6. Kapitel - Ankunft in Gernatsborn

6. Kapitel

Ankunft auf Burg Gernatsborn



Gernatsborn, 5. Praios 1042
Eine kurze Weile später waren die sechs wieder im Sattel und ritten weiter. Obwohl es eigentlich nicht mehr weit sein konnte bis zum Waldrand, bis nach Schwaz, schien der Weg sich durchaus noch hinzuziehen. Tuvok hatte jetzt wieder die Führung übernommen.
Westlich von Nengarions Hütte standen die Bäume dicht, und durch das undurchdringliche Blätterwerk drang kaum ein Praiosstrahl auf den Boden. Obwohl Praios sicher hoch am Himmel stand, schien es, als reite man durch die Dämmerung. Aus welcher Richtung Praios schien, war ebenfalls nicht auszumachen. Für die Gefährten war es nicht zu verstehen, wie Tuvok die Richtung halten konnte, zumal es immer wieder Abzweige gab. Woher wusste der Jäger, welchem Pfad er folgen sollte? Er selbst schien keinen Zweifel zu haben.
Nach einer guten Weile -  aber wer vermochte die Zeit schon zu schätzen - stach ein leichter Geruch nach Rauch in die Nasen der Reiter, der mit der Zeit stärker wurde.
“Das sind die Kohlenmeiler von Schwaz” erläuterte der Jäger. “Es ist nicht mehr weit.”
Tatsächlich erreichte man kurze Zeit später  eine Lichtung, auf der drei Meiler aufgeschichtet waren. Die Glasbläser von Schwaz benötigten die Kohle für ihre Schmelzöfen.
Und wieder nur einen kurzen Ritt später war der Waldrand erreicht. Das Dorf Schwaz lag in einem sich gen Efferd hin öffnenden Einschnitt im Wutzenwald. Von hier an verlief der weitere Weg, der nunmehr klar aufzufinden und ohne weitere Hindernisse, sich dem von Hügeln eingerahmten Tal des Gernat näherte.

Als die Gruppe der Reisenden das Dorf am Wutzenwald passierten, wurden die Schlotzer Vögtin und die junge Baronin gleich erkannt, das Schwazer Volk eilte aufgeregt herbei, woher die Baronin so plötzlich gekommen sei, und der Dorfschulze wollte die hohen Damen und Herren zu einem bescheidenen Mittagsmahl einladen. Haldana winkte jedoch dankend ab, denn sie wollten Rasch Gernatsborn erreichen, und so setzten sie nach nur einer kleinen Erfrischung die Reise fort. Der wohl einzige Weg, der sich hier offenbarte, war den Einschnitt des Waldes gen Efferd hinaus zu folgen, Tuvok führte voran.  
Nach wenigen Meilen öffnete sich der Wald und offenbarte eine karge Hügelkette, die sich in nordwestlicher Richtung aus dem Wald hinaus ragte, welche die weitere Sicht versperrte. Die Hänge der Hügel waren mit teils hohem Gras bedeckt, nur einzelne Bäume prägten das Bild. Hin und wieder ragte auch nackter Fels aus dem Erdreich hervor. An einer Stelle an einem leicht nördlichen Hang eines Hügels schien es auch einen Blitzschlag mit Brand gegeben zu haben, denn mehrere Bäume waren verkohlt und der Boden  war statt Gras mit Asche bedeckt.
Mit jedem Schritt, den sie sich vom Wutzenwald entfernten, schien die Luft wärmer zu werden. Ein steter heißer Wind blies über die Hügel und wies die Kühle des Waldes in ihre Schranken. Auch waren sie nun ohne Schatten der Bäume erbarmungslos der Praiosscheibe ausgeliefert. Der Schweiß tropfte von ihren Stirnen
Eindeutig war hier ein Trampelpfad zu erkennen, der über die Hügel hinauf und weiter nach Westen führte. Gerade als sie am Fuße die Hänge ankamen, nahm Tuvok an Tempo zu, als ob er etwas rasch erreichen wolle. Offensichtlich erklomm der Jäger einen der Hügel über einen Felsen, was offensichtlich vom Pfad abzweigte, da dieser etwas zwischen zwei Hügelkuppen durchführte und keine gute Sicht auf die weitere Reise ermöglichte.
An der Spitze des Felsens angekommen blickte er in die Ferne und rief etwas außer Atem “Euer Hochgeboren, seht das Gernatstal und die Burg!” Tatsächlich war der Jäger schon mehrere Jahre nicht hier soweit westlich von Schatz und des Wutzenwaldes gewesen, sodass ihn auch eigene Neugier angetrieben hatte.
Die junge Baronin ließ nicht lange auf sich warten, sie wollte ja ihr Lehen sehen können, stieg von ihrem Ross ab und kletterte ebenfalls hinaus. Mit etwas Zögern folgte ihr auch ihr Verlobter. Der Rest der Gruppe blieb am Pfad zurück und hielt im Schatten eines Felsens eine Trinkpause ein.
Überraschend schwierig schien es, den Felsen zu erklettern und fast wäre Haldana einmal ausgerutscht. Der Schweiß stand ihr im Gesicht, als sie an der Spitze ankam und sich zunächst an einer verkrüppelten Föhre, die zwischen den Felsen hier hervor ragte, abstützen musste. Erst dann konnte sie diesen Teil ihres Lehens erblicken.
Als ihr Blick gleich vom Gegenüber eingenommen wurde, weiteten sich Haldanas Augen voll Überraschung. Fast zum Greifen nahe stand auf einem ebenso hohen Hügel auf der anderen Gernatsseite eine Burg. Am Fuße des Hügels auf dem sie Stand schlängelte sich der Fluss gen Süden und, kaum zwei Meilen Vogelflug entfernt, versperrten zwei enge Hügel zwischen dem Gewässer wie ein Tor den Eintritt ins obere Gernatstal. Auf der südwestlichen Seite des Flusses ragte die neu errichtete Burg Gernatsborn empor. Sie konnte sich nur vage erinnern, einmal als Kind hier an dieser Seite der Baronie gewesen zu sein. Damals sei dies hier ein hinterwäldlerischer Teil jenseits des Wutzenwaldes gewesen, oder zumindest wurde er dafür gehalten, in dem einige wenige Wehrgüter um das Überleben gegen Wölfe, Rotpelze und Wutzen kämpfen, und jenseits davon die Wildnis herrschte.
Hier erblickte die Baronin nun eine, gerade im Verhältnis zur Burg Schlotz, eher kleine, aber wehrhaft anmutende und stolze Burg. Zuerst sah sie einen gen Himmel zur Gernatsseite ragenden Bergfried. Zwei große Banner waren daran angebracht, die man auch von Haldanas Position noch halbwegs gut erkennen konnte. Einerseits das neu vergebene Wappen des Landjunkertums Gernatsborn, Blau schrägrechts wellenartig auf Silber, links unten Burg in Silber, oben rechts ein Stierkopf in Rot, sowie das Wappen der Mersinger Familie zu Gernatsborn, ein Wellenbalken in Blau über drei schwarzen Pfählen auf Gold. Beide erinnerten, dass nicht nur eine hochadelige Familie hier residierte - Bruder der Burgherrin Glyrana von Mersingen war Pfalzgraf zu Weidleth -, sondern auch noch von Gnaden der Markgräfin. An den Bergfried lehnte sich von zwei Seiten ein großzügiger, mehrstöckiger Wohn- und Wirtschaftsbau, den zur Verfügung stehenden Platz am Hügel ausnutzend. An nordöstlicher Seite am Gernat neben dem Bergfried am Wohntrakt war auch eine vorgelagerte Terrasse zu erblicken. Die andere Seite der Burg sah Haldana nicht. Doch was hervorstach, waren die (noch strahlenden) kupfernen Dächer der Burg, die von Reichtum und Wehrhaftigkeit (da feuerfest) zeugten. Von den Mauern der Burg ausgehend war der Hang des Hügels in Richtung Gernat steil, mit Steinen und Geröll versehen. Am Fuße etwas nördlich sah sie auch eine Grube, in dem Wohl Kupfer abgebaut wurde. Hingegen schien der Südwesthang des Hügels sanfter zu sein, einige Hütten und Häuser waren zu erkennen, neben Feldern und Gattern. Am Fluss nordwestlich war auch ein Steg mit Hütte erbaut, samt Floß und einer Art Seilfähre für Übersetzungen an die andere Flussseite. Diesen Weg über den Fluss würden sie wohl nehmen müssen.
“Ist das …” Haldana zeigte in Richtung der Fähre, während sie noch immer etwas außer Atem war “die Fähre … der einzige Weg den Gernat zu überwinden? Tuvok, ich kann mich doch erinnern, dass es hier am Oberlauf auch Furten geben soll.”
“Ja” antwortete sogleich der erfahrene Wildniskundige. “Im oberen Gernatstal gibt es je nach Wasserstand etliche Furten. Für die Einheimischen hier schnell zu finden. Der Pfad führt aber eng am Hügel gegenüber der neuen Burg an nördlicher Flussseite vorbei. Seitdem es die Fährstation im Schutze des Gernatsborn gibt, wird der Pfad kaum mehr benutzt” Tuvok deutete seiner Herrin in Richtung Südosten. “... habe ich gehört” fügte er noch etwas leiser hinzu. Er war diesen Pfad selbst länger nicht mehr gegangen. “In dieser Richtung flussaufwärts liegt auch Gut Gernatsquell”.
Die Junge Baronin hatte von hier jedoch keine klare Sicht auf Gernatsquell. Hügel und Wutzenwald versperrten ihr die Sicht. Aber der Kaminrauch von einem Gut, war klar zu erkennen. Im Blick weiter nach Osten sah sie nur den tiefen Wald zu den Schlotzkuppen zunehmend hügelig. Auch war Burg Schlotz von hier zu erkennen, erhob sich der Schlotz doch über den Wutzenwald hinaus. An Gernatsquell hatte sie aber eine gute Erinnerung, da sie als Kind oder gar junge Jugendliche hier einst bei ihrer Tante Valyria ein paar schöne Tage verbrachte.
Schnaufend kündigte sich nun auch Alboran an, den Felsen erklimmend, welcher sich sogleich auf einen Stein setzte und zunächst einen Schluck aus seiner Wasserflasche nahme bevor er sich umsah. “Ah, das ist die Burg?” kommentierte er. “Dann sollten wir doch bald ankommen … nachdem wir wieder heil diesen Felsen hinab gestiegen sind” sprach er und schmunzelte dabei. Sein Blick wich weiter nach Westen ab. “Ohne Zweifel sind wohl die Schlotzkuppen…” dann nahm er noch einen Schluck “... das äußerste Vorgebirge der Sichel. Hier beginnt das Wehrheimer Land.” Westlich des Wutzenwaldes öffente sich das Land in das Gernatstal und man sah eine Art Feuchtebene um den Fluss, eingerahmt von Wäldchen und sanften Hügelketten. Gleich an der Grenze der Baronie Schlotz, nur wenige Meilen von ihrem Standort entfernt, bog der Gernat flussabwärts wieder südöstlich ab und prägte so Schwemmland und Feuchtwiesen.
“Dies hier westlich von uns sind die Gernatsauen” erklärte der landeskundige Tuvok. “Der Ort da drüben” welcher an nördlicher Flussseite etwas nordwestlich von hier in diesen Wiesen lag “liegt schon in Hallingen und wird ebenso Gernatsauen genannt. Und hier weiter über dem Wäldchen kann man auch einen Turm der Trutzburg Hallingen erkennen.” Der jungen Baronin wurde hier bewusst, dass sie nicht nur an der Grenze ihres Lehens stand, sondern wohl auch der Region und dass sich der Menschenschlag hier westlich des Wutzenwaldes von den Schlotzern unterscheiden mag.”

Kaum eine halbe Stunde später war die Praiosscheibe am Zenit angekommen und wieder ohne Schutz gegen die sengende Hitze verließ der kleine Zug den Fuß des Hügels und ritt durch die Gernatsauen in Richtung Fluss, und Fähre. Zwar war ein Pfad zu erkennen, doch waren aufgrund der Regengüsse der letzten Tage unzählige Pfützen und kleine Wasserläufe, die ihnen den Ritt erschwerten. Aves sei Dank mussten sie kaum zwei Meilen durch diese Landschaft reisen, auch wenn sich diese Gernatsausen viel weiter erstrecken.
Gerade als sie aus dem Sichtschatten eines Felsens beim Hügel herauskamen und das erste Ross den Morast an den Fesseln spürte, hörten sie ein Hornblasen von der Burg - sie waren erkannt. “Die Wacht scheinen sie zu erfüllen” kommentierte Alrik seinen Reisegefährten, der einem guten Mahl und einem ordentlichen Bett in der Burg nicht abgeneigt war.
Und sie waren nicht nur erkannt worden, sondern ihre Ankunft schien erwartet zu werden. Kein Wunder, war ein baldiger Besuch der Vögtin auf Burg Gernatsborn ja angekündigt gewesen. Dass die junge Baronin samt Verlobtem und Schwiegereltern mit von der Partie war, sollte vielleicht eine Überraschung sein.
Kurz nach dem Hornblasen marschierte ein gutes Dutzend Soldaten am anderen Ende der Fähre auf, welche bereits an der gegenüberliegenden Flussseite auf die Gäste warteten.
“Ja ist das nicht Roderick, mein alter Knappe, ha!” verwundert und überrascht blickte der Friedwanger Baron über den Gernat zur aufmarschieren Truppe, welche offensichtlich auf einem Pferd reitend von dem Oppsteiner angeführt wurde.
“Roderick?” fragte Ismena “mein … Neffe?”.
“Genau, dein Neffe” antwortete Alrik suffisant. “Und mein ‘ewiger’ Knappe und Edelknecht, ha.” Nach den Kämpfen bei der Rommilyser Befreiung, bei denen er unbedingt teilgenommen hatte, dachte er, er wäre was Besseres. Er hat wohl etwas Kriegsbeute gemacht und Friedwang verlassen” Tatsächlich hatte sich Alrik damals fast gewundert, dass Roderick ihn nie zuvor verlassen hatte. “Aber schlecht hatte er es doch nie bei mir…. Jedenfalls hatte ich gehört, dass er sich dann der Mersinger Truppe - Mersinger Pfahlgarde sollen sie heißen - angeschlossen hat. Wurde nach der Schlacht in Rommilys gegründet. Auch ein paar ehemalige Hahnengardisten aus Friedwang sind darunter. Und dann hat er sogar den Ritterschlag erhalten, das glaubst du nicht. Nach all den Jahren, haha.” Fast wäre sein Pferd in eine Matschpfütze tief getreten, da zog der Friedwanger die Zügel wieder an und konzentrierte sich. “Seinen Pagenkopf hat er jedenfalls noch immer, ist nur schütterer geworden” während er etwas grinste.
An der Fährstation angekommen begrüßten die Fährleute den hohen Besuch demütig aber wortkarg und deuteten auf die Fähre. Der Reisezug bestehend aus den sechs Reitenden stieg ab und platzierte sich auf dem hölzernen Floß, das kaum mehr Last zu tragen vermochte. Die Muskeln der vier Männer und Frauen, welche die Fähre bedienten, spannten sich an und mit ihnen spannten sich die Seile. Das wacklige Gefährt machte zunächst einen kräftigen Ruck, dann ging es recht glatt über den Gernat los.
Haldana blickte auf den Fluss, dessen Wasser durch die Strahlen der Praiosscheibe glitzerten. Während das Gewässer etwas flussaufwärts im engen Durchgang der beiden Hügel hinter ihr rauschte und große Steine zu erkennen waren, floss der hier breite Fluss gemächlich vor sich hin. Die Tiefe konnte sie nicht erkennen, aber hin und wieder ließen Wellen und Gischt auch auf Steine im Wasser schließen. Ein kundiger Flößer sollte hier aber wohl sein Handwerk nachgehen können.
Da waren sie auch schon an der anderen Seite angekommen. Der Anführer der Truppe, Ritter Roderick, war mittlerweile von seinem Ross abgestiegen und verbeugte sich vor den Gästen. Hinter ihm erblickte man ein Dutzend Hellebardiere mit Kürass und Sturmhauben, einheitlich trugen sie dunkle Hosen und ein Wams in den Farben Schwarz und Gold sowie waren um die Helme blaue Bänder geschnürt. Auch der Ritter war in diesen Farben gewandet. Die Farben der Mersingen zu Gernatsborn erkannte die Vögtin zweifelsfrei.
“Eure Hochgeboren” Roderick verneigte sich noch tiefer, sodass seine Andeutung einer leichten Glatze gut für alle zu erkennen war. Man hatte ihm gesagt, dass die Schlotzer Vögtin erwartet werde, aber der Friedwanger Baron, sein ehemaliger Schwertvater, weitere Edelleute aus Friedwang und Oppstein sowie (für ihn vermeintlich) die junge Schlotzer Baronin zu Gast war, verwunderte ihn. Er ließ sich aber nichts anmerken. Und auch angesichts seines ehemaligen Herren blieb er ruhig, auch wenn er ein eher gespaltenes Verhältnis ihm gegenüber hatte. Er setzte fort. “Mein Name ist Ritter Roderick von Oppstein. Ich grüße Euch im Namen von Glyrana von Mersingen und Storko von Gernatsborn-Mersingen, die euch bereits auf Burg Gernatsborn erwarten. Ich darf euch weiter geleiten.” Dann deutete er in Richtung von Hügel und Burg.”
Adginna übernahm das Wort. “Habt Dank, Ritter, dann wollen wir die Gernatsborner Herrschaft nicht lange warten lassen. Eine stolze Burg wurde wahrlich hier erbaut.” kommentierte sie noch zusätzlich. “Führt uns an”.

Der Oppsteiner bestieg wieder sein Pferd und führte die hohen Gäste an, flankiert von den Pfahlgardisten. Von hier war es eigentlich nur wenige Hundert Schritt, aber sie mussten den Hügel und den schroffen Steilhang der sich zur Flussseite neigte westlich umgehen. Dies ermöglichte allen einen einen guten Blick auf die Grube, die auf ihrem Weg lag. Fast bedrohlich nah am Wasser wurde am Hang des Hügels im Tagebau Erz abgebaut - Kupfererz wie die meisten wussten oder zu vermuten war. Teilweise war die Grube mehrere Schritt tief und Holzgerüste zeugten von emsigen Arbeiten. Jedoch nicht heute zumindest. Als Grund nahmen die Gäste wohl ihre Anwesenheit an, die nicht durch die laute Arbeit gestört werden sollte. An sich konnte man die Burg am Gernats sowie die Hütten am sanften Hang der anderen Seite, die nun mehr und mehr zu erblicken waren, heimelig und idyllisch bezeichnen, die Kupfergrube passte dabei jedoch nicht ins Bild.
Der Pfad führte hier nun durch Äcker und Gatter vorbei, immer wieder durch Obstbäume unterbrochen, an denen schon bald wohl reife Früchte hängen sollten. Die Bauern und Arbeiter, die sie passierten verneigten sich vor den Edelleuten und hielten schweigsam ihr Tagewerk an. Man sah ja nicht jeden Tag die Schlotzer Vögtin samt weiteren Edelleuten vorbei reiten.
Ein gutes Dutzend Hütten und Katen waren hier am Fuße des Hügels gebaut. Weiter in Richtung des Waldes konnte man auch Kohlenmeiler, oder zumindest den Rauch davon, und eine Art Holzfällerwerkstatt erkennen. Zentral war ein steinernes Gebäude als Schmiede zu sehen, sowie offensichtlich ein Wirtshaus, mit einem Schild samt Krone, die auf einem Schemel ruht.
Bevor sie zu den Häusern kamen, passierten die Reisenden einen - offensichtlich recht jung angelegten - Hain, in dessen Mitte ein offener Schrein errichtet war. Die Vögtin konnte sich erinnern, warum der Gernatsborner letztens in Schnayttach war, nämlich um die Weihe eines Schreins der jungen Göttin mit dem Schlotzer Tempel zu besprechen. Glyrana galt als Förderin des Glaubens des Schlotzer Tsatempels und hatte auch vor einigen Jahren den Friedwanger Tempel in Zaberg neu errichten und wieder besetzen lassen. Der kleine Schrein schien jedenfalls für die Weihe bereit zu sein, denn eine etwa ein Schritt hohe Statue der Göttin als Hochschwangere inmitten einer Kinderschar war bereits aufgerichtet.

Die begleitende Patrouille führte sie weiter auf die sanfte Westseite des Hügels hinauf zur Burg. Ein recht schmaler Weg, durchaus etwas steil, brachte sie zum Tor, das weit geöffnet und selbst wieder von zwei Bewaffneten bewacht wurde. Ein schwerer Pferdewagen vermochte hier hinauf und durch das Tor zu kommen, seine Kutsche jedenfalls nicht, dachte sich der Friedwanger Baron, während sie am Pferd hinauf schritten. Sodann kamen sie in einen kleinen Hof hinter einer zinnenbewehrten Mauer, eigentlich eher als Torzwinger zu bezeichnen. Weiter hinten sahen sie wohl die Stallungen samt Wirtschaftsgebäude sowie ein Tor zu einem weiteren Zubau, aber was ihre Aufmerksamkeit einnahm, war die Herrschaftsfamilie, die vor dem Tor im erste Stock des Haupthauses an der steinernen Treppe Stellung bezogen hatte. Die ganze Mersinger Familie zu Gernatsborn war, man könnte fast sagen, angetreten, um die hohen Gäste zu begrüßen. Vor dem Wehrvogt der Mark und der Vögtin zu Meidenstein, die sich beide in ritterlich-kämpferischen Gewandung darboten und mit Schwert gerüstet waren, standen drei Kinder, nach Größe und wohl Alter angeordnet. Die Kinder, etwa zwischen fünf und acht Götterläufen alt, zwei ältere Mädchen, das dunkle Haar im Pagenschnitt, und ein kleinerer Junge mit kurzgeschorenen Haaren, hatten allesamt bunte Blumensträuße in ihren Händen. Hinter der Familie waren weitere Personen, wohl der “Hofstaat” der Burg zu erkennen. Die Oppsteinerin unter den Gästen erwägte sogar ihre Nichte und Namensvetterin, Ismena von Baernfarn zu erkennen, die in jüngeren Jahren als mögliche Braut des albernischen Prinzen eine gewisse Bekanntschaft erreicht hatte. Was keiner der Gäste so genau wusste, war, dass der älteste Sohn von Glyrana und Storko bereits Page am Hofe zu Hallingen war und so nicht mehr auf der elterlichen Burg weilte.

Langsam füllte sich der kleine “Burghof” mit den nachkommenden Hellebardieren und den Gästen wurde gedeutet abzusteigen, um ihre Pferde vom Gesinde in die Stallungen und das Gepäck in ihre Gästezimmer zu bringen. Die Gastgeber ließen auch nicht lange auf sich warten und stiegen die Treppen hinunter, wobei die Kinder offensichtlich vorgeschickt wurden. Die Burgherrin ergriff als erstes das Wort als sie in der Mitte der Treppe ankam. Mit einer runden, warmen Stimme, offenen Armen und leicht gesenktem Kopf, begrüßte sie die Gäste.
“Seid willkommen auf Burg Gernatsborn, Eure Hochgeboren! Im Namen der Vereinenden Mutter, der Ewig Jungen und der anderen Zehn soll unser Treffen der Beginn einer engeren Freundschaft sein. Vögtin, Eure Ankunft haben wir erwartet, aber dass Ihr auch Euch Haldana von Schnayttach-Binsböckel, junge Schlotzer Baronin, samt dem jungen Friedwanger Edlen, der Euer Gemahl werden soll - so haben wir vernommen - zu und als Gäste mitbringt, das erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit. Wir heißen euch alle erdenklichen Glückwünsche, soll die Ewig Junge Göttin euch reichen Kindersegen schenken! Und auch Euche Baron Alrik von Friedwang und Ismema von Oppstein heißen wir nicht minder willkommen.” Die drei Mersinger Kinder reichten den hohen Gästen jeweils die Sträuße in ihren Händen und verneigten sich. Das älteste und etwas rundliche Mädchen zunächst der Vögtin, die mittlere der Schlotzer Baronin und der etwas zartbesaitete kleine Junge dem Friedwanger Baron. “Doch genug der Worte. Ihr müsst erschöpft sein von dem Ritt in der Sommerhitze. Eure Kemenaten sind bereits vorbereitet. Für eine Führung auf der Burg ist noch genug Zeit, ruht Euch aus. Am Abend erlauben wir uns Euch zu einem kleinen Festmahl einzuladen.”




Am selben Tage, ein Stück nördlich des Gernat
Praiodîn sprach die letzten feierlichen Worte des Mittagsgebets und schlug das Sonnenzeichen. Dann erhob er sich, vor dem kleinen “Altar”, den er am Weg von Gernatsau her errichtet hatte. Genau genommen bestand er aus seinem Umhang und der Statuette der "Heiligen Praiociosa", die frisch bemalt auf dem Findlingsstein stand. Die Lindenholzfigur zeigte eine Hochgeweihte, die mit verzücktem Augenaufschlag in Richtung Sonne blickte. Praios Schild beschien die Wiese mit goldenem Licht, ebenso die grünen Hügel gen Rahja und den schmalen Pfad, der den sumpfigen, verschilften Flussrand entlang Richtung Schlotz führte.
Bald würde er Hallingen wieder den Rücken kehren müssen. Ihm gefiel der Landstrich nördlich des Gernat, wo es deutlich "wehrheimischer" und damit praiosgefälliger zuging als im arg verwilderten Sichelhag. Im Wappen des Burggrafen prangte sogar der Greif, wie auch weiter westlich auf dem Banner der Pfalzgrafschaft Brücksgau. Die Bregelsaums hatten hier  ihr Stammlehen. So gesehen waren sein Gebet und seine Rast auch so etwas wie ein Abschied gewesen.
Die "Heilige" Praiociosa von Nerdanheim... Sein Blick fiel auf die neue Schlange, die sie unter ihrem rechten Schuh zertrat (Hilmar der Holzschnitzer hatte das verfaulte Holz der alten Schlange komplett ersetzt). Ebenso auf das flammende Geschoss, das die Hochgeweihte in Händen hielt. Kara von Baliho war eine Unfreie gewesen, die einst dem Heiligen Alboran geschenkt worden war, vom Balihoer Grafen. Eine Zeitlang hatte sie selbst zu einem Schlangengötzen gebetet, bevor ihr die Heilige Lechmin von Weiseprein die Augen geöffnet und gegen die orkischen Belagerer beigestanden hatte, mit feurigen Pfeilen von Alveran herab. Wie es hieß, hatte sie ihren Gemahl Alboran überhaupt erst zum wahren Glauben an den Götterfürsten bekehrt, damals, in den Dunklen Zeiten. Allerdings, in der Rohalszeit hatte ihr Ruf arg gelitten, seither galt sie vielen nur noch als rassistische Elfenfeindin und geistlose Praioseiferin. Einer der friedwanger Barone hatte ihren Kult sogar selbstherrlich verbieten lassen, nachdem der Nordenheimer Tempel in Flammen aufgegangen war. In der St. Alborans-Basilika war sie heutzutage  eine Beifigur, ohne eigenen Schrein. Wie bedauerlich.
Praiodîn betete vor ihr, weil er sich nicht einfach vor einem "heiligen Stein" verneigen wollte, wie einer dieser verrückten Sokramorier. Hübsch geschnitzt war sie, die kleine Praiociosa, zumal jetzt, wo sie wieder in alter Schönheit erstrahlte. Im Wortsinn, die Goldfarbe sah wirklich prachtvoll aus, auch wenn es nicht wirklich Blattgold war. Er mochte Karas Geschichte, schon allein weil sie ein Bauernkind gewesen war wie er selbst.
Hilmar Okenheld, der Hauberacher Holzschnitzmeister. Auch den linken Arm hatte er kunstvoll erneuert, ebenso die eine abgebrochene Sphärenkugel und die wurmstichige Mütze. Er war auf Kirchenkunst spezialisiert und wohl ein alter Freund (wenn nicht sogar entfernter Verwandter) Garafanions. Man konnte sich gut mit dem weißhaarigen alten Mann unterhalten. So hatte Praiodîn erfahren, dass Alriks Bastard Alboran regelrecht aus der Knappschaft in der Pfalzburg Brücksgau geworfen worden war, durch Hochedelgeboren Auburia von Roßhagen. So deutlich hatte man das zuhause in Friedwang noch nie vernommen. Sie schien dem jungen Bankert wirklich zu mißtrauen.
Ein Zweig knackte im Gebüsch, irgendein Vogel flatterte auf und dann ging alles ganz schnell. Vier, fünf gedrungene Gestalten huschten aus dem Gebüsch und kreisten ihn sofort ein. Platte, affenähnliche Gesichter, spitze Ohren und Backenzähne unter speckigen Hauben, dazu Lederwämser, Kettenzeug, krumme, schartige Klingen, Knüppel und Speere. Goblins...Obwohl die Wegelagerer in der Überzahl waren, hielten sie respektvoll Abstand. Lispelnd und zischelnd deuteten sie erst auf den ziemlich geleerten Dukatenbeutel des Geweihten, dann dessen Rucksack.
"Gib unss dasss, Goldrock...und wir nik makn tot!"
Praiodîn gewährte dem Gesindel nicht einmal eine Antwort, sondern zog sofort sein Sonnenzepter. Er merkte, dass das glänzende Metall den Anführer blendete, und nutzte die Schwäche sofort aus.
Der Goblin parierte dennoch mit seinem Krummsäbel. Der Streitkolben glitt ab. Einer der scharfen Sonnenstrahlen ritzte dabei die Stirn des Rotpelz. Praiodîn wich vor einem wütenden Konter zurück, ließ seine Waffe wie einen Schweifstern kreisen. Heiliger Alboran, steh mir bei gegen diese barbarischen Fellträger. Ein Stein streifte seine Robe, ohne besonderen Schaden anzurichten. Nun versuchte einer der Feiglinge, ihm rücklings den Speer zwischen die Schulterblätter zu stoßen.
Er wich aus, konnte allerdings nicht verhindern, dass von vorne eine gezackte Klinge über seinen rechten Unterschenkel schrammte. Der Hieb traf das Feenbein, ausgerechnet… Praiodîn spürte den scharfen Schnitt, im nächsten Moment sprudelte ihm auch schon warmes Blut in den Stiefel. Ein wütendes Knurren, dann streifte ihm ein Keulenhieb am Arm. Reflexartig schlug er zurück und hatte das Gefühl, etwas Weiches, Felliges getroffen zu haben. Nun drang der scharfe Gestank nach Goblin mit voller Wucht an seine Nase. Ein Messer schlitzte seinen Robenärmel auf, ein Schwerthieb fegte die schöne Filzmütze davon. Der Geweihte sah seine Gegner nur noch als Schemen, die um ihn herum wirbelten. Ein weiterer Hieb galt einem klobigen Goblinschädel. Lautes Gejammer zeigte ihm, dass er diesmal wirklich getroffen hatte.
Der würdelose Kampf war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Eine der Stinker packte die heilige Praiociosa mit seinen ungewaschenen Pratzen und lief mit der scheinbar kostbaren Beute davon. Das ganze hätte auch eine kleine, hässliche Schlägerei im Rommilyser Katzloch sein können. Die übrigen Gegner ergriffen das sprichwörtliche Goblinpanier. Der Lichtbringer wollte zur Verfolgung ansetzen, aber sein verwundetes Bein gehorchte ihm nicht mehr. Greller Schmerz glühte von dem Schnitt nach oben, ließ ihn schreiend zusammenbrechen. Die Bande lief nun ins Gebüsch, vorneweg der Dieb der kleinen Praiociosa. Irgendwie hatte er das alles schon mal erlebt, damals in Zaberg. Praios, steh mir bei! Lass deine Diener nicht in die Hände der Feinde des Lichts fallen.
Der oberste Richter Alverans und Himmelskönig erhörte sein Stoßgebet. Hart zischte ein gefiederter Schatten durch die Luft. Der Armbrustbolzen traf den Langfinger genau unter dem Nacken, noch im Kragen seiner zerfledderten Gugel. Ächzend stürzte er nach vorne, als hätte ihn ein Riese getreten. Die Statuette rollte unter einen Farn. Der Goblin rührte sich nicht mehr.
Ächzend drehte sich Praiodîn auf den Rücken. Eine Blutlache breitete sich von seiner Beinwunde aus, der Rest waren nur Schrammen.
Im Licht des hellen Mittags sah er seinen Retter auf sich zukommen, eine Armbrust in Händen. Genau genommen war es eine Retterin, mit Beckenhaube, erdfarbenen Gewändern und wattiertem Waffenrock. An ihrer Seite baumelte ein schmuckloses Schwert. Sie spähte einen Moment um sich, aber die überlebenden Goblins waren wirklich verschwunden. Feiges, ehrloses Pack. Nur ihren Gestank hatten sie zurückgelassen, ebenso wie ihren mausetoten Gefährten.
Die Armbrusterin nahm den Helm ab und kniete sich neben Praiodîn, eine schon etwas ältere, drahtige Kämpferin mit kurzgeschorenen, grauen Haaren und harten Augen. "Oh, sieht nicht gut aus." Die Fremde blickte auf seine zerfetzte Robe und die aufgeschlitzte Hose. "Einen Mann des Praios anzugreifen, diesem heidnischen Abschaum graut es wahrlich vor nichts."
"Seid bedankt". Praidodîn rappelte sich ein wenig auf. "Euch schickt wahrlich der Herr des Lichts. Ich wäre mit ihnen fertig geworden...aber um ein Haar...ah...hätten sie mir die heilige Praiociosa gestohlen. Ich muss nachschauen, ob sie heil ist...ich..."
"Scht, ruhig. Ihr habt einiges an Blut verloren." Die Schützin nestelte ihre Umhängetasche hervor und packte Verbandszeug aus. Erst jetzt merkte Praidodîn, dass sie schwere Lederhandschuhe trug.
"Mein Name ist Praiodîn Xerber, Donator Lumini der Sankt Alborans-Siegesbasilika zu Markt Friedwang. Ich bin...Euch wirklich zu Dank verpflichtet, Frau... äh... ah..."
"Firun bi! Ich heiße Renia...Renia Hagewisch...Recht sauberer Schnitt, immerhin, so im Großen und Ganzen habt Ihr doch noch Glück gehabt. Nur eine Fleischwunde. Wenn die Stinker nicht immer so verdammte Zacken und Scharten in ihren Klingen hätten."
Firun bi? Renia? Das klang tobrisch, wie die sonstige Mundart seiner Retterin.
Langsam nahm der Schmerz überhand. Auch wenn er eigentlich Selbstgeißelungen und Entbehrungen gewohnt war. Praiodîn rang um Selbstbeherrschung, konnte sich aber ein leichtes Stöhnen nicht verkneifen. "Heilige Praiociosa steh mir bei... aaah... arrrggg..."
"Gehts noch? Wenn die Wunde verbunden ist, wirds meistens leichter."
"Ist schon... verdmt..schm...schmerzha...aaa...aahft..."
"Trinkt erstmal nen ordentlichen Schluck, Euer Gnaden...wenns beliebt."
Renia entkorkte eine mit Ziegenfell bespannte Feldflasche, die nach Schnaps roch. Praidodîn wollte erst abwehren – er war schließlich Lichtbringer – aber das gleißende Pochen im Unterschenkel belehrte ihn eines Besseren. Der Schmerz steigerte sich gerade von grausam in Richtung unerträglich. Nun wurde ihm auch noch schlecht. Das fehlte noch, dass er sich hier vor der Tobrierin selbst beschmutzte. Also nahm er einen kräftigen Schluck, und dann noch einen. Der Schnaps schmeckte keinesfalls so scharf und brennend, wie er befürchtet hatte, eher süß und schwer wie Likör. Praiodîn atmete ein paar Mal tief durch. Die Qual ließ tatsächlich etwas nach. Hastig nahm er einen weiteren Schluck, dann einen weiteren. Wischte sich die Lippen sauber. Einen Moment lang kam er sich abgebrüht vor wie ein alter Söldling, der bei einer Belagerung angeschweißt im vordersten Graben lag. Er fühlte sich angenehm benebelt, als hätte er den ganzen Tag Weihrauch eingeatmet. Der Schmerz zog sich zurück, wich einem tauben, pelzigen Gefühl rund um die Wunde. Die Tobrierin verband ihn nun mit kundigen, resoluten und schnellen Griffen.Selbst die Wundreinigung mit Schnaps war erträglich gewesen.
"Renia Hagewisch, ich stehe tief in deiner Schuld", hörte sich Praiodîn mit schwerer Zunge sagen. "In deiner Schuld", wiederholte er feierlich. "Zum Glück ist es nicht mehr weit bis Gernatsborn."
"Ihr wollt noch bis nach Gernatsborn, Euer Gnaden? In Eurem Zustand?"
"Ja, ich muss zu Glyrana und Storko von Mersingen."
Renia hob die Augenbrauen. "Mersingen...Gernatsborn...Hm. Habe gehört, sie stellen gerade eine Burgwache zusammen. Eigentlich wollte ich ja nach Gallys, bei Kor, um mal da mein Glück zu probieren. Aber vielleicht braucht Storko ja noch eine gute Armbrustschützin, in seiner neuen Burg."
"Ich brauch bis dorthin vor allem eine gute Stütze." Praiodîn versuchte logisch zu denken, logisch und geordnet. Mit der Wunde würde es schwer genug werden, bis zur Burg zu humpeln, auch ohne Gepäck. Er würde diese offenkundige Söldnerin brauchen, um die "Praiociosa" zu tragen. Ebenso einen Stock oder Stecken. "Wenn du mir hilfst, soll es dein Schaden nicht sein. Ich werde auf jeden Fall ein gutes Wort für dich einlegen. Das war ein sauberer Blattschuss, der diesen verfluchten Rotkittel erlegt hat. Geradezu meisterlich.”
"Ich weiß ja nicht, ich weiß ja nicht." Renia kratzte sich die grauen Stoppelhaare, mit der Linken. "Würde es nicht mehr Sinn machen, erstmal nach Gernatsau zurückzukehren, und sich lieber da eine Bleibe zu suchen? Is´ kürzer..."
"Ah...ach was. Ich humple lieber vorwärts als zurück...Glaub mir, Söldnerin, ich bin da auch einiges gewohnt...seit dem letzten Krieg. Auch wenns vielleicht nicht so aussieht. "
"Seit dem letzten Krieg? Ist der denn überhaupt schon vorbei? Also gut, Euer Gnaden, ich werde Euch helfen, in der Zwölfgötter Namen. Und wenns nur meine unsterbliche Seele ist, für die was dabei rausspringt. Ein bisschen Praioslohn könnte ich  sicher gebrauchen." Renia grinste schief.


Am gleichen Abend, Burg Gernatsborn
Auf dem Weg durch die Burg erschien diese im Inneren etwas verwinkelt zu sein, jedenfalls waren die den Gästen zugewiesenen Zimmer durchaus komfortabel, mit weichem Bett, Schrank, kleinem Tisch und auch bequemen Schemeln. Jedes Zimmer verfügte auch über ein Fenster mit gutem Ausblick - je nach Ausrichtung auf den Gernat oder den Wutzenwald - und einem eigenen kleinen Kamin, für kühlere Tage wohlgemerkt. Jedem der edlen Gäste wurde, wie es sich gehört, ein eigenes Zimmer gegeben und ein kleiner Zuber mit warmen Wasser wurde jedem sogar gefüllt. Die Burg war anscheinend auf Gäste dieser Art vorbereitet oder besser gesagt erbaut worden. Tuvok dem Jäger wurde hingegen ein Bett in der Kammer des örtlichen Gasthauses außerhalb der Burg zugewiesen.
Des Abends wurden die Gäste zum Abendmahl geladen. Nicht jedoch in einen Speisesaal. Auf einer dem Wohntrakt vorgelagerten Terrasse an nordöstlicher Seite am Gernat neben dem Bergfried war eine Tafel mit acht Stühlen vorbereitet - eine größere Runde vermochte die nicht allzu große Terrasse wohl auch nicht zu fassen. Der Abend war warm und windstill, jedoch hier im Schatten des Turmes von der untergehenden Praiosscheibe geschützt angenehm. Das allgegenwärtige Rauschen des Flusses war das erste, was die Gäste vernahmen, als sie auf die Terrasse traten. Das Gurren von Vögeln ließ ihren Blick an die Seite schweifen, an der ein Taubenschlag zu erkennen war. Der Ort und der Tisch waren gut mit Kerzen auf Halterungen und Stehern ausgeleuchtet, und prägten ein fast romantisches Ambiente. Die Tafel war reich gedeckt, mit gebratenem Rücken und Schlögel vom Reh, gegrillter Gernatsforelle, frisch gebackenem Brot und verschiedenen Gemüsebeilagen dufteten wohl bis zu den Zinnen des Turmes hinauf - eindeutig zu viel für die kleine Festgesellschaft, wobei sich das Gesinde wohl über die Reste freuen werde. Neben Krügen und Flaschen mit Bier und Wein, ließ der süßliche Duft auch auf Honigmeth schließen, der aus dem nahe gelegenen Gernatsquell bezogen wurde.
Die Gastgeber, Glyrana und Storko, erwarteten die fünf edlen Gäste bereits. Im Gegensatz waren sie nun in wenig ritterlicher Gewandung erschienen, sondern eindeutig höfischer. Bei dem Wehrvogt fielen stich sofort ein Barett mit recht überdimensionierten Federn auf, seine Gattin war dem abendlichen Licht angemessen stark geschminkt und in ein edles Kleid gewandet, das in Erscheinung einer Baronin kaum nachstand. Der achte Stuhl wurde von einer weiteren jungen Frau eingenommen, kaum Jahre älter als die junge Schlotzer Baronin, die scheinbar nicht der Mersinger Familie angehörte. Auch sie war in einem dem Hochadel standesgemäßen Kleid in grünem Bausch erscheinen, das ihre schlanke Figur betonte und einen guten Kontrast für die langen rotbraunen Haare bot. Abgesehen von Haldana und Alboran war sie für die Gäste keine Unbekannte.
Die Gernatsborner Burgherrin ergriff das Wort, als ihre edlen Gäste die Terrasse betraten. “Eure Hochgeboren, Eure Wohlgeboten, ich hoffe Ihr konntet Euch angemessen erholen. Wir dürfen Euch zu einem bescheidenen Mahl einladen, allesamt was der Wald, Fluss und Acker uns schenkt.” Ein Diener ging durch die Runde und reichte auf einem kupfernen Tablett hohe aber dünne, kupferne Becher mit kühlem Meth, die zum Anstoßen gereicht wurden.
Bevor die Gäste Platz nahmen fuhr Glyrana noch fort. “Ich darf Euch auch meine über alle Maßen geschätzte Begleiterin vorstellen: Ismena Rondrija von Oppstein und von Baernfarn, älteste Tochter des ehemaligen Barons und Baroness zu Gallys sowie älteste Tochter der Schwester des letzten Barons zu Oppstein und Rommilyser Stadtvogts.” “Fast wäre sie auch albernische Prinzessin geworden” unterbrach Storko sie fast und grinste dabei etwas.
Die Oppsteinerin unter den Gästen musste sich gezwungen räuspern, während sie den süßen Honigsaft schlürfte. Das war wohl mehr als dick aufgetragen mit ihrer Nichte. Da führten die Mersingen sicher etwas im Schilde mit der jungen Ismena. Auch Alrik kam das nun etwas almadanisch vor.
“Ohne Ismena wäre ich als Vögtin in Meidenstein heillos überfordert, sie ist meine rechte Hand in Verwaltung und Diplomatie.” fuhr Glyrana mit freundlicher Miene fort.
“Genug der Ehre” meldete sich nun auch die junge Ismena mit sanfter Stimme und etwas Lächeln im Gesicht zu Wort. “Ich tue lediglich meine bescheidene Pflicht im Namen Praios und Travia”. Ihre Aussage erschien erstaunlich ehrlich, was es trotz der einstudierten Antwort auch war.
“Apropos Oppstein, ja Oppstein...” fuhr der Wehrvogt vielleicht etwas unpassend gleich hervor, während die Gäste kaum Platz genommen hatten. “Ich komme in der Mark viel herum, mehr als mir manchesmal lieb ist” schmunzelte er “da es mich von meinen Liebsten zu lange trennt.” Aber als ich zuletzt einmal nahe den Oppsteiner Landen vorbei zog, hörte ich Gerüchte. Der Oppsteiner Baron Adran soll ein zügelloser Lebemann sein und auch seltsamer Magie nicht abgeneigt. Der örtliche Tempel des Götterfürsten ist schon länger sehr besorgt, da Gesetzlosigkeit und Unzüchtigkeit vermehrt in den Landen Einzug halten.” Er blickte nun den Friedwanger Baron und seine Oppsteiner Begleitung an. Zwei Mägde reichten den Gästen Braten und Fisch. Dann wurde feierlich angestoßen.
“Was könnt ihr mir darüber sagen?” fuhr Storko fort. “Ich bin durch Markgräfin und Bannerherrn angehalten alles zu berichten, was mir zu Ohren kommt, jedoch will ich natürlich keine falschen Geschichten erzählen.”
Alrik tupfte sich, leicht amüsiert, etwas Soße aus dem Spitzbart. Dann nickte er dankbar der Dienerin zu, die ihm von der Seite her einschenkte und blickte zur Gießenborner Ismena: "Gesetzlosigkeit und Unzüchtigkeit in den Oppsteiner Landen, hört, hört... Weißt du etwas davon, liebe Isi?"
Ismena begann gerade formvollendet, eine Gernatforelle zu entgräten. Dann lehnte sie sich erst einmal zurück. Ihr gefiel es hier draußen auf dem Söller. Das letzte Abendrot tauchte das frisch verputzte Gemäuer in rahjagefällige Farben. Auch die flackernden Kerzen gefielen ihr. An einem Sommerabend wie diesem konnte man sich fast wie im Lieblichen Feld wähnen. Im Horasreich wurde man allerdings ebenfalls auf Schritt und Tritt von den Augen und Ohren des Horaskaisers verfolgt.
"Ich war leider schon länger nicht mehr auf der Stammburg meiner Familie", sagte die Oppsteinerin mit ehrlichem Bedauern. "Adran, ja, eine lange Geschichte...es gibt viele Gerüchte über ihn, gewiss. So viele Gerüchte, wie er Feinde hat. Feinde und Neider...Magiebegabt ist er keinesfalls. Wer hat denn so etwas behauptet? Seine Gemahlin Thahira von Birkenbruch hat er sogar in der Sankt-Alborans-Siegesbasilika zu Marktfriedwang geehelicht.  Mein seliger Bruder, Inquisitor Parinor Rukus, hat seinerzeit dafür gesorgt, dass die Oppsteiner es mit ihrem Volksglauben nicht übertreiben. Draußen in den Gebirgstälern, wo die Wälder tief und die Winter lang sind, mag es noch merkwürdige Sitten geben...Abgesehen davon, dass man manche Geister und Kobolde nun mal besänftigen muss. In den Dörfern werden allein die guten Zwölfe in Ehren gehalten."
Alrik schnibbelte gerade klecksend am Rehschlegel herum und ließ, leicht ungehalten, das Besteck sinken. Spielte Ismena die Naive oder glaubte sie wirklich, was sie da erzählte? Der Friedwanger nippte an seinem Meth und räkelte sich im Stuhl, mit Blick auf den sanft schimmernden Gernat. Adran. Gerne hätte er jetzt "ausgepackt" und seinem Nebenbuhler nach Herzenslust geschadet. Aber leider war seine Gemahlin eine von Adrans ehemaligen Liebschaften gewesen. Angeblich "ehemalig". Das hell lodernde Feuer der Wahrheit konnte in diesem Fall leicht außer Kontrolle geraten, wie so oft.
"Der gute Parinor ist leider schon vor vielen Jahren gen Alveran gegangen, meine liebe Ismena. Und der beste Freund Adrans war er jetzt auch nicht gerade...der Herr Baron liebt sokramorischen Mummenschanz und ausgiebige nächtliche Ausflüge, heißt es. Er soll viele Liebschaften haben, Männer und Frauen gleichermaßen (Bei diesem Einschub schlug Adginna das Gänsefüßchen, um ihrer Bestürzung Ausdruck zu verleihen über dieses unzüchtige Verhalten, von dem gerade berichtet wurde), bei den Bregelsaums ist er deswegen unten durch. Er schützt die Orte, die dem Volk, aber nicht unbedingt der Kirche als heilig gelten. Weils dort besonders feeisch zugehen soll... manche würde auch sagen: dämonisch...ich gehe natürlich nicht soweit. Anshelm Horninger, der Inquisitor in Rommilys, hat vor einigen Jahren eine eingehende Untersuchung der Vorfälle der Wildermarkzeit begonnen. Und hatte keine größeren Beanstandungen, was den Hochadel des Sichelhags betrifft."
Weil die Praioten mehr mit sich selbst beschäftigt waren, fügte Alrik in Gedanken hinzu. Schon allein, um die Anhänger des verrückten Praiossohnes Albuins von Wehrheim herauszusieben.
Ismena begutachtete gerade das neumodische Essgerät, das aus zwei Zinken bestand und "Gäbelchen" genannt wurde. Mit dem zarten, blassen Zeigefinger testete sie dessen Spitzigkeit: "Es gibt Menschen, die halten bereits eine solche Essforke für ein Dämonenwerkzeug. Sie sieht aus wie ein zwiefach Gehörnter...und haben uns die Götter nicht Finger gegeben, auf dass wir die Speisen damit zum Mund führen? Versteht mich Recht, Storko, ich habe einige Jahre in Belhanka gelebt und weiß derlei Fortschritt zu schätzen. Aber was für den einen nur eine Erleichterung ist, ist in den Augen der anderen bereits eine Sünde."
"Sieben Götterläufe waren es, um genau zu sein. In Belhanka. Bei der Erfüllung deines Gelübdes."  Der Friedwanger unternahm einen erneuten Anlauf, seine Rehkeule zu tranchieren. "Essbesteck ist keinesfalls harmlos, wie man spätestens seit dem Ogerlöffel weiß. Es kommt auf den Umfang an. Manch harmlos scheinendes Messerchen taugt in Wahrheit schon zum Dolch. Nun, man sagt, dass Adran nur deswegen nicht im Oppsteiner Haus der Travia geheiratet hat. Weil jeder wusste, dass seine gemeinsame Tochter mit Thahira in Wahrheit ein Spross Redenhardts ist. Nicht so ganz ungewöhnlich, ich weiß, ich weiß..." Ein Hüsteln, gefolgt von einem Blick zu Alboran, der ein wenig verdrießlich blickte.
"Aber dann im Angesicht des Allerhöchsten ein fremdes Kind als das eigene auszugeben...nun ja...das muss jeder mit seinem eigenen Gewissen ausmachen."
"Er hat Praiodane adoptiert, was ist schon dabei?"
"Anerkannt, nicht adoptiert... Redenhardt war offiziell nur der Pate. Außerdem dürfte Adran der Lichtwelt der Feen doch ein wenig näher stehen als dem Lichte des Praios. Wenn er nicht gerade um ein besonders großes Sonnwendfeuer im Wald tanzt...was man ihm auch schon nachgesagt hat."
Ismena trieb die Gabel in die Forelle, die sich noch einmal kurz aufzubäumen schien. "Im Seekönigreich Cyclopäa ist es üblich, dass der Thronfolger eine Nacht im Feenwald verbringt. Wo er von den Dryaden einen Pinienzweig erhält, als Zeichen der Königswürde. Die Kirchen der Zwölfe nehmen an diesem Bund keinerlei Anstoß. Der Pinienhain, der daraus entstanden ist, neben dem Palast zu Rethis,  er wird sogar von einem Geweihten der Peraine gepflegt."
"Der Seekönig bekommt seine Krone von Druiden? Ah...hm..."
"Dryaden... Baumfeen..."
"Ah...da passt der Name Birkenbruch ja...nur dass Adran kein Seekönig ist. Praiodane soll übrigens ein merkwürdiges Mal haben, auf der Schulter, wie zwei gedrehte Hörner...gleich einer verbogenen Gabel, sozusagen...ein Levthansgehörn?"
Ismena räusperte sich, nun doch etwas verstimmt. "Lieber Alrik, ich glaube nicht, dass Storko wirklich Interesse an jedem Klatsch und Tratsch aus der tiefsten Sichel hat."
"Nun, ungewöhnlich kommt mir das Gebaren des Barons schon vor", sagte der Wehrvogt. "Um nicht zu sagen..."
“Genug aber nun mit diesen Geschichten, Storko” unterbrach ihn Glyrana, obwohl sie in Wahrheit größtes Interesse an allen Untaten des Oppsteiner Barons hatte. “Wollen wir lieber über freudige Dinge reden, wie den anstehenden Traviabund unserer Baronin und auch unser Fest, bei dem wir uns über das Schlotzer Baronspaar als Ehrengäste geehrt fühlen würden.”
“Nun, ich kenne das Haus Oppstein nicht so gut.” begann Adginna, immer noch aufgebracht von der Unzucht, die ihr über Adran berichtet worden war. “Aber was man mir seinerzeit über Redenhardt erzählt hatte, nun ja, dass er auf eklatante Weise gegen die Gebote der Praioskirche verstoßen hat, da wundert mich das mit den Verstößen gegen Travias gute Sitten bei seinem Erben auch nicht mehr” murmelte die Vögtin. Wobei unschwer zu erkennen war, dass es mehr die Verstöße gegen Travias Gebote waren, die sie so erregt hatten. .
“Das ist mir allerdings neu, dass der Stadtvogt von Rommilys gegen die Gebote des Herrn verstoßen hat.” fragte Praiodin nachforschend. “Berichtet doch bitte mehr darüber!”
Die Vögtin hielt inne. Eigentlich hatte sie nicht vor, alte Geschichten hier auspacken, zumal sie alles nur vom Hörensagen kannte und sie sich sonst von Tratsch und Klatsch fern hielt. Warum nur hatte sie sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen? Aber die Frage eines Geweihten des Sonnengottes konnte sie auch nicht unbeantwortet lassen.
“Euer Gnaden, verzeiht. Es ist nicht statthaft, gerade in Eurer Anwesenheit Dinge zu erzählen, deren Wahrheitsgehalt man selbst nicht überprüfen kann” versuchte Adginna sich heraus zu reden.
“Akzeptiert, Hochgeboren. Ich nehme zur Kenntnis, dass ihr niemanden anschuldigt und auch nicht Übles nachredet. Doch wenn ich Euch bitte, zu berichten, so tut dies. Die Kirche des Herrn kann sehr wohl zwischen Fakt und Gerücht unterscheiden, und wird, so es Not tut, genau prüfen. Wo, bitte sehr, hat der Stadtvogt gegen die Gebote des Praios verstoßen? Berichtet es mir!”
Die Neugier des Geweihten war geweckt. Aber noch vielmehr noch wollte er seine Autorität unter Beweis stellen. Würde die Vögtin ihm berichten, dann hieße das zugleich, dass er als Autorität anerkannt war. Vielleicht würde das seinem eigentlichen Ansinnen mit dieser Tsageweihten förderlich sein.
“Nun, Hochwürden, wenn Ihr es wünscht. Aber ich möchte vorweg sagen, dass ich nur das berichte, was ich vom verstorbenen Gemahl meiner Schwester vernommen habe. Und das das vor dessen Tod war, also schon etliche Jahre zurück liegt. Ansonsten, weder Valyria noch ich pflegen es, über andere zu tratschen. Es sind einfach Dinge, die man halt so hört. Immerhin war Valyrias verstorbener Gemahl der Stiefneffe Redenhardts. Naja… Baron Deggen von Gallys hatte Redenhardts Schwester Irmena Darina von Oppstein geehelicht und etwas später Raul, also Valyrias Ehemann, als Sohn adoptiert, um die Nachfolge in der Baronie Gallys zu regeln. Nun… Adoptionen sind ja nichts Ungewöhnliches in Adelskreisen... “ Alrik nickte bekräftigend zu dieser Aussage.
“Ja, sicher” stimmte Praiodin zu. “Aber kommen wir zum Wesentlichen.” forderte der Geweihte Adginna auf, weiter zu berichten.
“Nun, ja, lasst mich das ein wenig gedanklich sortieren. Meine eigene Hochzeit mit Tsafried fand nahezu zeitgleich mit der Hochzeit Valyrias mit dem jungen Baernfarn statt. Meine Familie hatte beides arrangiert, hatte damals erfolgreiche Familienpolitik betrieben. Und auch die Hochzeit mit den Gallysern hatte eine Vorgeschichte. Für das Haus Baernfarn war es eine schlichte Notwendigkeit, sich an ein stärkeres Haus zu binden. Nachdem sich diese Familie in der Answinkrise auf die Seite Hals, gegen den Grafen von Wehrheim, gestellt hatte, waren sie natürlich in Rommilys in Ungnade gefallen. Und dann war da noch die Sache mit der Gründung des Trutzbundes, aber davon kannst du, Alrik, sicher mehr berichten. Jedenfalls war der Gallyser Baron Deggen wegen Hochverrats verurteilt worden und hatte seinen Titel verloren. Nun ja, gerade deswegen waren die Baernfarns in der Not gewesen, einen Thronfolger aus dem Hut zu zaubern und diesen rasch mit einem starken Haus zu verheiraten. Diese Gelegenheit ergriff meine Familie.”
“So?” insistierte Praiodin. “Aber was hat das jetzt mit Oppstein zu tun?”
“Es ging damals um die Anklage gegen den Gallyser Baron. Die Verurteilung wegen Hochverrat und die Verbannung. Der verstorbene Raul beharrte stets darauf, dass sein Vater unschuldig sei, und dass die Anklage nur aufgrund der meineidigen Aussage zweier Adeliger im Baronsrang zustande kam. Redenhardt von Oppstein wäre einer davon und die Ernennung zum Stadtvogt von Rommilys wäre der Lohn dafür gewesen.” Adginna machte eine Pause “Aber, wie gesagt, ich möchte eigentlich nicht mehr darüber sagen, denn ich kenne all das nur aus zweiter Hand und ich habe auch kein Interesse daran, alte Zwistigkeiten wieder aufkommen zu lassen. Ich habe das nur berichtet, weil Ihr mich dazu aufgefordert habt. Aber, bitte, dringt nicht weiter in mich, ich kann nichts mehr darüber sagen.”
Praiodin nickte.
“Nun gut. Dieser Deggen… das ist doch jener, der als Rondrapriester auf Gernatsquell lebt? Dann sollte ich ihn befragen.” beschied der Geweihte.
“Ja, das ist er. Ob er Euch etwas sagen will, weiß ich allerdings nicht. Von ihm habe ich jedenfalls nie etwas über die Sache gehört. Was ich hörte, das stammt von Raul. Aber es scheint, als habe man sich im Hause Baernfarn auf ein großes Schweigen geeinigt, was dieses Thema betrifft. ”
“Gut. Es ist andererseits nichts Ungewöhnliches, dass ein Sohn zu seinem Vater steht, selbst wenn dieser etwas falsch gemacht hat. Woher wollte Raul denn das wissen? Und wer wäre der zweite Baron gewesen?”
“Diese Fragen lassen sich in einem beantworten. Eine Baronin von Bregelsaum hat einige Zeit nach dem Prozess, aber noch zu Lebzeiten Rauls, Deggen angeschrieben und ihm mitgeteilt, sie habe, vom Haus Rabenmund unter Druck gesetzt, sich zu diesem Meineid bewegen lassen und bat ihn um Verzeihung. Von ihr stammt auch die Kunde über den zweiten Meineidigen. Nun, Deggen hat der Bregelsaum auf jeden Fall verziehen und nie ein schlechtes Wort über sie verlauten lassen. Soviel steht tatsächlich fest.”
“Aber dieses Schreiben der Bregelsaum… existiert das noch? Dem käme ja Beweiswert zu?” forschte Praiodin weiter.
“Das entzieht sich meiner Kenntnis” beschied Adginna knapp. “Ich bin nicht der Archivar eines verbündeten Adelshauses, ich kann dazu nichts sagen.”  
Alrik blickte verlegen auf seinen Braten. Einen Augenblick lang hatte er die Vision eines Kaninchens, das röchelnd in der Schlinge zappelte. Oder gerade von einem Frettchen totgebissen wurde. Die Ismena, die er kannte, würde die Anschuldigungen gegen ihren Bruder nicht ohne weiteres hinnehmen. Er blickte zur Oppstein, die gerade bei den Bäckchen der Forelle angekommen war und damit deren zartesten Fleisch. Der Eklat lag in der Luft. Fast war er mit den Händen greifbar.
Die Gießenbornerin ärgerte sich tatsächlich. Allerdings mehr darüber, dass sie vorhin ihre rahjagefällige Seelenruhe verloren hatte, als die Sprache auf Adran gekommen war. Jedes Fest sollte Freude bereiten, den Menschen wie der Schönen Göttin. Sollte erfüllt sein von Heiterkeit, Glück und Harmonie.
Stattdessen holten sie die Geister der Vergangenheit wieder ein. Kurz bevor die Drachenreiterin ihr Dorf überfallen hatte, war Ismena zugetragen worden, dass manche Bannstrahler bereits Informationen über die Adeligen der Sichel sammelten. War es wirklich Zufall, dass plötzlich dieser friedwanger Praiosgeweihte mit am Tisch saß? Was suchte der Goldrock hier in Schlotz?
"Euer Gnaden, glaubt mir, was immer man sich über das Haus Oppstein erzählt – das Doppelte davon ist wahr!" Ismena lächelte Praiodîn an, fast ein wenig verführerisch, während sie über ihren Becher linste.
"Nein ernsthaft. Ich bitte euch... Intrigen von vorgestern, so etwas kann einen völlig aus der Seelenruhe bringen, an einem Abend wie diesem. In dieser alten Geschichte gab es genau zwei Schurken: Der eine hieß Gernot von Friedwang. Ein borbaradianischer Verräter, der den armen Deggen zu Weidleth ins offene Messer hat laufen lassen. Der andere Übeltäter war Truchsess Ludeger von Rabenmund, als eigensinniger Bluthund der Fürstin. Ein übler Intrigant, der Beweise gefälscht und Adelige unter Druck gesetzt hat. Auf eine Weise, die man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen kann. Das waren doch Zustände wie in Al´Anfa damals... Ludeger war der siebte Sohn Answins, der später unserer guten Kaiserin Rohaja den Treueid verweigert und stattdessen mit dem Thronräuber paktiert hat. Auf den Silkwiesen bekam er die gerechte Strafe für Treulosigkeit. Alles andere müsstet ihr schon meinen seligen Bruder fragen. Aber Redenhardt ist leider viel zu früh in Borons Hallen eingegangen." Ismena schluckte. "Was er tat, tat er sicher nur für seine Familie... um Schaden von ihr abzuwenden... für alle seine Verwandten." Ein Blick traf ihre Namensvetterin.
Ismena von Baernfarn schluckte, als sie den Blick ihrer Tante auf sich spürte. „Ja, Tante Ismena, vielleicht hat er das. Vielleicht haben beide, Onkel Redenhardt wie auch mein Vater, nur das Beste für ihre Familien gewollt, und wurden tatsächlich gegeneinander ausgespielt. Vielleicht wünsche ich mir das auch nur. Vielleicht würde mir die Erklärung gefallen können, dass mit Ludeger und Gernot zwei erkannte Schurken Schuld tragen. Es würde sicher vieles leichter machen.
Ich war ein Kind, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Vielleicht auch schon vier. Zu klein, natürlich, um zu verstehen, was geschah. Meine erste Erinnerung an damals war, dass plötzlich meine Eltern beide nicht mehr da waren. Ich habe das als Kind nicht verstanden.“ Die Tochter von Deggen und Irmena Darina schluckte erneut, zwang einen Kloß im Hals in die Tiefe ihres Magens. Man sah ihr an, dass sie kämpfen musste, damit ihre Stimme nicht brach.
„Mein Vater, das hat man mir erklärt, war von der Fürstin verbannt worden. Aber wie hätte ich als Kind verstehen können, warum? Für mich war er immer der liebe Papa, der mich abends auf den Arm nahm und durch Burg Gallys trug. Der mir ein Holzschwert geschnitzt hatte, damals. Das muss ein Geburtstagsgeschenk gewesen sein. Aber plötzlich war er nicht mehr da. Plötzlich sollte mein Vater ein Verräter und Verbrecher sein? Wie soll man das mit vier Jahren verstehen?
Dann kamen die Gerüchte auf über das Urteil. Durch Zeugenaussagen zweier Barone, so hieß es in der Beweisaufnahme. Irgendwie hat jeder in Gallys, vom Tagelöhner über den Handwerker bis zum Kaufmann, meinen Onkel als einen dieser `Zeugen` verdächtigt. Da brauchte es keine Beweise. Es reichte, dass Onkel davon profitiert hat, dass er Kanzler des Bundes wurde und später Stadtvogt in Rommilys. Wen interessierten schon Fakten? Wer fragte danach, ob mein Vater wirklich schuldig war? Wer fragte danach, ob mein Onkel tatsächlich meineidig war?“
Ismena sah den Praiosprediger an.
„Niemand interessierte sich für die Fakten. Es reichte, eine Meinung zu haben. Man gehörte der einen oder der anderen Sichtweise an.
Aber auch meine Mutter ist an der Sache zerbrochen. Über Nacht war sie von der allseits geschätzten Baronin für die einen zur Ehefrau eines Verräters und für die anderen zur Schwester eines Meineidigen geworden. Sie… war nun weder eine Baernfarn noch eine Oppstein, jedenfalls fühlte sie sich weder den einen noch den anderen zugehörig.
Dabei hatte es mit ihr und Papa ja gut angefangen. Es war... tatsächlich Liebe, nicht nur eine politische Hochzeit, wie bei Dir, Tante Ismena, mit Junker Golo. Nein, es war eine tatsächliche Liebesheirat. Das hat Mutter mir später erzählt. Aber mit der Verbannung Deggens hatte sich alles geändert. Das Schicksal hatte Mutter den Ehemann und den Liebsten genommen.
Mutter hat die Sache nicht überwunden. Tagelang hatte sie sich eingeschlossen in ihrem Zimmer. Nächtelang hat sie geweint. Mein Zwillingsbruder Redenhardt und ich waren völlig allein. Wie können kleine Kinder auch verstehen, warum Vater und Mutter plötzlich nicht mehr für sie da sind?“
Ismena griff nach ihrem Glas und leerte es in einem Zug, wie um Trauer und Wut, die sie längst vergessen hatte, wieder herunter zu spülen.
„Ja, wenn Gernot und Ludeger die Verantwortlichen sind, dann weiß ich wenigstens, wen ich dafür hassen kann… Verzeiht, das ist jetzt sicher nicht damenhaft. Aber… Nein.“ Ismena hielt inne, blickte abwechselnd zu ihrer Tante, dann zu Glyrana.
„Mutter war danach nicht mehr dieselbe. Sie… hat sich verstoßen gefühlt. Verstoßen und verlassen von beiden Familien, ihrer eigenen ebenso wie von der Familie ihres Mannes. In ihrer Trauer war sie nicht mehr in der Lage, sich um Redenhardt und mich zu kümmern. Ich war zu klein, um es verstehen zu können. Später hat Mutter mir erzählt, dass sie mehrere Götternamen lang fast apathisch vor sich hin gelebt hatte.
Schließlich haben Valyria und Raul uns aufgenommen. Wir sind dann zusammen mit Alrike und Alrik Jodokus, Valyrias Kindern, aufgewachsen. Mutter habe ich danach kaum mehr gesehen. Sie… ich kann es nicht erklären, aber sie hat die Sache nie überwunden, sie war nicht mehr dieselbe. Ach, wie soll ich das sagen. Sie redete mit niemandem, noch nicht einmal mit Redenhardt und mir. Die meiste Zeit war sie in ihrer Kammer in der Burg, ließ sich von der Dienerschaft das Nötigste bringen, nahm anfangs noch nicht einmal an den gemeinsamen Speisen der Familie teil. Erst nach Monaten nahm sie wieder ihr Leben auf, erschien zum Abendessen oder zeigte sich entsprechend ihres Standes als ehemalige Baronin. Aber sie wirkte… teilnahmslos, freudlos. Erledigte ihre Pflichten mechanisch. Korrekt zwar, aber ohne Leidenschaft für die Sache. Es wirkte, als wolle sie weder in Gallys bleiben noch nach Oppstein zurückgehen. So als wäre ihr alles gleichgültig.
Ich weiß nicht, wer diesen sinnlosen Streit zwischen Baernfarn und Oppstein damals angefangen hat. Es ist mir auch egal. Aber an meine Mutter, meinen Bruder und mich hat dabei jedenfalls niemand gedacht. Ja, Hochwürden Praiodin, da hat Eure Kirche mehr als Recht. Sich gegen die reichsgefällige Ordnung ebenso wie gegen die Pflicht zur Wahrheit aufzulehnen, bringt nur Unheil.
Nun, liebe Tante, warum siehst du mich so an? Wie darf ich deinen Blick deuten? Ich habe meinen Onkel nie kennengelernt, wie soll ich also einschätzen, was damals gewesen ist? Meinen Vater habe ich danach zwölf Jahre lang nicht gesehen. Als er als Ritter der Göttin zurück kehrte nach Darpatien war er ein anderer Mensch als ich ihn in Erinnerung hatte. Wie soll ich wissen, welche Fehler er vielleicht Jahre zuvor gemacht hat? Und Mutter Irmena? Habe ich auch fast nicht mehr gesehen, auch wenn sie immer noch auf Beornsried lebt.“ Wieder blickte Ismena in die Runde, als Suche sie Beistand oder Zustimmung, die sie nicht fand.
„Meine Eltern habe ich nur noch einmal gemeinsam gesehen, damals auf der Reise nach Albernia. Immerhin hatten sie es geschafft, für mich als harmonische Eltern aufzutreten, wenigstens für ein paar Wochen während der Brautschau in Havena. Danach sind sie beide wieder ihrer Wege gegangen. Papa nach Gernatsquell zu Valyria, und Mutter nach Beornsried zu Gerhart von Weißentraut.“
Wieder atmete sie kurz aus und ließ ihre Augen unruhig von einem zum anderen wandern.
„Nun, Tante Ismena, was soll ich noch sagen. Ohne diese leidige Intrige damals wären meine Eltern vermutlich heute noch ein liebendes Ehepaar, Deggen wäre jetzt noch Baron in Gallys und ich die gesetzte Thronerbin als seine älteste leibliche Tochter. Gleichzeitig wäre ich die älteste Tochter der ältesten Schwester des Barons von Oppstein und, da dieser keine legitimen Kinder hat, auch dort Thronerbin. Aber das sind unnütze Gedankenspiele. Lasst uns den alten Hader endgültig begraben, der so viel Unheil angerichtet hat.“

Ismena sah ihre Namensschwester ausdruckslos an. “Wie ich schon sagte, der Schurke in dieser Angelegenheit war allein Ludeger. Insofern müssen wir, die wir hier sitzen, keinen Hader begraben und brauchen uns auch nichts vorzuwerfen. Es waren harte Zeiten, für uns alle. Aber der Anstifter des Unheils hat seine gerechte Strafe erhalten, nicht wahr, Euer Gnaden?”
Praiodîn nickte ernst, aber nur, um nicht sofort antworten zu müssen. Ihm schwirrte der Kopf, was nicht nur an seiner Verwundung und dem süßen Schnaps aus Renias Feldflasche lag. Zu viele Namen, zu viele Adelige, die Verräter oder Schurken genannt wurden… Menschen, zu denen das Volk eigentlich voller Ehrfurcht aufschauen sollte. Immerhin, er würde Hochwürden Garafanion einiges erzählen können, bei der Rückkehr.
"Answins siebter Sohn". Alrik lächelte in seinen Metbecher. "In Friedwang heißt es, der siebte Sohn eines siebten Sohnes wird Hexer, Druide oder Schwarzmagier. Leider kann ich zu dieser `alten Geschichte´ nur sehr wenig beisteuern. Allerdings war ich damals in Oppstein dabei, als Adran Redenhardt herausgefordert hat. Während dessen Hochzeitsfeier mit Elissa von Berlinghan. Ein Herz und eine Seele waren die beiden nicht gerade. Da wurden durchaus Schwerter gezückt. Adran ist ja der Sohn von Redenhardts älterem Bruder Wisshard. Der schon zur Zeit der ersten Answin-Tyrannei auf Seite des Usurpators gestanden hat. Seine Mutter war übrigens eine geborene von Mersingen, Glyrana. Eine gewisse Jostarne. Sollen beide im Bürgerkrieg umgekommen sein. Was mich immer gewundert hat, ist, dass die Berlinghâns bei dieser Scharade mitgemacht haben: Redenhardt adoptiert Adran und akzeptiert ihn als Nachfolger, nur wenige Stunden nach seinem Traviabund mit Elissa. Springt man so mit dem Methumiser Herzogenhaus um?"
Der Friedwanger hatte sein Kaninchenschlegel abgekaut und warf den Knochen auf den Teller. "Grundlage des Ganzen war ein Dokument der Fürstin Irmegunde, demzufolge die Thronfolge nach Wisshards Tod auf Redenhardt übergehen sollte. Außerhalb, aber auch unbeschadet der üblichen Erbfolge – die Erben seines Bruders galten da noch als verschollen. Hm, entschieden hat diese Regelung allerdings das Haus Oppstein. Da stellt sich die Frage: Wer dürfte heute im Namen der Familie sprechen, falls die Erbfolge unsicher erscheint? Die Mehrheit vielleicht?"
Ismena von Oppstein schüttelte unwillig den Kopf: “Die Erbfolge in Oppstein erscheint mir nicht unsicher. Das Haus Birkenbruch spielt da auch noch eine gewichtige Rolle. Die Zwercher haben einiges investiert, um Adran vor seinen Feinden zu retten, bei der Oppsteiner Fehde. Rimhold von Birkenbruch ist damals sogar zu Boron gegangen, in der Schlacht um Drachweiler, als Landvogt von Zwerch. Seine Nichte Thahira wird ihren Anteil am Baronsthron nicht ohne weiteres hergeben wollen. Jedenfalls nicht kampflos.”
Alrik schnaubte: “Mein Schwager Corelian hat damals noch versucht, durch Adrans Verhaftung das Schlimmste zu verhindern. Ich selbst habe mir einen Armbrustbolzen eingefangen, in diesem sinnlosen Waffengang…” Auch noch auf der Seite Adrans, dachte der Mondschatten. Nachdem seine Gemahlin Serwa völlig eigenmächtig friedwanger Waffenknechte und -mägde in den Kampf um den Drachenthron geführt hatte. Oder besser gesagt, ins belagerte Drachweiler, zu ihrem geliebten Adran. Er selbst war damals buchstäblich zwischen die Fronten geraten, als er versucht hatte, seine Landeskinder wieder in ihre Heimat zu führen.
“Die Markgräfin wird jedenfalls nicht sehr erbaut sein, wenn der alte Zwist wieder hochkocht. Die Baronien Echsmoos und Immlingen waren ebenfalls in diesen Krieg verwickelt. Es wäre wirklich die Frage, ob man nicht wieder so etwas wie einen Sichelbund ins Leben ruft, um derartige Streitereien zu schlichten. In unserem Sinne, versteht sich...” Der Baron von Friedwang lächelte füchsisch. Dann fiel ihm der Praiosgeweihte wieder ein. “Im Sinne von dauerhafter Ruhe und Ordnung im Sichelhag, wollte ich sagen.”

