Narren. Vor allem, verkauf dich selbst nicht für dumm.  Du weißt, wer Golo wirklich war. Seit dem Tag, als er mit seinem schiefen Hals das Licht des Praios erblickt hat. Und der Götterfürst ihn vermutlich ebenso schief angesehen hat. Am Ende ist Golo dem Dreizehnten verfallen, dem finstersten aller Götter.  Ich muss den Binsböckels beweisen können, dass ich Alborans Vater bin. Du kannst es von allen Sterblichen am besten bezeugen. Du wirst es bezeugen, nicht wahr?”
“Vielleicht möchte ich einfach nur meinen geliebten Sohn wieder in die Arme schließen. Nach allem, was geschehen ist.” Ismenas Stimme zitterte. “Er ist doch noch auf der Burg, oder?”
“Ja, das habe ich so arrangiert.” Alrik lehnte sich zurück. “Was ist damals eigentlich geschehen? Damals, als Varenas Horden über Friedwang hergefallen sind? Es war mir nicht einerlei, dass du einfach so, mirnichtsdirnichts, aus meinem Leben verschwunden bist.  Wo warst du all die Jahre? Als Alboran, als deine Güter deinen Beistand am nötigsten gebraucht hätten? Doch nicht wirklich bei diesen verrückten Säbeltänzern im Raschtulswall?” Der Friedwanger klang verächtlicher, als er es beabsichtigt hätte.  
Die “Rahjajungfer” blickte noch immer hinaus auf die Straße, wo der Regen etwas nachließ und schließlich ganz verebbte. “Was weißt du schon von den Mysterien der Rahja? Du und die ignoranten Bauern in Gießenborn. Allein dieses ständige Gerede von Säbeltänzern...Die Brüder und Schwestern waren nur selten im Gießental zu Gast. Ihre Anmut und Eleganz war nichts für einen Ort des Chaos wie die Wildermark. Rahjas Kavaliere, die wurden uns später aus Belhanka geschickt, um den Tempel zu schützen. Das Volk hat auch sonst wenig begriffen. In ihren Augen waren die frommen Fechter nur schwerbewaffnete Lustknaben, ebenso wie die Säbeltänzer. In deinen Augen offenbar auch.” Die Adelige hatte sich ein wenig in Rage geredet.
Sie ist immer noch elfenschön, dachte Alrik. Kaum zu glauben, dass die Frau dort ungefähr so alt sein sollte wie er, der ergraute alte Fuchs.
Ismenas Augen blitzten ihn an. “Genauso gut könnte ich dich fragen, wo du warst, mit der Landwehr und der Steinbockgarde, als Gießenborn verbrannt ist, im Feuer des Drachen. Als Windstag, mein getreuer Diener, erschlagen worden ist... die Diener der Schönen Göttin abgeschlachtet worden sind wie Vieh....”
Die Gutsverwalterin stockte und wischte sich eine Locke aus der blassen Stirn. “Selbst ein Kampf  kann etwas Wunderschönes sein, das hat mich der Anblick der Säbeltänzer gelehrt. Es ist wie ein Rausch, haben sie mir gesagt. Man erfährt das Leben als ungeheuer intensiv, wie nur in wenigen Momenten unseres Daseins, spürt selbst den Schmerz kaum. Aber diese Art von Krieg...Varenas Horde war hässlich, einfach nur hässlich. Das Ende meines Gießenborn war ein erbärmliches Morden, Plünden, Brennen...und Vergewaltigen.” Die Stimme der Oppsteinerin bebte.
“Was ist danach geschehen? Alle haben geglaubt, du hättest dich in ein Kloster zurückgezogen, vor Trauer und Schmerz. Ich hätte das sogar verstanden. Aber zumindest hättest du ein Lebenszeichen  geben können. Wenn nicht mir, dann wenigstens Alboran...”
“Trauer und Schmerz, das habe ich wahrlich empfunden. In einem Kloster war ich sogar wirklich. Allerdings in einem Kloster der Travia.”
“Ein Traviakloster? Das muss eine schreckliche Strafe für dich gewesen sein.” Alrik versuchte scherzhaft zu klingen.
