7. Kapitel
7. Kapitel
Haldanas Geheimnis
Das wütende Summen des Bienenvolkes beruhigte sich etwas. Fast erschien es Haldana, als wären die Immen zufrieden über den Ausgang des Gefechts.
Sie selbst war es auf jeden Fall. Elegant zog sie das Rapier, und musterte ihren verbliebenen Kontrahenten.
Das Gesicht des Schwarzbarts war völlig zerstochen. Der Preis bestand aus vielen gelbschwarzen Bienenkörpern, die zuckend auf dem Boden lagen, wo sie, ihres Stachels beraubt, starben.
Ihr Gegner merkte, dass er entwaffnet worden war, und hob, mit schmerzverzerrten Gesicht, die Hände. Nun, so wie es aussah, konnten sie einen Gefangenen gebrauchen, der, anders als der kläglich wimmernde Ogerbarne, noch reden konnte. Verständlich reden.
"Ergibscht dich?" fragte Haldana, und ließ das Rapier locker ums Handgelenk kreisen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
Das sah sicherlich beeindruckend aus, war aber nichtsdestotrotz ein Fehler. Eine der Bienenkriegerinnen, die noch um sie herum schwirrten, nahm die schnelle Bewegung als erneuten Angriff war. Sie stach zu, genau auf die Waffenhand, tief und schmerzhaft.
Haldana schrie auf, was wenig lustvoll klang, und ließ das Rapier fallen. Entwaffnet von einer Biene, schoss es noch durch ihren verdutzten Kopf, dann warf sich Schwarzbart auch schon auf sie, mit bloßen Händen: Der Bursche war zäher, als sie gedacht hatte.
Durch die schiere Wucht des Aufpralls wurde die Sichlerin umgeworfen, prallte hart mit dem Kopf ins Gras: ausgerechnet auf die rasierte, wenig geschützte Seite. Einen Moment lang zwinkerte sie benommen. Der Bärtige schloss seine zerstochenen Pranken um ihren Hals und drückte zu, wie ein Lustmörder. Vielleicht war er das sogar.
Haldana röchelte verzweifelt und presste ihre eigenen Finger in Richtung Nase und Auge des Mannes. Luft, sie bekam keine...Luft...sie...brauchte Luft.
Die schiere Panik setzte ungeheure Kräfte in ihr frei. Kratzend und um sich schlagend gelang es ihr, sich aus dem Würgegriff freizukämpfen. Eine Biene kam ihr zu Hilfe, die Schwarzbarts Nase attackierte.
"Verdammtes Miststück" brüllte er, als hätte Haldana ihn gestochen, und drosch ihr seine Faust ins Gesicht. Die Sichlerin merkte den Schlag kaum, sondern schlug zurück. Tastete nach ihrer Klinge. Spürte die vertraute Pommel an ihren Fingern.
"Du rasierte Schlampe, ich schick dich zu Boron, wo du hingehörst!" schimpfte ihr Gegner, buchstäblich angestochen, und warf sich auf sie, einen spitzen Stein in der Hand. "Ich schlag deinen hässlichen Schädel zu Brei!" Zumindest versuchte er es.
Eigentlich hatte Haldana ihr Rapier nur gehoben, um Schwarzbart von einem erneuten Angriff abzuhalten. Allerdings hatte der Narr sich geradewegs in die Klinge geworfen, wie ein maraskanischer Selbstmordattentäter. Verblüfft starrte er auf die Waffe, die tief zwischen seinen Rippen steckte. Er verspritzte reichlich Blut, ließ den Steinbrocken fallen und rollte zur Seite.
Wäre Haldana ein Medicus gewesen, hätte ihr das matte Zucken der Beine überhaupt nicht gefallen. So aber konnte sie zufrieden sein mit ihrem Werk.
Bienen brummten umher, verwirrt vom Blutgeruch.
Haldana fühlte sich schummrig. Ihre Nase blutete. Das Dröhnen in ihrem Hinterkopf wurde eher stärker als schwächer, die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Diese große Biene, warum schwirrte sie ständig um ihre Nase? Erst jetzt merkte sie, dass es eine Art Senkblei war, das vor ihrem Gesichtsfeld kreiste. Ein Pendel?! Nein. Ein kleiner, rötlicher Stein, der an einer Lederschnur festgebunden war.
Süßer, schwerer Duft drang an ihre Nase, der kein Blutgeruch war. Der betörende Duft nach Parfüm? Nein, eher nach Wachs.
Haldana runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. Eine himmelblauer Robenärmel, gesäumt mit goldfarbenen Ornamenten.
Ein zeitlos schönes, ockerbraunes, etwas pummeliges Gesicht. Dunkle, schmale Augen. Tiefschwarze Zöpfe, deren Flechtart Haldana ein wenig an die Bienenkörbe erinnerte. Dazwischen ein kahlrasierter Schädel.
Wie aus weiter Ferne erklang eine Stimme, murmelte etwas in einer Sprache, die fremdartig klang und doch vertraut. Der kehlige, leise Singsang erinnerte tatsächlich an Schwarzsychlerisch.
Die Szenerie war...unwirklich. Haldana fröstelte. Irgendwie war ihr kalt.
Tatsächlich, als sie austatmete, hauchte sie ein kühles Dampfwölkchen in die Frühlingsluft über Helbers Hof.
Die kniende Frau lehnte sich etwas zurück, im Schneidersitz, sprach weiter in ihrer merkwürdigen Zunge, die südländisch klang. Irgendwie glänzte sie merkwürdig, der ganze Körper, Haut wie Haare. Wachs, das war Wachs. Die Unbekannte sah aus, als wäre sie aus dem Wachsfigurenkabinett in Havena ausgebrochen (auch wenn Haldana diese Kuriosität nur vom Hörensagen kannte). Vor allem roch sie nach Bienenwachs. Nicht unangenehm, aber doch...ungewöhnlich. "Gewachst" - so hatte Haldanas Großmutter die Mädchen in ihrem Dorf bezeichnet, die sich allzu sehr schminkten und herausputzten. Diese Frau sah aus, als hätte sie geradezu in Wachs gebadet.
Haldana setzte sich auf. Sie atmete jetzt stoßweise, wobei immer wieder kühler Dampf zwischen ihren Lippen hervordrang. Ihre Zähne klapperten.
Hatte sie Fieber? War das hier gerade eine Halluzination? Nein, dort stand noch immer das Bauernhaus, die Bienen schwirrten lautstark umher. Dort drüben lag der niedergeschlagene Tuvok, und der zerstochene Ogerbarne. Auch der tote Schwarzbart lag, fein säuberlich durchbohrt, auf seinem Platz.
"Mir ist kalt, mir ist kalt" flüsterte eine Frauenstimme. Einen Moment lang dachte sie, sie selbst hätte das gesagt.
Dann sah sie die brünette Frau in erdfarbener Tunika, die die Kapuze ihrer Gugel in den Nacken geschoben hatte. Ihr Gesicht war totenbleich. Auf ihrer Stirn prangte eine blutverkrustete Wunde.
"Hallo, Hallo." Ihre Augen irrten umher. "Ich muss zurück zur Baustelle. Wo geht es hier zur Mauer? Ich bin nicht verletzt, ich kann weiterarbeiten. Is nur ein Kratzer..."
Nun sah sie in Haldanas Richtung. Zitterte und schlang sich die Arme um den Körper.
"Mir ischd auch kaald" nickte Haldana. "Wer bischd du? Ainä Patientinn vom Doctorr?"
Die zweite Unbekannte stutzte für einen Moment. Sie schien freudig erstaunt zu sein.
"Du verstehst mich? Du kannst mich hören? Na endlich... Das ist ja wunderbar..."
Die Frau in der Tunika machte einen Schritt auf Haldana zu. Es war, als wehte ein kühler Lufthauch heran. War die Fremde es, die diesen Eishauch verbreitete? Fast kam es ihr so vor.
"Ich muss zurück nach Rommilys. So ein saudummer Unfall. Ich sag noch zum Polier, das Gerüst ist aber arg wacklig. Dann bricht schon alles zusammen. Und dann kommt auch noch der Hammer hinterher. Wenn der mich getroffen hätte. Tot könnte ich sein...hab wirklich Glück gehabt."
"Wie heisisch du?", fragte Haldana. Als sie merkte, dass sie nicht verstanden wurde, wechselte sie auf Hochgarethi:
"Wie ist dein Name?"
"Mia. Mia Herdlieb. Und du? Bist du aus Rommilys?"
"Aus der Sichel...Min Nama isch...Mein Name ist Haldana...Gehört sie zu dir?"
Die Sichlerin wies auf die "Wachspuppe", die sie beide neugierig zu mustern schien, mit freundlichem Lächeln und wachsglänzendem Gesicht.
Sie sagte wieder etwas, in ihrer Sprache.
"Das ist Nasdja. Oder Sybilla. Weiß nicht, wie sie genau heißt...Ich glaub, die ist nicht ganz richtig im Kopf."
Die Frau namens "Nasdja" sagte wieder etwas, leicht ungehalten.
"Moment, du verstehst kein Sichlerisch, Mia? Aber das Kauderwelsch da schon?"
Mia Herdlieb nickte: "Komm aus Aranierberg. Bin quasi auf dem Tulamiden-Basar aufgewachsen..."
"Das ist...Tulamidensprache?"
"Naja, sowas ähnliches, glaube ich. Ein paar Brocken verstehe ich. Ich glaube, sie sagt, sie ist deine Großmutter..."
"Meine Großmutter?!" Einen Moment lang war Haldana völlig verwirrt. Natürlich, der Sturz auf den Hinterkopf...der Fausthieb...vielleicht sogar die Bienenstiche...offenbar war ihr Gehirn völlig durcheinander.
"Ich kenne meine Großmutter...sie hätte sich niemals so...gewachst...alle beide hätten das nicht."
Mia tippte sich an ihren Haarschopf, über der blutigen Wunde: "Vielleicht liegt es ja an deiner Frisur?"
Die stämmige, blasse Maurerin versuchte ein Lächeln, das irgendwie frostig wirkte. Zumindest unterkühlt.
"Du bist verletzt...?" Haldana stand mit wackeligen Beinen auf, schwankte. Das hätte sie sich genauso selbst fragen können. Sie tastete nach der kahlen Hälfte ihres Schädels. Tatsächlich, dort wölbte sich eine ordentliche Beule. Sie musste sich auch um Tuvok kümmern.
"Lass gut sein. Ich hatte Glück im Unglück, dem Heiligen Timorn sei Dank. Dem Krach nach ist das ganze Gerüst ist auf mich drauf gefallen. Muss regelrecht verschüttet gewesen sein...konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Es war schon dunkel, als sie mich ausgegraben haben."
"Ausgegraben?" Irgendwie gefiel Haldana dieses Wort nicht. Ihre vermeintliche "Großmutter" sagte wieder etwas.
"Was sagt sie?"
"Ich verstehe sie nicht" sagte Mia Herdlieb, mit bebenden Lippen. "Kalt, mir ist so fürchterlich kalt...ich muss zurück zur Mauer. Die anderen warten sicher schon. Ist ja nur ein Kratzer. Hab wirklich unglaubliches Glück gehabt...All die Götterläufe keinen Unfall, und dann das...und ich sag noch zu Perainfried, das Gerüst steht irgendwie schief..."
Wieder der kehlige Singsang von Sibylla, Nasdja, oder wie die Kahlschädelige hieß.
"Was sagt sie?" wiederholte Haldana.
"Ich verstehe auch nicht so ganz, was sie meint. Oder wen von uns beiden..."
"Frag sie doch mal, wo sie herkommt"
In holprigen Worten versuchte Mia einen Satz zu bilden...oder besser gesagt einzelne Brocken aneinanderzureihen, die Tulamidisch klangen.
"Sie sagt wieder, sie wäre deine...ich glaube, das Wort heißt Großmutter, aber ich bin mir nicht sicher...irgendwas von vielen Jahren...etwas in der vergangenen Zeit?"
Nasjda nickte, deute erst auf sich und dann auf Haldana: "Mischpacha"
Mia zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit. Irgendeine alte Frau, die ihren Verstand schon lange an Hesinde abgegeben hat. Vielleicht ist sie ja eine von diesen Zahoris? Wir sollten aufpassen, dass sie uns nicht beklaut. Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit...sonst kürzt mir Perainfried den Lohn."
Nasdja-Sybilla schüttelte den Kopf. Wieder "tulamidische" Worte.
"Marb, Marb" Mia wiederholte eines der Worte und schien noch etwas mehr zu erbleichen. "Sie ist wirklich völlig verrückt... marb... nein sowas."
"Was heißt das - marb?"
"Ach, nur Unsinn. Sie behauptet, die ganze Zeit, ich wäre tot...Völlig verrückt, die Alte... richtig unheimlich. Komm, wir verschwinden."
Haldana erstarrte, was nicht an Mias Worten lag. Jedenfalls nicht nur. Vor ihr stand der Schwarzbärtige, ebenfalls totenbleich...mit einer großen roten Einstichwunde im Wanst. Das hätte die Sichlerin noch nicht einmal besonders erschreckt (ein verdammt zäher Bursche war der Kerl schon).
Was sie wirklich beunruhigte, dass seine Leiche noch immer einige Schritt neben ihm lag, in einer großen, roten Blutlache.
"Verdammtes Miststück!" brüllte der Schwarzbart, mit merkwürdig verzerrter, hallender Stimme. "Ich bring dich um!"
Mit zombiehaft erhobenen Händen stürmte der Würger auf sie zu, als hätte er nicht gerade mehrere Spann besten Klingenstahls geschluckt.
"Lass sie in Ruhe!" rief Mia.
Haldana empfing den Angreifer mit einem kräftigen Hieb. Das Rapier flirrte einfach durch ihn hindurch, wie durch dünnen Nebel.
Er selbst huschte durch sie hindurch, als eiskalter Nachtwind.
Die Sichlerin begriff, in einem einzigen Moment des Grauens. Marb.
Ich sehe tote Menschen.
Mit einem Seufzen fiel sie in gnädige Ohnmacht.
Alriks Rapier zuckte vor und glitt genau in den Schlüsselring. Das Frettchengesicht wollte danach grapschen, aber der Friedwanger verbot es ihm mit einer Fingerbewegung. Dann nahm er den Schlüsselbund an sich, der an der Klingenspitze klimperte.
"Soso, Meister Alfengrund hat euch also erlaubt, sich während seiner Abwesenheit um sein Haus zu kümmern?" Alrik rümpfte die Nase, was auch an dem leicht süßlichen Geruch lag, denn das "Frettchen" verströmte. Dessen Schuhe waren völlig verdreckt, wie er nun bemerkte. "Sehr vertrauensvoll von ihm..."
"Irgendjemand muss doch nach den Hunden sehen", sagte sein Gefangener, unterwürfig und falschzüngig zugleich, mit der ständigen "Unschuldsmiene" eines typischen kleinen Gauners.
Alrik hielt mit der Linken den Schlüssel hoch: "Das sieht mir eher nach einem Satz Dietriche aus. Und noch nicht einmal nach einem besonders Guten."
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jodokus und Rovik den vierten Gegner überwältigten und an einen der Deckenbalken fesselten.
Die gute Stube des Bauernhauses war bei der kleinen, aber lautstarken Rauferei ziemlich in Unordnung geraten. Stühle und Tische waren umgefallen, auch eine Flasche Branntwein zersplittert. An den Wänden hingen Kräuterbündel. Hesindian hatte einen weiteren Hund im Sprung erstarren lassen und stellte ihn nun beiläufig auf eine Kommode. Dank einer brennenden Laterne an einem Wandhaken und der halboffenen Tür war es einigermaßen hell. Münzen glänzten auf dem Boden.
"Ich hab ja nicht gesagt, dass das die Hausschlüssel sind": Das Frettchen zuckte mit den Schultern.
Draußen vor der Tür schien es hoch her zu gehen, mit Hundegebell und Geschrei. Zum Glück waren es nicht Tuvok und Haldana, die da schrien.
Nun ja, zumindest hoffte Alrik das. Das wütende Gesumme klang nach Bienen. Natürlich, Haldana, die Imkerin, hatte zu einer Geheimwaffe gegriffen?!
"Soll ich mal rausschauen?" fragte Jodokus besorgt.
"Schau dich erst mal hier drinnen um - sicher ist sicher."
Der Baernfarn nahm die Laterne und ging in die Nebenzimmer.
"Was soll das?" schimpfte der Andere, ein lockenköpfiger Mann, den der Zwerg nun auch noch die Füße an den Balken band (Schnüre waren dank der Kräuterbüschel reichlich vorhanden). Das Auffallendste an seinem Gesicht war die spitze Nase. "Das ist Traviafrevel, den ihr da begeht. Einbruch und Traviafriedensbruch. Wer seid Ihr?"
"Sagen wir, wir wollten auch nur mal kurz nach dem Rechten sehen." Mit dem Fuß schob der Friedwanger die Ochsenzunge zur Seite, die er dem Frettchen gerade abgenommen hatte. "Ich darf die Frage also zurückgeben. Wer seid I h r ?"
"Mein...mein Name ist Willbur Herk. Ich bin der Gehilfe von Doctor Alfengrund. Der Herr Medicus wird wahrlich nicht erfreut sein, wenn er zurückkehrt. Das wird Konsequenzen haben, Herr, äh...?"
Alrik ignorierte die Frage. "Ganz sicher wird das Konsequenzen haben. Fragt sich nur für wen. Ist sonst noch jemand im Haus?"
Jodokus übernahm die Antwort. "Scheint sauber zu sein."
"Sagt an, werter Herr, äh, Herk?" Alrik linste zur Seite. "Wie kann es sein, dass ich vor kurzem schon mal hier war, Ihr aber nicht?"
"Ich wüsste nicht, warum ich diese Frage irgendwelchen... dahergelaufenen... Strolchen beantworten müsste..."
"Ihr sollt sie ja auch nicht Euren Schlagetots beantworten, sondern uns."
"Glaubt mir, wir handeln im offiziellen Auftrag" Jodokus baute sich etwas auf, um die "Spitzmaus" einzuschüchtern. "Von ganz oben..."
Hesindian, der Magus, ließ seinen Zauberstab aufflammen und hielt die brausende Flamme direkt vors Gesicht des Gefangenen. Dann zeigte er ihm das Gildensiegel auf seiner Handfläche und kniff ein Auge zu. "Sagt Euch der Name Informationsinstitut etwas?"
"Informationsinstitut?" Neben dem Fackellicht spiegelte sich Furcht in den Augen Wilburs.
"Ganz Recht."
"Was wollt Ihr von mir?"
"Wie wärs mit - Informationen??! Und erzählt mir nicht, dass Eure Putztruppe zum Staubwischen und Blumengießen vorbeigekommen ist..."
"Nun, wie Roderick, ein weiterer Gehilfe des Herrn Alfengrund, schon sagte." Wilbur Herk reckte das Kinn vor und blickte zum Frettchen. "Sie sind jeden Tag hier, um nach dem Rechten zu sehen, und die Wehrheimer Doggen zu versorgen, die das Haus bewachen. Ich selber wohne im Dachboden, bin tagsüber aber meist im Spital oder bei Patienten...jedenfalls in der Stadt unterwegs. Das Haus liegt nun einmal außerhalb der Stadt, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Zumal in diesen Zeiten."
Jodokus ging auch noch die Treppe nach oben hinauf, mit erhobener Lampe, die rechte Hand an der Klinge. Sicher war sicher.
"Hier oben ist auch niemand" hörte Alrik seine gedämpfte Stimme. "Glaube ich. Ah, ist das dunkel hier". Den Geräuschen nach wurde ein Fensterladen entriegelt.
"Auf der anderen Seite steht ein Fuhrwerk, mit angeschirrten Pferden. Vor der Scheune...
Hesindian schob mit den Füßen die Münzen auf dem Boden zusammen. "Soll das die Entlohnung für Eure Hausmädchen sein?"
Rovik sammelte die Dukaten und Silbertaler zusammen, durchaus etwas gierig: "Mal nachzählen", brummte er. Eine der Taler glitt ihm aus der Hand, blieb in einer Spalte zwischen den Holzbohlen auf dem Boden stecken. Der Hügelzwerg fischte ihn wieder heraus und rümpfte für einen Moment die große Zwergennase. Mit der Axt klopfte er auf den Boden. Es klang hohl. Rovik zückte ein Messer und hob das Brett etwas an. Im Nu stellte sich heraus, dass es wirklich nur dünne Bretter waren, die auf einer Holzluke lagen und sie verdeckten. Der Tisch hatte offenbar darüber gestanden.
Gute Handwerksarbeit, musste der Sohn des Vulkanus zugeben. Die exakt eingepassten, gleichfarbigen Bretter waren von den umliegenden Bohlen kaum zu unterscheiden: Außer wenn man sie "bodennah" untersuchte, so wie er es gerade tat. Das Schummerlicht störte ihn nicht, seine Augen waren Halbdunkel gewohnt. An der Luke war eine kräftige Schnur befestigt, an der er nun zog. Ächzend öffnete sich die Falltür - und gab den Blick auf eine Holztreppe frei.
Der Gehilfe seufzte: "Entweder Ihr sagt mir jetzt, wer Ihr seid, und wer Euch geschickt hat. Wer euch wirklich geschickt hat. Oder ich sage kein Wort mehr."
"Alrik, mein Name ist Alrik". Der Baron packte das Frettchen und schob ihn in Richtung Balken. "Wo ist eigentlich Doktor Alfengrund?"
"Das geht Euch nichts an" schimpfte Wilbur Herk.
"Haben wir noch Seil?" Erst jetzt sah Alrik, dass der Zwerg etwas entdeckt hatte. "Ein Geheimversteck?"
Der Zwerg nickte und war nun ganz in seinem Element.
"Ich werd hier oben auf die Gefangenen aufpassen" sagte Jodokus, der vom Dachboden zurückgekehrt war.
Hesindian ging nach unten, mit Flammenstab. Nach einigen wenigen Stufen standen er, der Zwerg und Alrik in einem Gewölbekeller. Es roch muffig, nach Branntwein - und unangenehm süßlich. Auf einem Kandelaber staken einige Kerzen. Der Magus zündete sie an. Langsam kam Licht ins Dunkel.
Ein großer Tisch. Ein Eimer. Ein kleiner Tisch, auf dem allerhand Klingen, Sägen und dergleichen standen. Regale mit einer Art von Einmachgläsern. Es waren Präparate, die darin in gelblicher Flüssigkeit schwammen: Herzen, Leber, Lungen, Hände, eine Art Riesenwalnuss (ah, ein Gehirn) und sogar ein winziger Säugling - sogar mit Nabelschnur. Hesindian verzog angewidert das Gesicht. "Allweise Herrin, steh uns bei"
"Bei Angrosch" brummte Rovik. "Wer tut so was?"
Alrik nickte: "Ein Anatom. Ganz nette Sammlung, die Alfengrund hier angelegt hat."
"Das...das ist Frevel..." Der Magier blickte kopfschüttelnd in ein einzelnes Auge, das ihm aus einem der "Einmachgläser" anstarrte. "Geradezu niederhöllisch."
"Du bist der wissensdurstige Hesindejünger, nicht ich", sagte Alrik und sah auf den Tisch. Er wollte gar nicht wissen, wie die dunklen Flecken auf der Steinplatte (oder auf dem gestampften Lehmboden) zustande gekommen war. "Jedenfalls gut, dass hier ab und zu jemand zum Saubermachen vorbeikommt."
"Was ist denn das?" Rovik hob seine Axt.
Der Baron zuckte kurz zusammen, als er das Skelett sah, das in der Ecke stand. Und zum Glück stehen blieb. Den Spinnweben nach zu urteilen hatte es sich schon länger nicht mehr bewegt.
Da hatte er schon ganz andere Klappergestalten kennen gelernt...Alriks Knie zitterten dennoch. Trotz seiner kaltschnäuzigen Worte waren auch seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Zeichnungen hingen an der Wand, die keinen Zweifel daran ließen, woran Alfengrund hier unten forschte: Der menschliche Körper, ausgeweidet, gehäutet, durchschnitten, in sämtlichen denkbaren und undenkbaren Variationen. An einem Haken hing die lederne Storchenmaske, die der Baron bereits kannte, sowie eine große, fleckige Lederschürze.
Im Regal daneben fanden sich Schriftrollen und allerhand Büchlein, in die der Anatom Notizen eingetragen oder einzelne Zettel eingefügt hatte: Es ging um Kräuter- und Heilkunde, ein wenig Alchimie und wieder anatomische Zeichnungen, natürlich...ganz hübsch gezeichnet, aber boronsgefällig wirkte das alles nicht. Bishdarielon, sein dunkler Bruder, wäre hier unten durchgedreht, zwischen all der düsteren Pracht, die eines Nekromanten würdig gewesen wäre.
Drei echte Bücher fanden sich auch, neben Schriftrollen: "Wider Boron und Satinav" eines gewissen Hagen von Gunnar, der sich mit der Kunst der Präparation, Mumifizierung und Sezierung beschäftigte, ein tulamidisches Buch über die Heilkunst (mit vielen bunten Bildern), sowie ein Folianth der Kräuterkunde, in einer weniger wertvollen Abschrift.
Hesindian ging fassungslos in der Gruft umher (wie Alrik das sinistre Gewölbe für sich bereits nannte).
Rovik hatte schon wieder etwas entdeckt. Deutliche sichtbare Fußspuren führten in einen Seitengang, mit Fackelhaltern an der Wand. Mit einer Kerze folgte der Angroscho dem Tunnel.
Dem Friedwanger interessierte mehr der Verlauf der Fährte in der anderen Richtung. Tatsächlich, die Fußstapfen befanden sich im gesamten Gewölbekeller. Von dort aus ging die Fährte zu einem weiteren Durchgang, der lediglich mit einem Vorhang verdeckt war. Alrik nahm sich eine einzelne Kerze (sein Hofmagier war gerade an einem großen Schrank zugange) und trat ein.
Eine große Holzkiste stand auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, sondern auf großen Eisblöcken, die den etwas tiefer gelegten Kellerboden bedeckten. Um ein Haar wäre Alrik ausgerutscht. Auch an den Wänden stapelte sich Firuns Element - und glitzerte überderisch im Kerzenlicht. Oder gespenstisch. Mit einem Stoßgebet an den "Unfassbaren Schleicher" schlitterte der Friedwanger auf die Kiste zu. Unter seinen Füßen war das Eis ziemlich schmutzig, und auch der Sarg dreckverschmiert (dass es sich um einen solchen handelte, daran zweifelte der Mondschatten nicht mehr, schon allein aufgrund des zartsüßlichen, modrigen, erdigen Geruchs).
Einen Moment lang kämpfte Alrik mit seiner Totenangst und schlichtem Ekel. Schemenhafte Bilder flackerten vor seinem inneren Augen. Klauenhände, die sich durchs Erdreich wühlten. Von unten. Wandelnde, schlurfende Tote. Menschliche Leiber, in jeder Phase der Zersetzung, stöhnend, ächzend, wankend.
Der Baron schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerungen. Wahrlich, er hatte schon in Schlachten gekämpft, in denen Dutzende halb verwester Leichen auf ihn zu gestapft waren. Gerade deswegen wusste er normale Verstorbene zu schätzen. Wer einen Toten auf Eis legte, war vermutlich kein Totenbeschwörer.
Dennoch stellte er die Kerze ab und hielt sein Rapier griffbereit, als er den Sarg öffnete (immerhin stand da draußen das Unheiligtum einer Erzdämonin). Der schien aufgebrochen worden zu sein: von außen, was schon mal gegen einen allzu lebendigen Inhalt sprach.
Der Friedwanger klappte die Kiste auf. Der zarte Verwesungsgeruch war erträglich, ebenso der Anblick. Eine brünette, totenblasse Frau mit blutverkrusteter Stirnwunde, Allerweltstunika und Gugel. Kräftig, etwas untersetzt. Weder hübsch, noch hässlich. Einfach nur tot, und schon ziemlich steif und aufgedunsen. Die Augen hatte sie geschlossen, der Mund war nur leicht geöffnet. Die Tote wirkte irgendwie überrascht, das war alles. Lange war sie noch nicht verblichen, höchstens ein paar Tage. Die paar welken Blumen, die man ihr in die geschwollenen Hände gedrückt hatte, waren noch als Gänseblümchen zu erkennen.
Der Abscheu, den er empfunden hatte, wich Mitleid. Alrik war alles andere als ein Moralist - aber die Störung der Totenruhe war nun wahrlich kein Kavaliersdelikt. Der Geweihte schlug das Boronsrad. Natürlich, dass da oben waren Leichendiebe, die Doctor Alfengrund Nachschub geliefert hatten.
"Alrik, das solltest du dir ansehen" hörte er Hesindians Stimme aus der Gruft. Der Baron war froh, den Sargdeckel wieder schließen zu dürfen. Vorsichtig verließ er die eisige, rutschige Grabkammer.
Rovik kam gerade aus dem Tunnel zurück. "Führt rüber in die Scheune" sagte der Zwerg und klang etwas enttäuscht
"Schaut euch das an!"
Der Magier hatte den großen Bauernschrank geöffnet und gab den Blick auf den Inhalt frei. Eine Gestalt kauerte im Schrankinneren, nicht unähnlich den Präparaten in den Regalen. Allerdings schwamm sie nicht in Gebrannten, sondern duftete zart nach Honig. Nein, eigentlich nach Wachs.
Die Frauenmumie mit den Überresten schwarzer Zöpfe saß in einer Art Meditationshaltung da, im Schneidersitz, und war schon ziemlich verschrumpelt. Der Kopf war kahl, das gelbliche Gesicht eingefallen, ihr Gewand zerschlissen und verwittert. Es schien mal eine bläuliche Färbung gehabt zu haben. In den Händen hielt sie ein rötliches Steinchen, dass an einer grauen Lederschnur hing, die um die klauenähnlichen, verdorrten Finger gewickelt war. Ein Stück der Nase war abgebrochen.
"Bei der Süßen scheint der Honigmond schon etwas länger vorüber zu sein", hörte Alrik sich sagen. Vorsichtshalber legte er die Hand auf das Rapier. Aber auch diese Verstorbene wirkte völlig friedlich - abgesehen davon, dass sie schon weitaus länger das Zeitliche gesegnet zu haben schien als ihre Nachbarin in der Kiste.
"Eine norbardische Zibilja", flüsterte Hesindian, durchaus fasziniert. "Vielleicht sogar eine alte Alhanierin. Die haben in der Zeit vor Bosparans Fall auch am Ochsenwasser gelebt. Erstaunlich gut erhalten...nur die Nase ist ein bisschen lädiert."
"Das Leichengeschnibbel verstehe ich ja noch irgendwie. Aber was will ein Medicus mit einer...einer kandierten Norbardin im Schrank?" Alrik schüttelte den Kopf, während Rovik große Augen machte.
"Eine Wachsmumie...die Norbarden konservieren so ihre Toten, wenn die Sippe auf Wanderschaft ist. Und keine Möglichkeit hat, sie in einem Hügelgrab beizusetzen. Wir sollten ein bisschen aufpassen: Al´Hani-Mumien haben manchmal ein Eigenleben. Bislang war der Schrank abgesperrt."
"Die soll nur mal zucken" brummte der Zwerg und klopfte auf seine Axt.
"Drüben liegt noch eine Tote. Aber die sieht etwas frischer aus. Sicher, dass die Norbarden die gute Frau hier in Honig eingelegt haben...und nicht unser feiner Doctor mit seiner Vorliebe für Bienen?"
"Wie du schon sagtest. Diese Mumie muss Jahrhunderte alt sein, oder noch älter. Vielleicht wollte Korwid an ihr alhanische Konservierungstechniken studieren. Oder sie zu Mumia Vera pulverisieren...In seinem Peraineeifer ist er zuletzt jedenfalls ziemlich weit gegangen. Gelehrte wie er sind die klassischen Kandidaten für erzdämonische Einflüsterungen..."
"Mumia Vera?"
"Mumienpulver...hilft angeblich gegen alles Mögliche. Wegen den magischen Ingredienzen, mit denen die alten Tulamiden ihre Mumien...naja...haltbar gemacht haben. Was Satinavs Hörnern widersteht, verzögert auch die Alterung der Lebenden."
"Da bevorzuge ich doch lieber Gallyser Ogermeth."
Ein greller Aufschrei von oben ließ das Trio zusammenzucken: "Haldana! Um Firuns Willen!"
Das war Jodokus.
"Ah, endlich bist Du wach"
Haldana zwinkerte und erahnte eine schemenhafte Gestalt neben sich. Natürlich, der Schwarzbart hatte sie niedergeschlagen, und sie erwachte erst jetzt aus ihrer Ohnmacht. Sie hatte wirklich seltsame Halluzinationen gehabt.
Merkwürdig nur, dass sie stand. Neben Nasdja oder Sybilla, die ziemlich klein und untersetzt war, wie sie nun bemerkte.
Entsetzt starrte sie auf ihren Körper, der bleich und regungslos auf dem Boden lag, wie schlafend. Oder tot.
Marb. Das klang schon nach Marbo.
Sie starrte auf ihre Hände, die irgendwie...unstofflich wirkten. Zart und durchscheinend.