7. Kapitel

7. Kapitel

 

Haldanas Geheimnis

 

 

Das wütende Summen des Bienenvolkes beruhigte sich etwas. Fast erschien es Haldana, als wären die Immen zufrieden über den Ausgang des Gefechts.

Sie selbst war es auf jeden Fall. Elegant zog sie das Rapier, und musterte ihren verbliebenen Kontrahenten.

Das Gesicht des Schwarzbarts war völlig zerstochen. Der Preis bestand aus vielen gelbschwarzen Bienenkörpern, die zuckend auf dem Boden lagen, wo sie, ihres Stachels beraubt, starben.

Ihr Gegner merkte, dass er entwaffnet worden war, und hob, mit schmerzverzerrten Gesicht, die Hände. Nun, so wie es aussah, konnten sie einen Gefangenen gebrauchen, der, anders als der kläglich wimmernde Ogerbarne, noch reden konnte. Verständlich reden.

"Ergibscht dich?" fragte Haldana, und ließ das Rapier locker ums Handgelenk kreisen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.

Das sah sicherlich beeindruckend aus, war aber nichtsdestotrotz ein Fehler. Eine der Bienenkriegerinnen, die noch um sie herum schwirrten, nahm die schnelle Bewegung als erneuten Angriff war. Sie stach zu, genau auf die Waffenhand, tief und schmerzhaft.

Haldana schrie auf, was wenig lustvoll klang, und ließ das Rapier fallen. Entwaffnet von einer Biene, schoss es noch durch ihren verdutzten Kopf, dann warf sich Schwarzbart auch schon auf sie, mit bloßen Händen: Der Bursche war zäher, als sie gedacht hatte.

Durch die schiere Wucht des Aufpralls wurde die Sichlerin umgeworfen, prallte hart mit dem Kopf ins Gras: ausgerechnet auf die rasierte, wenig geschützte Seite. Einen Moment lang zwinkerte sie benommen. Der Bärtige schloss seine zerstochenen Pranken um ihren Hals und drückte zu, wie ein Lustmörder. Vielleicht war er das sogar.

Haldana röchelte verzweifelt und presste ihre eigenen Finger in Richtung Nase und Auge des Mannes. Luft, sie bekam keine...Luft...sie...brauchte Luft.

Die schiere Panik setzte ungeheure Kräfte in ihr frei. Kratzend und um sich schlagend gelang es ihr, sich aus dem Würgegriff freizukämpfen. Eine Biene kam ihr zu Hilfe, die Schwarzbarts Nase attackierte.

"Verdammtes Miststück" brüllte er, als hätte Haldana ihn gestochen, und drosch ihr seine Faust ins Gesicht. Die Sichlerin merkte den Schlag kaum, sondern schlug zurück. Tastete nach ihrer Klinge. Spürte die vertraute Pommel an ihren Fingern.

"Du rasierte Schlampe, ich schick dich zu Boron, wo du hingehörst!" schimpfte ihr Gegner, buchstäblich angestochen, und warf sich auf sie, einen spitzen Stein in der Hand. "Ich schlag deinen hässlichen Schädel zu Brei!" Zumindest versuchte er es.

Eigentlich hatte Haldana ihr Rapier nur gehoben, um Schwarzbart von einem erneuten Angriff abzuhalten. Allerdings hatte der Narr sich geradewegs in die Klinge geworfen, wie ein maraskanischer Selbstmordattentäter. Verblüfft starrte er auf die Waffe, die tief zwischen seinen Rippen steckte. Er verspritzte reichlich Blut, ließ den Steinbrocken fallen und rollte zur Seite.

Wäre Haldana ein Medicus gewesen, hätte ihr das matte Zucken der Beine überhaupt nicht gefallen. So aber konnte sie zufrieden sein mit ihrem Werk.

Bienen brummten umher, verwirrt vom Blutgeruch.

Haldana fühlte sich schummrig. Ihre Nase blutete. Das Dröhnen in ihrem Hinterkopf wurde eher stärker als schwächer, die Welt verschwamm vor ihren Augen.

 

Diese große Biene, warum schwirrte sie ständig um ihre Nase? Erst jetzt merkte sie, dass es eine Art Senkblei war, das vor ihrem Gesichtsfeld kreiste. Ein Pendel?! Nein. Ein kleiner, rötlicher Stein, der an einer Lederschnur festgebunden war.

Süßer, schwerer Duft drang an ihre Nase, der kein Blutgeruch war. Der betörende Duft nach Parfüm? Nein, eher nach Wachs.

Haldana runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. Eine himmelblauer Robenärmel, gesäumt mit goldfarbenen Ornamenten.

Ein zeitlos schönes, ockerbraunes, etwas pummeliges Gesicht. Dunkle, schmale Augen. Tiefschwarze Zöpfe, deren Flechtart Haldana ein wenig an die Bienenkörbe erinnerte. Dazwischen ein kahlrasierter Schädel.

Wie aus weiter Ferne erklang eine Stimme, murmelte etwas in einer Sprache, die fremdartig klang und doch vertraut. Der kehlige, leise Singsang erinnerte tatsächlich an Schwarzsychlerisch.

Die Szenerie war...unwirklich. Haldana fröstelte. Irgendwie war ihr kalt.

Tatsächlich, als sie austatmete, hauchte sie ein kühles Dampfwölkchen in die Frühlingsluft über Helbers Hof.

Die kniende Frau lehnte sich etwas zurück, im Schneidersitz, sprach weiter in ihrer merkwürdigen Zunge, die südländisch klang. Irgendwie glänzte sie merkwürdig, der ganze Körper, Haut wie Haare. Wachs, das war Wachs. Die Unbekannte sah aus, als wäre sie aus dem Wachsfigurenkabinett in Havena ausgebrochen (auch wenn Haldana diese Kuriosität nur vom Hörensagen kannte). Vor allem roch sie nach Bienenwachs. Nicht unangenehm, aber doch...ungewöhnlich. "Gewachst" - so hatte Haldanas Großmutter die Mädchen in ihrem Dorf bezeichnet, die sich allzu sehr schminkten und herausputzten. Diese Frau sah aus, als hätte sie geradezu in Wachs gebadet.

Haldana setzte sich auf. Sie atmete jetzt stoßweise, wobei immer wieder kühler Dampf zwischen ihren Lippen hervordrang. Ihre Zähne klapperten.

Hatte sie Fieber? War das hier gerade eine Halluzination? Nein, dort stand noch immer das Bauernhaus, die Bienen schwirrten lautstark umher. Dort drüben lag der niedergeschlagene Tuvok, und der zerstochene Ogerbarne. Auch der tote Schwarzbart lag, fein säuberlich durchbohrt, auf seinem Platz.

"Mir ist kalt, mir ist kalt" flüsterte eine Frauenstimme. Einen Moment lang dachte sie, sie selbst hätte das gesagt.

Dann sah sie die brünette Frau in erdfarbener Tunika, die die Kapuze ihrer Gugel in den Nacken geschoben hatte. Ihr Gesicht war totenbleich. Auf ihrer Stirn prangte eine blutverkrustete Wunde.

"Hallo, Hallo." Ihre Augen irrten umher. "Ich muss zurück zur Baustelle. Wo geht es hier zur Mauer? Ich bin nicht verletzt, ich kann weiterarbeiten. Is nur ein Kratzer..."

Nun sah sie in Haldanas Richtung. Zitterte und schlang sich die Arme um den Körper.

"Mir ischd auch kaald" nickte Haldana. "Wer bischd du? Ainä Patientinn vom Doctorr?"

Die zweite Unbekannte stutzte für einen Moment. Sie schien freudig erstaunt zu sein.

"Du verstehst mich? Du kannst mich hören? Na endlich... Das ist ja wunderbar..."

Die Frau in der Tunika machte einen Schritt auf Haldana zu. Es war, als wehte ein kühler Lufthauch heran. War die Fremde es, die diesen Eishauch verbreitete? Fast kam es ihr so vor.

"Ich muss zurück nach Rommilys. So ein saudummer Unfall. Ich sag noch zum Polier, das Gerüst ist aber arg wacklig. Dann bricht schon alles zusammen. Und dann kommt auch noch der Hammer hinterher. Wenn der mich getroffen hätte. Tot könnte ich sein...hab wirklich Glück gehabt."

"Wie heisisch du?", fragte Haldana. Als sie merkte, dass sie nicht verstanden wurde, wechselte sie auf Hochgarethi:

"Wie ist dein Name?"

"Mia. Mia Herdlieb. Und du? Bist du aus Rommilys?"

"Aus der Sichel...Min Nama isch...Mein Name ist Haldana...Gehört sie zu dir?"

Die Sichlerin wies auf die "Wachspuppe", die sie beide neugierig zu mustern schien, mit freundlichem Lächeln und wachsglänzendem Gesicht.

Sie sagte wieder etwas, in ihrer Sprache.

"Das ist Nasdja. Oder Sybilla. Weiß nicht, wie sie genau heißt...Ich glaub, die ist nicht ganz richtig im Kopf."

Die Frau namens "Nasdja" sagte wieder etwas, leicht ungehalten.

"Moment, du verstehst kein Sichlerisch, Mia? Aber das Kauderwelsch da schon?"

Mia Herdlieb nickte: "Komm aus Aranierberg. Bin quasi auf dem Tulamiden-Basar aufgewachsen..."

"Das ist...Tulamidensprache?"

"Naja, sowas ähnliches, glaube ich. Ein paar Brocken verstehe ich. Ich glaube, sie sagt, sie ist deine Großmutter..."

"Meine Großmutter?!" Einen Moment lang war Haldana völlig verwirrt. Natürlich, der Sturz auf den Hinterkopf...der Fausthieb...vielleicht sogar die Bienenstiche...offenbar war ihr Gehirn völlig durcheinander.

"Ich kenne meine Großmutter...sie hätte sich niemals so...gewachst...alle beide hätten das nicht."

Mia tippte sich an ihren Haarschopf, über der blutigen Wunde: "Vielleicht liegt es ja an deiner Frisur?"

Die stämmige, blasse Maurerin versuchte ein Lächeln, das irgendwie frostig wirkte. Zumindest unterkühlt.

"Du bist verletzt...?" Haldana stand mit wackeligen Beinen auf, schwankte. Das hätte sie sich genauso selbst fragen können. Sie tastete nach der kahlen Hälfte ihres Schädels. Tatsächlich, dort wölbte sich eine ordentliche Beule. Sie musste sich auch um Tuvok kümmern.

"Lass gut sein. Ich hatte Glück im Unglück, dem Heiligen Timorn sei Dank. Dem Krach nach ist das ganze Gerüst ist auf mich drauf gefallen. Muss regelrecht verschüttet gewesen sein...konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Es war schon dunkel, als sie mich ausgegraben haben."

"Ausgegraben?" Irgendwie gefiel Haldana dieses Wort nicht. Ihre vermeintliche "Großmutter" sagte wieder etwas.

"Was sagt sie?"

"Ich verstehe sie nicht" sagte Mia Herdlieb, mit bebenden Lippen. "Kalt, mir ist so fürchterlich kalt...ich muss zurück zur Mauer. Die anderen warten sicher schon. Ist ja nur ein Kratzer. Hab wirklich unglaubliches Glück gehabt...All die Götterläufe keinen Unfall, und dann das...und ich sag noch zu Perainfried, das Gerüst steht irgendwie schief..."

Wieder der kehlige Singsang von Sibylla, Nasdja, oder wie die Kahlschädelige hieß.

"Was sagt sie?" wiederholte Haldana.

"Ich verstehe auch nicht so ganz, was sie meint. Oder wen von uns beiden..."

"Frag sie doch mal, wo sie herkommt"

In holprigen Worten versuchte Mia einen Satz zu bilden...oder besser gesagt einzelne Brocken aneinanderzureihen, die Tulamidisch klangen.

"Sie sagt wieder, sie wäre deine...ich glaube, das Wort heißt Großmutter, aber ich bin mir nicht sicher...irgendwas von vielen Jahren...etwas in der vergangenen Zeit?"

Nasjda nickte, deute erst auf sich und dann auf Haldana: "Mischpacha"

Mia zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit. Irgendeine alte Frau, die ihren Verstand schon lange an Hesinde abgegeben hat. Vielleicht ist sie ja eine von diesen Zahoris? Wir sollten aufpassen, dass sie uns nicht beklaut. Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit...sonst kürzt mir Perainfried den Lohn."

Nasdja-Sybilla schüttelte den Kopf. Wieder "tulamidische" Worte.

"Marb, Marb" Mia wiederholte eines der Worte und schien noch etwas mehr zu erbleichen. "Sie ist wirklich völlig verrückt... marb... nein sowas."

"Was heißt das - marb?"

"Ach, nur Unsinn. Sie behauptet, die ganze Zeit, ich wäre tot...Völlig verrückt, die Alte... richtig unheimlich. Komm, wir verschwinden."

Haldana erstarrte, was nicht an Mias Worten lag. Jedenfalls nicht nur. Vor ihr stand der Schwarzbärtige, ebenfalls totenbleich...mit einer großen roten Einstichwunde im Wanst. Das hätte die Sichlerin noch nicht einmal besonders erschreckt (ein verdammt zäher Bursche war der Kerl schon).

Was sie wirklich beunruhigte, dass seine Leiche noch immer einige Schritt neben ihm lag, in einer großen, roten Blutlache.

"Verdammtes Miststück!" brüllte der Schwarzbart, mit merkwürdig verzerrter, hallender Stimme. "Ich bring dich um!"

Mit zombiehaft erhobenen Händen stürmte der Würger auf sie zu, als hätte er nicht gerade mehrere Spann besten Klingenstahls geschluckt.

"Lass sie in Ruhe!" rief Mia.

Haldana empfing den Angreifer mit einem kräftigen Hieb. Das Rapier flirrte einfach durch ihn hindurch, wie durch dünnen Nebel.

Er selbst huschte durch sie hindurch, als eiskalter Nachtwind.

Die Sichlerin begriff, in einem einzigen Moment des Grauens. Marb.

Ich sehe tote Menschen.

Mit einem Seufzen fiel sie in gnädige Ohnmacht.

 

Alriks Rapier zuckte vor und glitt genau in den Schlüsselring. Das Frettchengesicht wollte danach grapschen, aber der Friedwanger verbot es ihm mit einer Fingerbewegung. Dann nahm er den Schlüsselbund an sich, der an der Klingenspitze klimperte.

"Soso, Meister Alfengrund hat euch also erlaubt, sich während seiner Abwesenheit um sein Haus zu kümmern?" Alrik rümpfte die Nase, was auch an dem leicht süßlichen Geruch lag, denn das "Frettchen" verströmte. Dessen Schuhe waren völlig verdreckt, wie er nun bemerkte. "Sehr vertrauensvoll von ihm..."

"Irgendjemand muss doch nach den Hunden sehen", sagte sein Gefangener, unterwürfig und falschzüngig zugleich, mit der ständigen "Unschuldsmiene" eines typischen kleinen Gauners.

Alrik hielt mit der Linken den Schlüssel hoch: "Das sieht mir eher nach einem Satz Dietriche aus. Und noch nicht einmal nach einem besonders Guten."

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jodokus und Rovik den vierten Gegner überwältigten und an einen der Deckenbalken fesselten.

Die gute Stube des Bauernhauses war bei der kleinen, aber lautstarken Rauferei ziemlich in Unordnung geraten. Stühle und Tische waren umgefallen, auch eine Flasche Branntwein zersplittert. An den Wänden hingen Kräuterbündel. Hesindian hatte einen weiteren Hund im Sprung erstarren lassen und stellte ihn nun beiläufig auf eine Kommode. Dank einer brennenden Laterne an einem Wandhaken und der halboffenen Tür war es einigermaßen hell. Münzen glänzten auf dem Boden.

"Ich hab ja nicht gesagt, dass das die Hausschlüssel sind": Das Frettchen zuckte mit den Schultern.

Draußen vor der Tür schien es hoch her zu gehen, mit Hundegebell und Geschrei. Zum Glück waren es nicht Tuvok und Haldana, die da schrien.

Nun ja, zumindest hoffte Alrik das. Das wütende Gesumme klang nach Bienen. Natürlich, Haldana, die Imkerin, hatte zu einer Geheimwaffe gegriffen?!

"Soll ich mal rausschauen?" fragte Jodokus besorgt.

"Schau dich erst mal hier drinnen um - sicher ist sicher."

Der Baernfarn nahm die Laterne und ging in die Nebenzimmer.

"Was soll das?" schimpfte der Andere, ein lockenköpfiger Mann, den der Zwerg nun auch noch die Füße an den Balken band (Schnüre waren dank der Kräuterbüschel reichlich vorhanden). Das Auffallendste an seinem Gesicht war die spitze Nase. "Das ist Traviafrevel, den ihr da begeht. Einbruch und Traviafriedensbruch. Wer seid Ihr?"

"Sagen wir, wir wollten auch nur mal kurz nach dem Rechten sehen." Mit dem Fuß schob der Friedwanger die Ochsenzunge zur Seite, die er dem Frettchen gerade abgenommen hatte. "Ich darf die Frage also zurückgeben. Wer seid I h r ?"

"Mein...mein Name ist Willbur Herk. Ich bin der Gehilfe von Doctor Alfengrund. Der Herr Medicus wird wahrlich nicht erfreut sein, wenn er zurückkehrt. Das wird Konsequenzen haben, Herr, äh...?"

Alrik ignorierte die Frage. "Ganz sicher wird das Konsequenzen haben. Fragt sich nur für wen. Ist sonst noch jemand im Haus?"

Jodokus übernahm die Antwort. "Scheint sauber zu sein."

"Sagt an, werter Herr, äh, Herk?" Alrik linste zur Seite. "Wie kann es sein, dass ich vor kurzem schon mal hier war, Ihr aber nicht?"

"Ich wüsste nicht, warum ich diese Frage irgendwelchen... dahergelaufenen... Strolchen beantworten müsste..."

"Ihr sollt sie ja auch nicht Euren Schlagetots beantworten, sondern uns."

"Glaubt mir, wir handeln im offiziellen Auftrag" Jodokus baute sich etwas auf, um die "Spitzmaus" einzuschüchtern. "Von ganz oben..."

Hesindian, der Magus, ließ seinen Zauberstab aufflammen und hielt die brausende Flamme direkt vors Gesicht des Gefangenen. Dann zeigte er ihm das Gildensiegel auf seiner Handfläche und kniff ein Auge zu. "Sagt Euch der Name Informationsinstitut etwas?"

"Informationsinstitut?" Neben dem Fackellicht spiegelte sich Furcht in den Augen Wilburs.

"Ganz Recht."

"Was wollt Ihr von mir?"

"Wie wärs mit - Informationen??! Und erzählt mir nicht, dass Eure Putztruppe zum Staubwischen und Blumengießen vorbeigekommen ist..."

"Nun, wie Roderick, ein weiterer Gehilfe des Herrn Alfengrund, schon sagte." Wilbur Herk reckte das Kinn vor und blickte zum Frettchen. "Sie sind jeden Tag hier, um nach dem Rechten zu sehen, und die Wehrheimer Doggen zu versorgen, die das Haus bewachen. Ich selber wohne im Dachboden, bin tagsüber aber meist im Spital oder bei Patienten...jedenfalls in der Stadt unterwegs. Das Haus liegt nun einmal außerhalb der Stadt, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Zumal in diesen Zeiten."

 

Jodokus ging auch noch die Treppe nach oben hinauf, mit erhobener Lampe, die rechte Hand an der Klinge. Sicher war sicher.

"Hier oben ist auch niemand" hörte Alrik seine gedämpfte Stimme. "Glaube ich. Ah, ist das dunkel hier". Den Geräuschen nach wurde ein Fensterladen entriegelt.

"Auf der anderen Seite steht ein Fuhrwerk, mit angeschirrten Pferden. Vor der Scheune...

 

Hesindian schob mit den Füßen die Münzen auf dem Boden zusammen. "Soll das die Entlohnung für Eure Hausmädchen sein?"

Rovik sammelte die Dukaten und Silbertaler zusammen, durchaus etwas gierig: "Mal nachzählen", brummte er. Eine der Taler glitt ihm aus der Hand, blieb in einer Spalte zwischen den Holzbohlen auf dem Boden stecken. Der Hügelzwerg fischte ihn wieder heraus und rümpfte für einen Moment die große Zwergennase. Mit der Axt klopfte er auf den Boden. Es klang hohl. Rovik zückte ein Messer und hob das Brett etwas an. Im Nu stellte sich heraus, dass es wirklich nur dünne Bretter waren, die auf einer Holzluke lagen und sie verdeckten. Der Tisch hatte offenbar darüber gestanden.

Gute Handwerksarbeit, musste der Sohn des Vulkanus zugeben. Die exakt eingepassten, gleichfarbigen Bretter waren von den umliegenden Bohlen kaum zu unterscheiden: Außer wenn man sie "bodennah" untersuchte, so wie er es gerade tat. Das Schummerlicht störte ihn nicht, seine Augen waren Halbdunkel gewohnt. An der Luke war eine kräftige Schnur befestigt, an der er nun zog. Ächzend öffnete sich die Falltür - und gab den Blick auf eine Holztreppe frei.

Der Gehilfe seufzte: "Entweder Ihr sagt mir jetzt, wer Ihr seid, und wer Euch geschickt hat. Wer euch wirklich geschickt hat. Oder ich sage kein Wort mehr."

"Alrik, mein Name ist Alrik". Der Baron packte das Frettchen und schob ihn in Richtung Balken. "Wo ist eigentlich Doktor Alfengrund?"

"Das geht Euch nichts an" schimpfte Wilbur Herk.

"Haben wir noch Seil?" Erst jetzt sah Alrik, dass der Zwerg etwas entdeckt hatte. "Ein Geheimversteck?"

Der Zwerg nickte und war nun ganz in seinem Element.

 

"Ich werd hier oben auf die Gefangenen aufpassen" sagte Jodokus, der vom Dachboden zurückgekehrt war.

Hesindian ging nach unten, mit Flammenstab. Nach einigen wenigen Stufen standen er, der Zwerg und Alrik in einem Gewölbekeller. Es roch muffig, nach Branntwein - und unangenehm süßlich. Auf einem Kandelaber staken einige Kerzen. Der Magus zündete sie an. Langsam kam Licht ins Dunkel.

Ein großer Tisch. Ein Eimer. Ein kleiner Tisch, auf dem allerhand Klingen, Sägen und dergleichen standen. Regale mit einer Art von Einmachgläsern. Es waren Präparate, die darin in gelblicher Flüssigkeit schwammen: Herzen, Leber, Lungen, Hände, eine Art Riesenwalnuss (ah, ein Gehirn) und sogar ein winziger Säugling - sogar mit Nabelschnur. Hesindian verzog angewidert das Gesicht. "Allweise Herrin, steh uns bei"

"Bei Angrosch" brummte Rovik. "Wer tut so was?"

Alrik nickte: "Ein Anatom. Ganz nette Sammlung, die Alfengrund hier angelegt hat."

"Das...das ist Frevel..." Der Magier blickte kopfschüttelnd in ein einzelnes Auge, das ihm aus einem der "Einmachgläser" anstarrte. "Geradezu niederhöllisch."

"Du bist der wissensdurstige Hesindejünger, nicht ich", sagte Alrik und sah auf den Tisch. Er wollte gar nicht wissen, wie die dunklen Flecken auf der Steinplatte (oder auf dem gestampften Lehmboden) zustande gekommen war. "Jedenfalls gut, dass hier ab und zu jemand zum Saubermachen vorbeikommt."

"Was ist denn das?" Rovik hob seine Axt.

Der Baron zuckte kurz zusammen, als er das Skelett sah, das in der Ecke stand. Und zum Glück stehen blieb. Den Spinnweben nach zu urteilen hatte es sich schon länger nicht mehr bewegt.

Da hatte er schon ganz andere Klappergestalten kennen gelernt...Alriks Knie zitterten dennoch. Trotz seiner kaltschnäuzigen Worte waren auch seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Zeichnungen hingen an der Wand, die keinen Zweifel daran ließen, woran Alfengrund hier unten forschte: Der menschliche Körper, ausgeweidet, gehäutet, durchschnitten, in sämtlichen denkbaren und undenkbaren Variationen. An einem Haken hing die lederne Storchenmaske, die der Baron bereits kannte, sowie eine große, fleckige Lederschürze.

Im Regal daneben fanden sich Schriftrollen und allerhand Büchlein, in die der Anatom Notizen eingetragen oder einzelne Zettel eingefügt hatte: Es ging um Kräuter- und Heilkunde, ein wenig Alchimie und wieder anatomische Zeichnungen, natürlich...ganz hübsch gezeichnet, aber boronsgefällig wirkte das alles nicht. Bishdarielon, sein dunkler Bruder, wäre hier unten durchgedreht, zwischen all der düsteren Pracht, die eines Nekromanten würdig gewesen wäre.

Drei echte Bücher fanden sich auch, neben Schriftrollen: "Wider Boron und Satinav" eines gewissen Hagen von Gunnar, der sich mit der Kunst der Präparation, Mumifizierung und Sezierung beschäftigte, ein tulamidisches Buch über die Heilkunst (mit vielen bunten Bildern), sowie ein Folianth der Kräuterkunde, in einer weniger wertvollen Abschrift.

Hesindian ging fassungslos in der Gruft umher (wie Alrik das sinistre Gewölbe für sich bereits nannte).

Rovik hatte schon wieder etwas entdeckt. Deutliche sichtbare Fußspuren führten in einen Seitengang, mit Fackelhaltern an der Wand. Mit einer Kerze folgte der Angroscho dem Tunnel.

Dem Friedwanger interessierte mehr der Verlauf der Fährte in der anderen Richtung. Tatsächlich, die Fußstapfen befanden sich im gesamten Gewölbekeller. Von dort aus ging die Fährte zu einem weiteren Durchgang, der lediglich mit einem Vorhang verdeckt war. Alrik nahm sich eine einzelne Kerze (sein Hofmagier war gerade an einem großen Schrank zugange) und trat ein.

Eine große Holzkiste stand auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, sondern auf großen Eisblöcken, die den etwas tiefer gelegten Kellerboden bedeckten. Um ein Haar wäre Alrik ausgerutscht. Auch an den Wänden stapelte sich Firuns Element - und glitzerte überderisch im Kerzenlicht. Oder gespenstisch. Mit einem Stoßgebet an den "Unfassbaren Schleicher" schlitterte der Friedwanger auf die Kiste zu. Unter seinen Füßen war das Eis ziemlich schmutzig, und auch der Sarg dreckverschmiert (dass es sich um einen solchen handelte, daran zweifelte der Mondschatten nicht mehr, schon allein aufgrund des zartsüßlichen, modrigen, erdigen Geruchs).

Einen Moment lang kämpfte Alrik mit seiner Totenangst und schlichtem Ekel. Schemenhafte Bilder flackerten vor seinem inneren Augen. Klauenhände, die sich durchs Erdreich wühlten. Von unten. Wandelnde, schlurfende Tote. Menschliche Leiber, in jeder Phase der Zersetzung, stöhnend, ächzend, wankend.

Der Baron schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerungen. Wahrlich, er hatte schon in Schlachten gekämpft, in denen Dutzende halb verwester Leichen auf ihn zu gestapft waren. Gerade deswegen wusste er normale Verstorbene zu schätzen. Wer einen Toten auf Eis legte, war vermutlich kein Totenbeschwörer.

Dennoch stellte er die Kerze ab und hielt sein Rapier griffbereit, als er den Sarg öffnete (immerhin stand da draußen das Unheiligtum einer Erzdämonin). Der schien aufgebrochen worden zu sein: von außen, was schon mal gegen einen allzu lebendigen Inhalt sprach.

Der Friedwanger klappte die Kiste auf. Der zarte Verwesungsgeruch war erträglich, ebenso der Anblick. Eine brünette, totenblasse Frau mit blutverkrusteter Stirnwunde, Allerweltstunika und Gugel. Kräftig, etwas untersetzt. Weder hübsch, noch hässlich. Einfach nur tot, und schon ziemlich steif und aufgedunsen. Die Augen hatte sie geschlossen, der Mund war nur leicht geöffnet. Die Tote wirkte irgendwie überrascht, das war alles. Lange war sie noch nicht verblichen, höchstens ein paar Tage. Die paar welken Blumen, die man ihr in die geschwollenen Hände gedrückt hatte, waren noch als Gänseblümchen zu erkennen.

Der Abscheu, den er empfunden hatte, wich Mitleid. Alrik war alles andere als ein Moralist - aber die Störung der Totenruhe war nun wahrlich kein Kavaliersdelikt. Der Geweihte schlug das Boronsrad. Natürlich, dass da oben waren Leichendiebe, die Doctor Alfengrund Nachschub geliefert hatten.

"Alrik, das solltest du dir ansehen" hörte er Hesindians Stimme aus der Gruft. Der Baron war froh, den Sargdeckel wieder schließen zu dürfen. Vorsichtig verließ er die eisige, rutschige Grabkammer.

Rovik kam gerade aus dem Tunnel zurück. "Führt rüber in die Scheune" sagte der Zwerg und klang etwas enttäuscht

"Schaut euch das an!"

Der Magier hatte den großen Bauernschrank geöffnet und gab den Blick auf den Inhalt frei. Eine Gestalt kauerte im Schrankinneren, nicht unähnlich den Präparaten in den Regalen. Allerdings schwamm sie nicht in Gebrannten, sondern duftete zart nach Honig. Nein, eigentlich nach Wachs.

Die Frauenmumie mit den Überresten schwarzer Zöpfe saß in einer Art Meditationshaltung da, im Schneidersitz, und war schon ziemlich verschrumpelt. Der Kopf war kahl, das gelbliche Gesicht eingefallen, ihr Gewand zerschlissen und verwittert. Es schien mal eine bläuliche Färbung gehabt zu haben. In den Händen hielt sie ein rötliches Steinchen, dass an einer grauen Lederschnur hing, die um die klauenähnlichen, verdorrten Finger gewickelt war. Ein Stück der Nase war abgebrochen.

"Bei der Süßen scheint der Honigmond schon etwas länger vorüber zu sein", hörte Alrik sich sagen. Vorsichtshalber legte er die Hand auf das Rapier. Aber auch diese Verstorbene wirkte völlig friedlich - abgesehen davon, dass sie schon weitaus länger das Zeitliche gesegnet zu haben schien als ihre Nachbarin in der Kiste.

"Eine norbardische Zibilja", flüsterte Hesindian, durchaus fasziniert. "Vielleicht sogar eine alte Alhanierin. Die haben in der Zeit vor Bosparans Fall auch am Ochsenwasser gelebt. Erstaunlich gut erhalten...nur die Nase ist ein bisschen lädiert."

"Das Leichengeschnibbel verstehe ich ja noch irgendwie. Aber was will ein Medicus mit einer...einer kandierten Norbardin im Schrank?" Alrik schüttelte den Kopf, während Rovik große Augen machte.

"Eine Wachsmumie...die Norbarden konservieren so ihre Toten, wenn die Sippe auf Wanderschaft ist. Und keine Möglichkeit hat, sie in einem Hügelgrab beizusetzen. Wir sollten ein bisschen aufpassen: Al´Hani-Mumien haben manchmal ein Eigenleben. Bislang war der Schrank abgesperrt."

"Die soll nur mal zucken" brummte der Zwerg und klopfte auf seine Axt.

"Drüben liegt noch eine Tote. Aber die sieht etwas frischer aus. Sicher, dass die Norbarden die gute Frau hier in Honig eingelegt haben...und nicht unser feiner Doctor mit seiner Vorliebe für Bienen?"

"Wie du schon sagtest. Diese Mumie muss Jahrhunderte alt sein, oder noch älter. Vielleicht wollte Korwid an ihr alhanische Konservierungstechniken studieren. Oder sie zu Mumia Vera pulverisieren...In seinem Peraineeifer ist er zuletzt jedenfalls ziemlich weit gegangen. Gelehrte wie er sind die klassischen Kandidaten für erzdämonische Einflüsterungen..."

"Mumia Vera?"

"Mumienpulver...hilft angeblich gegen alles Mögliche. Wegen den magischen Ingredienzen, mit denen die alten Tulamiden ihre Mumien...naja...haltbar gemacht haben. Was Satinavs Hörnern widersteht, verzögert auch die Alterung der Lebenden."

"Da bevorzuge ich doch lieber Gallyser Ogermeth."

Ein greller Aufschrei von oben ließ das Trio zusammenzucken: "Haldana! Um Firuns Willen!"

Das war Jodokus.

 

"Ah, endlich bist Du wach"

Haldana zwinkerte und erahnte eine schemenhafte Gestalt neben sich. Natürlich, der Schwarzbart hatte sie niedergeschlagen, und sie erwachte erst jetzt aus ihrer Ohnmacht. Sie hatte wirklich seltsame Halluzinationen gehabt.

Merkwürdig nur, dass sie stand. Neben Nasdja oder Sybilla, die ziemlich klein und untersetzt war, wie sie nun bemerkte.

Entsetzt starrte sie auf ihren Körper, der bleich und regungslos auf dem Boden lag, wie schlafend. Oder tot.

Marb. Das klang schon nach Marbo.

Sie starrte auf ihre Hände, die irgendwie...unstofflich wirkten. Zart und durchscheinend.

"Entschuldige, Kindchen, aber das erleichtert unsere Verständigung ungemein", plauderte die "Wachsfrau" los, mit angenehmer, aber irgendwie seltsamer Stimme. Sprach sie wirklich? Auf merkwürdige Weise konnte Haldana keine Worte, geschweige denn Sprache, wahrnehmen - und verstand doch, was "ihre Großmutter" von ihr wollte.

Sie fühlte sich leicht und luftig, während die Welt um sie herum merkwürdig entrückt wirkte.

Das Summen und Brummen der Bienen war intensiver als zuletzt, fast schon eine Brücke in die Welt der Lebenden. Alles um sie herum wirkte grau, fahl, schemenhaft, unfassbar, in eine Art ewiges Zwielicht getaucht.

"Bin ich tot?" fragte sie in Richtung ihrer Begleiterin. Ihr momentanes Dasein fühlte sich unwirklich an, aber keinesfalls unangenehm. Sie war wie berauscht, schlafwandelnd oder in einem Traum gefangen. Sumus Schwere war vollkommen von ihr abgefallen. Da war nur eine Ahnung, dass es irgendwo um sie herum noch etwas Anderes gab. Eine noch leichtere, hellere, unbeschwertere Welt, die ihr einstweilen verwehrt war.

"Bin ich tot?" wiederholte sie ihre Frage, mit irritiertem Blick auf die leere Hülle, die ihr Körper sein sollte.

Da war noch etwas in der Nähe. Etwas ungemein Beunruhigendes, Alptraumhaftes, was sie nicht wahrhaben wollte. Geschweige denn sehen.

"Tot? Nein. Jedenfalls nicht besonders". Die Frau winkte ab. "Im Vergleich zu den beiden da."

Tatsächlich, dort drüben standen Schwarzbart und Mia, und gestikulierten wild herum.

"Tot, ich bin tot" rief der Gassenstrolch und raufte sich die immateriellen Haare, mit Blick auf seine Leiche.

"Das Miststück hat mich umgebracht. Einfach abgestochen..wie ein Tier. Das war kein rondrianischer Kampf. Stein gegen Schwert...pfui, wie unfair."

"Ich muss wieder an die Stadtmauer" sagte Mia, die kräftigen Arme in die Seite gestemmt. "Ich bin ja wohl nicht gestorben. Keine Leiche. Also nicht tot. Ganz einfach."

"Moment, moment", sagte Haldana. "Da komme ich jetzt nicht so ganz mit. Warum hat sich Mia vorhin mit dir auf Tulamidisch unterhalten, wenn sie doch...marb ist? Während wir uns auch so verstehen..."

"Alhanisch. Das war Alhanisch" sagte Nasdja. "Nun. Der Grund warst Du. Für einen Geist ist es ein bisschen schwer, sich gleichzeitig mit einer Geisterseherin und einem anderen Geist zu unterhalten. Das stört den Einklang der Seelen. Deswegen musste ich dich zu uns auf die andere Seite holen. Um ehrlich zu sein: Ich habe einst auch eure Sprache gesprochen. Nur wollte ich erst einmal zuhören."

"Moment. Ich verstehe gerade nur Beilunker Reiter-Station. Bin ich gerade gestorben? Ich meine...warum sollte ich gestorben sein? Vor Schreck ganz bestimmt nicht."

In diesem Moment hatte der Schwarzbärtige sie entdeckt. "Hervorragend, ich habe mich gerächt...wenn ich schon in die Niederhöllen fahre, dann wenigstens nicht allein...Haha...das Miststück habe ich wenigstens noch mitgenommen."

"Halt einfach den Mund!" Nasdja hob ihr Pendel und ließ es kreiseln. Das schien den Wüterich irgendwie zu beeindrucken. Zumindest war er nun wirklich still.

"Das heißt, wir beide sind gar nicht tot, Haldana und ich?" Mia begann freudig zu lächeln. "Wusste ich es doch."

Nasdja seufzte. "Ich weiß nicht, was dein Eindruck von Geistern ist, Haldana… aber auf dieser Seite sind sie noch schrecklicher."

"Wer bist du?"

"Nasdja Persanzeff. Eine norbardische Wissende. Bei meinem Volk nennt man unsereins Zibiljas."

"Ah" sagte Haldana, ohne wirklich zu verstehen.

"Eine Zauberin. Ich bin es gewohnt, mich ohne diesen lästigen Ballast da fortzubewegen" Sie wies auf die toten Körper. "Das war ich schon zu Lebzeiten. Ich muss sagen, du bist erstaunlich gefasst. Andere reagieren auf die... Trennung anders. Wahrlich, du bist eine würdige Enkelin. Naja, Urenkelin...Ururur...ach, vergiss es...Zeit wird gemeinhin überschätzt." Die Norbardin winkte ab. "Der Fluss der Zeit ist ein ewiger Kreis, weißt Du, keine Linie, die irgendwann abbricht. Die meisten Sterblichen verstehen das nicht."

"Ich bin...Moment... ich verstehe schon das andere nicht. Das mit der Ururur… Ich soll eine Nachkommin von dir sein?"

Die Zibilja tippte auf ihren kahlen Schädel. "Höre in der Welt der Lebenden ruhig auf die Stimme deines Verstandes. Aber niemals zu sehr. Wenn du auf das Flüstern deines Blutes lauscht, was hörst du da? Du hast ein Gespür für Bienen, die heiligen Tiere der Mokoscha. Du trägst dein Haar wie ich. Naja, fast. Und du liebst Musik, so wie wir den Klang der Tamburka lieben, der Darabutschka und des Scharanko. Und du reist mit einem Jäger umher, in dessen Adern nivesisches Blut fließt. Wahrlich, dir hätte ein Platz in unserem Seffer Manech gebührt."

"Pfefferwas?"

"Unser Sippenbuch."

"Warum sehe ich plötzlich Gespenster?"

"Die Herrin Hesinde möge mir verzeihen. Aber manchmal hindert uns ein Übermaß an Klugheit und Vernunft daran, all die Dinge um uns herum so zu sehen, wie sie wirklich sind. Zumindest mehr zu sehen als andere. Manchmal braucht es einen kleinen Schlag auf den Kopf, um hinter den Vorhang des Verstandes zu blicken. Oder ein paar kleine Bienenstiche, je nachdem..."

"Irgendwie ist das für mich alles ein bisschen zu viel. Ich würde gerne wieder in meinen Körper zurückkehren, bevor mich die anderen für tot halten."

"Ach, halb so wild. Ich war damals auch völlig durcheinander, als sich meine Vorfahrin offenbart hat. Unsere gemeinsame Ahnin. Im Traum war das, als wir im Sommerlager am Ysli-See schliefen. Eine Barnfarnja, die in einem Hügelgrab zu Füßen der Berge beigesetzt ist, die du deine Heimat nennst. Ihr letzte Ruhestätte wurde geschändet, von Grabräubern. Sie haben eine Schriftrolle gestohlen, mit uraltem Wissen, das keinem Unberufenen in die Hände fallen darf. Mokoscha, unsere Göttin der Bienen, hat eine dunkle Schwester, die Angst, Sieche und Plage über die Menschen bringt. Du hast ihre Macht bereits kennengelernt."

Nasdja deutete in Richtung der Felder, dort, wo der unheilige Schrein stand. Nun wusste sie, dass von dort das Gefühl ständiger Beunruhigung ausging, dessen Quelle sie beharrlich ignoriert hatte.

Tatsächlich schien in dem Häuschen etwas Abgründiges zu lauern. Ein finsterer, giftiger, fauliger Schatten, den nur die Seele wahrnehmen konnte, nicht das Auge. Ein kaltheißer Mahlstrom, der endgültig aus der Welt führte. Dahinter war nur noch Wispern, Flüstern, Rascheln. Das Scharren Myriaden zarter Füßchen.

Haldana fürchtete sich - eine körperlose, aber umso tiefere Furcht. Irgendeine unsichtbare Kraft schien an ihr zu ziehen, zu zerren, sie einsaugen zu wollen, hinein in ein wimmelndes, beißendes, stechendes Nest.

Tatsächlich, Schwarzbart war schon dabei, langsam, aber stetig auf das Unheiligtum zuzutreiben, mit wehenden Geisterhaaren.

"Was, zum Namenlosen...? He, aufhören..."

"Seine Seele ist verderbter, als ich dachte" sagte Nasdja und klang traurig.

Der Bärtige begann zu schreien, zu heulen und zu kreischen. Dann verwirbelte er zu einer Art grauem Rauch - und wehte auf den Mahlstrom zu. Wenig später war er im Schlund verschwunden. Wurde einfach vom Nest verschluckt. Von einem unsichtbaren Schwarm eingehüllt und zerfressen.

Mia blickte entsetzt, und stemmte sich dem Grauen entgegen.

"Merkst du nun, dass es schlimmere Dinge gibt als den Tod, Mia? Weitaus schlimmere Dinge?" Nasdja winkte den anderen Geist zu sich heran. "Komm näher. In meiner Nähe bist du sicherer. Aber dein Leichnam sollte endlich beerdigt werden."

Die Maurerin huschte verstört näher. "Was ist das?"

"Der Weg in den Abgrund. Mokoschas Schwester hat uns entdeckt. Noch ist ihre Macht gering, selbst hier, in dieser Zwischenwelt, aber sie wächst stetig. Ja, ich glaube, ich sollte dich jetzt wirklich in deinen Körper zurückschicken, Haldana." Die Zibilja stellte sich zwischen die Sichlerin, Mia und dem Unheiligtum. Sofort ließ der unheilvolle Sog nach.

"Lange Zeit bin ich umhergewandert, auf der Suche nach der Schriftrolle. Eine andere Zeit, eine andere Welt und doch bleibt sie immer die gleiche. Denn die Zeit ist ein großer Kreis. Viele Winter ist das nun her, mehr als ich zählen kann. Irgendwann habe ich das verborgene Wissen gefunden und gehütet. Ich hätte das Pergament sofort verbrennen sollen. Damals erschien es mir fast schon heilig. Viele Jahre habe ich in der Sichel gelebt, mit Gemahl, Kindern - und Bienen.

Aber dann kam es, wie es immer geschieht, wenn große Furcht auf noch größere Dummheit trifft. Dein Volk hat mich vergiftet, weil es meine Zaubermacht gefürchtet hat. Vergiftet mit Honig. Hexe, so haben sie mich genannt. Kahle Hexe und Praiosfrevlerin aus dem finsteren Ysilien. Als ob nicht auch die Schwarzsichler Alhanier unter ihren Vorfahren gehabt hätten. Und doch gab es im Sichelvolk Menschen, die ihr Herz nicht verschlossen haben. Dazu gehörte auch Brûn, dein...nun ja, nennen wir ihn ruhig Großvater. Auch er war ein überaus gelehriger Schüler. Ein Mann muss eine Frau wohl von ganzen Herzen lieben, um ihre starre Leiche in Wachs zu hüllen, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Er hat das Ritual genauso ausgeführt, wie ich es ihm gelehrt habe. Nur meinen Körper zurück zu bringen, zu meiner Sippe, das vermochte er nicht. Es war die Zeit, als die letzten Norbarden aus den Wäldern Taubriens vertrieben worden sind, von den Eiferern des Praios, die damals in Gareth herrschten. Vertrieben worden sind, erschlagen oder verbrannt. "

Haldana schluckte. Diese Frau war ihre direkte Vorfahrin? Nun, eine gewisse Ähnlichkeit war da, auch ohne rasierte Haare. Zumindest das Gefühl von Vertrautheit. Sonst hätte sie dieses wahrliche gespenstische Zusammentreffen nicht so gelassen hingenommen. Wann hatte...Nasdja gelebt? Sie wusste wenig von Geschichte, aber von den Priesterkaisern hatte sie bereits gehört. Die Ereignisse mussten schon viele Hundert Jahre her sein.

"Erst wollten sie meine Mumie ins Feuer werfen. Aber dann hatten sie Angst, dass meine Zauberkräfte zurückkehren würden, sobald das Wachs schmelzen würde. Diese Narren. Also haben sie mich in irgendeinem Verlies eingemauert, mitsamt der Schriftrolle, deren Siegel und Zauberzeichen sie fast noch mehr gefürchtet haben als mich. Ich kann mich kaum noch an die Zeit in der endlosen Finsternis erinnern. Nur manchmal vermochte ich ein bisschen umher zu wandeln. Irgendwann fiel wieder Licht herein. Es war Sisa, die das Mauerwerk durchbrochen hat, mit ihren Helfern."

"Sisa die Schwarzhexe?"

"Ja, Sisa Brundel. Ich glaube, sie ist ebenfalls eine Nachfahrin von mir. Für dich ist wäre sie dann eine Art Schwester." Die Zibilja lächelte und kratzte sich die Nase. "Ich weiß nicht, warum Sisa mich gesucht hat, noch weniger, wie sie mich gefunden hat. Aber nun gut, wir Norbarden haben Sinn für Familiengeschichte. Unsere Nachkommen dann wohl auch. Einen Sinn für norbardische Traditionen hat Sisa nicht. Ich kann mich nur schemenhaft erinnern, was danach passiert ist. Die Schriftrolle hat sie an sich genommen, und mich wohl verkauft, an diesen verrückten Schamanen mit der Storchenmaske. Ich glaube, das ist alles noch gar nicht so lange her. Aber Zeit..."

"Ist ein Kreis, keine Linie, ich verstehe" sagte Haldana. "Was steht in dieser Schriftrolle?"

Sie blickte irritiert um sich. Irgendwie schien die Welt gerade noch dunkler zu werden. Immer neue Schatten krochen heran. Als würden Gewitterwolken aufziehen und sich vor die Sonne schieben (die Sonne, wo war sie überhaupt? Da war nur dieses ewige, matte Zwielicht. Langsam bekam sie Angst. Irgendwie hatte sie auch keinen Boden unter den Füßen mehr).

"Du solltest nun rasch in deinen Leib zurückkehren. Sonst verlierst du dich bei uns. Bring meine Überreste in ein würdiges Norbardengrab. Vor allem: Finde und vernichte diese Schriftrolle. Ich habe verstanden, dass sich nicht machtvolles Wissen darin verbirgt, und keine höhere Erkenntnis. Sondern nur Wahnsinn, Elend und Schrecken. Die beiden Schwestern sind ungleich. Leider."

"Was steht darin geschrieben?"

Nasdja seufzte. Sie schien sich von ihr zu entfernen, immer weiter hinein in die Schattenwelt, ebenso wie die völlig eingeschüchterte Mia.

"Die Grüne Wolke" hauchte die Zibilja.

Irgendeine Urgewalt packte Haldana, ohne jede Vorwarnung. Sie schrie, voller Furcht, sie könne ebenfalls in das sieche Nest gezogen werden, hinab in den wimmelnden Abgrund.

HALDAAANAAAA! UM FIRUUUNS WILLEN!

Es war die Stimme von Jodokus. Eine Biene summte an ihr vorbei. Eine Biene?

Noch ein wenig verschwommen sah Haldana, was sich rings um Sie abspielte. Einige Bienen schwirrten noch umher, beruhigten sich aber nach und nach wieder.

Firun gedankt, Haldana“ stammelte Jodokus. „Ich dachte schon du seist tot. Du bist voller Blut“ Erst jetzt blickte die Bardin an sich herab. Tatsächlich war ihre Bluse und Hose mit Blut regelrecht vollgesogen.

Das isch vom Schwarzbart…“ hauchte Haldana matt. „Ich hab nichts abb´kommen… oder doch?“ Stöhnend fasste sie sich mit der Linken an die blutverschorfte Beule an ihrem Kopf. Fühlte sich seltsam an. So dick, als wäre ein Geschwür aus dem Schädel gewachsen.

Du musst einen mächtigen Schlag abbekommen haben“ erläuterte Jodokus.

Wie lang` lieg` ich hier?“

Oh, sicher zwei Stunden. Ich habe Rovik losgeschickt mit einer Nachricht nach Rommilys. Die Büttel sollen die Gefangenen abholen und weiter verhören… ach, das weißt du noch gar nicht. Dieser angebliche Heiler hat sich hier als Leichenfledderer betätigt. Dieser Schwarzbart und seine Kumpane haben ihm sein, ähm, Anschauungsmaterial vom Boronanger beschafft. Im Keller hat Doktor Korwid sein Labor… gespenstisch, wie es da aussieht. Eingewachste Leichen. Ekelhaft.“

Eingewachste Leichen… dachte Haldana und erinnerte sich an Nasdjas Worte. Seltsam, was diese geisterhafte Norbardin zu ihr gesagt hatte, erinnerte sie an die Abschiedsworte ihrer Mutter, als sie sie auf die Reise geschickt hatte. „Du musst in die Fremde ziehen, um die Heimat zu finden“ hatte ihre Mutter, nach der sie auch ihren Namen Haldana bekommen hatte, gesagt. Begann sich hier, das Schicksal zu erfüllen?

Mutt`r…“ begann Haldana, stockte aber plötzlich. Das war nichts, worüber sie mit dem Stadtadeligen reden konnte. „Tuvok?“ fragte Haldana stattdessen.

Der Jäger, ja. Der ist wieder wohlauf. Hat ein paar Bisswunden von den Hunden davongetragen, aber ich schätze der Bursche ist zäh. Alrik hat ihn verbunden. Mach Dir mal keine Sorgen, das wird schon.“

Haldana fühlte sich eher beunruhigt, sie hatte das Gefühl, man wolle ihr einen vielleicht tatsächlich kritischeren Zustand des Gefährten verschweigen. Haldana seufzte. Jodokus reichte ihr hilfsbereit seinen Wasserschlauch. Ohne wirklich Durst zu haben, trank Haldana.

Was ist mit Deiner Mutter?“ Jodokus versuchte, sich einfühlsam zu zeigen.

Hmm“ brummte die Bardin. Jodokus wusste nicht, ob Haldana erschöpft oder schlicht einsilbig war, und ob er vielleicht doch besser nicht nach der Mutter gefragt hätte. „Als ich weg`gang`n bi vo daheim, ich hab´ `s G´fühl, meine Mutt`r het gwisst, was uf mi zukomm`n werd… Hier mit diesem Unheiligtum und… du würdest es nicht verstehen. Du bist nicht aus der Sichel.“ Haldana mühte sich, wieder Hochgarethi zu sprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass der Stadtadelige den Dialekt nicht ganz verstand.

Ich mag in Rommilys wohnen, aber ich komme aus Gallys“ warf Jodokus ein. „Mein Onkel Veneficus wird nicht umsonst das lebende Geschichtsbuch der Schwarzen Sichel genannt.“

Haldana nickte. Von dem alten Gallyser Magus und seinem profunden Wissen über die Geschichten und Mythen aus längst vergangenen Zeiten hatte sie gehört.

Na gut“ begann Haldana. „Hat dein Oheim dir die Geschichte der norbardischen Seherin Nasdja erzählt?“ fragte sie, mit einer Mischung aus der Erwartung, Jodokus seine Unwissenheit vorzuführen und der vagen Hoffnung, doch etwas zu erfahren.

Nein… Die Seherin Nasdja sagt mir jetzt nichts. Was nicht heißen muss, dass Veneficus nichts darüber wüsste.“

Dann kannst du es auch nicht verstehen.“ Haldana begann, das Erlebte als Geschichte zu erzählen. Dem nüchternen Städter zu erzählen, sie habe mit Toten gesprochen käme dem Versuch gleich, sich selbst als reif für das Noionitenkloster darzustellen.

Nasdja war eine Seherin der Norbarden, ich weiß nicht vor wie vielen Jahrhunderten. Vielleicht in der Zeit der Priesterkaiser, vielleicht noch früher. Vielleicht ist es auch eine Vorfahrin meiner Familie, aber das ist nicht gewiss. Manche sagen es, aber das mag auch nur eine Geschichte sein. Wie vieles, was nur aus Überlieferung beruht. Jedenfalls… man sagt, dass Nasdja zwei Töchter hatte. Die zweite, von der sagt man, dass sie sich finsteren Mächten verschrieben hatte. Auch diese hatte Nachfahren, die, so sagt man, noch bis heute. Nun… irgendwie hat mich die Schwarze Hexe, diese Sisa Brundel, von der Baron Alrik erzählt hat, daran erinnert. Ich musste an die Geschichte denken, als ich von Sisa Brundel gehört hatte. Kann aber auch Einbildung sein. Es klang halt nur ähnlich wie diese alte Geschichte. Nun… entweder spielt mir die Fantasie einen Streich, oder die Schwarze Hexe und ich sind tatsächlich beide Nachfahren der alten Seherin Nasdja. Dann wäre es kein Zufall, sondern Schicksal.“

Jodokus nickte. „Nun ja, die Wege der Götter sind unergründlich, wie man so schön sagt. Die Wege der Zwölf ebenso wie die Wege der Alten, wie mein Großonkel hinzufügen würde.“ Der Stadtadelige fügte den letzten Satz bewusst hinzu, da er nicht wusste, ob Haldana insgeheim - wie wohl auch sein Onkel Veneficus - den alten Göttern anhing. Er wusste, dass die Sichler vielerorts nur an der Oberfläche den Zwölfen anhingen, dies aber mit vielen alten rituellen und kultischen Glaubensinhalten verknüpften, was aber niemand offen sagte, und vielleicht auch nicht jeder wusste, der nur aus Tradition an derlei kultischen Handlungen teilnahm. Nicht jedenfalls seit der Herrschaft der Priesterkaiser.

Aber eine schöne Geschichte. Nun, ob es tatsächlich eine solche Verbindung zwischen Dir und der Schwarzen Hexe gibt, werden wir vielleicht nie erfahren.“

Was sagtest du vorhin? Eingewachste Leichen?“

Ja. Zwei Frauenleichen. Eine davon mumifiziert. Die andere offenbar erst jüngst gestorben. “

Wie sah sie aus?“

Jodokus verstand nicht recht, was Haldana an den Verstorbenen so interessierte. „Irgendwie norbardisch…“ stammelte er. Warum gerade jetzt Haldana die Geschichte von einer norbardischen Seherin erzählte, wenn zeitgleich eine norbardische mumifizierte Leiche gefunden wurde. Jodokus verstand nicht, was vor sich ging. Aber es schien wichtig zu sein. Auch wenn er sich keinen Reim darauf machen konnte, wieso Haldana gerade jetzt von dieser Geschichte sprach. Die Leiche der Norbardin hatte sie ja nicht gesehen. Das ganze kam ihm seltsam vor.

Das Klappern von Hufen auf dem steinigen Karrenweg ließ Haldana aufhorchen. Auch Jodokus sah auf. Offenbar kamen die Büttel aus Rommilys, die Rovik verständigt hatte.

Erst jetzt bemerkte Haldana, dass Jodokus die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte. Hastig zog sie sie zurück und stand auf.

 

***

 

Mit elegantem Schwung beförderte der Büttel die Fackel durch die Tür des Bauernhauses. Einen Moment lang tat sich nichts. Nur ein einzelnes, rötliches Feuerauge blinzelte hinaus in die blauschwarze Nacht, die mittlerweile über Helbers Hof hereingebrochen war. Zarter Rauch stieg auf und verwehte.