Ismena blickte ihn unergründlich an, aus smaragdgrünen, feucht schimmernden Augen. “Wenn du es genau wissen willst. Ich war eine Gefangene. Varenas Gefangene, in den Ruinen von Alveranskuppen. Mein Gesicht war im Drachenfeuer verbrannt, ein paar Hiebe und Stiche habe ich auch davongetragen. Auf diese Weise bin ich wenigstens der Schändung entgangen. Die Dreckigen waren so großzügig, mich wieder gesund zu pflegen. Sie wussten, dass mich die Narben am meisten schmerzen würden und der Blick in den Spiegel. Dass ich für sie lebend mehr wert sein würde als tot. Das Gesindel hat sich eine Zeitlang im Kloster eingenistet. Die Badilakaner waren geflohen, bis auf einen alten Heiler, Bruder Elmert. Der gute Elmert hat mich gerettet. Und ja, du hast schon Recht. Es war eine Strafe. Nicht für Hurerei und Unzucht, wie die ach so traviafrommen Friedwangen glauben. Sondern für die Frevel des Hauses Oppstein. Der Drache ist das Wappentier meiner Familie. Es hat Gießenborn ebenso den Untergang gebracht wie Rübenscholl.  Arlopir kam aus Drachweiler herangekrochen, dem ältesten Dorf unserer Baronie. Das hat mir die Augen geöffnet. Varenas Plünderzug war die Strafe für all die Sünden, die wir Oppsteiner an der Schönen Tochter begangen haben, der Vertrauten des glücklichen Zufalls.”
 “An Redenhardts Ränken trifft dich keine Schuld, meine Liebe.”
Ismena schlug mit dem zusammengefalteten Fächer gegen ihr Kinn. “Redenhardts Ränke? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.”
“Nehmen wir mal das angebliche göttliche Zeichen nach Alborans Geburt. Als Funken in allen Farben des Regenbogens um das Kind gesprüht sind und Redenhardt die friedwanger Bauern zum Aufstand anstacheln wollte. Alboran, der als Golos Erbe über Friedwang herrschen sollte, an Stelle Serwas. Hatte Redenhardt denn nie Angst, dass ihn Praios eines Tages zur Rechenschaft ziehen würde, für dieses unwürdige Schmierentheater ?”
“Nun, Parinor, der spätere Inquisitionsrat, hat darin ebenfalls ein Zeichen des Götterfürsten gesehen.”
“Warum hat euer Bruder das Geflimmer nicht als ein Zeichen der Tsa gedeutet? Immerhin hat mein Sohn am ersten Tag im Tsamond Geburtstag. Das Licht des Himmelskönigs leuchtet nicht in allen Farben des Regenbogens. Redenhardts sogenannter Berater, der mit den vielen Roben, stand genau neben ihm...”
“Was soll das? Willst du damit andeuten, mein Bruder hätte ein göttliches Wunder gefälscht?”
“Das Gerede vom Gleißenden Kindlein zu Gießenborn hat unsere ganze Baronie in Aufruhr gestürzt. Am Ende wurden die unglücklichen Tobrier dann von Redenhardt niedergemetzelt. Als die Flüchtlinge den ganzen Wahnsinn zum Vorwand für eine Hungerrevolte genommen haben...”
“Die Schlacht an der Hohlen Gasse nach Gießenborn.” Ismena nickte stolz. “Deine  Serwa soll sich auch recht wacker geschlagen haben, gegen das Lumpenpack, das damals schon Rübenscholl den Roten Hahn aufs Dach gesetzt hat. Nach dem Sieg konnte die Baernfarn es eigentlich ganz gut mit meinem Bruder, allen vorangegangenen Differenzen zum Trotz. Was heißt da unglückliche Flüchtlinge? Dieses Räubergesindel war keinen Deut besser als die Tobrierbande in Gareth. Wenn sie nicht sogar von Schergen des Bethaniers angestiftet worden sind...”
“Aufgestachelt wurden die Gleißer allein durch dieses angebliche Mirakel in Gießenborn. Egal. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber du selbst hast gerade gesagt, dass Varenas Feldzug für dich wie ein göttliches Strafgericht war.”
“Wer im Gewächshaus sitzt, soll besser nicht mit Steinen werfen. Altes Rosenbuscher Sprichwort. Mein Bruder war wenigstens immer er selbst. Nun, den Fehler den wir begangen haben, den ich begangen habe, war, zu glauben, dass man im Leben alles planen, lenken und steuern kann. Das Spiel jederzeit kontrollieren kann. Aber Rahja hat mich eines Besseren belehrt. Heißt es nicht, der Mensch denkt, Alveran lenkt? Der beste Weg, die Götter zum Lachen zu bringen, ist es, ihnen von unseren Plänen zu erzählen. Wir haben Alveran in unsere derischen Pläne mit einbezogen, statt uns allein dem Willen der Unsterblichen zu beugen. Das war unsere eigentliche Sünde.”