"Entschuldige, Kindchen, aber das erleichtert unsere Verständigung ungemein", plauderte die "Wachsfrau" los, mit angenehmer, aber irgendwie seltsamer Stimme. Sprach sie wirklich? Auf merkwürdige Weise konnte Haldana keine Worte, geschweige denn Sprache, wahrnehmen - und verstand doch, was "ihre Großmutter" von ihr wollte.
Sie fühlte sich leicht und luftig, während die Welt um sie herum merkwürdig entrückt wirkte.
Das Summen und Brummen der Bienen war intensiver als zuletzt, fast schon eine Brücke in die Welt der Lebenden. Alles um sie herum wirkte grau, fahl, schemenhaft, unfassbar, in eine Art ewiges Zwielicht getaucht.
"Bin ich tot?" fragte sie in Richtung ihrer Begleiterin. Ihr momentanes Dasein fühlte sich unwirklich an, aber keinesfalls unangenehm. Sie war wie berauscht, schlafwandelnd oder in einem Traum gefangen. Sumus Schwere war vollkommen von ihr abgefallen. Da war nur eine Ahnung, dass es irgendwo um sie herum noch etwas Anderes gab. Eine noch leichtere, hellere, unbeschwertere Welt, die ihr einstweilen verwehrt war.
"Bin ich tot?" wiederholte sie ihre Frage, mit irritiertem Blick auf die leere Hülle, die ihr Körper sein sollte.
Da war noch etwas in der Nähe. Etwas ungemein Beunruhigendes, Alptraumhaftes, was sie nicht wahrhaben wollte. Geschweige denn sehen.
"Tot? Nein. Jedenfalls nicht besonders". Die Frau winkte ab. "Im Vergleich zu den beiden da."
Tatsächlich, dort drüben standen Schwarzbart und Mia, und gestikulierten wild herum.
"Tot, ich bin tot" rief der Gassenstrolch und raufte sich die immateriellen Haare, mit Blick auf seine Leiche.
"Das Miststück hat mich umgebracht. Einfach abgestochen..wie ein Tier. Das war kein rondrianischer Kampf. Stein gegen Schwert...pfui, wie unfair."
"Ich muss wieder an die Stadtmauer" sagte Mia, die kräftigen Arme in die Seite gestemmt. "Ich bin ja wohl nicht gestorben. Keine Leiche. Also nicht tot. Ganz einfach."
"Moment, moment", sagte Haldana. "Da komme ich jetzt nicht so ganz mit. Warum hat sich Mia vorhin mit dir auf Tulamidisch unterhalten, wenn sie doch...marb ist? Während wir uns auch so verstehen..."
"Alhanisch. Das war Alhanisch" sagte Nasdja. "Nun. Der Grund warst Du. Für einen Geist ist es ein bisschen schwer, sich gleichzeitig mit einer Geisterseherin und einem anderen Geist zu unterhalten. Das stört den Einklang der Seelen. Deswegen musste ich dich zu uns auf die andere Seite holen. Um ehrlich zu sein: Ich habe einst auch eure Sprache gesprochen. Nur wollte ich erst einmal zuhören."
"Moment. Ich verstehe gerade nur Beilunker Reiter-Station. Bin ich gerade gestorben? Ich meine...warum sollte ich gestorben sein? Vor Schreck ganz bestimmt nicht."
In diesem Moment hatte der Schwarzbärtige sie entdeckt. "Hervorragend, ich habe mich gerächt...wenn ich schon in die Niederhöllen fahre, dann wenigstens nicht allein...Haha...das Miststück habe ich wenigstens noch mitgenommen."
"Halt einfach den Mund!" Nasdja hob ihr Pendel und ließ es kreiseln. Das schien den Wüterich irgendwie zu beeindrucken. Zumindest war er nun wirklich still.
"Das heißt, wir beide sind gar nicht tot, Haldana und ich?" Mia begann freudig zu lächeln. "Wusste ich es doch."
Nasdja seufzte. "Ich weiß nicht, was dein Eindruck von Geistern ist, Haldana… aber auf dieser Seite sind sie noch schrecklicher."
"Wer bist du?"
"Nasdja Persanzeff. Eine norbardische Wissende. Bei meinem Volk nennt man unsereins Zibiljas."
"Ah" sagte Haldana, ohne wirklich zu verstehen.
"Eine Zauberin. Ich bin es gewohnt, mich ohne diesen lästigen Ballast da fortzubewegen" Sie wies auf die toten Körper. "Das war ich schon zu Lebzeiten. Ich muss sagen, du bist erstaunlich gefasst. Andere reagieren auf die... Trennung anders. Wahrlich, du bist eine würdige Enkelin. Naja, Urenkelin...Ururur...ach, vergiss es...Zeit wird gemeinhin überschätzt." Die Norbardin winkte ab. "Der Fluss der Zeit ist ein ewiger Kreis, weißt Du, keine Linie, die irgendwann abbricht. Die meisten Sterblichen verstehen das nicht."
"Ich bin...Moment... ich verstehe schon das andere nicht. Das mit der Ururur… Ich soll eine Nachkommin von dir sein?"
Die Zibilja tippte auf ihren kahlen Schädel. "Höre in der Welt der Lebenden ruhig auf die Stimme deines Verstandes. Aber niemals zu sehr. Wenn du auf das Flüstern deines Blutes lauscht, was hörst du da? Du hast ein Gespür für Bienen, die heiligen Tiere der Mokoscha. Du trägst dein Haar wie ich. Naja, fast. Und du liebst Musik, so wie wir den Klang der Tamburka lieben, der Darabutschka und des Scharanko. Und du reist mit einem Jäger umher, in dessen Adern nivesisches Blut fließt. Wahrlich, dir hätte ein Platz in unserem Seffer Manech gebührt."
"Pfefferwas?"
"Unser Sippenbuch."
"Warum sehe ich plötzlich Gespenster?"
"Die Herrin Hesinde möge mir verzeihen. Aber manchmal hindert uns ein Übermaß an Klugheit und Vernunft daran, all die Dinge um uns herum so zu sehen, wie sie wirklich sind. Zumindest mehr zu sehen als andere. Manchmal braucht es einen kleinen Schlag auf den Kopf, um hinter den Vorhang des Verstandes zu blicken. Oder ein paar kleine Bienenstiche, je nachdem..."
"Irgendwie ist das für mich alles ein bisschen zu viel. Ich würde gerne wieder in meinen Körper zurückkehren, bevor mich die anderen für tot halten."
"Ach, halb so wild. Ich war damals auch völlig durcheinander, als sich meine Vorfahrin offenbart hat. Unsere gemeinsame Ahnin. Im Traum war das, als wir im Sommerlager am Ysli-See schliefen. Eine Barnfarnja, die in einem Hügelgrab zu Füßen der Berge beigesetzt ist, die du deine Heimat nennst. Ihr letzte Ruhestätte wurde geschändet, von Grabräubern. Sie haben eine Schriftrolle gestohlen, mit uraltem Wissen, das keinem Unberufenen in die Hände fallen darf. Mokoscha, unsere Göttin der Bienen, hat eine dunkle Schwester, die Angst, Sieche und Plage über die Menschen bringt. Du hast ihre Macht bereits kennengelernt."
Nasdja deutete in Richtung der Felder, dort, wo der unheilige Schrein stand. Nun wusste sie, dass von dort das Gefühl ständiger Beunruhigung ausging, dessen Quelle sie beharrlich ignoriert hatte.
Tatsächlich schien in dem Häuschen etwas Abgründiges zu lauern. Ein finsterer, giftiger, fauliger Schatten, den nur die Seele wahrnehmen konnte, nicht das Auge. Ein kaltheißer Mahlstrom, der endgültig aus der Welt führte. Dahinter war nur noch Wispern, Flüstern, Rascheln. Das Scharren Myriaden zarter Füßchen.
Haldana fürchtete sich - eine körperlose, aber umso tiefere Furcht. Irgendeine unsichtbare Kraft schien an ihr zu ziehen, zu zerren, sie einsaugen zu wollen, hinein in ein wimmelndes, beißendes, stechendes Nest.
Tatsächlich, Schwarzbart war schon dabei, langsam, aber stetig auf das Unheiligtum zuzutreiben, mit wehenden Geisterhaaren.
"Was, zum Namenlosen...? He, aufhören..."
"Seine Seele ist verderbter, als ich dachte" sagte Nasdja und klang traurig.
Der Bärtige begann zu schreien, zu heulen und zu kreischen. Dann verwirbelte er zu einer Art grauem Rauch - und wehte auf den Mahlstrom zu. Wenig später war er im Schlund verschwunden. Wurde einfach vom Nest verschluckt. Von einem unsichtbaren Schwarm eingehüllt und zerfressen.
Mia blickte entsetzt, und stemmte sich dem Grauen entgegen.
"Merkst du nun, dass es schlimmere Dinge gibt als den Tod, Mia? Weitaus schlimmere Dinge?" Nasdja winkte den anderen Geist zu sich heran. "Komm näher. In meiner Nähe bist du sicherer. Aber dein Leichnam sollte endlich beerdigt werden."
Die Maurerin huschte verstört näher. "Was ist das?"
"Der Weg in den Abgrund. Mokoschas Schwester hat uns entdeckt. Noch ist ihre Macht gering, selbst hier, in dieser Zwischenwelt, aber sie wächst stetig. Ja, ich glaube, ich sollte dich jetzt wirklich in deinen Körper zurückschicken, Haldana." Die Zibilja stellte sich zwischen die Sichlerin, Mia und dem Unheiligtum. Sofort ließ der unheilvolle Sog nach.
"Lange Zeit bin ich umhergewandert, auf der Suche nach der Schriftrolle. Eine andere Zeit, eine andere Welt und doch bleibt sie immer die gleiche. Denn die Zeit ist ein großer Kreis. Viele Winter ist das nun her, mehr als ich zählen kann. Irgendwann habe ich das verborgene Wissen gefunden und gehütet. Ich hätte das Pergament sofort verbrennen sollen. Damals erschien es mir fast schon heilig. Viele Jahre habe ich in der Sichel gelebt, mit Gemahl, Kindern - und Bienen.
Aber dann kam es, wie es immer geschieht, wenn große Furcht auf noch größere Dummheit trifft. Dein Volk hat mich vergiftet, weil es meine Zaubermacht gefürchtet hat. Vergiftet mit Honig. Hexe, so haben sie mich genannt. Kahle Hexe und Praiosfrevlerin aus dem finsteren Ysilien. Als ob nicht auch die Schwarzsichler Alhanier unter ihren Vorfahren gehabt hätten. Und doch gab es im Sichelvolk Menschen, die ihr Herz nicht verschlossen haben. Dazu gehörte auch Brûn, dein...nun ja, nennen wir ihn ruhig Großvater. Auch er war ein überaus gelehriger Schüler. Ein Mann muss eine Frau wohl von ganzen Herzen lieben, um ihre starre Leiche in Wachs zu hüllen, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Er hat das Ritual genauso ausgeführt, wie ich es ihm gelehrt habe. Nur meinen Körper zurück zu bringen, zu meiner Sippe, das vermochte er nicht. Es war die Zeit, als die letzten Norbarden aus den Wäldern Taubriens vertrieben worden sind, von den Eiferern des Praios, die damals in Gareth herrschten. Vertrieben worden sind, erschlagen oder verbrannt. "
Haldana schluckte. Diese Frau war ihre direkte Vorfahrin? Nun, eine gewisse Ähnlichkeit war da, auch ohne rasierte Haare. Zumindest das Gefühl von Vertrautheit. Sonst hätte sie dieses wahrliche gespenstische Zusammentreffen nicht so gelassen hingenommen. Wann hatte...Nasdja gelebt? Sie wusste wenig von Geschichte, aber von den Priesterkaisern hatte sie bereits gehört. Die Ereignisse mussten schon viele Hundert Jahre her sein.
"Erst wollten sie meine Mumie ins Feuer werfen. Aber dann hatten sie Angst, dass meine Zauberkräfte zurückkehren würden, sobald das Wachs schmelzen würde. Diese Narren. Also haben sie mich in irgendeinem Verlies eingemauert, mitsamt der Schriftrolle, deren Siegel und Zauberzeichen sie fast noch mehr gefürchtet haben als mich. Ich kann mich kaum noch an die Zeit in der endlosen Finsternis erinnern. Nur manchmal vermochte ich ein bisschen umher zu wandeln. Irgendwann fiel wieder Licht herein. Es war Sisa, die das Mauerwerk durchbrochen hat, mit ihren Helfern."
"Sisa die Schwarzhexe?"
"Ja, Sisa Brundel. Ich glaube, sie ist ebenfalls eine Nachfahrin von mir. Für dich ist wäre sie dann eine Art Schwester." Die Zibilja lächelte und kratzte sich die Nase. "Ich weiß nicht, warum Sisa mich gesucht hat, noch weniger, wie sie mich gefunden hat. Aber nun gut, wir Norbarden haben Sinn für Familiengeschichte. Unsere Nachkommen dann wohl auch. Einen Sinn für norbardische Traditionen hat Sisa nicht. Ich kann mich nur schemenhaft erinnern, was danach passiert ist. Die Schriftrolle hat sie an sich genommen, und mich wohl verkauft, an diesen verrückten Schamanen mit der Storchenmaske. Ich glaube, das ist alles noch gar nicht so lange her. Aber Zeit..."
"Ist ein Kreis, keine Linie, ich verstehe" sagte Haldana. "Was steht in dieser Schriftrolle?"
Sie blickte irritiert um sich. Irgendwie schien die Welt gerade noch dunkler zu werden. Immer neue Schatten krochen heran. Als würden Gewitterwolken aufziehen und sich vor die Sonne schieben (die Sonne, wo war sie überhaupt? Da war nur dieses ewige, matte Zwielicht. Langsam bekam sie Angst. Irgendwie hatte sie auch keinen Boden unter den Füßen mehr).
"Du solltest nun rasch in deinen Leib zurückkehren. Sonst verlierst du dich bei uns. Bring meine Überreste in ein würdiges Norbardengrab. Vor allem: Finde und vernichte diese Schriftrolle. Ich habe verstanden, dass sich nicht machtvolles Wissen darin verbirgt, und keine höhere Erkenntnis. Sondern nur Wahnsinn, Elend und Schrecken. Die beiden Schwestern sind ungleich. Leider."
"Was steht darin geschrieben?"
Nasdja seufzte. Sie schien sich von ihr zu entfernen, immer weiter hinein in die Schattenwelt, ebenso wie die völlig eingeschüchterte Mia.
"Die Grüne Wolke" hauchte die Zibilja.
Irgendeine Urgewalt packte Haldana, ohne jede Vorwarnung. Sie schrie, voller Furcht, sie könne ebenfalls in das sieche Nest gezogen werden, hinab in den wimmelnden Abgrund.
HALDAAANAAAA! UM FIRUUUNS WILLEN!
Es war die Stimme von Jodokus. Eine Biene summte an ihr vorbei. Eine Biene?
Noch ein wenig verschwommen sah Haldana, was sich rings um Sie abspielte. Einige Bienen schwirrten noch umher, beruhigten sich aber nach und nach wieder.
„Firun gedankt, Haldana“ stammelte Jodokus. „Ich dachte schon du seist tot. Du bist voller Blut“ Erst jetzt blickte die Bardin an sich herab. Tatsächlich war ihre Bluse und Hose mit Blut regelrecht vollgesogen.
„Das isch vom Schwarzbart…“ hauchte Haldana matt. „Ich hab nichts abb´kommen… oder doch?“ Stöhnend fasste sie sich mit der Linken an die blutverschorfte Beule an ihrem Kopf. Fühlte sich seltsam an. So dick, als wäre ein Geschwür aus dem Schädel gewachsen.
„Du musst einen mächtigen Schlag abbekommen haben“ erläuterte Jodokus.
„Wie lang` lieg` ich hier?“
„Oh, sicher zwei Stunden. Ich habe Rovik losgeschickt mit einer Nachricht nach Rommilys. Die Büttel sollen die Gefangenen abholen und weiter verhören… ach, das weißt du noch gar nicht. Dieser angebliche Heiler hat sich hier als Leichenfledderer betätigt. Dieser Schwarzbart und seine Kumpane haben ihm sein, ähm, Anschauungsmaterial vom Boronanger beschafft. Im Keller hat Doktor Korwid sein Labor… gespenstisch, wie es da aussieht. Eingewachste Leichen. Ekelhaft.“
Eingewachste Leichen… dachte Haldana und erinnerte sich an Nasdjas Worte. Seltsam, was diese geisterhafte Norbardin zu ihr gesagt hatte, erinnerte sie an die Abschiedsworte ihrer Mutter, als sie sie auf die Reise geschickt hatte. „Du musst in die Fremde ziehen, um die Heimat zu finden“ hatte ihre Mutter, nach der sie auch ihren Namen Haldana bekommen hatte, gesagt. Begann sich hier, das Schicksal zu erfüllen?
„Mutt`r…“ begann Haldana, stockte aber plötzlich. Das war nichts, worüber sie mit dem Stadtadeligen reden konnte. „Tuvok?“ fragte Haldana stattdessen.
„Der Jäger, ja. Der ist wieder wohlauf. Hat ein paar Bisswunden von den Hunden davongetragen, aber ich schätze der Bursche ist zäh. Alrik hat ihn verbunden. Mach Dir mal keine Sorgen, das wird schon.“
Haldana fühlte sich eher beunruhigt, sie hatte das Gefühl, man wolle ihr einen vielleicht tatsächlich kritischeren Zustand des Gefährten verschweigen. Haldana seufzte. Jodokus reichte ihr hilfsbereit seinen Wasserschlauch. Ohne wirklich Durst zu haben, trank Haldana.
„Was ist mit Deiner Mutter?“ Jodokus versuchte, sich einfühlsam zu zeigen.
„Hmm“ brummte die Bardin. Jodokus wusste nicht, ob Haldana erschöpft oder schlicht einsilbig war, und ob er vielleicht doch besser nicht nach der Mutter gefragt hätte. „Als ich weg`gang`n bi vo daheim, ich hab´ `s G´fühl, meine Mutt`r het gwisst, was uf mi zukomm`n werd… Hier mit diesem Unheiligtum und… du würdest es nicht verstehen. Du bist nicht aus der Sichel.“ Haldana mühte sich, wieder Hochgarethi zu sprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass der Stadtadelige den Dialekt nicht ganz verstand.
„Ich mag in Rommilys wohnen, aber ich komme aus Gallys“ warf Jodokus ein. „Mein Onkel Veneficus wird nicht umsonst das lebende Geschichtsbuch der Schwarzen Sichel genannt.“
Haldana nickte. Von dem alten Gallyser Magus und seinem profunden Wissen über die Geschichten und Mythen aus längst vergangenen Zeiten hatte sie gehört.
„Na gut“ begann Haldana. „Hat dein Oheim dir die Geschichte der norbardischen Seherin Nasdja erzählt?“ fragte sie, mit einer Mischung aus der Erwartung, Jodokus seine Unwissenheit vorzuführen und der vagen Hoffnung, doch etwas zu erfahren.
„Nein… Die Seherin Nasdja sagt mir jetzt nichts. Was nicht heißen muss, dass Veneficus nichts darüber wüsste.“
„Dann kannst du es auch nicht verstehen.“ Haldana begann, das Erlebte als Geschichte zu erzählen. Dem nüchternen Städter zu erzählen, sie habe mit Toten gesprochen käme dem Versuch gleich, sich selbst als reif für das Noionitenkloster darzustellen.
„Nasdja war eine Seherin der Norbarden, ich weiß nicht vor wie vielen Jahrhunderten. Vielleicht in der Zeit der Priesterkaiser, vielleicht noch früher. Vielleicht ist es auch eine Vorfahrin meiner Familie, aber das ist nicht gewiss. Manche sagen es, aber das mag auch nur eine Geschichte sein. Wie vieles, was nur aus Überlieferung beruht. Jedenfalls… man sagt, dass Nasdja zwei Töchter hatte. Die zweite, von der sagt man, dass sie sich finsteren Mächten verschrieben hatte. Auch diese hatte Nachfahren, die, so sagt man, noch bis heute. Nun… irgendwie hat mich die Schwarze Hexe, diese Sisa Brundel, von der Baron Alrik erzählt hat, daran erinnert. Ich musste an die Geschichte denken, als ich von Sisa Brundel gehört hatte. Kann aber auch Einbildung sein. Es klang halt nur ähnlich wie diese alte Geschichte. Nun… entweder spielt mir die Fantasie einen Streich, oder die Schwarze Hexe und ich sind tatsächlich beide Nachfahren der alten Seherin Nasdja. Dann wäre es kein Zufall, sondern Schicksal.“
Jodokus nickte. „Nun ja, die Wege der Götter sind unergründlich, wie man so schön sagt. Die Wege der Zwölf ebenso wie die Wege der Alten, wie mein Großonkel hinzufügen würde.“ Der Stadtadelige fügte den letzten Satz bewusst hinzu, da er nicht wusste, ob Haldana insgeheim - wie wohl auch sein Onkel Veneficus - den alten Göttern anhing. Er wusste, dass die Sichler vielerorts nur an der Oberfläche den Zwölfen anhingen, dies aber mit vielen alten rituellen und kultischen Glaubensinhalten verknüpften, was aber niemand offen sagte, und vielleicht auch nicht jeder wusste, der nur aus Tradition an derlei kultischen Handlungen teilnahm. Nicht jedenfalls seit der Herrschaft der Priesterkaiser.
„Aber eine schöne Geschichte. Nun, ob es tatsächlich eine solche Verbindung zwischen Dir und der Schwarzen Hexe gibt, werden wir vielleicht nie erfahren.“
„Was sagtest du vorhin? Eingewachste Leichen?“
„Ja. Zwei Frauenleichen. Eine davon mumifiziert. Die andere offenbar erst jüngst gestorben. “
„Wie sah sie aus?“
Jodokus verstand nicht recht, was Haldana an den Verstorbenen so interessierte. „Irgendwie norbardisch…“ stammelte er. Warum gerade jetzt Haldana die Geschichte von einer norbardischen Seherin erzählte, wenn zeitgleich eine norbardische mumifizierte Leiche gefunden wurde. Jodokus verstand nicht, was vor sich ging. Aber es schien wichtig zu sein. Auch wenn er sich keinen Reim darauf machen konnte, wieso Haldana gerade jetzt von dieser Geschichte sprach. Die Leiche der Norbardin hatte sie ja nicht gesehen. Das ganze kam ihm seltsam vor.
Das Klappern von Hufen auf dem steinigen Karrenweg ließ Haldana aufhorchen. Auch Jodokus sah auf. Offenbar kamen die Büttel aus Rommilys, die Rovik verständigt hatte.
Erst jetzt bemerkte Haldana, dass Jodokus die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte. Hastig zog sie sie zurück und stand auf.
***
Mit elegantem Schwung beförderte der Büttel die Fackel durch die Tür des Bauernhauses. Einen Moment lang tat sich nichts. Nur ein einzelnes, rötliches Feuerauge blinzelte hinaus in die blauschwarze Nacht, die mittlerweile über Helbers Hof hereingebrochen war. Zarter Rauch stieg auf und verwehte.
Alrik glaubte für einen Moment, der Brand im Inneren wäre wieder erloschen, trotz des Reisigs, der Holzscheite, des Strohs und des Lampenöls aus den Vorräten von Doctor Korwid Alfengrund. Dann begann es wieder zu flackern und zu qualmen.
Zwei weitere, hell lodernde Fackeln folgten, die durch die geöffneten Fensterläden geworfen wurden. Rasch wuchs das Glimmen im Inneren an, zu einem machtvollen Glosen. Die ersten Feuerzungen loderten empor. Es rauchte und qualmte. Nach kurzer Zeit stand das Haupthaus in Vollbrand. Schnatternd und zeternd flatterten Amseln auf, die in der Nähe geschlafen hatten. Irgendwo in der Ferne belferten Hofhunde.
Langsam wurde es heiß, und fast schon taghell. Funken schwirrten umher, wie Glühwürmchen. Hesindian wich zurück, hob die Hand, um seine Augen vor dem Feuerschein zu beschützen und hustete nervös. Die Szene kam ihm allzu zu bekannt vor: mit dem Unterschied, dass er vor kurzem noch im Inneren eines solchen Glutofens gestanden hate.
Alrik paffte scheinbar unbewegt seine Fuchskopf-Pfeife. "Scheint, der Feuerteufel geht wieder um, in Rommilys"
"In Rommilys und um Rommilys und rund um Rommilys herum". Stockend murmelte der weißhaarige Magier den alten Zungenbrecher.
Der Baron verwedelte den Tabakrauch, und blickte wieder zu den Brandstiftern. Die Stadtwache, so hatte er das Dutzend Frauen und Männer für sich selbst genannt. Aber eigentlich sahen sie aus, wie sich Klein-Alrik Spione von KGIA oder FDEA vorstellte. In ihren schlichten, graubraunen Kapuzenmänteln erinnerten sie fast ein wenig an einen Mönchsorden. Eine strengblickende, schlanke, schon etwas ältere Frau in Räuberzivil schien ihre Anführerin zu sein. Ihre Haare hatte sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, die Körperhaltung war kerzengerade. Sie unterhielt sich leise mit Jodokus.
Die berittene Truppe, die aus der Stadt herbeigeeilt war, durfte man mit Fug und Recht als Putztruppe bezeichnen. Ein Teil von ihnen hatte die Gefangenen und die Beweismittel mitgenommen, außerdem die beiden Toten auf dem Pferdefuhrwerk fortgeschafft. Nun war "Thorwalsches Aufräumen" angesagt.
Nur die Wachsmumie war ihnen entgangen: Haldana hatte partout darauf bestanden, sie in einer Truhe zu verstecken - Phex wusste, wohin sie die Kiste geschleppt hatte, zusammen mit Rovik. Wahrscheinlich in den Geheimgang unter der Scheune. Auch die Bienenstöcke durfte niemand antasten.
Nach ihrem Schlag auf den Kopf war die Sichlerin immer noch völlig durcheinander. Die Wachsmumie habe ein norbardisches Begräbnis verdient, behauptete sie steif und fest. Wie auch immer sie diese Trauerfeier bewerkstelligen wollte.
Der Mondschatten wies mit der Pfeife auf den jungen Patrizier und die fremde Frau: "Jodokus scheint unsere geheimnisvolle Unbekannte zu kennen." Der Friedwanger wich nun ebenfalls vor dem Hitzeschwall zurück. "Vielleicht seine Zofe oder Kindermädchen" sagte er, mit schiefem Grinsen. "So respektvoll, wie er mit ihr spricht."
"Das ist Halike Rattel", antworte der Graumagier. "Die stellvertretende Spektabilität des Informations-Instituts."
"Oha. Du kennst sie auch?"
"Vom Namen her. Ich habe sie kurz auf dem Flur getroffen, in der Akademie. "
"Und nun taucht sie hier auf, zu nachtschlafener Zeit? Ohne Stab, ohne Robe, wie eine Borbaradianerin? Widerspricht das nicht sämtlichen Magiergesetzen?"
"Pssst, nicht so laut" Der Hofmagier schien ernsthaft eingeschüchtert zu sein. "Die Informationsmagier sind nunmal ...diskret unterwegs, im Dienst des Reiches".
"Ich dachte, die gehören zu den rundherum Guten...den Weißen...den praiosgefälligen Magiern." Leichter Spott schwang in der Stimme des Friedwangers mit, während er paffte und einen einzelnen Funken von seinem Mantel wischte, der vom brennenden Haus heran geweht war
"Selbst Praios verbirgt sich vor unwürdigen Blicken, hinter Wolken oder blendendem Licht"
"Sagt Hesindian von Orweiler?"
"Ist ein Zitat von Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod. Glaube ich..."
"Mein ehemaliger Wehrheimer Graf. Manchmal vermisse ich ihn. Ebenso wie das schöne Wehrheim selbst. Das waren noch Zeiten… Der Götterfürst war für Dexter also nur ein Blender? Soso..."
Eifrig verwedelte Alrik die lästerlichen Worte vor seinem Mund, wie es der Aberglaube verlangte. Bevor sie gen Alveran aufzusteigen vermochten.
Dabei hatte er nichts gegen Blender und Hochstapler, rein gar nichts.
Halike Rattel betrachtete ihr Zerstörungswerk, die Hände hinter dem Rücken, wie eine Feldherrin auf dem Kommandantenhügel.
"Helbers Hof wird von einer Räuberbande niedergebrannt, heute Nacht, schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre...wie überaus bedauerlich..." sagte sie.
"Vermutlich wird Doctor Alfengrund nach dieser Schreckensnacht verschwunden bleiben. Für immer. Womöglich ist er im Feuer verbrannt, vielleicht einfach nur weitergezogen. Wenn Ihr versteht, was ich meine?"
Die Weißmagierin wandte sich wieder dem jungen Baernfarn zu.
"Ich dachte eigentlich, Ihr wolltet Euch geradewegs auf die Suche begeben, nach ihm und dem Hexer von Rommilys? Ich hätte mich derweil schon um Korwids Rattennest gekümmert..."
"Nun, wie es scheint, sind wir gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen" Jodokus versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. "Immerhin haben wir eine ganze Bande von Leichendieben dingfest gemacht."
"Wir sind das Informations-Institut, nicht die Informations-Agentur", sagte die Magistra Magna. "In den letzten Götterläufen sind unsere Möglichkeiten leider begrenzt. In der Stadt sind wir dabei, die Storchenschwingen zu überprüfen. Ein paar übereifrige Spitalknechte und -Mägde, Feldscher und Peraine-Akoluthen, mehr nicht. Fanatische Peraineanhänger, die sich regelmäßig zur Leichenschau getroffen haben, an geheimen Orten, wie diesem hier. Nicht gerade göttergefällig, aber auch kein Kapitalverbrechen. Hinweise auf Dämonenbündelei oder Verrat an Alveran gibt es bislang keine. Mir wurde schon nahegelegt, meine Untersuchung nicht über Gebühr auszudehnen. Vor allem nicht über die Stadtgrenzen hinaus. Bei Hofe scheinen sie zu glauben, dass wir vom Institut nur Vorwände suchen, um uns in die Geschicke der Mark einzumischen oder gleich eine neue KGIA aufzubauen." Halike verkniff den Mund. Zumindest letzteres hätte sie vermutlich gerne in die Wege geleitet.
"Am Greifenplatz würden sie am liebsten die Bannstrahler von der Leine lassen. Das Wort Inquisition ist auch schon gefallen. Sie fragen bereits nach Raberto und dieser Maraske, oben im Palastkerker. Das kann gefährlich werden, sobald der Name Eures Braumeisters fällt. Wenn sich Geißler auf Hexenjagd begeben, bleibt es meist nicht bei einer Anklage. So wie es jetzt aussieht, wird die Auslieferung noch ein paar Tage aufgeschoben. Immerhin wurde der Andergaster bei seiner Verhaftung verwundet. Allerdings legt unser Institut Wert auf ein gutes Verhältnis zum Orden vom Bannstrahl..."
"Wolltet Ihr das Diebespärchen nicht in Hôt-Alem loswerden?" Jodokus schluckte. "Das hört sich eher nach dem Feuer eines Scheiterhaufens an, als nach der Hitze des Tiefen Südens..."
"Wenn es nur das wäre. Mein Gesprächspartner im Orden hat schon Andeutungen gemacht. Nun, wie seltsam es doch ist, wenn..." Halike hüstelte verlegen, was nicht nur am Rauch des brennenden Bauernhauses lag. "Wie merkwürdig es doch ist, wenn eine, öhött, ältere Dame wie Eure Frau Gemahlin mit einem derart jungen Ehemann verheiratet ist, wie Ihr es seid. Warum Euch Eure Gemahlin derart verzaubern würde.... verzaubern, das war exakt das Wort."
Einen Moment lang war Jodokus ehrlich empört. "Was soll das jetzt wieder heißen? Ich liebe Irmelinde von Herzen. Wir wurden vor Travias Altar getraut und sind rechtmäßig Mann und Frau... überhaupt, wir beide sind in dieser Angelegenheit ja wohl Opfer, nicht Täter..."
"Gemach, Gemach" Halike hob die Hand. "Gehen wir ein Stück? Am besten dort entlang."
Die Magierin wies den Weg, und Jodokus trottete schicksalsergeben hinterher.
"Seid unbesorgt", fuhr die Magierin fort. "Wir leben nicht mehr in der Zeit der Priesterkaiser. Wo ein bloßes Gerücht genügt hat, um rechtschaffene Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen."
Und ihr Vermögen in die Kasse des Praiostempels, fügte der Händler in Gedanken hinzu.
"Seid gewiss, dass ich zu Eurem Gunsten gesprochen habe. Und einige Informationen noch zurückhalten werde. Schon meine `Drohung´ Raberto magisch heilen zu lassen, hat die Situation entspannt." Halike schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst. "Dennoch. Euer Ruf in Rommilys würde sicher Schaden nehmen, falls die Sache hochkocht. Das Beste wird sein, wenn Ihr selbst die wahren Übeltäter dingfest macht, mit Euren Gefährten. Oder gleich unschädlich. Damit hätten wir zwei Heshtots mit einem IGNISPHAERO ausgetrieben, wie man bei uns an der Akademie so schön sagt. Das Informationsinstitut setzt sich nicht den Verdacht aus, draußen in der Mark Reichsgroßgeheimrat spielen zu wollen. Ihr wiederum könnt den Praiosdienern beweisen, dass Ihr nichts mit den schwarzmagischen Umtrieben zu tun habt, im Gegenteil. So ist Thron und Altar in gleicher Weise gedient."