Alrik glaubte für einen Moment, der Brand im Inneren wäre wieder erloschen, trotz des Reisigs, der Holzscheite, des Strohs und des Lampenöls aus den Vorräten von Doctor Korwid Alfengrund. Dann begann es wieder zu flackern und zu qualmen.

Zwei weitere, hell lodernde Fackeln folgten, die durch die geöffneten Fensterläden geworfen wurden. Rasch wuchs das Glimmen im Inneren an, zu einem machtvollen Glosen. Die ersten Feuerzungen loderten empor. Es rauchte und qualmte. Nach kurzer Zeit stand das Haupthaus in Vollbrand. Schnatternd und zeternd flatterten Amseln auf, die in der Nähe geschlafen hatten. Irgendwo in der Ferne belferten Hofhunde.

Langsam wurde es heiß, und fast schon taghell. Funken schwirrten umher, wie Glühwürmchen. Hesindian wich zurück, hob die Hand, um seine Augen vor dem Feuerschein zu beschützen und hustete nervös. Die Szene kam ihm allzu zu bekannt vor: mit dem Unterschied, dass er vor kurzem noch im Inneren eines solchen Glutofens gestanden hate.

Alrik paffte scheinbar unbewegt seine Fuchskopf-Pfeife. "Scheint, der Feuerteufel geht wieder um, in Rommilys"

"In Rommilys und um Rommilys und rund um Rommilys herum". Stockend murmelte der weißhaarige Magier den alten Zungenbrecher.

Der Baron verwedelte den Tabakrauch, und blickte wieder zu den Brandstiftern. Die Stadtwache, so hatte er das Dutzend Frauen und Männer für sich selbst genannt. Aber eigentlich sahen sie aus, wie sich Klein-Alrik Spione von KGIA oder FDEA vorstellte. In ihren schlichten, graubraunen Kapuzenmänteln erinnerten sie fast ein wenig an einen Mönchsorden. Eine strengblickende, schlanke, schon etwas ältere Frau in Räuberzivil schien ihre Anführerin zu sein. Ihre Haare hatte sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, die Körperhaltung war kerzengerade. Sie unterhielt sich leise mit Jodokus.

Die berittene Truppe, die aus der Stadt herbeigeeilt war, durfte man mit Fug und Recht als Putztruppe bezeichnen. Ein Teil von ihnen hatte die Gefangenen und die Beweismittel mitgenommen, außerdem die beiden Toten auf dem Pferdefuhrwerk fortgeschafft. Nun war "Thorwalsches Aufräumen" angesagt.

Nur die Wachsmumie war ihnen entgangen: Haldana hatte partout darauf bestanden, sie in einer Truhe zu verstecken - Phex wusste, wohin sie die Kiste geschleppt hatte, zusammen mit Rovik. Wahrscheinlich in den Geheimgang unter der Scheune. Auch die Bienenstöcke durfte niemand antasten.

Nach ihrem Schlag auf den Kopf war die Sichlerin immer noch völlig durcheinander. Die Wachsmumie habe ein norbardisches Begräbnis verdient, behauptete sie steif und fest. Wie auch immer sie diese Trauerfeier bewerkstelligen wollte.

Der Mondschatten wies mit der Pfeife auf den jungen Patrizier und die fremde Frau: "Jodokus scheint unsere geheimnisvolle Unbekannte zu kennen." Der Friedwanger wich nun ebenfalls vor dem Hitzeschwall zurück. "Vielleicht seine Zofe oder Kindermädchen" sagte er, mit schiefem Grinsen. "So respektvoll, wie er mit ihr spricht."

"Das ist Halike Rattel", antworte der Graumagier. "Die stellvertretende Spektabilität des Informations-Instituts."

"Oha. Du kennst sie auch?"

"Vom Namen her. Ich habe sie kurz auf dem Flur getroffen, in der Akademie. "

"Und nun taucht sie hier auf, zu nachtschlafener Zeit? Ohne Stab, ohne Robe, wie eine Borbaradianerin? Widerspricht das nicht sämtlichen Magiergesetzen?"

"Pssst, nicht so laut" Der Hofmagier schien ernsthaft eingeschüchtert zu sein. "Die Informationsmagier sind nunmal ...diskret unterwegs, im Dienst des Reiches".

"Ich dachte, die gehören zu den rundherum Guten...den Weißen...den praiosgefälligen Magiern." Leichter Spott schwang in der Stimme des Friedwangers mit, während er paffte und einen einzelnen Funken von seinem Mantel wischte, der vom brennenden Haus heran geweht war

"Selbst Praios verbirgt sich vor unwürdigen Blicken, hinter Wolken oder blendendem Licht"

"Sagt Hesindian von Orweiler?"

"Ist ein Zitat von Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod. Glaube ich..."

"Mein ehemaliger Wehrheimer Graf. Manchmal vermisse ich ihn. Ebenso wie das schöne Wehrheim selbst. Das waren noch Zeiten… Der Götterfürst war für Dexter also nur ein Blender? Soso..."

Eifrig verwedelte Alrik die lästerlichen Worte vor seinem Mund, wie es der Aberglaube verlangte. Bevor sie gen Alveran aufzusteigen vermochten.

Dabei hatte er nichts gegen Blender und Hochstapler, rein gar nichts.

 

Halike Rattel betrachtete ihr Zerstörungswerk, die Hände hinter dem Rücken, wie eine Feldherrin auf dem Kommandantenhügel.

"Helbers Hof wird von einer Räuberbande niedergebrannt, heute Nacht, schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre...wie überaus bedauerlich..." sagte sie.

"Vermutlich wird Doctor Alfengrund nach dieser Schreckensnacht verschwunden bleiben. Für immer. Womöglich ist er im Feuer verbrannt, vielleicht einfach nur weitergezogen. Wenn Ihr versteht, was ich meine?"

Die Weißmagierin wandte sich wieder dem jungen Baernfarn zu.

"Ich dachte eigentlich, Ihr wolltet Euch geradewegs auf die Suche begeben, nach ihm und dem Hexer von Rommilys? Ich hätte mich derweil schon um Korwids Rattennest gekümmert..."

"Nun, wie es scheint, sind wir gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen" Jodokus versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. "Immerhin haben wir eine ganze Bande von Leichendieben dingfest gemacht."

"Wir sind das Informations-Institut, nicht die Informations-Agentur", sagte die Magistra Magna. "In den letzten Götterläufen sind unsere Möglichkeiten leider begrenzt. In der Stadt sind wir dabei, die Storchenschwingen zu überprüfen. Ein paar übereifrige Spitalknechte und -Mägde, Feldscher und Peraine-Akoluthen, mehr nicht. Fanatische Peraineanhänger, die sich regelmäßig zur Leichenschau getroffen haben, an geheimen Orten, wie diesem hier. Nicht gerade göttergefällig, aber auch kein Kapitalverbrechen. Hinweise auf Dämonenbündelei oder Verrat an Alveran gibt es bislang keine. Mir wurde schon nahegelegt, meine Untersuchung nicht über Gebühr auszudehnen. Vor allem nicht über die Stadtgrenzen hinaus. Bei Hofe scheinen sie zu glauben, dass wir vom Institut nur Vorwände suchen, um uns in die Geschicke der Mark einzumischen oder gleich eine neue KGIA aufzubauen." Halike verkniff den Mund. Zumindest letzteres hätte sie vermutlich gerne in die Wege geleitet.

"Am Greifenplatz würden sie am liebsten die Bannstrahler von der Leine lassen. Das Wort Inquisition ist auch schon gefallen. Sie fragen bereits nach Raberto und dieser Maraske, oben im Palastkerker. Das kann gefährlich werden, sobald der Name Eures Braumeisters fällt. Wenn sich Geißler auf Hexenjagd begeben, bleibt es meist nicht bei einer Anklage. So wie es jetzt aussieht, wird die Auslieferung noch ein paar Tage aufgeschoben. Immerhin wurde der Andergaster bei seiner Verhaftung verwundet. Allerdings legt unser Institut Wert auf ein gutes Verhältnis zum Orden vom Bannstrahl..."

"Wolltet Ihr das Diebespärchen nicht in Hôt-Alem loswerden?" Jodokus schluckte. "Das hört sich eher nach dem Feuer eines Scheiterhaufens an, als nach der Hitze des Tiefen Südens..."

"Wenn es nur das wäre. Mein Gesprächspartner im Orden hat schon Andeutungen gemacht. Nun, wie seltsam es doch ist, wenn..." Halike hüstelte verlegen, was nicht nur am Rauch des brennenden Bauernhauses lag. "Wie merkwürdig es doch ist, wenn eine, öhött, ältere Dame wie Eure Frau Gemahlin mit einem derart jungen Ehemann verheiratet ist, wie Ihr es seid. Warum Euch Eure Gemahlin derart verzaubern würde.... verzaubern, das war exakt das Wort."

Einen Moment lang war Jodokus ehrlich empört. "Was soll das jetzt wieder heißen? Ich liebe Irmelinde von Herzen. Wir wurden vor Travias Altar getraut und sind rechtmäßig Mann und Frau... überhaupt, wir beide sind in dieser Angelegenheit ja wohl Opfer, nicht Täter..."

"Gemach, Gemach" Halike hob die Hand. "Gehen wir ein Stück? Am besten dort entlang."

Die Magierin wies den Weg, und Jodokus trottete schicksalsergeben hinterher.

"Seid unbesorgt", fuhr die Magierin fort. "Wir leben nicht mehr in der Zeit der Priesterkaiser. Wo ein bloßes Gerücht genügt hat, um rechtschaffene Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen."

Und ihr Vermögen in die Kasse des Praiostempels, fügte der Händler in Gedanken hinzu.

"Seid gewiss, dass ich zu Eurem Gunsten gesprochen habe. Und einige Informationen noch zurückhalten werde. Schon meine `Drohung´ Raberto magisch heilen zu lassen, hat die Situation entspannt." Halike schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst. "Dennoch. Euer Ruf in Rommilys würde sicher Schaden nehmen, falls die Sache hochkocht. Das Beste wird sein, wenn Ihr selbst die wahren Übeltäter dingfest macht, mit Euren Gefährten. Oder gleich unschädlich. Damit hätten wir zwei Heshtots mit einem IGNISPHAERO ausgetrieben, wie man bei uns an der Akademie so schön sagt. Das Informationsinstitut setzt sich nicht den Verdacht aus, draußen in der Mark Reichsgroßgeheimrat spielen zu wollen. Ihr wiederum könnt den Praiosdienern beweisen, dass Ihr nichts mit den schwarzmagischen Umtrieben zu tun habt, im Gegenteil. So ist Thron und Altar in gleicher Weise gedient."

Jodokus nickte. Aus irgendeinem Grund schien er bei der gestrengen Halike ein Stein im Brett zu haben. Das konnte er spüren. Vielleicht lag es daran, dass die Magierin den Marsch der Tausend Oger hautnah miterlebt hatte. Es war kein Geheimnis, dass Baron Odilon Wildgrimm von Gallys, sein Großvater, heldenhaft gegen die Menschenfresser gekämpft hatte, an der Trollpforte. Womöglich hatte er sogar den Fährhof der Rattels vor den keulenschwingenden Ungeheuern gerettet. Irgendwie kam ihm die Geschichte bekannt vor.

Schon der Gedanke, Meister Krummbacher an die Inquisition auszuliefern, war ihm unangenehm. Der Rommilyser war in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen. Sicher. Aber Krummbacher war selbst erpresst worden, seine Familie befand sich immer noch in Gewalt des Medicus, und damit vermutlich auch des Hexers und dieser Sisa Brundel. Es würde ihm, seinem Dienstherren, nichts anderes übrig bleiben, als die Flucht nach vorne anzutreten. Und die Sache aufzuklären.

 

Sie gingen den Feldweg entlang auf das Unheiligtum zu, in das die "Gugelmänner" eifrig Reisig, Stroh und Brennholz schichteten, im Schein einiger Lampen, zu einem regelrechten Scheiterhaufen. Die Szene erinnerte tatsächlich an eine nächtliche Hexenverbrennung. Nur dass die Statue der Bienenkönigin in Flammen aufgehen sollte, keine Schadenszauberin aus Fleisch und Blut. In der Nähe schnaubten und stampften die Pferde. Es war ein gespenstisches, unwirkliches Schauspiel. Die Hitze des Feuers im Rücken und die Kühle der Nacht im Gesicht waren ein merkwürdiger Kontrast. Der junge Baernfarn schauerte.

"Ein paar Tage Vorsprung wird man Euch gewähren" sagte Halike. "Ach ja. Ich habe erfahren, dass vor kurzem die Flusshexe gesichtet worden ist, in Rommilys. Diese schwimmende Spielhölle. Offenbar ist sie doch nicht im Krieg verbrannt. Jedenfalls nicht vollständig. Sie hat vor ein paar Tagen im Hafen angelegt, mit einer Ladung maraskanischem Rum, Getreide und Gewürze. Wie es heißt, hat sie im Gegenzug ein paar Dutzend Fässer an Bord genommen."

"Kennt man den Inhalt?"

"Pechfässer. Aber sie waren allesamt leer. Das Schiff hat nach ein paar Stunden wieder abgelegt."

"Um demnächst Nachschub an Tlalucs Brodem in die Stadt zu bringen?"

"Nun, laut Hafenmeister ist sie mittlerweile in Perricum registriert. Papiere wären in Ordnung gewesen. Die Besatzung hätte aber schon sehr verwegen ausgesehen...Es gab Ärger in ner Hafenkneipe, wo sie Kaiser Valpos Entzücken gespielt haben."

"Valpos Entzücken?"

"Ihr seid Besitzer einer Brauerei, und kennt das Trinkspiel nicht?" Halike griff nach einer Fackel. "Man folgt dem Trinker auf seiner Rundreise durch die 13 alten Provinzen des Reiches, nach der Thronbesteigung. Von Albernia bis Maraskan. Für jede Provinz steht reihum ein Glas Schnaps auf dem Tablett. Jedesmal eine landestypische Spirituose. In Darpatien trinkt man Traviagünstchen."

Jodokus verzog das Gesicht. Traviagünstchen, das trüborange Zeug. Schmeckte mild, verursachte aber einen niederhöllischen Kater. Zumindest bei ihm war das der Fall gewesen. "Ihr seid wieder mal bestens informiert, für eine Magierin der Weißen Gilde..."

"Wie ich schon sagte, wir sind das Informationsinstitut - und mit sämtlichen Ränken des Bösen vertraut. Außerdem, ich war auch mal Elevin...Bei unseren Trinkspielen ging es aber doch etwas friedlicher zu. In der Kaschemme wurde ein Messer gezückt, gleich hinter den Nordmarken. Es war wohl die billige Variante des Spiels. Wie es heißt, gab es nur Trollzacker Birnengeist, in allen Provinzen. " Die Magierin warf die Fackel in den Schrein.

"Die Rauferei kommt uns aber gelegen. Der Messerstecher saß noch in der Arrestzelle, oben in der Hauptwache, und konnte befragt werden. Die Flusshexe gehört mittlerweile dem Handelshaus Warrlinger. Hat aber noch einen stillen Eigner, der sich in Rommilys um das Geschäft kümmert. Sie wird jetzt als Treidelschiff eingesetzt - darpatabwärts wird gesegelt, mit Mast. Flussaufwärts wird sie von Darpatbullen gezogen, den Leinpfad auf der Trollzacker Seite entlang. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches."

Jodokus nickte. Warrlinger, das war ein reiches, vor allem einflussreiches Perricumer Handelshaus, das in Khunchom am mächtigen Maraskankontor beteiligt war, zusammen mit Stoerrebrandt, Dhachmani und Gerbelstein. Das Handelshaus Romerzi machte ab und an Geschäfte mit ihnen. Die Warrlingers, oder besser gesagt ihre Mittelsmänner, wirkten auf ihn schon etwas hochnäsig, durchtrieben und rücksichtslos. "Wenn man mit Warrlinger verhandelt, stürzt am Ende der Rechenschieber um", hieß es bei seinen Kontoristen. So ein Flussschiff auf dem Darpat zählte im Maraskankontor sicher nur als kleiner Fisch, bei dem am Ende nur die Bilanzen interessierten.

"Nun, mit leeren Fässer den Darpat hinab zu fahren, das ist schon etwas ungewöhnlich", meinte Jodokus.

"Sie soll Pech aus den Trollzacken übernehmen, ein paar Meilen darpatabwärts. An der ersten Treidelstation hinter der Einmündung der Natter. Und die Ware dann nach Perricum bringen, für die Werften. Zum Kalfatern der Schiffe."

"Moment. Die Flusshexe will runter ans Meer?" Der Rommilyser wurde hellhörig. "In eine Hafenstadt? Mit den Pechfässern? Das heißt, womöglich wollen die Paktierer Tlalucs Brodem über ganz Aventurien verbreiten… und damit den Schrecken der Seuche?!!"

Halike sah versonnen zu, wie die Flammen des "Scheiterhaufens" züngelten und das Feuer langsam hochbrannte. "Nun, ein Handelsherr wie Baldo Warrlinger dürfte über jeden Verdacht erhaben sein. Ein echter Mäzen und Wohltäter, nach allem, was man so hört. Sicherlich kein Dämonenpaktierer, der halb Dere ins Chaos stürzen möchte. "

"Er muss davon ja nichts mitbekommen, in seiner noblen Villa am fernen Perlenmeer. Es genügt, wenn sein Miteigner in Rommilys die Entscheidungen trifft. An Bord einer Schivone oder Trireme würde Tlalucs Brodem eine unglaubliche Panik auslösen. Damit könnte man die halbe Perlenmeerflotte lahmlegen. Sagtet Ihr nicht, die Flusshexe hatte Rum an Bord? In einem Fass Offenbarung der Zwillinge würde das Zeug ebenfalls nicht auffallen."

"Sagt das mal einem stolzen Maraskaner des freien Shikanydad. Nun denn. Bislang ist das nichts weiter als Spekulation. Aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie Praiodane Werckenfels zu sagen pflegt. Man sollte der Sache nachgehen."

Jäh brüllten die Flammen auf, mit giftgrünem Glanz. Selbst die Magierin hob erschrocken den Arm, als das Innere des Unheiligtums entflammte. Eine Art Schreien und Kreischen war zu hören. Jodokus schlug hastig den Firunspfeil. Schwarzer Rauch stieg auf, verwirbelte, bildete bizarre Schatten. Dem Baernfarn standen die Haare zu Berge. Welche Mächte hatten sie hier geweckt?

 

Alrik und Hesindian waren der Magierin und dem Patrizier in einigen Schritt Abstand gefolgt.

Der Mondschatten hatte dennoch fast alles mit angehört, dank seines füchsischen Gehörs. Jedenfalls genug, um sich aus dem Rest einen Reim machen zu können. Auf den letzten Schritten lenkten ihn Rovik, Tuvok und Haldana ab. Die Sichlerin stand totenbleich vor ihm, wie ein Geist.

"Wie gehts es dir?" fragte Alrik, ehrlich besorgt. Zwei Stunden in Borons Dämmerland, das war durchaus nicht normal. Aber ernsthaft verletzt schien die junge Frau nicht zu sein.

"Desch letzti was i brauch, isch där Medicus" Die Sichlerin versuchte einen Scherz und lächelte tapfer. Dann hatte sie den mit Brennmaterial vollgestopften Schrein entdeckt. Furcht breitete sich in ihrem Gesicht aus - eine Angst, die nicht von dieser Welt war.

"Wasch hat Jodokus voor? Kännt är die Frau?"

"Er scheint viele einflussreiche Leute zu kennen, in Rommilys", sagte der Friedwanger ausweichend. Irrte Alrik sich, oder hörte er Eifersucht aus Haldanas Stimme heraus? Immerhin, der junge Edelmann schien auf ältere Damen zu stehen. Oder vielleicht auch nur auf das Vermögen alter Damen, aber wer wollte schon danach fragen.

Eine strahlende Schönheit war die stellvertretende Akademieleiterin nicht mehr, aber sie besaß durchaus Charisma.

Halike Rattel hatte eine Fackel ergriffen, warf sie beiläufig ins Holz und plauderte ungerührt weiter. Alrik langte sich mit der linken Hand nervös an den Kragen und "sprach" mit den Fingern der Rechten ein stummes Gebet zu Phex, in der Zeichensprache Atak.

Er wollte noch eingreifen, aber es war schon zu spät. Die Vize-Spektabilität hatte nicht das gesehen, was er gesehen hatte, mit den Augen eines Geweihten. Was er gespürt hatte. Vermutlich war die "Zartfüßige" mit den Insektenaugen für die Magistra einfach nur ein Götzenbild. Er wusste, dass dahinter mehr lauerte. Ein Abgrund, der geradewegs in die Niederhöllen führte. Die Macht einer gefallenen Unsterblichen.

Diese Kraft ist nicht von dieser Welt.

Im nächsten Herzschlag fauchten giftgrüne Flammen empor. Haldana schrie auf, stopfte sich die Faust in den Mund. Rovik und Tuvok blickten einfach nur erschrocken. Wenn die Kapuzenmänner verstört waren, ließen sie es sich nicht anmerken.

Es stank zum Peraineerbarmen. Schwarzer Rauch quoll aus dem Scheiterhaufen. Die Menschen husteten und keuchten. In der Mitte thronte die Königin, Herrscherin des Untergangs, und lächelte huldvoll. Einige bange Momente lang glaubte der Mondschatten, die Statue wäre auf widernatürliche Weise gefeit. Aber dann griff das Feuer doch auf das Holz über. Die Farbe begann abzublättern und zu verwehen. Die Facettenaugen glühten, in fiebrigem, schwefelfarbene Glanz. Wispern, Rascheln, Nagen, Summen. Hörte Alrik die Geräusche wirklich, oder gab es sie wieder nur in seinem Kopf? Die Figur, die gerade noch menschenähnlich gewesen war, verformte sich. Wurde zu einem grotesken Etwas, das seine Gestalt mit jedem Herzschlag zu verändern schien, in der flirrenden, hitzegeschwängerten Luft. Der Tiegel zerbrach, wie eine faule Frucht, entließ eine Art von Hornissenschwarm. Die meisten der Insekten verbrannten. Drei oder vier der Plagegeister stürzten sich wutsummend auf Alrik, den Geweihten, bohrten ihre Stachel in seine Haut und verschwanden, wie eine Halluzination. Auch Rovik und Jodokus wurden gestochen. Sie schlugen um sich, schrien und schimpften.

Das… das ganze Ding brannte jetzt lichterloh, wie eine Fackel. Mit einem ekligen, matschigen Geräusch platzte das Götzenbild auseinander, brach in sich zusammen. Schleimige, gelbe Maden, wuselnde Kakerlaken, fahlgraue Asseln, feiste Gruftkäfer quollen heraus, ein einziges, wimmelndes Knäuel, das zischend, knackend, zappelnd in der Feuersbrunst verschwand. Alrik war sich keineswegs sicher, ob das Geziefer aus derischer Substanz bestand. Der Gestank nach Fäulnis, Schwefel und Verwesung, der sich mit dem finsteren Rauch verbreitete, war nicht von dieser Welt. Ascheflocken wirbelten umher, oder war es schwirrendes Kroppzeug?

Haldana war wie gelähmt und spürte nichts. Die Hornissen schwirrten an ihr vorbei, ohne sie auch nur zu berühren. Einen Moment lang glaubte sie den Schwarzbart im Qualm zu erblicken, der noch einmal nach ihrem Innersten griff, wie ein Ertrinkender nach der rettenden Planke. Jäher Wind kam auf, zerriss die fetten Schwaden zu kleinen Fetzen und trieb sie auseinander.

Der Pesthauch ließ nach.

Rumpelnd brach das Dach ein. Nach einiger Zeit war es fast ein normales Feuer, das in der Ruine brannte.

 

"Was hast du dir dabei gedacht?" Jodokus rieb sich seinen Hals, wo ihn eines der Biester gestochen hatte. Sie waren in den Keller unter der Scheune gegangen, ein paar krumme Stufen hinab. Aus dem Gang, der zum Bauernhof hinüberführte, roch es nach Rauch, aber das kleine, muffige Gewölbe war nur wenig verqualmt. Mitten im Keller, im Schein der Laterne, stand die Truhe. "Du willst die Mumie mitnehmen?"

"Wir brauche a Saumpferd", stellte Haldana fest. "Un festi Tragrieme..."

"Ein Packpferd?" Der junge Patrizier war vollkommen perplex. Waren mittlerweile eigentlich alle verrückt geworden? "Wir sollen mit... mit einem Sarg hinüber in die Trollzacken reiten?" Mit der freien Hand nestelte er eine alte Spinnwebe aus seinem Gesicht.

"Isch vielleichd die Mumi von de Nasdja" sagte die Schwarzsichlerin und klang trotzig wie ein kleines Kind. Irgendwo raschelte eine Maus.

"Warum sollte das die Mumie von deiner... deiner angeblichen Vorfahrin sein?" Irritiert sah der Baernfarn auf den halbrasierten Schädel seiner Angebeteten, wo noch immer die riesige Beule prangte.

Trug die Bardin deswegen so eine abscheuliche Frisur? Weil sie sich einbildete, von einer norbardischen Seherin abzustammen? Die vertrocknete Leiche in der Kiste war sogar kahlrasiert. Alles überaus beunruhigend. Bereits der Gedanke, heute Nacht in der Scheune schlafen zu müssen, über einer solchen Gruft, war mehr als unangenehm. Mit einer Mumie durch die zwölfgöttlichen Lande zu reisen, sprengte für ihn endgültig die Grenzen des Vorstellbaren.

"Du bist völlig durcheinander" stellte Jodokus nüchtern fest. "Wir sollten jetzt nach oben und noch ein paar Stunden schlafen. Ruh dich etwas aus, morgen schaut die Welt ganz anders aus."

 

Sie hatten kurz beraten und sich dann entschieden, in der Scheune zu übernachten, die recht geräumig und immer noch voller Heu und Stroh war.

Tuvoks Wunden schmerzten offenbar niederhöllisch, auch wenn Hesindian behauptete, dass sie nicht allzu schwer waren.

Reiten wäre für ihn eine Qual. Auch die Sängerin schien eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Es war besser, hier zu bleiben, bevor sie endgültig dem Delirium verfiel.

Beide hatten sich geweigert, einen Heilzauber auf sich sprechen zu lassen: Tuvok offenbar aus abergläubischer Furcht vor Magie, Haldana, weil sie störrisch und uneinsichtig war. Hesindian schien diese Weigerung keinesfalls unangenehm zu sein. Der machtvolle Zauber, den er vor kurzem auf Alrik gesprochen hatte, schien sehr viel von seinen Kräften aufgezehrt zu haben.

"Obe in de Schüür isch a kleins Wägeli" Haldana kratzte sich nachdenklich am Kopf, gleich neben der Beule. "Da könnt i desch Pferd vorspanne..."

"Der wackelige Karren? Damit kämen wir nicht mal nach Rommilys... Haldana, es ist gut… die Gardisten werden morgen noch einmal zurückkehren, und das Ding da entsorg... mitnehmen... du solltest dich jetzt wirklich etwas ausruhen."

"I fuel mich gued." Haldanas Augen funkelten empört. "Wirkli!"

Lag da plötzlich ein anderer Glanz in ihren Augen? Was für ein närrisches, wunderbares, dralles, pralles Bauernkind...

"Haldana!" Jodokus stellte die Laterne ab und fasste der Bardin an die Schultern.

"Lass mi! Mi gehts gued!" Die Sichlerin versuchte sich frei zu winden, weitaus weniger energisch, als es ihre Worte vermuten ließen.

Jodokus spürte ihren warmen, angespannten Körper unter seinen Händen. Eigentlich wollte er dieses... dieses verrückte Mädchen wieder loslassen.

Dann überkam es ihn einfach, als hätte die Göttin Rahja (oder ihr Sohn Levthan?) die Macht über seine Glieder übernommen. Über sämtliche Glieder.

Er zog sie an sich, presste seine Lippen auf ihren feuchten, sinnlichen Mund, versank vor Wonne stöhnend in einem tiefen Kuss. Seine Finger glitten die Schulter hinab, bis zu den Hüften und wieder hinauf, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten.

Nur kurz bäumte sich Haldana in seinem Griff auf, eher spielerisch als widerwillig. Sie wuschelte durch seine Haare.

Rötlich flackerte das Licht der Laterne. Hastig riss Jodokus Haldana die Kleider vom Leib, als befänden sie sich in einem lauschigen Schlafgemach in Rommilys. Glühend heiß überflutete sie die Wollust, raubte ihnen beiden den Verstand. Mit nacktem Hintern und barbusig prallte Haldana auf die Truhe, Jodokus suchte ihren Schatz der Rahja und riss Haldana mit seiner Leidenschaft einfach mit sich. Haldana fiel in einen Taumel von Leidenschaft und Neugier und öffnete seine Kleider.

Ich betrüge gerade meine Gemahlin, auf einer Truhe mit einer uralten vertrockneten Norbardin, dachte Jodokus. Nein… nicht Norbardin, und nicht uralt. Bardin und jung…

Das war der letzte klare Gedanke, den er fassen konnte.

Haldana schrie kurz auf. Es war, als würde eine Biene sie in den Unterleib stechen. Nur schmerzhafter. Und zugleich unendlich viel schöner. Sie vermochte nicht zu entscheiden, ob Schmerz oder Freude überwog. Vorsichtig bewegte sie ihr Becken im gleichen Rhythmus wie der Städter, so wie sie es hin und wieder bei der kessen Magd Rimhilde gesehen hatte, die sich des Öfteren mit den Knechten in der Scheune vergnügt hatte. Als Kind hatte Haldana Rimhilde öfters dabei überrascht und neugierig beobachtet. Ob sie es so richtig machte? Haldana war unsicher, ließ sich treiben im Strudel der Gefühle… Es tat weh. Haldana biss sich auf die Lippe. Zwischen dem Schmerz fuhren aber auch Wellen eines ungekannten Glücksgefühls durch ihren Körper.

Langsam, aber dennoch unvermeidlich ließ durch den nicht nachlassen wollenden Schmerz der Rausch nach, der sie eben noch erfasst hatte. Wie durch einen Nebel drangen soeben noch entfernt liegende Gedanken aus dem tiefsten verborgenen ihres Verstandes wieder in den Vordergrund.

Was tat sie da eigentlich? Und dann ausgerechnet mit Valyrias Ziehsohn! Ein Traviafrevel der besonderen Art. Wie konnte sie so ungehorsam sein? Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, auf sich acht zu geben. Was würde nun sein? Was war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden… Es muss am Bienengift liegen, dachte Haldana. Es war das gleiche Gefühl, das sie durchdrang, wenn sie bei der Imkerei von Bienen gestochen wurde. Durch den Schmerz wurde ihr bewusst, wie sie lebte, und daher liebte sie das Gefühl genauso wie sie es fürchtete. Und es versetzte sie immer wieder in einen Rausch. Vorhin in den Rausch des Tötens. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt. Auch wenn es im Kampf war und gegen einen unheiligen Feind, das erste Mal einen Menschen zu töten enthemmte einen Menschen, der Krieg und Kampf nicht gewohnt hatte, auf das Heftigste. Und die Begegnung mit der norbardischen Seherin… war das Wirklichkeit oder Traum gewesen… Das alles schien zu viel für sie gewesen zu sein, wie sonst hätte sie sich solcherart enthemmt gehen lassen können?

Nunmehr hatte der Zustand der Ekstase bei Haldana völlig nachgelassen. Sie erstarrte, machte die langsam stoßenden Bewegungen des Stadtadeligen nicht mehr mit.

Jodokus war offensichtlich verwirrt darüber, dass seine Gespielin die Lust verloren zu haben schien. Er verstand auch nicht, warum. Wie hätte er das auch? Aber er ließ nicht nach in seinem Tun. Sei es, dass er hoffte, sie erneut zum lustvollen Treiben zu motivieren, sei es, dass er selbst schon so sehr in Ekstase verfallen war, dass er nicht mehr inne halten konnte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht mehr, Haldana in lustvollen Rausch zu versetzen.

Leidenschaftlich küsste er die Bardin auf den Mund. Seine Lippen glitten weiter herab auf den Hals. Jodokus Atem ging schnell. Sanft streichelten seine Finger die Angebetete, so wie er wusste, dass es allen Mädchen, mit denen er bislang sein Lager geteilt hatte, gefallen hatte. Jodokus war keiner, der nur an sich dachte. Er genoss es, einem Mädchen Freude zu bereiten und er konnte es selbst nur halb so sehr genießen, wenn das nicht gelang, auch wenn er selbst, von seiner eigenen Erregung übermannt, schon seine Freude gehabt hatte. Allein, es gelang ihm nicht, in Haldana wieder Lust zu entfachen.

Hör` uf“ murmelte Haldana leise.

Jodokus, der ohnehin zuvorderst mit dem Gedanken weiter machte, der Gespielin doch noch Freude und Gefallen zu bereiten, hielt in der Bewegung inne und sah der Bardin in das hübsche Gesicht. Es schien, als habe diese zu nahe am Wasser gebaut, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

`S hett nit g`schehe derf`n. Ab´r die Bienenstich`, d`r Rausch des Tötens, i hen mi nit unt`r Kontrolle g`hebt.“

Aber warum, Haldana? Meine Gefühle sind echt…“ fing Jodokus an.“ Jodokus vermutete, dass die Bardin störte, dass er verheiratet war. In der Sichel waren die Moralvorstellungen oft weit konservativer als in einer Großstadt wie Rommilys, mochte es hundertmal den Haupttempel der Travia beherbergen.

Meine Ehe ist politischen Interessen geschuldet, das ist so, wenn man von Stand ist. Aber mein Herz ist bei…“ begann Jodokus. Dann bemerkte er das Blut auf dem Oberschenkel der Bardin. Er hatte in seiner Leidenschaft nicht gemerkt, dass es für die Bardin das erste Mal war. Er hätte auch nicht damit gerechnet. Haldana war sicher achtzehn oder neunzehn Lenze alt. „Verzeih… ich wusste nicht...“

Dann machte Jodokus einen Satz nach vorne und stolperte, da er sich mit seiner herunter gelassenen Hose nicht abfangen konnte. Er fiel über einige Strohballen. Sein Gesäß tat ihm weh, als hätte man ihn mit einem schweren Stiefel getreten.

Hundsfott, liderlicher“ hörte Jodokus Tuvok rufen. „Dass du dich nicht schämst!“ herrschte der Jäger ihn an. „Ich hätte den Bogen nehmen sollen um dir in den Arsch zu schießen statt nur zu treten!“

Jodokus kroch, so gut das ging, tiefer in das Stroh hinein, um sich vor dem wütenden Nivesen in Sicherheit zu bringen. Erneut stolperte er über seine eigene Hose. Wieder trat Tuvok zu. Jodokus schrie und krümmte sich vor Schmerzen. Der Tritt hatte gesessen.

Eifersüchtig?“ brachte Jodokus hervor, in einem kurzen Moment, in dem sein Stolz den Schmerz überwog.

Halts Maul, Trottel.“

Tuvok, nei, er kann nischt d`für“ unterbrach Haldana mit leiser Stimme. Aber der Jäger hörte sie und wandte sich Haldana zu. „Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich achtzugeben. Aber wie soll ich Dich vor Dir selbst schützen?“

Die Bardin schluchzte leise. „S`hett nit g`schehn dürf`n“

Jodokus verstand nicht recht, was der Nivese sagte. Ein Jäger, der eine entlaufene Leibeigene im Auftrag der Mutter beschützte? Rasch zog er seine Hose hoch und rappelte sich auf. Keinen Augenblick später fiel er, geschubst vom Tuvok, wieder ins Stroh.

Hör auf, Steppenschleicher“ herrschte Jodokus den Nivesen an und rappelte sich wieder auf.

Nein, du Gassencasanova. Du hörst auf. Und vor allem hörst du zu. Wenn bei Dir schon das Hirn aussetzt!“ Noch nie hatte ein Gemeiner es gewagt, so mit ihm zu reden. Jodokus lief zornweiß an im Gesicht.

Du kennst die Sichel, Lustmolch. Du weißt, dass ein Mädchen besser heiraten kann, wenn es keusch bleibt. Aber rücksichtslos wie du bist ist dir das egal, Stadtmensch.“ Der Nivese schrie Jodokus nahezu ins Gesicht. „Und du weißt, dass ein Mädchen sich zum Gespött macht und sich der Übergriffe nicht erwehren kann, wenn sich herumspricht, dass sie… den Ehrbegriff nicht geachtet hat. Das hier ist Travias Land, und auch wenn man den Namen der Muttergöttin nicht so oft hört in der Sichel, so gelten ihre Regeln dort nicht minder!“

Ach das hast du ihrer Mutter versprochen…“ stammelte Jodokus. „Das lässt sich regeln. Ich kann eine Morgengabe leisten, die eine entgangene Mitgift sicher mehr als ausgleicht, jedoch...“

Weiter kam er nicht. Tuvok versetzte dem verdutzten Jodokus eine schallende Ohrfeige. „Das war dafür weil du annimmst, Haldana wäre käuflich“ schalt der Jäger den Adeligen

 

Schritte waren auf der Leiter zum Tunnel zu hören. Alrik, ob des Lärms aufmerksam geworden, hatte sich aufgemacht, nachzusehen, was für ein Tumult im Stroh ausgebrochen war. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Er hatte Mühe, nicht lauthals aufzulachen.

I würd` mi nu gern wied´r anzieh`n.“ hauchte Haldana mit tränenerstickter Stimme. Aber weder Tuvok noch Jodokus nahmen Notiz von ihr. Lediglich Baron Alrik hatte den Anstand, sich umzudrehen. Erneut schallte eine Ohrfeige laut auf.

Ihr arroganten Stadtschnösel, bildet euch wohl ein, euch alles gegenüber dem Landvolk heraus nehmen zu dürfen. Du lebst schon zu lang in Rommilys, du wirst die Menschen der Sichel nie verstehen.“

Das hörte sich seltsam an aus dem Mund eines Nivesen, dachte Alrik. Tuvok war Nivese, nicht Schwarzsichler.

Hör` uf, Tuvok“ wiederholte Haldana. „Er kan nischts d`fir. Wohär hätt er wiss`n soll`n...“

Man muss nichts wissen, um sich ritterlich zu verhalten“ erwiderte der Nivese.

Haldana hob ihre Bruche auf. Blutverschmiert. Was hatte sie erwartet. Achtlos warf sie den Leinenstoff wieder zu Boden. Dann eben ohne Bruche. Das war jetzt doch ohnehin egal.

Danach griff sich nach dem Mieder, zog es zurecht und schob ihre Brüste wieder darunter. Langsam schnürte sie die Bändsel zu.

Verdammt, es war ein schönes Gefühl vorhin gewesen, ihre Brüste so prall und straff zu spüren, als der Stadtgeck seine flinken Finger mit sanften Bewegungen… Die Bardin kämpfte den Gedanken nieder.

Auch Jodokus kämpfte mit sich. Klar, woher hätte er wissen sollen, dass die Bardin noch Jungmaid war. Wäre dieser wütende Nivese nicht gewesen, er hätte sich um Haldana bemühen können, mit ihr reden können. Schließlich… Haldana war ihm ans Herz gewachsen mit ihrer kessen und direkten Art, ihrer herzlichen schwarzsichler Natur und nicht zuletzt mit ihrer klangvollen Stimme, die so gut singen konnte. Seine Ehe mit Irmelinde war ohnehin arrangiert. Von Respekt und Sympathie geprägt, aber dass er als junger Mann sich deswegen nie verlieben würde, das würde auch seine Frau nicht von ihm erwarten.

Haldana…“ begann er. „Ich mag vieles von Dir nicht wissen, aber ich habe nicht mit dir gespielt. Ich habe dir nichts vorgemacht und ich stehe zu Dir.“ In dem Augenblick, da Jodokus das sagte, wusste er selbst nicht, ob er sich taktisch äußerte um die Wogen zu glätten oder ob er für die Bardin tatsächlich mehr empfand, als für eines seiner früheren Abenteuer, die er neben seiner Ehe gehabt hatte. Aber mit dieser Aussage hatte er für sich eine Entscheidung getroffen. Er würde Haldana nicht im Stich lassen. Wenn nur dieser wütende Jäger endlich gehen würde. „Und ich habe, da mag Tuvok denken, was er will, dich nie für käuflich gehalten. Sondern für einen wunderbaren Menschen.“

Schleimer“ konstatierte der Jäger grimmig.

Still, Tuvok.“ murmelte Haldana leise. „S´isch g`schehn. `S war mei Fähl`r. Jodokus het nit gwisst, wer i bi od`r was mei Mutt`r dir auftrag`n het. Nun brauchsch`d mi nimmer b`schützn. Jedenfalls nit meh v`r mi selb`r, desch is nu nimmer meh nöt`g.“

 

Alrik reichte Haldana seinen Umhang. Anders als die beiden jungen Streithähne wusste er, dass er besser nichts sagte, sondern einfach nur da war. Während Jodokus und Tuvok weiter stritten, deutete der Mondschatten ihr an, mitzukommen. Er half Haldana die Leiter herauf. Es war ohnehin schon spät geworden. Er wusste, dass Haldana lange kein Auge zubringen würde, aufgewühlt und durcheinander, wie sie war, auch wenn sie sonst nach dem Ritt und dem Gefecht und der Verletzung völlig übermüdet und ausgelaugt sein musste. Aber er wusste auch, dass Ruhe und Stille der Bardin gut tun würden.

Es war sicher auch noch nicht alles gesprochen, was noch zu sagen war in dieser Sache. Haldana ebenso wie Jodokus waren Opfer ihres eigenen jugendlichen Ungestüms geworden. Nur zu gut konnte er das nachvollziehen, wenn er sich an seine eigenen jungen Jahre erinnerte, oder auch an seine Kinder dachte. Und im Sittenstrengen Sichler Land war es allzu oft nicht leicht, den Ansprüchen der Familie und der Dorfgemeinschaft gerecht zu werden, ohne dabei selbst seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hätte er besser achtgeben sollen auf seine jungen Gefährten. Nicht umsonst achteten die Hauptleute einer jeden Truppe darauf, dass ihre jungen Soldaten und Soldatinnen sich nicht gehen ließen. Niemals die eigene Truppe, hieß es in der Armee, und das hatte seinen guten Grund, wenn man den Zusammenhalt in der Gemeinschaft junger Kämpfer nicht gefährden wollte. Vielleicht hätte er, wenn schon nicht Jodokus und Haldana, es besser wissen müssen. Er hatte den beiden Turteltäubchen bei ihrem Spiel ja schon eine Weile zugesehen. Er hatte es versäumt, rechtzeitig mit dem jungen Adeligen zu reden. Auch hatte er sich in der Bardin getäuscht, hatte er doch angenommen, sie würde nur mit dem eitlen Verehrer spielen und sich nicht darauf einlassen. Falsch gelegen. Aber auch sonst hätte er mit der Bardin früher reden können.

Nun, geschehen ist geschehen. In Marktfriedwang hätten erzürnte Eltern ihre ungehorsamen Kinder einfach vor den Traviaaltar geschleppt, damit alles der Form nach anständig bleiben würde. Ganz egal, ob die jungen Eheleute später miteinander glücklich werden oder nicht. Aber das war ja nun nicht möglich, auch wenn er dem jungen Rommilyser diese „Strafe“ sicher gegönnt hätte. Na sei es drum.

Er nahm die junge Sichlerin einfach nur väterlich in den Arm, ließ sie leicht schluchzend in seine Schulter weinen und hielt neben ihr aus bis sie, lange Zeit später, einschlief.

 

Behutsam ließ Alrik die schlafende Bardin ins Heu sinken. In diesem Moment war sie nichts weiter als ein schutzbedürftiges Mädchen, Abenteurerin hin oder her. Er deckte sie zu und schlich sich leise vor die Tür, um nach all der Aufregung des Tages seine Abendpfeife zu schmauchen. Draußen war es frisch geworden. Der Nachthimmel hatte sich bewölkt. Womöglich würde es in einigen Stunden regnen. Er fröstelte. Nur der brennende Bauernhof spendete unstetetes Licht. Das Unheiligtum draußen auf dem Acker war nur noch ein qualmender, glimmender Trümmerhaufen. Der Baron war froh, dass es im Inneren der Scheune dunkel geworden war.

Vermutlich hatte sich jeder in seine Ecke verzogen, schmollte, grollte oder schlief, je nachdem, wie es ihm gerade gefiel. Ab und an raschelte etwas Stroh, aber das konnten auch die Pferde an der Krippe sein. Oder Mäuse.

Alrik stopfte seine Fuchskopfpfeife mit der würzigen Tabaksmischung aus dem Beutel, der mit Mond und Sternen verziert war. Er hustete kehlig. Vermutlich rauchte er in letzter Zeit zu viel. Aber egal, er brauchte starken Stoff, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Flachmann mit Trollzacker, den er unter dem Wams trug, wollte er lieber nicht greifen, der war für echte Notfälle.

Behutsam, wie bei einer maraskanischen Tee-Zeremonie, holte er Feuerstein, Stahlring und Zunder aus dem Kästchen. Dann breitete er die Utensilien auf einer umgedrehten Tonne aus und schlug Feuer. Bläuliche Funken sprühten umher. Diesmal dauerte es eine Weile, bis der Zunder glomm. Ein paarmal schrammte er sich übel die Finger auf. Heiliger Assaf, er konnte es spüren, wenn sein phexisches Glück irgendwo da draußen herum streunerte. Statt ihm, wie gewohnt, still und heimlich zur Seite zu stehen. Eigentlich waren sie aus Rommilys aufgebrochen, um einem Zirkel schurkischer Dämonenpaktierer das Handwerk zu legen. Nicht um sich zu zanken und zu streiten wie aufgekratzte Zöglinge einer Kriegerschule beim Ausflug (in den erstbesten Heustadel vor der Stadt)

Endlich strömte der vertraute Tabakrauch durch seine Kehle. Wo hatte er eigentlich seinen Federhut gelassen? Ah, da drüben hing er, am Haken. Die rote Feder war ganz zerknickt. Der Baron schlug seinen Streunerdeckel aus, setzte ihn sich auf und überlegte, wo er Wache halten sollte. Die Tonne war gar nicht mal so schlecht. Er stellte sie noch ein Stückchen nach draußen, unter ein windschiefes Vordach. Von dort aus hatte er alles gut im Blick, soweit es die karge Beleuchtung zuließ, ohne selbst aufzufallen. Sehen und nicht gesehen werden. Etwas besseres gibt es nicht, falls die Lage unübersichtlich ist. Einer der "Kaisersprüche" des guten alten Kedio, Herrscher der Ruinen von Brabak. Vielleicht sollte er sie eines Tages mal aufschreiben.

Der Freiherr von Friedwang nahm auf seinem improvisierten Thron Platz, in seinen schweren Reisemantel gehüllt.

Sein Blick ging hinüber zum Haupthaus, das ein ganz passables Lagerfeuer abgab und sogar etwas Wärme abstrahlte. Der Wind stand noch immer günstig. Der Rauch wehte von der Scheune weg.

Womöglich war es doch keine gute Idee die gewesen, soweit draußen zu übernachten, außerhalb der Stadtmauer. Andererseits, eine Rückkehr nach Rommilys, zusammen mit Halike und ihren Handlangern, hätte sicher einigen Rummel verursacht - schon allein wegen den Waffengesetzen. Eine Lanze Stadtgardisten, die spätabends von einen niedergebrannten Bauernhof zurückkehrte, war sicherlich weniger auffallend als eine bunt zusammen gewürfelte Halbschwadron, inklusive Brauereibesitzer, Baron, Zwerg, Jäger, Graumagier und Bänkelsängerin.

Ein Geräusch von halblinks lenkte ihn ab. Nervös griff Alrik nach seinem Rapier, entspannte sich aber sofort wieder. Wie erwartet, war es Hesindian, der seine Abendtoilette am Brunnen beendet hatte, mit Zahnpulver und Putzhölzchen. Zarter Kräutergeruch lag in der Luft, und vermischte sich nun mit dem Duft von Pfeifenrauch.

"Ich übernehme dann die zweite Wache", sagte Hesindian und verstaute sein Krimskrams in der Gürteltasche. "Rovik die Hundswache. War sein Vorschlag. Ich glaube, unsere beiden Turteltäubchen und Haldanas Anstandsdame lassen wir erst mal schlafen... bevor sie morgen noch gereizter sind. Tuvok scheint ziemlich verletzt zu sein."

"Nicht nur er", sagte der Streunerbaron und schlug die gestiefelten Beine übereinander, wie ein Svelltländer Kuhtreiber.

"Was hältst eigentlich du von dem Ganzen?"

Hesindian blickte ins Halbdunkel, zu den Feldern, Hecken und Baumreihen, die schemenhaft am Rand des Feuerscheins zu erahnen waren. Der Edle von Orweiler trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch und strich die weißen Haare zurück: "Da fragst du den Falschen. Falls es um Fragen der Moral gehen sollte." Der Magus lächelte spöttisch. "Du weißt ja, meine Mutter ist gebürtige Liebfelderin. Im Horasreich bekäme eine junge Frau Ärger mit der Familie, wenn sie mit 19 oder 20 Götterläufen noch immer reinweiß ist wie eine Traviagans."

Alrik brummelte etwas. Das Fass war hart und kippelte. Aber vielleicht war es ganz gut, dass er nicht allzu bequem saß. Damit war die Gefahr, einzuschlafen, geringer. Das Ganze erinnerte ihn an damals, die Flucht aus dem brennenden Rommilys. An Golgariella, die junge Borongeweihte. Ihre Begegnung mit einem wandernden Wirtshaus und schwankenden Untoten. Am Ende hatten sie sich ebenfalls in eine Scheune geflüchtet. Die noch in der gleichen Nacht in Flammen aufgegangen war.

Golgariella… auch diese Liebelei war höchst unerfreulich ausgegangen. Der Tod ist das beste Rahjaikum. Hatte er das damals behauptet oder seine schwarzgewandete Gespielin? Wahrscheinlich war es wirklich nur die Furcht vor der eigenen Vergänglichkeit, die Männer und Frauen zusammenführte. Ein verzweifeltes, gegenseitiges Festklammern ans Leben, ans Hier und Jetzt. Manchmal mit dem Zweck, Kinder in die Welt zu setzen, um Boron ein Schnippchen zu schlagen. Weitaus öfter mit dem Ziel, Tsa ein Schnippchen zu schlagen. Der Preis bestand all zu oft in Schuldgefühlen, nach der Trennung. Alrik bewunderte Rahjajünger, die aus reinem Vergnügen der Göttin der Liebe huldigten. Und am nächsten Tag völlig unbeeindruckt ihres Weges gingen, ohne sich mit derart komplizierten Dingen wie Liebe, Ehe, Traviabünden, Sitte und Moral befassen zu müssen. Oder mit Elternschaft...

"Die Liebe und der Flinke Difar, bereiten beide Schmerzen. Das eine kommt vom Arscherl her, das andere kommt vom Herzen. Alte Schwarzsichler Bauernweisheit". Alrik hatte ein Hölzchen entdeckt und schob es unter die Tonne. Ah, schon besser. Oder?

Hesindian unterdrückte ein Lachen. "Gibt es im Sichelhag nicht das Jus primae noctis? Vielleicht sollte sich der edle Nachkomme des Hauses Baernfarn auf sein Recht der ersten Nacht berufen?"

Alrik drehte einen Weidenkorb als Fußstütze um und nahm wieder Platz. So langsam passte es. In seinem Alter sollte man sich das Leben so bequem machen wie möglich. "Nicht so laut, nicht so laut. Sonst macht der junge Herr da drinnen noch von seinem Duellrecht Gebrauch." Auch Alrik grinste und deutete mit der Pfeife auf das Scheunentor.

"Ich versteh das Problem nicht" Hesindian griff nach dem Zauberstab, den er an die Scheune gelehnt hatte. "Haldana hat diesen bärtigen Kerl heute abgestochen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da drüben am Weg, da klebt noch sein Blut. Eine riesige Blutlache. Nun macht sie wegen einem winzig kleinen Stich ein Geschrei wie eine entjungferte Badilakanerin? Versteh einer die Frauen. Oder die Darpaten..."

"So kann nur ein frivoler Halbhorasier reden" sagte Alrik flapsig. Nun merkte er, dass die Tonne in die andere Richtung kippelte. So wurde das nichts. Er versetzte sein Werk Richtung Wand, als Stütze. "Wir Schwarzsichler sind nun mal ein überaus traviafürchtiges Volk."

"Außer wenn gerade wieder mal Hexennacht ist."

"Die ist nur einmal im Jahr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Alten Kulte wären nur halb so beliebt, wenn meine Friedwangen jede Nacht nackt und berauscht ums Lagerfeuer tanzen müssten. Der Reiz des Verbotenen halt. Überhaupt, das Recht der Ersten Nacht ist doch nur eine adelsfeindliche Legende. Nichts als eine yesatanische Fantasie. Sowas gibts vielleicht im Bornischen, oder in Oron...aber ganz sicher nicht bei uns in der Rommilyser Mark."

"Gernot hat damals das Recht der Ersten Nacht wieder eingeführt, in Friedwang."

"Ja, weil er an den Stechtaler ran wollte, der alte Gierschlund"

"Den was?"

"Den Schürzenzins. Die Mitgiftsteuer bei jedem Traviabund. Die Traviageweihten sind damals auf die Barrikaden gegangen, nach allem, was man so hört."

Hesindian nickte. "Das Friedwanger Gänsestechen. Die Mädchen mussten oben im Schloss vorstellig werden - je nach Wert wurde dann die Steuer fällig. Ich kann mich aber nur an Naturalien erinnern, eine Kuh, eine Ziege oder eben Gänse und Hühner. Für die armen unfreien Bauernmädchen war das kaum weniger demütigend, als wenn sie wirklich zu diesem Lustmolch ins Bett hätten steigen müssen. Um ihm sein Herrenrecht zu gewähren."

 

 

"Kühe, Gänse, Ziegen...? Man muss kein Baron sein, bei uns in der Sichel, um so was ins Bett zu bekommen" Alrik hatte einen Scherz versucht, merkte aber, dass Hesindian eher zerknirscht als erheitert blickte.

"Du warst ja damals Gernots Hofmagier. Apropos - gibt es nicht magische Möglichkeiten… ich meine, einen Heilzauber, um Haldanas... kleines Missgeschick zu kurieren?"

"Dazu müsste ich ihr die Hand auflegen. Am besten noch in dieser Nacht. Könnte leicht missverstanden werden. Außerdem geht es in dem Fall wohl mehr um seelische Verletzungen."

"Natürlich." Alrik wurde wieder ernst. "Das ist ja gerade das, was mir Sorgen macht. Auchn Zug?"

Hesindian nickte, und Alrik reichte ihm die Pfeife. Hesindian paffte, hustete etwas. Immer, wenn Alrik das Gefühl hatte, er könnte gegenüber einem Rangniederen als arroganter Aristokrat rüberkommen, teilte er seinen Tabak. Dabei war der Magus eigentlich Nichtraucher (und selber von Stand).

"Ich meine, ein bisschen kann ich Jodokus ja verstehen", sagte der Baron. "Wegen der tollen Liebesnächte hat er diese Irmelinde sicherlich nicht geheiratet. Aber er ist ein Baernfarn. Die sind manchmal vielleicht ein wenig tappsig und zudringlich, wie ihr Wappentier. Aber ein Bär ist kein Bock, wie mein schurkischer Vetter einer war. Irgendwie passt das Verhalten nicht zu Rauls Sohn...diese Lüsterne...Rücksichtslose..."

"Worauf willst du hinaus?"

"Nun ja. Findest du nicht auch, dass das Abfackeln des unheiligen Schreins ein wenig zu leicht ging?"

Hesindian hustete wieder, und gab die "Friedenspfeife" wieder zurück. "Soll mir recht sein, wenn es mit einer Austreibung so einfach geht..."

"Was ist mit diesen Hornissen, die uns gestochen haben? Müssen wir jetzt mit irgendwelchen Krankheiten rechnen...?"

"Das waren doch nur Halluzinationen, um uns zu peinigen. Übertragen Hornissen Pestilenzen?"

"Vielleicht rauben sie jungen Männern den Verstand?"

"Hmmm. Gewagte Theorie. Ich dachte eigentlich, die Hornisse wäre die heilige Kreatur des Shinxir..."

"Shinxir...wer ist das jetzt gleich nochmal? Meinst du den Götzen aus den Dunklen Zeiten?"

"Ja. Im Horasreich soll es wieder Anhänger dieses Kriegsgottes geben, seit dem Sternenfall von Arivor. Den Geheimbund der Myrmidonen. Shinxir steht für absolute Disziplin, Kameradschaft und Pflichterfüllung, für Loyalität und Treue zur Gemeinschaft. Du bist nichts, dein Schwarm ist alles. Passt nicht so ganz zu Jodokus´ Verhalten."

"Da ist aber jemand gut informiert. Über finstere Götzen, die mal vor Urzeiten dem Silem-Horas-Edikt zum Opfer gefallen sind. Kein Wunder, dass du eine Vorladung ins Informations-Institut bekommen hast." Alrik war schon wieder zum Spotten aufgelegt.

"Es war Jel-Horas, der die Verehrung von Insektengöttern verboten hat, lange vor Silem...Götter wie Mokosha oder die Herrin des Siechtums, deren Namen ich nicht nennen möchte. Oder eben Shinxir. Die entscheidende Schlacht fand bei uns in Almada statt, gar nicht so weit weg von Brig-Lo, auf den Bluthügeln von Caldaia. Damals haben die Rondrianer die Shinxir-Anhänger besiegt und in den Untergrund gezwungen. Ich glaube, im 3. Jahrhundert vor Bosparans Fall. Seitdem verehren wir Rondra als Herrin des ehrenvollen Zweikampfes. Nicht Shinxir, der für den Kampf in der Gruppe steht...den Kampf bis zum Sieg, notfalls auch mit Gift und Dolch."

"Den guten Zwölfen von Alveran sei Dank. So eine Löwin ist ja auch prachtvoller anzuschauen als ein Schwarm kleiner hässlicher Hornissen" Alrik wedelte schon wieder mit der Hand, um mit dem Rauch seine Lästerung zu vertreiben. Der Sternenfall von Arivor. Natürlich hatte er davon gehört. Ganze Sternbilder sollten sich seither verändert haben. Manche behaupteten, das Phex gerade den Nachthimmel neu zusammen fügte. Da fiel schon mal was runter?!

Nein, der Mondschatten mochte nicht glauben, dass der Heimliche mal eben so tausende Menschen vom Antlitz Deres tilgte. Das wäre ziemlich, nun ja, unheimlich gewesen. Alrik wusste nicht viel vom Schicksal Arivors. Wehrheim war ebenfalls untergegangen, oder das alte Gareth...was zu Kaiser Hals Zeiten viele Jahre lang für Grauen und Entsetzen gesorgt hätte, war heutzutage kaum mehr als eine Meldung im Aventurischen Boten.

"Arivor wurde doch, glaube ich, durch einen fallenden Stern zerstört. Oder sind da riesige Hornissen vom Himmel geplumpst?"

"Nun, es gibt Gerüchte, wonach bei dem Erdbeben geheime Kulträume freigelegt worden sind. Uralte Kulträume des Shinxir...mit krabbelnden Dienern des Vielleibigen..."

"Die findest du in jeder zweiten Herberge zwischen hier und Arivor. Und was sollen nun Shinxirs Hornissen mit unserer angeblichen Bienenkönigin zu tun haben?"

"Nun, wie es heißt, sind alle insektenähnlichen Götzen ursprünglich in der Zeit der Vielbeinigen Völker angebetet worden. Dem Siebten Zeitalter. Sie sind sich also ziemlich ähnlich...Die Hornissen könnten auf eine Pervertierung der Prinzipien des Shinxir hinweisen. Wenn ich es richtig gesehen habe, waren sie pechschwarz..."

"Das klingt für mich wie eine typische Magierspekulation" Alrik reckte sich auf dem Fass. So richtig bequem war sein Sitzplatz immer noch nicht. "Nach Hesindian eben. Ziemlich weit hergeholt..."

"Denk dran, was damals in den Schwarzen Landen geschehen ist, auf unserer Schatzsuche. Diese ständigen dämonischen Einflüsterungen, die unsere Gemeinschaft zerstören wollten, durch Streit und Hader...heimlich, still und leise. Von innen heraus. Gut möglich, dass heute etwas ähnliches geschehen ist."

"Nun, eigentlich sind sich die beiden doch ziemlich nahe gekommen, Jodokus und sein Schwarm..." Der Mondschatten gähnte und überlegte, ob er sich nicht lieber auf den Boden setzen sollte. Verstohlen kratzte er sich an den kleinen Pusteln auf den Händen und am Hals, dort wo ihn die Hornissen gepiesackt hatten. Angeblich reichten sieben Hornissenbisse, um einen Tralloper Riesen zu töten, und drei, um einen Menschen in Borons Reich zu schicken. Aber der Unbill hielt sich in Grenzen, bis auf ein leichtes Jucken. Obwohl er mindestens vier Einstiche zählte. Man sollte wirklich nicht zu viel auf Gerüchte und Legenden hören.

"Ah, jetzt ist auch noch die Pfeife aus" Alrik verzog den Mund, als er auf den erkalteten Fuchskopf blickte.

Hesindian deutete eine Verbeugung an und ließ Nasrûlgin, seinen Zauberstab, aufflammen. Der Baron zuckte kurz zusammen: Er würde sich nie ganz an Hesinderei in seiner Nähe gewöhnen. Dennoch war es scheinbar normales Feuer, in das er nun seinen Zunder hielt. Nach wenigen Augenblicken brannte die Pfeife wieder. "Danke", nuschelte der Friedwanger zwischen dem Mundstück hervor.

Hesindian runzelte die Augenbrauen und linste zur Scheunentür. War da gerade eben ein Schatten gewesen? Hatte jemand ihr Gespräch belauscht? Oder litt er schon an Verfolgungswahn? Er sollte nicht zu viel von Dämonenwerk und halb vergessenen Göttern aus finsteren Zeiten reden, kurz vor dem Schlafengehen.

Irgendwie gefiel ihm das Nachtlager nicht. Man holte sich leicht Flöhe und Rattenbisse, auf Heu oder Stroh. Womöglich hatte wirklich die Einflüsterung der Erzdämonin sie dazu verlockt, in einer halbverfallenen Scheuer zu nächtigen. Statt traviagefällig und sicher in einem weichen, bequemen Rommilyser Federbett zu schlummern. Neben den marbiden Überresten von Helbers Hof stank es zudem nach Rauch und Tod. Jeder Schatten erinnerte den Magier an das Grauen, dass sie im Keller entdeckt hatten. Genauso gut hätten sie auf dem Boronanger der Litzelstadt übernachten können, mit seinen Ghulen und Spukgestalten.

Hesindian war wohl anzumerken, was er von der Umgebung hielt. "Na komm schon", versuchte ihn Alrik von Friedwang aufzumuntern. "Wie in den alten Zeiten...Wache schieben am Lagerfeuer, auf Heu schlafen...da fühlt man sich doch gleich zehn Jahre jünger...."

"Ich fürchte, ich werde mich morgen zehn Götterläufe älter fühlen", murrte der Magier. "Sollte mich jetzt schlafen legen. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Bettschwere." Er tastete nach seiner Gürteltasche. "Lust auf eine kleine Boltanpartie?"

"Natürlich, Boltan und Würfel spielen. Auch das zählt zum echten Abenteurerleben." Alrik stand auf und lüpfte seinen Hut. "Um welchen Einsatz soll es gehen, Taler oder Kreuzer und Heller?"

"So abgebrannt wie unser Schlafplatz ist, würde ich sagen, Kreuzer und Heller."

"Also gut. Wer gibt?"

"Immer der, der fragt."

 

 

 

Das muntere Zwitschern einer Feldlerche weckte Alrik aus seinen Träumen. Die Nacht war irgendwie unruhig gewesen, aber nicht unangenehm. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte es geregnet, daran konnte er sich erinnern, und an sein lautes Schnarchen. Ebenso, dass er beim Boltan gewonnen hatte. Am Ende hatte er Hesindian sogar mit einer Akademie besiegt, einem "Fünfling" aus Magiern, ausgerechnet. Wenn das kein gutes Omen war...

Er hatte wirklich gut geschlafen. Alrik schob den Hut nach oben, und blinzelte ins helle Morgenlicht. Ah, er hatte sich Flockes Sattel unter den Kopf geschoben, eine gute Idee. Aber das es dermaßen hell war, inmitten der Scheune?

Er ruckte erschrocken hoch, unter seiner Decke. Langsam kehrte die vollständige Erinnerung zurück. Neben ihm lag die Pfeife, und war längst erkaltet. Was hatte er getan? Der Sattel lag an der Scheunenwand, unter dem Vordach, aber ansonsten im Freien. Ver...dammt. Er musste es sich hier draußen gemütlich gemacht haben. Ein wenig zu gemütlich. Offenbar war er dann beim Pfeife rauchen eingeschlafen. Beim Wacheschieben. Nicht sehr shinxirgefällig.

Alrik kratzte sich am Kopf, setzte sich auf. Die qualmenden Trümmer des Bauernhofs hatten fast schon etwas Malerisches. Es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Das Wolkenspiel am Himmel war atemberaubend. Das Land sah wieder perainegefällig aus, mit seinen fruchtbaren Äckern und Wiesen. Es war, als wäre ein schlimmer Alpdruck von ihm gewichen. Bienen summten umher. Sie hatten nicht alles falsch gemacht, gestern. Alrik langte sich an den Hals. Der war unrasiert und stoppelig, aber nicht durchschnitten. Offenbar hatte ihm der kleine Schlummer nicht geschadet.

 

Plötzlich stand Tuvok vor ihm, der Jäger. Das personifizierte schlechte Gewissen der Gruppe.

"Morgen" brummte Alrik, und schlug die Decke zur Seite.

"Wo ist Haldana?" Der Waidmann war totenbleich.