“Wie ist es dir gelungen, aus Alveranskuppen zu entkommen?”
“Nennen wir es einen glücklichen Zufall. Aber ich will jetzt nicht an damals denken, an all die Schmach und die Schmerzen. Du möchtest, dass ich beweise, dass Alboran wirklich dein Sohn ist? Du kennst das Zeichen ja bereits. Ein fehlendes Stück am oberen Rand des rechten Ohrs. Ein Erbfehler, der in deiner Familie bei allen männlichen Nachkommen vorkommen soll.”
“Ja, das weiß ich. Umso mehr wundert es mich, dass dieser Erbfehler bei Albo plötzlich verschwunden ist, von einen Tag auf den nächsten.”
“Ich musste diesen Makel beseitigen lassen, sonst wäre Alboran wirklich nur ein gewöhnlicher Bastard gewesen. Für alle, die Augen im Kopf haben, und hernach eins und eins zusammenzählen können. Albo wäre ehrlos geworden, in einer Welt, in der Titel und Güter alles sind. Ohne Anspruch auch nur auf das Erbe von Gießenborn.”
“Manche sagen, du wolltest bei der Gelegenheit gleich noch seine abstehenden Ohren kaschieren.”
“Alboran hatte keine abstehenden Ohren, niemals”, fauchte Ismena. “Sie waren halt ein bisschen markant.”
“Mit dieser...Schönheitszauberei hast du seine wahre Herkunft verleugnet. Wer hat seine Ohren behext? Ludwina? Oder dieser wispernde Schatten im Gefolge deines Bruders, mit Vorliebe für billige Jahrmarkszauberei und Taschenspielertricks...?”
“Nein. Es war Bruder Lacio, der Diener des Lebens aus Zaberg und Hofkaplan deiner Mutter. Dem übrigens auch ein Stückchen Ohr gefehlt hat. Von wegen, eins und eins zusammenzählen. Der Tsageweihte hat mir eine überaus potente Heil-und Schönheitssalbe beschafft, das wars. Genau genommen,  übelriechenden Schlamm.  Grolmensalbe hat er das Zeug genannt. Aber es hat wunderbar funktioniert. Albos Ohr war danach vollkommen rund und makellos. Der Preis war eine großzügige Spende fürs marode Tempeldach von Zaberg...”
“Oh ja. Die berühmte Grolmensalbe. Ich habe davon gehört. Sie soll stinken wie die Pest und nur in den Namenlosen Tagen wirken.”
“In den Graunächten, wie die Sokramorier sagen. Wenn man die Salbe zwischen Tsa- und Rosenstunde aufträgt, und im Mondlicht dreimal AIRUTASTA SATAITARU UTARATASI - Ast, Ei und Raute murmelt, dann wirkt es besonders gut. Einige Herzschläge lang hat Albos Ohr wirklich in allen Regenbogenfarben geschimmert, wie am Tag seiner Geburt. Danach war es vollkommen heil. Muss ich einem Anhänger des Heimlichen wirklich sagen, dass das Leben nicht schwarz oder weiß, purpur oder golden ist, sondern oft ziemlich grau? Neblig grau?”
Alrik schüttelte pikiert den Kopf. “Ismena, deine Volksnähe in allen Ehren. Aber du solltest besser nicht zu viel auf das abergläubische Geschwätz der Bauern geben. Ich möchte garnicht wissen, was da irgendeine `weise alte Frau´ zusammengerührt hat, in ihrem vergammelten Austragshäuschen.”
“Glimmerdieck”, sagte Ismena.
“So heiß ich, gewiss.” Nun war der Baron von Friedwang endgültig verwirrt.
“Hast du nie gefragt, was dein Name bedeutet?”
“Eine Baronie mit 3500 Einwohnern, ein geregeltes Einkommen - und mitunter sehr viel Verantwortung.”
“Sehr witzig. Der Name kommt aus dem Nordmärkischen und bedeutet soviel wie Glitzernder oder Schimmernder Teich.”