Jodokus nickte. Aus irgendeinem Grund schien er bei der gestrengen Halike ein Stein im Brett zu haben. Das konnte er spüren. Vielleicht lag es daran, dass die Magierin den Marsch der Tausend Oger hautnah miterlebt hatte. Es war kein Geheimnis, dass Baron Odilon Wildgrimm von Gallys, sein Großvater, heldenhaft gegen die Menschenfresser gekämpft hatte, an der Trollpforte. Womöglich hatte er sogar den Fährhof der Rattels vor den keulenschwingenden Ungeheuern gerettet. Irgendwie kam ihm die Geschichte bekannt vor.
Schon der Gedanke, Meister Krummbacher an die Inquisition auszuliefern, war ihm unangenehm. Der Rommilyser war in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen. Sicher. Aber Krummbacher war selbst erpresst worden, seine Familie befand sich immer noch in Gewalt des Medicus, und damit vermutlich auch des Hexers und dieser Sisa Brundel. Es würde ihm, seinem Dienstherren, nichts anderes übrig bleiben, als die Flucht nach vorne anzutreten. Und die Sache aufzuklären.
Sie gingen den Feldweg entlang auf das Unheiligtum zu, in das die "Gugelmänner" eifrig Reisig, Stroh und Brennholz schichteten, im Schein einiger Lampen, zu einem regelrechten Scheiterhaufen. Die Szene erinnerte tatsächlich an eine nächtliche Hexenverbrennung. Nur dass die Statue der Bienenkönigin in Flammen aufgehen sollte, keine Schadenszauberin aus Fleisch und Blut. In der Nähe schnaubten und stampften die Pferde. Es war ein gespenstisches, unwirkliches Schauspiel. Die Hitze des Feuers im Rücken und die Kühle der Nacht im Gesicht waren ein merkwürdiger Kontrast. Der junge Baernfarn schauerte.
"Ein paar Tage Vorsprung wird man Euch gewähren" sagte Halike. "Ach ja. Ich habe erfahren, dass vor kurzem die Flusshexe gesichtet worden ist, in Rommilys. Diese schwimmende Spielhölle. Offenbar ist sie doch nicht im Krieg verbrannt. Jedenfalls nicht vollständig. Sie hat vor ein paar Tagen im Hafen angelegt, mit einer Ladung maraskanischem Rum, Getreide und Gewürze. Wie es heißt, hat sie im Gegenzug ein paar Dutzend Fässer an Bord genommen."
"Kennt man den Inhalt?"
"Pechfässer. Aber sie waren allesamt leer. Das Schiff hat nach ein paar Stunden wieder abgelegt."
"Um demnächst Nachschub an Tlalucs Brodem in die Stadt zu bringen?"
"Nun, laut Hafenmeister ist sie mittlerweile in Perricum registriert. Papiere wären in Ordnung gewesen. Die Besatzung hätte aber schon sehr verwegen ausgesehen...Es gab Ärger in ner Hafenkneipe, wo sie Kaiser Valpos Entzücken gespielt haben."
"Valpos Entzücken?"
"Ihr seid Besitzer einer Brauerei, und kennt das Trinkspiel nicht?" Halike griff nach einer Fackel. "Man folgt dem Trinker auf seiner Rundreise durch die 13 alten Provinzen des Reiches, nach der Thronbesteigung. Von Albernia bis Maraskan. Für jede Provinz steht reihum ein Glas Schnaps auf dem Tablett. Jedesmal eine landestypische Spirituose. In Darpatien trinkt man Traviagünstchen."
Jodokus verzog das Gesicht. Traviagünstchen, das trüborange Zeug. Schmeckte mild, verursachte aber einen niederhöllischen Kater. Zumindest bei ihm war das der Fall gewesen. "Ihr seid wieder mal bestens informiert, für eine Magierin der Weißen Gilde..."
"Wie ich schon sagte, wir sind das Informationsinstitut - und mit sämtlichen Ränken des Bösen vertraut. Außerdem, ich war auch mal Elevin...Bei unseren Trinkspielen ging es aber doch etwas friedlicher zu. In der Kaschemme wurde ein Messer gezückt, gleich hinter den Nordmarken. Es war wohl die billige Variante des Spiels. Wie es heißt, gab es nur Trollzacker Birnengeist, in allen Provinzen. " Die Magierin warf die Fackel in den Schrein.
"Die Rauferei kommt uns aber gelegen. Der Messerstecher saß noch in der Arrestzelle, oben in der Hauptwache, und konnte befragt werden. Die Flusshexe gehört mittlerweile dem Handelshaus Warrlinger. Hat aber noch einen stillen Eigner, der sich in Rommilys um das Geschäft kümmert. Sie wird jetzt als Treidelschiff eingesetzt - darpatabwärts wird gesegelt, mit Mast. Flussaufwärts wird sie von Darpatbullen gezogen, den Leinpfad auf der Trollzacker Seite entlang. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches."
Jodokus nickte. Warrlinger, das war ein reiches, vor allem einflussreiches Perricumer Handelshaus, das in Khunchom am mächtigen Maraskankontor beteiligt war, zusammen mit Stoerrebrandt, Dhachmani und Gerbelstein. Das Handelshaus Romerzi machte ab und an Geschäfte mit ihnen. Die Warrlingers, oder besser gesagt ihre Mittelsmänner, wirkten auf ihn schon etwas hochnäsig, durchtrieben und rücksichtslos. "Wenn man mit Warrlinger verhandelt, stürzt am Ende der Rechenschieber um", hieß es bei seinen Kontoristen. So ein Flussschiff auf dem Darpat zählte im Maraskankontor sicher nur als kleiner Fisch, bei dem am Ende nur die Bilanzen interessierten.
"Nun, mit leeren Fässer den Darpat hinab zu fahren, das ist schon etwas ungewöhnlich", meinte Jodokus.
"Sie soll Pech aus den Trollzacken übernehmen, ein paar Meilen darpatabwärts. An der ersten Treidelstation hinter der Einmündung der Natter. Und die Ware dann nach Perricum bringen, für die Werften. Zum Kalfatern der Schiffe."
"Moment. Die Flusshexe will runter ans Meer?" Der Rommilyser wurde hellhörig. "In eine Hafenstadt? Mit den Pechfässern? Das heißt, womöglich wollen die Paktierer Tlalucs Brodem über ganz Aventurien verbreiten… und damit den Schrecken der Seuche?!!"
Halike sah versonnen zu, wie die Flammen des "Scheiterhaufens" züngelten und das Feuer langsam hochbrannte. "Nun, ein Handelsherr wie Baldo Warrlinger dürfte über jeden Verdacht erhaben sein. Ein echter Mäzen und Wohltäter, nach allem, was man so hört. Sicherlich kein Dämonenpaktierer, der halb Dere ins Chaos stürzen möchte. "
"Er muss davon ja nichts mitbekommen, in seiner noblen Villa am fernen Perlenmeer. Es genügt, wenn sein Miteigner in Rommilys die Entscheidungen trifft. An Bord einer Schivone oder Trireme würde Tlalucs Brodem eine unglaubliche Panik auslösen. Damit könnte man die halbe Perlenmeerflotte lahmlegen. Sagtet Ihr nicht, die Flusshexe hatte Rum an Bord? In einem Fass Offenbarung der Zwillinge würde das Zeug ebenfalls nicht auffallen."
"Sagt das mal einem stolzen Maraskaner des freien Shikanydad. Nun denn. Bislang ist das nichts weiter als Spekulation. Aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie Praiodane Werckenfels zu sagen pflegt. Man sollte der Sache nachgehen."
Jäh brüllten die Flammen auf, mit giftgrünem Glanz. Selbst die Magierin hob erschrocken den Arm, als das Innere des Unheiligtums entflammte. Eine Art Schreien und Kreischen war zu hören. Jodokus schlug hastig den Firunspfeil. Schwarzer Rauch stieg auf, verwirbelte, bildete bizarre Schatten. Dem Baernfarn standen die Haare zu Berge. Welche Mächte hatten sie hier geweckt?
Alrik und Hesindian waren der Magierin und dem Patrizier in einigen Schritt Abstand gefolgt.
Der Mondschatten hatte dennoch fast alles mit angehört, dank seines füchsischen Gehörs. Jedenfalls genug, um sich aus dem Rest einen Reim machen zu können. Auf den letzten Schritten lenkten ihn Rovik, Tuvok und Haldana ab. Die Sichlerin stand totenbleich vor ihm, wie ein Geist.
"Wie gehts es dir?" fragte Alrik, ehrlich besorgt. Zwei Stunden in Borons Dämmerland, das war durchaus nicht normal. Aber ernsthaft verletzt schien die junge Frau nicht zu sein.
"Desch letzti was i brauch, isch där Medicus" Die Sichlerin versuchte einen Scherz und lächelte tapfer. Dann hatte sie den mit Brennmaterial vollgestopften Schrein entdeckt. Furcht breitete sich in ihrem Gesicht aus - eine Angst, die nicht von dieser Welt war.
"Wasch hat Jodokus voor? Kännt är die Frau?"
"Er scheint viele einflussreiche Leute zu kennen, in Rommilys", sagte der Friedwanger ausweichend. Irrte Alrik sich, oder hörte er Eifersucht aus Haldanas Stimme heraus? Immerhin, der junge Edelmann schien auf ältere Damen zu stehen. Oder vielleicht auch nur auf das Vermögen alter Damen, aber wer wollte schon danach fragen.
Eine strahlende Schönheit war die stellvertretende Akademieleiterin nicht mehr, aber sie besaß durchaus Charisma.
Halike Rattel hatte eine Fackel ergriffen, warf sie beiläufig ins Holz und plauderte ungerührt weiter. Alrik langte sich mit der linken Hand nervös an den Kragen und "sprach" mit den Fingern der Rechten ein stummes Gebet zu Phex, in der Zeichensprache Atak.
Er wollte noch eingreifen, aber es war schon zu spät. Die Vize-Spektabilität hatte nicht das gesehen, was er gesehen hatte, mit den Augen eines Geweihten. Was er gespürt hatte. Vermutlich war die "Zartfüßige" mit den Insektenaugen für die Magistra einfach nur ein Götzenbild. Er wusste, dass dahinter mehr lauerte. Ein Abgrund, der geradewegs in die Niederhöllen führte. Die Macht einer gefallenen Unsterblichen.
Diese Kraft ist nicht von dieser Welt.
Im nächsten Herzschlag fauchten giftgrüne Flammen empor. Haldana schrie auf, stopfte sich die Faust in den Mund. Rovik und Tuvok blickten einfach nur erschrocken. Wenn die Kapuzenmänner verstört waren, ließen sie es sich nicht anmerken.
Es stank zum Peraineerbarmen. Schwarzer Rauch quoll aus dem Scheiterhaufen. Die Menschen husteten und keuchten. In der Mitte thronte die Königin, Herrscherin des Untergangs, und lächelte huldvoll. Einige bange Momente lang glaubte der Mondschatten, die Statue wäre auf widernatürliche Weise gefeit. Aber dann griff das Feuer doch auf das Holz über. Die Farbe begann abzublättern und zu verwehen. Die Facettenaugen glühten, in fiebrigem, schwefelfarbene Glanz. Wispern, Rascheln, Nagen, Summen. Hörte Alrik die Geräusche wirklich, oder gab es sie wieder nur in seinem Kopf? Die Figur, die gerade noch menschenähnlich gewesen war, verformte sich. Wurde zu einem grotesken Etwas, das seine Gestalt mit jedem Herzschlag zu verändern schien, in der flirrenden, hitzegeschwängerten Luft. Der Tiegel zerbrach, wie eine faule Frucht, entließ eine Art von Hornissenschwarm. Die meisten der Insekten verbrannten. Drei oder vier der Plagegeister stürzten sich wutsummend auf Alrik, den Geweihten, bohrten ihre Stachel in seine Haut und verschwanden, wie eine Halluzination. Auch Rovik und Jodokus wurden gestochen. Sie schlugen um sich, schrien und schimpften.
Das… das ganze Ding brannte jetzt lichterloh, wie eine Fackel. Mit einem ekligen, matschigen Geräusch platzte das Götzenbild auseinander, brach in sich zusammen. Schleimige, gelbe Maden, wuselnde Kakerlaken, fahlgraue Asseln, feiste Gruftkäfer quollen heraus, ein einziges, wimmelndes Knäuel, das zischend, knackend, zappelnd in der Feuersbrunst verschwand. Alrik war sich keineswegs sicher, ob das Geziefer aus derischer Substanz bestand. Der Gestank nach Fäulnis, Schwefel und Verwesung, der sich mit dem finsteren Rauch verbreitete, war nicht von dieser Welt. Ascheflocken wirbelten umher, oder war es schwirrendes Kroppzeug?
Haldana war wie gelähmt und spürte nichts. Die Hornissen schwirrten an ihr vorbei, ohne sie auch nur zu berühren. Einen Moment lang glaubte sie den Schwarzbart im Qualm zu erblicken, der noch einmal nach ihrem Innersten griff, wie ein Ertrinkender nach der rettenden Planke. Jäher Wind kam auf, zerriss die fetten Schwaden zu kleinen Fetzen und trieb sie auseinander.
Der Pesthauch ließ nach.
Rumpelnd brach das Dach ein. Nach einiger Zeit war es fast ein normales Feuer, das in der Ruine brannte.
"Was hast du dir dabei gedacht?" Jodokus rieb sich seinen Hals, wo ihn eines der Biester gestochen hatte. Sie waren in den Keller unter der Scheune gegangen, ein paar krumme Stufen hinab. Aus dem Gang, der zum Bauernhof hinüberführte, roch es nach Rauch, aber das kleine, muffige Gewölbe war nur wenig verqualmt. Mitten im Keller, im Schein der Laterne, stand die Truhe. "Du willst die Mumie mitnehmen?"
"Wir brauche a Saumpferd", stellte Haldana fest. "Un festi Tragrieme..."
"Ein Packpferd?" Der junge Patrizier war vollkommen perplex. Waren mittlerweile eigentlich alle verrückt geworden? "Wir sollen mit... mit einem Sarg hinüber in die Trollzacken reiten?" Mit der freien Hand nestelte er eine alte Spinnwebe aus seinem Gesicht.
"Isch vielleichd die Mumi von de Nasdja" sagte die Schwarzsichlerin und klang trotzig wie ein kleines Kind. Irgendwo raschelte eine Maus.
"Warum sollte das die Mumie von deiner... deiner angeblichen Vorfahrin sein?" Irritiert sah der Baernfarn auf den halbrasierten Schädel seiner Angebeteten, wo noch immer die riesige Beule prangte.
Trug die Bardin deswegen so eine abscheuliche Frisur? Weil sie sich einbildete, von einer norbardischen Seherin abzustammen? Die vertrocknete Leiche in der Kiste war sogar kahlrasiert. Alles überaus beunruhigend. Bereits der Gedanke, heute Nacht in der Scheune schlafen zu müssen, über einer solchen Gruft, war mehr als unangenehm. Mit einer Mumie durch die zwölfgöttlichen Lande zu reisen, sprengte für ihn endgültig die Grenzen des Vorstellbaren.
"Du bist völlig durcheinander" stellte Jodokus nüchtern fest. "Wir sollten jetzt nach oben und noch ein paar Stunden schlafen. Ruh dich etwas aus, morgen schaut die Welt ganz anders aus."
Sie hatten kurz beraten und sich dann entschieden, in der Scheune zu übernachten, die recht geräumig und immer noch voller Heu und Stroh war.
Tuvoks Wunden schmerzten offenbar niederhöllisch, auch wenn Hesindian behauptete, dass sie nicht allzu schwer waren.
Reiten wäre für ihn eine Qual. Auch die Sängerin schien eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Es war besser, hier zu bleiben, bevor sie endgültig dem Delirium verfiel.
Beide hatten sich geweigert, einen Heilzauber auf sich sprechen zu lassen: Tuvok offenbar aus abergläubischer Furcht vor Magie, Haldana, weil sie störrisch und uneinsichtig war. Hesindian schien diese Weigerung keinesfalls unangenehm zu sein. Der machtvolle Zauber, den er vor kurzem auf Alrik gesprochen hatte, schien sehr viel von seinen Kräften aufgezehrt zu haben.
"Obe in de Schüür isch a kleins Wägeli" Haldana kratzte sich nachdenklich am Kopf, gleich neben der Beule. "Da könnt i desch Pferd vorspanne..."
"Der wackelige Karren? Damit kämen wir nicht mal nach Rommilys... Haldana, es ist gut… die Gardisten werden morgen noch einmal zurückkehren, und das Ding da entsorg... mitnehmen... du solltest dich jetzt wirklich etwas ausruhen."
"I fuel mich gued." Haldanas Augen funkelten empört. "Wirkli!"
Lag da plötzlich ein anderer Glanz in ihren Augen? Was für ein närrisches, wunderbares, dralles, pralles Bauernkind...
"Haldana!" Jodokus stellte die Laterne ab und fasste der Bardin an die Schultern.
"Lass mi! Mi gehts gued!" Die Sichlerin versuchte sich frei zu winden, weitaus weniger energisch, als es ihre Worte vermuten ließen.
Jodokus spürte ihren warmen, angespannten Körper unter seinen Händen. Eigentlich wollte er dieses... dieses verrückte Mädchen wieder loslassen.
Dann überkam es ihn einfach, als hätte die Göttin Rahja (oder ihr Sohn Levthan?) die Macht über seine Glieder übernommen. Über sämtliche Glieder.
Er zog sie an sich, presste seine Lippen auf ihren feuchten, sinnlichen Mund, versank vor Wonne stöhnend in einem tiefen Kuss. Seine Finger glitten die Schulter hinab, bis zu den Hüften und wieder hinauf, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten.
Nur kurz bäumte sich Haldana in seinem Griff auf, eher spielerisch als widerwillig. Sie wuschelte durch seine Haare.
Rötlich flackerte das Licht der Laterne. Hastig riss Jodokus Haldana die Kleider vom Leib, als befänden sie sich in einem lauschigen Schlafgemach in Rommilys. Glühend heiß überflutete sie die Wollust, raubte ihnen beiden den Verstand. Mit nacktem Hintern und barbusig prallte Haldana auf die Truhe, Jodokus suchte ihren Schatz der Rahja und riss Haldana mit seiner Leidenschaft einfach mit sich. Haldana fiel in einen Taumel von Leidenschaft und Neugier und öffnete seine Kleider.
Ich betrüge gerade meine Gemahlin, auf einer Truhe mit einer uralten vertrockneten Norbardin, dachte Jodokus. Nein… nicht Norbardin, und nicht uralt. Bardin und jung…
Das war der letzte klare Gedanke, den er fassen konnte.
Haldana schrie kurz auf. Es war, als würde eine Biene sie in den Unterleib stechen. Nur schmerzhafter. Und zugleich unendlich viel schöner. Sie vermochte nicht zu entscheiden, ob Schmerz oder Freude überwog. Vorsichtig bewegte sie ihr Becken im gleichen Rhythmus wie der Städter, so wie sie es hin und wieder bei der kessen Magd Rimhilde gesehen hatte, die sich des Öfteren mit den Knechten in der Scheune vergnügt hatte. Als Kind hatte Haldana Rimhilde öfters dabei überrascht und neugierig beobachtet. Ob sie es so richtig machte? Haldana war unsicher, ließ sich treiben im Strudel der Gefühle… Es tat weh. Haldana biss sich auf die Lippe. Zwischen dem Schmerz fuhren aber auch Wellen eines ungekannten Glücksgefühls durch ihren Körper.
Langsam, aber dennoch unvermeidlich ließ durch den nicht nachlassen wollenden Schmerz der Rausch nach, der sie eben noch erfasst hatte. Wie durch einen Nebel drangen soeben noch entfernt liegende Gedanken aus dem tiefsten verborgenen ihres Verstandes wieder in den Vordergrund.
Was tat sie da eigentlich? Und dann ausgerechnet mit Valyrias Ziehsohn! Ein Traviafrevel der besonderen Art. Wie konnte sie so ungehorsam sein? Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, auf sich acht zu geben. Was würde nun sein? Was war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden… Es muss am Bienengift liegen, dachte Haldana. Es war das gleiche Gefühl, das sie durchdrang, wenn sie bei der Imkerei von Bienen gestochen wurde. Durch den Schmerz wurde ihr bewusst, wie sie lebte, und daher liebte sie das Gefühl genauso wie sie es fürchtete. Und es versetzte sie immer wieder in einen Rausch. Vorhin in den Rausch des Tötens. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt. Auch wenn es im Kampf war und gegen einen unheiligen Feind, das erste Mal einen Menschen zu töten enthemmte einen Menschen, der Krieg und Kampf nicht gewohnt hatte, auf das Heftigste. Und die Begegnung mit der norbardischen Seherin… war das Wirklichkeit oder Traum gewesen… Das alles schien zu viel für sie gewesen zu sein, wie sonst hätte sie sich solcherart enthemmt gehen lassen können?
Nunmehr hatte der Zustand der Ekstase bei Haldana völlig nachgelassen. Sie erstarrte, machte die langsam stoßenden Bewegungen des Stadtadeligen nicht mehr mit.
Jodokus war offensichtlich verwirrt darüber, dass seine Gespielin die Lust verloren zu haben schien. Er verstand auch nicht, warum. Wie hätte er das auch? Aber er ließ nicht nach in seinem Tun. Sei es, dass er hoffte, sie erneut zum lustvollen Treiben zu motivieren, sei es, dass er selbst schon so sehr in Ekstase verfallen war, dass er nicht mehr inne halten konnte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht mehr, Haldana in lustvollen Rausch zu versetzen.
Leidenschaftlich küsste er die Bardin auf den Mund. Seine Lippen glitten weiter herab auf den Hals. Jodokus Atem ging schnell. Sanft streichelten seine Finger die Angebetete, so wie er wusste, dass es allen Mädchen, mit denen er bislang sein Lager geteilt hatte, gefallen hatte. Jodokus war keiner, der nur an sich dachte. Er genoss es, einem Mädchen Freude zu bereiten und er konnte es selbst nur halb so sehr genießen, wenn das nicht gelang, auch wenn er selbst, von seiner eigenen Erregung übermannt, schon seine Freude gehabt hatte. Allein, es gelang ihm nicht, in Haldana wieder Lust zu entfachen.
„Hör` uf“ murmelte Haldana leise.
Jodokus, der ohnehin zuvorderst mit dem Gedanken weiter machte, der Gespielin doch noch Freude und Gefallen zu bereiten, hielt in der Bewegung inne und sah der Bardin in das hübsche Gesicht. Es schien, als habe diese zu nahe am Wasser gebaut, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
„`S hett nit g`schehe derf`n. Ab´r die Bienenstich`, d`r Rausch des Tötens, i hen mi nit unt`r Kontrolle g`hebt.“
„Aber warum, Haldana? Meine Gefühle sind echt…“ fing Jodokus an.“ Jodokus vermutete, dass die Bardin störte, dass er verheiratet war. In der Sichel waren die Moralvorstellungen oft weit konservativer als in einer Großstadt wie Rommilys, mochte es hundertmal den Haupttempel der Travia beherbergen.
„Meine Ehe ist politischen Interessen geschuldet, das ist so, wenn man von Stand ist. Aber mein Herz ist bei…“ begann Jodokus. Dann bemerkte er das Blut auf dem Oberschenkel der Bardin. Er hatte in seiner Leidenschaft nicht gemerkt, dass es für die Bardin das erste Mal war. Er hätte auch nicht damit gerechnet. Haldana war sicher achtzehn oder neunzehn Lenze alt. „Verzeih… ich wusste nicht...“
Dann machte Jodokus einen Satz nach vorne und stolperte, da er sich mit seiner herunter gelassenen Hose nicht abfangen konnte. Er fiel über einige Strohballen. Sein Gesäß tat ihm weh, als hätte man ihn mit einem schweren Stiefel getreten.
„Hundsfott, liderlicher“ hörte Jodokus Tuvok rufen. „Dass du dich nicht schämst!“ herrschte der Jäger ihn an. „Ich hätte den Bogen nehmen sollen um dir in den Arsch zu schießen statt nur zu treten!“
Jodokus kroch, so gut das ging, tiefer in das Stroh hinein, um sich vor dem wütenden Nivesen in Sicherheit zu bringen. Erneut stolperte er über seine eigene Hose. Wieder trat Tuvok zu. Jodokus schrie und krümmte sich vor Schmerzen. Der Tritt hatte gesessen.
„Eifersüchtig?“ brachte Jodokus hervor, in einem kurzen Moment, in dem sein Stolz den Schmerz überwog.
„Halts Maul, Trottel.“
„Tuvok, nei, er kann nischt d`für“ unterbrach Haldana mit leiser Stimme. Aber der Jäger hörte sie und wandte sich Haldana zu. „Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich achtzugeben. Aber wie soll ich Dich vor Dir selbst schützen?“
Die Bardin schluchzte leise. „S`hett nit g`schehn dürf`n“
Jodokus verstand nicht recht, was der Nivese sagte. Ein Jäger, der eine entlaufene Leibeigene im Auftrag der Mutter beschützte? Rasch zog er seine Hose hoch und rappelte sich auf. Keinen Augenblick später fiel er, geschubst vom Tuvok, wieder ins Stroh.
„Hör auf, Steppenschleicher“ herrschte Jodokus den Nivesen an und rappelte sich wieder auf.
„Nein, du Gassencasanova. Du hörst auf. Und vor allem hörst du zu. Wenn bei Dir schon das Hirn aussetzt!“ Noch nie hatte ein Gemeiner es gewagt, so mit ihm zu reden. Jodokus lief zornweiß an im Gesicht.
„Du kennst die Sichel, Lustmolch. Du weißt, dass ein Mädchen besser heiraten kann, wenn es keusch bleibt. Aber rücksichtslos wie du bist ist dir das egal, Stadtmensch.“ Der Nivese schrie Jodokus nahezu ins Gesicht. „Und du weißt, dass ein Mädchen sich zum Gespött macht und sich der Übergriffe nicht erwehren kann, wenn sich herumspricht, dass sie… den Ehrbegriff nicht geachtet hat. Das hier ist Travias Land, und auch wenn man den Namen der Muttergöttin nicht so oft hört in der Sichel, so gelten ihre Regeln dort nicht minder!“
„Ach das hast du ihrer Mutter versprochen…“ stammelte Jodokus. „Das lässt sich regeln. Ich kann eine Morgengabe leisten, die eine entgangene Mitgift sicher mehr als ausgleicht, jedoch...“
Weiter kam er nicht. Tuvok versetzte dem verdutzten Jodokus eine schallende Ohrfeige. „Das war dafür weil du annimmst, Haldana wäre käuflich“ schalt der Jäger den Adeligen
Schritte waren auf der Leiter zum Tunnel zu hören. Alrik, ob des Lärms aufmerksam geworden, hatte sich aufgemacht, nachzusehen, was für ein Tumult im Stroh ausgebrochen war. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Er hatte Mühe, nicht lauthals aufzulachen.
„I würd` mi nu gern wied´r anzieh`n.“ hauchte Haldana mit tränenerstickter Stimme. Aber weder Tuvok noch Jodokus nahmen Notiz von ihr. Lediglich Baron Alrik hatte den Anstand, sich umzudrehen. Erneut schallte eine Ohrfeige laut auf.
„Ihr arroganten Stadtschnösel, bildet euch wohl ein, euch alles gegenüber dem Landvolk heraus nehmen zu dürfen. Du lebst schon zu lang in Rommilys, du wirst die Menschen der Sichel nie verstehen.“
Das hörte sich seltsam an aus dem Mund eines Nivesen, dachte Alrik. Tuvok war Nivese, nicht Schwarzsichler.
„Hör` uf, Tuvok“ wiederholte Haldana. „Er kan nischts d`fir. Wohär hätt er wiss`n soll`n...“
„Man muss nichts wissen, um sich ritterlich zu verhalten“ erwiderte der Nivese.
Haldana hob ihre Bruche auf. Blutverschmiert. Was hatte sie erwartet. Achtlos warf sie den Leinenstoff wieder zu Boden. Dann eben ohne Bruche. Das war jetzt doch ohnehin egal.
Danach griff sich nach dem Mieder, zog es zurecht und schob ihre Brüste wieder darunter. Langsam schnürte sie die Bändsel zu.
Verdammt, es war ein schönes Gefühl vorhin gewesen, ihre Brüste so prall und straff zu spüren, als der Stadtgeck seine flinken Finger mit sanften Bewegungen… Die Bardin kämpfte den Gedanken nieder.
Auch Jodokus kämpfte mit sich. Klar, woher hätte er wissen sollen, dass die Bardin noch Jungmaid war. Wäre dieser wütende Nivese nicht gewesen, er hätte sich um Haldana bemühen können, mit ihr reden können. Schließlich… Haldana war ihm ans Herz gewachsen mit ihrer kessen und direkten Art, ihrer herzlichen schwarzsichler Natur und nicht zuletzt mit ihrer klangvollen Stimme, die so gut singen konnte. Seine Ehe mit Irmelinde war ohnehin arrangiert. Von Respekt und Sympathie geprägt, aber dass er als junger Mann sich deswegen nie verlieben würde, das würde auch seine Frau nicht von ihm erwarten.
„Haldana…“ begann er. „Ich mag vieles von Dir nicht wissen, aber ich habe nicht mit dir gespielt. Ich habe dir nichts vorgemacht und ich stehe zu Dir.“ In dem Augenblick, da Jodokus das sagte, wusste er selbst nicht, ob er sich taktisch äußerte um die Wogen zu glätten oder ob er für die Bardin tatsächlich mehr empfand, als für eines seiner früheren Abenteuer, die er neben seiner Ehe gehabt hatte. Aber mit dieser Aussage hatte er für sich eine Entscheidung getroffen. Er würde Haldana nicht im Stich lassen. Wenn nur dieser wütende Jäger endlich gehen würde. „Und ich habe, da mag Tuvok denken, was er will, dich nie für käuflich gehalten. Sondern für einen wunderbaren Menschen.“
„Schleimer“ konstatierte der Jäger grimmig.
„Still, Tuvok.“ murmelte Haldana leise. „S´isch g`schehn. `S war mei Fähl`r. Jodokus het nit gwisst, wer i bi od`r was mei Mutt`r dir auftrag`n het. Nun brauchsch`d mi nimmer b`schützn. Jedenfalls nit meh v`r mi selb`r, desch is nu nimmer meh nöt`g.“
Alrik reichte Haldana seinen Umhang. Anders als die beiden jungen Streithähne wusste er, dass er besser nichts sagte, sondern einfach nur da war. Während Jodokus und Tuvok weiter stritten, deutete der Mondschatten ihr an, mitzukommen. Er half Haldana die Leiter herauf. Es war ohnehin schon spät geworden. Er wusste, dass Haldana lange kein Auge zubringen würde, aufgewühlt und durcheinander, wie sie war, auch wenn sie sonst nach dem Ritt und dem Gefecht und der Verletzung völlig übermüdet und ausgelaugt sein musste. Aber er wusste auch, dass Ruhe und Stille der Bardin gut tun würden.
Es war sicher auch noch nicht alles gesprochen, was noch zu sagen war in dieser Sache. Haldana ebenso wie Jodokus waren Opfer ihres eigenen jugendlichen Ungestüms geworden. Nur zu gut konnte er das nachvollziehen, wenn er sich an seine eigenen jungen Jahre erinnerte, oder auch an seine Kinder dachte. Und im Sittenstrengen Sichler Land war es allzu oft nicht leicht, den Ansprüchen der Familie und der Dorfgemeinschaft gerecht zu werden, ohne dabei selbst seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hätte er besser achtgeben sollen auf seine jungen Gefährten. Nicht umsonst achteten die Hauptleute einer jeden Truppe darauf, dass ihre jungen Soldaten und Soldatinnen sich nicht gehen ließen. Niemals die eigene Truppe, hieß es in der Armee, und das hatte seinen guten Grund, wenn man den Zusammenhalt in der Gemeinschaft junger Kämpfer nicht gefährden wollte. Vielleicht hätte er, wenn schon nicht Jodokus und Haldana, es besser wissen müssen. Er hatte den beiden Turteltäubchen bei ihrem Spiel ja schon eine Weile zugesehen. Er hatte es versäumt, rechtzeitig mit dem jungen Adeligen zu reden. Auch hatte er sich in der Bardin getäuscht, hatte er doch angenommen, sie würde nur mit dem eitlen Verehrer spielen und sich nicht darauf einlassen. Falsch gelegen. Aber auch sonst hätte er mit der Bardin früher reden können.
Nun, geschehen ist geschehen. In Marktfriedwang hätten erzürnte Eltern ihre ungehorsamen Kinder einfach vor den Traviaaltar geschleppt, damit alles der Form nach anständig bleiben würde. Ganz egal, ob die jungen Eheleute später miteinander glücklich werden oder nicht. Aber das war ja nun nicht möglich, auch wenn er dem jungen Rommilyser diese „Strafe“ sicher gegönnt hätte. Na sei es drum.