"Was?"

"Haldana ist verschwunden", ächzte der Jäger und sah verstört um sich.

"Wird mal austreten gegangen sein". Alrik reckte die Arme und gähnte genießerisch. "Da drüben steht eine Latrine"

"Sie hat ihre Laute mitgenommen" sagte Tuvok tonlos. "Wer...wer hat Wache gehalten? Es sollte doch jemand Wache halten."

"Das war ich", sagte der Baron und musste zugeben, dass das nicht allzu heldenhaft klang. Er rieb sich die Augen. "Muss irgendwie eingeschlafen sein. Verstehe ich nicht."

Tuvok sagte nichts, sondern musterte nur kühl den barönlichen Schlafplatz.

"Was ist mit ihrem Pferd?" fragte der Friedwanger.

"Ist noch da...aber sie ist ja auch keine Pferdediebin..." Der Jäger machte eine hilflose, fast schon verzweifelte Handbewegung.

"Na komm, Tuvok. Du glaubst doch nicht wirklich...dass sie...also, dass sie einfach auf und davon ist. Nur wegen...also wegen..."

Zu allem Überfluss tauchte auch noch Jodokus auf. Oder zu Alriks Glück, den der Jäger wirkte auf ihn wie ein brodelnder Feuerberg kurz vor dem Ausbruch.

"Haldana ist weg" grollte er in Richtung des Edelmanns.

"Wie weg?" sagte Jodokus lahm und trottete verschlafen zum nächsten Gebüsch.

Tuvoks Hand verirrte sich zum Messer.

Alrik stand schwankend auf und spürte nun jeden einzelnen Knochen. Vielleicht auch die Gicht in den Fingern.

Auf der Tonne lagen noch immer die Boltankarten und sein Gewinn. Klirrend strich er die kleinen Münzen ein.

Erst jetzt realisierte er, was sich da gerade zwischen dem Jäger und dem Rommilyser anbahnte. Der junge Baernfarn drehte sich um.

"Wahrscheinlich ist sie hinterm Haus", sagte Jodokus.

"Ich habe überall nach ihr gesucht" sagte Tuvok. "Sie ist weg." Seine Stimme klang jetzt nach einem Schneesturm in der Nivesensteppe. Eiskalt und fauchend. Seine Finger umschlossen noch immer den Griff des Messers.

Jodokus merkte, dass er gerade unbewaffnet war, und runzelte die Augenbrauen.

"Es ist alles nur deine Schuld". Der Schneesturm in Tuvoks Stimme wurde heftiger. Seine Augen blitzten.

"Was soll das jetzt werden, Steppenschleicher? Willst du mich niederstechen und ausweiden?" Jodokus blickte zu Alrik, wobei er eher Bestätigung als Hilfe zu suchen schien. "Ich warne dich, Jäger. Du bist es, der sich vergisst. Ich war gestern bereit, über deine...deine Unbeherrschtheit hinwegzusehen. Ich muss leider zugeben, dass ich mich zu einer Dummheit habe verleiten lassen, durch dieses...dieses verrückte Mädchen..."

"Gibst du nun auch noch Haldana die Schuld ??!" Tuvok schrie auf, zog sein Messer und ging auf Jodokus zu.

"Du hast sie entehrt! Wenn sie sich etwas angetan hat, bringe ich dich um!"

"Gemach, gemach" Alrik schob sich zwischen die beiden Streithähne. "Vielleicht sollten wir wirklich erst einmal schauen, wo sie ist. Aufeinander losgehen können wir nachher immer noch."

Nun bemerkte er Hesindian, der in der Tür aufgetaucht war und offenbar alles mitverfolgt hatte.

"Shinxir" sagte der Magier. Es klang wie ein Zauberwort.

"Maraskan", nickte Alrik. Dann wandte er sich wieder dem Jäger zu, der noch immer das Jagdmesser in der Hand hielt, zitternd vor Zorn.

"Tuvok, ich verstehe deine Aufregung. Aber wir sollten jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und nichts tun, was wir nicht mehr rückgängig machen können..."

"Einen...ich soll...einen kühlen Kopf bewahren!? So wie dieser...dieser geile Hurenbock dort ?!"

"Ich verwahre mich gegen diesen impertinenten Ton" Jodokus Stimme klang schneidend, ganz nach arrogantem Aristokraten.

"Muss ich dich daran erinnern, dass ich von Stand bin? Und du nur ein dahergelaufener Gemeiner? Noch ein Wort, und ich werde mir Genugtuung verschaffen, für all die Schmähungen...das hätte ich gestern Abend schon tun sollen, du Flegel!"

"Deine Genugtuung...hast du doch bekommen, du...du hirnloser Ork...nur weil du Haldanas Eltern für unfreie Bauern hältst, hast du ...hast du noch lange kein Recht...ihr verdammten Pfeffersäcke denkt, ihr könnt auch alles erlauben, aber..." Der Nivese wollte sich endgültig auf Jodokus stürzen, aber Alrik hielt ihn auf.

Jetzt nicht auch noch einen Ständestreit, dachte er.

"Tuvok", sagte Alrik beschwörend, mit der Hand auf dem Arm des Jägers, der das Messer hielt. "Was auch immer das da gestern Abend war, Jodokus hat sie nicht vergewaltigt. Verführt, entehrt, das vielleicht... aber nicht geschändet. Ich möchte Haldana nicht erklären müssen, was geschehen ist, wenn sie im nächsten Moment um die Ecke kommt...und zwischen uns herrscht Mord und Totschlag..."

"Entehrt?" Jodokus Stimme klang schrill. "Zweifelt Ihr jetzt auch noch an meiner Ehre, Herr Alrik Tsalind von Friedwang? Lasst diesen Hundsfott ruhig los, damit ich ihn züchtigen kann, wie es ihm gebührt."

"Dann solltet Ihr Euch jetzt besser auf den Weg zu Eurer Klinge begeben."

Jodokus machte tatsächlich einen Schritt auf die Scheune zu - und wurde von Hesindian aufgehalten.

Alrik hielt derweil den Nivesen zurück.

"Lasst mich vorbei, Herr Magier" blaffte Jodokus seinen Gegenüber an.

"Sonst?" Hesindian klang aufreizend ruhig, während er lächelnd seine Arme verschränkte. "Ich dachte eigentlich, wir wären schon beim Du?"

"Haben sich eigentlich alle gegen mich verschworen? Vorbei, oder..."

"Nun beruhige dich erst mal, Jodokus. Du bist nicht bei Sinnen... wir alle sind ein bisschen durcheinander..."

"Ich...ich...bin GANZ RUHIIIG!"

"Offenbar nicht. Schon mal daran gedacht, dass hier auch schwarze Magie wirken könnte? Eine unheilige Beeinflussung durch den Schrein dort drüben? Es sollte dir doch klar sein, gegen welch finstere Macht wir hier kämpfen. Euch allen. Wir stehen hier gegen eine Macht, die Chaos und Zwietracht säen will...recht erfolgreich, wie mir scheint..."

"Der einzige, der ständig Streit und Zwietracht sät, ist dieser anmaßende Jägersbursche...aber das wird sich jetzt ändern...dafür sorge ich."

"Wir sollten jetzt besser nach Haldana suchen... du liebst sie doch, oder?"

Jodokus stutzte und sah verwirrt drein. Mit einem Mal war er kein herrischer Stadtadeliger mehr, sondern ein verstörter junger Mann, dessen Gefühle völlig durcheinander gewirbelt waren. Rot prangte der Hornissenstich an seinem Hals.

"Erinnere dich...der brennende Schrein...die schwarzen Hornissen, die uns gestochen haben...die Herrin der Fliegen, Würmer und Ratten ist listig. Sie steht gegen all das, was die gütige Peraine repräsentiert. Fruchtbares Handeln, Hilfsbereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft. Es war eine dämonische Einflüsterung, fürchte ich, und du bist dieser Versuchung erlegen, gestern Abend. Das ist keine Schande. Aber es ist gefährlich. Du solltest es jetzt nicht noch schlimmer machen. Durch noch mehr unbeherrschtes Handeln. Wenn du Haldana wirklich liebst, dann müssen wir uns jetzt auf die Suche nach ihr begeben. Das gilt auch für dich, Tuvok. Spar dir deinen Zorn für den richtigen Gegner auf...ihr seid doch beide Firunsgläubige. Jagt euch nicht gegenseitig bis in die Niederhöllen."

"Dieser Schnösel liebt Haldana?" Tuvok riss sich von Alrik frei. "Das ich nicht lache. Geschwätz, nicht als eitles Geschwätz. Jeder läufige Hund hat mehr Liebe im Leib als...als dieser...Fatzke!"

Jodokus schob den Magier beiseite. "Lasst mich durch. Das muss ich mir nicht länger bieten lassen..."

Irgendwie schaffte es der Baernfarn an dem Magus vorbei. Nach ein paar Schritten prallte er gegen Rovik.

"Hab ich was verpasst?" brummte der Zwerg. "Was ist denn das für ein Geschrei am Morgen? Bei euch dröhnt es ja lauter als in Angroschs Schmiede."

"Haldana ist verschwunden", sagte Hesindian.

"Oh. Hm. Das ist nicht gut. Hat sie ihre Laute dabei?"

"Ja."

"Dann meint sie es wirklich ernst. War ja völlig durcheinander, das arme Mädchen..."

"Jetzt fängt dieser Zwerg jetzt auch noch an" schimpfte Jodokus.

"Wenn deine Axt am Drachen zerbricht, gib dem Schmied die Schuld - und nicht dem Drachen. Nom rogulrun Barobarraba. So war es schon immer."

"Was?"

"Altes zwergisches Sprichwort. Wenn nichts als Ärger bei etwas herauskommt, nun...dann deutet es darauf hin, dass es schon von Vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Also, wie gehen wir jetzt vor? Noch eine Stunde rumschreien? Oder haben wir in der Zwischenzeit einen besseren Plan?"

"Rovik hat Recht", beeilte sich Alrik zu sagen, mit Blick auf den Jäger. "Wir sollten endlich was unternehmen. Etwas Vernünftiges. Tuvok, du bist doch ein hervorragender Fährtensucher. Sieh nach, ob du eine Spur von Haldana findest, ehe wir noch mehr Zeit verlieren. In der Zwischenzeit satteln wir die Pferde. Egal, wo sie hin möchte. Beritten holen wir sie wieder ein. Weit kann sie nicht gekommen sein."

 

Während der Jäger sich auf die Suche machte - er hatte eingesehen dass Rovik, Alrik und Hesindian recht hatten - fanden Alrik und Hesindian Zeit, durchzuatmen. Es war zu viel gewesen heute Vormittag. Das hatte der Gruppe nicht gut getan, dieser unnötige Streit.

So ganz hatte Hesindian das ohnehin nicht verstanden. Jedenfalls passte da einiges nicht ganz zusammen, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Oder hatte er es einfach nur nicht begriffen? Sein Blick fiel auf Rovik, den bärtigen und grimmig-entschlossen dreinblickenden Zwerg.

Wie sagtest du gleich noch einmal hieß dein Vater?“ Hesindian vermochte selbst nicht genau zu sagen, was ihn dazu bewog, jetzt die vermeintlich unpassende Frage zu stellen. Es war wohl auch, um vom Streitthema abzulenken und Jodokus dazu zu bringen, sich mehr mit den drei angeheuerten Gefährten zu befassen. Aber die Frage hatte ihm auch sonst schon beschäftigt. Es war mehr als eine Ahnung.

Vulkanus“ sagte der Zwerg. „Rovik, Sohn des Vulkanus“ wiederholte der kleine Mann seinen Namen.

Sag mal, Rovik… die Schwarze Sichel ist ja nicht so dicht bevölkert und es gibt nicht so viele Zwerge in den Bergen, aber dein Vater, Vulkanus, war der nicht mal Schmied in Gallys? Der Sohn des Gladiat?“

Du kanntest ihn?“ Rovik war verblüfft.

Ich mag aus Almada kommen, aber ich lebe auch schon seit mehreren Jahrzehnten in Friedwang. Und in der Sichel kennt jeder jeden über zwei oder drei Ecken. Ja, ich kannte Vulkanus, den Sohn des Gladiat. Nicht gut, aber ein paar Mal habe ich ihn gesehen. Er war ein guter Axtkämpfer.“

Dann kanntest du ihn besser als ich“ brummte Rovik einsilbig. „Mein Vater ging auf Wanderschaft, wie alle jungen Zwerge. Zog mit einem Menschenkrieger durch die Lande. Und dann übernahm er eine Schmiede in Gallys. Aber bevor er sein Gesellenstück fertigen konnte, starb er, ehe er wieder heimkehrte.“

Im Krieg gegen den Bethanier, das war nicht lange vor der Dämonenschlacht an der Trollpforte“ ergänzte Hesindian, und Alrik fragte sich, woher sein Hofmagier das wusste. „Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“ fragte der Baron ihn? „Der Gallyser Schmied? Woher weißt du das, Hesindian“

Na das solltest du aber auch wissen, Alrik.“

Erzähl von meinem Vater…“ unterbrach der Zwerg. „Was weißt du von ihm?“

Naja, ich habe ihn erst in seinen letzten Jahren kennen gelernt. Ihn und seinen Kampfgefährten der letzten Jahre. Die beiden gaben ein beeindruckendes Bild ab, meine ich. Also, das muss man sich bildlich vorstellen. Ein über zwei Schritt großer Thorwaler und ein Angroschim nebeneinander, beide mit schweren Äxten bewaffnet. Nannten sich Axtgespann, in Anlehnung an Spießgespann, was man ja auch bei den Angroschim kennt.“

Rovik nickte. „Ja, Axtgespann. So habe ich es auch gehört. Nur dass ich diesen Thorwaler nie gesehen habe…“

Hjalf, so hieß er. Ich kannte ihn aber auch nur flüchtig. Er ist auch im Krieg gefallen.“

Hjalf“ Alrik dachte nach. „Das war der Menschenkrieger, mit dem Roviks Vater durch die Lande zog?“

Ja und nein… sag mal, Alrik, sitzt du gerade auf der Leitung, oder hat Dir Deine Gemahlin nie von den Geschichten erzählt? Von Odilons Reisen, bevor er damals das Gallyser Erbe antrat?“

So langsam sickerte es beim Streunerbaron durch. Er zog eine Augenbraue hoch. Die über dem unbedeckten Auge.

Odilon und Vulkanus sind durch die Lande gezogen? Hatte ich das vergessen? Das muss während meiner Brabaker Zeit gewesen sein…“ stammelte Alrik.

Oder noch davor. Damals muss Odilon ein junger Bursche gewesen sein. Noch bevor es ihn dann in den Norden zog und er bei den Elfen seine elfengleiche Schönheit fand“ ein wenig verklärte sich Hesindians Blick bei dem Gedanken an Jirka. „Also diese Waldelfe. Naja… jedenfalls als die beiden dann nach Gallys gekommen sind, ist Vulkanus mitgekommen und hat dort die Schmiede übernommen.“

Rovik nickte. „Du kanntest ihn wirklich. Ich habe ihn nie gesehen, meinen Vater. Ich war noch ein Säugling, als Vater fortziehen musste. Ich ging selbst gerade in die ersten Lehrjahre in eine Schmiede, als mein Vater in Gallys weilte. Ihr wisst, wie das bei uns ist. Man verlässt seine Schmiede nicht. Ich nicht die meines Lehrmeisters und er nicht die Seine, bevor er sein Meisterstück fertigen konnte und Meisterschmied werden konnte. Und dann kam der Krieg…“

Hesindian nickte. „Der Krieg, ja. Viele haben ihre Väter nie kennen gelernt in dieser furchtbaren Zeit.

Das muss lange her sein…“ warf Jodokus ein, froh, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen.

Ja…“ erklärte Hesindian. „Vulkanus muss ungefähr gefallen sein, als du geboren wurdest. Alrik, damals warst du noch irgendwo bei Brabak. Ich war ja damals schon Hofmagier bei Gernot. Auch das ist so eine Sache… das erinnert mich fast an letzte Nacht. Citia von Baernfarn, durchgebrannt mit dem Immankapitän Ruwi ter Jaffon. Ein Skandal, den man in Gallys gerne unter der Decke hielt. Baron Gernot hingegen hat es gefreut, den südlichen Nachbarn als Gespött zu sehen. Ich werde den Verdacht bis heute nicht los, dass Gernot da seine Finger im Spiel hatte… Klar, lebenslustig bis unkeusch war Citia sicherlich schon immer. Aber dass sie ihre Kräutlein vergessen hatte und schwanger wurde. Naja wenn da mal nicht jemand seine Finger im Spiel hatte. Und damit meine ich nicht diesen Immanspieler. Und kurz nach der Geburt ist Citia gestorben.“

Meine Tante“ brachte Jodokus hervor.

Ja. Andererseits… wenn das damals eine Intrige Gernots war, ging das nach hinten los. Den Baernfarns hat es nicht wirklich geschadet, aber mit Raul gab es einen anerkannten Nachfolger und Ziehsohn, als Deggen dann den Rabenmundschen Intrigen zum Opfer fiel.“

Heißt, das Leben meines Onkels, und damit auch meines und das meiner Ziehschwester, der Baronin von Gallys, haben wir den Intrigen dieses Gernot zu verdanken?“ Jodokus fasste das ganze banal und stark verkürzt zusammen.

Naja, wäre möglich. Ich weiß noch ganz genau, dass Gernot sich damals mit einem Gallyser Alchimisten getroffen hat. Wäre doch möglich, das Citia bei diesem ihre Kräutlein bezogen hat, und dass ihr auf diese Weise unwirksame Gewürze statt der richtigen Pflanzen zugespielt worden sind.“

Mag sein“ grinste Alrik. „Es könnte Phex gefallen haben, auf diese Weise seine eigene Intrige gegen den Urheber zu nutzen. Die Wege der Götter sind unergründlich.“

 

Tuvok hatte seinen Bogen und den Köcher an sich genommen - und der Versuchung widerstanden, Jodokus einfach einen Pfeil zwischen die Rippen zu jagen. Er biss seine Zähne zusammen, was nicht nur an den Wunden lag. Das Gerede von magischen Einflüsterungen und dergleichen beeindruckte ihn wenig. Auch er war gestochen worden - und dennoch war er nicht über Haldana hergefallen. Dieser Alrik hatte leicht reden. Wenn ihr Auftraggeber nicht auf Wache eingeschlafen wäre...richtig gemütlich hatte er es sich gemacht, der feine Pinkel. Diese Städter waren alle gleich: Blaues Blut, ha! Keine Woche würden die verweichlichten Schlossbewohner und Stadtmenschen in der Wildnis überstehen, die angeblich göttergegebenen Herren der Welt. Dekadent waren sie, und hochnäsig. Egal, Tuvok musste seinen Schützling wiederfinden. Was sollte er sonst ihrer Mutter erzählen? Am Ende würde Haldana noch in der Gosse enden, oder an einem schlimmeren Ort, als gefallenes, beschmutztes Mädchen.

Ein wenig schmerzte es Tuvok allerdings schon, dass sie ohne ihn aufgebrochen war. Ohne ihn und Rovik. Sich einfach fortgeschlichen hatte. Nein, eine Schändung war das wahrlich nicht gewesen. Wie konnte ein anständiges Mädchen wie Haldana sich nur derart gehen lassen?

Wie auch immer, er war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn von seinem Zorn ablenkte. Firun war ihm gewogen. Es hatte geregnet, in den frühen Morgenstunden. Die vielen verwirrenden Spuren des Vortags waren weitgehend ausgelöscht worden, während er Haldanas zierliche Schritte gut sehen konnte, im nassen Gras. Das bedeutete, dass sie nach dem Regen aufgebrochen war, vermutlich schon im ersten, rötlichen Morgenlicht, kurz vor Praiosaufgang. Viel Vorsprung hatte sie noch nicht, vielleicht ein, zwei Stunden.

Sie war zum Brunnen gegangen, offenbar, um sich zu säubern, verständlicherweise. Was tat sie nun? Ging geradewegs auf den Feldweg zu. Selbst dort, zwischen tiefen Huf- und Wagenspuren, war ihre Fährte noch zu erahnen.

Ah, sie hatte sich auf den Weg zu den Bienenstöcken begeben. Dort aber nur kurze Zeit gestanden. Er kannte sich mit Immen nicht so gut aus wie mit den Tieren des Waldes. Aber vermutlich schwärmten sie erst bei Tagesanbruch.

Wahrscheinlich hatte sie sich als nächstes auf den Weg Richtung Landstraße begeben. Auf dem Feldweg schimmerten einige Pfützen. Die Blutlache des Schwarzbärtigen war bis auf einige Reste weggespült worden. Obwohl der schlammige Boden ideal war, um Spuren zu lesen, konnte er Haldanas "Trittsiegel" nicht mehr entdecken. Sein Blick fiel auf ein Getreidefeld, auf dem halbhoch und grünlich der Winterroggen stand. Eine deutliche Spur führte hinein, geradewegs auf den Acker. Haldanas Spur?

Was war denn das? Dort, am Apfelbaum, lehnte die Laute, nicht weit weg von den "Beuten", wie die Bienenstöcke in der Imkersprache hießen (das wusste er von Haldana). Nun war Tuvok ernsthaft besorgt. Egal, wohin die junge Schwarzsichlerin sich auf den Weg gemacht hatte, sie würde immer ihr geliebtes Instrument mitnehmen.

Der Waldläufer nahm die Laute an sich. Eine Saite fehlte. Tatsächlich, dort lagen die beiden Hälften, auf einem Steinmäuerchen am Wegesrand, wahrscheinlich gerissen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Der Jäger war sich nicht ganz sicher, aber als er Haldana das letzte Mal mit der Laute gesehen hatte, war tatsächlich eine Saite heruntergehangen. Ein beunruhigender Verdacht kam in ihm auf. Womöglich war Haldana gar nicht davongelaufen. Hatte sich die junge Frau in der Dämmerung nach draußen begeben, weil sie einfach nicht (mehr) schlafen konnte? Hatte sie sich ablenken wollen, in dem sie ihre geliebte Laute reparierte? War hier draußen etwas ganz anderes vorgefallen, als sie alle vermutet hatten?

Erneut blickte er zu der Schneise aus niedergetretenem Roggen, die dunkel ins Getreide führte.

 

Alrik hatte aufgesattelt und band Flocke am Vordach fest. Er schämte sich noch immer, wegen seines Versagens auf der Wache. Shinxir, der Götze der bosparanischen Legionen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass auf Wache einschlafen mit dem Tod bestraft worden war, bei den alten Bosparaniern. Verständlich. In Kriegszeiten, an vorderster Front, konnte das einem auch in der Reichsarmee passieren...Wenn man nicht gleich mit einem zweiten Mund aufwachte.

Hesindian kam mit zwei Pferden aus der Scheune.

"Immerhin haben wir jetzt ein Packpferd übrig, für unsere süße Honigmumie."

"Die Kiste hat Haldana also nicht mitgenommen?"

"Wäre ein bisschen schwer gewesen..."

"Keine Frauen, kein Geschrei" Alrik setzte sich den Hut auf, und schob sich ein Stück Hartwurst in den Mund, als Frühstück. "Eins sage ich dir. Das nächste Mal werde ich Soldfrauen anheuern, keine Soldmädchen."

Sein Blick fiel auf die aufgedeckten Boltankarten, die noch immer auf der Tonne lagen, neben einer Stapel mit den übrigen Karten. Fünf Magier, fein säuberlich aufgereiht, von jedem Element einer: Erz, Humus, Eis, Wasser, Feuer, Luft.

"Vergiss deine Boltankarten nicht", sagte Alrik beiläufig.

"Sind nicht meine."

Der Baron sah zu Hesindian, der gerade die Höhe der Steigbügel neu einstellte.

"Sind die Boltankarten des Zinkers", meine der Magier und öffnete die Satteltasche (wo tatsächlich das Chorhoper Glücksrad zu sehen war).

Alrik trat ans Fässchen. Hesindian war genau gegenüber gesessen, auf einem Hackklotz. Alrik hatte zuletzt seine Gewinner-Hand aufgedeckt: die Akademie. Die Karten hatten dabei genau andersherum gelegen, so das der Magier seine Kollegen hatte sehen können, im Fackellicht. Nun drängten sie sich regelrecht am anderen Tonnenrand. Sein Freund hatte die übrigen Karten danach wieder zu einem Stapel sortiert. Das war alles gewesen. Der Mondschatten hätte bei Phex schwören können, dass sie sich danach zum Schlafen begeben hatten, oder eben auf "Wache", aber nichts mehr geändert hatten.

Der Baron folgte der "Blickrichtung" der Magier. Sie deuteten geradewegs in Tuvoks Richtung. Der Jäger war den Weg hinunter gegangen und schlug sich nun, am Wegesrand, in ein Roggenfeld, mit einer Laute über der Schulter. Haldanas Laute?

"Hesindian...das heißt also, das da sind Gerrichs Karten?" hörte sich Alrik fragen. "Seine magischen Karten?"

Halb geduckt huschte Tuvoks durchs nasse Getreide. Auch wenn das Feld unangenehm feucht war, fühlte er sich wie zuhause. Wie in einer Steppe. Er trug die Laute über der Schulter, gleich neben dem Köcher. Einen Pfeil hatte er herausgezogen und auf die Sehne seines Bogens gelegt. War Haldana vor etwas geflohen? Aber die Halme waren kaum beschädigt, nur niedergetreten. Teilweise hatten sie sich schon wieder aufgerichtet. Die Bardin hatte sich vorsichtig angeschlichen, so ähnlich wie er gerade selbst.

In der Nähe flatterte ein Rebhuhn auf, aber Tuvok blieb ruhig. Er ließ seinen Blick über die grünen Halme schweifen, die gerade erst Ähren ausbildeten. Irgendein Käferchen krabbelte auf einer Ackerwicke herum. Haldanas Pfad führte ungefähr in Richtung Unheiligtum, zumindest kam ihm das so vor. Hatte sie dort irgendetwas entdeckt?

Der Jäger zuckte zusammen, als ein schwarzer Schatten vor ihm auftauchte, spannte den Bogen und legte an...Im nächsten Moment ließ er seine Waffe wieder sinken. Es war nur eine windschiefe Vogelscheuche, die dort stand, eine Strohpuppe mit zerschlissenem Bauernkittel und löchrigem Hut. War es das, was seine Gefährtin beunruhigt hatte? Nun, Haldana war ihm seit dem Kampf um Helbers Hof irgendwie verwirrt vorgekommen...aber derart närrisch war sie nun auch wieder nicht gewesen.

Er folgte dem Weg und trat nach einigen Schritten auf einer Art Lichtung im Kornfeld. Das Getreide war überall ringsherum niedergedrückt. Ein Kampf? Nein, das sah alles zu regelmäßig aus. Ein Kreis, ein vollkommener Kreis von der Größe eines Wehrturms in der Rommilyser Stadtmauer. Keine Fußspuren, nichts. Die nassen Halme schienen mit großer Kraft auf den Boden gepresst worden zu sein, aber beschädigt waren sie kaum.

"Hexenringe", so nannte man die Kornkreise in der Sichel. Manche behaupteten, sie wären ein Tanzplatz für die Töchter Satuarias oder Feenkreise. Die Alten raunten, es wären Windgeister, die im Getreide spielten. Er als Firunsgeselle wusste es besser: Brünftige Rehe hinterließen bei ihrem Liebeswerben solche Spuren (einen Augenblick lang kehrte beim Gedanken an Böcke und Ricken der alte Groll in sein Herz zurück).

Es war ein großer und gleichmäßig runder Kornkreis, sicher acht Schritt im Durchmesser. Gleichzeitig endeten hier Haldanas Spuren. Sie war einfach in den Hexenring hineingegangen - und nicht wieder hinaus. Als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden, durch die Halme hindurch in Sumus Reich hinabgesunken. Tuvok tastete nach seinem Amulett. Er war ein guter Fährtenleser. Aber diese Fährte ergab keinen Sinn. Zumindest keinen firungefälligen. So sehr er auch suchte und spähte, da war kein Hinweis mehr. Ein schmaler Pfad, und ein großer Kreis an seinem Ende. Ein Hase, der zwischen den Halmen davon hoppelte. Das war alles.

Tuvok hob den Bogen, als er vom Pfad her ein Geräusch hörte. Es war Hesindian. Auch wenn der Jäger überderische Kräfte verabscheute, konnte er den Rat des Zauberers jetzt gut gebrauchen. In einigen Schritt Abstand folgten Rovik und Alrik. Jodokus, der schurkische Mädchenschänder, traute sich nicht in seine Nähe. Gut so.

"Was hat das zu bedeuten?" fragte Hesindian.

"Das wollte ich dich gerade fragen" Tuvok reichte dem Magier die Laute. "Die stand am Apfelbaum, neben dem Weg zu Helbers Hof. Mir kommt es so vor, als wollte Haldana einfach nur eine Saite reparieren, die gerissen war. Als wäre sie gar nicht davon gelaufen."

Der Magier zupfte eine undeutliche Melodie. Es fehlte nicht viel, und die Erinnerung an Haldana hätte den Jäger übermannt.

Verzweifelt raufte er sich die Haare.

"Haldana! Wo bist du?"

Irgendwo in der Ferne antwortete ein mattes Echo.

Alrik öffnete seine Augenklappe und spähte ebenfalls um sich. "Moment...Haldana läuft mitten in der Nacht auf einen Acker...nur um dort ihre kaputte Laute zu flicken?"

"Nicht mitten in der Nacht. Es war wahrscheinlich schon dämmrig. Sie war aufgewühlt, durcheinander, konnte nicht mehr schlafen und wollte sich irgendwie ablenken...und hat vom Weg aus etwas entdeckt. Etwas im Kornfeld."

"Soll das heißen, sie wurde verschleppt?" Rovik stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Halme blicken.

"Von wem?"

"Es gibt keinerlei Kampfspuren" sagte Tuvok. "Das ist alles sehr merkwürdig."

"Fürwahr." Hesindian reichte die Laute an Alrik, der sie genauer in Augenschein nahm. Eine kleine Kerbe am Lautenhals schien schon etwas älter zu sein. "Womöglich ein TRANSVERSALIS, oder eine Art Feentor...Ich hoffe inständig, es hängt nicht mit dem Unheiligtum dort drüben zusammen..."

Tuvoks Augen weiteten sich vor Entsetzen, während er sich hilflos um die eigene Achse drehte: "Haldana??!"

Der Magier kniete in der Mitte des Kornkreises nieder, murmelte etwas und schien einen Zauber zu wirken.

Nach einer Weile erwachte er aus seiner tiefen Konzentration.

"Hier hat Madas Kraft gewirkt", nickte der Zauberer. "Aber die Residual-Spuren sind ganz schwach, kaum noch wahrnehmbar. Was immer sich in diesem Kreis befunden hat, jetzt ist es wieder verschwunden. Seit einigen Stunden schon."

Der Blick des Magiers ging versonnen nach oben, zum Himmel.

 

8- Kapitel

8. Kapitel

 

Gerrichs finsterer Plan

 

 

Die Welt war schwarz und dunkel und schien nicht fest zu sein. Sie bewegte sich aufwärts und abwärts und rollte nach rechts und nach links. Ein furchtbares Pochen dröhnte in ihrem Schädel. Woher kam das, fragte sie sich, dann versank sie wieder in einen ruhelosen Dämmerzustand. Die leicht rollenden Bewegungen hielten Sie gefangen und ließen sie keinen klaren Gedanken fassen. Oder war es der Schmerz auf ihrem Hinterkopf, der jedes Denken unterband?

Es war dunkel. Auch nachdem sie die Augen geöffnet hatte, blieb es dunkel. Offenbar war es Nacht. Aber wo waren die Sterne? Wo das Madamal? War es nicht in der Phase des Kelchs gewesen? Es war warm, schwül. Immer noch dieses Schwanken, als hinge sie einfach nur in der Luft. War es so, oder bildete sie sich das ein. Wie war sie hier her gekommen? War sie geflogen? Ein Erinnerungsfetzen, kaum greifbar, durchzuckte sie. Geflogen.

Sie tastete langsam, als könnte sie ihre Finger vor Müdigkeit kaum bewegen, den Boden ab, auf dem sie lag. Sie lag auf einem Boden… so viel stand fest. Aber war sie müde? Nein, eigentlich nicht. Warum wirkte es so, als wären ihre Finger völlig an einem anderen Ort? Drehte sich der Ort, an dem sie war? Oder war ihr schwindlig. Aber warum schaukelte die Welt dann? Bildete sie sich das nur ein.

Holz. Ihre Finger ertasteten Holz. Sie lag also nicht mehr in einem Kornfeld.

Kornfeld? Wie kam sie darauf?

Richtig… sie hatte das Bedürfnis gehabt, die Saiten ihrer Laute zum Klingen zu bringen. Hatte sich an einen Baum gelehnt, im Feld, und wollte die zerrissene Saite neu aufziehen.

Wann war das gewesen? War das lange her? Und warum tat ihr der Schädel weh? Warum war alles so schmerzhaft? Das Reißen im Bauch, das Dröhnen im Kopf? Womit hing das zusammen?

Jodokus… eine blutige Erinnerung kam in ihr hoch.

Verflucht“

Hatte sie selbst das gemurmelt? Sie wusste doch, dass man die Unterirdischen nicht anrufen sollte.

Die Unterirdischen? Was dachte sie da? Wieso dachte sie von den Dämonischen als Unterirdischen. Wieder brachte sie da etwas durcheinander.

Und warum war es immer noch dunkel? Hatte sie die Augen etwa noch geschlossen? Langsam öffnete sie die Augen, erneut. Aber dunkel war es immer noch.

Fast ganz dunkel. Ein wenig verschiedene Abstufungen der dunkelgrauen und schwarzen Töne waren zu bemerken. Aber wirklich erkennen konnte sie nichts. Noch einmal tastete sie mit den Fingern, als wären diese unendlich weit entfernt, umher. Holz… ein Holzbrett. Aber sie lag nicht auf Holz. Es war warm, weich, nicht hart und kantig und kalt. Langsam, unendlich langsam, folgte sie mit den dem Holzbrett. Es schien… senkrecht zu sein zu dem Weichen, in dem sie lag. Weiter vorne stieß es auf etwas anderes… auch Holz, aber gröber, etwas gerundet. Ein Baumstamm? Ein Balken eines Blockhauses? Ein….? Was auch immer. Aber sie lag weich. War das ein Bett? Wie kam sie dahin? Mühsam stützte sie sich auf. Tatsächlich… eine Decke. Sie musste in einem Bett liegen. Langsam und vorsichtig zog sie sich an den Holzbalken nach oben, die die Wand bildeten. Da war eine Stelle, die ihr heller schien. Ein wenig heller, ohne wirklich hell zu sein.

Ein kleiner Spalt zwischen den Holzbalken. Etwas Licht viel hindurch. Nein… kein Licht. Auch draußen schien es dunkel zu sein. Etwas Dämmerlicht vielleicht. Entweder war es frühe Morgendämmerung oder späte Abenddämmerung. Immerhin, ein wenig konnte sie draußen erkennen. Die Silhouette einer hügeligen Landschaft, die sich vor einem nicht ganz dunklen Himmel abzeichnete. Hügel… sie schienen bewaldet zu sein. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das matte Licht. Bäume zeichneten sich in ihrer Form ab. Sie standen… an einem Ufer.

Immer noch war ihr schwindlig. Wieder fühlte sie sich wie in der Leere aufgehängt. Draußen wackelte der Boden. Die Uferkante auf der rechten Seite hob sich, die zu ihrer Linken senkte sich. Was war das? Hatte Ingerimms Hammerschlag die Erde bewegt? Das konnte nicht sein.

Die Uferkante auf der rechten Seite senkte sich wieder.

Ein Schiff? War sie auf einem Schiff? Aber wenn, dann bewegte sich das Schiff nicht von der Stelle. Die Bäume am Ufer entfernten sich nicht. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen.

Es wurde Zeit, aufzustehen. Mühsam und unendlich langsam bewegte sie die Beine, schob sie über die weiche Decke und setzte sie auf den Boden. Holz. Wieder Holz. Sie stand auf, setzte sich aber gleich wieder, als es erneut in ihrem Kopf dröhnte, als hätte man ihn wie einen Amboss mit Hämmern bearbeitet.

Noch einmal zwang sie sich dazu, aufzustehen. Erst war sie sich nicht sicher, ob die Beine ihr gehorchen wollten. Auch die Beine schienen sich unendlich weit entfernt zu befinden. Wieder schien der Boden zu schaukeln.

Das musste ein Schiff sein, dachte sie. Aber wieso? Wie kam sie hier hin? Hatte sie nicht zuletzt, den Rücken an eine Hainbuche gelehnt, einfach nur musiziert? Ein paar Akkorde aneinander gefügt, wie von einer unendlich traurigen Melodie? Und warum war sie traurig gewesen?

Nun, immerhin, jetzt war sie nicht traurig. Dafür aber völlig desorientiert.

Jodokus…

Nun, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Hätte sie mal in ihrem Leichtsinn nicht mit dem in seinen überschwänglichen Gefühlen verlorenen Edelmann gespielt.

Ach schiet druf“ murmelte sie leise.

Sie tastete die Holzwand entlang. Die runden Bohlen endeten rechts und links an je einer Bretterwand, vielleicht einen Klafter voneinander entfernt. Eine kleine Kammer. Hieß das nicht Kajüte auf einem Schiff? Wenn sie denn tatsächlich auf einem Schiff war und sich das nicht nur einbildete.

Nein, für einen Alptraum war das zu real und die Erinnerung das missglückte erste Mal mit Jodokus zu klar. Aber das spielte keine Rolle mehr. Es war zugleich auch das letzte Mal mit Jodokus gewesen. Was wollte sie auch von einem Stadtschnösel. So einen gestelzten Lakai bräuchte sie daheim in den Sichelbergen gar nicht erst vorzeigen. Da würde sich die Sibilja doch im Grab umdrehen.

Wieso die Sibilja? Haldana musste sich eingestehen, dass sie ihre Gedanken nicht ganz bei sich hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf das ertasten ihrer Umgebung. Richtig. Ein Raum, einen Klafter breit und auch nicht viel länger. Runde Bohlen auf der Außenseite, wo sie auch durch einen Spalt auf die Hügelkette spähen konnte. Bretter auf den Seiten und gegenüber. Gegenüber… eine Tür. Aber verschlossen. Es war wohl ein Riegel vorgelegt. Eine Klinge hatte sie nicht ertastet, auch sonst keinen Mechanismus. Aber da die Tür nicht aufging, war vermutlich einfach auf der anderen Seite ein schwerer Holzbalken vorgelegt.

Sie war gefangen.

Von wem und warum?

Haldana tastete weiter. Andere Möbel als ein Bett schien es nicht zu geben. Bis auf ein Bündel, das neben ihrem Bett stand, war der Raum vermutlich leer, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Das Bündel. Sie griff vorsichtig danach. Eine lederne Tasche mit Tragriemen, ausgepolstert. Eine Laute. Na immerhin, das war vielleicht die erste gute Sache, von der man sagen konnte. Sie war gefangen, aber es war keine Kerkerzelle. Was immer der oder die unbekannten mit ihr vorhatten. Ein unbekannter Musikliebhaber würde es wohl nicht sein?

Aber auch wenn nicht… es konnte nicht schaden. Früher oder später würde derjenige, der sie gefangen hielt, ohnehin hier nach ihr sehen. Was immer dann geschah. Aber sie würde sich besser fühlen, wenn sie zuvor auf der Laute gespielt hatte. Sie würde ihre Gefühle wieder gänzlich im Griff haben und frei von Angst sein.

Das erste Lied, das ihr einfiel, war das Lied der Schwarzsichler Freiheitsbewegung der Sichelbarone, die von Fürstin Irmegunde nieder geschlagen wurde, `Zu Rommilys in Ketten`. Leise erklang ihre Stimme, Haldana sang die Geschichte eines Mitbegründers des Trutzbundes der Schwarzen Sichel, der für sein Eintreten für eine geeinte Grafschaft Schwarze Sichel von der Fürstin angeklagt wurde wegen Hochverrats, sich selbst der fürstlichen Gerichtsbarkeit stellte und in Ketten vor Irmegundes Thron geschleift wurde, um dort sein Urteil, die Verbannung, entgegen zu nehmen. Haldana war noch nicht geboren gewesen, als diese Geschichte stattgefunden hatte.

 

Schön gesungen. Es freut mich, geschätzte Dame, dass Ihr aufgewacht seid. Vieles freut mich an einem schönen Tag wie heute.“ Erklang eine Stimme aus dem Dunkel. Haldana hatte niemanden herein kommen hören, niemanden die Tür öffnen hören. War der jemand draußen vor der Tür? Die Stimme klang dafür eigentlich zu nah.

Haldana hatte, trotz ihres Schreckens, nur einen kurzen Moment inne gehalten, dann spielte sie die Akkorde weiter, als wäre es völlig normal, eine körperlose Stimme in einem dunklen Raum zu hören, in den man sie eingesperrt hatte.

Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hätte nicht gerechnet, einen Herrn mit Manieren und Anstand hier in dieser dunklen Kammer zu treffen.“ Haldana spielte ganz bewusst auf die höflichen Umgangsformen des Unbekannten an. Ein Lob über eine Eigenschaft brachte Männer oft dazu, diese Eigenschaft zu pflegen. Und das konnte Haldana nur Recht sein. Zumal sie wohl seine Gefangene war. Außerdem war sie in Hochgarethi gewechselt, mit dem sie vom unbekannten angesprochen worden war.

Nun, Geschätzte Dame, seid unbesorgt und verzeiht auch die Umstände, dass ich Euch ein nicht so nobles Quartier anbieten kann, wie es Euch zustehen würde. Es betrübt mich sehr. Aber Ihr werdet es verstehen.“

Haldana verstand nichts. Aber da der Unbekannte sich offenbar auf höfische Umgangsformen verstand und sich gegenüber Damen sittlich zu benehmen wusste, ließ Haldana sich auf das Wortgeplänkel ein. Eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht. Und wenn sie dem Unbekannten Informationen entlocken konnte, käme sie vielleicht weiter.

Nun ja. Ich will darüber hinweg sehen. Für den Augenblick jedenfalls. Aber vielleicht habt Ihr die Güte, euch vorzustellen. Mein Name ist übrigens…“

Ich weiß, wer Ihr seid. Aber ihr habt Recht, Haldana. Es ist guter und rechter Brauch, sich vorzustellen. Ich bin Gerrich von Friedwang“

Haldana ließ sich keine Reaktion anmerken. Aber sie hatte keinen Zweifel, dass der Unbekannte die Wahrheit sagte, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Haldana war oft genug bei Ihrer Mutter dabei gewesen, wenn diese geschäftliche Gespräche geführt hatte. Sie hatte gelernt, auf Kleinigkeiten wie den Klang der Stimme oder Gesichtsausdrücke zu achten, um ihr Gegenüber zu deuten. Zwar konnte sie jetzt Gerrich nur hören und nicht sehen, aber sie war sich sicher, dass er nichts einfach so dahin sagte.

Nun denn, Hochgeboren.“ Als Angehörigem einer barönlichen Familie würde Gerrich diese Anrede sicher gebühren, auch wenn Haldana nicht genau über die verwandtschaftlichen Bande der Familie auf dem Steinbockthron Bescheid wusste. „So möchte ich mich sehr herzlich bei Euch über die Einladung und die Gastfreundschaft bedanken. Sogar eine Laute habt Ihr mir ja zur Verfügung gestellt. Jedoch, so muss ich gestehen, bin ich neugierig, den Grund der Einladung zu erfahren.“

Gerrich lachte freundlich.

Ich sehe, ich habe mich in Euch nicht geirrt. Ich bin erfreut, dass ihr trotz der unglücklichen und anstrengenden Ereignisse der letzten Tage Euch auf dem Weg der Besserung befindet. Ich will Euch Eure Frage beantworten, geschätzte Dame. Doch habt Geduld. Eines nach dem anderen. Ihr müsst Euch noch erholen. Es ist mir und meinen Leuten zwar gelungen, Euch aus der Gewalt dieses Thronräubers Alrik und des korrupten Brauereibesitzers zu befreien, nur leider wurdet ihr dabei verletzt.“

Faszinierend, dachte Haldana, mit welch wohlgesetzten Worten dieser Gerrich die Wahrheit verdrehen konnte.

Nun, seid bedankt für Euren Einsatz, Hochgeboren. Aber es wäre nicht nötig geworden. Ich hätte es auch allein geschafft, mit diesen Herrschaften umzugehen.“

Nun, offenbar nicht. Immerhin hat dieser Schnösel ja an Euch einen Rahjafrevel begangen. Ich konnte das nicht zulassen. Natürlich, Ihr seid als tüchtige Frau bekannt und hättet Euch vielleicht auch selbst aus Eurer Lage dort befreien können. Ich weiß auch, dass Ihr mit dem Rapier gut umgehen könnt. Aber als Ritter und Mann von Stand konnte ich da nicht zusehen. Ich musste Euch befreien.“

Haldana schauderte innerlich. Klar, es wäre leicht gewesen für sie, jetzt Jodokus die Schuld daran zu geben, was ihr geschehen war. Zorn und Enttäuschung hätten es ihr nahelegen können. Doch eigentlich konnte sie, wenn überhaupt, nur zornig auf sich selbst sein. Jodokus mochte ein eitler Schürzenjäger sein und war, näher betrachtet, ganz sicher nicht der Richtige für sie. Aber ein Rahjafrevel war es nicht gewesen. Was Haldana aber insgeheim noch mehr beeindruckte und auch ängstigte war, mit welcher kalten und höflich vorgetragenen Berechnung Gerrich ihre Entführung und Gefangennahme als Befreiung darstellte. Aber es war besser, jetzt nicht mit bitten und betteln zu beginnen. Trotz der ausgesuchten Höflichkeit, mit der Gerrich sprach, war Haldana klar, dass sie nichts zu bitten hatte und Gerrich ihr auch keine Bitte erfüllen würde. Im Gegenteil, Gerrich würde es als Zeichen von Furcht und Schwäche verstehen. Als Gefangene Schwäche zeigen, das würde Ihre Lage aber nur verschlechtern und keinesfalls bessern.

Ja, ich verstehe und ich danke Euch dafür, Hochgeboren“ Haldana ließ sich auf das tatsachenverdrehende Wortgeplänkel ein. Ich nehme also an, dass Ihr diesen liederlichen Lustmolch und seine Handlanger erschlagen habt?“

Nein. Noch nicht.“ Antwortete Gerrich kurz angebunden. Immerhin wusste Haldana jetzt, dass die Gefährten noch lebten. Das war schon einmal eine gute Nachricht. „Seid unbesorgt, der Zeitpunkt wird kommen, an dem Euch Gerechtigkeit widerfährt. Nur im Augenblick noch ist die Zeit nicht gekommen für Jodokus, auf den Richtplatz zu treten. Er wird für mehr büßen müssen, als allein für einen Rahjafrevel. Nun, mir selbst geht es eigentlich nicht um Jodokus. Aber meine Pläne mit Jodokus decken sich insoweit mit den Euren, als dass Ihr Gerechtigkeit bekommen sollt… Ihr müsst Euch aber nicht bangen. Es wird schnell gehen. Jodokus di Barnfani hat genug Geld, um dem Henker eine stattliches Trinkgeld zu geben. Es wird schnell für ihn gehen. Nur, wie gesagt, noch nicht jetzt.“

Nun gut, ich werde mich gedulden. Rache ist ohnehin ein Gericht, das am besten kalt serviert wird“ hörte sich Haldana sagen. Dass ihr das Schicksal ihrer Mitstreiter am Herzen lag, war ihrem Tonfall nicht zu entnehmen. Gerrich mochte sie gefangen halten. Angst machte Gerrich ihr jedoch nicht, und sich verstellen konnte Haldana ebenso gut. „Doch sagt mir, wann ich meine Rache bekomme.“ Es konnte nicht schaden, das Spiel der verdrehten Tatsachen mit zu spielen. Jede Information konnte nützlich sein.

Nun, leider haben sich meine anderen Geschäfte ein wenig verzögert. Eine Lieferung an die Brauerei konnte nicht zugestellt werden. Eigentlich müsstet Ihr das wissen. Ihr ward ja dabei, als die Fässer mit dem Pech verbrannt wurden. Und leider dauert es, bis ich eine neue Lieferung zusammenstellen kann. Nun, ich will da nicht nachtragend sein, Geschätzte Dame, dass Ihr da auch eine Rolle gespielt habt. Ihr werdet Gelegenheit haben, Euer Missgeschick wieder gut zu machen. Und Ihr müsst dazu nichts weiter tun, als mein Gast zu sein. Dieser Jodokus scheint geradezu vernarrt ich Euch zu sein. Er wird sich mir nicht in den Weg stellen, so lange Ihr mein Gast seid. Seht mir nach, dass ich Jodokus eine andere Geschichte erzählen muss. Eine von Gefangenschaft und Erpressung. Das Geschäft macht es erforderlich. Aber es reicht, dass dieser Barnfani das glaubt, dass Euch hier ein Ungemach drohen könnte. Seid unbesorgt, niemand wird Euch hier ein Haar krümmen. Seid einfach mein Gast und genießt die Annehmlichkeit, die ich euch bieten kann. In wenigen Wochen wird mein Geschäft erfolgreich und Eure Rache vollendet sein.“

So langsam wurden die Pläne dieses Gerrich klarer. Es würde noch einen Giftanschlag auf Rommilys geben. Vielleicht erneut mit vergifteten Bierfässern. Haldana ließ sich ein Erschrecken darüber aber nicht anmerken.

Gut. Ich bin gerne Euer Gast, und ich bin sicher, dass auch das Quartier hier noch verbessert werden kann. Ein Fenster wäre recht, es ist unglaublich schlecht belüftet hier.“ Haldana machte eine kurze Pause, Gerrich sagte jedoch nichts. „Allein, Euer Plan, so glaube ich, wird nicht aufgehen. Für Jodokus bin ich nur ein Abenteuer, eine Gespielin. Wenn ich nicht mehr da bin, wird er sich nicht weiter darum scheren und sich eine andere Dame zu seinem Plaisir suchen. Nun, ich bedauere es selbst, das nicht früher verstanden zu haben. Aber… Jodokus hat bekommen, was er wollte. Ich mag gehofft haben, ihm mehr zu bedeuten. Aber letztlich war ich ihm nicht mehr als eine entlaufene Leibeigene, an der er sein Recht als Adeliger ausüben konnte.“

Gerrich lachte kalt.

Hochgeboren, wie ich schon sagte, ich weiß wer Ihr seid. Auch wenn Ihr hier die Soldfrau markiert. Gut, es ist sicher interessant, ein wenig die Welt zu bereisen und Euch die Hörner abzustoßen, bevor ihr Eurer Pflicht in Schlotz nachkommt. Auch ich habe das so gehalten, als ich in Eurem Alter war. Und natürlich tut Ihr gut daran, inkognito zu reisen, wenn Ihr ohne nennenswertes Geleit und Schutz unterwegs seid. Es gäbe sonst viele, die der Verlockung, sich ein Lösegeld zu erpressen, nicht entziehen könnten. Aber nun, Hochgeboren, mir gegenüber könnt Ihr diesen Mummenschanz bleiben lassen.“

Haldana war überrascht, dass Gerrich sie durchschaut und erkannt hatte. Hatte er das wirklich, oder bluffte er, um aus Ihrer Reaktion heraus zu lesen, wer sie war? Jetzt durfte sie sich nicht verraten und keine Schwäche zeigen. Wenn Gerrich wirklich alles wusste, dann würde sie jetzt noch ein viel größeres Problem haben.

Haldana lachte, ebenso kalt wie Gerrich zuvor. „Zurück zu Eurem Plan, Hochgeboren. Es spielt weder eine Rolle, wer ich bin noch wer Ihr glaubt, dass ich sei. Es ist allein entscheidend, was Jodokus glaubt. Und für ihn bin ich eine Soldfrau, eine entlaufene Leibeigene. Niemals eine ebenbürtige Partnerin, nur eine austauschbare Gespielen. Es ist hart, das so zu sagen, aber ich muss der Wahrheit ins Gesicht blicken. Jodokus hätte mir gefallen, ein junger und reicher Mann. Ein Mann von Welt, der zugleich in seinen Geschäften hängt, dass ich genug Freiraum für mich gehabt hätte. Was mehr könnte ich mir wünschen? Aber es ist nicht so. Wäre es anders, hätte Jodokus einen solchen Rahjafrevel begangen? Nein, Hochgeboren, so wird das weder etwas mit meiner Rache noch mit Eurem Geschäft. Wo ist übrigens mein Rapier?“ Haldana wusste, dass sie ihre Klinge nicht zurück bekommen würde. Sie stellte die Frage auch nur, damit Gerrich nicht merkte, wie nahe er der Wahrheit gekommen war. Jedenfalls nicht, wenn er nur Vermutungen anstellte, die er bestätigt zu finden hoffte.

Gerrich lachte erneut.

Haldana, Ihr seid von kindlichem Gemüt. Verzeiht mir diese offenen Worte, aber habt Ihr geglaubt, dass Jodokus Euch nicht durchschauen würde? Ich schreibe es Eurer Unerfahrenheit in Minnedingen zu, dass Ihr das nicht durchschaut habt. Ihr habt Euch zu sicher gefühlt und darauf vertraut, dass in Rommilys niemand Euch kennt, Hochgeboren. Dass Jodokus das glaubt mit der entlaufenen Leibeigenen? Nun, dann gestattet mir, Euch darauf hinzuweisen, dass Jodokus, so sehr Stadtschnösel er auch ist, aus der Sichel kommt und die alten Familien dort kennt. Ebenso wie ich, übrigens. Nun, Haldana, ihr seid nicht nur eine gute Sängerin und Lautenspielerin, ihr habt eine höfische Ausbildung genossen. Ihr könnt reiten, habt Kunde und Kenntnis von vielen Dingen. Das verrät Euch. Vor allem aber hättet ihr, wenn Ihr inkognito reisen wollt, Euch eine andere Haarpracht zulegen sollen. Natürlich hat Jodokus euch erkannt. Und er weiß eines mit Sicherheit: so einen gestelzten Lakai bräuchtet Ihr daheim in den Sichelbergen gar nicht erst vorzeigen. Eurer Mutter jedenfalls mit Sicherheit nicht.“

Hatte Gerrich so über Jodokus geredet, wie sie vorhin über ihn gedacht hatte? War das Zufall oder konnte Gerrich Gedanken lesen? Haldana schauderte innerlich. Doch sie blieb in ihrer Rolle. Was immer Gerrich auch wusste, so blieb ihr in jedem Fall, keine Angst zu zeigen.

Mein gutes Kind“ begann Gerrich erneut. „Ihr habt diesen Stadtschnösel unterschätzt. Meint Ihr wirklich, dieser Barnfani ist ein harmloser Stadtadeliger, der keiner Fliege etwas zu leide tut? Kind, mit einer solchen Einstellung mag man in einem Dorf der Sichel sein Handwerk betreiben, aber wer in Rommilys nach oben kommt, der versteht sich auf mehr. Ein solcher denkt mindestens drei Schritte voraus, was ihm etwas nutzen könnte und welche Bekanntschaft er pflegen muss, um nach oben zu gelangen oder dort zu bleiben. Meint Ihr, jemand, der eine reiche alte Schachtel umgarnt, der macht das aus rahja- und traviagefälliger Gesinnung? Das Erbe ist es, was ihn treibt? So viel Geld kann er mit seiner Brauerei in zwanzig Jahren nicht erwirtschaften, wie er auf die Schnelle erheiratet? Und wenn die Alte mal den Löffel abgibt, ist alles sein? Würde mich wundern, wenn das noch lange dauert. Jodokus wird schon rechtzeitig nachhelfen. Irmelinde hat ihre Schuldigkeit getan für ihn, er braucht sie nicht mehr. Jetzt seid Ihr an der Reihe.“

Zum ersten Mal fiel Haldana nicht wirklich ein, was sie sagen sollte. Ihr war klar, dass Jodokus Geld und Einfluss geheiratet hatte und nicht die Frau, die er liebte. Dass er mit einem gewissen Zynismus abwarten würde, bis er Witwer war, lag auf der Hand. Dass Jodokus, wie Gerrich das so kalt aussprach, das ganze beschleunigen würde, glaubte sie indes nicht.

Sehr interessant, diese Theorie. Aber… nun, wenn Jodokus darauf aus sein sollte, von mir ein Erbe zu bekommen nach dem Dahinscheiden seiner Gemahlin… dann hätte er sich wohl mehr Mühe gegeben. Nein, Hochgeboren, ihr irrt Euch.“

Er braucht sich nicht mehr Mühe geben. Er hat Euch die Unschuld genommen, mein Kind. Sobald er Witwer ist - und das wird sicher nicht mehr lange dauern, da er jetzt handeln muss - wird er bei Eurer Mutter, ganz der vorgebliche Galan, als der er auftritt, um Eure Hand anhalten. Ihr kennt die Traditionen der Sichel. Ihr beide wäret nicht die Ersten die man, um Schande und Gespött zu unterbinden, vor den Altar der Travia schleift. Würde Eure Mutter da nein sagen, wenn ein halbwegs standesgemäßer und Wohlhabender Stadtadeliger zu seinem der Lust geschuldeten Seitensprung steht und vor dem Angesicht der Götter alles legitimiert? Natürlich nicht, mein Kind. Im Gegenteil. Eure Mutter wäre froh, wenn das dann in aller Stille und Verschwiegenheit über die Bühne ginge und es einen halbwegs standesgemäßen Ehemann für die Tochter gibt. Sie hätte gar keine andere Wahl, als Euch zu verheiraten, mein Kind, um Euch nicht zum Gespött des Volkes zu machen und damit die Dynastie zu riskieren. Und Jodokus hätte dann nicht nur eine hübsche Frau, sondern wäre als Baron von Schlotz mit einem Mal dem Hochadel zugehörig. Das ist es doch, was dieser Jodokus plant. Nur deswegen hat er Euch den Hof gemacht und Euer Tarnspiel mitgemacht. Doch jetzt, so scheint es, hat er gewonnen, was er will. Und… nein, das kann ich nicht zulassen.“

Haldana war verunsichert. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Hatte Jodokus sie durchschaut und erkannt? Sie, das älteste Kind Baron Tsafrieds von Schnayttach zu Schlotz und seiner Gemahlin, Haldana von Binsböckel? Nun, es konnte sein. Immerhin war ihre Tante Valyria in dessen Familie eingeheiratet. Er konnte durchaus genug erfahren haben, um sie zu erkennen.

Nun, Hochgeborene Haldana zu Schlotz“ führte Gerrich seine Rede mit eiskalter Stimme fort. „Ihr werdet mir dankbar sein, dass ich das verhindern werde. Ein solcherart mit kalter Berechnung begangener Rahjafrevel ist ohne Beispiel. Daher ist es mir eine große Freude, Euch bei Eurer Rache zu helfen und Jodokus zu vernichten. Auch werde ich es nicht zulassen, dass Schande über Euch kommt. Auch bei der Suche nach dem richtigen Ehemann für Euch bin ich natürlich behilflich. Bald wird Hochzeit gehalten. Die Baronien Schlotz und Friedwang werden vereint sein und fortan mit gemeinsamer Stärke den Sichelbund beherrschen.

Aber nun, mein Kind, erholt Euch noch ein wenig und übt Euch in Geduld.“

Die Stimme verstummte. Haldana war wieder allein. Allein mit sich, ihrer Verzweiflung und dem Wissen um Gerrichs diabolischen Plan.

 

Haldana setzte sich wieder aufs Bett und griff nach der Laute. Gedankenverloren zupfte sie einige Akkorde. Aus irgendeinem Grund kam ihr das schwermütige Walsachschifferlied in den Sinn. "Eh...oh...eh...oh...hau ruck, ihr Walsachschiffer..."

So wurde das nichts. Die Laute war irgendwie schlecht gestimmt. Die Sichlerin brach seufzend ab. Sie bekam hier unten keine Luft. Es war feucht, heiß und stickig. Irrte sie sich, oder war es in ihrer Kajüte ein wenig heller geworden?

Erneut blinzelte sie durch die Ritze, tastete mit ihren Fingern über das Holz. Erst jetzt bemerkte sie den hölzernen Riegel. Die Ritze gehörte zu einem Fenster? Tatsächlich. Erfreut öffnete sie die kleine Klappe. Frische Luft und frühes Morgenrot strömte herein. Herrlich. Nun konnte sie draußen weitere Einzelheiten erkennen.

Wäre die Szenerie um sie herum ein Landschaftsgemälde gewesen, sie hätte es als kitschig empfunden. Der Sonnenaufgang war nicht mehr fern, Frau Rahja betupfte die Wolken mit einem zarten Rosa. Die Hügel leuchteten in einem unwirklichen Licht, wie auf einer riesigen Theaterbühne. Die Anhöhen waren offenbar ziemlich steil und bewaldet, dahinter ragten rotglühende Berggipfel auf. Direkt am Ufer verlief ein Treidelpfad. In etwa einem Bogenschuss Entfernung stand ein großes, schmuckes Fachwerkhaus, ummauert und mit Nebengebäuden. Leider war ihr Blickfeld noch immer eingeschränkt, sonst hätte sie den Anblick als weitaus grandioser empfunden.

Haldana überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte. Aber ziemlich sicher würde Gerrich ihrem Geschrei nicht tatenlos zuhören.

Erneut tastete sie nach dem Musikinstrument.

"Im finsteren Turme zu Baliho-oh,

saß einst des Kö-öönigs Maid.

Ihr Bettlein war aus hartem Stroh-oh,

das Herze voller Gram und Leid.

Die Hände, einst silbergeschmücket und zart,

umschlossen nun eiserne Ketten.

Die drückten die Jungfer gar hart.

Wer würde sie erretten?

Zu Hülfe, zu Hülfe - hört ihr die Prinzessin klagen?

Ihr heiligen Zwölfe, sie mag soviel Leid, auf Dere nicht länger ertragen.

Zu Hülfe, zu Hülfe. Sagt an edle Ritter, wer stehet Ihr bei?

Wer eilet zum ehernen Gitter, schlägt die schändlichen Bande entzwei? B

efreiet die Schöne aus Schmach und aus Not,

fürchtet weder den Namenlosen, noch Uthuris Pfeil und den Tod..."

Einen Augenblick lang war sich die Minnesängerin raffiniert vorgekommen, als sie bei jedem "Zu Hülfe" laut die Stimme hob. Aber der Erfolg war bescheiden. Irgendwo im Röhricht quakten ein paar Enten, das war alles. Der Fluss gluckste träge. Weißer Morgennebel zog über den Leinpfad. Irgendwo zwitscherte ein früher Vogel, den sie nicht genau erkannte. Eine Lerche war es wohl nicht.

Sie lehnte den dröhnenden Kopf zurück. War das Travias Strafe dafür, dass sie derart die Beherrschung verloren hatte? War der peinliche Vorfall allein ihre Schuld gewesen? Haldana von Binsböckel. Du hast dich gehen lassen, diesen Jodokus regelrecht verrückt gemacht. Bist eigentlich ein Ingerimmskind, bodenständig, so schnell nicht zu erschüttern.

Ja. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, ein paar Tage lang das würdelose Spiel mitgespielt. Ihn zappeln lassen, ohne ernsthaft auf sein Werben einzugehen. Und es am Ende völlig verbinsböckelt. Ihr Verhalten war einer Tochter aus edlem Hause unwürdig. Vermutlich hatte sie es verdient, als klampfende, heimatlose Streunerin durch die Lande zu ziehen...

Erneut zupfte sie auf der Laute. Schon wieder schlich sich ein Misston ein.

Das Instrument war so missgestimmt, wie sie selbst, merkte sie gerade. Was merkwürdig war, denn eigentlich hatte sie sich ausführlich mit der Laute beschäftigt, bei ihrer "Nachtwache" auf Helbers Hof. Sogar eine neue Saite aufgezogen. "Im finsteren Turme zu Baliho-oh, in dunkelster Nacht, da..." Nein, die Klänge passten nicht wirklich zu ihrem halblauten Gesang. Sie tastete über den Lautenhals. Merkwürdig.

Die vertraute kleine Kerbe fehlte. Mit dem ersten Morgenlicht dämmerte ihr eine Erkenntnis.

Das...das war nicht ihre Laute. Das Musikinstrument war ihrer hölzernen Gefährtin sehr ähnlich, das sicher. Auch die Farbe passte. Das Schalloch war aber etwas größer, die Verzierung filigraner.

Was wollte Gerrich damit bezwecken? Vertraulichkeit vortäuschen? Die Umstände ihrer Entführung verschleiern? Ihre Laute. Sie hatte sie am Steinmäuerchen stehen lassen, als...

 

So langsam kehrte die Erinnerung zurück.

 

Die meisten Wolken waren weitergezogen, nach dem Regen, und das Madamal stand wieder im Kelch. Alles war in ein silbriges Licht getaucht, die Pfützen, die Bäume, die Äcker und Weiden. Eine erste zarte Ahnung von Morgendämmerung lag in der Luft. Was in der guten Götter Namen war denn das, da draußen auf dem Feld?

Da drüben, in Richtung des Unheiligtums befand sich ein klotziges Etwas, das gestern Abend eindeutig noch nicht dagewesen war.

Ganz sicher. Nur - was war das? Eine Art von Turm.

Sollte sie die anderen wecken? Zumindest Alrik, die, haha, selig schnarchende Wache?

Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Da steht was draußen auf dem Acker, was vor dem Regen noch nicht dagewesen war. Ja nun...es sieht aus wie...wie...

Nein, war nun sie die Nachtwache. Haldana stellte die Laute vorsichtshalber an die Steinmauer. Nicht dass sie nochmal einen Hieb abbekam, wie den, dem sie ihre Kerbe verdankte.