“Nordmarken, das kann schon sein. Zur Rohalszeit gab es mal ein großes Berggeschrei in der Sichel, das alle möglichen Abenteurer angelockt hat, aus sämtlichen Provinzen des Reiches. Bevorzugt aus den ärmeren Gegenden. Kein Goldrausch, aber schon ein Silberfieber. Gut möglich, dass Bastan Glimmerdieck, einer meiner Spitzenahnen, aus den Westprovinzen stammt, womöglich aus der Gegend von Gratenfels. Dort soll es mehr Glimmerdiecks geben als bei uns. Ich dachte früher immer, dass der Name mit dem Glimmerschiefer zu tun hat, der in den Bergen recht häufig ist. Also irgendwas mit Bergbau. Obwohl. Im Friedwängischen ist Glimmer ein anderes Wort für einen Mühlstein, der besonders hart ist, so dass er nicht ständig geschärft werden muss. Wer weiß, vielleicht stamme ich nicht nur von Gießenborner Junkern, sondern auch noch von einer Gratenfelser Müllerdynastie ab...”
“Ja, das passt. Müller gelten schließlich als die größten Diebe.” Ismena milderte ihre scharfen Worte mit einem entwaffnenden Lächeln. “Wie dem auch sei. Als Mutter eines Gleißenden Kindleins wurde ich immer hellhörig, wenn sich meine Gießenborner vom Glimmern erzählt haben, am Herdfeuer oder in der Spinnstube. Ich dachte lange Zeit, sie meinen damit das Sichelglühen im Abendrot oder das Glitzern von irgendwelchen Felsen. Die ganze Wahrheit habe ich erst von Bruder Elmert erfahren, während meiner Gefangenschaft. Bastan wusste wohl von den heiligen Orten, an denen sich zu bestimmten Zeiten Feentore öffnen, auch in der Schwarzen Sichel. Auf Lichtungen und in Höhlen, aber auch in  Zauberteichen. In schimmernden Teichen...Vermutlich muss es Bastan vom Glimmerdieck heißen, nicht von Glimmerdieck. Die heilende Grolmensalbe stammt womöglich vom Grund eines solchen Sees.”
Ismena zog eine kleine Schatulle hervor, die sie zwischen dem übrigen Reisegepäck verstaut hatte, und öffnete sie. Auf dunklem Samt lag ein silberner Ring. Sie nahm ihn heraus und reichte ihn Alrik, der ihn im Zwielicht musterte, so gut es ging. Ein wunderschönes Schmuckstück, verziert mit verschlungenen Schriftzeichen und einer zierlichen Blütenfee, die einen schwarzen Onyx in Händen hielt.
“Dein Verlobungsgeschenk für das junge Glück?”
“Ja, und mehr als das. Elmert hat ihn mir anvertraut. Er selbst hatte ihn von einem Totschläger aus Chaykas Wilder Horde, der schwer verwundet ins Kloster gebracht worden ist, zum Sterben. Vermutlich ein Beutestück.”  
“Wie romantisch.”
“Wahrscheinlich gehört er ohnehin deiner Familie. Elmert hat mir die Sage von Bastans Feenring erzählt. Ja, du hattest Recht. Dein Vorfahre soll ursprünglich ein Müllersohn gewesen sein, der das Schmuckstück in einem Sack Korn gefunden hat, irgendwo in den Ländern am Großen Fluss. Genauer gesagt im Mahlwerk der Mühle, das durch den Ring blockiert worden ist.”
Versonnen betrachtete Alrik das Schmuckstück, das trotz des Halbdunkels silbrig leuchtete. Regelrecht glimmte. Das Mahlwerk einer Mühle? Der Friedwanger konnte keinen einzigen Kratzer im Metall feststellen, ebensowenig am Schmuckstein.
Mit Juwelen kannte Alrik-Franceso sich dank seines früheren Broterwerbs in Brabak und Al´Anfa ganz gut aus. Onyx. Der schwarze Stein sollte Brücken in andere Sphären schlagen und den Kontakt zu Geistern und Dämonen erleichtern. Welch passendes Geschenk, nach Haldanas Erlebnissen in den Trollzacken. Immerhin sollte Onyx auch vor Vergiftungen schützen. Ismena hatte wieder einmal das richtige Gespür.
“Ich dachte eigentlich, mein Vorfahre Bastan wäre ein armer Ziegenhirte gewesen, der zufällig auf die Gießenborner Silberader gestoßen ist.”