Er nahm die junge Sichlerin einfach nur väterlich in den Arm, ließ sie leicht schluchzend in seine Schulter weinen und hielt neben ihr aus bis sie, lange Zeit später, einschlief.
Behutsam ließ Alrik die schlafende Bardin ins Heu sinken. In diesem Moment war sie nichts weiter als ein schutzbedürftiges Mädchen, Abenteurerin hin oder her. Er deckte sie zu und schlich sich leise vor die Tür, um nach all der Aufregung des Tages seine Abendpfeife zu schmauchen. Draußen war es frisch geworden. Der Nachthimmel hatte sich bewölkt. Womöglich würde es in einigen Stunden regnen. Er fröstelte. Nur der brennende Bauernhof spendete unstetetes Licht. Das Unheiligtum draußen auf dem Acker war nur noch ein qualmender, glimmender Trümmerhaufen. Der Baron war froh, dass es im Inneren der Scheune dunkel geworden war.
Vermutlich hatte sich jeder in seine Ecke verzogen, schmollte, grollte oder schlief, je nachdem, wie es ihm gerade gefiel. Ab und an raschelte etwas Stroh, aber das konnten auch die Pferde an der Krippe sein. Oder Mäuse.
Alrik stopfte seine Fuchskopfpfeife mit der würzigen Tabaksmischung aus dem Beutel, der mit Mond und Sternen verziert war. Er hustete kehlig. Vermutlich rauchte er in letzter Zeit zu viel. Aber egal, er brauchte starken Stoff, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Flachmann mit Trollzacker, den er unter dem Wams trug, wollte er lieber nicht greifen, der war für echte Notfälle.
Behutsam, wie bei einer maraskanischen Tee-Zeremonie, holte er Feuerstein, Stahlring und Zunder aus dem Kästchen. Dann breitete er die Utensilien auf einer umgedrehten Tonne aus und schlug Feuer. Bläuliche Funken sprühten umher. Diesmal dauerte es eine Weile, bis der Zunder glomm. Ein paarmal schrammte er sich übel die Finger auf. Heiliger Assaf, er konnte es spüren, wenn sein phexisches Glück irgendwo da draußen herum streunerte. Statt ihm, wie gewohnt, still und heimlich zur Seite zu stehen. Eigentlich waren sie aus Rommilys aufgebrochen, um einem Zirkel schurkischer Dämonenpaktierer das Handwerk zu legen. Nicht um sich zu zanken und zu streiten wie aufgekratzte Zöglinge einer Kriegerschule beim Ausflug (in den erstbesten Heustadel vor der Stadt)
Endlich strömte der vertraute Tabakrauch durch seine Kehle. Wo hatte er eigentlich seinen Federhut gelassen? Ah, da drüben hing er, am Haken. Die rote Feder war ganz zerknickt. Der Baron schlug seinen Streunerdeckel aus, setzte ihn sich auf und überlegte, wo er Wache halten sollte. Die Tonne war gar nicht mal so schlecht. Er stellte sie noch ein Stückchen nach draußen, unter ein windschiefes Vordach. Von dort aus hatte er alles gut im Blick, soweit es die karge Beleuchtung zuließ, ohne selbst aufzufallen. Sehen und nicht gesehen werden. Etwas besseres gibt es nicht, falls die Lage unübersichtlich ist. Einer der "Kaisersprüche" des guten alten Kedio, Herrscher der Ruinen von Brabak. Vielleicht sollte er sie eines Tages mal aufschreiben.
Der Freiherr von Friedwang nahm auf seinem improvisierten Thron Platz, in seinen schweren Reisemantel gehüllt.
Sein Blick ging hinüber zum Haupthaus, das ein ganz passables Lagerfeuer abgab und sogar etwas Wärme abstrahlte. Der Wind stand noch immer günstig. Der Rauch wehte von der Scheune weg.
Womöglich war es doch keine gute Idee die gewesen, soweit draußen zu übernachten, außerhalb der Stadtmauer. Andererseits, eine Rückkehr nach Rommilys, zusammen mit Halike und ihren Handlangern, hätte sicher einigen Rummel verursacht - schon allein wegen den Waffengesetzen. Eine Lanze Stadtgardisten, die spätabends von einen niedergebrannten Bauernhof zurückkehrte, war sicherlich weniger auffallend als eine bunt zusammen gewürfelte Halbschwadron, inklusive Brauereibesitzer, Baron, Zwerg, Jäger, Graumagier und Bänkelsängerin.
Ein Geräusch von halblinks lenkte ihn ab. Nervös griff Alrik nach seinem Rapier, entspannte sich aber sofort wieder. Wie erwartet, war es Hesindian, der seine Abendtoilette am Brunnen beendet hatte, mit Zahnpulver und Putzhölzchen. Zarter Kräutergeruch lag in der Luft, und vermischte sich nun mit dem Duft von Pfeifenrauch.
"Ich übernehme dann die zweite Wache", sagte Hesindian und verstaute sein Krimskrams in der Gürteltasche. "Rovik die Hundswache. War sein Vorschlag. Ich glaube, unsere beiden Turteltäubchen und Haldanas Anstandsdame lassen wir erst mal schlafen... bevor sie morgen noch gereizter sind. Tuvok scheint ziemlich verletzt zu sein."
"Nicht nur er", sagte der Streunerbaron und schlug die gestiefelten Beine übereinander, wie ein Svelltländer Kuhtreiber.
"Was hältst eigentlich du von dem Ganzen?"
Hesindian blickte ins Halbdunkel, zu den Feldern, Hecken und Baumreihen, die schemenhaft am Rand des Feuerscheins zu erahnen waren. Der Edle von Orweiler trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch und strich die weißen Haare zurück: "Da fragst du den Falschen. Falls es um Fragen der Moral gehen sollte." Der Magus lächelte spöttisch. "Du weißt ja, meine Mutter ist gebürtige Liebfelderin. Im Horasreich bekäme eine junge Frau Ärger mit der Familie, wenn sie mit 19 oder 20 Götterläufen noch immer reinweiß ist wie eine Traviagans."
Alrik brummelte etwas. Das Fass war hart und kippelte. Aber vielleicht war es ganz gut, dass er nicht allzu bequem saß. Damit war die Gefahr, einzuschlafen, geringer. Das Ganze erinnerte ihn an damals, die Flucht aus dem brennenden Rommilys. An Golgariella, die junge Borongeweihte. Ihre Begegnung mit einem wandernden Wirtshaus und schwankenden Untoten. Am Ende hatten sie sich ebenfalls in eine Scheune geflüchtet. Die noch in der gleichen Nacht in Flammen aufgegangen war.
Golgariella… auch diese Liebelei war höchst unerfreulich ausgegangen. Der Tod ist das beste Rahjaikum. Hatte er das damals behauptet oder seine schwarzgewandete Gespielin? Wahrscheinlich war es wirklich nur die Furcht vor der eigenen Vergänglichkeit, die Männer und Frauen zusammenführte. Ein verzweifeltes, gegenseitiges Festklammern ans Leben, ans Hier und Jetzt. Manchmal mit dem Zweck, Kinder in die Welt zu setzen, um Boron ein Schnippchen zu schlagen. Weitaus öfter mit dem Ziel, Tsa ein Schnippchen zu schlagen. Der Preis bestand all zu oft in Schuldgefühlen, nach der Trennung. Alrik bewunderte Rahjajünger, die aus reinem Vergnügen der Göttin der Liebe huldigten. Und am nächsten Tag völlig unbeeindruckt ihres Weges gingen, ohne sich mit derart komplizierten Dingen wie Liebe, Ehe, Traviabünden, Sitte und Moral befassen zu müssen. Oder mit Elternschaft...
"Die Liebe und der Flinke Difar, bereiten beide Schmerzen. Das eine kommt vom Arscherl her, das andere kommt vom Herzen. Alte Schwarzsichler Bauernweisheit". Alrik hatte ein Hölzchen entdeckt und schob es unter die Tonne. Ah, schon besser. Oder?
Hesindian unterdrückte ein Lachen. "Gibt es im Sichelhag nicht das Jus primae noctis? Vielleicht sollte sich der edle Nachkomme des Hauses Baernfarn auf sein Recht der ersten Nacht berufen?"
Alrik drehte einen Weidenkorb als Fußstütze um und nahm wieder Platz. So langsam passte es. In seinem Alter sollte man sich das Leben so bequem machen wie möglich. "Nicht so laut, nicht so laut. Sonst macht der junge Herr da drinnen noch von seinem Duellrecht Gebrauch." Auch Alrik grinste und deutete mit der Pfeife auf das Scheunentor.
"Ich versteh das Problem nicht" Hesindian griff nach dem Zauberstab, den er an die Scheune gelehnt hatte. "Haldana hat diesen bärtigen Kerl heute abgestochen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da drüben am Weg, da klebt noch sein Blut. Eine riesige Blutlache. Nun macht sie wegen einem winzig kleinen Stich ein Geschrei wie eine entjungferte Badilakanerin? Versteh einer die Frauen. Oder die Darpaten..."
"So kann nur ein frivoler Halbhorasier reden" sagte Alrik flapsig. Nun merkte er, dass die Tonne in die andere Richtung kippelte. So wurde das nichts. Er versetzte sein Werk Richtung Wand, als Stütze. "Wir Schwarzsichler sind nun mal ein überaus traviafürchtiges Volk."
"Außer wenn gerade wieder mal Hexennacht ist."
"Die ist nur einmal im Jahr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Alten Kulte wären nur halb so beliebt, wenn meine Friedwangen jede Nacht nackt und berauscht ums Lagerfeuer tanzen müssten. Der Reiz des Verbotenen halt. Überhaupt, das Recht der Ersten Nacht ist doch nur eine adelsfeindliche Legende. Nichts als eine yesatanische Fantasie. Sowas gibts vielleicht im Bornischen, oder in Oron...aber ganz sicher nicht bei uns in der Rommilyser Mark."
"Gernot hat damals das Recht der Ersten Nacht wieder eingeführt, in Friedwang."
"Ja, weil er an den Stechtaler ran wollte, der alte Gierschlund"
"Den was?"
"Den Schürzenzins. Die Mitgiftsteuer bei jedem Traviabund. Die Traviageweihten sind damals auf die Barrikaden gegangen, nach allem, was man so hört."
Hesindian nickte. "Das Friedwanger Gänsestechen. Die Mädchen mussten oben im Schloss vorstellig werden - je nach Wert wurde dann die Steuer fällig. Ich kann mich aber nur an Naturalien erinnern, eine Kuh, eine Ziege oder eben Gänse und Hühner. Für die armen unfreien Bauernmädchen war das kaum weniger demütigend, als wenn sie wirklich zu diesem Lustmolch ins Bett hätten steigen müssen. Um ihm sein Herrenrecht zu gewähren."
"Kühe, Gänse, Ziegen...? Man muss kein Baron sein, bei uns in der Sichel, um so was ins Bett zu bekommen" Alrik hatte einen Scherz versucht, merkte aber, dass Hesindian eher zerknirscht als erheitert blickte.
"Du warst ja damals Gernots Hofmagier. Apropos - gibt es nicht magische Möglichkeiten… ich meine, einen Heilzauber, um Haldanas... kleines Missgeschick zu kurieren?"
"Dazu müsste ich ihr die Hand auflegen. Am besten noch in dieser Nacht. Könnte leicht missverstanden werden. Außerdem geht es in dem Fall wohl mehr um seelische Verletzungen."
"Natürlich." Alrik wurde wieder ernst. "Das ist ja gerade das, was mir Sorgen macht. Auchn Zug?"
Hesindian nickte, und Alrik reichte ihm die Pfeife. Hesindian paffte, hustete etwas. Immer, wenn Alrik das Gefühl hatte, er könnte gegenüber einem Rangniederen als arroganter Aristokrat rüberkommen, teilte er seinen Tabak. Dabei war der Magus eigentlich Nichtraucher (und selber von Stand).
"Ich meine, ein bisschen kann ich Jodokus ja verstehen", sagte der Baron. "Wegen der tollen Liebesnächte hat er diese Irmelinde sicherlich nicht geheiratet. Aber er ist ein Baernfarn. Die sind manchmal vielleicht ein wenig tappsig und zudringlich, wie ihr Wappentier. Aber ein Bär ist kein Bock, wie mein schurkischer Vetter einer war. Irgendwie passt das Verhalten nicht zu Rauls Sohn...diese Lüsterne...Rücksichtslose..."
"Worauf willst du hinaus?"
"Nun ja. Findest du nicht auch, dass das Abfackeln des unheiligen Schreins ein wenig zu leicht ging?"
Hesindian hustete wieder, und gab die "Friedenspfeife" wieder zurück. "Soll mir recht sein, wenn es mit einer Austreibung so einfach geht..."
"Was ist mit diesen Hornissen, die uns gestochen haben? Müssen wir jetzt mit irgendwelchen Krankheiten rechnen...?"
"Das waren doch nur Halluzinationen, um uns zu peinigen. Übertragen Hornissen Pestilenzen?"
"Vielleicht rauben sie jungen Männern den Verstand?"
"Hmmm. Gewagte Theorie. Ich dachte eigentlich, die Hornisse wäre die heilige Kreatur des Shinxir..."
"Shinxir...wer ist das jetzt gleich nochmal? Meinst du den Götzen aus den Dunklen Zeiten?"
"Ja. Im Horasreich soll es wieder Anhänger dieses Kriegsgottes geben, seit dem Sternenfall von Arivor. Den Geheimbund der Myrmidonen. Shinxir steht für absolute Disziplin, Kameradschaft und Pflichterfüllung, für Loyalität und Treue zur Gemeinschaft. Du bist nichts, dein Schwarm ist alles. Passt nicht so ganz zu Jodokus´ Verhalten."
"Da ist aber jemand gut informiert. Über finstere Götzen, die mal vor Urzeiten dem Silem-Horas-Edikt zum Opfer gefallen sind. Kein Wunder, dass du eine Vorladung ins Informations-Institut bekommen hast." Alrik war schon wieder zum Spotten aufgelegt.
"Es war Jel-Horas, der die Verehrung von Insektengöttern verboten hat, lange vor Silem...Götter wie Mokosha oder die Herrin des Siechtums, deren Namen ich nicht nennen möchte. Oder eben Shinxir. Die entscheidende Schlacht fand bei uns in Almada statt, gar nicht so weit weg von Brig-Lo, auf den Bluthügeln von Caldaia. Damals haben die Rondrianer die Shinxir-Anhänger besiegt und in den Untergrund gezwungen. Ich glaube, im 3. Jahrhundert vor Bosparans Fall. Seitdem verehren wir Rondra als Herrin des ehrenvollen Zweikampfes. Nicht Shinxir, der für den Kampf in der Gruppe steht...den Kampf bis zum Sieg, notfalls auch mit Gift und Dolch."
"Den guten Zwölfen von Alveran sei Dank. So eine Löwin ist ja auch prachtvoller anzuschauen als ein Schwarm kleiner hässlicher Hornissen" Alrik wedelte schon wieder mit der Hand, um mit dem Rauch seine Lästerung zu vertreiben. Der Sternenfall von Arivor. Natürlich hatte er davon gehört. Ganze Sternbilder sollten sich seither verändert haben. Manche behaupteten, das Phex gerade den Nachthimmel neu zusammen fügte. Da fiel schon mal was runter?!
Nein, der Mondschatten mochte nicht glauben, dass der Heimliche mal eben so tausende Menschen vom Antlitz Deres tilgte. Das wäre ziemlich, nun ja, unheimlich gewesen. Alrik wusste nicht viel vom Schicksal Arivors. Wehrheim war ebenfalls untergegangen, oder das alte Gareth...was zu Kaiser Hals Zeiten viele Jahre lang für Grauen und Entsetzen gesorgt hätte, war heutzutage kaum mehr als eine Meldung im Aventurischen Boten.
"Arivor wurde doch, glaube ich, durch einen fallenden Stern zerstört. Oder sind da riesige Hornissen vom Himmel geplumpst?"
"Nun, es gibt Gerüchte, wonach bei dem Erdbeben geheime Kulträume freigelegt worden sind. Uralte Kulträume des Shinxir...mit krabbelnden Dienern des Vielleibigen..."
"Die findest du in jeder zweiten Herberge zwischen hier und Arivor. Und was sollen nun Shinxirs Hornissen mit unserer angeblichen Bienenkönigin zu tun haben?"
"Nun, wie es heißt, sind alle insektenähnlichen Götzen ursprünglich in der Zeit der Vielbeinigen Völker angebetet worden. Dem Siebten Zeitalter. Sie sind sich also ziemlich ähnlich...Die Hornissen könnten auf eine Pervertierung der Prinzipien des Shinxir hinweisen. Wenn ich es richtig gesehen habe, waren sie pechschwarz..."
"Das klingt für mich wie eine typische Magierspekulation" Alrik reckte sich auf dem Fass. So richtig bequem war sein Sitzplatz immer noch nicht. "Nach Hesindian eben. Ziemlich weit hergeholt..."
"Denk dran, was damals in den Schwarzen Landen geschehen ist, auf unserer Schatzsuche. Diese ständigen dämonischen Einflüsterungen, die unsere Gemeinschaft zerstören wollten, durch Streit und Hader...heimlich, still und leise. Von innen heraus. Gut möglich, dass heute etwas ähnliches geschehen ist."
"Nun, eigentlich sind sich die beiden doch ziemlich nahe gekommen, Jodokus und sein Schwarm..." Der Mondschatten gähnte und überlegte, ob er sich nicht lieber auf den Boden setzen sollte. Verstohlen kratzte er sich an den kleinen Pusteln auf den Händen und am Hals, dort wo ihn die Hornissen gepiesackt hatten. Angeblich reichten sieben Hornissenbisse, um einen Tralloper Riesen zu töten, und drei, um einen Menschen in Borons Reich zu schicken. Aber der Unbill hielt sich in Grenzen, bis auf ein leichtes Jucken. Obwohl er mindestens vier Einstiche zählte. Man sollte wirklich nicht zu viel auf Gerüchte und Legenden hören.
"Ah, jetzt ist auch noch die Pfeife aus" Alrik verzog den Mund, als er auf den erkalteten Fuchskopf blickte.
Hesindian deutete eine Verbeugung an und ließ Nasrûlgin, seinen Zauberstab, aufflammen. Der Baron zuckte kurz zusammen: Er würde sich nie ganz an Hesinderei in seiner Nähe gewöhnen. Dennoch war es scheinbar normales Feuer, in das er nun seinen Zunder hielt. Nach wenigen Augenblicken brannte die Pfeife wieder. "Danke", nuschelte der Friedwanger zwischen dem Mundstück hervor.
Hesindian runzelte die Augenbrauen und linste zur Scheunentür. War da gerade eben ein Schatten gewesen? Hatte jemand ihr Gespräch belauscht? Oder litt er schon an Verfolgungswahn? Er sollte nicht zu viel von Dämonenwerk und halb vergessenen Göttern aus finsteren Zeiten reden, kurz vor dem Schlafengehen.
Irgendwie gefiel ihm das Nachtlager nicht. Man holte sich leicht Flöhe und Rattenbisse, auf Heu oder Stroh. Womöglich hatte wirklich die Einflüsterung der Erzdämonin sie dazu verlockt, in einer halbverfallenen Scheuer zu nächtigen. Statt traviagefällig und sicher in einem weichen, bequemen Rommilyser Federbett zu schlummern. Neben den marbiden Überresten von Helbers Hof stank es zudem nach Rauch und Tod. Jeder Schatten erinnerte den Magier an das Grauen, dass sie im Keller entdeckt hatten. Genauso gut hätten sie auf dem Boronanger der Litzelstadt übernachten können, mit seinen Ghulen und Spukgestalten.
Hesindian war wohl anzumerken, was er von der Umgebung hielt. "Na komm schon", versuchte ihn Alrik von Friedwang aufzumuntern. "Wie in den alten Zeiten...Wache schieben am Lagerfeuer, auf Heu schlafen...da fühlt man sich doch gleich zehn Jahre jünger...."
"Ich fürchte, ich werde mich morgen zehn Götterläufe älter fühlen", murrte der Magier. "Sollte mich jetzt schlafen legen. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Bettschwere." Er tastete nach seiner Gürteltasche. "Lust auf eine kleine Boltanpartie?"
"Natürlich, Boltan und Würfel spielen. Auch das zählt zum echten Abenteurerleben." Alrik stand auf und lüpfte seinen Hut. "Um welchen Einsatz soll es gehen, Taler oder Kreuzer und Heller?"
"So abgebrannt wie unser Schlafplatz ist, würde ich sagen, Kreuzer und Heller."
"Also gut. Wer gibt?"
"Immer der, der fragt."
Das muntere Zwitschern einer Feldlerche weckte Alrik aus seinen Träumen. Die Nacht war irgendwie unruhig gewesen, aber nicht unangenehm. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte es geregnet, daran konnte er sich erinnern, und an sein lautes Schnarchen. Ebenso, dass er beim Boltan gewonnen hatte. Am Ende hatte er Hesindian sogar mit einer Akademie besiegt, einem "Fünfling" aus Magiern, ausgerechnet. Wenn das kein gutes Omen war...
Er hatte wirklich gut geschlafen. Alrik schob den Hut nach oben, und blinzelte ins helle Morgenlicht. Ah, er hatte sich Flockes Sattel unter den Kopf geschoben, eine gute Idee. Aber das es dermaßen hell war, inmitten der Scheune?
Er ruckte erschrocken hoch, unter seiner Decke. Langsam kehrte die vollständige Erinnerung zurück. Neben ihm lag die Pfeife, und war längst erkaltet. Was hatte er getan? Der Sattel lag an der Scheunenwand, unter dem Vordach, aber ansonsten im Freien. Ver...dammt. Er musste es sich hier draußen gemütlich gemacht haben. Ein wenig zu gemütlich. Offenbar war er dann beim Pfeife rauchen eingeschlafen. Beim Wacheschieben. Nicht sehr shinxirgefällig.
Alrik kratzte sich am Kopf, setzte sich auf. Die qualmenden Trümmer des Bauernhofs hatten fast schon etwas Malerisches. Es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Das Wolkenspiel am Himmel war atemberaubend. Das Land sah wieder perainegefällig aus, mit seinen fruchtbaren Äckern und Wiesen. Es war, als wäre ein schlimmer Alpdruck von ihm gewichen. Bienen summten umher. Sie hatten nicht alles falsch gemacht, gestern. Alrik langte sich an den Hals. Der war unrasiert und stoppelig, aber nicht durchschnitten. Offenbar hatte ihm der kleine Schlummer nicht geschadet.
Plötzlich stand Tuvok vor ihm, der Jäger. Das personifizierte schlechte Gewissen der Gruppe.
"Morgen" brummte Alrik, und schlug die Decke zur Seite.
"Wo ist Haldana?" Der Waidmann war totenbleich.
"Was?"
"Haldana ist verschwunden", ächzte der Jäger und sah verstört um sich.
"Wird mal austreten gegangen sein". Alrik reckte die Arme und gähnte genießerisch. "Da drüben steht eine Latrine"
"Sie hat ihre Laute mitgenommen" sagte Tuvok tonlos. "Wer...wer hat Wache gehalten? Es sollte doch jemand Wache halten."
"Das war ich", sagte der Baron und musste zugeben, dass das nicht allzu heldenhaft klang. Er rieb sich die Augen. "Muss irgendwie eingeschlafen sein. Verstehe ich nicht."
Tuvok sagte nichts, sondern musterte nur kühl den barönlichen Schlafplatz.
"Was ist mit ihrem Pferd?" fragte der Friedwanger.
"Ist noch da...aber sie ist ja auch keine Pferdediebin..." Der Jäger machte eine hilflose, fast schon verzweifelte Handbewegung.
"Na komm, Tuvok. Du glaubst doch nicht wirklich...dass sie...also, dass sie einfach auf und davon ist. Nur wegen...also wegen..."
Zu allem Überfluss tauchte auch noch Jodokus auf. Oder zu Alriks Glück, den der Jäger wirkte auf ihn wie ein brodelnder Feuerberg kurz vor dem Ausbruch.
"Haldana ist weg" grollte er in Richtung des Edelmanns.
"Wie weg?" sagte Jodokus lahm und trottete verschlafen zum nächsten Gebüsch.
Tuvoks Hand verirrte sich zum Messer.
Alrik stand schwankend auf und spürte nun jeden einzelnen Knochen. Vielleicht auch die Gicht in den Fingern.
Auf der Tonne lagen noch immer die Boltankarten und sein Gewinn. Klirrend strich er die kleinen Münzen ein.
Erst jetzt realisierte er, was sich da gerade zwischen dem Jäger und dem Rommilyser anbahnte. Der junge Baernfarn drehte sich um.
"Wahrscheinlich ist sie hinterm Haus", sagte Jodokus.
"Ich habe überall nach ihr gesucht" sagte Tuvok. "Sie ist weg." Seine Stimme klang jetzt nach einem Schneesturm in der Nivesensteppe. Eiskalt und fauchend. Seine Finger umschlossen noch immer den Griff des Messers.
Jodokus merkte, dass er gerade unbewaffnet war, und runzelte die Augenbrauen.
"Es ist alles nur deine Schuld". Der Schneesturm in Tuvoks Stimme wurde heftiger. Seine Augen blitzten.
"Was soll das jetzt werden, Steppenschleicher? Willst du mich niederstechen und ausweiden?" Jodokus blickte zu Alrik, wobei er eher Bestätigung als Hilfe zu suchen schien. "Ich warne dich, Jäger. Du bist es, der sich vergisst. Ich war gestern bereit, über deine...deine Unbeherrschtheit hinwegzusehen. Ich muss leider zugeben, dass ich mich zu einer Dummheit habe verleiten lassen, durch dieses...dieses verrückte Mädchen..."
"Gibst du nun auch noch Haldana die Schuld ??!" Tuvok schrie auf, zog sein Messer und ging auf Jodokus zu.
"Du hast sie entehrt! Wenn sie sich etwas angetan hat, bringe ich dich um!"
"Gemach, gemach" Alrik schob sich zwischen die beiden Streithähne. "Vielleicht sollten wir wirklich erst einmal schauen, wo sie ist. Aufeinander losgehen können wir nachher immer noch."
Nun bemerkte er Hesindian, der in der Tür aufgetaucht war und offenbar alles mitverfolgt hatte.
"Shinxir" sagte der Magier. Es klang wie ein Zauberwort.
"Maraskan", nickte Alrik. Dann wandte er sich wieder dem Jäger zu, der noch immer das Jagdmesser in der Hand hielt, zitternd vor Zorn.
"Tuvok, ich verstehe deine Aufregung. Aber wir sollten jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und nichts tun, was wir nicht mehr rückgängig machen können..."
"Einen...ich soll...einen kühlen Kopf bewahren!? So wie dieser...dieser geile Hurenbock dort ?!"
"Ich verwahre mich gegen diesen impertinenten Ton" Jodokus Stimme klang schneidend, ganz nach arrogantem Aristokraten.
"Muss ich dich daran erinnern, dass ich von Stand bin? Und du nur ein dahergelaufener Gemeiner? Noch ein Wort, und ich werde mir Genugtuung verschaffen, für all die Schmähungen...das hätte ich gestern Abend schon tun sollen, du Flegel!"
"Deine Genugtuung...hast du doch bekommen, du...du hirnloser Ork...nur weil du Haldanas Eltern für unfreie Bauern hältst, hast du ...hast du noch lange kein Recht...ihr verdammten Pfeffersäcke denkt, ihr könnt auch alles erlauben, aber..." Der Nivese wollte sich endgültig auf Jodokus stürzen, aber Alrik hielt ihn auf.
Jetzt nicht auch noch einen Ständestreit, dachte er.
"Tuvok", sagte Alrik beschwörend, mit der Hand auf dem Arm des Jägers, der das Messer hielt. "Was auch immer das da gestern Abend war, Jodokus hat sie nicht vergewaltigt. Verführt, entehrt, das vielleicht... aber nicht geschändet. Ich möchte Haldana nicht erklären müssen, was geschehen ist, wenn sie im nächsten Moment um die Ecke kommt...und zwischen uns herrscht Mord und Totschlag..."
"Entehrt?" Jodokus Stimme klang schrill. "Zweifelt Ihr jetzt auch noch an meiner Ehre, Herr Alrik Tsalind von Friedwang? Lasst diesen Hundsfott ruhig los, damit ich ihn züchtigen kann, wie es ihm gebührt."
"Dann solltet Ihr Euch jetzt besser auf den Weg zu Eurer Klinge begeben."
Jodokus machte tatsächlich einen Schritt auf die Scheune zu - und wurde von Hesindian aufgehalten.
Alrik hielt derweil den Nivesen zurück.
"Lasst mich vorbei, Herr Magier" blaffte Jodokus seinen Gegenüber an.
"Sonst?" Hesindian klang aufreizend ruhig, während er lächelnd seine Arme verschränkte. "Ich dachte eigentlich, wir wären schon beim Du?"
"Haben sich eigentlich alle gegen mich verschworen? Vorbei, oder..."
"Nun beruhige dich erst mal, Jodokus. Du bist nicht bei Sinnen... wir alle sind ein bisschen durcheinander..."
"Ich...ich...bin GANZ RUHIIIG!"
"Offenbar nicht. Schon mal daran gedacht, dass hier auch schwarze Magie wirken könnte? Eine unheilige Beeinflussung durch den Schrein dort drüben? Es sollte dir doch klar sein, gegen welch finstere Macht wir hier kämpfen. Euch allen. Wir stehen hier gegen eine Macht, die Chaos und Zwietracht säen will...recht erfolgreich, wie mir scheint..."
"Der einzige, der ständig Streit und Zwietracht sät, ist dieser anmaßende Jägersbursche...aber das wird sich jetzt ändern...dafür sorge ich."
"Wir sollten jetzt besser nach Haldana suchen... du liebst sie doch, oder?"
Jodokus stutzte und sah verwirrt drein. Mit einem Mal war er kein herrischer Stadtadeliger mehr, sondern ein verstörter junger Mann, dessen Gefühle völlig durcheinander gewirbelt waren. Rot prangte der Hornissenstich an seinem Hals.
"Erinnere dich...der brennende Schrein...die schwarzen Hornissen, die uns gestochen haben...die Herrin der Fliegen, Würmer und Ratten ist listig. Sie steht gegen all das, was die gütige Peraine repräsentiert. Fruchtbares Handeln, Hilfsbereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft. Es war eine dämonische Einflüsterung, fürchte ich, und du bist dieser Versuchung erlegen, gestern Abend. Das ist keine Schande. Aber es ist gefährlich. Du solltest es jetzt nicht noch schlimmer machen. Durch noch mehr unbeherrschtes Handeln. Wenn du Haldana wirklich liebst, dann müssen wir uns jetzt auf die Suche nach ihr begeben. Das gilt auch für dich, Tuvok. Spar dir deinen Zorn für den richtigen Gegner auf...ihr seid doch beide Firunsgläubige. Jagt euch nicht gegenseitig bis in die Niederhöllen."
"Dieser Schnösel liebt Haldana?" Tuvok riss sich von Alrik frei. "Das ich nicht lache. Geschwätz, nicht als eitles Geschwätz. Jeder läufige Hund hat mehr Liebe im Leib als...als dieser...Fatzke!"
Jodokus schob den Magier beiseite. "Lasst mich durch. Das muss ich mir nicht länger bieten lassen..."
Irgendwie schaffte es der Baernfarn an dem Magus vorbei. Nach ein paar Schritten prallte er gegen Rovik.
"Hab ich was verpasst?" brummte der Zwerg. "Was ist denn das für ein Geschrei am Morgen? Bei euch dröhnt es ja lauter als in Angroschs Schmiede."
"Haldana ist verschwunden", sagte Hesindian.
"Oh. Hm. Das ist nicht gut. Hat sie ihre Laute dabei?"
"Ja."
"Dann meint sie es wirklich ernst. War ja völlig durcheinander, das arme Mädchen..."
"Jetzt fängt dieser Zwerg jetzt auch noch an" schimpfte Jodokus.
"Wenn deine Axt am Drachen zerbricht, gib dem Schmied die Schuld - und nicht dem Drachen. Nom rogulrun Barobarraba. So war es schon immer."
"Was?"
"Altes zwergisches Sprichwort. Wenn nichts als Ärger bei etwas herauskommt, nun...dann deutet es darauf hin, dass es schon von Vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Also, wie gehen wir jetzt vor? Noch eine Stunde rumschreien? Oder haben wir in der Zwischenzeit einen besseren Plan?"
"Rovik hat Recht", beeilte sich Alrik zu sagen, mit Blick auf den Jäger. "Wir sollten endlich was unternehmen. Etwas Vernünftiges. Tuvok, du bist doch ein hervorragender Fährtensucher. Sieh nach, ob du eine Spur von Haldana findest, ehe wir noch mehr Zeit verlieren. In der Zwischenzeit satteln wir die Pferde. Egal, wo sie hin möchte. Beritten holen wir sie wieder ein. Weit kann sie nicht gekommen sein."