Vorsichtig huschte sie näher, durch das nasse, tropfende Getreidefeld. Trampelte einen Pfad in den Roggen. Einen Moment lang wurde es wieder zappenduster, als schwarze Wolken vor den Mondkelch zogen. Vorsichtig tastete sie sich durch die Halme, in die Richtung, wo sie ihre Entdeckung vermutete.

Es wurde wieder ein wenig heller.

Sie zuckte zusammen, als vor ihr eine krumme Gestalt auftauchte. Ah so, nur eine Vogelscheuche. Ihr Blick wurde abgelenkt, von dem, was dahinter aufragte.

Das Ding war kein Turm. Es bestand aus Holz und und wurde von eisernen Bändern umschlossen: Ein riesiges Fass, das einfach so im Getreide stand und es in mehreren Schritt Umkreis niedergedrückt hatte. Vielleicht fünf oder sechs Schritt im Durchmesser, und acht Schritt hoch. Aber im Schätzen war sie immer recht schlecht gewesen.

Ein großes, altes Fass, das zarten Weingeruch verströmte… Ein Traum für jeden Jünger Valpos. Oder war sie es, die hier träumte? Wahrscheinlich lag sie noch in der Scheune und schlummerte. Frischer Wind kam auf, umbrauste sie, zauste zart ihr Haar. Nein, das war kein Traumgespinst.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

"Hilf mir".

Gütige Götter - begann das Fass nun auch noch zu sprechen?

"Hilf mir" hauchte ein zartes Stimmchen in ihr Ohr. Ihr Haar flatterte, als stünde sie am Strand des Perlenmeers.

Der Wind schien nur um das Fass herum zu brausen...trat sie einen Schritt zurück, war nichts mehr von ihm zu spüren.

"Wer bist du?"

"Nach Hause", säuselte die Stimme. "N a c h H a u s e..."

Natürlich, sie träumte das alles nur. Alles andere ergab überhaupt keinen Sinn. Am allerwenigsten das Fass.

Es war kein echtes Riesenfass, jedenfalls nicht nur. An der Seite war ein krummes Fenster eingelassen, zwischen zwei Dauben, mit geöffneten Fensterläden. Ein krummes Ofenrohr ragte ebenfalls aus dem Fass heraus. Eine Fasshütte. Nur dass diese gerade hochkant in einem Roggenfeld stand und die Dachseite Richtung Scheune wies. Als wäre sie geradewegs vom Himmel gefallen.

Die Seite, die ihr zugewandt war, wirkte dunkler, schmutziger. Sie tastete nach dem Holz. Es fühlte sich feucht an und roch modrig. Das Fass schien längere Zeit auf dieser Seite gelegen zu haben. Halb in Sumus Reich eingesunken. Das hier musste die Unterseite der Hütte sein. Tuvok hatte ihr einmal erzählt, dass die Nivesen manchmal alte Fässer als Schwitzhütten verwendeten.

"N a c h H a u s e", wisperte die Stimme im Wind. "F r e i s e i n..."

"Wo ist das? Dein - Zuhause?"

"I m H i m m e l. H i l f m i r. E s i s t s o s c h w e r. "

Natürlich, sie sah (oder besser gesagt hörte wieder mal) Gespenster. Das hier schien wenigstens ein freundlicher Geist zu sein, das konnte sie spüren. Auch wenn ihn irgendetwas bedrückte. Sie selbst fühlte sich merkwürdig leicht und beschwingt.

Klackklackklack.

Eine Strickleiter rollte sich von oben, dem "Dach" der Fasshütte her ab, wie von Geisterhand bewegt: Eine Art Efferdsleiter mit hölzernen Sprossen.

Du solltest jetzt wirklich zurückkehren und die anderen wecken, warnte sie eine andere Stimme. Ihre eigene, innere Stimme. Das hier war ein Fall für Hesindian, den Magier. Was Magisches. Nichts für eine Bänkelsängerin, die nur ihren Rapier umhängen hatte.

Ein sanfter Windstoß in ihrem Rücken, der sie in Richtung der Leiter drückte.

"H i l f m i r. F r e i s e i n . . . D u h a s t e i n g u t e s H e r z. . ."

Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ein zartes Azurblau. Das ewige Wechselspiel der Wolken. Frieden. Freiheit. Licht. Luft. Leichtigkeit. Vollkommene Ruhe.

War das die Freiheit, in die der...der Luftikus zurückkehren wollte? Das Reich über den Wolken?

"Luftikus, was willst du von mir? Wie kann ich dir helfen?"

Ärger stieg in ihr hoch. Nicht wegen der Geisterstimme. Sondern wegen ihrer sogenannten "Gefährten". Wenn sie die anderen weckte, würden die denken, dass sie weg gelaufen war wie ein kleines Mädchen. Eine hysterische Heulsuse, die sich dann vor einem...einem Fass am Wegesrand ängstigte und dann genauso verstört wieder zurückrannte. Nein. Sie war jetzt kein Kind mehr, in mehr als nur einer Hinsicht. Haldana beschloss, sich erst einmal eine Übersicht verschaffen, ruhig und überlegt, und erst dann zu berichten. Von da oben hätte sie sicherlich einen guten Rundumblick.

Kurzentschlossen kletterte sie die Strickleiter hinauf, die im Wirbelwind etwas nach außen wehte. Es war, als würde sie von unsichtbaren, luftigen Händen nach oben getragen. Wenige Augenblicke später stand sie mit zitternden Knien auf dem "Dach" der grotesken Fasshütte. Das wohl in Wahrheit die Vorderseite war. Tatsächlich befand sich hier eine Tür im Boden, mit einem großen Zapfhahn anstelle eines Türgriffs. Darüber ragte eine schmiedeeiserne Laterne auf. Ein Wappen war ebenfalls noch zu erahnen, sowie altertümliche Buchstaben, die bogenförmig über der Tür aufgemalt waren.

Nur nach und nach vermochte sie die fast verblichenen Zeichen zu entziffern. "Rie...sen....fass...von...Rommilys"

Das Wappen mochte der darpatische Ochsenkopf gewesen sein.

Sie drehte am Zapfhahn und öffnete die Tür, die knarrend nach oben aufschwang. Das Mondlicht fiel nun ins Innere des Fasses, von oben wie zwei Fenstern an den Seiten her. Ein Tisch, ein Schrank und eine Feuerstelle bildeten die Einrichtung, ebenso mehrere Stühle und eine Truhe. Offenbar waren alle Möbel fest mit dem Boden verbunden (der derzeit als Wand diente).

Hinter einer Holzwand, die im Moment der Boden war, schien sich eine weitere Kammer anzuschließen, vielleicht ein Schlafgemach. An einer Leine hing ein metallisch glänzendes, rundliches Etwas: ein kleiner Kupferkessel.

Wie sollte sie jetzt vorgehen? Die Strickleiter einziehen und daran nach unten klettern, ins Fass? Nein, sie hatte genug gesehen, um guten Gewissens Bericht erstatten zu können.

Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie sich erst einmal einen Rundumblick hatte verschaffen wollen.

"P a s s a u f ", warnte sie die Geisterstimme des Luftikus. "H i n t er d i r..."

Ein triumphierendes, herzloses, eiskaltes Kichern. "Hab ich dich, Dummchen!"

 

Erschrocken drehte sich Haldana um - und sah eine schwarz gewandete Frau auf sich zufliegen, totenbleich, fahl, mit wehenden Haaren unter einer Hörnerhaube. Die Hexe ritt auf einem Besen und raste in wahnwitziger Geschwindigkeit geradewegs auf sie zu. Haldana duckte sich, spürte schmerzhaft den Reisig des Besens in ihrem Gesicht. Verfehlt. Die Angreiferin schwirrte davon, von ihrem eigenen Schwung mitgerissen.

"Hebe dich!" rief die Schwarzhexe.

Das Riesenfass begann zu zittern und zu vibrieren. Haldana spürte so etwas wie Widerwille, fast schon Widerstand gegen den Befehl.

"Elender Furz von einem Luftelementar, du wirst mir gehorchen. Soll ich dich meine Macht spüren lassen? HEBE DICH!"

Haldana wollte aufstehen und die Strickleiter nach unten klettern. Flucht war jetzt vermutlich nicht der schlechteste Gedanke. Ein jäher Ruck ließ sie wieder zu Boden stürzen.

Knackend und ächzend wurde das Fass nach oben gehoben, von welcher Kraft auch immer. Täuschte die Baronstochter sich, oder hatte die Windhose sich jetzt in ein bläuliches Flirren verwandelt? Das Fasshaus stieg senkrecht nach oben, plump, träg und taumelnd - aber es begann tatsächlich zu schweben. Erschrocken und völlig überumpelt klammerte sich Haldana am Türrahmen fest, während die Strickleiter gegen das Fass schlug.

Sie versuchte zu begreifen, was da gerade vor sich ging. Was in diesem Moment mit ihr geschah. Dass sich Hexen manchmal in Fässern statt auf Besen fortbewegten, davon hatte sie gehört. Nicht aber von fliegenden Riesenfässern und schwebenden Hexenhäusern. Diese Sisa Brundel musste völlig größenwahnsinnig sein. Dass es sich dabei um die "Bierhexe" handelte, daran zweifelte sie nicht mehr.

Das Fass gewann immer mehr an Höhe, schwankte und hüpfte wie auf einem Meer aus Luft. Haldana schrie lautlos auf. Sie war froh, dass es so dunkel war, und sie den grausigen Abgrund unter sich nur ahnte. In Aves Reich wurde es rasch kühler, der Wind blies heftig über ihren Rücken.

Blinzelnd und schlotternd erhaschte sie einige Eindrücke von der Welt unter sich. Wälder und Äcker im Mondlicht. Die Mauern, Türme und Dachgiebel von Rommilys. Das Glitzern des Ochsenwassers. Der weiße Dunst der Darpatfälle, mit ihren zahlreichen Kaskaden und Nebenarmen. Väterchen Darpat, der darunter breit und gemütlich dahinfloss. Die Berge, die mit einem mal gar nicht mehr so gigantisch wirkten. So ähnlich mussten die Götter die Welt sehen.

Der frevlerische Gedanke und die Höhenangst ließen ihr Herz erstarren. Nein, sie war wahrlich keine Göttin, nur ein klägliches Bündel Mensch, das jederzeit von einer Sturmböe in die Tiefe gefegt werden konnte. Von einem Windstoß - oder der Hexe. Vorsichtig änderte sie ihre Position, zog sich vom Rand des Fassdeckels weg. Wo war Sisa? Hektisch blickte sie umher. Das Madamal hatte sich wieder verhüllt. Keine Spur von ihrer Verfolgerin, aber ihr Gesichtsfeld war so oder so eingeschränkt.

In der Hütte wäre sie zumindest vor einer erneuten Attacke sicher. Haldana spähte hinunter ins fliegende Hexenhaus - und bereute dies im nächsten Augenblick. Sie war nicht allein.

Etwas Großes war die Innenwände des Fasses hinauf gekrabbelt, ebenfalls völlig unberührt von Sumus Griff. Etwas mit mehrfach gespaltenen Augen, verformten, haarigem Gesicht, einem sabbernden, summenden Maul anstelle eines Mundes. Etwas Menschenähnliches, das mit bepelzten, langfingrigen Händen von unten nach ihr grapschte und sich zu sich hinabzog. Ein Alptraum inmitten eines Alptraums. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien.

Haldana stürzte durch die geöffnete Tür, schaffte sich irgendwie zu drehen… Sie fiel in die Leine, riss sie ab. Das Scheppern des Kessels und das dumpfe Poltern ihres Aufpralls war das Letzte, was sie hörte.

 

***

 

Dort an der Steinmauer steht die Laute“

Mit kurzen schnellen Schritten eilte der Angroschim auf die Gefährten zu und zeigte ihnen den Laute.

Ohne Laute ist Haldana jedenfalls nicht einfach weg gelaufen“ sinnierte Jodokus, immer noch ein wenig verwirrt und von Schuldgefühlen geplagt. „Das Instrument hätte sie nicht hier gelassen.“

Natürlich ist sie nicht weggerannt“ brauste Tuvok auf. „Sie hätte uns nie allein gelassen. Ich kenne sie länger als du, Stadtmensch.“

Natürlich ist sie nicht weggelaufen“ beschwichtigte Hesindian. „Das ist nicht die Art der Sichler, nicht Haldanas Art.“ Die Worte des Magiers trugen dazu bei, Tuvok zu beruhigen. Einen neuen Streit zwischen dem Jäger und dem Brauereibesitzer war das letzte, was sie jetzt brauchen konnten. „Ohnehin, wir sollten logisch vorgehen. Die Spuren… ein kreisrunder Abdruck. Ob nun ein einzelner großer Gegenstand diesen Kreis verursacht hat oder ob die Ähren nur kreisförmig platt getreten wurden, einerlei. Jedenfalls war das nicht Haldana. Das heißt, irgend jemand war da. Und dieser jemand, so folgere ich daraus, hat etwas mit Haldanas Verschwinden zu tun.“

Tuvok nickte. Spurenlesen war eigentlich sein Metier, nicht das des Magiers. „Ja. Und da lediglich Haldanas Spuren zu dem Kreis führen, aber sonst keine Spuren dorthin oder von dort weg, hat der unbekannte also dort auf sie gewartet, ihr vielleicht eine Falle gestellt.“

Hesindian nickte. Einerseits hatte er den selben Schluss gezogen wie der Jäger, andererseits war er froh, dass Tuvok nicht weiter Jodokus provozierte.

Nun, ein weiser Mann sagte einmal, wenn alles andere unmöglich ist, dann muss das unwahrscheinliche die zutreffende Antwort sein. Wenn also keine anderen Spuren vom Kornkreis weg führen, dann muss Haldana sich durch die Luft entfernt haben.“

Nana, jetzt tu mal nicht gleich fantasieren“ bremste Alrik seinen Hofmagier ein.

Tu ich nicht. Aber wir haben es mit diesem Gerrich zu tun und mit seiner Gefährtin, der schwarzen Hexe. Hexen können bekanntlich auf Besen fliegen. Diese Sisa Brundel auch. Was haltet ihr davon? Die Schwarze Hexe hat Haldana angegriffen und niedergeschlagen, und dann auf ihrem Besen abtransportiert. Und damit wir hier keine Spuren vom Kampf finden, hat sie alles kreisförmig platt getrampelt. Ist das möglich? Tuvok, was sagt der Fährtensucher zu dieser Theorie?“

Hmm“ brummte der Nivese. „Könnte sein. Jedenfalls wenn der Kampf nicht viel mehr war als ein reines niederschlagen. Mehr Kampfspuren hätte man nicht so einfach platt treten können. Jedenfalls… dann Haldana als Gefangene durch die Luft abzutransportieren… Nun, Magister, das ist dann eher Dein Fach, Spektabilität. Von der Spurenlage her… naja, nicht ausgeschlossen. Da keine Spuren von hier weg führen.“

Nicht vergessen… Haldana hat, bevor sie hier zu diesem Kreis kam, ihre Laute abgestellt. Warum? Weil sie die Hände frei haben wollte? Um etwas zu erkunden oder um zur Waffe greifen zu können?“ ergänzte Alrik.

Nun… so wie ich das sehe, ist unsere einzige Spur Gerrich und die Brundelhexe.“ brachte Jodokus sich ein. „Sie könnte hinter Haldanas Verschwinden stehen. Und wenn wir etwas über Gerrich und Sisa heraus finden wollen, dann müssen wir das Schiff finden, die Flusshexe. Eine andere Spur sehe ich nicht.“

Alrik signalisierte seine Zustimmung mit einem Nicken.

Aber wenn das hier wirklich auf Gerrich zurück geht...“ warf Hesindian ein.

Auf wen den sonst?“ wollte Rovik wissen

Jedenfalls hat dann unser Ablenkungsmanöver mit der Reise in die falsche Richtung nicht viel gebracht. Dann ist damit zu rechnen, dass Gerrich Möglichkeiten hat, uns zu beobachten. Seien es weitere Handlanger von ihm, seien es magische Möglichkeiten. Ja, wer sollte sonst dahinter stecken, Rovik. Das ist schon richtig. Aber eines ist mal klar: An magischer Potenz können wir nicht mit den beiden mithalten. Wir wissen wenig über ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten. Aber wir sind nur zu fünft, und ich habe mich noch immer nicht recht erholt für eine größere Auseinandersetzung. Ich wollte das nur gesagt haben. Wir wissen nicht, womit wir auf dem Schiff oder auf dem Weg dorthin rechnen müssen. Wir wissen noch nicht einmal genau, wo das Schiff ist. Hingegen scheint unser Feind keine Schwierigkeiten zu haben, uns zu finden.“

Mag sein, aber jedenfalls hat er es auch nicht gewagt, uns alle offen anzugreifen. Haldana war allein und geschwächt. Es war vielleicht ein Fehler, dass sie sich von uns entfernt hat. Wir sollten darauf achten, zusammen zu bleiben.“ Diesem Vorschlag Alriks stimmten alle zu.

Was ist mit der Leiche von dieser Norbardin“ warf Tuvok ein.

Was soll damit sein?“ gab Rovik zurück.

Haldana wollte, dass sie bestattet wird.“ stellte der Nivese fest. „In einem norbardischen Hügelgrab“

Entschuldige, Tuvok, aber darauf nehme ich keine Rücksicht“ stellte der Zwerg fest. „Haldana befreien ist wichtiger, da halte ich mich jetzt nicht länger mit einer Toten auf. Wenn du willst, können wir hier noch eine Feuerbestattung durchführen. Zum Verbrennen liegt ja genug rum. Aber wenn du ein Hügelgrab aufschaufeln willst, dann kannst du das alleine machen.“

Hesindian und Alrik waren froh, dass diesmal der Zwerg, der schon länger mit Tuvok reiste, diesem eine Grenze setzte. Irgendwie schien es zwischen Tuvok und Haldana eine engere Bindung zu geben, die Tuvok dazu brachte, jetzt an Haldanas Wunsch zu denken. Aber das war wirklich ein Ding der Unmöglichkeit, jetzt eine Hügelbestattung durchzuführen.

Ich werde mich später darum kümmern.“ griff Jodokus ein. „Ich werde veranlassen, dass die Tote entsprechend aufgebahrt und bestattet wird. Niemand sagt, dass wir selbst das machen müssen, und ein paar Brauereiknechte werde ich schon dazu abstellen können. Ich werde einen Brief an Alrike schreiben, dass die Tote vermutlich aus der Sichel stammt und auf dem Gräberfeld auf dem Hügel von Edorlys beigesetzt werden soll. Wo übrigens viele begraben liegen, die gegen Paktierer, Unheilige und für die Freiheit der Sichelberge gekämpft haben.“

Damit sollte das wohl geregelt sein“ befand Alrik abschließend, so dass auch Tuvok keinen Widerspruch erhob. „Außerdem habe ich euch schließlich nicht als Totengräber eingestellt.“

Der Nivese nickte. Also sattelten die verbliebenen fünf ihre Pferde – Haldanas Pferd führte Jodokus mit - und folgten dem Pfad zum Fluss, um über zu setzen und am rahjawärtigem Darpatufer gen Praios zu reiten.

 

Eine gute Weile lang hatte Haldana auf der Laute gespielt, auch wenn diese nicht ihre eigene war. Es klang, verglichen mit ihrem sonst gewohnten Instrument, jämmerlich. Der Klang war nicht so rund und so voll. Die e-Saite schnarrte ein wenig, offenbar war der Wirbel nicht so genau gefertigt und ließ Vibrationen zu. Nun, um in einer Taverne die Trunkenen zum Mitgröhlen zu bringen, würde diese Klampfe sicher ausreichen. Aber für einen wirklichen Kunstgenuss, wie man es geschulten Ohren darbieten würde, reichte es sicher nicht.

Wenn Gerrich vor hatte, sie mit dem wahren Erben von Friedwang zu verheiraten… wer würde das sein? Golo etwa? Der Sohn oder Ziehsohn des verstorbenen Gernot von Friedwang? Haldana schauderte. Die Geschichten, die Baronin Serwa von Friedwang über diesen Mann erzählt hatte, ließen nichts Gutes ahnen. Dagegen wäre selbst eine Ehe mit Jodokus vermutlich nur als angenehm zu bezeichnen. Nein, sie wollte weder das eine noch das andere.

Immerhin war es jetzt hell in ihrem Gefängnis, seit sie die kleine Luke geöffnet hatte. Zuerst hatte sie gehofft, durch die Luke in den Fluss flüchten zu können. Aber dazu war der Durchlass zu schmal. Und um ein Stück aus dem Holz heraus sägen zu können, dazu fehlte es an Werkzeug. Natürlich. Sie war in einer Gefangenenkammer, nicht in einem Werkzeugschuppen. Außer dem Bett – einem Holzgestell mit Stroh, von einem Laken bedeckt und mit einer Decke versehen – war der Raum leer. Fast leer. Die Laute blieb ihr ja noch.

Die Holzplanken in der Außenwand des Schiffes waren aus festem, schweren Holz, die Ritzen mit Pech und Teer verfugt. Etwas einfacher waren die Innenwände gestaltet. Zwar aus robusten schweren Holzlatten gezimmert, aber nicht sauber verfugt. Man konnte durch die Ritzen hindurch spähen – was Haldana aber nicht weiter half, denn dahinter war es ebenfalls dunkel. Mehr als etwas Restlicht, das von der Luke in ihr Zimmer fiel, drang nicht in das Innere der Flusshexe. Das musste schließlich die Flusshexe sein, wenn Gerrich ihr Entführer war. Oder hatte Gerrich noch mehr Schiffe zur Verfügung? Nun, jedenfalls war sie an einem Fluss, von der Größe her dem Darpat entsprechend, und sah durch das Fenster auf die von der Morgensonne beschienenen Berge am anderen Ufer. Hohe Berge, weit höher als ihre gewohnten heimatlichen Berge aus schwarzem Schiefergestein.

Nun, wenn Haldanas Annahme, der Fluss wäre immer noch der Darpat, zutraf. Dann würde die Morgensonne auf hohe Berge am Westufer scheinen. Das wären dann schon mal nicht die Trollzacken, sondern eher die ersten Ausläufer des Raschtulswall. Näherte sich der Raschtulswall am Flussabschnitt zwischen Rommilys und Perricum so nahe an den Darpat an? Vermutlich. So genau hatte sie das Landkartenstudium nicht betrieben in der heimatlichen Studierstube. Klar, der Raschtulswall lag praios-efferdwärts des Darpat. In den Büchern war das Gebirge als riesig beschrieben, sicher drei mal höher als die höchsten Gipfel der Sichel. Jedenfalls im Zentrum des Raschtulswalls. Die Ausläufer der Berge am Darpatufer zu sehen… ja, vermutlich befand sie sich nicht mehr als 50 Meilen flussabwärts von Rommilys.

Haldana blickte noch mal aus der Luke und versuchte, die am Ufer stehenden Bäume zu erkennen. Die Vegetation war nicht, wie daheim in der Sichel, von Fichten, Buchen und Eichen, Erlen und Linden geprägt. Sie erkannte Zedern, aber auch einige Pinien. Und weitere Bäume, die sie nicht benennen konnte. Ein gutes Stück südlich der Sichel, ja, darauf deutete auch der Pflanzenwuchs hin. Und ein Treidelpfad führte am Flussufer entlang. Gut. Sobald sie aus diesem Gefängnis heraus gekommen war wüsste sie wenigstens, wohin sie sich wenden würde.

Aus dem Gefängnis kommen. Gut, nur wie. Haldana besah sich die Tür genauer. Grob gezimmert, wie sie es schon ertastet hatte. Wenn sie über eine Klinge verfügte, so wäre es ein leichtes, den Riegel nach oben zu heben. Allein, das Rapier hatte man ihr nicht gelassen.

Um de Klampfn is et nit schad“ murmelte Haldana und löste den Wirbel, an dem die schnarrende e-Saite aufgewickelt war. Mit flinken Fingern zog sie die Saite ab und band eine Schlinge. Die so präparierte Saite schob sie durch eine Ritze zwischen den Brettern und angelte nach dem Riegel. Keine schwere Aufgabe. Nach wenigen Augenblicken war die Tür offen.

Rasch zog Haldana die e-Saite rasch wieder auf und packte das Instrument weg. Sollte die Flucht missglücken, dann sollte wenigstens niemand wissen, wie sie den Riegel geöffnet hatte. Haldana lehnte die Instrumententasche an das Bett und schloss dann die Tür – von außen.

Durch das matte Halbdunkel folgte sie einem Gang.

Sollte sie wieder zurück in ihre Zelle gehen, mit dem beruhigenden Wissen, jederzeit die Türe öffnen zu können? War es nicht zu riskant, jetzt, am Tag, das ihr unbekannte Schiff auskundschaften zu wollen? Haldana zögerte kurz, dann aber siegte die Neugier. Vom Abwarten würde sie auch nicht frei kommen. Außerdem hatte sie langsam Hunger, und ihr `Gastgeber` hatte es bislang nicht für notwendig erachtet, ihr eine Mahlzeit zukommen zu lassen.

Der Gang endete an einer Tür, hinter der Stimmen zu hören waren. Vorsichtig schlich sie sich näher heran und spähte durch eine Ritze in der Tür.

Wer sagt, dass ich das will?“ fragte eine Haldana unbekannte Stimme. Sie gehörte, so konnte Haldana durch den Spalt erkennen, einem blässlich aussehenden Mann mit seltsam schiefen Hals. „Ich möchte sie erst sehen.“

Niemand fragt, was du willst, Golo“ antwortete die Stimme, die Haldana als die von Gerrich erkannte. Jetzt sah sie auch zum ersten mal die dazugehörige Gestalt. Ein Würgereiz hätte sie beinahe überkommen. Nur mühsam beherrschte sie sich. „Aber du hast nichts zu befürchten. Sie schaut manierlich aus. Besser fast, als die inzwischen ergraute Serwa, und der bist du ja auch nahe gekommen. Aber wenn es um die Dynastie geht, hat alles andere hinten an zu stehen. Du wirst also tun, was ich von Dir verlange. Immerhin verhelfe ich Dir dafür auf den Thron, der dir zusteht.“

Wenn Sie gut aussieht soll es mir recht sein. Aber ich entscheide das. Nicht du. Du hattest Dein Leben schon lange gelebt, und womit du deine schiere Existenz verlängert hast, wissen die Dämonen allein. Aber schreibe du mir nicht vor, wen er ehelicht und wen nicht.“

Gerrich lächelte. „Sei es drum, wenn du sie siehst, wirst du zufrieden sein. Sie ist hübsch. Außerdem… wenn du eine noch schönere Bettgefährtin findest, nimm sie dir, Golo. Oder auch einen Knaben, wenn Dir das lieber ist. Nach Eurer Ehe musst du nur einen Erben zeugen, wenn du dann nicht mehr willst, dann sei es drum und verfahre, wie du magst. Das weitere Schicksal dieses Schlotzer Landeis kümmert mich nicht. Aber jetzt hörst du auf mich, wenn du jemals den Steinbockthron erobern möchtest.“

Und was willst du, Großvater? Ich nehme an, du würdest den Thron für dich selbst fordern, wenn du noch am Leben wärst… ich meine, richtig am Leben, und nicht nur eine unheilige, insektoide, schäbige, fortdauernde Existenz.“

Mäßige dich, Golo. Dein Vater ist bereits verstorben. Er wäre noch am Leben, hätte er auf mich gehört und hätte nicht damals alle Nachbarbarone zu sich eingeladen. Er hat sich übernommen und ist gescheitert. Nun stelle du es schlauer an. Ich besorge Dir das Geld, das du brauchst. Aber mit der Hausmacht der Schlotzer und damit der Binsböckels im Rücken steht unser Plan noch deutlich besser da.“

Golo verstummte. Haldana nutzte die Zeit und sah sich den Raum genauer an. Ein Casino war es wohl. Ein Spieltisch, wie sie ihn aus manchen Hinterzimmern schäbiger Schenken kannte, wie gemacht zum Würfelspielen. Ein weiterer für Boltan. Kein Zweifel, das war die Flusshexe.

Ach, schnacksel sie doch selber“ erwiderte Golo nach einer Weile unlustig. „Die Sache mit Serwa hat mir damals schon gereicht. Ständig dieser rebellisch-kindliche Geist, der gegen mich aufbegehrt hat und den ich dauernd unterdrücken musste. Deine Pläne haben damals auch schon nicht funktioniert.“

Das wird er nicht“ kreischte eine schrille Hexenstimme

Eifersüchtig?“ warf Golo zurück. „Wenn Großvater lieber dich hat als diese Göre aus Schlotz, dann kann es mit ihrer Schönheit nicht so weit her sein.“

Es reicht, Golo.“ befahl Gerrich. Ich werde deine Verlobte jetzt holen lassen. Es ist ohnehin Zeit zum Frühstück. Aber zeig gefälligst Anstand und Manieren! Du, Sisa, tisch auf.“

Haldana huschte rasch in die Kammer zurück, um den Abholer zu erwarten. Keinen Augenblick zu spät.

 

Nun, Hochgeboren, bitte folgt mir. Verzeiht, dass es mit dem Frühstück gedauert hat. Es wird aber an nichts fehlen.“ Dazu, dass die Tür nicht verriegelt war, sagte Gerrich nichts. Er bot Haldana galant den Arm an. Anders als zu vor wirkte sein Körper nicht insektoid. Gerrich hatte die Gestalt eines würdevollen alten Herrn angenommen. Haldana ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Rasch war ihr eingefallen, dass Hesindian erwähnt hatte, dass Gerrich Magier war und die Gestalt wechseln konnte.

Nun, es wurde tatsächlich Zeit mit dem Frühstück. Ihr habt mich lange warten lassen.“ antwortete Haldana, die entrüstete Edeldame spielend.

Euer Besuch kam kurzfristig“ antwortete Gerrich knapp. Im Weiteren wortlos führte er Haldana in das Casino. Der Spieltisch war gedeckt, Brot, Käse und Wurst lagen bereit. Nicht wirklich viel für einen Gastgeber, der etwas auf sich hielt. Immerhin ein Krug mit Wein war auf dem Tisch vorhanden.

Zwei Teller standen auf dem Tisch. „Setzt Euch. Ich darf Euch Euren künftigen Gemahl vorstellen. Golo von Friedwang.“

Gerrich setzte sich ebenfalls zu Tisch. Vor ihm befand sich kein Teller. „Ich habe schon gegessen.“ erklärte Gerrich knapp. „Nun, ich freue mich, Euch einander vorstellen zu können. Haldana von Binsböckel zu Schlotz und Golo von und zu Friedwang. Es lebe das liebende Paar.“

Golo musterte Haldana von Kopf bis zu den Füßen. Haldana ihrerseits würdigte Golo mit keinem Blick und goss sich Wein ein.

Ihr hattet Recht, Großvater. Sie ist wirklich eine Schönheit. Ich muss zugegeben, ihr habt eine gute Wahl für mich getroffen.“ sagte Golo.

Hochgeboren“ begann Haldana mit höflichen Worten. „Ihr habt mir zu viel Versprochen. Ihr hattet mir einen standesgemäßen Mann zur Verlobung angeboten. Allein, Herr Golo ist nicht standesgemäß für eine angehende Baronin. Er hat keinen Titel, kein Erbe, bestenfalls einen Anspruch, der aber sehr weit davon entfernt ist, durchgesetzt zu werden. Hinzukommend… mit einem solchen Schiefhals bräuchte ich mich daheim noch weniger blicken lassen als mit einem Stadtgeck. Nun, Hochgeboren Gerrich, ich bedanke mich für Eure Mühe und Euer Vertrauen in mich, aber ich kann dem nicht zustimmen.“ Haldana nippte an ihrem Wein, jedoch nur einen kleinen Schluck. Dann setzte sie das Glas ab und stand auf.

Golo, der von Haldana nach wie vor keines Blickes gewürdigt wurde, lief im Gesicht zornig rot an. „Wer fragt denn Dich, Du Landpomeranze?“ herrschte er sie an und sprang ebenfalls auf. Wütend packte er sie an der Schulter und zog sie zurück. „So lasse ich mich von meiner Verlobten nicht behandeln, das wirst du schon noch merken!“

Mit einer raschen Handbewegung hatte Haldana die Hand Golos gepackt - den Griff hatte sie von Tuvok gelernt – und bog das Handgelenk mit kräftigem Reißen nach hinten, dass Golo aufschrie und vom Schmerz dazu gezwungen war, der Bewegung zu folgen, bis Golos Oberkörper so weit nach hinten gekrümmt war, dass er beinahe zu Boden stürzte.

Du solltest beten, mich nicht heiraten zu müssen. Mit mir wirst du nicht glücklich.“ Ein leichter Ruck an Golos Handgelenk, und Golo fiel hinten über zu Boden.

Ob es schlau war, Golo gleich zu Anfang so zu demütigen? Haldana wusste es nicht, aber sie zweifelte daran. Dass sie gegen Gerrich und Sisa niemals erfolgreich sein würde, war ihr jedoch klar. Sich jetzt gegen Gerrich aufzulehnen hätte nur zur Folge, dass dieser sie in Ketten legen würde. Jetzt die Flucht zu versuchen wäre, so schätzte Haldana, nicht erfolgreich. Besser, sie focht mit Worten mit Gerrich und nicht ohne Waffen gegen einen Mann der die Magie beherrschte.

Kommt mit nach oben, Hochgeboren. Wir müssen den Handel noch weiter besprechen. Ihr versteht, so ein Weichling wie Golo geht nun wirklich nicht.“ Haldana ging zur Stiege nach oben. Wenigstens würde sie dann das Deck und die nähere Umgebung sehen können und weitere Erkenntnisse für ihre Flucht gewinnen… und sie würde Zeit gewinnen.

 

Haldana stieg die knarrende Treppe zum Oberdeck hinauf, und schloss für einen Moment geblendet die Augen, im hellen Sonnenlicht. Als sie die schützende Hand wieder senkte, enthüllte sich nach und nach eine atemberaubende Szenerie.

Sie befand sich tatsächlich auf dem Darpat, der an dieser Stelle bereits ein mächtiger, glitzernder, aufgewühlter Strom war: der sich nicht nur zwischen zwei Felsen, sondern zwei Gebirgen hindurch wälzte. Das da drüben mussten die graugrünbräunlichen Ausläufer des Raschtulswalls sein, die dicht mit Nadelbäumen bestanden waren. In der Ferne war ein kleiner Wasserfall zu sehen. Die kleinen Löcher dort an der lehmigen Steilwand waren wohl die Behausungen von Uferschwalben. Die "Flusshexe" schwankte und wankte unter ihren Füßen.

Die höchsten Gipfel im Südwesten waren wolkenverhangen, aber das, was man von den Kolossen erahnte, war wahrlich beeindruckend: ein gigantischer Himmelsthron. Tatsächlich lag das Schiff auf der Raschtulswaller Seite - nicht am Treidelpfad, sondern an der gepflasterten Reichsstraße, wie sie nun merkte. Die "Treidelstation" entpuppte sich als ausgebrannte Ruine, wahrscheinlich eines alten Gasthauses, dessen Dach halb eingefallen war. Da hätte sie gestern Nacht lange um Hilfe schreien können. Der Treidelpfad, ein krummer Knüppeldamm, verlief auf der anderen, östlichen Seite von "Väterchen Darpat", wo tatsächlich die zerklüfteten, dicht bewaldeten Vorberge der Trollzacken aufragten. Der Auwald dort wirkte sumpfig. Im Nordosten erspähte sie eine kleine Rauchfahne.

Die "Flusshexe" selbst war ein langgestreckter, schmuckloser Kahn mit einem großen Mast und gerefftem Segel.

Auf dem Achterdeck erhob sich eine Kajüte mit rundem Dach. Ansonsten war das Oberdeck leer und kein einziges Fass zu sehen. Am Mast selbst war ein eiserner Ring angebracht, an dem mehrere aufgerollte Seile befestigt waren, offenbar die Leinen der Zugpferde: von denen fehlte allerdings auch jede Spur. Ein halbes Dutzend Flussschiffer kauerte auf dem Deck und war gerade mit Frühstück beschäftigt, mit dampfenden Tee, der dem Geruch nach mehr als nur einen Schuss Rum enthielt, und irgendwelchem Zwieback. Ein paar verstohlene Blicke trafen sie und und wurden sofort gesenkt. Die derben Gestalten schienen es gewohnt zu sein, keine Fragen zu stellen. Im Vergleich zu den Flussschiffern, die sie im Rommilyser Hafen gesehen hatte, wirkten die Männer und Frauen abgerissen und verschlagen: eher wie Schmuggler oder Flusspiraten. Sie waren ganz gut bewaffnet, mit Säbeln, Beilen und Dolchen, auch eine Armbrust lag bereit, war aber nicht gespannt.

Das Schiff hatte an zwei Weiden festgemacht, bis zum abschüssigen Ufer waren es vielleicht anderthalb bis zwei Schritt. Das Schilf, das dazwischen, im "Wassergraben" ihres Gefängnisses wucherte, wirkte spitz und scharf. Würde sie am Ufer straucheln und rückwärts hineinfallen, konnte es schmerzhaft werden. Ein Fluchtversuch wäre sicher schwierig - aber nicht unmöglich.

"Woran denkt Ihr gerade? An die Prinzessin im finsteren Turm zu Baliho? Zu Hülfe, zu Hülfe?!"

Gerrich war hinter sie getreten, ein graumelierter, aber durchaus gut aussehender Edelmann mit Spitzbart und altmodischer Samtweste, der irgendwie wie ein umher wandelndes Ölgemälde wirkte. Vor allem sein Lächeln war ölig. Die Hände hatte er mit dunklen Handschuhen verdeckt. Offenbar tat sich Gerrich schwer, mehr als nur sein Gesicht magisch aufzuhübschen. Sein Antlitz wirkte im hellen Schein des Praios maskenhaft und starr, auf jeden Fall unecht. Ein feines Summen schwang selbst jetzt in der affektierten Stimme mit.

Haldana begriff. Das ausgebrannte Haus war eine Finte gewesen, ein Test, ob sie wirklich an einem Handel mit dem alten Friedwanger interessiert war. Oder eher an Flucht dachte. Die junge Adelige war sich keinesfalls sicher, ob sie die Prüfung bestanden hatte.

"Vielleicht denke ich gerade an einen tapferen Ritter, der mich aus meinen Ketten befreien wird."

"Jodokus von Baernfarn? Oder doch Golo von Friedwang-Glimmerdieck?" Das larvenhafte Gesicht zeigte bei dieser Frage keine Regung. Larvenhaft, das passte. Nannte man die Brut von Fliegen und anderem Geschmeiß nicht Larven? "Ihr hättet ihn nicht derart reizen und demütigen sollen. Urteilt nicht vorschnell. Golo ist wahrlich keine schlechte Partie..."

"Da sei Frau Travia vor. Wenn ich mich richtig entsinne...lasst mich nachdenken. Ist Euer Enkel nicht bereits mit Ismena von Oppstein verheiratet, der Jungfer zu, äh, Geisenberg"

"Gießenborn" korrigierte Gerrich, der an ein Stag getreten war, und am Mast hinaus auf den Fluss spähte. Irgendwo in der Nähe pflatschte etwas, vielleicht ein Hecht oder Wels. Zwei Schwäne schwirrten im niedrigen Flug über das Wasser.

"Das Dorf heißt Gießenborn und gehört schon jetzt einzig und allein meinem Enkel. Gießenborn ist ein überaus einträgliches Gut, dank der Silbermine dort. Es gibt auch reichlich Weinberge und Viehweiden."

"Selbst wenn ich das Geringste für Golo empfinden würde, was nicht der Fall ist. Für Weingüter und Viehweiden. Oder für euer Silber… Traviabund bleibt Traviabund."

"Eine Petitesse, ich bitte Euch. So etwas lässt sich regeln. Die Ehe wurde meines Wissens nie wirklich vollzogen - und Beweise für die Untreue dieser Oppsteiner Rahjastute gibt es nun wahrlich genug. "

"Nichtsdestotrotz erscheint mir eine Verlobung ein wenig verfrüht… im Anbetracht der Umstände" Haldana blickte einem Baumstamm hinterher, der gemächlich den Fluss hinabtrieb.

"Verzeiht Golos mitunter etwas...unbeholfene Art. Gewiss, die... horasische Lebensweise, die er sich als Knappe in Neetha angeeignet hat, mag für uns Mittelreicher ungewohnt erscheinen. Aber verwechselt Kultiviertheit und Sensibilität nicht mit Weichheit und Schwäche. Auch die Sache mit dem etwas schiefen Hals… nun, das ist eine Frage des Blickwinkels, nicht wahr? Mein Enkel hat einiges mitgemacht seit seiner Kindheit, so wie wir alle, in den letzten Jahren, scheint mir. Seht die Dinge doch einmal als künftige Baronin zu Schlotz, nicht als wandernde Minnesängerin. Friedwang und Schlotz vereint, das könnte die Grundlage für einen erneuten Aufschwung unserer beider Häuser sein. Vielleicht sogar der Beginn einer Wiedergeburt des Fürstentum Darpatiens, wer weiß."

"Nun, ich versuche, solche Dinge vor allem als künftige Baronin der Rommilyser Mark zu sehen..."

"Als Baronin der Rommilyser Mark? Wer weiß, vielleicht steigt das einst so stolze Fürstentum wirklich noch zur Baronie ab, nach der schändlichen Degradierung zur Markgrafschaft..."

Gerrich versuchte bei dieser wütenden Bemerkung geistreich zu blicken. Irrte Haldana sich, oder verschwammen seine Gesichtszüge gerade ein wenig? Einen Moment lang sah sie wieder die wahre Fratze des Friedwangers vor sich, vielleicht nur vor ihrem inneren Auge.

Angewidert, aber auch verstört wandte sie sich ab - und stand Golo gegenüber, der sie buchstäblich schief anblickte, aus blutunterlaufenen Augen. Sein geckenhaft buntes Wams war tatsächlich gemäß horasischer Mode geschnitten, an seiner Seite baumelte ein Rapier. Man hätte sein schwarzgelocktes, blasses, ein wenig elfisches Gesicht tatsächlich für gutaussehend, zumindest vornehm halten können - wäre da nicht der grotesk verrenkte Hals gewesen, der irgendwie an einen Gehenkten erinnerte.

"Du verschwendest deine Worte, Großvater" zischte der Junker. "Niemals werde ich diese Wildkatze aus dem Wutzenwald heiraten. Überhaupt, du weißt doch, was ich von Bettgefährtinnen halte..." Golo wedelte mit der weichen Hand und säuselte beim Wort Bettgefährtinnen. " Frauen sind doch alle gleich..."

"Wenn ihr verheiratet seid, kannst du dich gerne deiner… Katerstimmung hingeben". Gerrich klang säuerlich. "Hast du nicht mal behauptet, Alboran wäre in Wahrheit dein Sohn? Also stell dich nicht so an."

"Wenn Ismena nicht heillos betrunken gewesen wäre...einen Versuch wars wert, hach ja..."

"Also wurde die Ehe doch vollzogen", stellte Haldana trocken fest.

"Sie bestand immer nur auf dem Pergament. Was die Rommilyser Mark angeht..." Irritiert blickte Gerrich zu Haldana, die ohne Vorwarnung losrannte.

Mit einem gewaltigen Satz sprang die Schwarzsichlerin über Deck, aufs Ufer zu. Der beherzte Sprung war gut gelungen, sie flog über die grünen Klingen des Schilfs hinweg und landete geradewegs in der Böschung.

Allerdings wirklich im Abhang, der schlammiger und weicher war, als er von außen aussah. Mit einem Wutschrei sank sie ein, fast auf Anhieb bis zu den Knien. Das hier war ein Sumpf, ein heimtückischer Morast. Haldana versuchte sich freizukämpfen, aber da war nur schmatzender, nasser, modriger Schlamm, der ihre Stiefel umklammert hielt und sie regelrecht einsog.

"An deiner Stelle hätte ich es mit dem anderen Ufer probiert" kicherte Golo. "Verrücktes Mädchen...verrüüücktes Mädchen..."

Ein herrischer Befehl Gerrichs, und die Flussschiffer eilten herbei, mit einem festen Seil. Haldana, die für einen Moment befürchtete, im Schmodder unterzugehen, griff fast schon erleichtert nach dem Tau. Mit Hauruck wurde sie herausgezogen - ihre Stiefel blieben allerdings stecken. Schmerzhaft schnitt ihr Schilf in die Arme und das Gesicht. Pflatschend landete sie im trüben Wasser. Mit groben Händen wurde sie an Bord gezerrt, triefend und in schmutzstarrender Hose.

"Das nennt Ihr also noch einmal über unseren Handel sprechen?" zischte Gerrich. "Ihr habt Eure Verhandlungsposition gerade ungemein geschwächt, meine Liebe. Ich sollte Euch mit ein paar Steinen beschweren und wirklich auf der anderen Seite über Bord werfen...Aber ich brauche Euch leider noch, um wenigstens diesen Rommilyser Schnösel gefügig zu machen..."

"Schlotz, der Name passt". Eine eiskalte Frauenstimme wehte von der Kajüte heran. Sisa Brundel stolzierte mit schwarzwehenden Haaren übers Deck, wie eine leibhaftig anwesende Galionsfigur der "Flusshexe". Die Matrosen wichen zurück und senkten ihr Haupt, als wäre ihnen eine dunkle Kaiserin erschienen. "Unser schmutziges Bauernmädchen verunreinigt die Planken, scheint mir". Die Dunkelhexe drückte ihren Besen der nächststehenden Flussschifferin in die Hand, die darunter schier zusammenzubrechen schien. "Saubermachen!"

Hektisch begann die blonde Frau zu fegen, und wurde sofort von einer derben Ohrfeige unterbrochen. Sisas Krallen hinterließen eine blutige Spur in der Wange. "Natürlich erst, wenn unser Schmutzfink wieder unter Deck ist, Dummchen. Mit einem Eimer Wasser und einem Putzlumpen. Oder hast du allen Ernstes gedacht, ich gebe dafür meinen Besen her?" Sisa lachte grausam über den "Scherz" und deutete auf ihr Fluggerät: "Siehst du nicht, dass da noch immer Blut dran klebt? Von dem Tölpel, der das letzte Mal meinen Zorn erregt hat? Das meine ich mit Saubermachen!" Sisa stieß ihrem Opfer tatsächlich den spitzen Reißig ins Gesicht. Die Blonde schrie auf, mehr furchtsam als vor Schmerz. Mit zitternden Händen und ihrem Ärmel säuberte sie den Besen.

Haldana hatte sich mittlerweile von ihren völlig verschmutzten Socken befreit und stand barfüßig in einer große Lache neben dem Mast.

Sisa wischte sich eine einzelne Strähne zurück, die ihr ins fahle Gesicht hing. "Nun zu dir, meine kleine Müllhaldana von Schmutz, oder wie immer du dich nennst. Es war ganz amüsant, deinem Geplapper zu zu hören...aber nun reicht es mir mit den Frechheiten. Dein Geklampfe hat mich ebenfalls nicht sonderlich beeindruckt...""

"Ich..."

Sisa legte gebieterisch den Krallenfinger auf ihre bläuliche Lippen. "Scht...scht...schtt..."

Die Hexe riss der "Putzerin" den Besen aus der Hand. "Eine gute Frage, eine sehr gute Frage. Was machen wir mit so einer wie dir? Vielleicht sollten wir dich unter eine Wolke stellen, damit du wieder sauber wirst? Unter eine grüne Wolke?"

Golo griente – ein eindeutig schwer gestörtes Aristokratenkind. "Wunderbar. Und danach könnten wir sie in eines der Pechfässer stecken. Und zusammen mit unseren schleimigen, glitschigen Lieblingen nach Rommilys schicken..." Der Junker gluckste und verdrehte freudig die Augen.

Haldana spürte ein glibbriges Etwas an den Füßen. Die Sichlerin versuchte es mit den Zehenspitzen abzureiben, und sah erst jetzt eine kleine, feiste, erdbraune Kröte davon hopsen, verunziert von großen Warzen und schwefelgelben Flecken. Erschrocken tastete sie sich durchs Gesicht. Sie kannte die Geschichten von Hexentieren, die einem nach einer Berührung hässliche Warzen sprießen ließen.

"Glibba, meine Hübsche!" Sisa bugsierte ihre Gefährtin wieder in ihr kleines Tragkörbchen, mit dem Besen.

"Du sollst dich doch von fremden Füßen fernhalten. Vor allem wenn sie so dreckig und übelriechend sind wie die da."

"Ihr alle seid nichts weiter als Dämonenpaktierer und Abtrünnige vom wahren Glauben!" sagte Haldana, mit trotzig verschränkten Armen.

Das hieß, sie wollte es sagen. Ein kraftloses Lallen kam aus ihrem Mund, ihre Zunge war so schwer wie Blei. Als wäre sie heillos betrunken.

"I...a...sei..ni...wah...ah.. Da...mo...mo..pa..un...un...unnn...ah...ah..." Erschrocken hielt Haldana inne.

"Und was?" Sisa Brundel verstaute das Tragekörbchen an ihrem Gürtel. "Ich verstehe nur I-aa, I-aa. Zeit, das wir rüber in die Trollzacken fahren und für ein wenig Nachschub sorgen. Die Fässer müssten mittlerweile schon bei Meister Alfengrund und den Opfern angekommen sein. Übermorgen stehen die Sterne günstig. Wir werden reiche Ernte an Dämonenpech einfahren."

Haldana würgte, lallte, stöhnte. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie klang nur wie eine klägliche Idiotin.

"Hast du es immer noch nicht verstanden, Miststück?" Sisas Hand krallte sich in ihr Haar. "Jetzt ist Schluss mit dem Singsang! Lern erst mal richtig sprechen, kleines, dummes, bockiges Eselchen. Und ihr, sorgt gefälligst dafür, dass es uns nicht wieder davon springt."

"A...i...a...a" lallte Haldana. Es fehlte nicht viel, und sie hätte auch noch zu sabbern begonnen.

Die Flusshexe machte los und setzte ihr Segel. Der Wind wehte tatsächlich stromaufwärts. Langsam, aber stetig hielt das Treidelschiff auf die Mitte des Darpat zu. Sisa schien es dennoch nicht schnell genug zu gehen. Sie band eine der Zugleinen am Mast um ihren Besen und schwang sich in die Lüfte. Tatsächlich, die Schwarzhexe zog das Schiff nach Norden, gegen die Strömung.

Ein einsamer Fischer fiel pflatschend ins Wasser, am Trollzacker Ufer, wo er gerade eine Reuse kontrollierte. Prustend rettete er sich wieder an die Seite seines Nachens. Würde irgendjemand dem "Anglerbosparano" glauben?

Auch Haldana traute ihren Augen kaum. Nach einer Weile war die Hexe zufrieden. Sie ließ die Leine fallen und entschwand im Bergwald der Trollzacken. Dann wurde die Baronstochter gepackt und unsanft in ihren hölzernen Kerker zurückbefördert. Das letzte, was sie sah, war eine Treidelstation zur Rechten und eine Flussmündung zur Linken: das musste die Natter sein.

 

Haldana lag rücklings auf ihrer Gefängnispritsche und kaute an einem Strohhalm. Ihre Zehen, unter der zerschlissenen, juckenden Decke, waren immer noch mit Schlamm verkrustet, der nun vertrocknete und langsam abbröckelte.

Die Bänkelsängerin schalt sich eine Närrin. Sicherlich, das rettende Ufer war verlockend nahe gewesen. Ebenso Unterholz, um sich mit Zickzack in die Büsche zu schlagen. Aber der tölpelhafte Fluchtversuch war dennoch ein Fehler gewesen. Ein Fehler...und leichtsinnig noch dazu. Sicherlich gab es Zauber, die einen Menschen über mehrere Schritt Entfernung töten könnten. Sie hatte von Hesinderei gehört, bei der Opfer in Stein verwandelt wurden, zu Eis erstarrten oder in Flammen aufgingen. Haldana schauderte.

Halbnackt war sie zu allem Überfluss auch noch, unter der Decke. Ihre Hose trocknete auf dem Boden, ihre nassen Socken und Schuhe waren ihr irgendwie abhanden gekommen. Haldana fühlte sich schmutzig, in mehr als einer Hinsicht. Schmutzig, wehrlos und unfrei.

Sie hätte bis zur Nacht abwarten und dann die Flucht wagen sollen, mit Hilfe ihres "Dietrichs", der Lautensaite (die sie mittlerweile als Haarband getarnt hatte). In letzter Zeit neigte sie zu...Sprunghaftigkeit. Hieß es nicht: Nomen est omen? Binsböckel, der Name war wirklich Schicksal. Irgendwie war ihr Bockssprung gerade eben gehörig in die Binsen gegangen. Ein wenig "böckeln" tat sie auch noch: Sie roch nach fauligem Uferschlamm.

Haldana schob den Strohhalm in den anderen Mundwinkel. Irgendwie hatte sie das Grauen übermannt, bei der Erinnerung an die Fratze, in die sie vor wenigen Stunden noch gestarrt hatte. Das zarte Summen in Gerrichs Stimme - der Gedanke daran ließ fast schon körperliche Übelkeit in ihr aufsteigen. Eine Schmeißfliege auf zwei Beinen.

An seinen dekadenten, selemischen Sohn wollte sie gar nicht erst denken. Ihre Gedanken gingen zu Tuvok und Rovik, ihre treuen Begleiter. Ob sie jetzt schon auf dem Weg zu ihr waren, um sie zu retten? Zusammen mit Alrik, Hesindian, und...nun ja...sie seufzte, als sie an Jodokus dachte.

Nicht dass sie dem Schnösel die Schandtat verziehen hätte. Aber nach allem, was seither geschehen war, kam ihr das Debakel in der Scheune nicht mehr gar so peinlich und schmachvoll vor.

"Närrin" sagte sie zu sich selbst. Besser gesagt wollte sie das sagen. Ein klägliches "N...n...n...n" entrang sich ihrer Kehle. Ob sie nun für immer stumm sein würde? Die schiere Vorstellung schnürte ihr den Hals zu. Sie keuchte.

Nur langsam beruhigte sie sich, spuckte den Strohhalm aus.

Ein Rumpeln und Scharren ließ sie aus dem Halbschlaf hochschrecken.

Die "Flusshexe" streifte Grund und verlor rasch an Fahrt. Nach einer Weile blieb sie liegen. Aufgeregtes Rufen und dumpfes Poltern am Oberdeck. Haldana schlüpfte wieder in die Hose, die noch immer feucht, klamm und dreckig war. Sie wollte gerade durch ihr "Bullauge" blicken, da wurde der Riegel der Tür beiseite geschoben. Zwei Darpatschiffer kamen herein und zerrten sie unsanft nach draußen: unrasierte, übelriechende Gestalten, die ihr nun, aus der Nähe, eher ärmlich als verrucht vorkamen. Sie riss sich los und schritt mit aristokratischer Haltung zur Treppe - tatsächlich wagten die beiden Handlanger es nicht mehr, sie anzufassen. Erhobenen Hauptes stieg sie nach oben.

Nach einigen Augenblicken stand Haldana wieder am Oberdeck und blinzelte in die Sonne. Es schien früher Nachmittag zu sein. Der Blick auf den Himmel mit seinen Wolkentürmen war atemberaubend. Der Wind wehte immer noch stromaufwärts. Die Luft war frisch und gaukelte ihr ein Gefühl von Freiheit vor.

Das einsame Fachwerkhaus dort war wirklich eine Treidelstation, auch wenn es zwischen Trauerweiden kaum weniger verloren wirkte als die nächtliche Ruine.

Eine große Scheune und ein Stall waren neben dem Knüppeldamm ebenfalls zu sehen, ebenso Gatter und eine Weide für die Pferde. Ansonsten wirkte das Land sumpfig. Im Uferbereich war der Darpat grün von Wasserlinsen. Über allem ragten die bewaldeten Hänge der Trollzacken auf. Eine einsame Gegend. Am Himmel kreiste ein großer Greifvogel, vielleicht sogar ein Adler. Draußen, auf dem Darpat, glitt ein Schelch vorbei, an der Einmündung eines silbrig glitzernden Nebenflusses. Das musste die Natter sein. Am westlichen Darpatufer erstreckte sich dichter Wald.

Haldana hatte gehört, dass in diesem undurchdringlichen, dunklen Grün sogar noch Elfen leben sollten. Es war kaum zu glauben, dass es von dieser firunsgefälligen Wildnis aus nur noch wenige Meilen bis nach Rommily sein sollte. Nur ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an das grelle Tageslicht. Ganz menschenleer war die Gegend doch nicht. Am Zusammenfluss von Natter und Darpat sah sie eine Anlegestelle und ein paar Häuser aufragen. „Hausnerhaven“ brummte einer ihrer Bewacher. Hafen, naja. Zwei Fischerboote und eine kleine Barke lagen dort vor Anker.

Die Flusshexe war an Pfählen festgemacht worden, eine Planke führte zum Knüppeldamm hinüber. Einer der Matrosen nahm demonstrativ Aufstellung am Steg, den Atem des anderen konnte sie fast schon im Nacken spüren. Diesmal würde sie es nicht mehr so einfach bis zur Bordwand schaffen.

Gerrich und Golo saßen auf vornehmen Stühlen am Bug, neben einem Tischchen mit Weintrauben, Nüssen, Gebäck, Kelchen und einem Krug - ein Großvater mit seinem Enkel auf Sommerfrische. Sogar ein Sonnensegel war zu ihrem Schutz aufgespannt worden.

"Hätten wir die letzten Tage nicht gemütlich in der Treidelstation verbringen können...statt...mitten im Nirgendwo", maulte der Junker halblaut. Ausgiebig schnäuzte er sich in ein seidenes Taschentüchlein, dass er gerade aus seinem Rüschenärmel hervorgezaubert hatte. Er sieht wirklich aus wie ein horasischer Stutzer, dachte Haldana. Zumindest wie das Spottbild eines Horasiers. Golos zarte, weiße Finger griffen zum Kelch. Gelangweilt schlürfte der Junker ein paar Schluck.

"Du weißt, wie viel Kraft es mich jedes Mal kostet, um… nun ja, mein Gesicht zu wahren" summte Gerrich, der einfach nur reglos da saß - wie eine träge Fliege am Butzenfenster. "Unserer Mannschaft traue ich ebenfalls nicht. Wenn sie getrunken haben, reden sie zu viel. Unser guter Flarion auch schon, wenn er nichts getrunken hat. Diskretion, darauf kommt es. "

"Apropos, da ist ja unser Gast". Golos schiefer Hals ruckte herum. "Du solltest vorsichtig sein, von was du sprichst. Sie ist stumm, aber nicht taub." Der Junker kicherte boshaft. "Müllhaldana von Schmutz...wie überaus witzig und geistreich deine Gespielin doch ist. Welch Esprit, für eine blasse Hinterwäldlerin aus den tiefsten Trollzacken. Ich finde, Lalldana würde besser passen.…"

Haldana wurde tatsächlich hellhörig. Dem friedwanger Magier kostete es also sehr viel Kraft, seine wahre Gestalt als monströser Fliegenmensch zu verbergen? Gut zu wissen.

Golo glotzte sie erwartungsvoll an und wedelte geckenhaft mit der Hand. Offenbar hoffte er, dass seine Beinahe-Verlobte wieder zu stammeln anfangen würde. "Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen, mein Liebling?" Erneut ein pervalisches Glucksen. Golo schob sich genussvoll eine Weintraube zwischen die Zähne und zerbiss sie, so das ihm der Saft über die Lippen spritzte.

"Besser, Du hütest jetzt deine Zunge", sagte Gerrich tonlos. "Meine Gespielin hat Dir deinen wahren Leib zurückgegeben, vergiss das nicht. Du solltest Sisa ein wenig dankbarer sein."

"Ganz so einfach war es nun auch wieder nicht. Nüsschen?"

"Nein, Danke. Ich habe schon genug harte Nüsse zu knacken. Das bringt mich auf Euch, werte Haldana von Schlotz. Sisa lässt Euch ausrichten, dass Ihr Eure Sprache jederzeit wieder finden könnt. Sie ist bereit, den Fluch fallen zu lassen. Unter einer kleinen, einer klitzekleinen Bedingung" Nun waren es Gerrichs Augen, die böse glitzerten. "Ihr werdet euer Mitspracherecht in dem Moment wieder erhalten, in dem Ihr mit meinem Enkel Golo den Heiligen Bund der Ehe eingeht. Falls nicht, werdet Ihr für immer schweigen müssen, befürchte ich. "

"Nun ist sie wirklich sprachlos", kommentierte Golo, klang aber selbst wenig begeistert. Gelangweilt schob er die Nuss einem Nussknacker zwischen die Zähne, der wie ein Eichhörnchen aussah.

Haldana verschränkte trotzig die Arme. Im Grunde war sie froh, nichts auf diese "Offerte" antworten zu müssen (sie konnte es schließlich nicht). Für immer schweigen? Bislang hatte sie, aus einem Gefühl heraus, gehofft, dass der Zauber nur einige Stunden oder Tage anhalten würde. Sie versuchte, das Feuchte in ihren Augen nicht allzu feucht werden zu lassen. Haldana war eine Sängerin, allein der Gedanke, nicht mehr singen zu können, ließ ihre Kniekehlen weich werden. Eine Baronin, die den ganzen Tag lallte und sabberte, hatte in der Rommilyser Mark ebenfalls schlechte Karten.

"Ihr dürft gerne nicken, wenn Ihr verstanden habt, was ich sage" meinte der Friedwanger, scheinbar generös. Sein maliziöses Schmeißfliegen-Lächeln verriet, dass er sehr wohl wusste, welche Seelenqual der Verlust der Stimme für die junge Sichlerin bedeutete.

Die Schlotzerin zuckte mit den Schultern, scheinbar gelassen. Sie war eine "von" und würde nicht das Greinen oder Zittern anfangen wie ein kleines Mädchen. Hexenflüche, davon hatte sie gehört.

Hesindian hatte es geschafft, Alrik von den falschen Zorganpocken zu befreien - dem erfahrenen Magier war es hoffentlich möglich, auch diese Art von Schwarze Magie zu brechen. Und wenn nicht ihm, dann sicherlich einem Diener des Praios. Eigentlich war Gerrichs verrückter Plan zum Lachen . Was zählte schon ein Traviabund, der mit Hexenwerk erzwungen werden sollte? Wenn dieser schurkische Magier sie nicht einfach nur einzuschüchtern versuchte, mit billigen Taschenspielertricks.

"Sie scheint begeistert zu sein" Golo verdrehte die Augen. "Ich bitte dich, Großvater. Wie soll diese dumme Gans mir ewige Treue schwören, wenn sie nicht mal mehr schnattern kann? Soll sie mir ihr Jawort etwa auf eine Schiefertafel schreiben? Überhaupt, welcher Traviageweihte würde sich auf ein… ein derartiges Possenspiel einlassen?"

Haldana stellte fest, dass sie mit dem Schiefhals ausnahmsweise einer Meinung war.

Gerrich machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was. Du vergisst, das wir uns hier auf einem Schiff befinden. Der Kapitän darf eine Trauung vornehmen, falls zufällig kein Geweihter in der Nähe ist. Ein Hochzeits-Band um eure Hände, zwei Unterschriften unter den Ehevertrag, das wars. Und dann wird es Zeit für eine rauschende Hochzeitsfeier."

"Eine rauschende Hochzeit auf dem Darpat? Das habe ich mir schon immer gewünscht..." Golo schüttelte ungehalten den Kopf. "Wenn schon, dann hätte ich es verdient, auf einem Schloss zu feiern...nicht auf einem… einem armseligen Treidelkahn."

"Keine Widerrede. Wollt Ihr Euch nicht setzen, werte Haldana" - Gerrich schob ihr einen schlichten Holzschemel zu. "Wir müssten jetzt langsam mal über die Aussteuer reden, etcetera etcetera. Herrliches Wetter heute, nicht wahr? Ein Schluck Trollzacker Rotwein gefällig?"

"Vielleicht lockert der ja ihre Zunge" höhnte Golo, warf die Nussschalen über Bord und zerkaute deren Inhalt. "Ich wusste gar nicht, dass wir einen Kapitän an Bord haben. Wir reden schon von Flarion Silbertaler, dem Orkhirn? Im Rommilyser Hafen auch bekannt als Flachwasser-Flarion. Dieses menschliche Treibgut würde ich nicht mal in die Nähe meiner Badewanne lassen."

"So hässlich ist er nun auch wieder nicht" stichelte Gerrich und zückte ein Notizbüchlein, mit Stift. "Nun setzt Euch doch, Jungfer Haldana. Nicht so schüchtern. Zeit, über den Ehevertrag zu reden...das heißt, Ihr braucht bei meinen Vorschlägen nur zu nicken. Ich werde das dann nachher noch ins Reine schreiben. Also, fangen wir gleich mal mit dem Baronstitel zu Schlotz an, der selbstverständlich..."

"Wenn man vom Namenlosen spricht", sagte Golo und deutete auf den "Efferdssteg". Ein hagerer Mann mit blonden Haaren und auffallend großer Nase eilte vom umzäunten Fachwerkhaus herbei. Tatsächlich trug er die blaue Uniform eines Kapitäns zur See, mit Dreispitz und Rüschenkragen, der einem Großadmiral Rateral Sanin zur Ehre gereicht hätte.

"Hohooo - ich sehe, unser liebreizende Braut ist jetzt an Bord", sagte Flarion Silbertaler, als er mit ausgestreckten Armen auf Haldana zu eilte. Formvollendet lüpfte er den Dreispitz. "Seid Ihr es wirklich, Haldana die Minnesängerin? Die berühmte Bardin aus der Schwarzen Sichel? Wirklich, ein fescher Maderl habt Ihr uns da mitgebracht, mein werter Herr Gerrich. Ich liiiebeee Musik in Mundart… Könntet Ihr mir vielleicht eine Kostprobe Eures Könnens geben. Oh verzeiht, Flarion Silbertaler, Kapitän der Flusshexe...."