 “Natürlich, und Junker Heldarn von Gießenborn war dann so großzügig, Ziegenbastan  zum Verwalter des Bergwerks und seines Gutshofs zu ernennen. Und ihm gleich noch seine älteste Tochter zur Frau zu geben. Das glaubst du doch nicht wirklich. Dieser Ring weist seinen Träger den Weg in die Feenwelt. Zumindest in Richtung der Grenzorte, wo sich mitunter Tore ins Land hinter dem Regenbogen öffnen. Heldarn Edarna, der, wie du weißt, ein Magier war, wollte diesen Ring unbedingt besitzen. So sehr, dass er sogar bereit war, seine Tochter im Gegenzug mit dem Sohn eines dahergelaufenen Nordmärkers zu verehelichen. ”
“Das Land hinter dem Regenbogen?” Alrik hatte sich den Ring bereits aufstecken wollen, hielt aber inne. “Willst du deine Schwiegertochter in die Feenwelt schicken? Glaub mir, wenn man Haldana näher kennt....die junge Baronin ist ein anständiges Mädchen. Meistens jedenfalls. Aber wirklich ein schöner Klunker. Sogar einer mit Geschichte. Das wird Adginna beeindrucken und daran erinnern, dass die Familie Friedwang mit fast einem Drittel der Kuxe an der Gießenborner Silbermine beteiligt ist.”
“Glaub mir, dieser Ring hat die Macht, einen Sterblichen an die Grenzen dieser Welt zu führen. Wann immer in seiner Nähe Feen- oder Koboldsmagie wirkt, schimmert der Onyx grün. Falls der Ring niederhöllisches Wirken spürt, leuchtet er rot wie Blut.”
Alrik hob die Augenbraue. “Hast du das etwa selbst schon ausprobiert?”
Ismena zögerte mit der Antwort.
Beim Friedwanger fiel der Heller. “Sag jetzt bitte nicht, dass du die letzten sieben...nein, acht Jahre in der Feenwelt zugebracht hast?”
Erneut ging ein heftiger Stoß durch den Wagen. So heftig, dass Alrik das Kleinod aus der Hand geschleudert wurde. Fast war es, als würde der Ring aus eigener Kraft davonschweben.
Pling.
Der Ring fiel draußen gegen einen Stein, prallte ab und hüpfte in das Grün des Wutzenwaldes davon.
“Uups.”  Alrik blickte ehrlich zerknirscht.
Ismena verzog das Gesicht und atmete erstmal tief durch. Dann steckte sie den Kopf durch das vordere Verdeck und befahl dem Vorreiter, anzuhalten.
Der Reisewagen hielt an und das Geräusch von hochspritzendem Schlamm verstummte. Ismena setzte bereits den Fuß auf das Trittbrett. Erst jetzt bemerkte sie die stattliche Pfütze, in der sie sich verschwommen spiegelte, ebenso wie der Wald um sie herum.
“Alrik, was bist du doch nur für ein hesindeverlassener Tolpatsch!”
“Ich glaube, die Götter fanden dieses Geschenk irgendwie unpassend...”
“Auf deine Wurstfinger passt der Ring sicherlich nicht. Aber ich habe gar nicht dich gemeint, sondern dich, Alrik Gerstenberg!” Der wütende Blick der Adeligen traf den Vorreiter. “Wie soll ich  hier  aussteigen, ohne meine Kleid zu ruinieren? Soll diese Adginna glauben, dass wir in Gießenborn herumlaufen wie die wilden Wutzen?
Der Kutscher wollte wieder anfahren, aber ein knapper Befehl hielt ihn zurück. “Ich komme so oder so nicht trockenen Fußes über diese Pfütze, du Tölpel. Du hättest einfach rechtzeitig anhalten sollen.”
Rottmeister Gutbrander, der Anführer der Eskorte, stieg von seinem Warunker und sah sich das Malheur an, die Hand am Schwertgriff.
Mit dem sperrigen Kobelwagen war ein Zurückstoßen riskant, an ein Wenden gar nicht zu denken. Ortwin Gutbrander betrat kurzentschlossen den Wald und hackte einige Zweige von Tannen, Büschen und Bäumchen. Damit baute er der ungnädig blickenden Oppstein eine Brücke über den Tümpel. Alrik folgte, betreten lächelnd, und half Ismena galant auf festen Boden.
Die übrigen Steinbock-Gardisten spähten nervös um sich, auch Alrik Gerstenberg schien die Situation nicht zu behagen. Ihre Pferde stampften und schnaubten leise. Der Wald war genau die Art von schauerlicher Einöde, die jeder Reisender schleunigst hinter sich lassen wollte.