Während der Jäger sich auf die Suche machte - er hatte eingesehen dass Rovik, Alrik und Hesindian recht hatten - fanden Alrik und Hesindian Zeit, durchzuatmen. Es war zu viel gewesen heute Vormittag. Das hatte der Gruppe nicht gut getan, dieser unnötige Streit.
So ganz hatte Hesindian das ohnehin nicht verstanden. Jedenfalls passte da einiges nicht ganz zusammen, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Oder hatte er es einfach nur nicht begriffen? Sein Blick fiel auf Rovik, den bärtigen und grimmig-entschlossen dreinblickenden Zwerg.
„Wie sagtest du gleich noch einmal hieß dein Vater?“ Hesindian vermochte selbst nicht genau zu sagen, was ihn dazu bewog, jetzt die vermeintlich unpassende Frage zu stellen. Es war wohl auch, um vom Streitthema abzulenken und Jodokus dazu zu bringen, sich mehr mit den drei angeheuerten Gefährten zu befassen. Aber die Frage hatte ihm auch sonst schon beschäftigt. Es war mehr als eine Ahnung.
„Vulkanus“ sagte der Zwerg. „Rovik, Sohn des Vulkanus“ wiederholte der kleine Mann seinen Namen.
„Sag mal, Rovik… die Schwarze Sichel ist ja nicht so dicht bevölkert und es gibt nicht so viele Zwerge in den Bergen, aber dein Vater, Vulkanus, war der nicht mal Schmied in Gallys? Der Sohn des Gladiat?“
„Du kanntest ihn?“ Rovik war verblüfft.
„Ich mag aus Almada kommen, aber ich lebe auch schon seit mehreren Jahrzehnten in Friedwang. Und in der Sichel kennt jeder jeden über zwei oder drei Ecken. Ja, ich kannte Vulkanus, den Sohn des Gladiat. Nicht gut, aber ein paar Mal habe ich ihn gesehen. Er war ein guter Axtkämpfer.“
„Dann kanntest du ihn besser als ich“ brummte Rovik einsilbig. „Mein Vater ging auf Wanderschaft, wie alle jungen Zwerge. Zog mit einem Menschenkrieger durch die Lande. Und dann übernahm er eine Schmiede in Gallys. Aber bevor er sein Gesellenstück fertigen konnte, starb er, ehe er wieder heimkehrte.“
„Im Krieg gegen den Bethanier, das war nicht lange vor der Dämonenschlacht an der Trollpforte“ ergänzte Hesindian, und Alrik fragte sich, woher sein Hofmagier das wusste. „Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“ fragte der Baron ihn? „Der Gallyser Schmied? Woher weißt du das, Hesindian“
„Na das solltest du aber auch wissen, Alrik.“
„Erzähl von meinem Vater…“ unterbrach der Zwerg. „Was weißt du von ihm?“
„Naja, ich habe ihn erst in seinen letzten Jahren kennen gelernt. Ihn und seinen Kampfgefährten der letzten Jahre. Die beiden gaben ein beeindruckendes Bild ab, meine ich. Also, das muss man sich bildlich vorstellen. Ein über zwei Schritt großer Thorwaler und ein Angroschim nebeneinander, beide mit schweren Äxten bewaffnet. Nannten sich Axtgespann, in Anlehnung an Spießgespann, was man ja auch bei den Angroschim kennt.“
Rovik nickte. „Ja, Axtgespann. So habe ich es auch gehört. Nur dass ich diesen Thorwaler nie gesehen habe…“
„Hjalf, so hieß er. Ich kannte ihn aber auch nur flüchtig. Er ist auch im Krieg gefallen.“
„Hjalf“ Alrik dachte nach. „Das war der Menschenkrieger, mit dem Roviks Vater durch die Lande zog?“
„Ja und nein… sag mal, Alrik, sitzt du gerade auf der Leitung, oder hat Dir Deine Gemahlin nie von den Geschichten erzählt? Von Odilons Reisen, bevor er damals das Gallyser Erbe antrat?“
So langsam sickerte es beim Streunerbaron durch. Er zog eine Augenbraue hoch. Die über dem unbedeckten Auge.
„Odilon und Vulkanus sind durch die Lande gezogen? Hatte ich das vergessen? Das muss während meiner Brabaker Zeit gewesen sein…“ stammelte Alrik.
„Oder noch davor. Damals muss Odilon ein junger Bursche gewesen sein. Noch bevor es ihn dann in den Norden zog und er bei den Elfen seine elfengleiche Schönheit fand“ ein wenig verklärte sich Hesindians Blick bei dem Gedanken an Jirka. „Also diese Waldelfe. Naja… jedenfalls als die beiden dann nach Gallys gekommen sind, ist Vulkanus mitgekommen und hat dort die Schmiede übernommen.“
Rovik nickte. „Du kanntest ihn wirklich. Ich habe ihn nie gesehen, meinen Vater. Ich war noch ein Säugling, als Vater fortziehen musste. Ich ging selbst gerade in die ersten Lehrjahre in eine Schmiede, als mein Vater in Gallys weilte. Ihr wisst, wie das bei uns ist. Man verlässt seine Schmiede nicht. Ich nicht die meines Lehrmeisters und er nicht die Seine, bevor er sein Meisterstück fertigen konnte und Meisterschmied werden konnte. Und dann kam der Krieg…“
Hesindian nickte. „Der Krieg, ja. Viele haben ihre Väter nie kennen gelernt in dieser furchtbaren Zeit.
„Das muss lange her sein…“ warf Jodokus ein, froh, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen.
„Ja…“ erklärte Hesindian. „Vulkanus muss ungefähr gefallen sein, als du geboren wurdest. Alrik, damals warst du noch irgendwo bei Brabak. Ich war ja damals schon Hofmagier bei Gernot. Auch das ist so eine Sache… das erinnert mich fast an letzte Nacht. Citia von Baernfarn, durchgebrannt mit dem Immankapitän Ruwi ter Jaffon. Ein Skandal, den man in Gallys gerne unter der Decke hielt. Baron Gernot hingegen hat es gefreut, den südlichen Nachbarn als Gespött zu sehen. Ich werde den Verdacht bis heute nicht los, dass Gernot da seine Finger im Spiel hatte… Klar, lebenslustig bis unkeusch war Citia sicherlich schon immer. Aber dass sie ihre Kräutlein vergessen hatte und schwanger wurde. Naja wenn da mal nicht jemand seine Finger im Spiel hatte. Und damit meine ich nicht diesen Immanspieler. Und kurz nach der Geburt ist Citia gestorben.“
„Meine Tante“ brachte Jodokus hervor.
„Ja. Andererseits… wenn das damals eine Intrige Gernots war, ging das nach hinten los. Den Baernfarns hat es nicht wirklich geschadet, aber mit Raul gab es einen anerkannten Nachfolger und Ziehsohn, als Deggen dann den Rabenmundschen Intrigen zum Opfer fiel.“
„Heißt, das Leben meines Onkels, und damit auch meines und das meiner Ziehschwester, der Baronin von Gallys, haben wir den Intrigen dieses Gernot zu verdanken?“ Jodokus fasste das ganze banal und stark verkürzt zusammen.
„Naja, wäre möglich. Ich weiß noch ganz genau, dass Gernot sich damals mit einem Gallyser Alchimisten getroffen hat. Wäre doch möglich, das Citia bei diesem ihre Kräutlein bezogen hat, und dass ihr auf diese Weise unwirksame Gewürze statt der richtigen Pflanzen zugespielt worden sind.“
„Mag sein“ grinste Alrik. „Es könnte Phex gefallen haben, auf diese Weise seine eigene Intrige gegen den Urheber zu nutzen. Die Wege der Götter sind unergründlich.“
Tuvok hatte seinen Bogen und den Köcher an sich genommen - und der Versuchung widerstanden, Jodokus einfach einen Pfeil zwischen die Rippen zu jagen. Er biss seine Zähne zusammen, was nicht nur an den Wunden lag. Das Gerede von magischen Einflüsterungen und dergleichen beeindruckte ihn wenig. Auch er war gestochen worden - und dennoch war er nicht über Haldana hergefallen. Dieser Alrik hatte leicht reden. Wenn ihr Auftraggeber nicht auf Wache eingeschlafen wäre...richtig gemütlich hatte er es sich gemacht, der feine Pinkel. Diese Städter waren alle gleich: Blaues Blut, ha! Keine Woche würden die verweichlichten Schlossbewohner und Stadtmenschen in der Wildnis überstehen, die angeblich göttergegebenen Herren der Welt. Dekadent waren sie, und hochnäsig. Egal, Tuvok musste seinen Schützling wiederfinden. Was sollte er sonst ihrer Mutter erzählen? Am Ende würde Haldana noch in der Gosse enden, oder an einem schlimmeren Ort, als gefallenes, beschmutztes Mädchen.
Ein wenig schmerzte es Tuvok allerdings schon, dass sie ohne ihn aufgebrochen war. Ohne ihn und Rovik. Sich einfach fortgeschlichen hatte. Nein, eine Schändung war das wahrlich nicht gewesen. Wie konnte ein anständiges Mädchen wie Haldana sich nur derart gehen lassen?
Wie auch immer, er war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn von seinem Zorn ablenkte. Firun war ihm gewogen. Es hatte geregnet, in den frühen Morgenstunden. Die vielen verwirrenden Spuren des Vortags waren weitgehend ausgelöscht worden, während er Haldanas zierliche Schritte gut sehen konnte, im nassen Gras. Das bedeutete, dass sie nach dem Regen aufgebrochen war, vermutlich schon im ersten, rötlichen Morgenlicht, kurz vor Praiosaufgang. Viel Vorsprung hatte sie noch nicht, vielleicht ein, zwei Stunden.
Sie war zum Brunnen gegangen, offenbar, um sich zu säubern, verständlicherweise. Was tat sie nun? Ging geradewegs auf den Feldweg zu. Selbst dort, zwischen tiefen Huf- und Wagenspuren, war ihre Fährte noch zu erahnen.
Ah, sie hatte sich auf den Weg zu den Bienenstöcken begeben. Dort aber nur kurze Zeit gestanden. Er kannte sich mit Immen nicht so gut aus wie mit den Tieren des Waldes. Aber vermutlich schwärmten sie erst bei Tagesanbruch.
Wahrscheinlich hatte sie sich als nächstes auf den Weg Richtung Landstraße begeben. Auf dem Feldweg schimmerten einige Pfützen. Die Blutlache des Schwarzbärtigen war bis auf einige Reste weggespült worden. Obwohl der schlammige Boden ideal war, um Spuren zu lesen, konnte er Haldanas "Trittsiegel" nicht mehr entdecken. Sein Blick fiel auf ein Getreidefeld, auf dem halbhoch und grünlich der Winterroggen stand. Eine deutliche Spur führte hinein, geradewegs auf den Acker. Haldanas Spur?
Was war denn das? Dort, am Apfelbaum, lehnte die Laute, nicht weit weg von den "Beuten", wie die Bienenstöcke in der Imkersprache hießen (das wusste er von Haldana). Nun war Tuvok ernsthaft besorgt. Egal, wohin die junge Schwarzsichlerin sich auf den Weg gemacht hatte, sie würde immer ihr geliebtes Instrument mitnehmen.
Der Waldläufer nahm die Laute an sich. Eine Saite fehlte. Tatsächlich, dort lagen die beiden Hälften, auf einem Steinmäuerchen am Wegesrand, wahrscheinlich gerissen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Der Jäger war sich nicht ganz sicher, aber als er Haldana das letzte Mal mit der Laute gesehen hatte, war tatsächlich eine Saite heruntergehangen. Ein beunruhigender Verdacht kam in ihm auf. Womöglich war Haldana gar nicht davongelaufen. Hatte sich die junge Frau in der Dämmerung nach draußen begeben, weil sie einfach nicht (mehr) schlafen konnte? Hatte sie sich ablenken wollen, in dem sie ihre geliebte Laute reparierte? War hier draußen etwas ganz anderes vorgefallen, als sie alle vermutet hatten?
Erneut blickte er zu der Schneise aus niedergetretenem Roggen, die dunkel ins Getreide führte.
Alrik hatte aufgesattelt und band Flocke am Vordach fest. Er schämte sich noch immer, wegen seines Versagens auf der Wache. Shinxir, der Götze der bosparanischen Legionen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass auf Wache einschlafen mit dem Tod bestraft worden war, bei den alten Bosparaniern. Verständlich. In Kriegszeiten, an vorderster Front, konnte das einem auch in der Reichsarmee passieren...Wenn man nicht gleich mit einem zweiten Mund aufwachte.
Hesindian kam mit zwei Pferden aus der Scheune.
"Immerhin haben wir jetzt ein Packpferd übrig, für unsere süße Honigmumie."
"Die Kiste hat Haldana also nicht mitgenommen?"
"Wäre ein bisschen schwer gewesen..."
"Keine Frauen, kein Geschrei" Alrik setzte sich den Hut auf, und schob sich ein Stück Hartwurst in den Mund, als Frühstück. "Eins sage ich dir. Das nächste Mal werde ich Soldfrauen anheuern, keine Soldmädchen."
Sein Blick fiel auf die aufgedeckten Boltankarten, die noch immer auf der Tonne lagen, neben einer Stapel mit den übrigen Karten. Fünf Magier, fein säuberlich aufgereiht, von jedem Element einer: Erz, Humus, Eis, Wasser, Feuer, Luft.
"Vergiss deine Boltankarten nicht", sagte Alrik beiläufig.
"Sind nicht meine."
Der Baron sah zu Hesindian, der gerade die Höhe der Steigbügel neu einstellte.
"Sind die Boltankarten des Zinkers", meine der Magier und öffnete die Satteltasche (wo tatsächlich das Chorhoper Glücksrad zu sehen war).
Alrik trat ans Fässchen. Hesindian war genau gegenüber gesessen, auf einem Hackklotz. Alrik hatte zuletzt seine Gewinner-Hand aufgedeckt: die Akademie. Die Karten hatten dabei genau andersherum gelegen, so das der Magier seine Kollegen hatte sehen können, im Fackellicht. Nun drängten sie sich regelrecht am anderen Tonnenrand. Sein Freund hatte die übrigen Karten danach wieder zu einem Stapel sortiert. Das war alles gewesen. Der Mondschatten hätte bei Phex schwören können, dass sie sich danach zum Schlafen begeben hatten, oder eben auf "Wache", aber nichts mehr geändert hatten.
Der Baron folgte der "Blickrichtung" der Magier. Sie deuteten geradewegs in Tuvoks Richtung. Der Jäger war den Weg hinunter gegangen und schlug sich nun, am Wegesrand, in ein Roggenfeld, mit einer Laute über der Schulter. Haldanas Laute?
"Hesindian...das heißt also, das da sind Gerrichs Karten?" hörte sich Alrik fragen. "Seine magischen Karten?"
Halb geduckt huschte Tuvoks durchs nasse Getreide. Auch wenn das Feld unangenehm feucht war, fühlte er sich wie zuhause. Wie in einer Steppe. Er trug die Laute über der Schulter, gleich neben dem Köcher. Einen Pfeil hatte er herausgezogen und auf die Sehne seines Bogens gelegt. War Haldana vor etwas geflohen? Aber die Halme waren kaum beschädigt, nur niedergetreten. Teilweise hatten sie sich schon wieder aufgerichtet. Die Bardin hatte sich vorsichtig angeschlichen, so ähnlich wie er gerade selbst.
In der Nähe flatterte ein Rebhuhn auf, aber Tuvok blieb ruhig. Er ließ seinen Blick über die grünen Halme schweifen, die gerade erst Ähren ausbildeten. Irgendein Käferchen krabbelte auf einer Ackerwicke herum. Haldanas Pfad führte ungefähr in Richtung Unheiligtum, zumindest kam ihm das so vor. Hatte sie dort irgendetwas entdeckt?
Der Jäger zuckte zusammen, als ein schwarzer Schatten vor ihm auftauchte, spannte den Bogen und legte an...Im nächsten Moment ließ er seine Waffe wieder sinken. Es war nur eine windschiefe Vogelscheuche, die dort stand, eine Strohpuppe mit zerschlissenem Bauernkittel und löchrigem Hut. War es das, was seine Gefährtin beunruhigt hatte? Nun, Haldana war ihm seit dem Kampf um Helbers Hof irgendwie verwirrt vorgekommen...aber derart närrisch war sie nun auch wieder nicht gewesen.
Er folgte dem Weg und trat nach einigen Schritten auf einer Art Lichtung im Kornfeld. Das Getreide war überall ringsherum niedergedrückt. Ein Kampf? Nein, das sah alles zu regelmäßig aus. Ein Kreis, ein vollkommener Kreis von der Größe eines Wehrturms in der Rommilyser Stadtmauer. Keine Fußspuren, nichts. Die nassen Halme schienen mit großer Kraft auf den Boden gepresst worden zu sein, aber beschädigt waren sie kaum.
"Hexenringe", so nannte man die Kornkreise in der Sichel. Manche behaupteten, sie wären ein Tanzplatz für die Töchter Satuarias oder Feenkreise. Die Alten raunten, es wären Windgeister, die im Getreide spielten. Er als Firunsgeselle wusste es besser: Brünftige Rehe hinterließen bei ihrem Liebeswerben solche Spuren (einen Augenblick lang kehrte beim Gedanken an Böcke und Ricken der alte Groll in sein Herz zurück).
Es war ein großer und gleichmäßig runder Kornkreis, sicher acht Schritt im Durchmesser. Gleichzeitig endeten hier Haldanas Spuren. Sie war einfach in den Hexenring hineingegangen - und nicht wieder hinaus. Als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden, durch die Halme hindurch in Sumus Reich hinabgesunken. Tuvok tastete nach seinem Amulett. Er war ein guter Fährtenleser. Aber diese Fährte ergab keinen Sinn. Zumindest keinen firungefälligen. So sehr er auch suchte und spähte, da war kein Hinweis mehr. Ein schmaler Pfad, und ein großer Kreis an seinem Ende. Ein Hase, der zwischen den Halmen davon hoppelte. Das war alles.
Tuvok hob den Bogen, als er vom Pfad her ein Geräusch hörte. Es war Hesindian. Auch wenn der Jäger überderische Kräfte verabscheute, konnte er den Rat des Zauberers jetzt gut gebrauchen. In einigen Schritt Abstand folgten Rovik und Alrik. Jodokus, der schurkische Mädchenschänder, traute sich nicht in seine Nähe. Gut so.
"Was hat das zu bedeuten?" fragte Hesindian.
"Das wollte ich dich gerade fragen" Tuvok reichte dem Magier die Laute. "Die stand am Apfelbaum, neben dem Weg zu Helbers Hof. Mir kommt es so vor, als wollte Haldana einfach nur eine Saite reparieren, die gerissen war. Als wäre sie gar nicht davon gelaufen."
Der Magier zupfte eine undeutliche Melodie. Es fehlte nicht viel, und die Erinnerung an Haldana hätte den Jäger übermannt.
Verzweifelt raufte er sich die Haare.
"Haldana! Wo bist du?"
Irgendwo in der Ferne antwortete ein mattes Echo.
Alrik öffnete seine Augenklappe und spähte ebenfalls um sich. "Moment...Haldana läuft mitten in der Nacht auf einen Acker...nur um dort ihre kaputte Laute zu flicken?"
"Nicht mitten in der Nacht. Es war wahrscheinlich schon dämmrig. Sie war aufgewühlt, durcheinander, konnte nicht mehr schlafen und wollte sich irgendwie ablenken...und hat vom Weg aus etwas entdeckt. Etwas im Kornfeld."
"Soll das heißen, sie wurde verschleppt?" Rovik stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Halme blicken.
"Von wem?"
"Es gibt keinerlei Kampfspuren" sagte Tuvok. "Das ist alles sehr merkwürdig."
"Fürwahr." Hesindian reichte die Laute an Alrik, der sie genauer in Augenschein nahm. Eine kleine Kerbe am Lautenhals schien schon etwas älter zu sein. "Womöglich ein TRANSVERSALIS, oder eine Art Feentor...Ich hoffe inständig, es hängt nicht mit dem Unheiligtum dort drüben zusammen..."
Tuvoks Augen weiteten sich vor Entsetzen, während er sich hilflos um die eigene Achse drehte: "Haldana??!"
Der Magier kniete in der Mitte des Kornkreises nieder, murmelte etwas und schien einen Zauber zu wirken.
Nach einer Weile erwachte er aus seiner tiefen Konzentration.
"Hier hat Madas Kraft gewirkt", nickte der Zauberer. "Aber die Residual-Spuren sind ganz schwach, kaum noch wahrnehmbar. Was immer sich in diesem Kreis befunden hat, jetzt ist es wieder verschwunden. Seit einigen Stunden schon."
Der Blick des Magiers ging versonnen nach oben, zum Himmel.
8- Kapitel
8. Kapitel
Gerrichs finsterer Plan
Die Welt war schwarz und dunkel und schien nicht fest zu sein. Sie bewegte sich aufwärts und abwärts und rollte nach rechts und nach links. Ein furchtbares Pochen dröhnte in ihrem Schädel. Woher kam das, fragte sie sich, dann versank sie wieder in einen ruhelosen Dämmerzustand. Die leicht rollenden Bewegungen hielten Sie gefangen und ließen sie keinen klaren Gedanken fassen. Oder war es der Schmerz auf ihrem Hinterkopf, der jedes Denken unterband?
Es war dunkel. Auch nachdem sie die Augen geöffnet hatte, blieb es dunkel. Offenbar war es Nacht. Aber wo waren die Sterne? Wo das Madamal? War es nicht in der Phase des Kelchs gewesen? Es war warm, schwül. Immer noch dieses Schwanken, als hinge sie einfach nur in der Luft. War es so, oder bildete sie sich das ein. Wie war sie hier her gekommen? War sie geflogen? Ein Erinnerungsfetzen, kaum greifbar, durchzuckte sie. Geflogen.
Sie tastete langsam, als könnte sie ihre Finger vor Müdigkeit kaum bewegen, den Boden ab, auf dem sie lag. Sie lag auf einem Boden… so viel stand fest. Aber war sie müde? Nein, eigentlich nicht. Warum wirkte es so, als wären ihre Finger völlig an einem anderen Ort? Drehte sich der Ort, an dem sie war? Oder war ihr schwindlig. Aber warum schaukelte die Welt dann? Bildete sie sich das nur ein.
Holz. Ihre Finger ertasteten Holz. Sie lag also nicht mehr in einem Kornfeld.
Kornfeld? Wie kam sie darauf?
Richtig… sie hatte das Bedürfnis gehabt, die Saiten ihrer Laute zum Klingen zu bringen. Hatte sich an einen Baum gelehnt, im Feld, und wollte die zerrissene Saite neu aufziehen.
Wann war das gewesen? War das lange her? Und warum tat ihr der Schädel weh? Warum war alles so schmerzhaft? Das Reißen im Bauch, das Dröhnen im Kopf? Womit hing das zusammen?
Jodokus… eine blutige Erinnerung kam in ihr hoch.
„Verflucht“
Hatte sie selbst das gemurmelt? Sie wusste doch, dass man die Unterirdischen nicht anrufen sollte.
Die Unterirdischen? Was dachte sie da? Wieso dachte sie von den Dämonischen als Unterirdischen. Wieder brachte sie da etwas durcheinander.
Und warum war es immer noch dunkel? Hatte sie die Augen etwa noch geschlossen? Langsam öffnete sie die Augen, erneut. Aber dunkel war es immer noch.
Fast ganz dunkel. Ein wenig verschiedene Abstufungen der dunkelgrauen und schwarzen Töne waren zu bemerken. Aber wirklich erkennen konnte sie nichts. Noch einmal tastete sie mit den Fingern, als wären diese unendlich weit entfernt, umher. Holz… ein Holzbrett. Aber sie lag nicht auf Holz. Es war warm, weich, nicht hart und kantig und kalt. Langsam, unendlich langsam, folgte sie mit den dem Holzbrett. Es schien… senkrecht zu sein zu dem Weichen, in dem sie lag. Weiter vorne stieß es auf etwas anderes… auch Holz, aber gröber, etwas gerundet. Ein Baumstamm? Ein Balken eines Blockhauses? Ein….? Was auch immer. Aber sie lag weich. War das ein Bett? Wie kam sie dahin? Mühsam stützte sie sich auf. Tatsächlich… eine Decke. Sie musste in einem Bett liegen. Langsam und vorsichtig zog sie sich an den Holzbalken nach oben, die die Wand bildeten. Da war eine Stelle, die ihr heller schien. Ein wenig heller, ohne wirklich hell zu sein.
Ein kleiner Spalt zwischen den Holzbalken. Etwas Licht viel hindurch. Nein… kein Licht. Auch draußen schien es dunkel zu sein. Etwas Dämmerlicht vielleicht. Entweder war es frühe Morgendämmerung oder späte Abenddämmerung. Immerhin, ein wenig konnte sie draußen erkennen. Die Silhouette einer hügeligen Landschaft, die sich vor einem nicht ganz dunklen Himmel abzeichnete. Hügel… sie schienen bewaldet zu sein. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das matte Licht. Bäume zeichneten sich in ihrer Form ab. Sie standen… an einem Ufer.
Immer noch war ihr schwindlig. Wieder fühlte sie sich wie in der Leere aufgehängt. Draußen wackelte der Boden. Die Uferkante auf der rechten Seite hob sich, die zu ihrer Linken senkte sich. Was war das? Hatte Ingerimms Hammerschlag die Erde bewegt? Das konnte nicht sein.
Die Uferkante auf der rechten Seite senkte sich wieder.
Ein Schiff? War sie auf einem Schiff? Aber wenn, dann bewegte sich das Schiff nicht von der Stelle. Die Bäume am Ufer entfernten sich nicht. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen.
Es wurde Zeit, aufzustehen. Mühsam und unendlich langsam bewegte sie die Beine, schob sie über die weiche Decke und setzte sie auf den Boden. Holz. Wieder Holz. Sie stand auf, setzte sich aber gleich wieder, als es erneut in ihrem Kopf dröhnte, als hätte man ihn wie einen Amboss mit Hämmern bearbeitet.
Noch einmal zwang sie sich dazu, aufzustehen. Erst war sie sich nicht sicher, ob die Beine ihr gehorchen wollten. Auch die Beine schienen sich unendlich weit entfernt zu befinden. Wieder schien der Boden zu schaukeln.
Das musste ein Schiff sein, dachte sie. Aber wieso? Wie kam sie hier hin? Hatte sie nicht zuletzt, den Rücken an eine Hainbuche gelehnt, einfach nur musiziert? Ein paar Akkorde aneinander gefügt, wie von einer unendlich traurigen Melodie? Und warum war sie traurig gewesen?
Nun, immerhin, jetzt war sie nicht traurig. Dafür aber völlig desorientiert.
Jodokus…
Nun, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Hätte sie mal in ihrem Leichtsinn nicht mit dem in seinen überschwänglichen Gefühlen verlorenen Edelmann gespielt.
„Ach schiet druf“ murmelte sie leise.
Sie tastete die Holzwand entlang. Die runden Bohlen endeten rechts und links an je einer Bretterwand, vielleicht einen Klafter voneinander entfernt. Eine kleine Kammer. Hieß das nicht Kajüte auf einem Schiff? Wenn sie denn tatsächlich auf einem Schiff war und sich das nicht nur einbildete.
Nein, für einen Alptraum war das zu real und die Erinnerung das missglückte erste Mal mit Jodokus zu klar. Aber das spielte keine Rolle mehr. Es war zugleich auch das letzte Mal mit Jodokus gewesen. Was wollte sie auch von einem Stadtschnösel. So einen gestelzten Lakai bräuchte sie daheim in den Sichelbergen gar nicht erst vorzeigen. Da würde sich die Sibilja doch im Grab umdrehen.
Wieso die Sibilja? Haldana musste sich eingestehen, dass sie ihre Gedanken nicht ganz bei sich hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf das ertasten ihrer Umgebung. Richtig. Ein Raum, einen Klafter breit und auch nicht viel länger. Runde Bohlen auf der Außenseite, wo sie auch durch einen Spalt auf die Hügelkette spähen konnte. Bretter auf den Seiten und gegenüber. Gegenüber… eine Tür. Aber verschlossen. Es war wohl ein Riegel vorgelegt. Eine Klinge hatte sie nicht ertastet, auch sonst keinen Mechanismus. Aber da die Tür nicht aufging, war vermutlich einfach auf der anderen Seite ein schwerer Holzbalken vorgelegt.
Sie war gefangen.
Von wem und warum?
Haldana tastete weiter. Andere Möbel als ein Bett schien es nicht zu geben. Bis auf ein Bündel, das neben ihrem Bett stand, war der Raum vermutlich leer, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Das Bündel. Sie griff vorsichtig danach. Eine lederne Tasche mit Tragriemen, ausgepolstert. Eine Laute. Na immerhin, das war vielleicht die erste gute Sache, von der man sagen konnte. Sie war gefangen, aber es war keine Kerkerzelle. Was immer der oder die unbekannten mit ihr vorhatten. Ein unbekannter Musikliebhaber würde es wohl nicht sein?
Aber auch wenn nicht… es konnte nicht schaden. Früher oder später würde derjenige, der sie gefangen hielt, ohnehin hier nach ihr sehen. Was immer dann geschah. Aber sie würde sich besser fühlen, wenn sie zuvor auf der Laute gespielt hatte. Sie würde ihre Gefühle wieder gänzlich im Griff haben und frei von Angst sein.
Das erste Lied, das ihr einfiel, war das Lied der Schwarzsichler Freiheitsbewegung der Sichelbarone, die von Fürstin Irmegunde nieder geschlagen wurde, `Zu Rommilys in Ketten`. Leise erklang ihre Stimme, Haldana sang die Geschichte eines Mitbegründers des Trutzbundes der Schwarzen Sichel, der für sein Eintreten für eine geeinte Grafschaft Schwarze Sichel von der Fürstin angeklagt wurde wegen Hochverrats, sich selbst der fürstlichen Gerichtsbarkeit stellte und in Ketten vor Irmegundes Thron geschleift wurde, um dort sein Urteil, die Verbannung, entgegen zu nehmen. Haldana war noch nicht geboren gewesen, als diese Geschichte stattgefunden hatte.
„Schön gesungen. Es freut mich, geschätzte Dame, dass Ihr aufgewacht seid. Vieles freut mich an einem schönen Tag wie heute.“ Erklang eine Stimme aus dem Dunkel. Haldana hatte niemanden herein kommen hören, niemanden die Tür öffnen hören. War der jemand draußen vor der Tür? Die Stimme klang dafür eigentlich zu nah.
Haldana hatte, trotz ihres Schreckens, nur einen kurzen Moment inne gehalten, dann spielte sie die Akkorde weiter, als wäre es völlig normal, eine körperlose Stimme in einem dunklen Raum zu hören, in den man sie eingesperrt hatte.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hätte nicht gerechnet, einen Herrn mit Manieren und Anstand hier in dieser dunklen Kammer zu treffen.“ Haldana spielte ganz bewusst auf die höflichen Umgangsformen des Unbekannten an. Ein Lob über eine Eigenschaft brachte Männer oft dazu, diese Eigenschaft zu pflegen. Und das konnte Haldana nur Recht sein. Zumal sie wohl seine Gefangene war. Außerdem war sie in Hochgarethi gewechselt, mit dem sie vom unbekannten angesprochen worden war.
„Nun, Geschätzte Dame, seid unbesorgt und verzeiht auch die Umstände, dass ich Euch ein nicht so nobles Quartier anbieten kann, wie es Euch zustehen würde. Es betrübt mich sehr. Aber Ihr werdet es verstehen.“
Haldana verstand nichts. Aber da der Unbekannte sich offenbar auf höfische Umgangsformen verstand und sich gegenüber Damen sittlich zu benehmen wusste, ließ Haldana sich auf das Wortgeplänkel ein. Eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht. Und wenn sie dem Unbekannten Informationen entlocken konnte, käme sie vielleicht weiter.
„Nun ja. Ich will darüber hinweg sehen. Für den Augenblick jedenfalls. Aber vielleicht habt Ihr die Güte, euch vorzustellen. Mein Name ist übrigens…“
„Ich weiß, wer Ihr seid. Aber ihr habt Recht, Haldana. Es ist guter und rechter Brauch, sich vorzustellen. Ich bin Gerrich von Friedwang“
Haldana ließ sich keine Reaktion anmerken. Aber sie hatte keinen Zweifel, dass der Unbekannte die Wahrheit sagte, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Haldana war oft genug bei Ihrer Mutter dabei gewesen, wenn diese geschäftliche Gespräche geführt hatte. Sie hatte gelernt, auf Kleinigkeiten wie den Klang der Stimme oder Gesichtsausdrücke zu achten, um ihr Gegenüber zu deuten. Zwar konnte sie jetzt Gerrich nur hören und nicht sehen, aber sie war sich sicher, dass er nichts einfach so dahin sagte.
„Nun denn, Hochgeboren.“ Als Angehörigem einer barönlichen Familie würde Gerrich diese Anrede sicher gebühren, auch wenn Haldana nicht genau über die verwandtschaftlichen Bande der Familie auf dem Steinbockthron Bescheid wusste. „So möchte ich mich sehr herzlich bei Euch über die Einladung und die Gastfreundschaft bedanken. Sogar eine Laute habt Ihr mir ja zur Verfügung gestellt. Jedoch, so muss ich gestehen, bin ich neugierig, den Grund der Einladung zu erfahren.“
Gerrich lachte freundlich.