Haldana war endgültig perplex. Verwirrt deutete sie einen Knicks an. Was war denn das nun wieder für ein Geck?

Flarion hauchte ihr einen Kuss auf die Hand - und schien ebenfalls verwirrt zu sein, ob der schmutzigen Hose und den fehlenden Schuhen der "Braut".

"Ich fürchte, aus dem Vorsingen wird nichts", sagte Gerrich und deutete unter sein Kinn. "Ganz furchtbare Halsschmerzen… Leider ist Haldana von Bord gefallen, wie ihr seht und hat sich dabei wohl etwas verkühlt... "

"Aber, das ist ist ja wirklich fürchterlich" Kapitän Silbertaler schien ehrlich betrübt zu sein. "Und dass so kurz vor ihrer Hochzeit. Hoffentlich hat Frau Travia ein Einsehen…"

"Nun, ich bin sicher, das unvergleichliche Erlebnis, auf dem Darpat getraut zu werden, macht dieses kleine Malheur mehr als wett. Ich danke Euch, dass Ihr auf dem Treidelhof geblieben seid, um alles zu organisieren, während wir Haldana standesgemäß abgeholt haben"

"Was das betrifft, haben Seine Wohlgeboren Golo und die Braut Glück. Die Frau des Wirts hat ein wunderschönes Brautkleid, das sie uns ausleihen würde. Auf der Treidelstation ist außerdem noch ein Grüppchen Traviapilger untergebracht, aus der Gegend von Knoppsberg. Ihr Anführer scheint die minderen Weihen zu haben und könnte einen Segen sprechen. Sie wollten eigentlich nach Rommilys - aber der Leinpfad ist unterbrochen, Richtung Neuborn."

"Sicher Hochwasser?"

"Womöglich. Da ist jetzt erst mal kein Durchkommen mehr… Hinter dem Sumpf gibt es zwar noch die Landstraße nach Neuborn, aber die ist momentan gefährlich. Die Trollzacker sollen wieder auf den Kriegspfad sein, buntbemalte Kerle aus dem Hochgebirge. Letzte Woche haben sie ein Fuhrwerk geplündert und verbrannt. Die Fuhrknechte konnten mit Müh und Not entkommen. So nahe an der Stadt treiben sie eigentlich selten ihr Unwesen. Früher hätte es so etwas überhaupt nicht gegeben."

"Ausgezeichnet"

Käpt´n Silbertaler blickte erstaunt.

Gerrich steckte sein Notizbuch in die Jackentasche. "Nun, ich habe es glaube ich schon mal erwähnt. Das unglückliche Fräulein von Schlotz wird von einem Liebhaber verfolgt, der die Hochzeit unter allen Umständen verhindern will. Ein eifersüchtiger Wüterich, der sogar mehrere Handlanger angeheuert hat, um die Braut zu entführen. Gut möglich, dass dieses Gesindel schon auf dem Weg hierher ist. Es wäre gut, wenn sie erst nach der Vermählung eintreffen würden. Die eigentliche Hochzeitsfeier ist dann in Rommilys geplant. Was ist eigentlich mit der Ladung?"

"Nun, die Trollzacker machen wir ein wenig Sorgen..." Flarion Silbertaler kratzte sich am Kopf. "In den Sumpf trauen sich diese Wilden nicht, denke ich. Aber oben im Bergwald könnten sie uns schon Schwierigkeiten bereiten.

"Ich glaube nicht, dass diese Barbaren wirklich an Pechfässern interessiert sind", sagte Gerrich. "Es bleibt bei unserem ursprünglichen Plan. Zehn Fässer kommen auf dem Landweg nach Rommilys, der Rest nach Perricum. Ich werde mich gleich morgen zu unseren Lieferanten begeben, und die Ladung persönlich in Empfang nehmen, in Kurgasberg. Zwanzig Treidelpferde als Packtiere müssten genügen. Außerdem nehmen wir noch vier Reitknechte mit, als Säumer…"

"Ihr wollt selbst nach Kurgasberg? Dieses schaurige Geisterdorf würde ich selbst dann meiden, wenn sich dort keine Kurgas herumtreiben würde..." Flarion weitete sich nervös den Kragen. "Man sagt, selbst diese verfluchten Heiden meiden die Schlucht, seit…"

"Seit....?" Gerrich klang amüsiert.

"Seitdem dort... etwas die Felder und Weiden verdorben hat, vor vielen Götterläufen. Etwas aus dem Bergwerk...."

"Und doch treffen sich die Pechsieder dort einmal im Jahr, um die alten Ruinen mit neuem Leben zu erfüllen. Ich finde das überaus romantisch. Haldana und Golo sicher auch. Außerdem erspart es uns den mühseligen Weg in die Berge, wenn sie uns die Fässer schon im Tal übergeben."

"Nun schaut nicht so bedröppelt, Kapitän" Golo knackte gerade die nächste Nuss. "Die, äh, Hofzauberin meines Großvaters wird uns begleiten. Glaubt mir, die wird mit den Trollzackern ebenso fertig wie mit ein paar Spukgestalten...falls es die in Kurgasberg geben sollte."

Flarion wurde immer nervöser. "Über Susa Brandel..."

"Sisa Brundel" korrigerte Gerrich sanft.

"Über Frau Brundel müsste ich mit Euch auch noch einmal reden. Sie macht meine Leute nervös..."

"Natürlich macht sie das. Sie ist ja auch eine überaus attraktive Frau."

"So meine ich das nicht. Man erzählt..."

"Flarion Silbertaler" Gerrich griff dem Kapitän an den Kragen, nicht grob, sondern um den Stoff ausgiebig glatt zu streichen.

"Ihr habt eine wunderbare Uniform. Und warum? Weil euch das Handelshaus Warrlinger und meine Wenigkeit gut bezahlt. So ist es doch, oder?"

"G...Gewiss..."

"Überaus gut?!"

"J..ja...doch..."

"Und so soll es auch bleiben, nehme ich an?" Gerrich ließ wieder los.

"Bitte, Großvater. Wir sind mit unserem Kapitän überaus zufrieden. Das willst du ihm doch sagen, oder?" Golo betrachtete seine fein manikürten Fingernägel.

Flarion Silbertaler war nun endgültig durcheinander.

"Ich..äh....wäre Euch dennoch sehr verbunden...wenn Frau Brundel nicht mit dem Besen...also mit dem Besen herumfliegen würde...zumindest nicht im hellsten Praiosschein, wo es gleich jeder mitbekommt."

"Haben das die Matrosen gesagt? Herum fliegen....oder meinten sie mit dem Besen herum fegen?"

"Herum fliegen. Ihr wisst, dass ich unsere Geschäftsbeziehung überaus schätze. Aber wir sind hier nicht in Tobrien. Wenn das jemand sieht und davon berichtet… bis nach Rommilys ist es nur ein Katzensprung… Und was in Rommilys die Runde macht, das spricht sich in Windeseile bis nach Perricum herum."

"Eine Haus- und Hofhexe, na und? Der noble Fürst von Albernia hatte sogar mal einen Hofdruiden..." Golo schien überaus amüsiert zu sein.

"Wenn Sisa zurückgeflogen kommt, werde ich ihr sagen, dass sie ihre wilden Ritte künftig unterlassen soll. Zumindest die auf dem Besen. Oder was meinst du dazu, Großvater? Auch die anderen wilden Ritte? Du solltest wirklich jede unnötige Aufregung vermeiden…"

"Genug" Gerrich klang gereizt. "Dieses Schiff heißt Flusshexe, und sie ist heute morgen geradezu über das Wasser geflogen. Ich nehme an, das wollte Euch Eure Mannschaft berichten?! Es wird einfach zu viel geredet, an Bord dieses Schiffes."

"Ich meinte ja auch nur.…"

"Schon gut. Ich bin ansonsten zufrieden mit Euch, und werde das bei Eurer Prämie angemessen berücksichtigen. Wir sollten jetzt wieder auf angenehmere Dinge zu sprechen kommen. Holt doch bitte das Brautkleid aus der Treidelstation, auf das es unsere liebreizende Jungfer einmal anprobieren kann. Golo, du solltest dich jetzt besser in deine Kajüte begeben. Es bringt bekanntlich Unglück, wenn der Ehemann das Brautkleid vor der Hochzeit zu sehen bekommt."

Haldana begann unwilkürrlich zu protestieren, brachte aber wieder nur unwürdiges Gestammel heraus. "I...a...na...ah…"

Sie deutete auf Golo und schüttelte den Kopf. Dann hob sie drohend die Faust.

"Sollen wir sie wieder einsperren?" raunzte der Darpatschiffer hinter ihr.

"Einsperren?" fragte Silbertaler, der mal zu Haldana, mal zu Großvater und Enkel blickte. "Was hat das zu bedeuten?"

"Ja, es ist sicher das Beste, wenn sie das Kleid in ihrer Kammer anprobiert" Gerrich warf dem Matrosen einen bösen Blick zu. "Eine der Frauen soll ihr beim Einkleiden helfen. Es heißt Einkleiden, nicht Einsperren, auch wenn das bei einem eng geschnürten Mieder manchmal dasselbe ist, haha"

"Ludegar sagte etwas von wieder Einsperren" Flarion schien gerade laut nach zu denken.

Golo gähnte, scheinbar gelangweilt. "Meine künftige Gemahlin neigt ein wenig zum Schlafwandeln, das ist alles. Nicht auszudenken, wenn sie nachts über Bord fällt, und nicht bei Tageslicht, wie vor ein paar Stunden. Also haben wir ihr die Kammer mit dem Riegel außen gegeben. Das ist alles."

"Ah so, ich verstehe." Auch Flachwasser-Flarion schien nicht allzu sehr von Hesinde gesegnet zu sein. Oder war seine dümmliche Miene in Wahrheit eine Art Boltansgesicht?

"Gut, dann wäre das geklärt", sagte Gerrich hastig. "Ich denke, in etwa einer Stunde können wir mit der Trauung beginnen."

"So schnell?" Flarion war schon wieder verwirrt.

"Gewiss. Heiraten ist wie Schlittenfahren, sagt man bei uns in der Sichel. Beides muss schnell gehen."

Der Kapitän verbeugte sich, hob schicksalsergeben den Hut und ging von Bord.

"Ihr solltet mit dem Kapitän nicht ständig über Dinge quatschen, die nur mich als Eigner etwas angehen, verstanden?" zischte der Magier ungnädig in Richtung der Wachen. " Ihr könnt jetzt einen aufs glückliche Brautpaar trinken, drüben in der Schankstube. Wir kommen schon allein zurecht. Und vergesst nicht. Ich bin derjenige an Bord der Flusshexe, der euch bezahlt, und niemand sonst. Und... ach ja. In der Nähe befinden sich einige Laienprediger der Travia. Holt diese, das verleiht der Hochzeit noch etwas mehr Glanz" sagte Gerrich, auch wenn es ihm weniger auf den Glanz eines Traviafestes ankam als vielmehr auf die Rechtsgültigkeit und den offiziellen Charakter.

Die beiden Posten stolperten an Land.

 

7. Kapitel - Das Banket auf Gernatsborn

7. Kapitel

Das Bankett auf Gernatsborn




Ein Stück nördlich des Gernat, am frühen Abend des 5. Praios 1043
„Nicht so schnell, mein junger Freund. Ich werde alt, so behände und flink wie du bin ich nun nicht mehr.“ Der alte Waldläufer war ein wenig außer Atem geraten und mühte sich, mit seinem jugendlichen Begleiter Schritt zu halten. Und dieser schwarzhaarige, schlaksige Junge, dem die Hälfte des rechten Ohres fehlte, hatte wirklich schon den ganzen Tag ein flottes Tempo vorgelegt und war auch auf den Anstiegen über die Kuppen und Anhöhen nicht langsamer geworden. Der alte Jäger schnaufte kurz durch und wischte sich eine graue Strähne aus der Stirn. Seine langen, ehemals dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatte der Alte mit einer Lederschnur zu einem Zopf zusammen gebunden, damit diese ihm nicht vor die Augen fielen und die Sicht raubten. Nichts war in der Wildnis hinderlicher, als sich ständig die verschwitzten Haare aus dem Gesicht streichen zu müssen.
Timoin, der junge Jäger, grinste. „Was ist, Oheim? Bist du nicht der König der Waldläufer? Eben jener, der von den weiten Ebenen der Nivesen bis zu den dampfenden Dschungeln Meridianas in jeder Wildnis zuhause ist?“
Der Alte lachte. „Naja, in den dampfenden Dschungeln zumindest habe ich mich nie zuhause gefühlt. Ich bin halt doch ein Nordländer. Aber, mein junger Schüler, ich habe fast siebzig Winter gesehen und du gerade erst vierzehn. Auch der ausdauerndste Jäger spürt irgendwann das Alter.“
„Du übertreibst“ widersprach Timoin. „Oheim, wir haben die Reise zum Hängenden Gletscher überstanden. Vier Monate in der Wildnis, mit nichts ausgerüstet als einem Messer und einer Axt, wie der Herr Firun das vorschreibt. Da kenne ich viele junge Männer, die das nicht wagen, was du mit achtundsechzig unternimmst. Mit mir unternimmst.“
Der Alte lächelte freundlich. „Ja. Und ich bin stolz auf dich. Du hast alles von mir gelernt, was ich dir über das Leben in der Wildnis beibringen kann. Wenn es für Jäger so etwas wie einen Ritterschlag gäbe, du hättest ihn dir verdient. Eigentlich hast du deine Lehrzeit bei mir bestanden.“
Der Alte hielt inne und ließ seinen Blick zurück auf die Gipfel der Schwarzen Sichel gleiten. Timoin und er waren mit der Schneeschmelze aufgebrochen, um einen ganzen Sommer in der Wildnis, abseits jedes Dorfes und jeder Behausung zu leben. So ursprünglich und ohne jede Ausrüstung, wie es dem Herrn Firun wohlgefällig ist. Unter den Jägern galt es als wichtigste Fähigkeit, alles, was man zum Leben braucht, selbst aus dem fertigen zu können, was die Natur bietet. Mehr als ein Messer und eine Axt durfte man nicht mitnehmen, um als echter Waidmann gelten zu können. Und, das war das wichtigste in der Wildnis, seinen Verstand, seine Erfahrung und seine Kreativität. Zu wissen, wie man Fallen stellt, wie man eine Nadel aus Tannenholz oder auch aus Knochen schnitzt, wie man aus dem Fell erlegter Tiere Kleidung oder eine Decke fertigt, vielleicht gar ein Zelt. Zuallererst natürlich, wie man ohne Hilfsmittel Feuer macht, und welche Pflanzen man essen kann oder welche Kräuter für welche Verletzung oder Krankheit hilfreich sein können, all sein Wissen hierüber hatte Timoin in den vergangenen vier Götternamen unter Beweis stellen können. Gewissermaßen war das die Gesellenprüfung unter den Jägern, einzig übertroffen von der Meisterprüfung, wenn es einem Jäger gelang, das gleiche im Winter zu schaffen. Die Regel der firungefälligen Gesellenprüfung war einfach. Überlebe. Aber schaffe es ohne Hilfe.
„Wann hast du deine Firunsprüfung abgelegt, Odilon?
Odilon lachte. „Du denkst zu sehr in Prüfungen, junger Freund. Aber daran bin wohl ich schuld, schließlich habe ich dich dazu gedrängt, zu dieser Fahrt. Ich… ich würde sagen, ich habe meine Gesellenprüfung zusammen mit Dir abgelegt.“
„Du machst Witze“ antwortete der Junge.
„Nein. Ich habe nie die Prüfung abgelegt. Ich habe in der Wildnis gelebt, klar. Aber damals, als ich bei den Nivesen in der Tundra gelebt habe, war ich nicht allein. Ich war bei einer Sippe zu Gast, habe ihre Jurten geteilt und bin mit ihnen die Rentierherden gefolgt. Aber eine Prüfung, nein, ich hatte ja auch mehr als nur Messer und Axt bei mir. Und danach, ein Jahr am Kvillufer im Silberbuchenwald bei den Waldelfen, bei Oladins Sippe, nun, da hatte ich die Hilfe der Elfen, mit ihrer Magie und ihrem Wissen. Auch das mag als Prüfung nicht gelten. Und später… klar, ich habe oft in der Wildnis übernachtet, einfach, weil ich kein Geld für ein Gasthaus hatte. Aber auch da war ich nicht immer fern der Zivilisation. Nein, überall dort, wo kräftige Recken gebraucht wurden, heuerten wir an für gutes Silber. Vulkanus, Jirka und ich. Auch wenn uns so mancher Weg durch die Wildnis führte, so waren wir ebenso oft auch in Städten und Dörfern. Und dann, ja dann rief der Kaiser und die Pflicht. Da lebte ich lange Zeit gar nicht als Jäger. Nein, Timoin, geprüft, so wie du, wurde ich nie.“
Timoin riss überrascht die blauen Augen auf. „Nein oder? Da sagt man ihm nach, er wäre der vielleicht erfahrenste Waldläufer der Sichel, und dann hat er die Jägerprüfung gar nicht abgelegt?“
„Erfahrenster Waldläufer, ach was, zu viel der Ehre. Ich bin nicht besser als viele andere Waidmänner. Ich bin nur bekannter. Ein Privileg des Adels eben. Oder sein Fluch. Wer wird schon von einem Jagdhofmeister Tuvok auf Burg Schlotz Jägerbosparano erzählen, wenn man über einen Baron, und sei es ein ehemaliger, Geschichten zum Besten geben kann. Und dennoch ist Tuvok sicher nicht unerfahrener als ich. Oder vormals der barönliche Forstwart Damian Firunsdank in Nordenheim, ebenso wie sein Nachfolger Sokramorian Hirsbach, beide sehr erfahrene Jäger. So ist es eben. Aber zugleich hast du noch etwas gelernt. Eine Prüfung ist das eine. Aber die eigentliche Prüfung ist das Leben selbst. Und ob du bestanden hast, erfährst du erst ganz am Schluss, wenn du auf Rethon gewogen wirst und Einlass in die Jagdgründe Firuns erlangst oder eben nicht.“
Timoin nickte. Dann drehte er sich um, weg von den Bergen, aus denen er und der Alte gekommen waren, wieder in Richtung Praios. „Sieh, Odilon. Der Gernat. Wir sind daheim. Es ist nicht mehr weit. Bald sehen wir Mutter wieder.“
Odilon folgte dem Blick seines jungen Gefährten und nickte. Der Gernat lag nicht mehr weit entfernt, das Flusstal, das aus dem Wutzenwald heraus führte, lag vor ihnen. Bis zur Burg Gernatsborn würden sie es bis zum Abend sicherlich schaffen, Gernatsquell hingegen würden sie, selbst wenn sie durchmarschierten, erst zu später Nachtstunde erreichen.
Odilon bückte sich. „Siehst du das, Timoin?“ Der alte Jäger deutete auf einen Abdruck, ein wenig verwischten Staub auf dem steinigen Boden der Anhöhe.
Timoin folgte mit den Augen Odilons Finger.
„Ein Fußabdruck. Leichte Kratzer auf dem Steinboden, vielleicht ein Nagelschuh?“
„Ja, gut kombiniert. Ein Schuh, wie ihn kein Jäger trägt, denn mit Nagelschuhen schleicht es sich schlechter, man vertreibt nur unnütz das Wild. Ein Bauer auch nicht, der kann sich Eisen an den Schuhen nicht leisten. Ein Soldat oder Söldner vielleicht, ein fahrender Recke oder ähnliches, könnte man vermuten. Weiter, Timoin, was erkennst du noch?“
„Hm. Die Größe. Kein ausgewachsener Mann, dafür ist der Fuß zu klein. Ein Heranwachsender. Oder eine Frau.“
„Auch richtig“ bestätigte Odilon. „Von der Größe her. Aber nun… Frau oder Heranwachsender?“
„Da muss ich raten. Aber eher eine erwachsene Frau denn ein Heranwachsender. Aber das kann ich nur vermuten, ein Jugendlicher hat eher selten Geld für einen Nagelschuh, oder vielleicht auch weniger Grund, allein durch die Wildnis zu stromern.“
„Du hast Recht, das können wir nicht sicher sagen. Aber es ist plausibel, was du vermutest. Lass uns sehen, was die Spur sonst noch an Hinweisen bietet.“
„Gut, aber dazu müssen wir ihr folgen“ antwortete Timoin und blickte in Laufrichtung der Schuhspur. „Dort entlang. Aha. Hier, in der Erde am Rand der Felsen. Zwei Schuhabdrücke, die Zehen eingedrückter, die Fersen entlastet. Schätze, die Frau - wenn es denn eine war - hat sich hier hin gekauert und die Gegend abgesucht, wollte vielleicht selbst nicht entdeckt werden, hier oben auf der Anhöhe.“
Odilon nickte. Dann deutete er mit dem Finger auf einen eckigen Eindruck in der Nähe der Fußabdrücke. „Was meinst du dazu?“
„Leicht rechts hinter den Fußabdrücken. Wenn die Frau hier gekauert hatte, und sie hat etwas über die Schulter getragen, dann hat das hier die Erde berührt.“
„Sehr gut. Was könnte die Frau über der Schulter umgehängt getragen haben, das so eine Spur hinterlässt?“
„Na, ein Bogen war es nicht. Da wäre der Abdruck spitzer und kleiner. Eine Klinge ebenfalls nicht. Und für einen Köcher ist es zu eckig. Leicht rechtwinklig, aber an der Ecke abgerundet. Ein Griffstück? Eine Armbrust vielleicht?“
„Nun, könnte sein. Wir wissen es nicht, aber deine Analyse ist richtig, was es sicher nicht ist und was es sein könnte. Lass uns der Spur weiter folgen. Du gehst voran.“
Timoin gehorchte. Er war ganz im Prüfungsfieber, seinem Knappenherrn und Lehrmeister, der der alte Jäger ja war, zu gefallen und seine Anerkennung zu erlangen. Er ließ seinen Blick nach vorn schweifen, über die Wiese, über die der Spurenleger gegangen sein musste. In der Wiese war die Spur schwer zu erkennen. Es war wohl schon zu viel Zeit vergangen, und die Grashalme hatten sich wieder aufgerichtet. Erst einmal sah Timoin keine weiteren Spuren.
„Gestern Abend hat es noch geregnet. Es muss also danach gewesen sein, sonst wäre die Spur auf dem Felsen und in der Erde verwischt. Aber es muss auch mindestens drei Stunden her sein, sonst wären hier im Gras noch Spuren erkennbar.“
Odilon nickte. Timoin folgte einem Instinkt über die Wiese. Ab und zu, in erdigen Stellen, konnte er Teile von Abdruckspuren erkennen. So konnte er die Richtung halten und auf der richtigen Fährte bleiben. Timoin führte Odilon hangabwärts an einigen Büschen vorbei, auf einen ausgetretenen Wildwechsel, der sich entlang des Höhenrückens erstreckte.
„Hier, schau!“ flüsterte Timoin, als wäre der Verfolgte noch in der Nähe. Da sind noch mehr Spuren.“ Der junge Jäger wies auf mehrere Abdrücke, die sich in einer erdigen Mulde gehalten hatten. “Aber das sind keine Nagelschuhe.“
Odilon nickte. „Zweifelsfrei. Welche Schuhe sind es dann?“
„Ich würde sagen, einfache Lederschuhe. Keine von einem Schuster, sie haben keinen Absatz. Eher solche, wie man sie in der Wildnis trägt. Vielleicht eine Art Mokassins. Es sind… vier… nein, fünf. Fünf waren es, die sich hier getroffen haben. Jäger vielleicht?“
„Nein, Timoin. Keine Jäger. Sieh dir die Spuren an und vergleiche sie mit der bereits bekannten Spur, was fällt dir auf?“
Timoin sah noch einmal auf den Boden.
„Die Fußspur der Frau ist tiefer als die der anderen fünf.“
„Genau. Und was heißt das?“ hakte Odilon nach.
„Die Frau ist schwerer als die anderen?“ Timoin schlussfolgerte etwas unsicher.
„Ja, so sieht es aus. Und was sagt uns das?“
„Rotpelze!“ rief Timoin. „Das sind Goblins! Goblins sind leichter als Menschen.“
„Genau“ bestätigte Odilon. „Eine Gruppe aus fünf Rotpelzen. Die Frage ist, was machen die hier?“
„Hat die Frau die Rotpelze hier getroffen, oder ist sie ihrer Spur gefolgt?“ wollte Timoin wissen.
Odilon zog die Augenbraue hoch, die durch eine markante Narbe in eine obere und eine untere Hälfte unterteilt war. „Das ist auch eine interessante Frage. Anhand der Spuren können wir nicht erkennen, ob alle gleichzeitig hier waren, oder ob die Frau kurz danach hier war und den Spuren gefolgt ist. Jedenfalls führen alle Spuren weiter praioswärts, den gleichen Weg. Zusammen oder nacheinander, das lässt sich nicht sagen. Was hältst du für wahrscheinlicher?“
Timoin dachte nach. „Ich weiß es nicht. Wer mit dem Rotpelz gemeinsame Sache macht, hat nichts Gutes im Sinn.“
„Ein Vorurteil, das muss nicht immer zutreffen. Aber wir wissen es nicht“ widersprach Odilon.
„Aber wenn es eine Kriegerin oder Söldnerin war, vielleicht hat sie die Rotpelze verfolgt?“ warf Timoin ein.
„Ja, das ist gut möglich. Wir wissen es nicht. Aber es ist plausibel“ bestätigte Odilon.
Timoin führte die Spur weiter, die jetzt gut zu erkennen war, in dem breiten Wildwechsel.
„Sieh, Odilon. Die Frau verlässt den Pfad. Die fünf Rotpelze gehen weiter“ rief Timoin leise aus. „Aber warum, was hat das zu bedeuten?“
„Schwer zu sagen, aber vielleicht finden wir etwas heraus, wenn wir den Spuren weiter folgen.“
„Der Frau oder den Rotpelzen?“
„Such es dir aus“ antwortete Odilon. Timoin entschied sich für die Fährte der Goblins. Sie kamen auf eine flache Wiese, die lieblich aussah und eigentlich zu einer Rast eingeladen hätte.
„Eine Blutspur!“ rief Timoin und deutete auf rote, noch nicht lange eingetrocknete Blutflecken im Gras.
„Hier ist noch eine“ ergänzte Odilon.
Beide blieben stehen und blickten auf den Boden, die Spuren absuchend.
„Das war ein Kampfplatz. Eindeutig“ schlussfolgerte Timoin. „Wen haben die Goblins überfallen? Die Frau?... Nein, die kann es nicht gewesen sein. Ich sehe ihre Spuren hier nicht. Das sind… andere Spuren. Ein Stiefel, etwas größer als die Stiefel der Frau, und ohne Nägel, aber mit einem Absatz. Ein Mann, offenbar kein armer Mann, der sich immerhin gute Stiefel leisten kann. Ob die Goblins ihn überfallen haben?“ riet Timoin.
„Nun, so sieht es jedenfalls aus“ bestätigte Odilon. „Ein wildes Gefecht, fünf gegen einen. Offenbar wurde der Mann verletzt. Aber er hat überlebt, wir sehen keinen Leichnam hier. Vielleicht hat er die Goblins in die Flucht geschlagen? Was meinst du, Timoin?“
„Naja, einer gegen fünf, da müsste er ein guter Kämpfer sein. Auch sehe ich nur eine Blutspur. Dort… offenbar kam hier der Mann verletzt zum Liegen, und die Goblins sind getürmt. Warum… ach ja. Dort ist auch wieder die Spur der Frau. Hat sie in den Kampf eingegriffen? Dem Mann geholfen?“
„Das kann gut sein. Die Spuren lassen nicht exakt zu, einzuschätzen, wer gegen wen gekämpft hat, aber es sieht so aus. Dort… sieh die Spuren der Frau und des Mannes dort, sie führen vom Platz weg, wo der Verletzte gelegen hat. Was kannst du erkennen?“ fragte Odilon
„Beide Spuren verlaufen nebeneinander. Und die Spuren der Frau sind jetzt tiefer, klarer, als zuvor. Vielleicht stützt sie den Mann beim Laufen? Immerhin ist er verwundet?“ mutmaßte Timoin.
„Ja, genau danach sieht es aus. Folgen wir jetzt den Spuren der Menschen gen Praios, oder denen der Rotpelze rahjawärts?“ Odilon überließ Timoin die Entscheidung.
Timoin blickte prüfend in die Umgebung.
„Nun, der Richtung nach dürften die zwei auf dem Weg nach Gernatsborn sein. Der Mann ist verletzt, und der Kampfplatz liegt schon fast in Sichtweite von Gernatsborn. Offenbar hat man sich entschieden, dort Hilfe zu suchen. Nach Gernatsborn kommen wir ohnehin, aber ich möchte noch eben wissen, wohin die Rotpelze geflüchtet sind.“ Timoin blickte in Richtung Sichelberge. „Da hinten, da liegt doch etwas!“
Der junge Jäger lenkte seine Schritte rahjawärts, und Odilon folgte ihm. Nach vierzig Schritt sahen sie, was Timoin vorhin erahnt hatte.
Halb verdeckt hinter Gestrüpp und Farnkraut und Hohen Gräsern lag ein Goblin. Tot. Ein Bolzen stakte dem Toten aus dem Genick.“
„Na sieht so aus, als hättest du mit deiner Vermutung von der Armbrust Recht gehabt“ lobte Odilon den jungen Jäger. „Wer immer einen Rotpelz auf der Flucht auf diese Entfernung sicher trifft, der ist ein geübter Schütze, das steht einmal fest. Von hinten zwar, nicht gerade rondragefällig. Aber treffsicher.“
Timoin nickte. „Gut. Die Goblins weiter zu verfolgen macht vermutlich wenig Sinn. Der Vorsprung der Rotpelze beträgt mehrere Stunden. Und wenn wir erfahren wollen, was wirklich passiert ist, werden wir auf Gernatsborn sicher Antworten finden.
“Also fassen wir zusammen, Timoin. Was ist hier passiert?”
“Nun, jemand mit Nagelschuhen, vermutlich eine Söldnerin, stromert durch die Lande. Sie erblickt eine Bande Rotpelze, verfolgt sie, und kommt gerade rechtzeitig, um einen Reisenden bei einem Überfall der Goblins beizustehen. Mit der Armbrust erledigt sie einen und schlägt die Rotpelze in die Flucht. Dann hilft sie dem verletzten Mann nach Gernatsborn.”
“Ja, so sieht es aus.” Odilon blickte zurück. Er blickte auf die Anhöhe, auf der die Frau gekauert und beobachtet hatte.
“Aber ich weiß nicht, mein Junge. Aber irgendwie glaube ich die Geschichte so nicht. Ich kann es nicht sagen. Ein Gefühl.”
“Der Instinkt des Jägers, wenn irgendetwas nicht so stimmig ist wie es scheint, oder einfach nur Erschöpfung nach dem langen Marsch? Ach, egal, Odilon. Gehen wir nach Gernatsborn. Dort werden wir beide sicher treffen und hören, ob wir die Spuren richtig gelesen haben. Ich bin schon neugierig. Komm mit, Odilon. Es ist nicht mehr weit. Vielleicht ist die Fähre schon fertig. Lass uns gehen, dann kommen wir noch bei Tageslicht zur Burg.”
“Ach, ich weiß es nicht. Aber du hast Recht, auf Gernatsborn erfahren wir mehr. Außerdem hast du dir ein gutes Mahl verdient. Das erste seit vier Monaten, das wir nicht selber bereiten müssen. Fürwahr, es gibt bessere Köche als uns beide.“ Odilon konnte seinen Blick nicht von der Anhöhe lösen, auf der er noch vor einem halben Stundenmaß mit Timoin war.
Plötzlich wusste er, was ihn störte.
Er blickte auf seinen jungen Begleiter. Timoin sah nach vorne, versuchte den besten Weg durch das Gestrüpp zum Gernat auszumachen. Mit einer raschen Bewegung nahm Odilon sein Messer, und schob es unter sein Hemd in den Gürtel.
“So ein Mist, Timoin. Ich habe mein Messer verloren. Das kann nicht lange her sein, vorhin auf der Anhöhe hatte ich es noch.”
Timoin seufzte. “Nagut, suchen wir es. Dann muss das warme Abendessen eben noch etwas warten.”
“Ach, ist gut, Timoin.” antwortete Odilon. “Geh ruhig schon einmal vor. Du hast es dir verdient. Ich suche eben den Weg ab, und komme nach. Mehr als ein halbes Stundenmaß werde ich nicht brauchen.”
“Meinst du wirklich? Ich kann dich begleiten.”
“Doch doch. Geh nur.”
Timoin zögerte. Aber dann siegte das Verlangen nach einer warmen Mahlzeit und die Neugier, die neue Fähre und die Burg zu sehen. Bei ihrem Aufbruch war hier noch eine Baustelle gewesen.
“Na gut, Odilon. Dann bis nachher.”
Odilon nickte ihm zu und folgte dann der eigenen Spur zurück. Er hatte noch eine Stunde, bis es zu dunkel sein würde, um die Spuren genauer zu untersuchen. Und morgen wäre es zu spät, in der Nacht würde es wieder leicht regnen. Mit raschen Schritten eilte er zurück in Richtung Anhöhe.
Er hatte es Timoin nicht sagen wollen. Er wollte ihn nicht beunruhigen, vielleicht aber wollte er sich auch nur nicht blamieren, nur aufgrund einer vagen Ahnung, die völlig grundlos sein konnte.
Aber was ihn störte war die Lage der Beobachtungsspur auf der Anhöhe. Wenn er sich richtig erinnerte, wiesen die Fußspitzen der Söldnerin in Richtung Kampfplatz, und nicht dahin, wo sie auf die Spur der Goblins gelangt war.
Aber wenn die Söldnerin in das Gefecht eingegriffen hatte, dann war der Rotpelz zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Kampfplatz gewesen. Der Rotpelz hat nicht dort gelauert oder in einem Versteck gewartet, das hätten sonst die Fußspuren verraten. Dennoch, so schien es, hat die Söldnerin den späteren Kampfplatz ausgespäht, und nicht die fünf Rotpelze. Warum?
Natürlich musste die Blickrichtung der Söldnerin nicht der Richtung der Fußspur entsprechen. Dennoch, meistens standen Menschen auch in die Richtung, in die sie schauten.
Das alles musste nichts zu bedeuten haben, aber Odilon hatte kein gutes Gefühl. Er wollte sich die Spuren einfach noch einmal anschauen. Irgendetwas hatte er übersehen. In der einsetzenden Dämmerung würde das schwer genug werden, zumal inzwischen auch seine und Timoins Fußabdrücke das Spurenbild verändert hatten.
Der alte Jäger eilte zurück. Erst zum Kampfplatz. Dann weiter, den Wildwechsel, auf dem er zuvor den Spuren der Goblins gefolgt war. Zurück zu der Stelle, da die Söldnerin die Spur der Goblins verlassen und in den Wald abgebogen war.
Jetzt sah er noch einmal die Spuren genau an. Natürlich… wie hatte er das vorhin nur außer acht lassen können. Natürlich konnte man feststellen, ob zuerst die Goblins oder die Söldnerin oder alle gleichzeitig hier gewesen waren.
Sorgfältig, Abdruck für Abdruck, besah er sich die Nagelschuhspur an. Er suchte nach Abdrücken, die die Spur der Goblins berührte.
Da… da war eine. Die Nagelschuhspur hatte eine Mokassinspur überlappt. Im Überlappungsbereich waren klar die Nagelspuren zu erkennen. Hier hatte zuerst der Goblin und dann die Söldnerin ihren Fuß hingesetzt. Also war hier zuerst der Goblin gewesen.
Hatte die Söldnerin also doch die Goblins verfolgt. So, wie Timoin und er es rekonstruiert hatten? War er nur einer vagen Ahnung aufgesessen? Odilon folgte der Spur weiter zurück, spähte weiter nach sich überschneidenden Spuren. Wenn es so wäre, dann würde immer die Spur des Nagelschuhs vollständig zu sehen sein und die Spur des Mokassin eines Goblins wäre beschädigt durch den späteren Tritt der Söldnerin. Tatsächlich fand Odilon weitere solche Spuren.
Doch er fand auch eine andere Spur. Eine Spur, bei der die Mokassinspur die Nagelschuhspur überlagerte.
Odilon kniete nieder und sah sich die Spur im Dämmerlicht genauer an. Tatsächlich. Hier war zuerst der Nagelschuh aufgetreten und danach der Mokassin.
Also hatte die Söldnerin die Rotpelze begleitet, war ihnen nicht gefolgt.
Oder war der Goblin nur ein Nachzügler, der seinen Gefährten verspätet nachgefolgt war? Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Odilon folgte den Spuren weiter zurück. Tatsächlich fand er, ganz vereinzelt, Spuren, bei denen eindeutig die Goblinspur den Nagelschuh überlappte und nicht umgekehrt. Schließlich gelangte er zu der Stelle, an der die Nagelschuhspur von der Anhöhe herunter zu der Spur der Goblins gestoßen war.
Noch einmal blickte Odilon nach oben. Ja, richtig. Die Beobachtungsspur, wie Odilon sie in Erinnerung hatte, wies zum späteren Kampfplatz. Nicht hier herunter, wo offenbar der Rotpelz zu diesem Zeitpunkt war.
Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Nicht mit der Geschichte, die Timoin und er sich zusammen gereimt hatten. Nun, er konnte es nicht wissen. Natürlich konnte auch schlicht einer der Rotpelze später nachgekommen sein und dabei für das Spurenbild gesorgt haben. Aber sein Jägerinstinkt ließ ihn das nicht glauben.
Das hieße, die Frau hat zuerst den Rotpelz begleitet, sich dann aber im Kampf gegen sie gestellt? Gut, mochte sein. Eine Söldnerin kann durchaus gemeinsam mit Rotpelzen unterwegs sein, dann aber, bei einem Überfall auf einen Menschen, doch ihr Gewissen entdecken. Zumindest würde das die zeitgleiche Anwesenheit einer Söldnerin und einer Goblinbande erklären.
Aber jetzt begab sich Odilon in das Feld der Spekulation und nicht der Spurensuche. Als Fährtensucher interessierten ihn Fakten. Nicht Rätselraten.
Inzwischen war die Dämmerung zu weit fortgeschritten, um noch weiter nach Spuren zu suchen. Wenn denn überhaupt noch etwas zu finden war. Vielleicht maß er der Sache auch zu viel Bedeutung bei. Vielleicht wurde er wirklich langsam alt und sah Gespenster, wo keine waren.
Odilon brach die Spurensuche ab. Timoin sollte nicht zu lange auf ihn warten müssen.

Die ersten Sterne gingen über den sich schwarz vor dem Horizont abzeichnenden Gipfeln der Schwarzen Sichel auf. Es war schon dunkel. Aves war der erste Stern, der am Himmel, ganz tief im Efferd, sein Licht erstrahlen ließ. Odilon hatte Timoin am Gernat wartend erreicht - der Junge hatte es doch vorgezogen, auf den alten Jäger zu warten. Dann hatten beide noch ein Bad im Gernat genommen. Völlig verdreckt und nach Schweiß und ungewaschen riechend wollten beide letztlich nicht auf Burg Gernatsborn um Einlass bitten. So sahen die beiden leidlich manierlich aus, als sie endlich über die neue Fähre gelangt und auf der Burg um Einlass gebeten hatten. Aufgrund der markanten Narbe über dem rechten Auge, in der Augenbraue, hatten die Wachen am Zugang zur Burg den früheren Gallyser Baron erkannt, und daher trotz der späten Stunde ihm und seinem Begleiter Einlass gewährt.
Leise Klänge waren aus der Burg zu vernehmen. Es schien, als wäre das Abendmahl bei den Herrschaften der Burg noch in vollem Gang. Der wachhabende Offizier am Burgtor hatte einen jungen Rekruten beauftragt, die abermaligen Gäste - heute waren ja schon viele hochgestellte Gäste auf der Burg eingetroffen, zunächst die Vögtin mit ihrer hochgeborenen Tochter und dem Friedwanger Baron mit seinem Sohn, dann ein Priester des Götterfürsten mit einer Söldnerin zum Geleit und jetzt, als wäre es noch nicht genug, auch noch der alte Baernfarn mit einem jugendlichen Begleiter - beim Burgherren anzukündigen. Vielleicht traf es sich da gut, dass das Abendmahl spät begonnen war und nun auch ein Musikus zum Mahl aufspielte, wenn ungeplant eine größere Schar hochgestellter Gäste auf der Burg eintraf. Nun, bei den Bauarbeiten, die zuletzt den Sommer über von statten gingen, waren immer wieder Gäste zu bewirten gewesen. Aber heute war es doch ein besonderer Zufall, der so viele edle Reisende auf die neue Burg Gernatsborn geführt hatte.
Der Rekrut bat die Gäste, ihm zu folgen, um der Herrschaft den Besuch anzukündigen. Odilon nickte dem jungen Rekruten sein Einverständnis zu, und der Soldat ging voran. Mit nur leicht nervösen Schritten, die durch den Burghof hallte, stiefelte er zur Terrasse hinauf, auf der der Burgherr den Gästen aufgetischt hatte. Mit leichter Überraschung blickte Junker Storko auf und sah den Soldaten fragend an. Dieser schritt auf seinen Soldgeber zu, salutierte und machte seine Meldung.
„Wohlgeboren, ich habe erneut die Ehre, Gäste anzukündigen. Wiederum Gäste von Stand, die offenbar in der Nähe waren und um Einlass ersuchten.“
„Wiederum. Nun, das scheint ja heute hier ein größeres, ungeplantes Fest zu werden. Dass die Vögtin, kommen wollte, war mir ja bekannt. Dann gab uns noch ein Geweihter des Praios die Ehre. Nun, wen kündigt er jetzt an?“
Der Soldat hüstelte und räusperte sich kurz. „Seine Hochgeboren Odilon Wildgrimm von Baernfarn, den vormaligen Baron zu Gallys sowie Timoin von Binsböckel, den Ziehsohn der Edlen Valyria zu Gernatsquell. Sie scheinen von einer Pilgerreise zum Hängenden Gletscher zurück zu kehren, wie sie sagten.“
Storko erhob sich, um die neuen, unangekündigten Gäste zu begrüßen. Beiläufig gab er einer Dienerin einen Wink, zwei weitere Stühle zu bringen und Gedecke aufzutragen. Langsam würde es eng werden auf der Terrasse. Mit so vielen Gästen hatte der Burgherr nicht rechnen können.
„Der kundige Waldläufer des Hauses Baernfarn, der zu der Zeit der Wildermarkära den Befreiungskampf für Gallys anführte. Ich habe schon manches über Euch gehört, aber noch nie das Vergnügen gehabt, Euch selbst zu sehen. Dann also willkommen auf Burg Gernatsborn, Baernfarn. Und ebenso willkommen, Timoin. Dich kenne ich ja schon länger. Ich erinnere mich, du warst in Gernatsquell, als damals meine liebe Gattin in den Wutzenwald entführt worden war. Du warst noch ein Knabe damals.“
Artig nickte Timoin. „Ich grüße Euch, Junker Storko!“ sagte er etwas verlegen. Nach einigen Monaten in der Wildnis fiel es dem auch sonst eher wortkargen Timoin schwer, die richtigen Worte zu finden. „Oheim Odilon und ich haben die Jägerprüfung abgelegt, auf unserer Reise zum Hängenden Gletscher.“ Timoin wusste nicht recht, was er sagen sollte, aber der Gletscher hatte ihn solcherart beeindruckt, dass er sofort darauf zum Reden kam. Noch nie zuvor hatte er solche Unmengen an Eis gesehen als eben dort am Heiligtum des Firun.
Storko nickte. Dass der Ziehsohn Valyrias beim alten Odilon in die Lehre ging, hatte er ja schon vernommen. „Dann bist du zum Jäger heran gereift?“ erkundigte sich Storko. „Augenscheinlich hattest du einen guten Lehrmeister, wenn du mit vierzehn schon die Jägerprüfung bestehst.“
„Zu viel der Ehre“ wehrte Odilon bescheiden ab. „Der Junge hat Talent, ein Gespür für die Wildnis. Vielleicht muss eher ich mich geehrt fühlen, dass ein junger Mann mich in meinem Alter noch auf eine solche Reise mitnimmt.“
Storko lachte. „Je nun. In jedem Fall willkommen auf Gernatsborn. Erweist uns die Ehre und leistet uns Gesellschaft beim Mahl.“
“Sehr gerne. So viel der Mühe hätte es jedoch nicht bedurft. Ihr habt auf der Terrasse zum Mahl geladen? Es wird regnen am späteren Abend.”
“Wirklich?” erkundigte sich Storko. “Der Himmel ist doch klar. Aber für den Fall der Fälle lässt sich ein Baldachin aus Leinen aufspannen, oder wir können in den Burgsaal umsiedeln.”
Der Musikus begann wieder zu spielen und sang dazu leise. Nicht zu laut, um die Gespräche bei Tisch nicht zu übertönen, aber dennoch laut genug, um ihn zu verstehen.
Haldana lauschte den Klängen des Barden interessiert. Sicher, kein Meistermusikus, aber dennoch ein talentierter Bursche, der da seine Stücke zum Besten gab. Die junge Baronin unterhielt sich prächtig mit Glyrana, der Burgherrin, die schon ein paar Jahre älter war als sie selbst und auch schon Kinder hatte. Es war nicht mehr als ein einfacher Austausch unter Frauen, von denen die eine vor der Ehe stand und die andere Ehe und Familie schon kannte. Aber, trotz des banalen Themas, schien von Anfang an eine Herzlichkeit die beiden Frauen zu verbinden.
Storko indes war interessiert, mehr von Odilon zu erfahren, dem sein Ruf als Bogenschütze und ehedem guter Schwertkämpfer ja schon vorausgeeilt war. Auch hatte er als Wehrvogt durchaus ein fachliches und berufliches Interesse daran, mit einem Augenzeugen und Mitkämpfer der Ogerschlacht, der Answinskrise, der Orkeinfälle und anderer größerer und kleinerer Gefechte und Schlachten bis hin zur dritten Dämonenschlacht, zu reden und Erfahrungen und Erlebnisse aus erster Hand zu hören. Odilon kam dem gerne nach und erzählte dem Junker von seinen früheren Erlebnissen vergangener Schlachten.
Timoin seinerseits war neugierig auf die Geschichte des Praioten, als er erfahren hatte, dass dieser auf der Anreise von Goblins überfallen worden war und nur dem beherzten Eingreifen einer Söldnerin sein Überleben zu verdanken hatte - eine Söldnerin, die ebenfalls auf der Burg weilte und als Armbrustschützin um Anstellung bei den Bewaffneten auf Gernatsborn ersucht hatte, weswegen nun die Ritterin Jadwige von Kressenbrück diese genauer ansah und auf ihre Eignung prüfte.
Etwa gegen die zehnte Stunde - inzwischen waren alle Gäste gesättigt und Storko ließ einen Wein nach dem Mahl reichen - begann es, wie Odilon es voraus gesehen hatte, leicht zu regnen. Ein warmer Sommerregen, aber dennoch eine merkliche Abkühlung nach dem geradezu heiß zu nennenden Praiostag. Die Dienerschaft spannte die Leinen auf. Immer noch sang und musizierte der Barde.

Ein Windstoß ließ die Kerzen auf dem Leuchter verlöschen. Schon eilte ein Diener, um in der Küche Feuer zu holen und diese wieder zu entzünden.
Haldana erschrak, als ein kaltes Gefühl nach ihrem Herzen Griff. Ein Gefühl, das sie inzwischen nur zu gut kannte. Beklommen sah sie sich um. Klar, ein wenig erschrocken schienen alle zu sein nach dem plötzlichen Erlöschen der Kerzen. Aber dennoch hatte Haldana nicht den Eindruck, dass die anderen die Kälte gleichermaßen gespürt hatten wie sie. Nicht, dass sie das überrascht hatte. Allerdings war auch Glyrana etwas blass geworden.
Warum hatte der Barde sein Lied geändert? Warum sang er nicht mehr, wie eben noch, eine Ballade über eine Vinsalter Liebschaft? Warum klang das Lied jetzt anders, die Musik seltsam verzerrt? Nicht unmelodisch, aber dennoch irgendwie fordernd? Schwang eine leichte Dissonanz in den Klängen mit?
Ein kalter Hauch wehte durch den Raum, der jetzt alle, nicht nur Haldana, erschaudern ließ. Zarte Rauchstengel stieben noch an den Dochten der erloschenen Kerzen empor, ehe dort noch der restliche Glutpunkt am Ende des Dochtes verglimmte.
„Schön, dieses abendliche Kammerkonzert. Dazu will ich doch zu gerne meiner lieben Gemahlin etwas Musikalisches darbieten“ vernahm Haldana die ihr inzwischen bekannte, gleichermaßen unheimliche wie körperlose Stimme. Haldana versuchte, sich nicht beirren zu lassen, konzentrierte sich auf den Gesang des Barden. Sie wollte sich dieses Mal nicht Angst machen lassen von der geisterhaften Erscheinung, die sie plagte. Doch die Musik und der Gesang hatten sich verändert. Klang die Stimme des Barden nicht wie die körperlose Stimme Golos? Eine eingängige Melodie, jedoch gepaart mit einem schändlichen Text dazu. Vernahmen die anderen auch dieses schändliche Lied, oder hörte nur sie es?

Die Zwölf Götter geh´n zu Grunde,
ihr Ruin in aller Munde.
Kommt und sehet was geschah,
in dem Reich, das ihres war!

Haldana schauderte erneut. Sie wollte es zwar, aber es gelang ihr nicht, sich gegen Golos Gesang zu konzentrieren, ihn zu ignorieren. Zu sehr lenkte der schaurig-falsche Klang und die Furcht, die Golo verbreitete sie ab. Mühsam konzentrierte sie sich.

Rondras Rüstung ist verrostet,
ihre Ehre es sie kostet.
Schlägt die Orks von hinten nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

sang die unheilige Stimme Golos weiter. Wieder fragte sie sich, konnten die anderen Golo dieses Mal auch hören? Oder reagierten sie nur verunsichert, weil Haldana eine plötzliche Furcht ausstrahlte und man ihr die Verunsicherung anmerkte?
Storko blickte finster über die Runde. Was war hier los? Gut, ein Windstoß, erlöschende Kerzen. Sicher, eine schreckhafte Natur mochte sich das zu Herzen nehmen. Aber warum war seine Gemahlin so blass? Warum die junge Schlotzer Baronin? Irgendetwas stimmte nicht, auch wenn Storko sich nicht erklären konnte, was das war.

Ingerimms Feuer sind erloschen.
Aus Zorn wird Efferd gleich verdroschen.
Diesem bricht es alle Glieder,
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

„Entschuldigt, ich… muss mal raus“ sagte Haldana und wollte aufstehen. Aber ihre Füße gehorchten ihr nicht.
„Ist gut, kein Problem“ antwortete Alrik. Der alte Friedwang erinnerte sich an das, was Hesindian ihm im Traum offenbart hatte. Er wusste genug über Golos Erscheinung als Nachtmahr, vielmehr, er hatte sich genug zusammen gereimt, um dessen Handeln einschätzen zu können, auch wenn er ihn nicht wahrnahm. Aber der kalte Lufthauch, das Erlöschen der Kerzen war typisch für diesen Mahr des Ungenannten. Es schien ihm, als laste der Mahr schwer auf der Schwiegertochter. Der alte Friedwang spürte die Verstimmung, die in der Luft lag und die Furcht, die Haldana plötzlich hatte, auch wenn er selbst nichts hörte außer den Gesängen eines mittelmäßigen Barden, der in der Festhalle sein Können zum Besten gab. Aber er konnte zumindest erahnen, was in Haldana vorging oder was sie vielleicht gerade erlebte. Als Phexgläubiger hatte er nicht zuletzt auch ein Gespür für die Gefahren, die im Verborgenen lauerten.
Haldana indes hörte das schändliche Lied Golos weiter, kam dem lästerlichen Gesang und der disharmonischen Musik nicht aus.

Travia als leichtes Mädchen
wandert aufreizend durch’s Städtchen,
Kauft in Gareth fesche Mieder,
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Haldana zitterte. Sie war zu traviasittsam aufgewachsen, um eine solche Lästerung der Göttin der Ehe sich nicht zu Herzen zu nehmen, auch wenn sie nicht speziell der Herdmutter ihre Gebete widmete. „Was ist los, Halda?“ fragte Alboran. Auch er spürte, wenn er schon selbst nichts hörte von Golos Gesang, die Beklemmung, die alle am Tisch, auch ihn, ergriffen hatte. Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, seine Freundin zu beschützen, auch wenn er nicht wusste, wovor und der Angst, die auch ihn ergriffen hatte. Sanft lehnte Haldana ihren Kopf an seine Schulter, was ihr ein wenig die Angst nahm.

Auf des Borons Tempeltreppen
sieht man die Geweihten steppen.
Singen laut obszöne Lieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Glyrana war empfindsamer als die meisten anderen und spürte die unheilige Präsenz mehr. Es war, als greife eine kalte Hand nach ihr. Sie erkannte, dass die junge Baronin offenbar noch mehr als sie selbst von der unheimlichen Präsenz, die zu spüren war, betroffen war. Mit unruhigen Augen sah sie sich um, konnte jedoch nichts Weiteres erkennen als die erloschenen Kerzen. Golo sah sie nicht, hörte nicht das unheilige Lied. Oder doch? Unruhig und mit leichter Beklemmung sah sie nach ihrem Gemahl. Halt… doch. Das Tischtuch bewegte sich leicht, als hätte ein Windstoß es zum Flattern gebracht. Doch ein Wind war gar nicht zu spüren. Glyrana zitterte leicht. Sie war sich nicht sicher… war eine unheimliche Stimme zu hören? Oder ging die Fantasie mit ihr durch? Sie konnte es nicht sagen.

Hesinde tanzt mit den Dämonen,
lässt Skelette bei sich wohnen.
Vor Borbarad, da kniet sie nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Ismena von Oppstein war von einer inneren Unruhe ergriffen, ohne zu wissen, weswegen. Sie bemerkte die Blässe und das Erschrecken, die Haldana und Glyrana ausstrahlten, ohne sich einen Reim darauf machen zu können. Aber sie konnte letztlich ihre Unruhe, ihre Aufregung, nicht erklären. Schutzsuchend blickte sie zu Alrik.

Der Gott des Nordens hat die Grippe,
hustend klappert sein Gerippe.
Schließlich kriegt er auch noch Fieber.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Der Instinkt des Jägers ließ Odilon die Gefahr wittern. Eine Gefahr, die er nicht sehen konnte. Doch er spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, so wie ein Reh es vielleicht spürt, wenn es der Blick eines Luchses oder einer Parders trifft, auch wenn es diesen weder sieht, riecht noch hört. Es war die unerklärliche Gewissheit des Waldläufers, dass eine Bedrohung in der Luft lag, und die Odilon zur Vorsicht mahnte. Odilons Sehnen spannten sich an, bereit, wo auch immer einzugreifen, wenn eine Bedrohung greifbar wurde.

Die Regenbogen sind verschwunden,
die Göttin hat das nicht verwunden.
Tsas Geweihte werden Krieger.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Ein leiser Gesang mit einer unheiligen Melodie drang an Glyranas Ohr. Jetzt hörte sie, was wohl die junge Schlotzer Baronin so mitnahm. Eine unheimliche Stimme mit einer schaurigen Melodie, die einen unheiligen Text sang. Was sie hörte machte ihr Angst.

Meister Phex kauft sich ein Messer,
doch der Händler feilschte besser.
Hundert Sterne fielen nieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Alrik befiel eine unerklärliche Unruhe. Es war, als wäre zum ersten Mal in seinem Leben der Fuchsgott nicht in seiner Nähe, als wäre er von seinem Gott verlassen. Was war hier los? Warum befiel so eine seltsame Unruhe alle hier in diesem Raum? Nur mit einem Windstoß und erloschenen Kerzen war das nicht zu erklären. Vielleicht war sein erster Gedanke, dass Golo als Nachtmahr hier sein Unwesen trieb, doch zutreffend gewesen? Er wusste es nicht mit Sicherheit. Es war nur eine Ahnung. Aber er würde mit Haldana reden müssen.

Die Pflanzen werden ausgerottet.
Frau Peraine bös’ verspottet.
Zuerst vernichtet man den Flieder.
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Immer noch war Glyrana unruhig und von einer unerklärbaren Angst erfüllt, auch wenn sie, außer dem verderbten Lied über die Eidechsengöttin, nichts von dem unheiligen Lied vernommen hatte. Sorgenvoll blickte sie zu ihrem Gemahl, der den Blick nicht minder sorgenvoll erwiderte.

In den übelsten Spelunken
liegt Frau Rahja sturzbetrunken.
„Nastarovje, meine Brüder!“
Nummer Dreizehn freut sich wieder.

Vögtin Adginna war keine Regung anzumerken. Sicherlich spürte sie die Unruhe, die auch von ihr Besitz ergriff. Aber sie hatte es gelernt, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen. Mit stoischer Ruhe überblickte sie die anderen und erkannte, dass Haldana und auch Glyrana wohl am blassesten von allen waren. Sie zwang sich, logisch zu denken. Eine konkrete Gefahr war nicht zu sehen, nichts, von dem wirklich eine Bedrohung ausging. Dennoch lag eine eigentümlich bedrohliche Stimmung in der Luft. Vielleicht eher eine Ahnung, ein Gefühl.
Aber die Vögtin zwang sich zur Ruhe.

Im Himmel hört man Praios lachen.
Lächelnd packt er seine Sachen.
Auch dem Letzten wird nun klar,
dass er die Nummer Dreizehn war!

Praiodin Xerber blickte verwirrt auf die Festgesellschaft um ihn. Was war da los? Warum waren alle von einer solchen Unruhe befallen. Alle, außer vielleicht die Vögtin, wirkten angespannt, als läge eine Bedrohung in der Luft. Allein, er konnte sich nicht erklären, was die anderen unruhig wirken ließ. Vielleicht fehlte ihnen allen einfach das rechte Vertrauen in den Herrn Praios, dass ihnen ein Windstoß und erlöschende Kerzen eine solche Angst machten. Der Geweihte war eher verwirrt angesichts der Reaktionen der anderen Gäste.

Das sieht man auch Opp dem Steine
Im Sonnentempel dort, herrscht nur der Eine
Purpurgülden ist sein Glanz
Das Land Oppstein gehört ihm ganz!

Praiodin blickte kopfschüttelnd über die kleine Schar im Festsaal. Vielleicht sollte er am kommenden Morgen doch eine Praiospredigt halten.
Ismena von Baernfarn war von einer nicht erklärbaren Unruhe, vielleicht eher Furcht, übermannt worden. Es war ihr, als würde sie in der Ferne eine Stimme vernehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstand, was sie meinte zu hören. Woher kam diese Stimme? Wurde da tatsächlich die Herkunft ihrer Mutter geschmäht? Von wem und warum?

Loskarnossa steht in Flammen.
Söldner hau’n alles zusammen.
Von des Tiro stolzer Sippe
zeugen nur noch die Gerippe.

Alrik griff nach Haldanas Hand, wie um sie zu beruhigen. Am meisten von allen wirkte die junge Baronin angstergriffen und verstört. Immerhin hatte Alrik eine Ahnung, was in ihr vorging. Die Ereignisse vom Kurgasberg warfen lange Schatten. Es schien, als wäre noch längst nicht alles überstanden, was in der unheiligen Silbermine in den Trollzacken begonnen hatte.

Artema hat Gallys verloren,
schneidet ab man ihr die Ohren,
Und Alboran, ihr eitler Stecher
Wird aus Rache zum Verbrecher

Odilon musste an seine Gefährtin Jirka denken. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum. War sie in Gefahr? Nein, wie kam er darauf? Sie war nicht hier, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass ihr irgendeine Gefahr drohte.
Aber der alte Jäger war erfahren genug, um sich am Riemen zu reißen. Zwar blickten seine Augen, wie um alles ringsum aufzunehmen und zu erblicken, von dem eine Gefahr ausgehen könnte. Doch darüber hinaus gemahnte er sich zur Ruhe.
Und, nicht zuletzt, Jirka konnte sich wehren, wenn ihr Gefahr drohte. Vielleicht besser als er selbst.

Die Neue Kraft, das Haus Mersingen,
Wird dem Lande Unheil bringen,
Fordert heraus den Mund des Raben,
Erneut bald Krieg wir werden haben!