Alrik blickte kurz auf seine Finger, die er eigentlich als schlank und wohlgeformt empfand. Dann sah er sich am Wegesrand um. Irgendwo da drüben musste der Ring aus dem Wagen gefallen sein. Der Stein dort, ja, da war er wohl dagegen geprallt. Schwere Regentropfen fielen von den knorrigen, verwachsenen Buchen und Eichen herab. Alrik schob einige nasse Farnblätter beiseite und betrat das dichte Unterholz. Der Baron von Friedwang hatte nach wenigen Schritt das Gefühl, beobachtet zu werden. Vermutlich lag das an den grotesken Baumgesichtern, die ihn aus dem ewigen Dämmerlicht des Wutzenwaldes heraus anstarrten. Holzaugen, Moosbärte, verkniffene Rindengesichter. Sein Blick ging nach oben, zu den Wipfeln und Tannenspitzen. Die Gewitterwolken waren weitergezogen, goldfarbenes Sonnenlicht flutete die Schattenwelt zwischen den Baumstämmen.
Ah, dort glänzte der Silberring, zwischen grotesk verdrehten Wurzeln, Moos, Nadeln, Laub und Tannenzapfen. Er hob ihn auf und betrachtete ihn genauer. Der Onyx war nicht mehr schwarz, sondern leuchtete in sanftem Grün. Das Schimmern wirkte nicht bedrohlich. Irgendwie fügte es sich sogar harmonisch in die allgegenwärtigen grünen, braunen, goldenen und schwarzen Farbtupfer um ihn herum ein. Alrik spähte über das Artefakt hinweg. Gab es irgendwo in der Nähe Feenwesen? Oder gar Tore in andere Welten, die sonst für das Auge eines Sterblichen verborgen waren?
Nein, es war weit und breit nichts Ungewöhnliches zu sehen. Nichts und niemand.
Ismena, Ismena, dachte Alrik. Nur weil dein Söhnchen mal geleuchtet hat wie Ilsurer Feuerschlick, ist nicht jedes Funkeln und Glitzern gleich ein Werk von Unsterblichen. In diesem Wald gab es auch so schon kaum ein Durchkommen, geschweige denn irgendwelche Pforten in fremde Sphären. Alrik stapfte zurück auf den Weg, wo Ismena schimpfend die Schlammspritzer auf ihrem Rock und den Schuhen begutachtete. Ihr Vorrat an spitzen Bemerkungen würde gut gefüllt sein, in den nächsten Tagen, soviel stand fest.
“Hab ihn, deinen Schatz! Wir können weiter, nach Schlotz.”
Ein zartes Nießen lenkte ihn ab.
“Tsas Segen!”
Die fragenden Gesichter seiner Bediensteten zeigten ihm, dass das Geräusch nicht von ihnen gekommen war. Der Baron von Friedwang blickte zurück in Richtung Waldesgrün. Eine kleines, erdfarbenes Männchen huschte zwischen Blumen, Farnen, Pilzen und Sträuchern davon. So schien es zumindest. Oder war es nur ein Hase, der erst Männchen gemacht und dann hoppelnd Reißaus genommen hatte? Konnten Langohren niesen?
“Mein Kleid...wie überaus ärgerlich!” Ismena hatte von diesem Zwischenfall nichts mitbekommen. “Ja, wir sollten uns sputen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit auf der Trollburg sind. Dieser Räuberwald ist mir nicht geheuer.”   

Jetzt, im Praiosmond, war es lange hell, weswegen Alrik und Ismena trotz der Verzögerung noch deutlich vor Sonnenuntergang Schnayttach erreichten. Beide waren noch nie zuvor in der Ansiedlung, die seit der Zeit der Klugen Kaiser die Marktrechte hatte, gewesen. Obwohl Schnayttach nicht zur Stadt erhoben war, verfügte der Ort dennoch über eine Mauer. Müsste man dazu also Marktmauer sagen, sinnierte Alrik einen Moment lang. Aber dann dachte er mehr über die Mauer und den Ort als solches nach als über Begrifflichkeiten. Die Mauer war - ebenso wie die Burg Schlotz, die darüber thronte - aus auffallend großen Steinen gemauert. Steine, die nur mit der entsprechenden Technik an Kränen oder der unbändigen Kraft von Trollen errichtet worden sein konnten, was man ja von der Burg in den Sagen und Märchen erzählte hier in Schlotz.
Die Ansiedlung am Fuß des Schlotzberges lag ein einem südöstlich des Berges gelegenen Feld aus zahlreichen bis zu zehn Schritt hohen Felsbrocken, die, wenn man den Theorien des Magister Veneficus über die Entstehung der Sichellande Glauben schenken durfte, durch die Wirkung eines vorzeitlichen übergroßen Gletschers aus der Sichel in das Schlotzer Land geschoben worden waren und, nach dem Abschmelzen des Gletschers bis zu seiner jetzigen Größe, einfach hier liegen geblieben waren. Man mochte das glauben oder auch nicht, jedenfalls war es auffällig, dass zahlreiche übergroße Schieferfelsen in einem sonst Kalksteingeprägten Land lagen.