„Ich sehe, ich habe mich in Euch nicht geirrt. Ich bin erfreut, dass ihr trotz der unglücklichen und anstrengenden Ereignisse der letzten Tage Euch auf dem Weg der Besserung befindet. Ich will Euch Eure Frage beantworten, geschätzte Dame. Doch habt Geduld. Eines nach dem anderen. Ihr müsst Euch noch erholen. Es ist mir und meinen Leuten zwar gelungen, Euch aus der Gewalt dieses Thronräubers Alrik und des korrupten Brauereibesitzers zu befreien, nur leider wurdet ihr dabei verletzt.“
Faszinierend, dachte Haldana, mit welch wohlgesetzten Worten dieser Gerrich die Wahrheit verdrehen konnte.
„Nun, seid bedankt für Euren Einsatz, Hochgeboren. Aber es wäre nicht nötig geworden. Ich hätte es auch allein geschafft, mit diesen Herrschaften umzugehen.“
„Nun, offenbar nicht. Immerhin hat dieser Schnösel ja an Euch einen Rahjafrevel begangen. Ich konnte das nicht zulassen. Natürlich, Ihr seid als tüchtige Frau bekannt und hättet Euch vielleicht auch selbst aus Eurer Lage dort befreien können. Ich weiß auch, dass Ihr mit dem Rapier gut umgehen könnt. Aber als Ritter und Mann von Stand konnte ich da nicht zusehen. Ich musste Euch befreien.“
Haldana schauderte innerlich. Klar, es wäre leicht gewesen für sie, jetzt Jodokus die Schuld daran zu geben, was ihr geschehen war. Zorn und Enttäuschung hätten es ihr nahelegen können. Doch eigentlich konnte sie, wenn überhaupt, nur zornig auf sich selbst sein. Jodokus mochte ein eitler Schürzenjäger sein und war, näher betrachtet, ganz sicher nicht der Richtige für sie. Aber ein Rahjafrevel war es nicht gewesen. Was Haldana aber insgeheim noch mehr beeindruckte und auch ängstigte war, mit welcher kalten und höflich vorgetragenen Berechnung Gerrich ihre Entführung und Gefangennahme als Befreiung darstellte. Aber es war besser, jetzt nicht mit bitten und betteln zu beginnen. Trotz der ausgesuchten Höflichkeit, mit der Gerrich sprach, war Haldana klar, dass sie nichts zu bitten hatte und Gerrich ihr auch keine Bitte erfüllen würde. Im Gegenteil, Gerrich würde es als Zeichen von Furcht und Schwäche verstehen. Als Gefangene Schwäche zeigen, das würde Ihre Lage aber nur verschlechtern und keinesfalls bessern.
„Ja, ich verstehe und ich danke Euch dafür, Hochgeboren“ Haldana ließ sich auf das tatsachenverdrehende Wortgeplänkel ein. Ich nehme also an, dass Ihr diesen liederlichen Lustmolch und seine Handlanger erschlagen habt?“
„Nein. Noch nicht.“ Antwortete Gerrich kurz angebunden. Immerhin wusste Haldana jetzt, dass die Gefährten noch lebten. Das war schon einmal eine gute Nachricht. „Seid unbesorgt, der Zeitpunkt wird kommen, an dem Euch Gerechtigkeit widerfährt. Nur im Augenblick noch ist die Zeit nicht gekommen für Jodokus, auf den Richtplatz zu treten. Er wird für mehr büßen müssen, als allein für einen Rahjafrevel. Nun, mir selbst geht es eigentlich nicht um Jodokus. Aber meine Pläne mit Jodokus decken sich insoweit mit den Euren, als dass Ihr Gerechtigkeit bekommen sollt… Ihr müsst Euch aber nicht bangen. Es wird schnell gehen. Jodokus di Barnfani hat genug Geld, um dem Henker eine stattliches Trinkgeld zu geben. Es wird schnell für ihn gehen. Nur, wie gesagt, noch nicht jetzt.“
„Nun gut, ich werde mich gedulden. Rache ist ohnehin ein Gericht, das am besten kalt serviert wird“ hörte sich Haldana sagen. Dass ihr das Schicksal ihrer Mitstreiter am Herzen lag, war ihrem Tonfall nicht zu entnehmen. Gerrich mochte sie gefangen halten. Angst machte Gerrich ihr jedoch nicht, und sich verstellen konnte Haldana ebenso gut. „Doch sagt mir, wann ich meine Rache bekomme.“ Es konnte nicht schaden, das Spiel der verdrehten Tatsachen mit zu spielen. Jede Information konnte nützlich sein.
„Nun, leider haben sich meine anderen Geschäfte ein wenig verzögert. Eine Lieferung an die Brauerei konnte nicht zugestellt werden. Eigentlich müsstet Ihr das wissen. Ihr ward ja dabei, als die Fässer mit dem Pech verbrannt wurden. Und leider dauert es, bis ich eine neue Lieferung zusammenstellen kann. Nun, ich will da nicht nachtragend sein, Geschätzte Dame, dass Ihr da auch eine Rolle gespielt habt. Ihr werdet Gelegenheit haben, Euer Missgeschick wieder gut zu machen. Und Ihr müsst dazu nichts weiter tun, als mein Gast zu sein. Dieser Jodokus scheint geradezu vernarrt ich Euch zu sein. Er wird sich mir nicht in den Weg stellen, so lange Ihr mein Gast seid. Seht mir nach, dass ich Jodokus eine andere Geschichte erzählen muss. Eine von Gefangenschaft und Erpressung. Das Geschäft macht es erforderlich. Aber es reicht, dass dieser Barnfani das glaubt, dass Euch hier ein Ungemach drohen könnte. Seid unbesorgt, niemand wird Euch hier ein Haar krümmen. Seid einfach mein Gast und genießt die Annehmlichkeit, die ich euch bieten kann. In wenigen Wochen wird mein Geschäft erfolgreich und Eure Rache vollendet sein.“
So langsam wurden die Pläne dieses Gerrich klarer. Es würde noch einen Giftanschlag auf Rommilys geben. Vielleicht erneut mit vergifteten Bierfässern. Haldana ließ sich ein Erschrecken darüber aber nicht anmerken.
„Gut. Ich bin gerne Euer Gast, und ich bin sicher, dass auch das Quartier hier noch verbessert werden kann. Ein Fenster wäre recht, es ist unglaublich schlecht belüftet hier.“ Haldana machte eine kurze Pause, Gerrich sagte jedoch nichts. „Allein, Euer Plan, so glaube ich, wird nicht aufgehen. Für Jodokus bin ich nur ein Abenteuer, eine Gespielin. Wenn ich nicht mehr da bin, wird er sich nicht weiter darum scheren und sich eine andere Dame zu seinem Plaisir suchen. Nun, ich bedauere es selbst, das nicht früher verstanden zu haben. Aber… Jodokus hat bekommen, was er wollte. Ich mag gehofft haben, ihm mehr zu bedeuten. Aber letztlich war ich ihm nicht mehr als eine entlaufene Leibeigene, an der er sein Recht als Adeliger ausüben konnte.“
Gerrich lachte kalt.
„Hochgeboren, wie ich schon sagte, ich weiß wer Ihr seid. Auch wenn Ihr hier die Soldfrau markiert. Gut, es ist sicher interessant, ein wenig die Welt zu bereisen und Euch die Hörner abzustoßen, bevor ihr Eurer Pflicht in Schlotz nachkommt. Auch ich habe das so gehalten, als ich in Eurem Alter war. Und natürlich tut Ihr gut daran, inkognito zu reisen, wenn Ihr ohne nennenswertes Geleit und Schutz unterwegs seid. Es gäbe sonst viele, die der Verlockung, sich ein Lösegeld zu erpressen, nicht entziehen könnten. Aber nun, Hochgeboren, mir gegenüber könnt Ihr diesen Mummenschanz bleiben lassen.“
Haldana war überrascht, dass Gerrich sie durchschaut und erkannt hatte. Hatte er das wirklich, oder bluffte er, um aus Ihrer Reaktion heraus zu lesen, wer sie war? Jetzt durfte sie sich nicht verraten und keine Schwäche zeigen. Wenn Gerrich wirklich alles wusste, dann würde sie jetzt noch ein viel größeres Problem haben.
Haldana lachte, ebenso kalt wie Gerrich zuvor. „Zurück zu Eurem Plan, Hochgeboren. Es spielt weder eine Rolle, wer ich bin noch wer Ihr glaubt, dass ich sei. Es ist allein entscheidend, was Jodokus glaubt. Und für ihn bin ich eine Soldfrau, eine entlaufene Leibeigene. Niemals eine ebenbürtige Partnerin, nur eine austauschbare Gespielen. Es ist hart, das so zu sagen, aber ich muss der Wahrheit ins Gesicht blicken. Jodokus hätte mir gefallen, ein junger und reicher Mann. Ein Mann von Welt, der zugleich in seinen Geschäften hängt, dass ich genug Freiraum für mich gehabt hätte. Was mehr könnte ich mir wünschen? Aber es ist nicht so. Wäre es anders, hätte Jodokus einen solchen Rahjafrevel begangen? Nein, Hochgeboren, so wird das weder etwas mit meiner Rache noch mit Eurem Geschäft. Wo ist übrigens mein Rapier?“ Haldana wusste, dass sie ihre Klinge nicht zurück bekommen würde. Sie stellte die Frage auch nur, damit Gerrich nicht merkte, wie nahe er der Wahrheit gekommen war. Jedenfalls nicht, wenn er nur Vermutungen anstellte, die er bestätigt zu finden hoffte.
Gerrich lachte erneut.
„Haldana, Ihr seid von kindlichem Gemüt. Verzeiht mir diese offenen Worte, aber habt Ihr geglaubt, dass Jodokus Euch nicht durchschauen würde? Ich schreibe es Eurer Unerfahrenheit in Minnedingen zu, dass Ihr das nicht durchschaut habt. Ihr habt Euch zu sicher gefühlt und darauf vertraut, dass in Rommilys niemand Euch kennt, Hochgeboren. Dass Jodokus das glaubt mit der entlaufenen Leibeigenen? Nun, dann gestattet mir, Euch darauf hinzuweisen, dass Jodokus, so sehr Stadtschnösel er auch ist, aus der Sichel kommt und die alten Familien dort kennt. Ebenso wie ich, übrigens. Nun, Haldana, ihr seid nicht nur eine gute Sängerin und Lautenspielerin, ihr habt eine höfische Ausbildung genossen. Ihr könnt reiten, habt Kunde und Kenntnis von vielen Dingen. Das verrät Euch. Vor allem aber hättet ihr, wenn Ihr inkognito reisen wollt, Euch eine andere Haarpracht zulegen sollen. Natürlich hat Jodokus euch erkannt. Und er weiß eines mit Sicherheit: so einen gestelzten Lakai bräuchtet Ihr daheim in den Sichelbergen gar nicht erst vorzeigen. Eurer Mutter jedenfalls mit Sicherheit nicht.“
Hatte Gerrich so über Jodokus geredet, wie sie vorhin über ihn gedacht hatte? War das Zufall oder konnte Gerrich Gedanken lesen? Haldana schauderte innerlich. Doch sie blieb in ihrer Rolle. Was immer Gerrich auch wusste, so blieb ihr in jedem Fall, keine Angst zu zeigen.
„Mein gutes Kind“ begann Gerrich erneut. „Ihr habt diesen Stadtschnösel unterschätzt. Meint Ihr wirklich, dieser Barnfani ist ein harmloser Stadtadeliger, der keiner Fliege etwas zu leide tut? Kind, mit einer solchen Einstellung mag man in einem Dorf der Sichel sein Handwerk betreiben, aber wer in Rommilys nach oben kommt, der versteht sich auf mehr. Ein solcher denkt mindestens drei Schritte voraus, was ihm etwas nutzen könnte und welche Bekanntschaft er pflegen muss, um nach oben zu gelangen oder dort zu bleiben. Meint Ihr, jemand, der eine reiche alte Schachtel umgarnt, der macht das aus rahja- und traviagefälliger Gesinnung? Das Erbe ist es, was ihn treibt? So viel Geld kann er mit seiner Brauerei in zwanzig Jahren nicht erwirtschaften, wie er auf die Schnelle erheiratet? Und wenn die Alte mal den Löffel abgibt, ist alles sein? Würde mich wundern, wenn das noch lange dauert. Jodokus wird schon rechtzeitig nachhelfen. Irmelinde hat ihre Schuldigkeit getan für ihn, er braucht sie nicht mehr. Jetzt seid Ihr an der Reihe.“
Zum ersten Mal fiel Haldana nicht wirklich ein, was sie sagen sollte. Ihr war klar, dass Jodokus Geld und Einfluss geheiratet hatte und nicht die Frau, die er liebte. Dass er mit einem gewissen Zynismus abwarten würde, bis er Witwer war, lag auf der Hand. Dass Jodokus, wie Gerrich das so kalt aussprach, das ganze beschleunigen würde, glaubte sie indes nicht.
„Sehr interessant, diese Theorie. Aber… nun, wenn Jodokus darauf aus sein sollte, von mir ein Erbe zu bekommen nach dem Dahinscheiden seiner Gemahlin… dann hätte er sich wohl mehr Mühe gegeben. Nein, Hochgeboren, ihr irrt Euch.“
„Er braucht sich nicht mehr Mühe geben. Er hat Euch die Unschuld genommen, mein Kind. Sobald er Witwer ist - und das wird sicher nicht mehr lange dauern, da er jetzt handeln muss - wird er bei Eurer Mutter, ganz der vorgebliche Galan, als der er auftritt, um Eure Hand anhalten. Ihr kennt die Traditionen der Sichel. Ihr beide wäret nicht die Ersten die man, um Schande und Gespött zu unterbinden, vor den Altar der Travia schleift. Würde Eure Mutter da nein sagen, wenn ein halbwegs standesgemäßer und Wohlhabender Stadtadeliger zu seinem der Lust geschuldeten Seitensprung steht und vor dem Angesicht der Götter alles legitimiert? Natürlich nicht, mein Kind. Im Gegenteil. Eure Mutter wäre froh, wenn das dann in aller Stille und Verschwiegenheit über die Bühne ginge und es einen halbwegs standesgemäßen Ehemann für die Tochter gibt. Sie hätte gar keine andere Wahl, als Euch zu verheiraten, mein Kind, um Euch nicht zum Gespött des Volkes zu machen und damit die Dynastie zu riskieren. Und Jodokus hätte dann nicht nur eine hübsche Frau, sondern wäre als Baron von Schlotz mit einem Mal dem Hochadel zugehörig. Das ist es doch, was dieser Jodokus plant. Nur deswegen hat er Euch den Hof gemacht und Euer Tarnspiel mitgemacht. Doch jetzt, so scheint es, hat er gewonnen, was er will. Und… nein, das kann ich nicht zulassen.“
Haldana war verunsichert. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Hatte Jodokus sie durchschaut und erkannt? Sie, das älteste Kind Baron Tsafrieds von Schnayttach zu Schlotz und seiner Gemahlin, Haldana von Binsböckel? Nun, es konnte sein. Immerhin war ihre Tante Valyria in dessen Familie eingeheiratet. Er konnte durchaus genug erfahren haben, um sie zu erkennen.
„Nun, Hochgeborene Haldana zu Schlotz“ führte Gerrich seine Rede mit eiskalter Stimme fort. „Ihr werdet mir dankbar sein, dass ich das verhindern werde. Ein solcherart mit kalter Berechnung begangener Rahjafrevel ist ohne Beispiel. Daher ist es mir eine große Freude, Euch bei Eurer Rache zu helfen und Jodokus zu vernichten. Auch werde ich es nicht zulassen, dass Schande über Euch kommt. Auch bei der Suche nach dem richtigen Ehemann für Euch bin ich natürlich behilflich. Bald wird Hochzeit gehalten. Die Baronien Schlotz und Friedwang werden vereint sein und fortan mit gemeinsamer Stärke den Sichelbund beherrschen.
Aber nun, mein Kind, erholt Euch noch ein wenig und übt Euch in Geduld.“
Die Stimme verstummte. Haldana war wieder allein. Allein mit sich, ihrer Verzweiflung und dem Wissen um Gerrichs diabolischen Plan.
Haldana setzte sich wieder aufs Bett und griff nach der Laute. Gedankenverloren zupfte sie einige Akkorde. Aus irgendeinem Grund kam ihr das schwermütige Walsachschifferlied in den Sinn. "Eh...oh...eh...oh...hau ruck, ihr Walsachschiffer..."
So wurde das nichts. Die Laute war irgendwie schlecht gestimmt. Die Sichlerin brach seufzend ab. Sie bekam hier unten keine Luft. Es war feucht, heiß und stickig. Irrte sie sich, oder war es in ihrer Kajüte ein wenig heller geworden?
Erneut blinzelte sie durch die Ritze, tastete mit ihren Fingern über das Holz. Erst jetzt bemerkte sie den hölzernen Riegel. Die Ritze gehörte zu einem Fenster? Tatsächlich. Erfreut öffnete sie die kleine Klappe. Frische Luft und frühes Morgenrot strömte herein. Herrlich. Nun konnte sie draußen weitere Einzelheiten erkennen.
Wäre die Szenerie um sie herum ein Landschaftsgemälde gewesen, sie hätte es als kitschig empfunden. Der Sonnenaufgang war nicht mehr fern, Frau Rahja betupfte die Wolken mit einem zarten Rosa. Die Hügel leuchteten in einem unwirklichen Licht, wie auf einer riesigen Theaterbühne. Die Anhöhen waren offenbar ziemlich steil und bewaldet, dahinter ragten rotglühende Berggipfel auf. Direkt am Ufer verlief ein Treidelpfad. In etwa einem Bogenschuss Entfernung stand ein großes, schmuckes Fachwerkhaus, ummauert und mit Nebengebäuden. Leider war ihr Blickfeld noch immer eingeschränkt, sonst hätte sie den Anblick als weitaus grandioser empfunden.
Haldana überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte. Aber ziemlich sicher würde Gerrich ihrem Geschrei nicht tatenlos zuhören.
Erneut tastete sie nach dem Musikinstrument.
"Im finsteren Turme zu Baliho-oh,
saß einst des Kö-öönigs Maid.
Ihr Bettlein war aus hartem Stroh-oh,
das Herze voller Gram und Leid.
Die Hände, einst silbergeschmücket und zart,
umschlossen nun eiserne Ketten.
Die drückten die Jungfer gar hart.
Wer würde sie erretten?
Zu Hülfe, zu Hülfe - hört ihr die Prinzessin klagen?
Ihr heiligen Zwölfe, sie mag soviel Leid, auf Dere nicht länger ertragen.
Zu Hülfe, zu Hülfe. Sagt an edle Ritter, wer stehet Ihr bei?
Wer eilet zum ehernen Gitter, schlägt die schändlichen Bande entzwei? B
efreiet die Schöne aus Schmach und aus Not,
fürchtet weder den Namenlosen, noch Uthuris Pfeil und den Tod..."
Einen Augenblick lang war sich die Minnesängerin raffiniert vorgekommen, als sie bei jedem "Zu Hülfe" laut die Stimme hob. Aber der Erfolg war bescheiden. Irgendwo im Röhricht quakten ein paar Enten, das war alles. Der Fluss gluckste träge. Weißer Morgennebel zog über den Leinpfad. Irgendwo zwitscherte ein früher Vogel, den sie nicht genau erkannte. Eine Lerche war es wohl nicht.
Sie lehnte den dröhnenden Kopf zurück. War das Travias Strafe dafür, dass sie derart die Beherrschung verloren hatte? War der peinliche Vorfall allein ihre Schuld gewesen? Haldana von Binsböckel. Du hast dich gehen lassen, diesen Jodokus regelrecht verrückt gemacht. Bist eigentlich ein Ingerimmskind, bodenständig, so schnell nicht zu erschüttern.
Ja. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, ein paar Tage lang das würdelose Spiel mitgespielt. Ihn zappeln lassen, ohne ernsthaft auf sein Werben einzugehen. Und es am Ende völlig verbinsböckelt. Ihr Verhalten war einer Tochter aus edlem Hause unwürdig. Vermutlich hatte sie es verdient, als klampfende, heimatlose Streunerin durch die Lande zu ziehen...
Erneut zupfte sie auf der Laute. Schon wieder schlich sich ein Misston ein.
Das Instrument war so missgestimmt, wie sie selbst, merkte sie gerade. Was merkwürdig war, denn eigentlich hatte sie sich ausführlich mit der Laute beschäftigt, bei ihrer "Nachtwache" auf Helbers Hof. Sogar eine neue Saite aufgezogen. "Im finsteren Turme zu Baliho-oh, in dunkelster Nacht, da..." Nein, die Klänge passten nicht wirklich zu ihrem halblauten Gesang. Sie tastete über den Lautenhals. Merkwürdig.
Die vertraute kleine Kerbe fehlte. Mit dem ersten Morgenlicht dämmerte ihr eine Erkenntnis.
Das...das war nicht ihre Laute. Das Musikinstrument war ihrer hölzernen Gefährtin sehr ähnlich, das sicher. Auch die Farbe passte. Das Schalloch war aber etwas größer, die Verzierung filigraner.
Was wollte Gerrich damit bezwecken? Vertraulichkeit vortäuschen? Die Umstände ihrer Entführung verschleiern? Ihre Laute. Sie hatte sie am Steinmäuerchen stehen lassen, als...
So langsam kehrte die Erinnerung zurück.
Die meisten Wolken waren weitergezogen, nach dem Regen, und das Madamal stand wieder im Kelch. Alles war in ein silbriges Licht getaucht, die Pfützen, die Bäume, die Äcker und Weiden. Eine erste zarte Ahnung von Morgendämmerung lag in der Luft. Was in der guten Götter Namen war denn das, da draußen auf dem Feld?
Da drüben, in Richtung des Unheiligtums befand sich ein klotziges Etwas, das gestern Abend eindeutig noch nicht dagewesen war.
Ganz sicher. Nur - was war das? Eine Art von Turm.
Sollte sie die anderen wecken? Zumindest Alrik, die, haha, selig schnarchende Wache?
Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Da steht was draußen auf dem Acker, was vor dem Regen noch nicht dagewesen war. Ja nun...es sieht aus wie...wie...
Nein, war nun sie die Nachtwache. Haldana stellte die Laute vorsichtshalber an die Steinmauer. Nicht dass sie nochmal einen Hieb abbekam, wie den, dem sie ihre Kerbe verdankte.
Vorsichtig huschte sie näher, durch das nasse, tropfende Getreidefeld. Trampelte einen Pfad in den Roggen. Einen Moment lang wurde es wieder zappenduster, als schwarze Wolken vor den Mondkelch zogen. Vorsichtig tastete sie sich durch die Halme, in die Richtung, wo sie ihre Entdeckung vermutete.
Es wurde wieder ein wenig heller.
Sie zuckte zusammen, als vor ihr eine krumme Gestalt auftauchte. Ah so, nur eine Vogelscheuche. Ihr Blick wurde abgelenkt, von dem, was dahinter aufragte.
Das Ding war kein Turm. Es bestand aus Holz und und wurde von eisernen Bändern umschlossen: Ein riesiges Fass, das einfach so im Getreide stand und es in mehreren Schritt Umkreis niedergedrückt hatte. Vielleicht fünf oder sechs Schritt im Durchmesser, und acht Schritt hoch. Aber im Schätzen war sie immer recht schlecht gewesen.
Ein großes, altes Fass, das zarten Weingeruch verströmte… Ein Traum für jeden Jünger Valpos. Oder war sie es, die hier träumte? Wahrscheinlich lag sie noch in der Scheune und schlummerte. Frischer Wind kam auf, umbrauste sie, zauste zart ihr Haar. Nein, das war kein Traumgespinst.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
"Hilf mir".
Gütige Götter - begann das Fass nun auch noch zu sprechen?
"Hilf mir" hauchte ein zartes Stimmchen in ihr Ohr. Ihr Haar flatterte, als stünde sie am Strand des Perlenmeers.
Der Wind schien nur um das Fass herum zu brausen...trat sie einen Schritt zurück, war nichts mehr von ihm zu spüren.
"Wer bist du?"
"Nach Hause", säuselte die Stimme. "N a c h H a u s e..."
Natürlich, sie träumte das alles nur. Alles andere ergab überhaupt keinen Sinn. Am allerwenigsten das Fass.
Es war kein echtes Riesenfass, jedenfalls nicht nur. An der Seite war ein krummes Fenster eingelassen, zwischen zwei Dauben, mit geöffneten Fensterläden. Ein krummes Ofenrohr ragte ebenfalls aus dem Fass heraus. Eine Fasshütte. Nur dass diese gerade hochkant in einem Roggenfeld stand und die Dachseite Richtung Scheune wies. Als wäre sie geradewegs vom Himmel gefallen.
Die Seite, die ihr zugewandt war, wirkte dunkler, schmutziger. Sie tastete nach dem Holz. Es fühlte sich feucht an und roch modrig. Das Fass schien längere Zeit auf dieser Seite gelegen zu haben. Halb in Sumus Reich eingesunken. Das hier musste die Unterseite der Hütte sein. Tuvok hatte ihr einmal erzählt, dass die Nivesen manchmal alte Fässer als Schwitzhütten verwendeten.
"N a c h H a u s e", wisperte die Stimme im Wind. "F r e i s e i n..."
"Wo ist das? Dein - Zuhause?"
"I m H i m m e l. H i l f m i r. E s i s t s o s c h w e r. "
Natürlich, sie sah (oder besser gesagt hörte wieder mal) Gespenster. Das hier schien wenigstens ein freundlicher Geist zu sein, das konnte sie spüren. Auch wenn ihn irgendetwas bedrückte. Sie selbst fühlte sich merkwürdig leicht und beschwingt.
Klackklackklack.
Eine Strickleiter rollte sich von oben, dem "Dach" der Fasshütte her ab, wie von Geisterhand bewegt: Eine Art Efferdsleiter mit hölzernen Sprossen.
Du solltest jetzt wirklich zurückkehren und die anderen wecken, warnte sie eine andere Stimme. Ihre eigene, innere Stimme. Das hier war ein Fall für Hesindian, den Magier. Was Magisches. Nichts für eine Bänkelsängerin, die nur ihren Rapier umhängen hatte.
Ein sanfter Windstoß in ihrem Rücken, der sie in Richtung der Leiter drückte.
"H i l f m i r. F r e i s e i n . . . D u h a s t e i n g u t e s H e r z. . ."
Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ein zartes Azurblau. Das ewige Wechselspiel der Wolken. Frieden. Freiheit. Licht. Luft. Leichtigkeit. Vollkommene Ruhe.
War das die Freiheit, in die der...der Luftikus zurückkehren wollte? Das Reich über den Wolken?
"Luftikus, was willst du von mir? Wie kann ich dir helfen?"
Ärger stieg in ihr hoch. Nicht wegen der Geisterstimme. Sondern wegen ihrer sogenannten "Gefährten". Wenn sie die anderen weckte, würden die denken, dass sie weg gelaufen war wie ein kleines Mädchen. Eine hysterische Heulsuse, die sich dann vor einem...einem Fass am Wegesrand ängstigte und dann genauso verstört wieder zurückrannte. Nein. Sie war jetzt kein Kind mehr, in mehr als nur einer Hinsicht. Haldana beschloss, sich erst einmal eine Übersicht verschaffen, ruhig und überlegt, und erst dann zu berichten. Von da oben hätte sie sicherlich einen guten Rundumblick.
Kurzentschlossen kletterte sie die Strickleiter hinauf, die im Wirbelwind etwas nach außen wehte. Es war, als würde sie von unsichtbaren, luftigen Händen nach oben getragen. Wenige Augenblicke später stand sie mit zitternden Knien auf dem "Dach" der grotesken Fasshütte. Das wohl in Wahrheit die Vorderseite war. Tatsächlich befand sich hier eine Tür im Boden, mit einem großen Zapfhahn anstelle eines Türgriffs. Darüber ragte eine schmiedeeiserne Laterne auf. Ein Wappen war ebenfalls noch zu erahnen, sowie altertümliche Buchstaben, die bogenförmig über der Tür aufgemalt waren.
Nur nach und nach vermochte sie die fast verblichenen Zeichen zu entziffern. "Rie...sen....fass...von...Rommilys"
Das Wappen mochte der darpatische Ochsenkopf gewesen sein.
Sie drehte am Zapfhahn und öffnete die Tür, die knarrend nach oben aufschwang. Das Mondlicht fiel nun ins Innere des Fasses, von oben wie zwei Fenstern an den Seiten her. Ein Tisch, ein Schrank und eine Feuerstelle bildeten die Einrichtung, ebenso mehrere Stühle und eine Truhe. Offenbar waren alle Möbel fest mit dem Boden verbunden (der derzeit als Wand diente).
Hinter einer Holzwand, die im Moment der Boden war, schien sich eine weitere Kammer anzuschließen, vielleicht ein Schlafgemach. An einer Leine hing ein metallisch glänzendes, rundliches Etwas: ein kleiner Kupferkessel.
Wie sollte sie jetzt vorgehen? Die Strickleiter einziehen und daran nach unten klettern, ins Fass? Nein, sie hatte genug gesehen, um guten Gewissens Bericht erstatten zu können.
Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie sich erst einmal einen Rundumblick hatte verschaffen wollen.
"P a s s a u f ", warnte sie die Geisterstimme des Luftikus. "H i n t er d i r..."
Ein triumphierendes, herzloses, eiskaltes Kichern. "Hab ich dich, Dummchen!"
Erschrocken drehte sich Haldana um - und sah eine schwarz gewandete Frau auf sich zufliegen, totenbleich, fahl, mit wehenden Haaren unter einer Hörnerhaube. Die Hexe ritt auf einem Besen und raste in wahnwitziger Geschwindigkeit geradewegs auf sie zu. Haldana duckte sich, spürte schmerzhaft den Reisig des Besens in ihrem Gesicht. Verfehlt. Die Angreiferin schwirrte davon, von ihrem eigenen Schwung mitgerissen.
"Hebe dich!" rief die Schwarzhexe.
Das Riesenfass begann zu zittern und zu vibrieren. Haldana spürte so etwas wie Widerwille, fast schon Widerstand gegen den Befehl.
"Elender Furz von einem Luftelementar, du wirst mir gehorchen. Soll ich dich meine Macht spüren lassen? HEBE DICH!"
Haldana wollte aufstehen und die Strickleiter nach unten klettern. Flucht war jetzt vermutlich nicht der schlechteste Gedanke. Ein jäher Ruck ließ sie wieder zu Boden stürzen.
Knackend und ächzend wurde das Fass nach oben gehoben, von welcher Kraft auch immer. Täuschte die Baronstochter sich, oder hatte die Windhose sich jetzt in ein bläuliches Flirren verwandelt? Das Fasshaus stieg senkrecht nach oben, plump, träg und taumelnd - aber es begann tatsächlich zu schweben. Erschrocken und völlig überumpelt klammerte sich Haldana am Türrahmen fest, während die Strickleiter gegen das Fass schlug.
Sie versuchte zu begreifen, was da gerade vor sich ging. Was in diesem Moment mit ihr geschah. Dass sich Hexen manchmal in Fässern statt auf Besen fortbewegten, davon hatte sie gehört. Nicht aber von fliegenden Riesenfässern und schwebenden Hexenhäusern. Diese Sisa Brundel musste völlig größenwahnsinnig sein. Dass es sich dabei um die "Bierhexe" handelte, daran zweifelte sie nicht mehr.
Das Fass gewann immer mehr an Höhe, schwankte und hüpfte wie auf einem Meer aus Luft. Haldana schrie lautlos auf. Sie war froh, dass es so dunkel war, und sie den grausigen Abgrund unter sich nur ahnte. In Aves Reich wurde es rasch kühler, der Wind blies heftig über ihren Rücken.
Blinzelnd und schlotternd erhaschte sie einige Eindrücke von der Welt unter sich. Wälder und Äcker im Mondlicht. Die Mauern, Türme und Dachgiebel von Rommilys. Das Glitzern des Ochsenwassers. Der weiße Dunst der Darpatfälle, mit ihren zahlreichen Kaskaden und Nebenarmen. Väterchen Darpat, der darunter breit und gemütlich dahinfloss. Die Berge, die mit einem mal gar nicht mehr so gigantisch wirkten. So ähnlich mussten die Götter die Welt sehen.
Der frevlerische Gedanke und die Höhenangst ließen ihr Herz erstarren. Nein, sie war wahrlich keine Göttin, nur ein klägliches Bündel Mensch, das jederzeit von einer Sturmböe in die Tiefe gefegt werden konnte. Von einem Windstoß - oder der Hexe. Vorsichtig änderte sie ihre Position, zog sich vom Rand des Fassdeckels weg. Wo war Sisa? Hektisch blickte sie umher. Das Madamal hatte sich wieder verhüllt. Keine Spur von ihrer Verfolgerin, aber ihr Gesichtsfeld war so oder so eingeschränkt.
In der Hütte wäre sie zumindest vor einer erneuten Attacke sicher. Haldana spähte hinunter ins fliegende Hexenhaus - und bereute dies im nächsten Augenblick. Sie war nicht allein.