„Jetzt reicht es aber mal!“ donnerte Storkos Stimme über die Terrasse. „Bei den Zwölfen, ein Windstoß, ein paar erloschene Kerzen! Was ist denn los, das ist doch kein Grund, hier gleich in Panik zu verfallen. Spannt den Baldachin ordentlich, Hilberian“ wies er nebenbei einen Diener an. „Wo bleibt Aarwulf mit dem Feuer für die Kerzen?“
Die unheimliche Präsenz war so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war.
„Werte Mitgäste, ich versichere euch, es besteht keinerlei Anlass zur Besorgnis!“
Donator Lumini Praiodîn Xerber nahm hochgemut lächelnd eine der wenigen Kerzen an sich, die noch nicht brannten, entzündete sie an ihrer Nachbarin und steckte sie zurück auf den Leuchter. Im hellen Lichterglanz blickte er feierlich in die Runde. „Ich verstehe eure Sorge, eure Beunruhigung. Die Unheiligen Tage liegen noch nicht sehr lange hinter uns.“ Praiodîns Stimme stockte leicht. Vor einer Runde, die nur aus Adeligen bestand, hatte er noch nie "gepredigt". Der Geweihte versuchte ein wenig die  tiefe, inbrünstige, salbungsvolle Stimme Hochwürden Garafanions zu imitieren. „Damit meine ich nicht allein die verfluchten Tage ohne Namen. Nein, sondern auch die schrecklichen Jahre vor der Gründung unserer Rommilyser Mark“.
Der Baldachin war aufgerichtet, nun widmeten ihm die Gäste ihre ganze Aufmerksamkeit, ebenso wie die Gastgeber. Sehr gut.
„In unserem Leben geht es wieder aufwärts, hier und heute. Wir haben allen Grund zur Zuversicht. Der Heilige Monat unseres göttlichen Fürsten Praios ist angebrochen, sanctus, sanctissimus. Schon morgen wird sein Licht wieder über den zwölfgöttergefälligen Landen scheinen. Uns den wahren Weg weisen und zeigen, dass das, was uns für einen kleinen Moment beunruhigt, vielleicht sogar geängstigt haben mag, nichts weiter als ein Trugbild im Schatten war.“
Nach und nach entspannten sich die Gesichtszüge der Festgäste etwas. Nur Ihre Wohlgeboren Glyrana schien ernsthaft verstört zu sein. Natürlich, sie war eine tsagläubige Frau. Wenn Praiodîn allein an diesen Schrein unten am Hügel dachte. Der fast schon obszön pralle Leib der schwangeren Göttin hatte ihn an den eigentlichen Grund seines Hierseins erinnert. Ein Anblick, der ihn beinahe mehr geschmerzt hatte als seine Verwundung. Ysilda...
Es würde schwer werden, die Edle zu Zaberg heute Abend noch zu einem Gespräch unter vier Augen zu bewegen, in einer derart delikaten Angelegenheit. Aber er konnte schon jetzt seine Autorität als Praiosdiener unter Beweis stellen.
„Wir erleben wahrlich Tage des Neubeginns. Gewiss, hie und da auch im Sinne der Jungen Göttin. Aber die Zukunft, das Neue und Unbekannte, der stete Wandel und die rasch wechselnden Jahre sind immer auch beängstigend, wenn wir ehrlich zu uns sind.“ Ein großmütiges Lächeln in Richung Glyrana. Ihre Glaubensschwärmerei würde sich noch mäßigen, davon war er überzeugt. Er selbst, der ehemalige Tsa-Novize, hatte aus seiner jugendlichen Verirrung wieder zurück auf den rechten Weg gefunden. Hatte die eine gerade Straße zum Licht beschritten. Statt sich auf den verwirrenden Schleichwegen der Echsengöttin durch ein Leben voller Chaos und Unruhe zu schlängeln.
„Praios allein wacht über den Neubeginn, wie wir ihn erst vor kurzem in seinem Hause feiern durften. So hoffe ich es doch zumindest für alle hier Anwesenden. Der lange Tag der Sommersonnenwende war zur Gänze erfüllt von seinem Licht. Lassen wir es nun auch in unseren Herzen und Seelen aufleuchten. Tragen wir es hinaus in eine Welt, die vielerorts noch verschattet ist von der Finsternis und dem Fluch falscher Götter. Möge Praios alveranisches Licht, das auch in der Stunde der Nacht niemals weichen wird, unsere Seelen erhellen.” Praiodîn schlug feierlich das Sonnenzeichen und nahm Platz. Alles Böse, aller Dunkelsinn schien mit einem Mal von der Burgterrasse verschwunden zu sein.
Dennoch, der Lichtbringer hatte bei seinem Tischgebet zu lange gestanden. Seine frisch verbundene Wunde rief sich nun wieder schmerzlich in Erinnerung. Der Verband hatte sich rot gefärbt, ein wenig warmes Blut lief seine Wade hinab. Praiodîn lächelte krampfhaft und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Seltsam, dass in einem solchen Fall von einem Diener der Wahrheit keine vollkommene Ehrlichkeit verlangt wurde.
Der Barde begann wieder leise zu singen, alles schien wie vor dem "kalten Abendhauch" zu sein. Alboran winkte einen der Diener heran, um seinen Metbecher füllen zu lassen. Erst jetzt sah er, dass der bocksnasige, schwarzgelockte Junge ein bekanntes Gesicht war: Ravenhart, sein Vetter aus Senkenthal. Oder Halbvetter?
"Er hat unbedingt darauf bestanden, dich zu bedienen", sagte Storko. "Der Neffe meiner Gemahlin weilt noch nicht sehr lange bei uns als Page auf der Burg."
"Dein erstes Fest?" fragte Albo, freundlich, aber auch etwas gönnerhaft. Ravenhart nickte aufgeregt und musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um das Getränk von der schweren Kanne in den Becher zu füllen. Dumpf schlug Kupfer gegen Kupfer. Ein wenig Met schwappte heraus und tropfte dem Junker von Gießenborn über die Hand. Lächelnd leckte Albo sich den Handrücken sauber. "Du machst das sehr gut, kleiner Vetter. Wurdest du bereits im Schwertkampf unterwiesen?"
Ravenhart strahlte über das ganze Gesicht. "Ich durfte gestern schon ein echtes Langschwert in Händen halten."
"Sehr schön." Albo wuschelte dem Pagen über den Kopf. Womöglich würde der Knirps einmal Baron von Friedwang werden, jetzt, wo er selbst sich nach Schlotz verheiratete. Ihm war es gleich. Onkel Bisch war damals übel mitgespielt worden, das musste er zugeben. Alles sehr unrondrianisch und praiosungefällig, was geschehen war.  Aber nun würde sich die Geschichte wieder zum Guten wenden. "Du wirst sicherlich einmal ein großer Ritter und Held vieler Turniere!"
Ravenhart blickte Alboran stolz an, als hätte er gerade eben den Ritterschlag erhalten.
"Ich habe gehört, du wirst bald schon heiraten? Auf unserer Burg?!!" sprudelte es begeistert aus dem hochstirnigen, vornehm blassen Knaben hervor. Er schien ziemlich aufgekratzt zu sein, was Wunder ob der vorgerückten Stunde.
"Auf unserer Burg?" Alboran blickte schmunzelnd in die Runde. "Der junge Herr scheint sich bestens eingelebt zu haben, am Gernat. Zunächst einmal muss ich mich verloben, mit der Liebe meines Lebens." Er sah zu Haldana, die bemüht zurücklächelte. Was hatte sie jetzt schon wieder? War er etwa zu weit vorgeprescht? Aber sie waren doch ein festes Paar, oder?
"Ich nehme an, ihr werdet den Traviabund auf Burg Schlotz feiern?" fragte Storko, um die stockende Konversation wieder in Gang zu bringen. Die Frage galt Haldana, die immer noch verwirrt war. Hatte sie den unheiligen Gesang als Einzige gehört? Sah so aus. Oder war das wie im Märchen von Bardos und Cellas neuen Kleidern, wo niemand zugeben durfte, dass Ihre Kaiserlichen Majestäten in Wahrheit splitterfasernackt waren? Wer gestand schon gerne ein, unheilige Gesänge zu hören, die niemand sonst wahrnehmen konnte...im besten Fall landete so ein Mensch früher oder später im Noionitenspital. Wenn nicht gleich im Kerker der Heiligen Inquisition. Gut, dass Seine Gnaden Praiodîn keine Nachfragen gestellt hatte.
"Wie, äh, der Traviabund, ach ja..." Sie schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter.
"Burg Schlotz wäre gewiss der rechte Ort für so eine Feier." Adginna blickte zu Alrik, der wiederum stirnrunzelnd zum Barden blickte (der sich keinerlei Schuld bewusst zu sein schien). "Der Traviamond wäre dazu bestens geeignet."
"Ist das nicht ein wenig spät?" fragte Haldana. "Die Wege werden alle aufgeweicht sein..." Eigentlich dachte sie mehr daran, dass sie vielleicht schon im Traviamond eine erkennbare Kugel von sich her schieben würde, daher wollte sie nicht mehr so lange warten.
"Im Spätsommer wollten wir auch noch Burgeinweihung feiern", sagte Storko. "Vielleicht sogar mit einem kleinen Turnier." Er schaute in Richtung Ravenhart, der nun mit zusammengepressten Lippen  bei Onkel Alrik nachschenkte. Das sah alles noch sehr ungeschickt aus, aber seine "Adelslehrzeit" hatte ja gerade erst begonnen. Spontan kam dem Landjunker ein Gedanke.
"Man könnte die Hochzeit auch bei uns feiern, auf Gernatsborn. Oder besser gesagt, gleich mit der Burgweihe verbinden. Dann müssen die Gäste nicht zweimal anreisen. Und auch nicht zweimal Einladungen verschickt werden..."
"Mein lieber Storko", sagte Alrik. "Du bringst mich ganz in Verlegenheit. Deine Großzügigkeit ehrt dich, aber...So ein Fest ist nicht billig...Es ist schon viel, dass wir deine Gastfreundschaft - und die deiner wunderbaren Gemahlin - heute Abend in Anspruch nehmen dürfen."
"Wenn sich Baronin und Baron verehelichen, sollte das Traviafest schon auf ihrer Heimatburg stattfinden." Adginna nickte ernst. "Wie es Tradition und Sitte verlangt."
Auch vor den inneren Augen der Vögtin tauchte einen Moment lang die Gesegnete Tsa auf, unten in ihrem Schrein. Was würde eine Trauung in einer derart...neumodischen Kapelle für ein Geschnatter geben, nach all den Unschicklichkeiten, die bereits passiert waren?
"Nun, im alten Darpatien gab es mal den schönen Brauch der Flatterwoche." Storko befreite Ravenhart mit einer Handbewegung von seinem Pagendienst. "Nach dem offiziellen Traviafest durfte das junge Gänsepaar erst einmal hinfliegen, wohin und feiern, mit wem es wollte. Ein Ausflug auf eine der Nachbarburgen war nicht unüblich, um die Verbundenheit mit dem übrigen Adel zu zeigen..."
"Es ist wirklich sehr schön hier." Albo blickte verträumt zum Gernat, der ihn im Abendrot ans liebliche Gießental erinnert hatte. Auch wenn der Fluss größer und ruhiger war als der rauschende Wildbach in der Vorsichel (wo es aber ebenfalls ein Bergwerk gab). Gernatsborn, Gießenborn - die Namensähnlichkeit kam ihm wie ein gutes Omen vor. Plötzlich erinnerte sich der Knappe wieder an Ludwinas Brief. An die Warnung vor dem, was sich in den Abgründen unter Burg Schlotz verbergen mochte... Oder waren die Einflüsterungen der alten Oberhexe die wahre Bedrohung für sein Seelenheil?


8. Kapitel - Ein nächtliches Attentat

8. Kapitel

Ein Attentat in der Nacht



Gernatsborn, am späten Abend des 5. Praios 1043
Jadvige von Kressenbrück klappte den Zinndeckel ihres Bierkrugs auf: „Prost und den Zwölfgöttern befohlen“. Die Dienstritterin trank einen kleinen Schluck Dünnbier und wischte sich den kargen Schaum aus den Mundwinkeln. Dann musterte sie diese Renia Hagewisch, die gerade in ihrem Eintopf rührte, im Schankraum des Wirtshauses „Gerbaldsrast“.
„Oben auf der Burg geht es zu wie in einem Taubenschlag“, sagte die Dienstritterin. „Hier unten sind wir ungestört“.
Die beiden Frauen waren tatsächlich fast alleine, bis auf zwei der Handwerker, die derzeit noch Restarbeiten auf der Burg erledigten. Kupferschmiede, vermutlich, oder Fensterladenbauer. Tuvok, der Barönliche Forstwart, tunkte an einem Nebentisch Brot in seine Suppe. Der Duft von Kohl vermischte sich mit dem Geruch nach Wildleder und dem Metall von Jadviges Kettenhemd.
Die Adelige schob die Kerze ein wenig näher ans Gesicht der Söldnerin heran - scheinbar, um Platz für ihren schön geschmückten Zinnkrug zu schaffen. Der Humpen zeigte eine fein gravierte Szene aus dem Feldzug Kaiser Gerbalds. Seine Majestät rastete in einem Zelt am Ufer des Gernat und schien schon mächtig einen in der Krone zu haben. Eine heitere, volkstümliche Szene. Ein paar Elfen sahen aus dem Wald zu, mit merkwürdigen Zipfelmützen. Einer hielt sich die Hand ans Spitzohr, vermutlich in Anspielung auf die berühmte Anekdote über die Herkunft des Flussnamens: „Wer naht?“ „Gerbald naht!“ „Gernat?“ Oder so ähnlich...Der Deckel war mit Wildschweinen verziert, die aus dem Wutzenwald lugten.
Renia Hagewisch blinzelte im flackernden Kerzenlicht. Ihre Zähne sahen ziemlich schadhaft aus. Abgesehen davon waren sie beide sich nicht ganz unähnlich, fand Jadvige. Wenn auch mehr dem Typ als dem Aussehen nach. Die Armbrusterin hatte, so schien es, ebenfalls Jahre voller Kampf und Schlachten hinter sich, ihre kurzgeschorenen Haare waren grau geworden, das Gesicht faltig. Der eisige Blick verriet Misstrauen, Entbehrungen und Härte. Jadviges Blick vermutlich auch. Versonnen rieb sich Glyranas Leibritterin die Narbe, die ihre linke Wange verunzierte, und jetzt, vor dem Regen, ein wenig schmerzte. Der häßliche Wulst rief sich aber auch gerne dann in Erinnerung, wenn Jadvige irgendetwas aus tiefster Seele mißfiel.
Es war ja schön und gut, dass die Reisläuferin Seine Gnaden...wie hieß er noch gleich...Praioswin? Praiodan? Ach ja, Praiodin. Dass Renia den wandernden Geweihten vor den räuberischen Stinkern gerettet hatte.
Aber deswegen würde Jadvige nicht gleich jede wildfremde Bewaffnete in eine neu gebaute Burg führen. Renias leicht blökender tobrischer Dialekt mochte sich im ersten Moment gemütlich anhören. Aber es gab wahrlich genug schwarze Schafe jenseits der Sichel. Renias Mundart war eindeutig ysilisch gefärbt. Allein der Gedanke an Transysilien ließ Jadviges Hände zittern. Die Dienstritterin war froh, dass das ständige Geklopfe und Gehämmere oben auf der Burg zu Ende war. Es hatte wie in einem Bergwerk geklungen.
Nein, die von Kressenbrück vertraute dieser Renia keinesfalls, dieser erstbesten Heldin von der Straße. Auch wenn sie nicht recht sagen konnte, warum. An der Armbrust lag es nicht, auch wenn das Schießzeug wenig rondragefällig war. Heimtückisch und unehrenhaft, aber halt auch ziemlich durchschlagend und grausam effektiv. Nur mit Hellebarden, Schwertern oder Säbeln würde man Gernatsborn nicht verteidigen können. Womöglich ließ sich Renia Hagewisch als Ausbilderin der Pfahlgardisten verwenden. Mal sehen....
Jadvige hatte auch nichts gegen Söldlinge im Allgemeinen. Solange sie auf der richtigen Seite fochten. Auch Kor war ein legitimer Sohn der Himmlischen Leuin, sein gnadenloses Wüten auf dem Schlachtfeld gehörte seit Urzeiten zum Wesen von Kampf und Krieg dazu. Ein Kampf, der völlig anders aussah als in den lieblichen Gesängen des Barden da oben. Sich anders anhörte und anfühlte. Anders roch...Ob nun ein edler Ritter den anderen gefangen nahm, um Lösegeld zu erbeuten. Oder ein heimatloser Mietling sein Schwert für Gold verkaufen musste... Das war heutzutage allzu oft nur eine Standesfrage.
Nein, Jadvige war nicht dünkelhaft oder gar arrogant einer Gemeinen gegenüber. Zumindest glaubte sie das von sich selbst. Aber einige Sachen irritierten sie schon. Die schweren Handschuhe etwa, die Renia bislang keinen Herzschlag lang abgelegt hatte, selbst jetzt am Tisch nicht. Für eine Schützin, bei der es auf das Fingerspiel ankam, mussten die Dinger ziemlich hinderlich sein. Jadvige hatte schon von Dieben gehört, die auf die Hand gebrandmarkt worden waren, und solcherart ihre Ehrlosigkeit verbergen wollten.
Die Rittfrau hatte gerade eine Runde durch die Burgsiedlung gedreht, um die Bewohner vor herumstreunenden Rotpelzen zu warnen. Aber auch, um sich vor dem Abendessen der Herrschaften ein wenig am Fluss umzusehen. Mit einem starken Bogen ließ sich womöglich der Burgsöller unter Beschuss nehmen, von einem Boot oder Floß aus. Aber sie hatte am Gernat nichts Ungewöhnliches erspäht -  so ein „Schuss vom Fluss“ wäre doch ein ziemliches Glücksspiel und Wagnis.
Hernach hatte sie Renia zu einem kleinen Umtrunk eingeladen. An der Theke war ihr Deuten auf die Fässer sofort verstanden worden. Sie erhielt den gewohnten schwachen Trunk: Kofent oder Nachbier, wie es selbst die Kinder zu Trinken bekamen.  Die Tobrierin erhielt ordentlich Rommilyser Starkbier in den Krug. Ein süffiges Getränk, das hoffentlich ihre Zunge lockern würde.
„Seid bedankt, edle Dame. Ich weiß die Ehre zu schätzen, an einem Tisch mit einer Ritterin des Reiches sitzen zu dürfen“, sagte Renia. Sie schien tatsächlich beeindruckt zu sein, fast ein wenig verlegen. „Damit hätte ich niemals gerechnet...“
„Du hast heute einem Mann des Praios beigestanden, im Kampf gegen Raubgesindel. Das war wahrlich ein Guter Kampf. So sagt man doch, bei euch Anhängern des Kor? Eine fähige Schützin scheinst du zu sein. Aber sprich...Was verschlägt eine derart tüchtige Armbrusterin zu uns an die Gernatsbeuge? Du kamst aus Beorwang und wolltest weiter nach Gernatsborn? Bist du da nicht ein klein wenig übers Ziel hinausgeschossen?”
„Gernatsborn. Beuge. Au. Quell...da kann eine ortsfremde Reisende wie ich schnell mal durcheinander kommen.“ Jadvige wischte sich mit dem belederten Handrücken die Lippen sauber und hob den Krug.
„Burg Gernatsborn zu übersehen, das ist in dieser Gegend unmöglich. Zumal heute sogar das Banner Seiner Wohlgeboren des Landjunkers am Bergfried hängt.“ Jadvige setzte ein Löwinnenlächeln auf, meinte es aber ernst.
„Gewiss. Eigentlich wollte ich ja nach Gallys, nicht auf eure Burg. Und vorher noch einmal am Wundweiher knien. Um für meine Errettung zu danken, in der letzten Schlacht, wo´s wieder mal knapp war. Ein Gebet sprechen und ein würdiges Opfer darbringen – für den Ritter des Immerwährenden Kampfes und Herrn der Neun Streiche.“ Renia schlürfte geräuschvoll den dunklen Gerstensaft.
Jadvige blickte fragend, während die Abendröte den Gastraum in ein tiefes Schwarz und Rot färbte.
„Die Blutkerbe, habt Ihr noch nie davon gehört, hohe Dame? Ein Heiliges Tal, wo eine Waffenmagd Kors den blutroten Segen des Schwarzen Panthers erhält. Irgendwo in der Wildnis am Gernat soll das Heiligtum liegen. Die einen sagen, Richtung Hallingen, die anderen, in der Gegend von Königsweber. Ein wandernder Jünger des Rondrasohns hat mir mal davon erzählt. Ich dachte, Ihr wisst vielleicht mehr darüber?“
Jadvige blickte auf ihr Kettenhemd herab und merkte, dass am Unterarm ein einzelner Ring aufgebrochen war. Mit dem Finger versuchte sie ihn wieder in Form zu drücken. Seltsam, sie konnte sich an diesen Hieb gar nicht mehr erinnern. Blutkerbe? Wundweiher? Korgefällige Heiligtümer hatte es in der Wildermark genug gegeben. Auch sonst mangelte es in den Sichellanden nicht an Kultstätten alter, halber oder zwielichtiger Götter. Oft schien es sich dabei um Tümpel oder Seen zu handeln. Die Korjünger ritzten aber auch gerne Kerben in Bäume (für jeden toten Feind eine), malten sie blutrot an, hingen erbeutete Rüstungen und Waffen oder tote Tiere in die Äste.
„Eigentlich kenne ich nur die Blutkeule beim Imman. Wildnis gibt es am Gernat genug. Keine allzu gute Beschreibung, würde ich sagen. Was ist eigentlich mit deinen Händen? Warum trägst du ständig diese Handschuhe?“
„Mein Hände? Ah...ach so, ja. Ich habe den Spanner meiner Geißfußarmbrust verloren, und bislang noch keinen Ersatz gefunden. Seitdem spanne ich meinen Liebling mit bloßer Hand. Gut für die Oberarme, aber schlecht für die Hände.“
„Die Bierkrüge in diesem Wirtshaus sind nicht scharfkantig“. Jadviges auffordernde Geste war eindeutig. „Zieh sie doch mal aus...bitte.“
Renia streifte nach kurzem Zögern und mit spürbarem Widerwillen die Handschuhe ab. Jadvige stutzte. An Renias rechter Hand fehlte der kleine Finger. „Das wolltet Ihr doch sehen, oder?“
„Eine alte Schlachtwunde?“
Renia lächelte versonnen. „Nein...ich will ehrlich zu Euch sein. Ich habe ihn meinem Gott geopfert.“
Jadvige, die einen Schluck Kofent nehmen wollte, hätte sich um ein Haar verschluckt. Sie schaute nicht allzu hesindegefällig über den Krugrand, dessen war sie sich sicher. Für einen Moment vergaß sie sogar, den Trunk herunterzuschlucken, der gerade ihre Backen füllte. Dann holte sie das Versäumnis geräuschvoll nach, mit zuckendem Avesapfel.
„Kors heilige Zahl ist die Neun“, sagte Renia, scheinbar beglückt. „Die Opferung des zehnten Fingers ist ihm überaus gefällig.“
„Du...du bist eine Korgeweihte?“
„Nein, nein. Zuviel der Ehre. Eine alte Geschichte. Das war schon bei der Befreiung von Rommilys, damals, im grausamen Winter `28. Wir wurden auf Vorposten umzingelt, von Asmodeus Schergen. Pardon durften wir nicht erwarten. In dieser Nacht habe ich wirklich inbrünstig zu Kor gebetet. Mein Opfer war nicht so groß, wie Ihr vielleicht denkt. Der Finger war ohnehin schon erfroren. Was soll ich sagen. Der Entsatz kam keinen Herzschlag zu spät. Ein unbedeutendes Scharmützel am Rand der großen Schlacht. Aber nicht für die, die dabei waren. Ich werde diese Zeit niemals vergessen. Vor allem den Hunger nicht...den Hunger, den Frostbiss und den eisigen Wind. Firuns sei´s geklagt. Habt Dank für Eure traviagefällige Gastung, hohe Herrin, in dieser wunderbaren Sommernacht.“
„Krieg im Winter, ja, der ist besonders grausam“, sagte die Dienstritterin bedächtig. „Deswegen trägst du diese Handschuhe auch nach dem Dienst? Damit es nicht zu irgendwelchen Missverständnissen kommt?“
„Eigentlich, weil ich mir in dieser niederhöllischen Kälte nichts sehnlicher als Handschuhe gewünscht habe.“ Renia nahm noch einen Schluck, ihre Zunge wurde schwer. „Das Schicksal des Fußvolkes...Nichts für ungut. Erinnere mich gerade wieder an alles. Wir haben unsere Hände mit irgendwelchen Stofffetzen umwickelt, wie die Landstreicher. Das Metall eines Armbrustdrückers kann kalt sein wie Gloranas Arsch...Verzeihung...es war halt ein langer und harter Krieg, hohe Herrin.“
„Schon gut, ich habe mein Lebtag auch nicht nur am prasselnden Kaminfeuer einer Burg zugebracht. Lass mich raten, du stammst aus der Gegend von Ysilia? Deine Art zu sprechen, irgendwie kommt sie mir bekannt vor.“
„Ja. Aber wir, meine Eltern und ich, wir sind schon vor den tausend Ogern ins Darpatische geflohen. Vor den verfluchten Menschenfressern. Meine Familie hatte von einem Tag auf den anderen nichts mehr, und daran hat sich wenig geändert. Am Ende blieb mir gar nichts anderes übrig, als Söldnerin zu werden. Eine gute Wahl. Seitdem Kaiser Hal verschwunden war, gab es im Mittelreich eigentlich nur noch Krieg und Hader. Hab mich durchgeschlagen, seither.“ Mit verkniffenem Mund zog Renia ihre Handschuhe wieder an. „Wenn das mit dem fehlenden Finger vielleicht unter uns bleiben könnte? Ersteinmal, meine ich. Korgesellen gegenüber gibt es ständig Missverständnisse. Nicht nur wenn es um unsere heiligen Farben Schwarz und Rot geht...“
„Natürlich. Ich werde mit Herrn Storko reden, ob wir überhaupt eine Armbrusterin brauchen. Du kannst heute Nacht hier bleiben...Kost und Logis übernehme ich. Sieh es als Dank, für deinen guten Kampf. Damit meine ich nicht allein die Rettung des Praiosgeweihten.“
„Hier? Im Wirtshaus?“ Renia blickte betrübt, als fühlte sie sich in ihrer Söldnerehre gekränkt.
Jadvige musterte die Söldnerin erneut. Nun, da die Sonne unterging, lag deren Gesicht zur Hälfte im Schatten. Schwarz und Rot...
„Wenn überhaupt, wären nur noch schlechte Betten frei, auf der Burg. Wir haben adelige Gäste, wie du weißt. Ich muss jetzt auch wieder zurück.“
Jadvige stand klirrend auf. Diese Renia schien auf den ersten Blick „sauber“ zu sein. Aber wie hieß es so schön: Vertrauen ist gut, Vorsicht ist besser.
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Lasst mich zumindest die Heilige Praiociosa hinauf tragen. Sie ist ganz schön schwer.“ Die Söldnerin wies auf den Rucksack des Praioten. „Ich glaube, Bruder Praiodîn vermisst sie schon. Bevor sie heute noch ein zweites Mal abhandenkommt.“
„Ist sie denn so wertvoll? Die Statue selbst, meine ich?“
„Nun, an ihr ist sicherlich nicht alles Gold, was glänzt. Aber Seine Gnaden scheint sie sehr viel zu bedeuten. Und den friedwanger Gläubigen natürlich. Er hat mich gebeten, sie nicht aus den Augen zu lassen, während er dem Burgherren seine Aufwartung macht.“
Jadvige überlegte, ob sie den Rucksack mitnehmen sollte. Aber das würde nicht sehr ritterlich aussehen am Tor. Vielleicht war sie in diesem Fall wirklich zu misstrauisch.
„Er bezahlt dich dafür, dass du Schnitzwerk bewachst?! Eine Söldnerin? Soviel Vorsicht braucht es bei uns nicht. Gernatsborn ist ein götterfürchtiger Ort.“
„Nicht doch. Wie könnte ich Sold von einem Geweihten verlangen? Aber ich weiß, dass man uns Diener des Kor öfters mal schief anschaut...da versuche ich halt, unseren schlechten Ruf aufzupolieren, wo es nur geht.“
Renia blickte ein wenig vorwurfsvoll, und griff verstohlen an ihren Handschuh, dort, wo eigentlich der kleine Finger der rechten Hand stecken sollte.
Jadvige überlegte. Sie versuchte auf ihr Bauchgefühl zu hören. Aber irgendwie gluckerte dort gerade nur das Dünnbier. Eigentlich hätten sie beide sich sympathisch sein müssen, von Kriegsfrau zu Kriegsfrau. Aber irgendetwas gefiel ihr an dieser Ysilierin immer noch nicht. Kleiner Finger, ganze Hand. Das Sprichwort irrlichterte durch ihren Kopf. Jemanden um den kleinen Finger wickeln. Den Spruch gab es auch. Aber womöglich war es gerade deswegen besser, wenn sie die Söldnerin bei sich in der Nähe und damit im Auge behielt. Die Ritterin bedeutete Renia mit einem Wink, ihr zu folgen. „Ich schau mal, was sich machen lässt. Wegen der Übernachtung oben auf der Burg. Vielleicht gibt es bei den Gardisten noch einen Platz für dich.“
 
"Renia" wunderte sich, wie leicht es ihr gelungen war, bis zum Gästetrakt vorzudringen. Obwohl sie mit Armbrust, Rucksack, Umhängebeutel, Köcher, Helm, Feldflasche und Schwert an der Seite nicht gerade unauffällig daher stapfte.
Offenbar hielt das Gesinde sie für eine vollbeladene Begleiterin der Gäste aus Schlotz. Eine Art Packtier der hohen Herren und Damen, das ihnen schnell noch ein paar Sachen auf die Kammer brachte. Alle schienen schwer beschäftigt zu sein, auch Jadvige, die in Richtung Stallungen entschwunden war. Niemand beachtete sie wirklich, in diesem aufgescheuchten Bienenkorb, von ein paar verwunderten Blicken abgesehen.
Es sollte ihr Recht sein. Was sie beunruhigte, war der Umstand, dass sich das Mannloch im Tor hinter ihr geschlossen hatte und fest verriegelt worden war. Sie war nun in der Höhle des Wehrheimer Waldlöwen gefangen. Vor morgen früh würde sie Burg Gernatsborn nicht mehr verlassen können.
Am Eingang des Herrenhauses hatte sie behauptet, die Statue zum Zimmer des Geweihten bringen zu wollen. So weit, so gut. Irgendwo in der Nähe sang ein Barde, wahrscheinlich auf der Burgterrasse. Da war noch etwas anderes, das in der Luft lag, ohne dass sie es in Worte zu fassen vermochte. Nur, dass es sich vertraut und stark anfühlte. Sein Beistand.
Die Frau, die sich Renia nannte, kannte sich in alten, muffigen Gemäuern aus. Aber eine funkelnagelneue Burg hatte sie bislang noch nicht gesehen, geschweige denn von innen. Der Geruch nach Putz und frischem Mörtel lag überall in der Luft. Selbst das Holz roch noch leicht harzig, als wäre es erst vor kurzem geschlagen worden. Die kupfernen Beschläge der Türen und Möbel waren makellos, ohne den leisesten Hauch Grünspan. Es war, als herrschte in dieser Festung der Geist der Tsa und nicht der Rondra, geschweige denn der des Kor.
Dennoch gab es Mächte, die hier und jetzt stärker waren.
Jadvige von Kressenbrück war eine harte Prüfung ihrer Tarnung gewesen. Warum hatten sie ihre Auftraggeber nicht gewarnt? Die wichtigste Information war ihr wieder einmal vorenthalten worden: Dass die Ritterin ebenfalls auf Burg Gernatsborn anwesend sein würde. Nun, die Kressenbrück war misstrauisch gewesen, aber hatte sie offenkundig nicht erkannt. Dabei war der Abstand kaum größer gewesen, wie damals, auf der Insel Fischermanns Freund. Als die stolze Adelige eine schmutzige Gefangene im Käfig gewesen war. Ihre Gefangene. Zum Glück hatte „Renia“ damals ihr Gesicht hinter einer Maske verborgen. Die Ritterin konnte sie einfach nicht wiedererkannt haben, nach all den Jahren. Oder etwa doch? Ahnte Jadvige etwas?
Es half nichts. Sie musste sich nun auf ihren Auftrag konzentrieren. Die Informationen waren auch sonst spärlich gewesen. Wie vor ein paar Wochen in Rommilys. Jeder Gesandte wusste nur das Nötigste und agierte völlig unabhängig von den Anderen. Flog er auf, konnte er (fast) keine Namen nennen.
Keine Alleingänge gegen den Wehrvogt und seine Familie, Yasinthe. Das Haus Gernatsborn-Mersingen befindet sich zu nahe am innersten Kreis unseres Netzwerks. Blinde Rache mag dem dämonischen Erzfeind Unseres Herrn gefällig sein. Aber nicht dem Größten Aller Götter. Wer ist dagegen schon der Anti-Praios? Ein klägliches Zerrbild des Götterfürsten, der selbst nur durch Betrug am Erstgeborenen zum Herren Alverans aufgestiegen ist. Ein wütender Hund, der nach der Peitsche schnappt. Wir müssen kühles Blut bewahren und geduldig sein. Denn ER allein ist unser aller Herr, seit Anbeginn der Zeit. Der Älteste der Äonen wird die ehernen Peitschen schwingen, die jetzt noch seine Ketten sind, und unsere Feinde zermalmen. Götter wie Menschen.
 
Der Feenring befand sich im Besitz Ismenas von Oppstein, soviel stand fest. Sie sollte ihn – diskret - beschaffen und am vereinbarten Treffpunkt übergeben.
Woher hatten Sie eigentlich gewusst, dass die „Rahjajungfer“ genau heute auf Gernatsborn eintreffen würde? Offenbar gab es einen Spion in deren Nähe. Ein „Unsichtbarer“, der sehr schnell Nachrichten übermitteln, aber aus irgendeinem Grund nicht selbst eingreifen konnte. Faszinierend, aber auch rätselhaft und damit beunruhigend. Anders als früher teilten Sie ihr nur noch das Nötigste mit. Schienen ihr zu misstrauen, die sich seit der Rückkehr des Bethaniers oft mit den Kräften der Siebten Sphäre verbündet hatte. Zu oft?
ER war in diesem Moment bei ihr, das spürte sie. Zog unsichtbar die Fäden im Hintergrund, im Kleinen wie im Großen, wie ein Puppenspieler. Wie konnten die Menschen seine Allgegenwart nur missachten?
„Ach ja. Bring nachher noch ein paar Blumen ins Zimmer der Frau von Oppstein. Sie hat es sich ausdrücklich gewünscht.“ Eine der Mägde hatte das gerade eben zu einem pummeligen Bauernkind gesagt, und dabei beiläufig auf eine Tür gewiesen. „Ein bisschen aufgeräumt werden müsste da drin auch.“ Dann hatte sich die Dienerin eiligst an der Söldnerin vorbei gedrückt. Die Ysilierin hatte noch höflich nach der Kammer des Praiosgeweihten gefragt. Es lief wirklich alles wie am Schnürchen. Praiodîns Zimmer war nicht abgeschlossen, natürlich nicht. Renia ging hinein, stellte den Rucksack des Geweihten ab und die Heilige Praiociosa auf das Tischchen, gleich neben das Sonnenszepter.
Sie überzeugte sich, dass draußen die Luft rein war. Dann nahm sie eine der Wandkerzen an sich und huschte in Ismenas abgedunkeltes Zimmer. Es duftete nach Rosenwasser, gar nicht mal so dezent. Überhaupt sah es in der Kammer ein bisschen schlampig aus, für eine „Von und zu“. Hier lag ein fein bestickter Umhang überm Schemel, dort ein vornehmer Hut auf dem Bett. Zwei Paar teure Schuhe standen kreuz und quer herum.
Offenbar hatten die Unsitten der „lässig eleganten“ Horasier auf die Oppstein abgefärbt, während ihrer Hurerei im Lieblichen Feld. Sie musste sich beeilen, jeden Augenblick konnte das Dienstmädchen auftauchen. Was, wenn Ismena den Ring gerade bei sich trug? Etwa, um ihn Alboran zur Verlobung zu schenken? Nein, da drüben saß ein Praiosgeweihter mit am Tisch. Die Gießenbornerin konnte in dessen Gegenwart nicht einfach einen Zauberring hervorziehen.
Würde die Oppstein den Silberring unbewacht in ihrer Kammer herumliegen lassen? Unter dem Bett? Nein. Unterm Kopfkissen? Auch nicht. Ebensowenig Erfolg hatte sie im Schrank. Der Tisch wackelte ein bisschen, aber entgegen ihrer ersten, freudigen Vermutung befand sich der Ring nicht unter dem Tischbein.
Ihr Blick fiel auf den Kamin, der unbenutzt war, jetzt im Hochsommer. In einem eisernen Korb lagen dennoch, fein säuberlich aufgeschichtet, Holzscheite. Die Söldnerin eilte zur Feuerstelle, und tastete ins Innere hinein. Nichts. Einen Moment lang glaubte sie das Objekt ihrer Begierde gefunden zu haben, auf dem Kaminsims. Aber es war nur ein Zunderkästchen. Die Holzscheite...wirklich ordentlich gestapelt waren sie nicht, merkte sie nun. Draußen war ein Schäkern zu hören. Die Dienstmägde? Zum Glück entfernten sich die Stimmen wieder.
Eilig sah die Armbrusterin unter den Scheiten nach. Tatsächlich, am Grund des Korbs befand sich eine kleine Schatulle. Sie klappte das Schatzkästlein auf. Dort lag er, auf dunklem Samt, und glitzerte verführerisch, in lauterem Silber. Bastans Feenring.
Die Gesandte erlaubte sich ein karges Lächeln, während sie die ersehnte Beute an sich nahm. Ihr Herz, das allzu oft nur ein Eisklumpen war, schlug ein wenig schneller. Ein erneuter Blick zur angelehnten Tür. Niemand, der störte. Es wurde Zeit für den zweiten Teil des Plans. Sie zog einen Kriegsbolzen heraus, mit einer mehrkantigen Spitze, zog den Ring darüber und drehte ihn hinter der Tülle am Zain, dem Holzschaft fest. Wie sie erhofft hatte, war ihr der Eine auch jetzt gewogen. Alles fügte sich wunderbar zusammen. Schnell stapelte sie das Holz wieder über der leeren Schatulle auf, ungefähr so, wie sie es vorgefunden hatte.
Die Grauhaarige öffnete das Fenster und sah nur konturlose Dunkelheit. So ganz einleuchtend kam ihr die Idee nicht mehr vor, das Artefakt ein paar Dutzend Schritt nach draußen zu schießen, aus der Burg heraus. Um es später an sich zunehmen, ohne eine Durchsuchung am Tor fürchten zu müssen. Wer weiß, wo der „Ringpfeil“ landen und ob sie ihn überhaupt wiederfinden würde.
Die Wortfetzen draußen wurden stärker. Helle Stimmen hallten von den Wänden wider, gefolgt von mädchenhaftem Gekicher. Yasinthe Dengstein ließ den Bolzen mitsamt Ring im Köcher verschwinden, schloss die Fensterläden und eilte nach draußen. Sie würde ein besseren „Abschussplatz“ brauchen, merkte aber gerade, wie wenig sie über Burg Gernatsborn wusste. Was Wunder bei einer neu gebauten Feste. Sie wollte die Kerze gerade wieder an ihren Platz stellen, da kamen ihr auch schon zwei Mädchen des Gesindes entgegen. Die Dunkelhaarige war picklig und pummelig, die andere recht hübsch für ihr Alter, mit brünetten Zöpfen.
„Verzeihung...Ronia...Ronia Hagebusch?“ fragte die Hübschere der Beiden, die einen Blumenstrauß in Händen hielt, mitsamt Vase. Das Mädchen schlug scheu die Augen nieder.
„Ja, ja, die bin ich.“ Die Soldfrau versuchte gleichmütig zu klingen, während sie ihre Lichtquelle wieder befestigte. „Renia Hagewisch“, fügte sie hinzu, ein wenig zu hastig. Aber die halben Kinder sahen nicht so aus, als kannten sie den alten Verhörtrick, einen möglichen Spion zwecks Verwirrung mit falschen Namen anzureden.
„Verzeiht. Frau Jadvige sucht Euch. Jadvige von Kressenbrück. Die Hohe Dame klang, als wäre es sehr dringend.“
 
Besonders geschickt stellst Du dich ja nicht an, Yasinthe. Sei vorsichtig, das hier läuft nicht so glatt, wie es am Anfang ausgesehen haben mag.
Die Söldnerin trat hinaus auf den Burghof, die Armbrust lässig geschultert. Im Licht der Fackeln erwartete sie bereits Jadvige, die sich vor den Stallungen mit Roderick von Oppstein unterhalten hatte. Der Ritter würdigte die falsche Renia kaum eines Blickes, sondern eilte rasch weiter zur Unterkunft der Burgwache.
Stirnrunzelnd wandte sich die Kressenbrück in ihre Richtung. "Wo war sie die ganze Zeit?" Das klang barsch. Sie? Gerade eben hatte die Edelfrau sie noch gedutzt. "Sie sollte besser in meiner Nähe bleiben. Man kann sich in dieser Burg schnell verlaufen."
"Ich habe die Praiociosa in die Gemächer Seiner Gnaden gebracht", sagte Yasinthe, die fast schon körperlich spürte, wie sie sich wieder in "Renia Hagewisch" verwandelte: eine alternde Soldfrau auf der Suche nach einer behaglichen Unterkunft und einem bescheidenen Auskommen. "Verzeiht, aber ich habe Euch vorhin irgendwie aus den Augen verloren, Hohe Dame. Danach habe ich mich halt durchgefragt."
"Ich musste nach meinem Streitross sehen, das angeblich gelahmt hat", sagte Jadvige und schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum rechtfertigte sie sich hier gegenüber einer Niedergeborenen?
"Soll ich mal nachsehen? Ein bisschen kenne ich mich mit Pferden und Tierheilkunde aus", sagte Renia, mit vollkommener Unschuldsmiene.
"Mit Streitrössern kenne ich mich auch aus, glaub mir." Jadvige schien sich wieder zu beruhigen. "Bestens sogar. Es war eine Verwechslung des Stallburschen. Rodericks Pferd hat sich ein Steinchen eingetreten, heute beim Empfangskomitee." Dem Gesicht der Rittfrau war anzumerken, was sie über den jungen Oppsteiner dachte: Unser ewiger Pechvogel.
"Dann ist ja alles gut. Sagt an, wo kann ich nun mein Zicklein unterstellen, heute Nacht?"
Jadvige blickte fragend (aber das tat sie eigentlich schon den ganzen Abend).
"Meine treue Gefährtin." Renia klopfte auf die beiden seitlichen vorstehend "Hörner" am Schaft ihrer Armbrust, wo eigentlich der Geißfuß-Hebel angelegt wurde, zum Spannen. "Ich nenne sie auch meine Klackklack."
"Hm ja...Eine Sache ist mir dann doch noch nicht ganz klar...Du bist also heute früh von Beorwang hergekommen und weiter gen Gernatsau gewandert?"
"Ja, aber das hatten wir doch alles schon."
Renia nestelte mit der freien Hand an ihrem Schwertgehänge, das mittlerweile schon halb an ihrem Rücken hing, und ruckte es am Gürtel nach vorne. Dann zupfte die Tobrierin ein Stückchen Bausch ab, das von einer geflickten Stelle ihres Gambesons weg stand. Vom Söller her wehte süßlicher, leicht biederer Bardengesang heran. Vermischt mit munterem Stimmengewirr und den zarten, silbrigen Klängen eines Musikinstruments, dass die Söldnerin nicht recht einzuordnen vermochte: ein Hackbrett?
"Hm. Ich habe gerade eben mit einem der Fährleute gesprochen, der bei uns im Stall aushilft. An dich konnte er sich überhaupt nicht erinnern...nun, und ich glaube schon, dass du jemand bist, den man so schnell nicht vergisst."
Renia schluckte. Wie war das nun wieder gemeint? Verstohlen linste sie zum Tor. Dort standen zwei Wachen und blickten mit Wehrheimer Gelassenheit ins Halbdunkel des "Zwingers", die Hellebarden in Habachtstellung. Auch auf den Zinnen war Bewegung wahrzunehmen. So ohne weiteres würde sie nicht die Flucht ergreifen können.
"Ach ja. Eine unserer Gardistinnen hat sogar von dieser Blutkerbe gehört. Eine Wutzenwalderin. Sie meinte, die Kultstätte wäre schon vor längerer Zeit vernichtet worden. Von einigen echten Helden im Auftrag des Pflegers der Lande." Jadvige schlug langsam das Zeichen des Schwertes. "Es soll sich dabei in Wahrheit um ein Unheiligtum des Jenseitigen Mordbrenners gehandelt haben. Rondra steh uns bei gegen das Erzböse!"
Die Stoppelhaarige hob die Augenbrauen. "Korseibeiuns...Ist das wahr? Mir wurde versichert, in der Blutkerbe würden jede Menge herrliche Waffen zu finden sein. Mit denen man ein ganzes Banner ausrüsten könnte, für einen wahrhaft guten Kampf. Beim Schwarzen Prinz der Chimären! Mir hätte schon ein einziges unzerbrechliches Schwert genügt, bei meinem Verschleiß in den letzten Götterläufen." Renia versuchte ein entwaffnendes Lächeln.
"Wolltest du dir dort nicht den Segen deines Herren holen?" Leicht angewidert blickte Jadviga auf die krummen, fauligen oder fehlenden Zähne der Soldfrau: ein Makel, der im Fackellicht nicht länger verborgen war. Im Pferdestall schnaubte und stampfte es leise.
"Korgefällige Klingen sind ein Segen, in Zeiten wie diesen." Renia verbarg ihr schadhaftes Gebiss wieder.
"Nun, im Wutzenwaldischen erzählt man sich, dass die Waffen aus der Blutkerbe vergiftet waren. Das verfluchte Metall hat unheilbare, scheußliche Wunden geschlagen. Nennst du soetwas korgefällig?"
"Oh. Das wusste ich nicht", sagte Renia leichthin.
Jadvige blickte zu den Torwachen. Sollte sie die Tobrierin vorsichtshalber im Kerker übernachten lassen? Das Verlies war noch neu und blitzsauber – eine angenehmere Unterkunft als manche Herberge in der Warunkei. Storko mit dieser Angelegenheit zu behelligen, der Gedanke gefiel ihr ebensowenig wie diese Renia weiterhin unbeaufsichtigt in der Burg herumrennen zu lassen.
Du musst versuchen, irgendwie auf die Burgterrasse zu kommen. Dort kannst du den Ring über den Gernat schießen, und später heimlich an dich nehmen.
Renia stutzte. "Purpurzunge" begleitete sie schon seit den Goldenen Festtagen, die sie im Tempel des Götterkaisers verbracht hatte. Es war wie ein leises, sanftes Flüstern aus der Sternenbresche, das sie seither hörte. Ohne dass sie genau zu sagen vermochte, wer oder was da mit ihr sprach. Nur dass es sich anfühlte wie eine Zunge in ihrem Ohr. Ein durchaus sinnliches, wenn nicht sogar wollüstiges Gefühl...
Eine Zeitlang hatte sie befürchtet, wahnsinnig zu werden. Dass sie nun langsam anfing, mit sich selber zu sprechen oder Stimmen zu hören. Wie ein bleicher Tiefzwerg, der zu lange in den tiefsten Abgründen gekauert hatte, mit gespaltener Seele. Dann war sie ein klein wenig von Hochmut und Größenwahn ergriffen worden: Was, wenn ER selbst...nein, diese Ehre wäre zu groß gewesen, für eine kleine Dienerin des Allerhöchsten wie sie.
Aber was ihr "Purpurzunge" sagte, hatte bislang Sinn ergeben. Er wusste Dinge, die nur Sie wissen konnten. Seine Einflüsterungen waren überaus hilfreich. Sowohl die Beschattung des Praioten als auch der inszenierte Überfall der Goblins hatten sich bislang ausgezahlt.
Natürlich, Renia hätte von Anfang an zugeben können, von Hallingen her nach Schlotz gekommen zu sein. Allerdings hatte es bei Bausenberg Ärger mit ein paar streitsüchtigen Söldnern gegeben, am ersten der verfluchten, unheilbringenden Tage des Praios.
Die Geweihte hatte rasch für "Abkühlung" gesorgt, und das Pack in die Flucht geschlagen, mit Ausnahme dieser schweißtriefenden Armbrusterin. Mitten im Hochsommer war der echten Soldfrau das gehässige Grinsen in der Narbenfresse eingefroren. Wie aus dem Nichts war der erbarmungslose Eishauch des Güldenen Gottes heran geweht, der Gluthitze zum Trotz: Ein Frost, wie er sonst nur noch in einem gloranischen Unwinter zu spüren sein mochte. In Windeseile hatte sich die Söldnerin in gefrorenes Fleisch verwandelt, mit blauen Lippen, firnglänzender Haut und Eiszapfen unter dem Helm. Renia hatte einige Mühe gehabt, ihrer Gegnerin die Armbrust aus den starren, weißen Händen zu winden. Dabei waren einige Hautfetzen am Abzug kleben geblieben.
Renia war klug genug gewesen, mit der Plünderung der Toten zu warten, bis deren dampfender Körper wieder ein wenig aufgetaut war (der Helm hatte sich anfangs kein Haarbreit bewegen lassen). Der Spannhebel war durch die namenlose Kälte leider wertlos geworden, mit gebrochenen Nieten. Für die gerissene Sehne hatte sie schnell Ersatz gefunden. Wäre es klüger gewesen, Jadvige die Wahrheit zu sagen, was ihre Reiseroute anbelangte? Aber die Überlebenden würden plaudern, wenn nicht in Schlotz, dann doch in einer der Nachbarbaronien – und die Nachricht früher oder später ihren Weg an den Gernat finden.
"Hörst du mir überhaupt zu?" Tatsächlich, Jadvige hatte etwas gesagt, was nicht an ihren Geist gedrungen war.
"Gewiss, und ich danke Euch von Herzen, dass Ihr mir die Augen geöffnet habt. Gut, dass ich nun weiß, was es mit dieser Blutkerbe auf sich hatte. Um ein Haar wäre meine unsterbliche Seele da in eine niederhöllische Falle getappt..." Auch Renia schlug das Schwertzeichen, um zu beweisen, dass sie keine Dämonenbündlerin war.
"Und Beorwang?"
"Hieß das Dorf Beorwang, wo ich heute Morgen war? Oder war es doch Gernatsau? Verzeiht einer alten Kriegsreisenden wie mir. Aber ich kenne mich in eurer Gegend nicht aus. Die Namen sind wirklich verwirrend. Einer der Bauern, den ich in Hallingen getroffen habe, meinte, er wolle nach Beorwang...da dachte ich, das nächste Dorf hieße Beorwang. Und nicht Gernatsau."
"Schon gut. Für dein Wanderleben musst du dich vor Frau Travia rechtfertigen, nicht vor mir. Aber du hast dir ein weiches Bett verdient. Leider sind in der Zwischenzeit weitere Gäste eingetroffen. Sag den Wachen, sie sollen dich durchlassen...mein Angebot mit dem Quartier im Gasthaus steht noch. Die Heilige ist ja jetzt in Sicherheit.
Renia jubilierte innerlich. Wieder stand ER ihr zur Seite. Sie würde einfach mirnichtsdirnichts mit dem Feenring aus der Burg spazieren können? Ihre Mission schien wirklich nur eine bessere Fingerübung zu sein. Ein Kinderspiel.
Die Söldnerin wandte sich schon zum Burgtor, als sie ein scharfes Räuspern innehalten ließ.
"Deine Waffen bleiben allerdings hier. Die Armbrust, der Köcher und das Schwert."
"Hohe Herrin...?!"
"Nun. Du hast sicherlich schon vom Burgfrieden gehört. Der nicht nur auf einer Burg, sondern auch um ihre Mauern herum gilt." Jadvige verschränkte die Arme, und merkte, wie sie die Ungeduld befiel. Sie gab sich schon viel zu lange mit dieser Herumtreiberin ab. Einen Goblin in Goblinart, sprich hinterrücks, zu erschießen, war nun wahrlich keine besondere Heldentat.
"Niemals werde ich mich von meinem Zicklein und dem Schwert trennen."
"Du möchtest doch Mitglied der Burgwache werden?"
"Gewiss."
"Bis du den Eid auf den Burgfrieden geschworen hast, zählst du nicht zur Wache. Gernatsborn ist ein tsagefälliger Ort. Als Vertreterin Seiner Wohlgeboren ordne ich an, dass deine Waffen erst einmal verwahrt werden."
"Ich hoffe, eure Burgmannen und -Frauen sind weniger tsagefälig", sagte Renia, durchaus ein wenig frech. "Was, wenn die Goblins heute Nacht angreifen? Also lasst mich schnell den Eid schwören, in Kors Namen, auf dass mir rondrianische Gastung zuteilwerde."
"Das kann nur Herr Storko entscheiden, und der hat gerade..." Ohne Vorwarnung setzte ein warmer Sommerregen ein. Jadvige blinzelte in die Nässe. War das ein Zeichen der Travia, oder gar der Kormutter selbst?
Sie eilten in die Kapelle, die noch ungeweiht und eine Baustelle war. Renia versuchte fluchend die Armbrustsehne zu trocknen.
Drinnen war es kühler als auf dem Hof, der noch immer von der Praiosglut des Tages aufgeheizt war. Jadvige fröstelte. Ihr schien es, als griffe plötzlich eine schwarze, kalte Hand nach ihrer Seele. Die Ritterin konnte dieses Gefühl nicht recht deuten. Dunkler schien der Burghof auch geworden zu sein. Zürnten die Göttinnen ihr etwa, weil sie eine tapfere Veteranin derart ungastlich und ehrenrührig behandelte?
"Storko hat gerade Gäste". Jadvige strich ihr nasses Haar aus der Stirn zurück. "Gäste von Stand. Deine Vorstellung muss auf jeden Fall bis morgen warten. Die Waffen bekommst du zurück, wenn du vereidigt bist oder weiterziehst. Einen Platz im Stroh hätten wir noch, drüben im Stall. Wenn dir das lieber ist..."
"Wer sind denn all die hohen Herrschaften?" fragte Renia, scheinbar beiläufig.
"Besuch aus Schlotz. Die Vögtin und ihre Tochter sind auch da. Gerade eben ist noch ein berühmter Waldläufer eingetroffen, mit seinem Gehilfen..."
Renia lachte leise. "Ein berühmter Waldläufer? Verstehe, Firunsadel."
"Odilon Wildgrimm, der Schwarze Bär. War früher Baron in Gallys. Ein Meister mit dem Langbogen. Hat sogar mal das Kaiserliche Turnier zu Gareth gewonnen."
"Ehemaliger Baron von Gallys? Vielleicht kann ich ihn ja in die Stadt am Artemaberg begleiten. Dort scheint man um den Wert guter Schützen zu wissen."
"Du schätzt dich hoch ein, Korgesellin. Leider etwas zu hoch. Der Mann hat schon eigenhändig Oger erschlagen, an der Trollpforte. Nicht nur einen fliehenden Rotpelz niedergeschossen. Ich habe gehört, dass er kaum noch in Gallys weilt. Man sagt, er streift lieber durch die Wildnis und die Berge, mit einer hübschen Elfin. Ein paar ordentliche Langbögen auf unseren Zinnen, das wärs natürlich..."
"Für die Burgverteidigung, hohe Herrin? Da würde ich Euch schon Armbrüste empfehlen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Herr Odilon besser mit dem Kreuzbogen schießt als ich mit dem Langbogen..."
Jadvige ging achselzuckend nach draußen. Der Regen hatte längst aufgehört. Oben auf dem Söller, wo nun ein Baldachin aufgespannt war, schien der Praiosgeweihte eine regelrechte Predigt zu halten, im Licht der Kerzen.
"Du kannst ihn ja gerne herausfordern", sagte die Adelige amüsiert. "Er schießt mit deinem klackernden Zicklein, du mit Bavhano Braith, dem König der Bögen...Ich wette, du könntest nicht mal die Sehne auf das Eibenholz spannen. Also, wenn ich nun um deine Waffen bitten darf, Söldnerin? Und um eine Entscheidung, wo du heute übernachten möchtest..."
"Bei einem Wettbewerb in Altzoll habe ich mal blind ins Schwarze getroffen, mit Augenbinde."
"Natürlich hast du das. Mit Augenbinde ist jedes Ziel schwarz. Oder hast du einfach Richtung Schwarze Lande geschossen?"
"Hm, wenn ich bei einem Wettschießen gegen den Gallyser gewinnen würde. Ich mit meiner Armbrust, er mit seinem Bogen? Was wäre dann der Lohn?"
Jadvige schüttelte den Kopf, irritiert und erheitert zugleich: "Im Herbst soll es bei uns ein Turnier geben, zur Burgeinweihung. Da darfst du gerne antreten, bei den Schützen..."
Die Bardenmusik setzte wieder ein, wenn auch leiser als zuvor. Die Adelige blickte nach oben, wo die Stimmung eingetrübt zu sein schien, trotz (oder gerade wegen?) der mahnenden Worte Seiner Gnaden. Die Gespräche plätscherten lustlos dahin, so schien es. Herrschte auf dem Söller etwa Langeweile, unter den illustren Gästen?
Renia trat hinter Jadvige.
"Auf der anderen Seite des Gernat steht ein alter, krummer Weidenstumpf, der Burg genau gegenüber. Er ist tagsüber gar nicht zu übersehen. Die grünen Zweige sehen aus wie die Haare und der Bart eines Waldschrats. Wir haben heute Tote Mada, er dürfte jetzt also so gut wie unsichtbar sein. Ich wette, dass ich es dennoch schaffe, ihn mit mindestens drei von fünf Bolzen zu treffen. Das soll mir dieser berühmte Odilon erst einmal nachmachen. Ein Ziel treffen, dass er kaum sieht. Ich schieße natürlich zuerst. Bei Tageslicht zählen wir nach. Habe ich die Prüfung bestanden, nehmt ihr mich in die Garde auf. Übertreffe ich sogar Odilon, dann nimmt er mich mit nach Gallys. Meine Bedingungen..."
Die Ysilierin wunderte sich über sich selbst. Der tote Goblin heute war ein Glückstreffer gewesen, und im Grunde war sie eine ebenso lausige Schwertkämpferin. Als "Alchimistin" griff sie lieber auf zuverlässige Waffen zurück. Aber darum ging es in diesem Fall gar nicht. Die Armbrust war stark genug, um über den Gernat zu schießen. Niemand würde Fragen stellen, wenn die verrückte Söldnerin morgen ihre scheinbar sinnlos verschossenen Bolzen suchen musste.
"Die alte Weide? Stimmt, die müssen wir auch noch fällen, und das Gebüsch daneben roden...Viel zu gute Deckung für Heckenschützen". Jadvige war ehrlich erstaunt. "Du möchtest die Edelleute zu einem kleinen Spiel herausfordern? Lass dich warnen: Auch Gelächter kann schmerzhaft sein. Aber gut, wir können ja mal fragen, ob Herr Odilon sich darauf einlässt. Vorher gibst du mir aber dein Schwert. Das ist meine Bedingung. Und lass da oben mich sprechen..."

Später Abend des 5. Praios, am Ufer des Gernat
Tuvok wischte seinen Teller mit dem letzten Bissen Brot sauber, schob ihn sich in den Mund und spülte mit einem Becher frischem Apfelmost nach. Das Essen auf dem Land war weitaus besser als in Rommilys, fand er. Selbst das herzhaft duftende Bauernbrot schien geradewegs aus dem Dorfbackofen zu stammen.
Der Waidmann streckte seine Füße unter dem Tisch aus und ließ für den Moment Firun einen guten Mann sein. Gewiss, er vermisste schon jetzt den rauschenden, sattgrünen Wutzenwald. Das sanfte Flüstern und Knarren der Bäume, den Duft nach Moos und Waldmeister, den Anblick der "Kuppen" im Morgennebel.
Dennoch, der Barönliche Forstwart war lange genug in den dichten Wäldern und morastigen Auen am Gernat unterwegs gewesen, um die Annehmlichkeiten eines vollen Tellers, von trockenen Schuhen und eines behaglichen Strohbetts zu schätzen. Die Gästekammer im "Gerbaldsrast" war nicht voll belegt, so dass es ein recht angenehme Sommernacht werden würde, ohne viel Geschnarche und Gestank. Die Schwüle des Tages hatte ein wenig nachgelassen, vermutlich würde es bald regnen. Nein, er beneidete die hohen Herrschaften keineswegs, die da oben, eingesperrt in zugigen, engen Steinburgen, ihr Dasein fristen mussten: nur eine andere Art von Unfreiheit als die ihrer Hörigen und Grundholden.
Tuvoks Blick ging zur Dienstritterin Glyranas hinüber, deren Namen er für einen Moment vergessen hatte. Aus irgendeinem Grund unterhielt sich die stramme Rondrianerin mit einer schon etwas gealterten Söldnerin. Deren Armbrust lehnte neben einem großen Rucksack an der Wand.
Der Jäger lauschte dem Gespräch nicht wirklich – wie so viele Hofbedienstete war er es gewohnt, mit einem Ohr hin und mit dem anderen wegzuhören. Es wären ohnehin nur Wortfetzen zu verstehen gewesen. Die Korgesellin schien an einer Stelle oben auf der Burg interessiert zu sein. Merkwürdigerweise zog sie ihre Handschuhe nicht aus, auch bei dem Abendmahl und dem Bier nicht, das ihr die Rittfrau großherzig spendierte. Ah, jetzt: Sie zeigte der Befehligerin ihre Hand, an der ein kleiner Finger fehlte. Wollte sie die Adelige ernsthaft damit beeindrucken? Womöglich war die etwas abgerissen wirkende Frau nicht mal eine echte Veteranin. Wilddieben hackte man auch oft einen oder mehrere Finger ab, damit sie den Bogen nicht mehr spannen konnten. Vielleicht hatte die Frau zwangsläufig auf eine leichte Armbrust umsatteln müssen?
Tuvok hatte jedenfalls schon grausamer verstümmelte Invaliden gesehen. Gegen die blutgetränkte, vom Schlachtenlärm erfüllte Welt da draußen war der wilde Wutzenwald das reinste Tsaparadies gewesen, in all den Jahren seit dem Orkensturm. Er durfte sich über sein Amt wahrlich nicht beschweren.
Der Jäger merkte, wie sich der Kohl aus der Suppe in seinen Eingeweiden bemerkbar machte. Es war ein wunderbarer Praiosabend, eigentlich zu früh, um ins Bett zu sinken. Tuvok ließ seine Zeche ins Kerbholz schnitzen, und ging nach draußen, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Gernatsborn hatte sich in den letzten Jahren stark verändert - nicht nur, weil anstelle eines wehrhaften Gutshofs nun eine stattliche Burg an der Gernatsbeuge aufragte. Vor allem die Kupfergrube war tiefer und breiter geworden. Zum Glück rauchte der Hochofen an diesem Abend nicht, ebenso wenig wie die Kohlenmeiler am Waldrand. Das Sägewerk schien auch ganze Arbeit zu leisten. Der Wald war deutlich geschwunden, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Natürlich, die neue Burg brauchte Holz, sehr viel Holz. Die Dächer waren sogar mit Kupferschindeln gedeckt, die in der späten Abendsonne funkelten und glitzerten. Offenbar sollte das die Gefahr durch Brandgeschosse vermindern. Was hätte Nengarion zu alldem gesagt?
Leichter Wind kam auf und vertrieb die letzte Hitze des Tages. Am Bergfried begannen die aufgehängten Banner sacht zu wehen, in der blutroten Abendsonne. Ein Vogelschwarm schwirrte zu den Schlafplätzen im Wald, die letzte Taube kehrte auf die Burg zurück. Ein leises Quietschen lenkte seinen Blick nach oben, hinauf zum Wirtshausschild, das eine Kaiserkrone auf einem gemütlichen Stuhl zeigte.
Er beschloss, noch einmal zum Fluss hinüberzugehen, und die untergehende Sonne zu genießen, mit Blick auf die grüne Wand "seines" geliebten Wutzenwaldes. Der Uferbereich war schon ziemlich abgeholzt worden. Nur hie und da ragte noch eine einsame Weide oder Pappel auf. Rötlich glänzte die untergehende Sonne auf den Gernatwellen. In einiger Entfernung grasten die ersten Rehe auf den Wiesen.
Im Wasser pflatschte ein großer Fisch. Nicht weit davon entfernt saß eine späte Anglerin auf einem Baumstumpf: eine pausbäckige junge Frau mit brünetten Zöpfen in Bauerngewandung, die auf den ersten Blick ein bisschen thorwalisch aussah (zumindest so, wie sich Tuvok die Nordländer vorstellte).
Wie auch immer. Die Stille war atemberaubend. Im Vergleich zum lauten, lärmenden Rommilys war Gernatsborn ein firunsgefälliger Ort, zumindest, wenn er die Kupfergrube in seinem Rücken für einen Moment vergaß. Von Bergwerken hatte er bis auf weiteres genug. Und nun? Zurück ins Wirtshaus und sich langstrecken?

Mit halblauter, etwas brüchiger, aber doch wohlklingender Stimme begann die Frau zu singen:

He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Kamerad, heb Dich empor,
Bleibst Du hier bist Du ein Tor
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz
Ich habe dieses Leben satt
Will raus aus dieser großen Stadt
He-Ho, wir fahrn nach Schlotz.

Tuvok runzelte die Stirn. Galt das etwa ihm? Zumindest entsprachen die Reime seiner Stimmung. Nein, er war wahrlich kein Schwerenöter, kein Lebemann wie dieser berüchtigte Adran von Oppstein oder – Travia bewahre – dieser neureiche Jodokus in seiner Brauerei in Rommilys. Andererseits, die Anglerin war durchaus hübsch und wohlgestalt zu nennen. Sie schien bei ihrem Gesang sogar verstohlen in seine Richtung zu schauen. Der Waidmann fühlte sich beschwingt, was nicht nur am Most lag.
Im "Schlotzer Lied" ging es ja wirklich um die Liebe und die Suche nach einem Gefährten.  Aus einer heiteren, mostseligen Laune heraus begann Tuvok zu singen, mit kehliger, rauer Stimme. Mit übertriebener Inbrunst stimmte er die einzige Strophe der Baroniehymne an, die ihm auf die Schnelle einfiel. Dabei reckte er beide Hände aus wie ein horasischer Opernsänger, um zu unterstreichen, dass die musikalische Einlage nicht allzu ernst gemeint war.

Dies stinkende Nest
Gibt mir den Rest
Ich bin hier nicht frei
Geld ist mir einerlei
ich brauch den Wutzenwald
und auch den Gernatstrand
Drum reite ich sehr bald
ins Schlotzerland.

Tatsächlich, die Brünette lachte herzhaft auf, wobei sie ihre schönen weißen Zähne zeigte: keine rahjagefällige Schönheit. Aber doch ein natürliches Bauernmädchen, das ihr Herz sicher am rechten Fleck hatte. Erfreut packte sie ihre Angel zusammen und schlenderte ihm entgegen, eine Madarite im Mundwinkel. Tuvok war ein bisschen überrumpelt. Sein Herz schlug schneller. Was bahnte sich da gerade an?
Die "Thorwalerin" zwinkerte ihm verschwörerisch zu und legte die Angel über ihre Schulter. Irgendwie schien sie an diesem Abend keinen einzigen Fisch gefangen zu haben. "Das war zwar ganz nicht die richtige Strophe...aber sie passt trotzdem".
"Haben wohl schlecht gebissen?" sagte Tuvok und deutete auf die Angel.  
"Ich würde sowieso keinen Fisch essen, den ich in der Nähe der Grube gefangen habe. Das Wasser ist doch längst vergiftet." Ein Schatten hatte sich auf die Stirn der jungen Frau gelegt. "Du bist also der schöne Ingalf. Ich muss sagen, du siehst nicht ganz so aus, wie ich dich mir vorgestellt habe."
Einen Moment verspürte Tuvok Enttäuschung. Natürlich, eine Verwechslung. Wie hatte er sich einbilden können, das Herz dieses Bauernkinds im Sturm erobern zu können? Der Jäger linste zur Burg. Es kam ihm vor, als stünde Ihre Hochgeboren Haldana schon oben auf den Zinnen und musterte die Szene kopfschüttelnd.
Er beschloss, die Situation noch einige Herzschläge lang auszukosten: "Wie meinst du das? Sehe ich nicht aus wie Ingalf? Oder bin ich einfach nicht hübsch genug?"
Seine Gegenüber lächelte verschmitzt. "So mein ichs nicht. Ich hab dich mir ein bisschen kräftiger vorgestellt... na egal." Sie nahm die Madarite aus dem Mund und warf sie ins Gras. "Jedenfalls bist du spät dran. Wir dachten schon, du hättest kalte Füße bekommen."
"Kalte Füße?"
"Muffensausen, ja."
Tuvok hob die Augenbrauen. Von einem Moment zum nächsten erwachte in ihm wieder der Schlotzer Forstwart. Streng genommen hätte er die Anglerin bereits nach ihrem Fischereirecht fragen müssen. Aber nachdem sie offenkundig keinen Fisch aus dem Gernat gezogen hatte, und das Gewässer hier gemeinfrei aussah, wollte er nicht kleinlich sein. Zumal er sich gerade auf dem Grund und Boden des Junkers von Gernatsborn-Mersingen befand.
"Vier Leute müssen wir auf jeden Fall sein, hat Burchert gesagt. Ich bin Gritta!" Sie reichte ihm neckisch die Hand hin, nur um sie im letzten Moment auszuschlagen und ein Handzeichen mit zwei Fingern zu zeigen, das wie umgedrehte Levthanshörner aussah: mit hochgereckten, gekrümmten kleinem Finger und Zeigefinger.
Aus einem Gefühl heraus wiederholte Tuvok die Geste. Gritta hatte wunderschöne Sommersprossen, gefällige Rundungen und duftete wie eine Blumenwiese. Offenbar steckten keinerlei amouröse Absichten hinter ihrer "Annäherung". Schade eigentlich. Dennoch, Tuvoks Jägerinstinkt (und Neugierde) war geweckt. Vor was sollte er Muffensausen haben? Zu welchem Zweck hatten sich vier Leute zu einem Treffen verabredet, bei dem man "kalte Füße" bekommen konnte? Zu einem erfrischenden Fußbad im Gernat wohl nicht...
Tuvok hegte bereits einen vagen Verdacht. Wilderei galt überall in der Vorsichel als lässliche Sünde.
"Hast du deine Holzkohle dabei?" fragte Gritta.
Er schüttelte den Kopf. Aha, die leidige Erfahrung und sein Instinkt hatten ihn wieder einmal nicht getäuscht. Vermutlich wollte Gritta mit ihren Komplizen Kaninchenschlingen auslegen oder dergleichen. Jedenfalls schien sich die Wilddiebin nicht daran zu stören, dass er nur ein Jagdmesser am Gürtel trug.
Gritta sah ihn noch vorwurfsvoller an. Was bist denn du für einer, schien ihr Blick sagen zu wollen.
"Wir sollten uns beeilen, die anderen warten schon" sagte sie und ging in Richtung Wald. Der Barönliche Forstwart folgte ihr. Würde seine Dienstherrin wirklich dort oben auf der Burg stehen, mit alles sehenden Augen, wie zuhause auf Burg Schlotz, dann bekäme sie nun sicherlich Schnappatmung. Dabei war Tuvok gerade in ihrem Sinne unterwegs. Ein kleiner Trampelpfad führte durchs dichte Unterholz. Einen Moment lang hatte Tuvok das Gefühl, wieder in den Wutzenwald zurückgekehrt zu sein. Da vorne waren auch schon "die Anderen".
Sie waren zu zweit, und trugen derbe Bauernkittel. Die Burschen schienen noch ziemlich jung zu sein. Wirkten eher wie Halbstarke, die sich zu irgendeinem Streich am Glückstag verabredet hatten. Sicherlich zählten sie und ihre Gefährtin noch keine zwanzig Lenze.
"Ich habe unseren Ingalf dabei" verkündete Gritta, scheinbar gut gelaunt. "Ingo, das ist Perchdan. Wir nennen dich Ingo, oder? Harger kennst du ja sicher schon, aus Sokramshain?"
Tuvok zuckte zusammen. Allerdings, es war ziemlich dunkel. Selbst die Gesichter von Perchdan und Harger waren im Schatten der Bäume kaum zu unterscheiden.
"Naja, kennen" sagte Harger, ein hoch aufgeschossener Kerl mit freundlicher, aber auch selbstbewusster Jünglingsstimme. "Ich glaube, wir haben uns mal zu Sonnwend getroffen. Deine Base ist die fesche Mirnhilda, nicht wahr? Deren Verlobter in der Märkischen Schlacht geblieben ist?! Richte ihr schöne Grüße aus...Mit der habe ich mal beim Erntefest in Wutzenbach getanzt. Ist aber ein paar Götterläufe her."
Tuvok nickte schicksalsergeben. Wenn Harger das sagte.
"Hör mir bloß auf mit Sonnwend" schimpfte Gritta los, die sich bereits Kohle ins Gesicht schmierte. "Am Sokramurshügel treffen sie sich gerade wieder. Zum Levthansfest, wie sie´s nennen. Ihr wisst ja wie das läuft. Einer der Blassen und Blaublütigen spielt den Gehörnten und besteigt irgendein dummes Bauernmädchen. Hinterher nennen sie's dann Vermählung mit dem Land, und alle freuen sich. Der Druide soll aus Gallys kommen, habe ich gehört. Irgendso ein alter Haindruide. Nicht mal der Tag stimmt. Ist ja schon mitten im Praiosmond. Über-Übermorgen sitzen sie dann alle wieder im Traviatempel und singen fromme Lieder, diese Heuchler..."
"Als Aves grub und Gylda spann, wo war denn da der Edelmann", sagte Perchdan vergnügt, der wohlbeleibt und untersetzt wirkte. Er hielt eine Fellmaske in Händen, stülpte sie sich über den Kopf und band sie fest. Was war denn das? Eine Wildschweinmaske, mit furchterregendem Gewaff. "Wilkommen bei den Wilden Keilern vom Wutzenwald" klang es dumpf zwischen den Hauern hervor. "Ist dein erster Ausflug mit uns Wutzen, habe ich gehört?" Der Bursche zog sich die Kapuze über die lockigen, verschwitzten Haare und einen Fellumhang über die Schultern. Der ganze Kerl roch oder besser gesagt stank jetzt nach Wildschwein.