Verbunden waren die Felsen durch Mauerstücke, die zwischen diesen eingefasst waren und sich in eine Höhe von sechs Schritt erhoben. Die Mauer von Schnayttach bestand somit abwechselnd aus Schieferfelsen und mit übergroßen `Kalksteinziegeln` gefertigten Mauerstücken. Einlass in das so gut befestigt wirkende Schnayttach bekam man durch das im Praios der Mauer liegenden Tor, von dem aus ein Karrenweg zum Wutzenwalder Weg führte. Ein Weg, der, wie Ismena zutreffend bemerkte, durchaus etwas mehr Pflege vertragen konnte. Aber das war nicht Alriks Sorge. In Schnayttach waren die Häuser - Fachwerkhäuser wie in Marktfriedwang - zwischen die Felsen und teilweise darauf gebaut. Alrik konnte sich gut vorstellen, dass die ersten Siedler die windgeschützte Lage zwischen den Felsen nutzten und sich beim Bau nur zu gerne die Rückwand der Häuser ersparten, bis die doch begrenzten Flächen innerhalb der Burgmauer aufgebraucht waren. Später hatte man dann Stockwerke aufgesetzt oder auf den Felsen weitere Häuser errichtet. Breit genug, um mit einer Kutsche zur Burg zu gelangen, war nur die Hauptstraße, die über den Marktplatz, am Tsatempel vorbei, zum Berg Schlotz führte. An den weiteren, teils schmalen, teils sehr schmalen Gassen hätte er in seinem früheren Leben als Streuner seine Freude gehabt. Für Fassadenkletterer waren die eng beieinander stehenden Häuser ein Traum - nur zu leicht könnte man von Hausdach zu Hausdach springen oder in manchen engen Gassen, die Füße gegen die Mauern gespreizt, gleich einem Felskamin nach oben klettern. Und in dem kantenreichen Schieferfelsgestein war ebenfalls gut Halt zu finden. Fast bedauerte es Alrik, dass er als Baron und nicht als Phexdiener unterwegs war. Ergänzend, auch das fiel Alrik auf, gelangte nur wenig von Praios hellem Schein in die engen Gassen, die meist im Schatten lagen und vermutlich nur bei hoch stehender Sonne aus dem Schatten kamen. Doch jetzt, in der Abendstunde, war es in den Gassen von Schnayttach schattig und kühl.
Aus einer Gasse zur Linken war das vertraute Hämmern von Schmieden zu hören. Alrik wusste, dass das Handwerk Ingerimms in Schnayttach vertreten war. Sein Blick fiel auf den Ingerimmtempel, zur linken am Ende der Gasse, in einen Felsen hinein gegraben und am Eingang ein kunstvoll gestaltetes Portal aufgesetzt.
Doch Alrik widmete nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit der stillen Schönheit der Stadt. In Gedanken war er schon bei der Vögtin Adginna, die er noch nie persönlich gesehen hatte, von der er aber schon einiges vernommen hatte. Natürlich hatte er sich Erkundigungen eingeholt - als Phexdiener hatte so seine Quellen. Die Vögtin war geschäftstüchtig und korrekt, einem Handelsherr gleich. Sie achtete auf ein ehrliches und zuverlässiges Handeln ihrer Geschäftspartner und stand im Ruf, ihre Zusagen auch einzuhalten. Allerdings, und darauf hatte man Alrik auch aufmerksam gemacht, würde die Vögtin einen Versuch, zu betrügen oder sie zu hintergehen, nicht verzeihen. Nicht zum ersten Mal hatte sie einen Handelspartner aus ihren Kontrakten gestrichen und die Geschäftsbeziehungen abgebrochen, wenn sie einen Betrugsversuch entdeckt hatte. Nun, Alrik würde sich darauf einstellen.