Etwas Großes war die Innenwände des Fasses hinauf gekrabbelt, ebenfalls völlig unberührt von Sumus Griff. Etwas mit mehrfach gespaltenen Augen, verformten, haarigem Gesicht, einem sabbernden, summenden Maul anstelle eines Mundes. Etwas Menschenähnliches, das mit bepelzten, langfingrigen Händen von unten nach ihr grapschte und sich zu sich hinabzog. Ein Alptraum inmitten eines Alptraums. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien.
Haldana stürzte durch die geöffnete Tür, schaffte sich irgendwie zu drehen… Sie fiel in die Leine, riss sie ab. Das Scheppern des Kessels und das dumpfe Poltern ihres Aufpralls war das Letzte, was sie hörte.
***
„Dort an der Steinmauer steht die Laute“
Mit kurzen schnellen Schritten eilte der Angroschim auf die Gefährten zu und zeigte ihnen den Laute.
„Ohne Laute ist Haldana jedenfalls nicht einfach weg gelaufen“ sinnierte Jodokus, immer noch ein wenig verwirrt und von Schuldgefühlen geplagt. „Das Instrument hätte sie nicht hier gelassen.“
„Natürlich ist sie nicht weggerannt“ brauste Tuvok auf. „Sie hätte uns nie allein gelassen. Ich kenne sie länger als du, Stadtmensch.“
„Natürlich ist sie nicht weggelaufen“ beschwichtigte Hesindian. „Das ist nicht die Art der Sichler, nicht Haldanas Art.“ Die Worte des Magiers trugen dazu bei, Tuvok zu beruhigen. Einen neuen Streit zwischen dem Jäger und dem Brauereibesitzer war das letzte, was sie jetzt brauchen konnten. „Ohnehin, wir sollten logisch vorgehen. Die Spuren… ein kreisrunder Abdruck. Ob nun ein einzelner großer Gegenstand diesen Kreis verursacht hat oder ob die Ähren nur kreisförmig platt getreten wurden, einerlei. Jedenfalls war das nicht Haldana. Das heißt, irgend jemand war da. Und dieser jemand, so folgere ich daraus, hat etwas mit Haldanas Verschwinden zu tun.“
Tuvok nickte. Spurenlesen war eigentlich sein Metier, nicht das des Magiers. „Ja. Und da lediglich Haldanas Spuren zu dem Kreis führen, aber sonst keine Spuren dorthin oder von dort weg, hat der unbekannte also dort auf sie gewartet, ihr vielleicht eine Falle gestellt.“
Hesindian nickte. Einerseits hatte er den selben Schluss gezogen wie der Jäger, andererseits war er froh, dass Tuvok nicht weiter Jodokus provozierte.
„Nun, ein weiser Mann sagte einmal, wenn alles andere unmöglich ist, dann muss das unwahrscheinliche die zutreffende Antwort sein. Wenn also keine anderen Spuren vom Kornkreis weg führen, dann muss Haldana sich durch die Luft entfernt haben.“
„Nana, jetzt tu mal nicht gleich fantasieren“ bremste Alrik seinen Hofmagier ein.
„Tu ich nicht. Aber wir haben es mit diesem Gerrich zu tun und mit seiner Gefährtin, der schwarzen Hexe. Hexen können bekanntlich auf Besen fliegen. Diese Sisa Brundel auch. Was haltet ihr davon? Die Schwarze Hexe hat Haldana angegriffen und niedergeschlagen, und dann auf ihrem Besen abtransportiert. Und damit wir hier keine Spuren vom Kampf finden, hat sie alles kreisförmig platt getrampelt. Ist das möglich? Tuvok, was sagt der Fährtensucher zu dieser Theorie?“
„Hmm“ brummte der Nivese. „Könnte sein. Jedenfalls wenn der Kampf nicht viel mehr war als ein reines niederschlagen. Mehr Kampfspuren hätte man nicht so einfach platt treten können. Jedenfalls… dann Haldana als Gefangene durch die Luft abzutransportieren… Nun, Magister, das ist dann eher Dein Fach, Spektabilität. Von der Spurenlage her… naja, nicht ausgeschlossen. Da keine Spuren von hier weg führen.“
„Nicht vergessen… Haldana hat, bevor sie hier zu diesem Kreis kam, ihre Laute abgestellt. Warum? Weil sie die Hände frei haben wollte? Um etwas zu erkunden oder um zur Waffe greifen zu können?“ ergänzte Alrik.
„Nun… so wie ich das sehe, ist unsere einzige Spur Gerrich und die Brundelhexe.“ brachte Jodokus sich ein. „Sie könnte hinter Haldanas Verschwinden stehen. Und wenn wir etwas über Gerrich und Sisa heraus finden wollen, dann müssen wir das Schiff finden, die Flusshexe. Eine andere Spur sehe ich nicht.“
Alrik signalisierte seine Zustimmung mit einem Nicken.
„Aber wenn das hier wirklich auf Gerrich zurück geht...“ warf Hesindian ein.
„Auf wen den sonst?“ wollte Rovik wissen
„Jedenfalls hat dann unser Ablenkungsmanöver mit der Reise in die falsche Richtung nicht viel gebracht. Dann ist damit zu rechnen, dass Gerrich Möglichkeiten hat, uns zu beobachten. Seien es weitere Handlanger von ihm, seien es magische Möglichkeiten. Ja, wer sollte sonst dahinter stecken, Rovik. Das ist schon richtig. Aber eines ist mal klar: An magischer Potenz können wir nicht mit den beiden mithalten. Wir wissen wenig über ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten. Aber wir sind nur zu fünft, und ich habe mich noch immer nicht recht erholt für eine größere Auseinandersetzung. Ich wollte das nur gesagt haben. Wir wissen nicht, womit wir auf dem Schiff oder auf dem Weg dorthin rechnen müssen. Wir wissen noch nicht einmal genau, wo das Schiff ist. Hingegen scheint unser Feind keine Schwierigkeiten zu haben, uns zu finden.“
„Mag sein, aber jedenfalls hat er es auch nicht gewagt, uns alle offen anzugreifen. Haldana war allein und geschwächt. Es war vielleicht ein Fehler, dass sie sich von uns entfernt hat. Wir sollten darauf achten, zusammen zu bleiben.“ Diesem Vorschlag Alriks stimmten alle zu.
„Was ist mit der Leiche von dieser Norbardin“ warf Tuvok ein.
„Was soll damit sein?“ gab Rovik zurück.
„Haldana wollte, dass sie bestattet wird.“ stellte der Nivese fest. „In einem norbardischen Hügelgrab“
„Entschuldige, Tuvok, aber darauf nehme ich keine Rücksicht“ stellte der Zwerg fest. „Haldana befreien ist wichtiger, da halte ich mich jetzt nicht länger mit einer Toten auf. Wenn du willst, können wir hier noch eine Feuerbestattung durchführen. Zum Verbrennen liegt ja genug rum. Aber wenn du ein Hügelgrab aufschaufeln willst, dann kannst du das alleine machen.“
Hesindian und Alrik waren froh, dass diesmal der Zwerg, der schon länger mit Tuvok reiste, diesem eine Grenze setzte. Irgendwie schien es zwischen Tuvok und Haldana eine engere Bindung zu geben, die Tuvok dazu brachte, jetzt an Haldanas Wunsch zu denken. Aber das war wirklich ein Ding der Unmöglichkeit, jetzt eine Hügelbestattung durchzuführen.
„Ich werde mich später darum kümmern.“ griff Jodokus ein. „Ich werde veranlassen, dass die Tote entsprechend aufgebahrt und bestattet wird. Niemand sagt, dass wir selbst das machen müssen, und ein paar Brauereiknechte werde ich schon dazu abstellen können. Ich werde einen Brief an Alrike schreiben, dass die Tote vermutlich aus der Sichel stammt und auf dem Gräberfeld auf dem Hügel von Edorlys beigesetzt werden soll. Wo übrigens viele begraben liegen, die gegen Paktierer, Unheilige und für die Freiheit der Sichelberge gekämpft haben.“
„Damit sollte das wohl geregelt sein“ befand Alrik abschließend, so dass auch Tuvok keinen Widerspruch erhob. „Außerdem habe ich euch schließlich nicht als Totengräber eingestellt.“
Der Nivese nickte. Also sattelten die verbliebenen fünf ihre Pferde – Haldanas Pferd führte Jodokus mit - und folgten dem Pfad zum Fluss, um über zu setzen und am rahjawärtigem Darpatufer gen Praios zu reiten.
Eine gute Weile lang hatte Haldana auf der Laute gespielt, auch wenn diese nicht ihre eigene war. Es klang, verglichen mit ihrem sonst gewohnten Instrument, jämmerlich. Der Klang war nicht so rund und so voll. Die e-Saite schnarrte ein wenig, offenbar war der Wirbel nicht so genau gefertigt und ließ Vibrationen zu. Nun, um in einer Taverne die Trunkenen zum Mitgröhlen zu bringen, würde diese Klampfe sicher ausreichen. Aber für einen wirklichen Kunstgenuss, wie man es geschulten Ohren darbieten würde, reichte es sicher nicht.
Wenn Gerrich vor hatte, sie mit dem wahren Erben von Friedwang zu verheiraten… wer würde das sein? Golo etwa? Der Sohn oder Ziehsohn des verstorbenen Gernot von Friedwang? Haldana schauderte. Die Geschichten, die Baronin Serwa von Friedwang über diesen Mann erzählt hatte, ließen nichts Gutes ahnen. Dagegen wäre selbst eine Ehe mit Jodokus vermutlich nur als angenehm zu bezeichnen. Nein, sie wollte weder das eine noch das andere.
Immerhin war es jetzt hell in ihrem Gefängnis, seit sie die kleine Luke geöffnet hatte. Zuerst hatte sie gehofft, durch die Luke in den Fluss flüchten zu können. Aber dazu war der Durchlass zu schmal. Und um ein Stück aus dem Holz heraus sägen zu können, dazu fehlte es an Werkzeug. Natürlich. Sie war in einer Gefangenenkammer, nicht in einem Werkzeugschuppen. Außer dem Bett – einem Holzgestell mit Stroh, von einem Laken bedeckt und mit einer Decke versehen – war der Raum leer. Fast leer. Die Laute blieb ihr ja noch.
Die Holzplanken in der Außenwand des Schiffes waren aus festem, schweren Holz, die Ritzen mit Pech und Teer verfugt. Etwas einfacher waren die Innenwände gestaltet. Zwar aus robusten schweren Holzlatten gezimmert, aber nicht sauber verfugt. Man konnte durch die Ritzen hindurch spähen – was Haldana aber nicht weiter half, denn dahinter war es ebenfalls dunkel. Mehr als etwas Restlicht, das von der Luke in ihr Zimmer fiel, drang nicht in das Innere der Flusshexe. Das musste schließlich die Flusshexe sein, wenn Gerrich ihr Entführer war. Oder hatte Gerrich noch mehr Schiffe zur Verfügung? Nun, jedenfalls war sie an einem Fluss, von der Größe her dem Darpat entsprechend, und sah durch das Fenster auf die von der Morgensonne beschienenen Berge am anderen Ufer. Hohe Berge, weit höher als ihre gewohnten heimatlichen Berge aus schwarzem Schiefergestein.
Nun, wenn Haldanas Annahme, der Fluss wäre immer noch der Darpat, zutraf. Dann würde die Morgensonne auf hohe Berge am Westufer scheinen. Das wären dann schon mal nicht die Trollzacken, sondern eher die ersten Ausläufer des Raschtulswall. Näherte sich der Raschtulswall am Flussabschnitt zwischen Rommilys und Perricum so nahe an den Darpat an? Vermutlich. So genau hatte sie das Landkartenstudium nicht betrieben in der heimatlichen Studierstube. Klar, der Raschtulswall lag praios-efferdwärts des Darpat. In den Büchern war das Gebirge als riesig beschrieben, sicher drei mal höher als die höchsten Gipfel der Sichel. Jedenfalls im Zentrum des Raschtulswalls. Die Ausläufer der Berge am Darpatufer zu sehen… ja, vermutlich befand sie sich nicht mehr als 50 Meilen flussabwärts von Rommilys.
Haldana blickte noch mal aus der Luke und versuchte, die am Ufer stehenden Bäume zu erkennen. Die Vegetation war nicht, wie daheim in der Sichel, von Fichten, Buchen und Eichen, Erlen und Linden geprägt. Sie erkannte Zedern, aber auch einige Pinien. Und weitere Bäume, die sie nicht benennen konnte. Ein gutes Stück südlich der Sichel, ja, darauf deutete auch der Pflanzenwuchs hin. Und ein Treidelpfad führte am Flussufer entlang. Gut. Sobald sie aus diesem Gefängnis heraus gekommen war wüsste sie wenigstens, wohin sie sich wenden würde.
Aus dem Gefängnis kommen. Gut, nur wie. Haldana besah sich die Tür genauer. Grob gezimmert, wie sie es schon ertastet hatte. Wenn sie über eine Klinge verfügte, so wäre es ein leichtes, den Riegel nach oben zu heben. Allein, das Rapier hatte man ihr nicht gelassen.
„Um de Klampfn is et nit schad“ murmelte Haldana und löste den Wirbel, an dem die schnarrende e-Saite aufgewickelt war. Mit flinken Fingern zog sie die Saite ab und band eine Schlinge. Die so präparierte Saite schob sie durch eine Ritze zwischen den Brettern und angelte nach dem Riegel. Keine schwere Aufgabe. Nach wenigen Augenblicken war die Tür offen.
Rasch zog Haldana die e-Saite rasch wieder auf und packte das Instrument weg. Sollte die Flucht missglücken, dann sollte wenigstens niemand wissen, wie sie den Riegel geöffnet hatte. Haldana lehnte die Instrumententasche an das Bett und schloss dann die Tür – von außen.
Durch das matte Halbdunkel folgte sie einem Gang.
Sollte sie wieder zurück in ihre Zelle gehen, mit dem beruhigenden Wissen, jederzeit die Türe öffnen zu können? War es nicht zu riskant, jetzt, am Tag, das ihr unbekannte Schiff auskundschaften zu wollen? Haldana zögerte kurz, dann aber siegte die Neugier. Vom Abwarten würde sie auch nicht frei kommen. Außerdem hatte sie langsam Hunger, und ihr `Gastgeber` hatte es bislang nicht für notwendig erachtet, ihr eine Mahlzeit zukommen zu lassen.
Der Gang endete an einer Tür, hinter der Stimmen zu hören waren. Vorsichtig schlich sie sich näher heran und spähte durch eine Ritze in der Tür.
„Wer sagt, dass ich das will?“ fragte eine Haldana unbekannte Stimme. Sie gehörte, so konnte Haldana durch den Spalt erkennen, einem blässlich aussehenden Mann mit seltsam schiefen Hals. „Ich möchte sie erst sehen.“
„Niemand fragt, was du willst, Golo“ antwortete die Stimme, die Haldana als die von Gerrich erkannte. Jetzt sah sie auch zum ersten mal die dazugehörige Gestalt. Ein Würgereiz hätte sie beinahe überkommen. Nur mühsam beherrschte sie sich. „Aber du hast nichts zu befürchten. Sie schaut manierlich aus. Besser fast, als die inzwischen ergraute Serwa, und der bist du ja auch nahe gekommen. Aber wenn es um die Dynastie geht, hat alles andere hinten an zu stehen. Du wirst also tun, was ich von Dir verlange. Immerhin verhelfe ich Dir dafür auf den Thron, der dir zusteht.“
„Wenn Sie gut aussieht soll es mir recht sein. Aber ich entscheide das. Nicht du. Du hattest Dein Leben schon lange gelebt, und womit du deine schiere Existenz verlängert hast, wissen die Dämonen allein. Aber schreibe du mir nicht vor, wen er ehelicht und wen nicht.“
Gerrich lächelte. „Sei es drum, wenn du sie siehst, wirst du zufrieden sein. Sie ist hübsch. Außerdem… wenn du eine noch schönere Bettgefährtin findest, nimm sie dir, Golo. Oder auch einen Knaben, wenn Dir das lieber ist. Nach Eurer Ehe musst du nur einen Erben zeugen, wenn du dann nicht mehr willst, dann sei es drum und verfahre, wie du magst. Das weitere Schicksal dieses Schlotzer Landeis kümmert mich nicht. Aber jetzt hörst du auf mich, wenn du jemals den Steinbockthron erobern möchtest.“
„Und was willst du, Großvater? Ich nehme an, du würdest den Thron für dich selbst fordern, wenn du noch am Leben wärst… ich meine, richtig am Leben, und nicht nur eine unheilige, insektoide, schäbige, fortdauernde Existenz.“
„Mäßige dich, Golo. Dein Vater ist bereits verstorben. Er wäre noch am Leben, hätte er auf mich gehört und hätte nicht damals alle Nachbarbarone zu sich eingeladen. Er hat sich übernommen und ist gescheitert. Nun stelle du es schlauer an. Ich besorge Dir das Geld, das du brauchst. Aber mit der Hausmacht der Schlotzer und damit der Binsböckels im Rücken steht unser Plan noch deutlich besser da.“
Golo verstummte. Haldana nutzte die Zeit und sah sich den Raum genauer an. Ein Casino war es wohl. Ein Spieltisch, wie sie ihn aus manchen Hinterzimmern schäbiger Schenken kannte, wie gemacht zum Würfelspielen. Ein weiterer für Boltan. Kein Zweifel, das war die Flusshexe.
„Ach, schnacksel sie doch selber“ erwiderte Golo nach einer Weile unlustig. „Die Sache mit Serwa hat mir damals schon gereicht. Ständig dieser rebellisch-kindliche Geist, der gegen mich aufbegehrt hat und den ich dauernd unterdrücken musste. Deine Pläne haben damals auch schon nicht funktioniert.“
„Das wird er nicht“ kreischte eine schrille Hexenstimme
„Eifersüchtig?“ warf Golo zurück. „Wenn Großvater lieber dich hat als diese Göre aus Schlotz, dann kann es mit ihrer Schönheit nicht so weit her sein.“
„Es reicht, Golo.“ befahl Gerrich. Ich werde deine Verlobte jetzt holen lassen. Es ist ohnehin Zeit zum Frühstück. Aber zeig gefälligst Anstand und Manieren! Du, Sisa, tisch auf.“
Haldana huschte rasch in die Kammer zurück, um den Abholer zu erwarten. Keinen Augenblick zu spät.
„Nun, Hochgeboren, bitte folgt mir. Verzeiht, dass es mit dem Frühstück gedauert hat. Es wird aber an nichts fehlen.“ Dazu, dass die Tür nicht verriegelt war, sagte Gerrich nichts. Er bot Haldana galant den Arm an. Anders als zu vor wirkte sein Körper nicht insektoid. Gerrich hatte die Gestalt eines würdevollen alten Herrn angenommen. Haldana ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Rasch war ihr eingefallen, dass Hesindian erwähnt hatte, dass Gerrich Magier war und die Gestalt wechseln konnte.
„Nun, es wurde tatsächlich Zeit mit dem Frühstück. Ihr habt mich lange warten lassen.“ antwortete Haldana, die entrüstete Edeldame spielend.
„Euer Besuch kam kurzfristig“ antwortete Gerrich knapp. Im Weiteren wortlos führte er Haldana in das Casino. Der Spieltisch war gedeckt, Brot, Käse und Wurst lagen bereit. Nicht wirklich viel für einen Gastgeber, der etwas auf sich hielt. Immerhin ein Krug mit Wein war auf dem Tisch vorhanden.
Zwei Teller standen auf dem Tisch. „Setzt Euch. Ich darf Euch Euren künftigen Gemahl vorstellen. Golo von Friedwang.“
Gerrich setzte sich ebenfalls zu Tisch. Vor ihm befand sich kein Teller. „Ich habe schon gegessen.“ erklärte Gerrich knapp. „Nun, ich freue mich, Euch einander vorstellen zu können. Haldana von Binsböckel zu Schlotz und Golo von und zu Friedwang. Es lebe das liebende Paar.“
Golo musterte Haldana von Kopf bis zu den Füßen. Haldana ihrerseits würdigte Golo mit keinem Blick und goss sich Wein ein.
„Ihr hattet Recht, Großvater. Sie ist wirklich eine Schönheit. Ich muss zugegeben, ihr habt eine gute Wahl für mich getroffen.“ sagte Golo.
„Hochgeboren“ begann Haldana mit höflichen Worten. „Ihr habt mir zu viel Versprochen. Ihr hattet mir einen standesgemäßen Mann zur Verlobung angeboten. Allein, Herr Golo ist nicht standesgemäß für eine angehende Baronin. Er hat keinen Titel, kein Erbe, bestenfalls einen Anspruch, der aber sehr weit davon entfernt ist, durchgesetzt zu werden. Hinzukommend… mit einem solchen Schiefhals bräuchte ich mich daheim noch weniger blicken lassen als mit einem Stadtgeck. Nun, Hochgeboren Gerrich, ich bedanke mich für Eure Mühe und Euer Vertrauen in mich, aber ich kann dem nicht zustimmen.“ Haldana nippte an ihrem Wein, jedoch nur einen kleinen Schluck. Dann setzte sie das Glas ab und stand auf.
Golo, der von Haldana nach wie vor keines Blickes gewürdigt wurde, lief im Gesicht zornig rot an. „Wer fragt denn Dich, Du Landpomeranze?“ herrschte er sie an und sprang ebenfalls auf. Wütend packte er sie an der Schulter und zog sie zurück. „So lasse ich mich von meiner Verlobten nicht behandeln, das wirst du schon noch merken!“
Mit einer raschen Handbewegung hatte Haldana die Hand Golos gepackt - den Griff hatte sie von Tuvok gelernt – und bog das Handgelenk mit kräftigem Reißen nach hinten, dass Golo aufschrie und vom Schmerz dazu gezwungen war, der Bewegung zu folgen, bis Golos Oberkörper so weit nach hinten gekrümmt war, dass er beinahe zu Boden stürzte.
„Du solltest beten, mich nicht heiraten zu müssen. Mit mir wirst du nicht glücklich.“ Ein leichter Ruck an Golos Handgelenk, und Golo fiel hinten über zu Boden.
Ob es schlau war, Golo gleich zu Anfang so zu demütigen? Haldana wusste es nicht, aber sie zweifelte daran. Dass sie gegen Gerrich und Sisa niemals erfolgreich sein würde, war ihr jedoch klar. Sich jetzt gegen Gerrich aufzulehnen hätte nur zur Folge, dass dieser sie in Ketten legen würde. Jetzt die Flucht zu versuchen wäre, so schätzte Haldana, nicht erfolgreich. Besser, sie focht mit Worten mit Gerrich und nicht ohne Waffen gegen einen Mann der die Magie beherrschte.
„Kommt mit nach oben, Hochgeboren. Wir müssen den Handel noch weiter besprechen. Ihr versteht, so ein Weichling wie Golo geht nun wirklich nicht.“ Haldana ging zur Stiege nach oben. Wenigstens würde sie dann das Deck und die nähere Umgebung sehen können und weitere Erkenntnisse für ihre Flucht gewinnen… und sie würde Zeit gewinnen.
Haldana stieg die knarrende Treppe zum Oberdeck hinauf, und schloss für einen Moment geblendet die Augen, im hellen Sonnenlicht. Als sie die schützende Hand wieder senkte, enthüllte sich nach und nach eine atemberaubende Szenerie.
Sie befand sich tatsächlich auf dem Darpat, der an dieser Stelle bereits ein mächtiger, glitzernder, aufgewühlter Strom war: der sich nicht nur zwischen zwei Felsen, sondern zwei Gebirgen hindurch wälzte. Das da drüben mussten die graugrünbräunlichen Ausläufer des Raschtulswalls sein, die dicht mit Nadelbäumen bestanden waren. In der Ferne war ein kleiner Wasserfall zu sehen. Die kleinen Löcher dort an der lehmigen Steilwand waren wohl die Behausungen von Uferschwalben. Die "Flusshexe" schwankte und wankte unter ihren Füßen.
Die höchsten Gipfel im Südwesten waren wolkenverhangen, aber das, was man von den Kolossen erahnte, war wahrlich beeindruckend: ein gigantischer Himmelsthron. Tatsächlich lag das Schiff auf der Raschtulswaller Seite - nicht am Treidelpfad, sondern an der gepflasterten Reichsstraße, wie sie nun merkte. Die "Treidelstation" entpuppte sich als ausgebrannte Ruine, wahrscheinlich eines alten Gasthauses, dessen Dach halb eingefallen war. Da hätte sie gestern Nacht lange um Hilfe schreien können. Der Treidelpfad, ein krummer Knüppeldamm, verlief auf der anderen, östlichen Seite von "Väterchen Darpat", wo tatsächlich die zerklüfteten, dicht bewaldeten Vorberge der Trollzacken aufragten. Der Auwald dort wirkte sumpfig. Im Nordosten erspähte sie eine kleine Rauchfahne.
Die "Flusshexe" selbst war ein langgestreckter, schmuckloser Kahn mit einem großen Mast und gerefftem Segel.
Auf dem Achterdeck erhob sich eine Kajüte mit rundem Dach. Ansonsten war das Oberdeck leer und kein einziges Fass zu sehen. Am Mast selbst war ein eiserner Ring angebracht, an dem mehrere aufgerollte Seile befestigt waren, offenbar die Leinen der Zugpferde: von denen fehlte allerdings auch jede Spur. Ein halbes Dutzend Flussschiffer kauerte auf dem Deck und war gerade mit Frühstück beschäftigt, mit dampfenden Tee, der dem Geruch nach mehr als nur einen Schuss Rum enthielt, und irgendwelchem Zwieback. Ein paar verstohlene Blicke trafen sie und und wurden sofort gesenkt. Die derben Gestalten schienen es gewohnt zu sein, keine Fragen zu stellen. Im Vergleich zu den Flussschiffern, die sie im Rommilyser Hafen gesehen hatte, wirkten die Männer und Frauen abgerissen und verschlagen: eher wie Schmuggler oder Flusspiraten. Sie waren ganz gut bewaffnet, mit Säbeln, Beilen und Dolchen, auch eine Armbrust lag bereit, war aber nicht gespannt.
Das Schiff hatte an zwei Weiden festgemacht, bis zum abschüssigen Ufer waren es vielleicht anderthalb bis zwei Schritt. Das Schilf, das dazwischen, im "Wassergraben" ihres Gefängnisses wucherte, wirkte spitz und scharf. Würde sie am Ufer straucheln und rückwärts hineinfallen, konnte es schmerzhaft werden. Ein Fluchtversuch wäre sicher schwierig - aber nicht unmöglich.
"Woran denkt Ihr gerade? An die Prinzessin im finsteren Turm zu Baliho? Zu Hülfe, zu Hülfe?!"
Gerrich war hinter sie getreten, ein graumelierter, aber durchaus gut aussehender Edelmann mit Spitzbart und altmodischer Samtweste, der irgendwie wie ein umher wandelndes Ölgemälde wirkte. Vor allem sein Lächeln war ölig. Die Hände hatte er mit dunklen Handschuhen verdeckt. Offenbar tat sich Gerrich schwer, mehr als nur sein Gesicht magisch aufzuhübschen. Sein Antlitz wirkte im hellen Schein des Praios maskenhaft und starr, auf jeden Fall unecht. Ein feines Summen schwang selbst jetzt in der affektierten Stimme mit.
Haldana begriff. Das ausgebrannte Haus war eine Finte gewesen, ein Test, ob sie wirklich an einem Handel mit dem alten Friedwanger interessiert war. Oder eher an Flucht dachte. Die junge Adelige war sich keinesfalls sicher, ob sie die Prüfung bestanden hatte.
"Vielleicht denke ich gerade an einen tapferen Ritter, der mich aus meinen Ketten befreien wird."
"Jodokus von Baernfarn? Oder doch Golo von Friedwang-Glimmerdieck?" Das larvenhafte Gesicht zeigte bei dieser Frage keine Regung. Larvenhaft, das passte. Nannte man die Brut von Fliegen und anderem Geschmeiß nicht Larven? "Ihr hättet ihn nicht derart reizen und demütigen sollen. Urteilt nicht vorschnell. Golo ist wahrlich keine schlechte Partie..."
"Da sei Frau Travia vor. Wenn ich mich richtig entsinne...lasst mich nachdenken. Ist Euer Enkel nicht bereits mit Ismena von Oppstein verheiratet, der Jungfer zu, äh, Geisenberg"
"Gießenborn" korrigierte Gerrich, der an ein Stag getreten war, und am Mast hinaus auf den Fluss spähte. Irgendwo in der Nähe pflatschte etwas, vielleicht ein Hecht oder Wels. Zwei Schwäne schwirrten im niedrigen Flug über das Wasser.
"Das Dorf heißt Gießenborn und gehört schon jetzt einzig und allein meinem Enkel. Gießenborn ist ein überaus einträgliches Gut, dank der Silbermine dort. Es gibt auch reichlich Weinberge und Viehweiden."
"Selbst wenn ich das Geringste für Golo empfinden würde, was nicht der Fall ist. Für Weingüter und Viehweiden. Oder für euer Silber… Traviabund bleibt Traviabund."
"Eine Petitesse, ich bitte Euch. So etwas lässt sich regeln. Die Ehe wurde meines Wissens nie wirklich vollzogen - und Beweise für die Untreue dieser Oppsteiner Rahjastute gibt es nun wahrlich genug. "
"Nichtsdestotrotz erscheint mir eine Verlobung ein wenig verfrüht… im Anbetracht der Umstände" Haldana blickte einem Baumstamm hinterher, der gemächlich den Fluss hinabtrieb.
"Verzeiht Golos mitunter etwas...unbeholfene Art. Gewiss, die... horasische Lebensweise, die er sich als Knappe in Neetha angeeignet hat, mag für uns Mittelreicher ungewohnt erscheinen. Aber verwechselt Kultiviertheit und Sensibilität nicht mit Weichheit und Schwäche. Auch die Sache mit dem etwas schiefen Hals… nun, das ist eine Frage des Blickwinkels, nicht wahr? Mein Enkel hat einiges mitgemacht seit seiner Kindheit, so wie wir alle, in den letzten Jahren, scheint mir. Seht die Dinge doch einmal als künftige Baronin zu Schlotz, nicht als wandernde Minnesängerin. Friedwang und Schlotz vereint, das könnte die Grundlage für einen erneuten Aufschwung unserer beider Häuser sein. Vielleicht sogar der Beginn einer Wiedergeburt des Fürstentum Darpatiens, wer weiß."
"Nun, ich versuche, solche Dinge vor allem als künftige Baronin der Rommilyser Mark zu sehen..."
"Als Baronin der Rommilyser Mark? Wer weiß, vielleicht steigt das einst so stolze Fürstentum wirklich noch zur Baronie ab, nach der schändlichen Degradierung zur Markgrafschaft..."
Gerrich versuchte bei dieser wütenden Bemerkung geistreich zu blicken. Irrte Haldana sich, oder verschwammen seine Gesichtszüge gerade ein wenig? Einen Moment lang sah sie wieder die wahre Fratze des Friedwangers vor sich, vielleicht nur vor ihrem inneren Auge.
Angewidert, aber auch verstört wandte sie sich ab - und stand Golo gegenüber, der sie buchstäblich schief anblickte, aus blutunterlaufenen Augen. Sein geckenhaft buntes Wams war tatsächlich gemäß horasischer Mode geschnitten, an seiner Seite baumelte ein Rapier. Man hätte sein schwarzgelocktes, blasses, ein wenig elfisches Gesicht tatsächlich für gutaussehend, zumindest vornehm halten können - wäre da nicht der grotesk verrenkte Hals gewesen, der irgendwie an einen Gehenkten erinnerte.
"Du verschwendest deine Worte, Großvater" zischte der Junker. "Niemals werde ich diese Wildkatze aus dem Wutzenwald heiraten. Überhaupt, du weißt doch, was ich von Bettgefährtinnen halte..." Golo wedelte mit der weichen Hand und säuselte beim Wort Bettgefährtinnen. " Frauen sind doch alle gleich..."
"Wenn ihr verheiratet seid, kannst du dich gerne deiner… Katerstimmung hingeben". Gerrich klang säuerlich. "Hast du nicht mal behauptet, Alboran wäre in Wahrheit dein Sohn? Also stell dich nicht so an."
"Wenn Ismena nicht heillos betrunken gewesen wäre...einen Versuch wars wert, hach ja..."
"Also wurde die Ehe doch vollzogen", stellte Haldana trocken fest.
"Sie bestand immer nur auf dem Pergament. Was die Rommilyser Mark angeht..." Irritiert blickte Gerrich zu Haldana, die ohne Vorwarnung losrannte.
Mit einem gewaltigen Satz sprang die Schwarzsichlerin über Deck, aufs Ufer zu. Der beherzte Sprung war gut gelungen, sie flog über die grünen Klingen des Schilfs hinweg und landete geradewegs in der Böschung.
Allerdings wirklich im Abhang, der schlammiger und weicher war, als er von außen aussah. Mit einem Wutschrei sank sie ein, fast auf Anhieb bis zu den Knien. Das hier war ein Sumpf, ein heimtückischer Morast. Haldana versuchte sich freizukämpfen, aber da war nur schmatzender, nasser, modriger Schlamm, der ihre Stiefel umklammert hielt und sie regelrecht einsog.