Tuvok nickte erneut, auch wenn er diesen Mummenschanz nicht recht verstand. Damit würde Perchdan das Niederwild doch eher verscheuchen statt anlocken. Sah aus wie eine Verkleidung zum Firunsfest, von wegen Austreiben des Winterunholds...
Nun reichte ihm Gritta ein Stück Kohle. "Ingo ist kein Freund vieler Worte" erklärte seine Begleiterin, als wären sie beide schon seit Ewigkeiten beste Freunde. "Das ist auch gut so. Die Widderhörner schwatzen und schwatzen. Schwatzen, schnackseln und tanzen nackt ums Feuer. Wenn von den Pfaffen niemand hinguckt. Aber es geschieht nichts. Während diese verfluchten Mersingens den Heiligen Wald abholzen und den Leib der Sumu schänden. Jeden Tag reißen sie die Wunde der Erdmutter mehr auf. Dazu kommt der stinkende Rauch aus der Kupferschmiede, der alles vergiftet. Wie können sie es wagen! Sumu leidet, Sokramur leidet, der Wald stirbt, und alle feiern ein Fest?!"
"Den Tod vor Augen, frei von Furcht" sagte Harger. "So lautet der Mersinger Wahlspruch. Nur dass sie dem Wald den Tod bringen. Aber Furcht, die werden wir denen da oben schon beizeiten lehren."
Tuvok merkte, dass er der einzige in der Runde war, der wirklich eine Waffe trug, was ihn doch ein wenig beruhigte. Aber was hatte dieses Treffen wirklich zu bedeuten? Für gewöhnliche Wilderer schwangen die Drei ganz schön aufrührerische Reden. Nun, wenn er die ganze Wahrheit herausfinden wollte, dann musste er schon eine Weile mit den Wölfen heulen. Oder besser gesagt mit den Wutzen grunzen. Er rieb sich die Kohle ins Gesicht.
Lächelnd half Gritta mit ihrem Zeigefinger nach, an den Stellen, wo er schwer hinkam. Ihre Berührungen waren...schön. Spielte er auch deswegen dieses nächtliche Spiel mit? Sie reichte ihm einen Lappen, um sich die Hände zu reinigen. "Musst aufpassen, manche Büttel haben ein Auge für schwarzen Ruß an den Klamotten...Und jetzt Kapuze drüber."
Das Trio ging in Richtung Fluss. Ah, dort waren wohl die Jagdwaffen versteckt.
Hinter einem Gebüsch sah Tuvok zu seinem Erstaunen eine große, schwere Holzleiter, die mit einer Schnur an einem dicken Ast befestigt war. Der größere Teil der Kletterhilfe, die ziemlich lang und an der Landseite mit Eisenhaken versehen war, lag gut versteckt im Wasser. Offenbar sollte die Leiter nicht wegtreiben. Perchdan und Harger zogen, zerrten mit einiger Mühe am triefenden, haushohen Ungetüm. Es bewegte sich kaum von der Stelle. "Mach dich mal nützlich, Ingalf...Wenn du schon fast ´ne Stunde zu spät kommst."
Tuvok packte mit an. Das Ding war wirklich schwer wie ein Baumstamm. Mit Müh und Not wuchteten sie es ans Ufer. Nun sah der Jäger, dass die Standfüße mit eisernen, leicht angerosteten Dornen verziert waren. Tuvok brauchte eine Weile, bis er seine Atmung wieder beruhigt hatte. Was hatten seine "Gefährten" damit vor? Einen Bären erschlagen?
"Eine echte Sturmleiter", sagt Harger mit jugendlichem Stolz und pflückte irgendeine Wasserpflanze von der Sprosse.
"Jedenfalls ist sie sauschwer". Der dicke Perchdan schnaufte ordentlich und lüpfte seine Maske. "Heilige Sokramor, wie haben die das damals geschafft, das Riesentrumm von Schattenholz hierher zu schleppen?"
"Wenn die Leiter überhaupt vom Schattenholzer Turm stammt." Das kam von Gritta. "Gekämpft wurde doch überall, bei uns in Schlotz. Burchert war so klug, danach ein bisschen was beiseite zu schaffen. Auch wenn er Eisen nicht mag."
"Also bis zur Burg bekommen wir die Leiter nie." Harger schmierte sich ebenfalls sorgfältig Kohle ins Gesicht und wusch sich die Hände im Gernatwasser. "Schon gar nicht unbemerkt."
Gritta öffnete ein Gürteltäschchen und zog etwas hervor. Dann öffnete sich ihre Hand. Vier große Eicheln glänzten im letzten Tageslicht.
Harger schnaufte. Es klang verblüfft. "Gesegnete Eicheln?"
"Genau. Die wecken die Kraft der Wutzen in uns..."
Tuvok musste unter seiner Schminke grinsen. Gesegnete Eicheln? Das klang levthansgefällig.
Die vermeintlichen Wilderer kauten die Eicheln – mit überaus respektvollem Gesichtsausdruck, so schien es. Auch Tuvok nahm seinen Anteil. Er zog sich etwas in den Schatten zurück und steckte sich die Eichenfrucht in den Mund. Sie schmeckte bitter, nussig und ziemlich mehlig. Wohlschmeckend war sie schon mal nicht, aber was hatte er erwartet?
"Und nun?" fragte Harger, ein wenig verunsichert. "Ich habe noch nie eine von Burcherts Eicheln gegessen."
"Du hast Sonnwend eben noch nie bei den Wahren Dienern der Sokramur gefeiert" sagte Gritta fröhlich. "So wie es sich gehört, während der Graunächte. Und nicht zur gleichen Zeit wie die Praidioten."
"Ich schon", sagte Perchdan. "Hab sogar mal gesehen, wie die Dinger wirken. Da warens glaube ich Bucheckern. Es dauert ein wenig, bis die Wirkung einsetzt. Aber dann ist sie kaum noch aufzuhalten." Irgendetwas in der Stimme des Bauernburschen gefiel Tuvok nicht. War das Ehrfurcht, oder nur Furcht? Ein wenig besorgt klang es auf jeden Fall.
Überhaupt, was würde geschehen, wenn jetzt der echte Ingalf herbei spazieren würde, der sich eben ein wenig verspätet hatte. Einer gegen Drei? Laut den Wehrheimer Zahlen sollte man da eher den Rückzug antreten. Dennoch, er wollte wissen, was da geplant war. Was hatte es mit der Sturmleiter auf sich und was war das für eine merkwürdige Wegzehrung? Offenbar sollten die Eicheln besondere Kräfte wecken. Tuvok spürte noch keinerlei Wirkung.
"Ein paar Stunden haben wir auf jeden Fall Zeit", sagte Gritta beschwichtigend. "Weiße Sokramurier, ha, allein der Name ist schon lächerlich. Der Leib der Bergmutter ist schwarz. Also sind wir es auch." Das stimmte sogar. Ihr Gesicht war kohlrabenschwarz, als wäre sie die Tochter vom “Greif”, des ehemaligen Herolds von Gareth. Oder vom Schwarzen Elfen aus Unau. Oder herrschte der finstergesichtige Scharfrichter über Thalusa? Tuzak? Egal. Firunsgefällige Gegenden waren das allesamt keine, da unten in den heißen, sonnenverbrannten Südlanden.
 
Etwas in Grittas Stimme gefiel Tuvok nicht, gerade weil er sie anfangs ganz sympathisch gefunden hatte. Sie klang ein wenig zu schrill. Zu eifernd und verbohrt. Offenbar hatte er es hier nicht mit Wilddieben, sondern “echten” Sokramuriern zu tun. Was es nicht unbedingt besser machte.
Die Graunächte, so nannte manche Anhänger der "Alten Kulte" die Namenlosen Tage, die angeblich den Feen und Alten Göttern heilig waren und gebührend gefeiert werden mussten...Wenn niemand so genau wusste, wann die Lücke zwischen den Jahren begann oder endete,  beim letzten Sonnenlicht, beim ersten Praiosstrahl oder um Mitternacht? Dann konnte in den Augen der "Schwarzen Sokramurier" auch niemand mit Bestimmtheit sagen, ob der Jahreswechsel wirklich eine verfluchte, unheilige Zeit war, so nahe am Fest der Sonnenwende. Vor allem nicht, ob diese Zeit dem Dreizehnten schon vor seinem Sturz geweiht gewesen war - oder ob er sie in Wahrheit den "Alten Kulten" nicht einfach gestohlen hatte.
Also feierten manche Halbstarke "vom 31. bis zum 35. Rahja" einfach durch, auf ihre Weise: Nicht, um den Gott ohne Namen anzubeten, sondern um seine Macht auszutreiben. Manchmal nagelte die Meute lebende Gespensterkrähen an Scheunentore, damit deren Schreie das Böse vertreiben würden. Ein andermal vergrub sie lebende schwarze Katzen, verprügelte den Dorfdeppen oder jagte den Kindern mit wilden Verkleidungen Angst ein.
Auch den Erwachsenen spielten die Burschen und Mädel grausame Streiche. So langsam ahnte er, was Perchdans Ebermaske zu bedeuten hatte. Mit Schwarzsokramuriern legte sich kein Bauer ohne Not an. Wenn ihm nicht die Heustadel angezündet oder seine Kühe von der Weide getrieben werden sollten. “Das Böse" war nicht immer das Böse gewesen, sollte das närrische Treiben wohl bedeuten. Sondern ursprünglich ein Teil der ungebändigten Natur. Vielleicht sogar deren wahres Wesen. Bis es vom Namenlosen verdorben worden war.
Nun, Tuvok war kein Freund von Tierquälereien oder grobem Unfug. Aber in der Wildnis hatte "Gut" und "Böse" wirklich nicht dieselbe Bedeutung wie auf dem Marktplatz von Rommilys oder am behaglichen Kaminfeuer von Burg Schlotz.
"Wie kommen wir an den Wachen vorbei?" wollter Harger nun wissen.
"Heute ist Tote Mada", verkündete Gritta. "Regnen wird es wohl auch. Man kann gut am Ufer entlang waten, wo das Wasser nicht sehr tief ist. Wenn wir leise sind, werden sie uns schwerlich bemerken."
"Warum müssen wir die schwere Leiter überhaupt durch die Gegend schleppen?" maulte Perchdan.
"Hab ich ja schon gesagt. Es kann sein, dass einer der Unsrigen aus der Burg fliehen muss... Heute Nacht ist wohl irgendeine kleine Ablenkung geplant. Burchert weiß, was er tut."
"Ja, er schon" Harger grunzte verächtlich. "Nur wir wissen so gut wie nichts. Kleine Ablenkung? Einer von unseren Leuten? Na wunderbar. Ich würde schon gerne wissen, warum ich mir hier die Nacht um die Ohren schlage...und morgen früh vielleicht in Storkos Kerker aufwache? Heißt das, dass wir für jemand den Kopf hinhalten sollen, der wichtiger ist als wir? Was ist mit der Heilung von Sumus Wunde?"
"Sokramur selbst spricht mit Burchert. Manchmal spricht die Schwarze Göttin sogar aus seinem Mund. Das habe ich schon erlebt." Gritta klang nun wie ein trotziges Kind. "Was es heißt und was es nicht heißt, das weiß der Druide allein. Ebenso, wann endlich der große Regen fällt, und den ganzen Schmutz wegspült, von Sumus verschandeltem Antlitz..."
Tuvok wurde hellhörig. Großer Regen, der den Schmutz wegspült? Das hörte sich in seinen Ohren irgendwie nach "Grüner Wolke" an. Der Jäger spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten. Er war Barönlicher Forstwart, im Grunde konnte er jetzt schon die Tarnung abwischen und "Ihr seid verhaftet" rufen.
Er wollte etwas sagen, bekam aber nur ein tiefes Grunzen heraus.
"Ah, bei Ingo wirkt es schon." Perchdan griff nach einem dicken Ast und brach ihn fein säuberlich in der Mitte durch. Dem Geräusch nach war er nicht allzu morsch gewesen. Überhaupt waren Tuvoks Sinne jetzt ungemein geschärft. Dort hörte er das "Schuhu" einer Eule, dort das Knacken eines Rehtritts. Eine ganze Woge von Gerüchen brandete heran, nach feuchter Walderde, Kräutern, Pilzen, Blumen, Moos, Beeren, Rinde...und Aas. Nur mit dem Sehen klappte es nicht mehr ganz so gut. Allerdings war es jetzt endgültig Nacht geworden.
Tuvok fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Seine Gefährten offenbar auch. Sie packten die Leiter und huschten ohne besondere Anstrengung los.

Vorsichtig wateten sie am Ufer des Gernat entlang, im kalten Wasser. Das Gewicht spürten sie kaum, die Leiter schien wirklich federleicht zu sein. Ein paar Enten flatterten mit empörtem Quaken auf, das war alles. Im Dorf schienen sie bereits zu schlafen. Es war wie ein merkwürdiger Rausch, oder ein Traum. Ein Traum, in dem irgendwann Musik zu hören war, von der Burg herab, die durch flackerndes Kerzenlicht und Fackeln in magische Farben getaucht wurde. Stimmengewirr wehte herbei. Dort oben wurde hörbar gefeiert, offenbar mit Forelle und Kaninchenschlegeln, Met und Wein. Aber auch üblere Gerüche lagen in der Luft.
"Riechst du´s?" hörte er halblaut von den Zinnen. "Sind nur Wildschweine. Die schwimmen manchmal durch den Fluss, auf den Weg zu ihren Suhlplätzen."
Sie duckten sich an der steilen Böschung, waren aber vermutlich außer Sichtweite oder im Schatten verborgen. Toter Winkel und Tote Mada, was wollte man mehr.
Die Rotte schleifte ihre Last den Hang hinauf, was doch kräftezehrend war. Im nächsten Moment stand die Leiter schon an der Mauer und wurde vorsichtig eingehakt. Oben war es unangenehm hell, das Durcheinander der Stimmen, der Bardengesang und die Musik beinahe schon peinigend laut. Die Wildschweinnatur erlangte in Tuvok immer mehr die Oberhand. Der Jäger wusste kaum noch, wer er war, geschweige denn, was er hier eigentlich tat. Nur, dass es dort oben vielfältig nach Mensch roch, somit nach Gefahr. Noch irgendetwas anderes, Bedrohlicheres lag in der Luft. Plötzlich begann es zu regnen.
In jäher Panik schwamm er hinaus auf den Gernat, blieb an einer Untiefe stecken, wurde von einem vorbeitreibenden Ast gestreift. Er tastete durch sein Gesicht, überzeugt, dass es bereits von einem Wildschweinrüssel und mächtigen Hauern verunstaltet wurde. Aber dem war nicht der Fall. Tuvok paddelte und trieb durch die Nacht, bis er sich irgendwann in dichtem Schilf wiederfand. Einen Moment lang widerstand er der Versuchung, sich grunzend und quiekend im herrlichen Schlamm zu wälzen.
Es war jetzt stockdunkel. Mit letzter Anstrengung taumelte er ans Ufer, torkelte ein paar Dutzend Schritte durchs Unterholz in den Wald und blieb dann erschöpft liegen. Hexerei, das gerade eben musste Hexenwerk gewesen sein. Der Zauber schien die Wutzenkräfte, die er ihm geliehen hatte, nun wieder mit Zins und Zinseszins zurückzufordern. Tuvok fühlte sich matt und ausgelaugt. Vor allem war er völlig durchnässt. Die Blätter über ihm waren noch immer nass vom Regen, der schwer auf ihn herab tropfte. Also weiter. Feuchter Farn streifte ihm durchs Gesicht, Dornenranken und spitze Äste zerrten an seinem triefenden Jägerwams. Die Stiefel waren vollgesogen mit Wasser, die Sohlen hingen voller Schlammklumpen.
Wenn die Nacht nur nicht so dämonisch finster gewesen wäre. Tuvok hätte nicht einmal mehr sagen können, auf welcher Seite des Flusses er angetrieben worden war.
Ein flackerndes Licht zwischen den Baumstämmen wies dem zitternden Jäger den Weg. Ein Lagerfeuer, ja, das helle Glosen da vorne musste ein Lagerfeuer sein. Firun sei Dank! Rotgelbliche Funken flogen munter in Richtung der wenigen Sterne, die am Nachthimmel zu sehen waren.
Tuvok war erfahren genug, um sich mit klappernden Zähnen anzuschleichen. Drei Gestalten saßen um das wärmende Feuer. Ihre Haut wurde durch die Flammen rot gefärbt. Einer blickte ungefähr in seine Richtung. Einen Moment lang glaubte der Forstwart seine "Gefährten" wiedergefunden zu haben, denn das Gesicht zierten zwei klobige Wildschweinhauer. Perchdan? Nein, es waren keine Menschen, die dort kauerten. Ihr Pelz war schon von Natur aus rot gefärbt.
Tuvok roch den Goblin, der sich gerade von hinten anschlich, mehr, als dass er ihn hörte. Er griff nach seinem Messer, drehte sich in der gleichen Bewegung um. Da traf ihn auch schon ein harter Knüppelhieb an der Schläfe. Die lichtlose Nacht wurde zur vollkommenen Schwärze.

Nacht des 5. Praios, in Burg Gernatsborn
Glyrana stellte ihr Weinglas ab. Das Abendmahl hatte einen unerwarteten Verlauf genommen. Interessant fand sie, was sie über die Häuser Baernfarn und Oppstein erfahren hatte. Sie würde in ihrer nächsten Brieftaube Syrenia berichten müssen. Gerade was man ihr über Oppstein mitgeteilt hatte, passte vielleicht ganz gut zu ihren Plänen bezüglich dieser Baronie. Nun, sie würde eine Weile darüber nachdenken müssen.
Was anschließend für eine Unruhe aufgekommen war, als der Regen eingesetzt hatte… so ganz verstand sie es noch immer nicht. Aber, so dachte sie, sie würde darüber noch einmal mit Haldana reden müssen. Nun, vielleicht nicht mehr am gleichen Abend. Das Mahl war beendet, Die Gäste saßen noch bei einem Glas Wein oder Meth zusammen. Es war vermutlich schon nach der zehnten Stunde, ging auf die elfte Stunde zu. Vielleicht hätten sie an einem anderen Abend länger zusammen gesessen, aber die unruhige und unheimliche Stimmung hatte das Abendmahl kürzer ausfallen lassen. Nach dem Regen hingen noch Wolken am Himmel und schluckten auch das wenige Sternenlicht, das zuvor noch am Nachthimmel zu sehen gewesen war.
Glyrana blickte auf. Jadvige, ihre Ritterin, kam, mit einer Söldnerin im Schlepptau. War das nicht die Armbrustschützin, die dem Praiosgeweihten das Leben gerettet hatte? Was wollte Jadvige? Wenn sie zu so später Stunde noch störte, musste es etwas wichtiges sein.
“Hochgeboren!” grüßte die Ritterin militärisch vor Storko und seiner Gemahlin. Dann berichtete sie, was sie mit der Söldnerin Renia zum Burgherren führte.
Storko nickte. “Ich fasse also zusammen: Diese Armbrustschützin sucht eine Anstellung und kann sich entweder die Pfahlgarde oder die Gallyser Büttel vorstellen. Ist das so richtig? Und, ach ja, sie möchte ihr Können mit einem Wettschießen unter Beweis stellen?”
“Ja” nickte Jadvige. Mit einem Wettschießen gegen Odilon von Baernfarn, dem sein Ruf als guter Schütze vorauseilt. Ich schätze… sie verspricht sich eine besondere Ehre davon, trägt sie den Sieg davon… auch wenn das vorgeschlagene Ziel seltsam anmutet.”
“Nun, interessant” antwortete Storko. “Gute und zuverlässige Bewaffnete kann ich natürlich schon gebrauchen. Ich nehme an, Jadvige, du hast sie auf Herz und Nieren geprüft, wie man so sagt. Aber ich will nicht überstürzen. Und vor allem liegt es auch nicht an mir, zu entscheiden, ob mein geschätzter Gast aus den Gallyser Landen sich auf ein Wettschießen einlässt.”
“Sie hat, wie man hört, den Diener des Praios gerettet.” Odilon nutzte die Gelegenheit, da das Gespräch auf ihn kam, sich einzumischen. “Erzähle sie, wie war das genau?” erkundigte sich der alte Waldläufer weiter.
Alrik ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Er kannte Odilon, hatte mit ihm sogar Seite an Seite auf einer Mission nach Maraskan gefochten. Odilon war nicht für seine Standesdünkel bekannt. Odilons Worte hörten sich ungewöhnlich für ihn an. Er hätte erwartet, dass der alte Gallyser die Söldnerin duzte, aber nicht, dass er in der dritten Person Singular mit ihr sprach. Das war ungewöhnlich. Jemandem anderen, der Odilon nicht so gut kannte, wäre das jedoch nicht aufgefallen, da war Alrik, sich sicher.
“Ach, naja” Yasinthe versuchte, bescheiden zu wirken, in der Annahme, dass sie Odilon damit für sich einnehmen konnte. Ich war auf dem Weg hierher, oder vielmehr war ich ein wenig vom Weg hierher abgekommen. Habe mich irgendwie zwischen Gernatsau und Beorwang ein wenig verlaufen. Von einer Anhöhe aus bemerkte ich eine Bande Rotpelze, die seiner Hochwürden ans Leder wollten. Ihn überfallen. Seine Statuette hatten sie ja geraubt. Firun bi, was soll ich sagen, ich bin den Rotpelzen gefolgt und kam gerade noch rechtzeitig. Na, zum Glück waren die Rotpelze sprichwörtlich feige. Ein paar Schläge von einem unerwarteten Gegner, und sie sind getürmt. Einen habe ich noch erlegen können, mit meinem Zicklein.” Sie hob die Armbrust.
“Gut. Da scheint Seine Gnaden aber Glück gehabt zu haben. Sage sie, wie viele Rotpelze waren es?”
Ein wenig mit ihrer Heldentat glänzen, ohne dabei prahlend zu wirken, das war sicher ein gutes Rezept, um diesen alten Narren von Waldläufer zu umgarnen, dachte Yasinthe.
Auch Alrik war nachdenklich. Wenn Odilon auf so ungewohnte Weise mit der Söldnerin redete, so konnte das bedeuten, dass diese ihm nicht sympathisch war. Vielleicht sogar, dass er ihr misstraute? Das war möglich. Es war denkbar, das Odilon ihm so einen Hinweis geben wollte, den nur er und - vielleicht auch Timoin - verstehen konnten, da nur sie beide den alten Jäger näher kannten.
Mit ein wenig schauspielerischer Leistung fuhr Yasinthe scheinbar zählend über die Finger ihrer behandschuhten Hand. “Fünf. Fünf waren es.”
“Fünf. Gut. Zu zweit gegen fünf ist schon einmal eine Leistung. Hat Sie noch weitere Rotpelze gesehen? Kamen noch Goblins hinzu, zu dem Kampfplatz?” Immerhin stimmte die Anzahl der Rotpelze mit der Anzahl der von ihm und Timoin aufgefundenen Spuren überein.
“Nein.” Yasinthe zuckte, bescheiden wirkend, mit den Schultern.
Odilon hatte genug erfahren. Kein Goblin war der Söldnerin also gefolgt. Das hieß, Renia war gemeinsam mit dem Rotpelz unterwegs gewesen. Odilon war sich jetzt sicher, dass die Armbrusterin log, dass die ganze Geschichte, die sie zum Besten gab, nicht stimmte. Er konnte nicht abschätzen, was tatsächlich vorgefallen war oder vor allem, welche Pläne diese Renia verfolgte. Wenn sie den Kampf genutzt hatte, um die Seiten zu wechseln, vor dem Praioten zu glänzen und sich so einen Zugang in die Burg zu verschaffen? Um mit einem geweihten Fürsprecher eine gut besoldete Anstellung zu erhalten? Nun, das war immerhin möglich.
Aber die Söldnerin hatte gelogen.
“Ich… wäre auf der Suche nach einer Anstellung in einer gut besoldeten Truppe.” bestätigte die Söldnerin Odilons Vermutung. “Die Pfahlgarde hat einen guten Ruf, die Artemareiter ebenso. Daher wollte ich meine Fähigkeiten mit der Armbrust unter Beweis stellen. Herr Odilon, erweist mir die Ehre, gegen Euch schießen zu dürfen.” schmeichelte Yasinthe.
Odilon war unbeeindruckt. Auch das Lächeln, das die Söldnerin aufgesetzt hatte, überzeugte ihn nicht. “Sie muss wissen, ich bin ein alter Mann, Söldnerin. Meine Sehkraft lässt nach, meine Finger sind nicht mehr so ruhig wie früher. Ich weiß nicht, ob es ihr Ehre brächte, mich im Schießen zu besiegen. Auch wenn dem Herrn Firun ein Kräftemessen sicher mitunter gefällig wäre.”
“Eurem Bogen, Herr Odilon, sagt man nach, seine Pfeile träfen von selbst ins Ziel.”
“Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe Bavhano Braith nicht bei mir. Ich war auf einer Firungefälligen Pilgerfahrt, und nach dem firungefälligen Waidwerk darf man hierbei nichts als Axt und Messer mit sich führen. Den Bogen, den ich jetzt dabei habe, habe ich unterwegs selbst geschnitzt. Er ist ganz gut geraten, aber kein Vergleich mit Bavhano Bvaith.”
Yasinthe war ein wenig enttäuscht. Dem alten Jäger seinen Wunderbogen abzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, hätte sie zusätzlich gereizt.
“Wenn mir die Unterbrechung gestattet ist… was unterscheidet Euren Bavhano Braith von einem gewöhnlichen Bogen?” warf Storko interessiert ein.
“Bavhano Braith ist elfischer Machart. Der Unterschied ist, ein menschlicher Bogenbauer sucht nach einem Baum, der gut gewachsen für einen Bogen ist. Ein Elf lässt den Baum so wachsen, dass er perfekt ist. Keine Verästelung, keine ungewünschte Krümmung, keine Verhärtung, kein Schaden durch Käferbefall. Einfach ein Bogen, der aus dem perfekten Holz geschnitzt wurde, der absolut ruhig in der Hand liegt und absolut präzise schwingt.”
Storko nickte.
Yasinthe wurde ungeduldig. Geschichten über dieses Elfenpack interessierten sie nicht. “Ich würde folgenden Wetteinsatz vorschlagen. Treffe ich genauso viele Schüsse wie, Ihr, dann nimmt die Pfahlgarde mich auf. Treffe ich öfters als Ihr, dann werden es die Artemareiter.”
Odilon legte, scheinbar nachdenklich, die Hand an die Wange.
“Hmm, ein Wetteinsatz, den ich leider nicht leisten kann. Die Gardeobfrau der Artemareiter, Rauline Finkenschlag, entscheidet über die Aufnahme neuer Rekruten. Nicht ich. Nein, ich kann ihr keinen Wetteinsatz anbieten, den ich nicht halten kann.
“Nun, sicher, aber Ihr könnt mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen…”
“Ich soll eine zu Fuß kämpfende, korgläubige Armbrusterin für eine berittene, firungläubige Truppe mit Reiterbögen empfehlen? Nein.” Odilons Tonfall hatte etwas Endgültiges.
Wäre Yasinthe tatsächlich interessiert daran, den Armemareitern anzugehören, sie wäre jetzt enttäuscht. Aber sie wollte nur eine plausible Möglichkeit bekommen, ein paar Bolzen über die Mauer zu schießen. Sie musste den alten Waldläufer dazu bringen, auf das Wettschießen einzugehen, auch wenn der Alte wohl etwas verstockt schien. Von den Artemareitern und ihrem guten Ruf hatte sie nur gesprochen, um damit dem alten Gallyser zu schmeicheln.
“Gut, die Pfahlgarde ist mir auch recht. Die hat einen sehr guten Ruf, auch wenn sie noch nicht so lange besteht wie die Artemareiter.”
“Den hat sie tatsächlich. Und ich bin bestrebt, dass das auch immer so bleibt.” bestätigte Storko.
“Und dann soll ich, alter Mann, mit meinen schwächer werdenden Augen auf eine Weide schießen, die ich in der Finsternis noch nicht einmal sehen kann? Das wäre reiner Zufall, wenn ich etwas treffe.” Odilon blieb zögerlich. Natürlich hatte er sich schlechter dargestellt, als er war. Anders als beim Schwertkampf, bei dem ihm inzwischen die Reaktionsschnelligkeit und Kraft von einst ein Stück weit fehlte, hatte er in Sachen Treffsicherheit das gleiche scharfe Auge und die gleiche ruhige Hand wie früher. Aber das musste die Söldnerin ja nicht wissen. Was wollte diese Renia wirklich? Ihm kam das alles so absonderlich vor, dass er schon alleine deswegen nicht wirklich Lust hatte, sich auf ein Wettschießen einzulassen. Außerdem kannte er doch genug Tricks, mit denen bei den Korjüngern geschummelt wurde. Wenn es diese Renia von Anfang an vorgehabt hatte, irgendjemanden auf der Burg zu einem Schützenwettstreit zu fordern und dabei ein so ungewöhnliches Ziel vorschlug… wer sagte dann, dass die Söldnerin nicht zuvor einige Bolzen in die Weide geschossen hatte und jetzt einfach nur ihr Schüsse im Gernat versenken musste, um dennoch zu gewinnen? Irgendwie schien es ihm, als könnte Renia so etwas im Sinn haben.
“Wenn ihr ein Sieg bei einem Schützenwettstreit zur Ehre gereichen soll, dann sollten wir das unter Wettkampfbedingungen austragen. Meinetwegen morgen, bei Tageslicht. Wenn Junker Storko damit einverstanden ist. Es lässt sich bestimmt eine Schießbahn einrichten und eine Strohscheibe aufstellen. Aber jetzt aufs Geratewohl in die Dunkelheit zu schießen, das ist doch kein firungefälliger Schützenwettstreit. Dass ich da nicht treffe liegt auf der Hand, und somit wäre es kein Gewinn an Ehre für sie.”
Odilon dachte mehr darüber nach, was diese Renia denn tatsächlich wollte? In die Pfahlgarde aufgenommen werden? Ihre Treffsicherheit konnte sie auch so unter Beweis stellen, ohne ihn zu fordern. Und warum hatte sie so ein völlig ungeeignetes Ziel vorgeschlagen? Entweder, weil die Weide manipuliert war, oder, weil sie etwas völlig anderes plante, und jetzt eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver unternahm. Odilon konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er hatte sich nur dafür entschieden, einen Wettstreit nicht zu den Bedingungen, die Renia vorschlug, anzunehmen.
„Nun gut.“ beschied Storko mit einem Nicken. „Morgen bei Tageslicht. Das scheint auch mir tatsächlich der bessere Zeitpunkt für einen Schützenwettstreit. Dann können wir alle gemeinsam den Kontrahenten zusehen, auch die, die jetzt schon in ihre Schlaflager gegangen sind. Und die Pfahlgardisten, denen sie als Kamerad bald angehören will, können gleich ihre Fertigkeit bewundern. Es soll mir recht sein. Eines nur, Renia, muss sie wissen. Ich biete keinen Wetteinsatz an. Es mag ihr zur Ehre gereichen, wenn Sie gegen einen Schützen wie Odilon im Zweikampf besteht. Und Treffsicherheit ist tatsächlich eine der Fertigkeiten, die ich von meinen Pfahlgardisten erwarte. Allerdings nicht die einzige Fertigkeit. Insofern hat ihr Talent, das Sie uns morgen unter Beweis stellt, sicher Gewicht. Aber ich gebe ihr hier und jetzt kein Versprechen ab. Wenn ihr das genügt, dann freue ich mich, morgen zur Zehnten Stunde einen Wettkampf zu sehen.”
Yasinthe blieb nichts anderes übrig, als freundlich zu nicken und zuzustimmen, wollte sie ihre Tarnung nicht gefährden. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als auf morgen zu warten. Da sie ihre Armbrust mit den Bolzen auch erst dann wieder bekäme – sie würde ja jetzt im Gasthaus übernachten – blieb ihr keine andere Wahl. Sie konnte nur hoffen, dass niemand das Schächtelchen mit den Bolzen öffnete und den Ring fand.

Ismena von Oppstein stand auf und gähnte dezent hinter ihrem Fächer. "Aah, es ist spät geworden. Der Ritt durch den Wutzenwald war lang...Entschuldigt, werter Storko, werte Glyrana. Ich werde mich nun zurückziehen." Alborans Mutter strich ihr Festtagsgewand glatt und blickte in die Runde.
Sollte sie Adran warnen, vor der Intrige, die sich gerade in Rommilys (oder der Vorsichel) gegen ihn anzubahnen schien? Andererseits war sie auch vor solchen Ränken und Machtspielen ins Horasreich geflohen. Der Sohn Wisshards hatte die Saat der Zwietracht in die Familie getragen, in dem Moment, als er die Hochzeitsfeier seines Onkels gesprengt hatte. Ein gemeinsamer Erbe mit dem Herzogenhaus Berlinghân hätte der Baronie reiche Früchte gebracht. Statt diesen erstklassigen Traviabund zu nutzen, hatte sich der Oppsteiner Adel seit Adrans Rückkehr in tödlichem Hass bekriegt. Nur um mit ihm und Thahira zwei darpatische Landeier auf den Drachenthron zu hieven. Die Oppsteinerin merkte, dass sie noch einen großen Schluck Wein im Kelch hatte und trank aus. In diesem Moment fiel ihr ein alter Flüsterwitz ein: "Was ist unter Baron Adran nur aus Oppstein geworden? Ein Zwerch!" Mittlerweile war Thahira von Birkenbruch nicht einmal mehr Zwercher Landvögtin und ihre Familie bei Erlaucht Svantje in Ungnade gefallen. Die Gefahr war real, dass die brechende Birke auch die Oppsteiner Ähren zerdrücken würde.
"Eigentlich sind wir ja hier, um Alborans und Haldanas Verlobung bekannt zu geben, vor Zeugen", sagte Ismena freundlich. "Ich denke, der Heilige Hain der Jungen Göttin wäre dafür ein guter Ort. Morgen, wenn wir alle erfrischt und ausgeruht sind...Die Hochzeit darf dann gerne im Namen der Travia stattfinden", fügte sie hinzu, als sie Adginnas säuerliche Miene bemerkte.
Yasinthe spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg, obwohl oder gerade weil sie von der noblen Tischrunde schon wieder wie Luft behandelt wurde. Ismena war auf dem Weg ins Schlafgemach? Womöglich, nein, ziemlich sicher sogar würde die Oppsteinerin vor dem Zubettgehen noch einmal nach dem Ring schauen.
"Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag!" Storko erhob sich galant, neben seinem prachtvollen Federbarett, das auf dem Tisch lag. Im arangefarbenen Kerzenlicht sah der Wehrvogt aus, als wäre er einem horasischen Prachtgemälde entsprungen. Auch mit seiner Gemahlin Glyrana schien es in den letzten Jahren stetig bergauf gegangen zu sein. Kaum zu glauben, dass der stolze Landjunker (Wehrvogt, Edler...) der gleiche Storko sein sollte, den ihre Schergen damals triefend nass aus der Grotte der Ersäuferin herbeigezerrt hatten: halb ertrunken, blutig geschlagen und besinnungslos. Bei Storko war die Gefahr gering, dass er sie hier und jetzt wieder erkennen würde.
"Frau Junkerin" wirkte derweil völlig geistesabwesend unter ihrer schwarzen Fransenfrisur. Wie damals, als die Mersingen überreichlich vom "Dunklen Trost" gekostet hatte. Auch bei Glyrana war es unwahrscheinlich, dass sie sich an Einzelheiten erinnern konnte. Die Dienerin des Dreizehnten hatte in weiser Voraussicht eine purpurne Maske getragen. Das blaublütige Opfertier von einst hatte sich gut gehalten, musste Yasinthe Dengstein zugeben, trotz des namenlosen Rauschmittels und der  vielen Schwangerschaften.
Ein Gurren lenkte Yasinthe ab. Waren das Tauben? Ja, irgendwo in der Nähe waren Tauben untergebracht, die irritiert waren ob der späten Störung. Dort drüben lag sogar eine kleine weiße Flaumfeder. Opfertiere unter sich...
Die Gesichter der meisten Adeligen wandten sich Ismena zu, die gerade mit ihren rot-goldenen Fächer in die Luft schlug. Das galt einer der Stechmücken, die, angelockt vom Licht, aus der Flussaue heranschwirrten.
Was hatte sie, die ysilische Unfreientochter, erwartet?  Auf dem Söller saß das übliche, arrogante, schnöselige Adelspack, wie sie es aus Tobrien und Darpatien zur Genüge kannte. Erst durch die Rückkehr des Bethaniers hatten die Blasshäutigen ein wenig von dem Ungemach erlitten, wie es sonst nur dem gemeinen Volk widerfuhr. Dessen Haut von Praios braun und bäurisch gefärbt wurde, bei der täglichen Plackerei, wie bei einem Brandmal. Nur der Herrscher der Herrscher behandelte alle Sterblichen gleich. ER unterschied die Menschen nicht nach adelig oder gemein, frei oder unfrei, arm oder reich, schön oder häßlich, wie all diese selbstgerechten Heuchler in ihren Burgen, Kontoren und Tempeln.
Yasinthe wollte gar nicht wissen, wie viele Frondienste und Abgaben allein dieser Protzbau dem Volk gekostet hatte. Geprasst und gebechert hatten die "von und zus" auch schon reichlich, wie die glasigen Blicke und roten Wangen verrieten. Storko verabschiedete die Jungfer formvollendet, mit angedeutetem Handkuss.
Die dahergelaufene Armbrusterin schien fast schon wieder vergessen zu sein. Nur ein junger Jägersbursche, der wohl der "Gehilfe" dieses Odilon war, musterte die Tobrierin ausgiebig. Aus irgendeinem Grund hatten es ihm Yasinthes Nagelschuhe besonders angetan. Der dunkelgelockte Jüngling schaute fragend (und ein wenig verständnislos) zu Odilon. "Sollten wir nicht...", begann der junge Mann, aber eine kaum merkliche Geste des Schwarzen Bären hieß ihn schweigen. Dort drüben, das mussten Alboran und Haldana sein. Golos Sohn versuchte mit seiner Verlobten zu turteln, aber die Schlotzerin schien nicht recht in Stimmung zu sein. Eine hübsche junge Frau, die im Halbschatten saß, war Yasinthe vollkommen unbekannt. Der Barde, der gerade pausierte und einen Becher Wein genoss, hatte tatsächlich ein Hackbrett dabei. Baron Alrik stand derweil an der Brüstung und stopfte sich seine Pfeife.
Praiodîn Xerber blickte als einziger wohlwollend in Yasinthes Richtung. Die Wirkung des "Trosts" schien bei ihren Wegbegleiter schon etwas nachgelassen zu haben. Damit waren sicher auch die Schmerzen zurückgekehrt. Ächzend schob der Lichtbringer sein verwundetes Bein hin und her. "Ich glaube, ich werde mich demnächst ebenfalls zurückziehen, zum Nachtgebet...die Heilige Praiociosa ist in Sicherheit?"
"Euer Gnaden, ich habe sie auf Euer Zimmer gebracht. Ganz, wie Ihr es angeordnet habt." Yasinthe verbeugte sich und achtete darauf, dass es die übrigen mitbekamen.
Ismena klappte ihren Fächer zusammen und entschwebte ins Haupthaus. Wieviel Vorsprung würde sie der Ysilierin geben? Die Dauer von ein paar "Praiosunsern" oder die ganze Nacht?
Odilon wandte sich wieder seiner Herausforderin zu. "Sie möge verzeihen, wir waren gerade etwas abgelenkt" sagte der alte Waldläufer mit bemühter Höflichkeit, die keinerlei Zweifel an der Rangfolge ließ. Oder an seinem Erstaunen, dass die Söldnerin noch immer auf der Terrasse weilte. "Sie ist also bereit für ein kleines Wettschießen. Morgen, bei Tageslicht...?"
"Es ist mir wirklich eine übergroße Ehre, Herr Odilon, gegen einen Meisterschützen wie Euch antreten zu dürfen. Auch wenn meine Dienste in Gallys nicht benötigt werden, wäre mir das Lohn genug. Aber die edlen Herren und Damen müssen mich ja nun für eine üble Prahlerin und Aufschneiderin halten, was das Nachtschießen betrifft. Eigentlich wollte ich Herrn Storko beweisen, dass ich über besondere Fähigkeiten verfüge, als seine künftige Gardistin. Dazu zählt auch die Kunst des Armbrustschießens bei vollkommener Dunkelheit."
Jadvige runzelte die Stirn. Sie hätte sich auf diesen Unsinn gar nicht erst einlassen dürfen. Was für eine peinliche Situation, auch für sie selbst. "Ist gut jetzt", sagte sie leise. "Du hast es gehört, die Herrschaften sind müde. Morgen, da kannst du dich nach Herzenslust blamieren."
"Nun. Mich würde schon interessieren, ob die Söldnerin eine würdige Gegnerin für unseren Odilon ist. Bevor wir vielleicht morgen unsere Zeit verschwenden. "
Alrik Tsalind von Friedwang hatte diese Worte gesprochen. Der Baron drehte sich halb um und musterte die Tobrierin aus seinem unverdeckten Auge. "So ein kleines Gauklerkunststückchen, warum denn eigentlich nicht, lieber Storko? Wenn mein Sohn demnächst Hochzeit feiert, vielleicht sogar auf dieser Burg.... Womöglich kann dann deine künftige Nachtwächterin... Frau äh..." Der Friedwanger deutete mit der Pfeife auf seine Gegenüber.
"Renia...Renia Hagewisch..."
Der spitzbärtige Baron ging zu einer Kerze und nutzte sie, um die Fuchskopf-Pfeife anzuzünden. Dann paffte er erst einmal ausgiebig. Kleine Nachtfalter flatterten aufgeregt im unsteten Licht und warfen merkwürdige Schatten auf den Stoff des Baldachins.
"Womöglich vermag Frau Hagewisch unsere Gäste dann mit einer kleinen Vorführung zu erheitern. In dieser benbukkulischen Finsternis stelle ich es mir schwer vor, auch nur das Burgtor zu treffen. Aber einen Baum, auf der anderen Seite des Gernat? Man lernt nie aus. Vielleicht erfährt selbst ein alter Nachtfuchs wie ich heute Abend noch etwas Neues."
Alriks Boltangesicht irritierte Yasinthe beinahe mehr als Odilons offene Zurückweisung. Alrik, der Lügenbaron. Dass es sich bei dem ergrauten Freiherren von Friedwang um einen Mondschatten handelte, war längst ein offenes Geheimnis. Als mehr oder weniger enttarnter Phexgeweihter würde er sich nicht mehr lange auf dem Steinbockthron halten können. Auch wenn der Abschied Seiner (gar nicht mal so) Hochgeboren sicher nebulös sein würde, wie es die Umstände seiner Machterschleichung gewesen waren. Gefiel "Alrik Tsalind von Friedwang" die Herausforderung des Schwarzen Bären, weil er selbst nur ein frecher Eindringling in der Welt des Adels war?
"Selemische Finsternis", sagte Yasinthe. "Halten zu Gnaden, aber es heißt selemische Finsternis. Selemische Finsternis - und benbukkulisches Durcheinander."
Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, versuchten sich mit Blicken abzuschätzen. Alrik lächelte, was vielleicht auch nur an der Pfeife in seinem Mundwinkel lag.
Ein schwarzer Schatten flatterte lautlos vorbei, wie ein übergroßer Schmetterling. Eine Fledermaus. War das nun ein Zeichen des Allerhöchsten? Oder des Heimlichen, dem der Fuchs von Friedwang diente?
"Wenn du es sagst. Wir sind gespannt, wie hoffentlich gleich deine Armbrust." Der Friedwanger vollführte eine einladende Geste. Auch Storko nickte, ein wenig überrumpelt.
Yasinthe deutete erneut eine Verbeugung an, als wäre sie eine Scharlatanin auf dem Marktplatz von Rommilys und trat gemessenen Schrittes an die Brüstung.
"Als erstes müssen sich die Augen des Schützen an die Dunkelheit gewöhnen. Löscht bitte die Kerzen."
"Aber wir haben sie doch gerade erst wieder angezündet..." Der Wehrvogt schüttelte unwirsch, aber auch  misstrauisch, den Kopf. Dann erschlug er eine aufdringliche Mücke an seinem Hals.
"Es müssen ja nicht alle sein." Yasinthe ließ den Mahlstrom ihrer Stimme wirken. Wenn sie etwas meisterlich beherrschte, dann nicht das Armbrustschießen. Sondern die Kunst, Menschen mittels namenloser Einflüsterung in ihren Bann zu ziehen. ER war heute Nacht auf dieser Burg anwesend, das konnte sie beinahe körperlich spüren.
Alrik behielt die Söldnerin genau im Auge. "Aber nicht, dass du dir jetzt im Dunklen heimlich Carlogblüten einwirfst oder dergleichen."
"Nicht doch. Ich gebe zu, dass ich eine hervorragende Nachtsicht habe. Aber das Kunststück hat wirklich nichts mit Wundermittelchen zu tun." Yasinthe stemmte die Waffe gegen ihren Unterleib und zog mit leisem Ächzen die Sehne das Brett hinauf über die Nuss.
Dann zeigte sie mit der behandschuhten Rechten auf einen der wenigen sichtbaren, matt funkelnden Sterne. "Das da ist der unverrückbare Losstern. Der bekanntlich anzeigt, wo Norden ist. Wir blicken also gerade Richtung Nordosten. Der kleine rote Wandelstern daneben ist übrigens Kor. Der Nordstern hat schon am Himmel geleuchtet, als die Weide noch zu sehen war. Ich habe mir seine Position im Vergleich zum Ziel genau eingeprägt, mit Hilfe des Armbrustbogens." Yasinthe kippte ihre Waffe ein wenig hin und her, als wolle sie damit Winkel und Abstände messen.
"Wahrlich. Der Sternenhimmel beweist uns, dass Praios Ordnung und Ebenmaß selbst in der Nacht über unsere Welt herrscht." Praiodîn lehnte sich zurück und vergaß für einen Moment seine Schmerzen (die er zuletzt mit einigen Schlucken Wein gedämpft hatte). Seine Gnaden schüttete aus einem Gürteltäschchen ein paar Praiosblumenkerne in die Handfläche und begann sie aufgeregt zu kauen.
Alrik lächelte füchsisch, erwiderte aber nichts.
"Ich werde fünf Bolzen abschießen", sagte Yasinthe. "Ich wette, dass mindestens drei davon treffen werden."
"Nun gut, es sind deine Pfeile". Das kam von Storko. Eigentlich war ihm die kleine Abrundung des Abends ganz recht. So würde sich die Tischgesellschaft nicht endlos hinziehen, nach der merkwürdigen Verstimmung durch den Windstoß.
Einer der Diener eilte mit einem Löschhütchen herbei und stülpte es nach und nach über die brennenden Dochte. Wenige Momente später vermischte sich der Geruch von Kerzenrauch mit dem Duft von Alriks Tabaksmischung.
Es wurde dunkler und dunkler auf dem Söller, bis nur noch eine Handvoll Kerzen leuchteten.
 
"Purpurzunge" kicherte in Yasinthes Kopf.
Sehr gut. Gerade eben habe ich ihnen die Lichtlein ausgeblasen. Nun sorgen sie bereits selbst für die Finsternis. Manche Menschen muss man gar nicht zum Glauben an den All-Einen bekehren. Nur dafür sorgen, dass sie das Namenlose in sich selbst wecken. Wer braucht schon das Licht, das uns blendet und davon abhält, die Welt so zu sehen, wie sie am Anbeginn der Zeit war. Ein Ort vollkommener Schwärze. Erst die Sterblichen verschmutzen sie mit ihrem Licht, mit ihren Fackeln, Öllampen, Spieglein und Kerzen. Was hat der alte Merwan geflucht, über all die neumodischen Straßenlaternen in Gareth und Rommilys. S i e   m a c h e n  j e t z t   d i e  N a c h t   z u m  T a g, hat er gejammert.
Yasinthe stand an der Brüstung und wartete darauf, dass sich ihre Augen nach und nach an die Dunkelheit gewöhnen würden. Aber die Finsternis wich nicht wirklich. Da war nur eine vage Ahnung, von etwas Feuchtem, Kühlen da draußen, inmitten der leicht schwülwarmen Sommernacht. Das musste der Gernat sein, auch wenn kein Glitzern zu sehen war und kein einziges Wellengekräusel. Es roch modrig. Linkerhand glaubte sie gedämpft das Quaken von Fröschen zu hören, ebenso das "Schuhu" einer Eule. Nur wenige Sterne blinkten am Himmel, der immer noch bewölkt zu sein schien. Auch wenn die Söldnerin nie ernsthaft vorgehabt hatte, bei diesem "Kunstschießen" zu glänzen, hätte sie sich die Bedingungen doch leichter vorgestellt. Da draußen war einfach nichts Greifbares. Nur Tintenschwärze, als hätte sich die lichtlose Sternenbresche bereits über das gesamte Firmament ausgebreitet. Vielleicht hätte ihr der Stahlbogen der Armbrust wirklich beim "Vermessen" des Himmels geholfen – aber selbst den sah sie kaum.
Ihre Hand glitt in den Köcher, tastete über die Bolzen und deren Spitzen. Am Bolzen mit Lanzettspitze, der als Harnischbrecher gedacht war, erspürte sie den Feenring.
Jeden Augenblick konnte Ismena auftauchen, und sie wütend des Diebstahls bezichtigen.
Yasinthe lud dennoch völlig entspannt ihre Armbrust und zielte ins Nichts. Eine Weile schien sie sich zu konzentrieren, vollkommen eins zu werden mit ihrer Waffe.
Ohne Vorwarnung stand Jadvige neben ihr und griff nach dem Bolzen. Die Dienstritterin hielt das Geschoss ins verbliebene Kerzenlicht: ein schmuckloser, dickleibiger Pfeil mit zwei Holzflügelchen. Die Adelige schien eine Art Freipfeil erwartet zu haben, eine dämonisch verfluchte (und verunzierte) Waffe aus der Blutkerbe. Zumindest blickte sie enttäuscht.
Yasinthe versicherte sich, dass der Ring sicher in der Gürteltasche lag, wo sie ihn heimlich hinein gesteckt hatte. Gleich neben den toten Flöhen der echten Söldnerin, die wie ihre Wirtin der namenlosen Kälte zum Opfer gefallen waren. Yasinthe hatte sie alle eingesammelt, vielleicht aus schwarzpurpurnem Humor, vielleicht als eine Art Trophäe. Für tote Gegner empfand sie nicht mehr als für zertretenes Ungeziefer.
"Ihr gestattet?" Die Tobrierin nahm den Bolzen wieder an sich und legte ihn auf. Dann trat sie erneut an die Brüstung. Mit dünnem Lächeln blickte sie zu der Leiter, die von außen gegen die Mauer des Söllers lehnte. Sie vermutete, dass mit deren Hilfe die Rüstlöcher geschlossen werden sollten, an denen das Baugerüst verankert worden war. Vermutlich war die Leiter schlichtweg vergessen worden. ER war in dieser Burg bei ihr, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Fast war es, als könne sie ein zweites Mal hören, was Purpurzunge zu ihr gesagt hatte, mit ruhiger, fast schon einschmeichelnder Stimme. Kurz bevor sie den Ring vom Bolzen gezogen hatte.
Die alten Aarmarier haben geglaubt, dass eine verirrte Seele, die weder den Weg in die Niederhöllen noch in eines der zwölfgöttlichen Paradiese findet, eine Weile im Feenfeuer zubringen muss. Ein Zwischenzustand, in dem für dieses Seelchen sowohl noch der Aufstieg gen Alveran als auch der endgültige Absturz ins Reich der Erzdämonen möglich ist. Nun, gewissermaßen befindest du dich jetzt in diesem reinigenden Feenfeuer, Yasinthe. Bei einem Erfolg erwartet dich das Paradies des Dreizehnten auf Dere. Oder aber, bei einem erneuten Misserfolg, ein klägliches Ende als formlose Masse im endlosen, grauen Wabern des Limbus. Dein Versagen, damals auf der Insel, hat Jene überaus bekümmert, die bereit sind, dem Höchsten aller Herrscher weit mehr zu opfern als nur einen klitzekleinen Finger. Immerhin, die niederen Aufträge, die du in den letzten Jahren ausführen durftest, hast du zu ihrer Zufriedenheit erfüllt. Sie sind daher bereit, dir eine Möglichkeit zur vollen Rehabilitation zu geben. Verzeih, dass wir dich nicht früher über deinen wahren Auftrag informiert haben. Oder besser gesagt, deinen vollständigen Auftrag. Sie waren der Meinung, dass dieser Teil der Wahrheit dich zu sehr beunruhigen und damit deine Tarnung gefährden würde. Nun, um ehrlich zu sein: Sie waren besorgt, dass dir auch diesem Fall dein Überleben wichtiger sein würde als der Erfolg deiner Mission. Ich habe mir erlaubt, ihnen in diesem Punkt zu widersprechen. Die wahre Ratte ist schlau genug, sich stets einen Fluchtweg offen zu halten. Du wirst nun  g e n a u   d a s  tun, was ich dir sage. Dann wirst du diese Nacht vielleicht überstehen..."
Yasinthe verspürte tiefes, inniges Glück. Zum ersten Mal seit langem war sie wieder mit sich und der Welt im Reinen. Es gab für sie also einen Weg zur Erlösung. ER war der Größte aller Götter.
Mit hasserfüllten Lächeln drehte sich die Söldnerin um, die Armbrust schussbereit erhoben, in einer Entfernung, in der sie ihr Ziel unmöglich verfehlen konnte.
"Tod allen Dienern der Tsa!" schrie die Ysilierin, eine Spur zu schrill. "Stirb, Mersinger Metzweib!"
 
Dann drückte sie ab.
 
Satinav, dessen Blick nicht an den natürlichen Fluss der Zeit gebunden ist, bot sich nun ein faszinierendes Schauspiel. Yasinthe betätigte den Abzug, der gerade noch den Rollverschluss der Armbrust blockiert hatte. Die Nuss rotierte und gab die Sehne frei, die wiederum den Bolzen mit Urgewalt auf sein Ziel katapultierte.
Glyranas Gesichtsausdruck hätte, in diesem Moment vollkommenen Erkennens, jedem cyclopäischen Bildhauer eine reizvolle Aufgabe gestellt. Dem Mund der Mersingerin entrang sich noch ein wilder Schrei, als auch schon der Mechanismus der Armbrust krachte.
Jadvige erkannte fast im gleichen Augenblick ihre eigene, unbegreifliche Torheit. Wie hatte sie nur in eine derart offenkundige Falle taumeln können? Die Ritterin warf sich in die Schussbahn, beide Hände erhoben, bereit, den tödlichen Bolzen abzufangen, der ihrer Herrin galt.
In diesem Bruchteil eines Herzschlags zerbrach der frostgeschädigte Stahlbogen in zwei Stücke. Der rechte Wurfarm wurde an der Sehne herumgeschleudert wie ein kleiner Morgenstern – ein Anblick, der einen Satinavschen Beobachter vielleicht auch an den Stachelschweif eines Mantikors erinnert hätte. Fast gleichzeitig bohrte sich ein silberner Wurfstern in Yasinthes Linke, die den Drücker betätigt hatte. Schmerzerfüllt öffnete die Geweihte beide Hände. Das davonfliegende Trümmerstück des Bogens zerschnitt das Leder über dem Stummel, der einmal ihr rechter kleiner Finger gewesen war.
Der Bolzen selbst hatte noch genügend Kraft, um auf dem Weg zu seinem Opfer eine völlig unbeteiligte kleine Gernatmücke zu erschlagen, zwei Nachtfalter ins Trudeln zu bringen und blutig durch die Narbe auf Jadviges linker Wange zu ritzen, als wolle er der Dienstritterin das Ogerkreuz ins Gesicht zeichnen. Mit Wucht schwirrte das nadelspitze Geschoss aufs Glyranas Stirn zu, schlug einen Fingerbreit daneben in die Lehne ihres Stuhls und durchtrennte dabei eine Strähne ihres wunderschönen, rabenschwarzen Haares.
Der abgebrochene Wurfarm schwirrte im gleichen Augenblick in die andere Richtung davon, durchsäbelte eine Kerze und warf einen der hölzernen Ständer um, die den Baldachin über der Terrasse stützten.
Der Himmel stürzte ein, so schien es zumindest.

Noch schneller als Jadvige, die sich die Hand erschrocken an die blutige Wange hielt, reagierte die junge Schlotzer Baronin. Das mochte einem Beobachter, so er ebenso unabhängig von der Zeit die rasch aufeinander folgenden Ereignisse wie unter einem Brennglas gleich vergrößert betrachten konnte, überraschen. Es mochte schlicht sein, dass Haldana, nachdem sie erneut von Golo heimgesucht worden war, besonders vorsichtig und angespannt war. Obwohl sie unbewaffnet war - wie alle, außer Jadvige, stürzte sie mit drei, vier schnellen Schritten auf die Attentäterin zu und hechtete nach dieser, während sich diese ihrerseits gerade über die Zinnen auf die noch nicht entfernte Bauleiter schwingen wollte. Sie bekam die Meuchlerin um die Hüften zu fassen, so dass diese einen Augenblick taumelte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Die Armbrust – ohnehin jetzt eine wertlose Waffe, glitt Yasinthe aus den Händen. Stattdessen griff sie nach der Sacktasche mit ihren Habseligkeiten, den sie immer noch über der Schulter trug – sie hatte ja noch vor wenigen Minuten sich darauf eingestellt, in das Gasthaus zu gehen – und zog ihn der Baronin mit einer Urgewalt über die linke, kahl rasierte Kopfhälfte.
Mehr als deutlich war nicht nur der dumpfe Aufschlag auf dem Schädel der Bardin zu hören, sondern auch ein schauriges Klirren wie von einer eingeworfenen Butzenglasscheibe.
Ein lautes, schrilles, hexenhaftes Kreischen gellte durch die Nacht. Ein trommelfellzerreißender, kreischender und langgezogener Schrei durchbrach die Stille. Ein Schrei, dessen Laut schwer zu verstehen war, und bei dem alle Anwesenden sich später nicht einigen konnten, ob „Frei!“ oder „Nein!“ gebrüllt worden war.
Einen Augenblick lang brauchte Haldana, um wieder zu sich zu kommen. Blut strömte ihr über die kahle Kopfhaut. Einen langen Augenblick, den Jadvige dazu nutzte, ihr Schwert zu ziehen und zur Mauer zu eilen. Einen Augenblick, den Yasinthe dazu nutzte, ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen und erneut zur Leiter zu hasten. Einen Augenblick, in dem Alboran erschrocken „Haldana!“ ausrief und der verletzten Freundin zu Hilfe eilen wollte. Einen Augenblick, in dem Storko aufsprang und sich mangels Schwert mit einem schweren Kerzenständer aus Messing bewaffnete, während Glyrana lautstark nach der Burgwache rief, einen Dolch unter dem Kleid hervor holte und beschloss, noch am gleichen Abend eine Brieftaube nach Gernatsquell zu schicken, um das benachbarte Gut vor namenlosen Umtrieben zu warnen, jedoch gemeinsam mit der Schlotzer Vögtin Adginna vorsichtshalber hinter einem schweren Lehnstuhl in Deckung ging und - bevor der schwere Leinenstoff des einstürzenden Baldachins Storko und die beiden Frauen unter sich begrub.
Einen Augenblick, in dem Timoin sich einen am Boden liegenden Stein aufhob und nach der flüchtenden Attentäterin warf, obwohl er sich fragte, wieso jemand, der noch am gleichen Tag einem Geweihten des Praios das Leben gerettet hatte, plötzlich zum hinterhältigen Meuchler mutieren konnte, während der Stein mit einem dumpfen Plopp der Meuchlerin ins Gesicht schlug.
Einen Augenblick, in dem als Letzter von allen Odilon reagierte. Das mochte überraschen, angesichts des Misstrauens, das er als einziger gegen die Armbrusterin gehegt hatte. Aber er war im Augenblick, da Yasinthe sich umgedreht und auf Glyrana angelegt hatte, abgelenkt. Vielleicht gerade wegen des Misstrauens, das er gegen die vermeintliche Renia gehegt hatte. Er hatte sich mit dem Gedanken beschäftigt, warum die Schützin das rötliche Gestirn neben dem Losstern, den er wie alle Jäger Firunsstern nannte, fälschlich als den Wandelstern Kor benannt hatte. Dabei war es doch eher eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Wandelsterne sich entlang der Ekliptik bewegten und niemals auch nur in die Nähe des Firunsternes kamen. Als Söldnerin, wenn diese Renia auch nur halbwegs wildniskundig war - und das war eigentlich anzunehmen – hätte sie das wissen müssen. Warum, so fragte sich Odilon, gab die Armbrusterin dann einen solchen Mumpitz von sich? Und, was für ein rötliches Gestirn, der kein Fixstern war, da er eben erst an diesem Abend am nächtlichen Himmel sichtbar geworden war. Dies konnte doch nur ein unbekannter Komet am Himmel sein, dachte Odilon. Hoffentlich keiner, der Unheil bringt. Oder hatte er genau das schon getan?
Und noch vier Dinge geschahen in diesem von Satinav ausgedehnten Augenblick. Als erstes fiel eine kaputte Armbrust zu Boden. Als zweites schlug eine Sacktasche auf den Mauersteinen der Burgmauer auf, öffnete sich, und ließ Scherben eines zerbrochenen Spiegels auf den Wehrgang fallen. Als drittes trallerte ein zu Boden gefallener Schneidezahn Yasinthes, ausgeschlagen durch den von Timoin geworfenen Stein, umher, und kam schließlich zum Liegen. Und als viertes fiel ein Ledertäschchen, das durch Haldanas Angriff vom Gürtel der Söldnerin gerissen worden war, über die Mauer der Burg in die Tiefe, öffnete sich im Fallen und gab einen Ring frei, der auf dem grasigen, teils auch steinigen Untergrund vor der Burgmauer aufschlug und in Richtung des Flusses davon kullerte.

Yasinthe sprang, am unteren Ende der Leiter angekommen, in den Gernat und verschwand mit der Strömung in der finsterschwarzen Nacht.