Alrik blickte aus dem Kutschenfenster, sah den Berg Schlotz vorne aufragen, auf dem gut fünfzig Schritt höher die Burg aufragte. Eine weitere, aus großen Steinen bestehende Burgmauer schloss einen großen Innenhof ein. Der Burgbereich musste wirklich groß sein, deutlich größer als seine Burg daheim auf dem Friedstein. Zumindest sah es so aus, als hätten auch Trolle sich in der Burg wohl fühlen können, ohne sich mit den Köpfen am Burgtor zu stoßen. Burgtor und Treppenstufen, Zinnen und Schießscharten waren von der Größe nicht an Menschen angepasst, soweit nicht nachträglich kleinere Mauersteine ergänzt worden waren. Die Mauern selbst waren von einer Höhe und Dicke, die einem Ogerlöffel standgehalten hätten. Beim Anblick der Feste musste sich der Eindruck aufdrängen, dass tatsächlich Trolle die Erbauer gewesen waren. Mit den richtigen Geschützen versehen und mit guten Kämpen bemannt, wäre es wohl schwer bis unmöglich gewesen, die Burg einzunehmen.
Im Hinaufrollen der Kutsche zum gut und gerne acht Schritte hohen Burgtor beobachtete Alrik, wie eine Fahne mit dem Wappen des Hauses Friedwang gehisst wurde. Richtig, nach alter Etikette war es üblich, das Wappen eines Gastes neben dem des Burgherren zu zeigen. Nicht überall wurde die alte Sitte noch hoch gehalten. Aber nach allem, was Alrik über die Burgherrin, Vögtin Adginna, gehört hatte, passte es zu ihr, diese alte Tradition zu wahren.

Mersinger Pfahlgarde

Allgemeines: Militärische Hausmacht des Adelshauses Mersingen in der Rommilyser Mark

Obrigkeit: Haus Mersingen zu Gernatsborn, nominell Hauptfrau Jadvige von Kressenbrück 

Besondere Mitglieder: Ritterin Jadvige von Kressenbrück, Ritter Roderick von Oppstein, Knappin Gisla von Zweifelfels

Sollstärke: Etwa ein Halbbanner

Standort: Burg Gernatsborn in der Baronie Schlotz, Teile sind meist mit Glyrana von Mersingen und Storko von Gernatsborn-Mersingen in der Rommilyser Mark unterwegs sowie zuweilen bei Mersinger Besitzungen in den Baronien Friedwang und Gallys anzutreffen

Waffengattung: leichte Hellebardiere und aufgesessene Armbruster

Erfahrung: Kompetent bis Erfahren, einzelne Veteranen

Ausrüstung: Ein Drittel der Pfahlgarde besteht aus berittenen, aufgesessenen Armbrustern mit Schwert und Schild an der Seite, der Rest ist mit Hellebarden und Kurzschwertern bewaffnet. Gerüstet sind die Pfahlgardisten mit Kürass und Sturmhauben, einzelne tragen leichte Plattenrüstungen oder zusätzliche Plattenteile. Recht einheitlich tragen sie dunkle Lederhosen und ein Wams in den Farben Schwarz und Gold. Um den Helmen wird ein blaues Band geschnürt. Für (geplante) Schlachten und Belagerungen steht der Pfahlgarde auch eine schwere Balliste zur Verfügung, die an Burg Gernatsborn stationiert ist.

Mersingen zu Gernatsborn

WappenWappen des Haus Mersingen zu Gernatsborn (Wellenbalken in Blau über drei schwarzen Pfählen auf Gold).

Beschreibung: Die sogenannte Mersinger Pfahlgarde wird von Glyrana von Mersingen und ihrem Gemahl Storko von Gernatsborn-Mersingen sowie zu einem geringeren Teil von Syrenia von Mersingen finanziert und unterhalten und dient als deren militärische Hausmacht in der Rommilyser Mark. Der Name "Pfahlgarde" bezieht sich auf das Wappen des Hauses Mersingen. Hauptsitz der Pfahlgarde ist Burg Gernatsborn samt der Wacht am Gernat, meist dienen sie jedoch dem Gefolge des Wehrvogtes Storko von Gernatsborn, der Meidensteiner Lehensvögtin Glyrana von Mersingen sowie sichern sie weitere Mersinger Besitzungen in den Baronien Friedwang und Gallys. Ebenfalls kann sich Syrenia von Mersingen dem Schutz der Pfahlgarde bei Bedarf sicher sein sowie werden sie gelegentlich auch von anderen Adligen in Sold übergeben, sofern es den Mersinger Interessen dienlich ist. Erstmalig aufgestellt wurde die Pfahlgarde in der aktuellen Form durch Glyrana von Mersingen im Zuge der Befreiung des belagerten Rommilys Anfang 1040 BF und setzt sich aus Glyranas ehemaliger Leibgarde, Gernatsborner Waffenknechten, Söldnern aus Barken sowie ehemaligen Hahnengardisten aus Friedwang zusammen.