"An deiner Stelle hätte ich es mit dem anderen Ufer probiert" kicherte Golo. "Verrücktes Mädchen...verrüüücktes Mädchen..."
Ein herrischer Befehl Gerrichs, und die Flussschiffer eilten herbei, mit einem festen Seil. Haldana, die für einen Moment befürchtete, im Schmodder unterzugehen, griff fast schon erleichtert nach dem Tau. Mit Hauruck wurde sie herausgezogen - ihre Stiefel blieben allerdings stecken. Schmerzhaft schnitt ihr Schilf in die Arme und das Gesicht. Pflatschend landete sie im trüben Wasser. Mit groben Händen wurde sie an Bord gezerrt, triefend und in schmutzstarrender Hose.
"Das nennt Ihr also noch einmal über unseren Handel sprechen?" zischte Gerrich. "Ihr habt Eure Verhandlungsposition gerade ungemein geschwächt, meine Liebe. Ich sollte Euch mit ein paar Steinen beschweren und wirklich auf der anderen Seite über Bord werfen...Aber ich brauche Euch leider noch, um wenigstens diesen Rommilyser Schnösel gefügig zu machen..."
"Schlotz, der Name passt". Eine eiskalte Frauenstimme wehte von der Kajüte heran. Sisa Brundel stolzierte mit schwarzwehenden Haaren übers Deck, wie eine leibhaftig anwesende Galionsfigur der "Flusshexe". Die Matrosen wichen zurück und senkten ihr Haupt, als wäre ihnen eine dunkle Kaiserin erschienen. "Unser schmutziges Bauernmädchen verunreinigt die Planken, scheint mir". Die Dunkelhexe drückte ihren Besen der nächststehenden Flussschifferin in die Hand, die darunter schier zusammenzubrechen schien. "Saubermachen!"
Hektisch begann die blonde Frau zu fegen, und wurde sofort von einer derben Ohrfeige unterbrochen. Sisas Krallen hinterließen eine blutige Spur in der Wange. "Natürlich erst, wenn unser Schmutzfink wieder unter Deck ist, Dummchen. Mit einem Eimer Wasser und einem Putzlumpen. Oder hast du allen Ernstes gedacht, ich gebe dafür meinen Besen her?" Sisa lachte grausam über den "Scherz" und deutete auf ihr Fluggerät: "Siehst du nicht, dass da noch immer Blut dran klebt? Von dem Tölpel, der das letzte Mal meinen Zorn erregt hat? Das meine ich mit Saubermachen!" Sisa stieß ihrem Opfer tatsächlich den spitzen Reißig ins Gesicht. Die Blonde schrie auf, mehr furchtsam als vor Schmerz. Mit zitternden Händen und ihrem Ärmel säuberte sie den Besen.
Haldana hatte sich mittlerweile von ihren völlig verschmutzten Socken befreit und stand barfüßig in einer große Lache neben dem Mast.
Sisa wischte sich eine einzelne Strähne zurück, die ihr ins fahle Gesicht hing. "Nun zu dir, meine kleine Müllhaldana von Schmutz, oder wie immer du dich nennst. Es war ganz amüsant, deinem Geplapper zu zu hören...aber nun reicht es mir mit den Frechheiten. Dein Geklampfe hat mich ebenfalls nicht sonderlich beeindruckt...""
"Ich..."
Sisa legte gebieterisch den Krallenfinger auf ihre bläuliche Lippen. "Scht...scht...schtt..."
Die Hexe riss der "Putzerin" den Besen aus der Hand. "Eine gute Frage, eine sehr gute Frage. Was machen wir mit so einer wie dir? Vielleicht sollten wir dich unter eine Wolke stellen, damit du wieder sauber wirst? Unter eine grüne Wolke?"
Golo griente – ein eindeutig schwer gestörtes Aristokratenkind. "Wunderbar. Und danach könnten wir sie in eines der Pechfässer stecken. Und zusammen mit unseren schleimigen, glitschigen Lieblingen nach Rommilys schicken..." Der Junker gluckste und verdrehte freudig die Augen.
Haldana spürte ein glibbriges Etwas an den Füßen. Die Sichlerin versuchte es mit den Zehenspitzen abzureiben, und sah erst jetzt eine kleine, feiste, erdbraune Kröte davon hopsen, verunziert von großen Warzen und schwefelgelben Flecken. Erschrocken tastete sie sich durchs Gesicht. Sie kannte die Geschichten von Hexentieren, die einem nach einer Berührung hässliche Warzen sprießen ließen.
"Glibba, meine Hübsche!" Sisa bugsierte ihre Gefährtin wieder in ihr kleines Tragkörbchen, mit dem Besen.
"Du sollst dich doch von fremden Füßen fernhalten. Vor allem wenn sie so dreckig und übelriechend sind wie die da."
"Ihr alle seid nichts weiter als Dämonenpaktierer und Abtrünnige vom wahren Glauben!" sagte Haldana, mit trotzig verschränkten Armen.
Das hieß, sie wollte es sagen. Ein kraftloses Lallen kam aus ihrem Mund, ihre Zunge war so schwer wie Blei. Als wäre sie heillos betrunken.
"I...a...sei..ni...wah...ah.. Da...mo...mo..pa..un...un...unnn...ah...ah..." Erschrocken hielt Haldana inne.
"Und was?" Sisa Brundel verstaute das Tragekörbchen an ihrem Gürtel. "Ich verstehe nur I-aa, I-aa. Zeit, das wir rüber in die Trollzacken fahren und für ein wenig Nachschub sorgen. Die Fässer müssten mittlerweile schon bei Meister Alfengrund und den Opfern angekommen sein. Übermorgen stehen die Sterne günstig. Wir werden reiche Ernte an Dämonenpech einfahren."
Haldana würgte, lallte, stöhnte. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie klang nur wie eine klägliche Idiotin.
"Hast du es immer noch nicht verstanden, Miststück?" Sisas Hand krallte sich in ihr Haar. "Jetzt ist Schluss mit dem Singsang! Lern erst mal richtig sprechen, kleines, dummes, bockiges Eselchen. Und ihr, sorgt gefälligst dafür, dass es uns nicht wieder davon springt."
"A...i...a...a" lallte Haldana. Es fehlte nicht viel, und sie hätte auch noch zu sabbern begonnen.
Die Flusshexe machte los und setzte ihr Segel. Der Wind wehte tatsächlich stromaufwärts. Langsam, aber stetig hielt das Treidelschiff auf die Mitte des Darpat zu. Sisa schien es dennoch nicht schnell genug zu gehen. Sie band eine der Zugleinen am Mast um ihren Besen und schwang sich in die Lüfte. Tatsächlich, die Schwarzhexe zog das Schiff nach Norden, gegen die Strömung.
Ein einsamer Fischer fiel pflatschend ins Wasser, am Trollzacker Ufer, wo er gerade eine Reuse kontrollierte. Prustend rettete er sich wieder an die Seite seines Nachens. Würde irgendjemand dem "Anglerbosparano" glauben?
Auch Haldana traute ihren Augen kaum. Nach einer Weile war die Hexe zufrieden. Sie ließ die Leine fallen und entschwand im Bergwald der Trollzacken. Dann wurde die Baronstochter gepackt und unsanft in ihren hölzernen Kerker zurückbefördert. Das letzte, was sie sah, war eine Treidelstation zur Rechten und eine Flussmündung zur Linken: das musste die Natter sein.
Haldana lag rücklings auf ihrer Gefängnispritsche und kaute an einem Strohhalm. Ihre Zehen, unter der zerschlissenen, juckenden Decke, waren immer noch mit Schlamm verkrustet, der nun vertrocknete und langsam abbröckelte.
Die Bänkelsängerin schalt sich eine Närrin. Sicherlich, das rettende Ufer war verlockend nahe gewesen. Ebenso Unterholz, um sich mit Zickzack in die Büsche zu schlagen. Aber der tölpelhafte Fluchtversuch war dennoch ein Fehler gewesen. Ein Fehler...und leichtsinnig noch dazu. Sicherlich gab es Zauber, die einen Menschen über mehrere Schritt Entfernung töten könnten. Sie hatte von Hesinderei gehört, bei der Opfer in Stein verwandelt wurden, zu Eis erstarrten oder in Flammen aufgingen. Haldana schauderte.
Halbnackt war sie zu allem Überfluss auch noch, unter der Decke. Ihre Hose trocknete auf dem Boden, ihre nassen Socken und Schuhe waren ihr irgendwie abhanden gekommen. Haldana fühlte sich schmutzig, in mehr als einer Hinsicht. Schmutzig, wehrlos und unfrei.
Sie hätte bis zur Nacht abwarten und dann die Flucht wagen sollen, mit Hilfe ihres "Dietrichs", der Lautensaite (die sie mittlerweile als Haarband getarnt hatte). In letzter Zeit neigte sie zu...Sprunghaftigkeit. Hieß es nicht: Nomen est omen? Binsböckel, der Name war wirklich Schicksal. Irgendwie war ihr Bockssprung gerade eben gehörig in die Binsen gegangen. Ein wenig "böckeln" tat sie auch noch: Sie roch nach fauligem Uferschlamm.
Haldana schob den Strohhalm in den anderen Mundwinkel. Irgendwie hatte sie das Grauen übermannt, bei der Erinnerung an die Fratze, in die sie vor wenigen Stunden noch gestarrt hatte. Das zarte Summen in Gerrichs Stimme - der Gedanke daran ließ fast schon körperliche Übelkeit in ihr aufsteigen. Eine Schmeißfliege auf zwei Beinen.
An seinen dekadenten, selemischen Sohn wollte sie gar nicht erst denken. Ihre Gedanken gingen zu Tuvok und Rovik, ihre treuen Begleiter. Ob sie jetzt schon auf dem Weg zu ihr waren, um sie zu retten? Zusammen mit Alrik, Hesindian, und...nun ja...sie seufzte, als sie an Jodokus dachte.
Nicht dass sie dem Schnösel die Schandtat verziehen hätte. Aber nach allem, was seither geschehen war, kam ihr das Debakel in der Scheune nicht mehr gar so peinlich und schmachvoll vor.
"Närrin" sagte sie zu sich selbst. Besser gesagt wollte sie das sagen. Ein klägliches "N...n...n...n" entrang sich ihrer Kehle. Ob sie nun für immer stumm sein würde? Die schiere Vorstellung schnürte ihr den Hals zu. Sie keuchte.
Nur langsam beruhigte sie sich, spuckte den Strohhalm aus.
Ein Rumpeln und Scharren ließ sie aus dem Halbschlaf hochschrecken.
Die "Flusshexe" streifte Grund und verlor rasch an Fahrt. Nach einer Weile blieb sie liegen. Aufgeregtes Rufen und dumpfes Poltern am Oberdeck. Haldana schlüpfte wieder in die Hose, die noch immer feucht, klamm und dreckig war. Sie wollte gerade durch ihr "Bullauge" blicken, da wurde der Riegel der Tür beiseite geschoben. Zwei Darpatschiffer kamen herein und zerrten sie unsanft nach draußen: unrasierte, übelriechende Gestalten, die ihr nun, aus der Nähe, eher ärmlich als verrucht vorkamen. Sie riss sich los und schritt mit aristokratischer Haltung zur Treppe - tatsächlich wagten die beiden Handlanger es nicht mehr, sie anzufassen. Erhobenen Hauptes stieg sie nach oben.
Nach einigen Augenblicken stand Haldana wieder am Oberdeck und blinzelte in die Sonne. Es schien früher Nachmittag zu sein. Der Blick auf den Himmel mit seinen Wolkentürmen war atemberaubend. Der Wind wehte immer noch stromaufwärts. Die Luft war frisch und gaukelte ihr ein Gefühl von Freiheit vor.
Das einsame Fachwerkhaus dort war wirklich eine Treidelstation, auch wenn es zwischen Trauerweiden kaum weniger verloren wirkte als die nächtliche Ruine.
Eine große Scheune und ein Stall waren neben dem Knüppeldamm ebenfalls zu sehen, ebenso Gatter und eine Weide für die Pferde. Ansonsten wirkte das Land sumpfig. Im Uferbereich war der Darpat grün von Wasserlinsen. Über allem ragten die bewaldeten Hänge der Trollzacken auf. Eine einsame Gegend. Am Himmel kreiste ein großer Greifvogel, vielleicht sogar ein Adler. Draußen, auf dem Darpat, glitt ein Schelch vorbei, an der Einmündung eines silbrig glitzernden Nebenflusses. Das musste die Natter sein. Am westlichen Darpatufer erstreckte sich dichter Wald.
Haldana hatte gehört, dass in diesem undurchdringlichen, dunklen Grün sogar noch Elfen leben sollten. Es war kaum zu glauben, dass es von dieser firunsgefälligen Wildnis aus nur noch wenige Meilen bis nach Rommily sein sollte. Nur ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an das grelle Tageslicht. Ganz menschenleer war die Gegend doch nicht. Am Zusammenfluss von Natter und Darpat sah sie eine Anlegestelle und ein paar Häuser aufragen. „Hausnerhaven“ brummte einer ihrer Bewacher. Hafen, naja. Zwei Fischerboote und eine kleine Barke lagen dort vor Anker.
Die Flusshexe war an Pfählen festgemacht worden, eine Planke führte zum Knüppeldamm hinüber. Einer der Matrosen nahm demonstrativ Aufstellung am Steg, den Atem des anderen konnte sie fast schon im Nacken spüren. Diesmal würde sie es nicht mehr so einfach bis zur Bordwand schaffen.
Gerrich und Golo saßen auf vornehmen Stühlen am Bug, neben einem Tischchen mit Weintrauben, Nüssen, Gebäck, Kelchen und einem Krug - ein Großvater mit seinem Enkel auf Sommerfrische. Sogar ein Sonnensegel war zu ihrem Schutz aufgespannt worden.
"Hätten wir die letzten Tage nicht gemütlich in der Treidelstation verbringen können...statt...mitten im Nirgendwo", maulte der Junker halblaut. Ausgiebig schnäuzte er sich in ein seidenes Taschentüchlein, dass er gerade aus seinem Rüschenärmel hervorgezaubert hatte. Er sieht wirklich aus wie ein horasischer Stutzer, dachte Haldana. Zumindest wie das Spottbild eines Horasiers. Golos zarte, weiße Finger griffen zum Kelch. Gelangweilt schlürfte der Junker ein paar Schluck.
"Du weißt, wie viel Kraft es mich jedes Mal kostet, um… nun ja, mein Gesicht zu wahren" summte Gerrich, der einfach nur reglos da saß - wie eine träge Fliege am Butzenfenster. "Unserer Mannschaft traue ich ebenfalls nicht. Wenn sie getrunken haben, reden sie zu viel. Unser guter Flarion auch schon, wenn er nichts getrunken hat. Diskretion, darauf kommt es. "
"Apropos, da ist ja unser Gast". Golos schiefer Hals ruckte herum. "Du solltest vorsichtig sein, von was du sprichst. Sie ist stumm, aber nicht taub." Der Junker kicherte boshaft. "Müllhaldana von Schmutz...wie überaus witzig und geistreich deine Gespielin doch ist. Welch Esprit, für eine blasse Hinterwäldlerin aus den tiefsten Trollzacken. Ich finde, Lalldana würde besser passen.…"
Haldana wurde tatsächlich hellhörig. Dem friedwanger Magier kostete es also sehr viel Kraft, seine wahre Gestalt als monströser Fliegenmensch zu verbergen? Gut zu wissen.
Golo glotzte sie erwartungsvoll an und wedelte geckenhaft mit der Hand. Offenbar hoffte er, dass seine Beinahe-Verlobte wieder zu stammeln anfangen würde. "Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen, mein Liebling?" Erneut ein pervalisches Glucksen. Golo schob sich genussvoll eine Weintraube zwischen die Zähne und zerbiss sie, so das ihm der Saft über die Lippen spritzte.
"Besser, Du hütest jetzt deine Zunge", sagte Gerrich tonlos. "Meine Gespielin hat Dir deinen wahren Leib zurückgegeben, vergiss das nicht. Du solltest Sisa ein wenig dankbarer sein."
"Ganz so einfach war es nun auch wieder nicht. Nüsschen?"
"Nein, Danke. Ich habe schon genug harte Nüsse zu knacken. Das bringt mich auf Euch, werte Haldana von Schlotz. Sisa lässt Euch ausrichten, dass Ihr Eure Sprache jederzeit wieder finden könnt. Sie ist bereit, den Fluch fallen zu lassen. Unter einer kleinen, einer klitzekleinen Bedingung" Nun waren es Gerrichs Augen, die böse glitzerten. "Ihr werdet euer Mitspracherecht in dem Moment wieder erhalten, in dem Ihr mit meinem Enkel Golo den Heiligen Bund der Ehe eingeht. Falls nicht, werdet Ihr für immer schweigen müssen, befürchte ich. "
"Nun ist sie wirklich sprachlos", kommentierte Golo, klang aber selbst wenig begeistert. Gelangweilt schob er die Nuss einem Nussknacker zwischen die Zähne, der wie ein Eichhörnchen aussah.
Haldana verschränkte trotzig die Arme. Im Grunde war sie froh, nichts auf diese "Offerte" antworten zu müssen (sie konnte es schließlich nicht). Für immer schweigen? Bislang hatte sie, aus einem Gefühl heraus, gehofft, dass der Zauber nur einige Stunden oder Tage anhalten würde. Sie versuchte, das Feuchte in ihren Augen nicht allzu feucht werden zu lassen. Haldana war eine Sängerin, allein der Gedanke, nicht mehr singen zu können, ließ ihre Kniekehlen weich werden. Eine Baronin, die den ganzen Tag lallte und sabberte, hatte in der Rommilyser Mark ebenfalls schlechte Karten.
"Ihr dürft gerne nicken, wenn Ihr verstanden habt, was ich sage" meinte der Friedwanger, scheinbar generös. Sein maliziöses Schmeißfliegen-Lächeln verriet, dass er sehr wohl wusste, welche Seelenqual der Verlust der Stimme für die junge Sichlerin bedeutete.
Die Schlotzerin zuckte mit den Schultern, scheinbar gelassen. Sie war eine "von" und würde nicht das Greinen oder Zittern anfangen wie ein kleines Mädchen. Hexenflüche, davon hatte sie gehört.
Hesindian hatte es geschafft, Alrik von den falschen Zorganpocken zu befreien - dem erfahrenen Magier war es hoffentlich möglich, auch diese Art von Schwarze Magie zu brechen. Und wenn nicht ihm, dann sicherlich einem Diener des Praios. Eigentlich war Gerrichs verrückter Plan zum Lachen . Was zählte schon ein Traviabund, der mit Hexenwerk erzwungen werden sollte? Wenn dieser schurkische Magier sie nicht einfach nur einzuschüchtern versuchte, mit billigen Taschenspielertricks.
"Sie scheint begeistert zu sein" Golo verdrehte die Augen. "Ich bitte dich, Großvater. Wie soll diese dumme Gans mir ewige Treue schwören, wenn sie nicht mal mehr schnattern kann? Soll sie mir ihr Jawort etwa auf eine Schiefertafel schreiben? Überhaupt, welcher Traviageweihte würde sich auf ein… ein derartiges Possenspiel einlassen?"
Haldana stellte fest, dass sie mit dem Schiefhals ausnahmsweise einer Meinung war.
Gerrich machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was. Du vergisst, das wir uns hier auf einem Schiff befinden. Der Kapitän darf eine Trauung vornehmen, falls zufällig kein Geweihter in der Nähe ist. Ein Hochzeits-Band um eure Hände, zwei Unterschriften unter den Ehevertrag, das wars. Und dann wird es Zeit für eine rauschende Hochzeitsfeier."
"Eine rauschende Hochzeit auf dem Darpat? Das habe ich mir schon immer gewünscht..." Golo schüttelte ungehalten den Kopf. "Wenn schon, dann hätte ich es verdient, auf einem Schloss zu feiern...nicht auf einem… einem armseligen Treidelkahn."
"Keine Widerrede. Wollt Ihr Euch nicht setzen, werte Haldana" - Gerrich schob ihr einen schlichten Holzschemel zu. "Wir müssten jetzt langsam mal über die Aussteuer reden, etcetera etcetera. Herrliches Wetter heute, nicht wahr? Ein Schluck Trollzacker Rotwein gefällig?"
"Vielleicht lockert der ja ihre Zunge" höhnte Golo, warf die Nussschalen über Bord und zerkaute deren Inhalt. "Ich wusste gar nicht, dass wir einen Kapitän an Bord haben. Wir reden schon von Flarion Silbertaler, dem Orkhirn? Im Rommilyser Hafen auch bekannt als Flachwasser-Flarion. Dieses menschliche Treibgut würde ich nicht mal in die Nähe meiner Badewanne lassen."
"So hässlich ist er nun auch wieder nicht" stichelte Gerrich und zückte ein Notizbüchlein, mit Stift. "Nun setzt Euch doch, Jungfer Haldana. Nicht so schüchtern. Zeit, über den Ehevertrag zu reden...das heißt, Ihr braucht bei meinen Vorschlägen nur zu nicken. Ich werde das dann nachher noch ins Reine schreiben. Also, fangen wir gleich mal mit dem Baronstitel zu Schlotz an, der selbstverständlich..."
"Wenn man vom Namenlosen spricht", sagte Golo und deutete auf den "Efferdssteg". Ein hagerer Mann mit blonden Haaren und auffallend großer Nase eilte vom umzäunten Fachwerkhaus herbei. Tatsächlich trug er die blaue Uniform eines Kapitäns zur See, mit Dreispitz und Rüschenkragen, der einem Großadmiral Rateral Sanin zur Ehre gereicht hätte.
"Hohooo - ich sehe, unser liebreizende Braut ist jetzt an Bord", sagte Flarion Silbertaler, als er mit ausgestreckten Armen auf Haldana zu eilte. Formvollendet lüpfte er den Dreispitz. "Seid Ihr es wirklich, Haldana die Minnesängerin? Die berühmte Bardin aus der Schwarzen Sichel? Wirklich, ein fescher Maderl habt Ihr uns da mitgebracht, mein werter Herr Gerrich. Ich liiiebeee Musik in Mundart… Könntet Ihr mir vielleicht eine Kostprobe Eures Könnens geben. Oh verzeiht, Flarion Silbertaler, Kapitän der Flusshexe...."
Haldana war endgültig perplex. Verwirrt deutete sie einen Knicks an. Was war denn das nun wieder für ein Geck?
Flarion hauchte ihr einen Kuss auf die Hand - und schien ebenfalls verwirrt zu sein, ob der schmutzigen Hose und den fehlenden Schuhen der "Braut".
"Ich fürchte, aus dem Vorsingen wird nichts", sagte Gerrich und deutete unter sein Kinn. "Ganz furchtbare Halsschmerzen… Leider ist Haldana von Bord gefallen, wie ihr seht und hat sich dabei wohl etwas verkühlt... "
"Aber, das ist ist ja wirklich fürchterlich" Kapitän Silbertaler schien ehrlich betrübt zu sein. "Und dass so kurz vor ihrer Hochzeit. Hoffentlich hat Frau Travia ein Einsehen…"
"Nun, ich bin sicher, das unvergleichliche Erlebnis, auf dem Darpat getraut zu werden, macht dieses kleine Malheur mehr als wett. Ich danke Euch, dass Ihr auf dem Treidelhof geblieben seid, um alles zu organisieren, während wir Haldana standesgemäß abgeholt haben"
"Was das betrifft, haben Seine Wohlgeboren Golo und die Braut Glück. Die Frau des Wirts hat ein wunderschönes Brautkleid, das sie uns ausleihen würde. Auf der Treidelstation ist außerdem noch ein Grüppchen Traviapilger untergebracht, aus der Gegend von Knoppsberg. Ihr Anführer scheint die minderen Weihen zu haben und könnte einen Segen sprechen. Sie wollten eigentlich nach Rommilys - aber der Leinpfad ist unterbrochen, Richtung Neuborn."
"Sicher Hochwasser?"
"Womöglich. Da ist jetzt erst mal kein Durchkommen mehr… Hinter dem Sumpf gibt es zwar noch die Landstraße nach Neuborn, aber die ist momentan gefährlich. Die Trollzacker sollen wieder auf den Kriegspfad sein, buntbemalte Kerle aus dem Hochgebirge. Letzte Woche haben sie ein Fuhrwerk geplündert und verbrannt. Die Fuhrknechte konnten mit Müh und Not entkommen. So nahe an der Stadt treiben sie eigentlich selten ihr Unwesen. Früher hätte es so etwas überhaupt nicht gegeben."
"Ausgezeichnet"
Käpt´n Silbertaler blickte erstaunt.
Gerrich steckte sein Notizbuch in die Jackentasche. "Nun, ich habe es glaube ich schon mal erwähnt. Das unglückliche Fräulein von Schlotz wird von einem Liebhaber verfolgt, der die Hochzeit unter allen Umständen verhindern will. Ein eifersüchtiger Wüterich, der sogar mehrere Handlanger angeheuert hat, um die Braut zu entführen. Gut möglich, dass dieses Gesindel schon auf dem Weg hierher ist. Es wäre gut, wenn sie erst nach der Vermählung eintreffen würden. Die eigentliche Hochzeitsfeier ist dann in Rommilys geplant. Was ist eigentlich mit der Ladung?"
"Nun, die Trollzacker machen wir ein wenig Sorgen..." Flarion Silbertaler kratzte sich am Kopf. "In den Sumpf trauen sich diese Wilden nicht, denke ich. Aber oben im Bergwald könnten sie uns schon Schwierigkeiten bereiten.
"Ich glaube nicht, dass diese Barbaren wirklich an Pechfässern interessiert sind", sagte Gerrich. "Es bleibt bei unserem ursprünglichen Plan. Zehn Fässer kommen auf dem Landweg nach Rommilys, der Rest nach Perricum. Ich werde mich gleich morgen zu unseren Lieferanten begeben, und die Ladung persönlich in Empfang nehmen, in Kurgasberg. Zwanzig Treidelpferde als Packtiere müssten genügen. Außerdem nehmen wir noch vier Reitknechte mit, als Säumer…"
"Ihr wollt selbst nach Kurgasberg? Dieses schaurige Geisterdorf würde ich selbst dann meiden, wenn sich dort keine Kurgas herumtreiben würde..." Flarion weitete sich nervös den Kragen. "Man sagt, selbst diese verfluchten Heiden meiden die Schlucht, seit…"
"Seit....?" Gerrich klang amüsiert.
"Seitdem dort... etwas die Felder und Weiden verdorben hat, vor vielen Götterläufen. Etwas aus dem Bergwerk...."
"Und doch treffen sich die Pechsieder dort einmal im Jahr, um die alten Ruinen mit neuem Leben zu erfüllen. Ich finde das überaus romantisch. Haldana und Golo sicher auch. Außerdem erspart es uns den mühseligen Weg in die Berge, wenn sie uns die Fässer schon im Tal übergeben."
"Nun schaut nicht so bedröppelt, Kapitän" Golo knackte gerade die nächste Nuss. "Die, äh, Hofzauberin meines Großvaters wird uns begleiten. Glaubt mir, die wird mit den Trollzackern ebenso fertig wie mit ein paar Spukgestalten...falls es die in Kurgasberg geben sollte."
Flarion wurde immer nervöser. "Über Susa Brandel..."
"Sisa Brundel" korrigerte Gerrich sanft.
"Über Frau Brundel müsste ich mit Euch auch noch einmal reden. Sie macht meine Leute nervös..."
"Natürlich macht sie das. Sie ist ja auch eine überaus attraktive Frau."
"So meine ich das nicht. Man erzählt..."
"Flarion Silbertaler" Gerrich griff dem Kapitän an den Kragen, nicht grob, sondern um den Stoff ausgiebig glatt zu streichen.
"Ihr habt eine wunderbare Uniform. Und warum? Weil euch das Handelshaus Warrlinger und meine Wenigkeit gut bezahlt. So ist es doch, oder?"
"G...Gewiss..."
"Überaus gut?!"
"J..ja...doch..."
"Und so soll es auch bleiben, nehme ich an?" Gerrich ließ wieder los.
"Bitte, Großvater. Wir sind mit unserem Kapitän überaus zufrieden. Das willst du ihm doch sagen, oder?" Golo betrachtete seine fein manikürten Fingernägel.
Flarion Silbertaler war nun endgültig durcheinander.
"Ich..äh....wäre Euch dennoch sehr verbunden...wenn Frau Brundel nicht mit dem Besen...also mit dem Besen herumfliegen würde...zumindest nicht im hellsten Praiosschein, wo es gleich jeder mitbekommt."
"Haben das die Matrosen gesagt? Herum fliegen....oder meinten sie mit dem Besen herum fegen?"
"Herum fliegen. Ihr wisst, dass ich unsere Geschäftsbeziehung überaus schätze. Aber wir sind hier nicht in Tobrien. Wenn das jemand sieht und davon berichtet… bis nach Rommilys ist es nur ein Katzensprung… Und was in Rommilys die Runde macht, das spricht sich in Windeseile bis nach Perricum herum."
"Eine Haus- und Hofhexe, na und? Der noble Fürst von Albernia hatte sogar mal einen Hofdruiden..." Golo schien überaus amüsiert zu sein.
"Wenn Sisa zurückgeflogen kommt, werde ich ihr sagen, dass sie ihre wilden Ritte künftig unterlassen soll. Zumindest die auf dem Besen. Oder was meinst du dazu, Großvater? Auch die anderen wilden Ritte? Du solltest wirklich jede unnötige Aufregung vermeiden…"
"Genug" Gerrich klang gereizt. "Dieses Schiff heißt Flusshexe, und sie ist heute morgen geradezu über das Wasser geflogen. Ich nehme an, das wollte Euch Eure Mannschaft berichten?! Es wird einfach zu viel geredet, an Bord dieses Schiffes."
"Ich meinte ja auch nur.…"
"Schon gut. Ich bin ansonsten zufrieden mit Euch, und werde das bei Eurer Prämie angemessen berücksichtigen. Wir sollten jetzt wieder auf angenehmere Dinge zu sprechen kommen. Holt doch bitte das Brautkleid aus der Treidelstation, auf das es unsere liebreizende Jungfer einmal anprobieren kann. Golo, du solltest dich jetzt besser in deine Kajüte begeben. Es bringt bekanntlich Unglück, wenn der Ehemann das Brautkleid vor der Hochzeit zu sehen bekommt."
Haldana begann unwilkürrlich zu protestieren, brachte aber wieder nur unwürdiges Gestammel heraus. "I...a...na...ah…"
Sie deutete auf Golo und schüttelte den Kopf. Dann hob sie drohend die Faust.
"Sollen wir sie wieder einsperren?" raunzte der Darpatschiffer hinter ihr.
"Einsperren?" fragte Silbertaler, der mal zu Haldana, mal zu Großvater und Enkel blickte. "Was hat das zu bedeuten?"
"Ja, es ist sicher das Beste, wenn sie das Kleid in ihrer Kammer anprobiert" Gerrich warf dem Matrosen einen bösen Blick zu. "Eine der Frauen soll ihr beim Einkleiden helfen. Es heißt Einkleiden, nicht Einsperren, auch wenn das bei einem eng geschnürten Mieder manchmal dasselbe ist, haha"
"Ludegar sagte etwas von wieder Einsperren" Flarion schien gerade laut nach zu denken.
Golo gähnte, scheinbar gelangweilt. "Meine künftige Gemahlin neigt ein wenig zum Schlafwandeln, das ist alles. Nicht auszudenken, wenn sie nachts über Bord fällt, und nicht bei Tageslicht, wie vor ein paar Stunden. Also haben wir ihr die Kammer mit dem Riegel außen gegeben. Das ist alles."
"Ah so, ich verstehe." Auch Flachwasser-Flarion schien nicht allzu sehr von Hesinde gesegnet zu sein. Oder war seine dümmliche Miene in Wahrheit eine Art Boltansgesicht?
"Gut, dann wäre das geklärt", sagte Gerrich hastig. "Ich denke, in etwa einer Stunde können wir mit der Trauung beginnen."
"So schnell?" Flarion war schon wieder verwirrt.
"Gewiss. Heiraten ist wie Schlittenfahren, sagt man bei uns in der Sichel. Beides muss schnell gehen."
Der Kapitän verbeugte sich, hob schicksalsergeben den Hut und ging von Bord.
"Ihr solltet mit dem Kapitän nicht ständig über Dinge quatschen, die nur mich als Eigner etwas angehen, verstanden?" zischte der Magier ungnädig in Richtung der Wachen. " Ihr könnt jetzt einen aufs glückliche Brautpaar trinken, drüben in der Schankstube. Wir kommen schon allein zurecht. Und vergesst nicht. Ich bin derjenige an Bord der Flusshexe, der euch bezahlt, und niemand sonst. Und... ach ja. In der Nähe befinden sich einige Laienprediger der Travia. Holt diese, das verleiht der Hochzeit noch etwas mehr Glanz" sagte Gerrich, auch wenn es ihm weniger auf den Glanz eines Traviafestes ankam als vielmehr auf die Rechtsgültigkeit und den offiziellen Charakter.
Die beiden Posten stolperten an Land.